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German Pages [474] Year 2007
Böhlau
Ernst Berger (Hg.) Else Rieger (Redaktion)
Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Soziaiverwaltung M i t Beiträgen von Gerhard Benetka, Ernst Berger, Regina Böhler, Elisabeth Brainin, Regina Fritz,Vera Jandrisits, Marie-Luise Kronberger, Peter Malina, Clarissa Rudolph, Samy Teicher
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Gedruckt mit Unterstützung durch das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur die Kulturabteilung der Stadt Wien - M A 7 den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und den Zukunftsfonds der Republik Österreich
Das der Publikation zugrunde liegende Projekt wurde vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördert (OeNB-Jubiläumsfonds Projekt Nr. 9148).
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-77511-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckender Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2 0 0 7 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien • Köln Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Druckmanagement, 63200 Brno
Inhalt Vorwort
1
9
Zur Geschichte der Jugendfürsorge
Kontinuität oder Bruch? Zur Geschichte der Intelligenzmessung im Wiener Fürsorgesystem vor und in der NS-Zeit Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka
15
Exkurs: Zur historischen Entwicklung der Jugendfürsorge Ernst Berger
41
Zur Geschichte des Wiener Jugendamtes Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka
2
47
Kindererziehung im Nationalsozialismus
„Erziehungs"-Terror: Politische und gesellschaftliche Voraussetzungen von Kindsein im Nationalsozialismus Peter Malina
91
Die „Schwarze Fürsorge" des Nationalsozialismus Peter Malina
107
NS-Fürsorge in Wien Peter Malina
119
Verfolgte Kindheit: Kinder und Jugendliche als Objekte der NS-Aussonderungs-„Pädagogik" Peter Malina
3
125
Institutionen der NS-Fürsorge
Zur Struktur des Fürsorgewesens im NS-Wien Vera Jandrisits
139
6
Inhalt
Zur Geschichte des „Spiegelgrunds" Peter Malina
159
Die Entwicklung der Kinderübernahmestelle in Wien zwischen 1910 und 1938 Regina Böhler
193
Die Wiener Kinderübernahmestelle in der NS-Zeit Vera Jandrisits
197
Die Auswertung der Kinderkarteikarten des Geburtenjahrganges 1931 der Wiener Kinderübernahmestelle Regina Böhler
203
Die Auswertung der Kinderkarteikarten des Geburtenjahrganges 1938 der Wiener Kinderübernahmestelle Vera Jandrisits
235
Die Wiener städtische Erziehungsanstalt Biedermannsdorf als Institution der NS-Fürsorge-Ouellenlage und Fallbeispiele Peter Malina
263
Die Entwicklung jüdischer Fürsorgetätigkeit in Wien zwischen 1929 und 1945 Regina Böhler
277
Die „Jugendschutzlager" Uckermark und Moringen im System nationalsozialistischer Jugendfürsorge Regina Fritz
303
Ein Leben nach dem „Spiegelgrund" Peter Malina
327
4
Überlegungen zur Beschäftigung mit Überlebenden aus psychoanalytischer und psychiatrischer Sicht
Krankengeschichten und Diagnosen Marie-Luise Kronberger (unter Mitarbeit von Ernst Berger)
335
Inhalt
7
Psychoanalytische Überlegungen zu den Gesprächen und Interviews mit Überlebenden vom „Spiegelgrund" Elisabeth Brainin
347
Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Forschungsprojekt Elisabeth Brainin und Samy Teicher
361
Zusammenfassende Interpretation der Interviews Marie-Luise Kronberger
5
379
Anhang
Literatur
389
Tabellarische Auswertung des Geburtsjahrgangs 1931 der Wiener KÜSt Regina Böhler
413
Tabellarische Auswertung des Geburtsjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt Vera Jandrisits
429
Verzeichnis der Abkürzungen
447
Biografische Angaben
451
Register
453
Editorische Notizen: Wir haben uns entschieden, bei allen im Buch angeführten Zitaten stets die Originalschreibweise beizubehalten, ohne Rechtschreibfehler als solche zu kennzeichnen. In Tabellen angeführte NS-Terminologie ist als Zitat zu verstehen, auch wenn keine Kennzeichnung als solches erfolgte. Alle in Fußnoten gesetzten Verweise auf Tabellen beziehen sich auf die im Anhang befindlichen tabellarischen Darstellungen. Dr. Johann Krenek nannte sich als Autor„Hans Krenek", wird jedoch in Akten vor und nach 1945 immer wieder als „Johann Krenek" bezeichnet. Wir sprechen einheitlich von „Johann Krenek", zitieren seine Publikationen jedoch unter „Krenek, Hans". Dr. Heinrich Gross scheint in den Quellen sowohl als „Groß" als auch als „Gross" auf; in der NS-Zeit wie auch später wurden auch von ihm selbst beide Schreibweisen verwendet. Publiziert hat er nach 1945 durchwegs unter dem Namen „Gross". Im Prozessakt scheint er ebenfalls als „Gross" auf. Wir verwenden stets die Schreibweise „Gross".
Vorwort Ernst Berger
Mein Fachgebiet - die Kinderpsychiatrie - war verantwortlich für das Töten und Quälen von Kindern. Verantwortlich in doppeltem Sinne: Psychiater erklärten gemeinsam mit anderen Wissenschaftern, dass behinderte und psychisch kranke Menschen kein lebenswertes Leben hätten und dass diese Menschen und auch solche,die sieals„asozial" bezeichneten,die Gemeinschaft der anderen störten. Die zweite Seite der Verantwortlichkeit war, dass Psychiater von den Nazis die Vollmacht erhielten, Tötungsfantasien in die Wirklichkeit umzusetzen, und dies - soweit wir heute wissen - konsequent und ohne nennenswerten Widerstand taten. Gemeinsam mit den Fürsorgeeinrichtungen sollte Wien von einer so genannten „negativen Auslese", die etwa 15 % der Bevölkerung umfasste,„gereinigt" werden. Wissenschafter und Ärzte haben 60 Jahre lang geschwiegen. Sie haben sich aktiv an der Verleugnung dessen beteiligt, was damals geschah. Im Gedenken an die Opfer müssen wir heute den Versuch machen, zu verstehen, was damals geschah. Wir müssen verstehen, dass dieses Denken und Handeln in der Logik der Wissenschaft lag und nicht dieser von verbrecherischen Machthabern aufgezwungen wurde. Wir müssen verstehen, dass es um den Inhalt von Wissenschaft g e h t - u m das Menschenbild und um Ethik. Wir müssen verstehen, dass der Biologismus, der den Menschen auf seine biologischen Eigenschaften reduziert, die dominierende Wissenschaftsposition der damaligen Zeit, die Basis der Erb- und Rassenlehre war. Wir müssen verstehen, dass der Utilitarismus jene ethische Position ist, die das Leben des einzelnen Menschen nur nach seinem Wert für die anderen beurteilt. Wir müssen verstehen, dass diese beiden Haltungen die wissenschaftliche Grundlage dafür geliefert haben, das Leben behinderter und psychisch kranker Menschen sowie jener Menschen, die damals als „Asoziale" bezeichnet wurden, als „lebensunwert" zu definieren und durch Mord zu beenden. Und wir müssen verstehen, dass diese beiden Positionen auch heute existieren: Der Biologismus gewinnt neue Kraft aus der modernen Gen-Forschung, wenn diese unser Menschsein auf die Eigenschaften unserer Gene reduzieren will und es entspricht utilitaristischem Denken, wenn Hilfe für schwache Mitglieder unserer Gesellschaft nach den Gesichtspunkten der Nützlichkeit und nicht nach jenen der Solidarität organisiert wird.
10
Vorwort
Nur wenn wir aus dem damaligen Geschehen die Lehren für heute ziehen, können wir unserer Pflicht gegenüber den O p f e r n - w e n n g l e i c h mit 60 Jahren Verspätung-gerecht werden. Wir müssen - dem großen Sozialpsychiater Franco Basaglia folgend - das „Andersartige" als Teil des gesellschaftlichen Lebens begreifen. Wir müssen die Jugendpsychiatrie und die Jugendfürsorge so gestalten, dass sie die Forderung Basaglias realisieren und sich weigern, das so genannte „Andersartige" auszugrenzen. Nur dann können wir die Ehre der Opfer wiederherstellen und einer Prophezeiung entgegenwirken, die uns Erich Fried in einem Gedicht hinterlassen hat: Erich Fried „Was geschieht" Was geschieht Es ist geschehen und es geschieht nach wie vor und wird weiter geschehen wenn nichts dagegen geschieht. Die Unschuldigen wissen von nichts, weil sie zu unschuldig sind und die Schuldigen wissen von nichts, weil sie zu schuldig sind. Die Armen merken es nicht, weil sie zu arm sind und die Reichen merken es nicht, weil sie zu reich sind. Die D u m m e n zucken die Achseln, weil sie zu d u m m sind und die Klugen zgcken die Achseln, weil sie zu klug sind. Die Jungen kümmert es nicht, weil sie zu j u n g sind, und die Alten kümmert es nicht, weil sie zu alt sind.
Vorwort
11
Darum geschieht nichts dagegen und darum ist es geschehen und geschieht nach wie vor und wird weiter geschehen.1 (Rede, gehalten anlässlich der Beisetzung von 6 0 0 Urnen mit sterblichen Überresten von „am Spiegelgrund" ermordeten Kindern am 28. April 2002 auf dem Wiener Zentralfriedhof)
1
Fried, E., Was geschieht. In: Ders., Einbruch der Wirklichkeit. Berlin 1991, S. 64.
i
Zur Geschichte der Jugendfürsorge
Kontinuität öder Bruch? Zur Geschichte der Intelligenzmessung im Wiener Fürsorgesystem vor und in der NS-Zeit Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka
Die Geschichte des Faches Psychologie im Nationalsozialismus ist seit den Pionierarbeiten von Ulfried Geuter, also seit den frühen achtziger Jahren, ein viel diskutiertes Thema. Bemerkenswert ist, dass niemand sich davon betroffen fühlt. Wie anders laufen da die Diskussionen z. B. im Kontext der Psychoanalyse o d e r - neuerdings - im Kontext der deutschen Geschichtswissenschaft. Was dort die sachliche Thematisierung derVergangenheit behindert, ist die emotionale Verstrickung der wissenschaftlichen Generationen nach 1945 in ebendiese Vergangenheit, d. h. - u m beim Beispiel der Geschichtswissenschaft zu b l e i b e n - v o r allem die emotionale Bindung der akademischen Söhne und Töchter an ihre Doktor- und/oder Habilitationsväter. Die scheinbare Sachlichkeit der Diskussion in der Psychologie ist zunächst also lediglich dem Umstand geschuldet, dass die Personen, deren Tun und Lassen in der NS-Zeit heute t h e m a tisiert wird, niemandes Vater mehr sind. Sie sind keine Väter mehr, weil jene Psychologie, die die Psychologen damals vertreten haben - Ausdruckspsychologie, Charakterologie etc. - , heute niemand mehr ernsthaft zu vertreten gewillt ist. Die alte deutsche Tradition der Psychologie mit ihren lebensphilosophischen Wendungen und Windungen im Namen der Ganzheitlichkeit, dieses merkwürdige Konglomerat aus Menschenbeobachtung, gesundem Menschenverstand und intuitivem Urteil, ist insofern längst Geschichte geworden, als es den heutigen Psychologen und Psychologinnen einfach als lächerlich erscheint, so lächerlich, wie dem Erwachsenen bisweilen die mit Eifer und Ernst vertretenen Ideale der eigenen Adoleszenzzeit erscheinen. Noch in einer anderen Hinsicht ist diese „Sachlichkeit" der Psychologen trügerisch: Die Distanzierung von der Psychologie der Vorfahren wird sozusagen ins Positive gewendet. Die Psychologie damals war, so wird es gesehen, anfällig für das Eindringen von Weltanschauung, weil sie selbst ja schon - zumindest in Teilen - nichts anderes war als Weltanschauung. Jedenfalls keine sachlich-nüchterne, d. h.an den Naturwissenschaften und nicht an Philosophie und Geisteswissenschaften orientierte empirische Forschung. Dieses Argument ist selbst alles andere als sachlich-nüchtern: Es ist mehr ein Glaubenssatz, oder besser: eine Illusion, weil Illusionen mit Wünschen zu tun haben und damit auch mit starken Emotionen. Die „jungen", „sachlichnüchternen" Wissenschaftskrieger der Psychologie, die seit den fünfziger und sechziger Jahren
i6
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
mit ihrem Bekenntnis zu Empirismus und Kritischem Rationalismus das Feld der Psychologie beherrschen, wünschen sich, dass die Welt einfach ist, fein säuberlich zu unterteilen in Cut und Böse. Böse, das sind die zu großzügigem Spekulieren neigenden Ausdruckskundler und Charakterologen der zwanziger und dreißiger Jahre. Gut - das sind die allein auf die Erfahrung setzenden modernen Persönlichkeitsforscher, die sine ira et studio, also wertneutral, die Dinge so untersuchen, wie die Dinge eben wirklich sind. Natürlich kommt auch ein „sachlich-nüchterner" Persönlichkeitsforscher nicht ohne Väter aus. Die Väter, die er sich erwählt, passen dann allerdings nie so ganz in das eigene Bild von fortschrittlicher Wissenschaft. Die Lösung ist manichäisch.d. h.dass, so wie alles andere, auch das Werk des erwählten Vaters einfach in Gut und Böse auseinandergerissen wird. Was zur eigenen modernen Auffassung passt, darf bleiben, ist sozusagen lehrbuch-fähig. Der Rest wird einfach verschwiegen. Sir Francis Galton z. B. kennen viele Generationen von modernen Psychologen und Psychologinnen als einen Begründer der modernen Testpsychologie und - fast wichtiger noch - als den großen Pionier der modernen Korrelationsrechnung. Dass Galton auch die angewandte Wissenschaft-was für ein Zauberwort in den Ohren der Neoliberalen! -„Eugenik" begründet hat, gilt in der modernen Psychologie, falls es überhaupt bekannt ist, als eine Art historisches Hoppala. Es wird streng unterschieden, was ernst zu nehmen sei und was nicht. So als ob die Geschichte der so genannten „Intelligenzmessung" nie und nimmer etwas mit Rassismus zu tun gehabt hätte. Die viel gerühmten Pioniere der Testpsychologie- Galton, Terman, Goddard etc.-, sie alle waren stramme Rassisten und, dem eigenen Selbstverständnis nach, natürlich strenge Empiristen. Allerdings verhält sich auch diese Sache nicht gar so einfach. Alfred Binet, der eigentliche Erfinder der so genannten Intelligenzmessung, hat zeit seines Lebens vor einer Naturalisierung des Konzepts der Intelligenz gewarnt - nicht zuletzt auch deshalb, weil er die fatalen Konsequenzen einer sozialdarwinistischen (Miss-)lnterpretation seines Konzepts vorausgeahnt hat. Intelligenzmessung ist also nicht einfach die Angelegenheit von grimmigen Reaktionären. Im Gegenteil: Besieht man sich die Geschichte der Intelligenzkonzepte genauer, so ist es zunächst gerade auch ein sozialreformerischer Kontext, in dem Forschung und Praxis vorangetrieben wurden. Jahrelang hat die Tradition der Intelligenzmessung davon gelebt, dass man der Behauptung Glauben schenkte, dass „die" Nationalsozialisten das Konzept der Intelligenz als „amerikanisch" und daher „westlich entartet" abgelehnt hätten. Dass dies nicht haltbar ist, will der vorliegende Beitrag darlegen: Es wird gezeigt, wie die von Erwin Lazar an der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik Wien entwickelten Methoden zur Intelligenzprüfung in dem damals weltweit als fortschrittlich und vorbildhaft erachteten Fürsorgesystem des Roten Wien zum Einsatz gebracht wurden. Die Anwendung der von Lazar erarbeiteten Methoden sollte Kinder aus vorwiegend unterprivilegierten Schichten davor schützen, vorschnell als dissozial und bildungsunfähig behandelt zu werden.
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
17
Diese im Roten Wien entwickelte testpsychologische Praxis wurde dann bruchlos in den Diskurszusammenhang der Fürsorge im Nationalsozialismus übernommen. Die medizinischen Auffassungen über Schwachsinn selbst sind im Vergleich zu den Jahren davor keine gänzlich neuen, anderen geworden. Sie haben sich lediglich radikalisiert: Erbbestimmte Bildungsunfähigkeit wurde mit dem Konzept der Aufwandwürdigkeit verbunden und damit der„eliminatorische" Anspruch der Selektion im Fürsorgewesen offen zum Ausdruck gebracht.
Anfänge der Intelligenztest-Entwicklung Francis Galton 1 (1822-1911), ein Vetter Darwins (1809-1882),„Apostel der Quantifizierung" 2 und „ersterTestkonstrukteur"3, unternahm als Ersterden Versuch, Intelligenz in Zahlen zu fassen. Galtons Forschungen waren von seinem Glauben an die Erbbestimmtheit bzw. die genetische Determination intelligenten Verhaltens bestimmt. Ausgehend von Darwins Evolutionstheorie, die besagte, dass für das Überleben von Tierformen ihre Anpassungsfähigkeit an die Umwelt ausschlaggebend sei, sollte auch den Individuen innerhalb der menschlichen Gesellschaft das Prinzip des„Survival of the Fitest" zugrunde liegen. Das bedeutete, dass soziale Rangordnungen in der Gesellschaft als Resultat erbbiologischer Anpassungsprozesse aufgefasst wurden. Der Gedanke, dass sich auch psychische Eigenschaften vererben,führte Galton zur Suche nach Indikatoren für „gutes Erbmaterial", an die Maßnahmen „zur Züchtung der menschlichen Rasse" 4 angreifen konnten: „Das schließliche Ziel wäre, Mittel zu ersinnen, um Individuen zu begünstigen, die Zeichen der Mitgliedschaft in einer überlegenen Rasse zeigen, das nächste Ziel wäre zu ermitteln, was diese Zeichen sind."*
1
Francis Galton, 1822 in Birmingham geboren, studierte Medizin in London und Mathematik in Cambridge, unternahm 1845-1855 mehrere Forschungsreisen nach Südwest- und Nordafrika und widmete sich danach seinen Forschungen. Er publizierte auf dem Gebiet der Geographie, Meteorologie (er erfand die Wetterkarte und entdeckte die Antizyklone), Psychologie (er gilt als Begründer der Psychometrie, als der Erste, der Intelligenztests erstellte, als einer der Ersten, die die Fragebogenmethode zur Untersuchung psychologischer Sachverhalte verwendeten; er erfand den Wortassoziationstest, begründete die Zwillingsforschung und wandte erstmals die Normalverteilungskurve auf psychologische Daten an) und Statistik (Entwicklung und Anwendung der Korrelationsrechnung, die von seinem Schüler Charles Pearson weiter ausgebaut wurde). Galton ist der Begründer der„Eugenik", (gr.„eugenes" = „wohlgeboren"), der „Erbgesundheitslehre", die in Deutschland lange mit „Rassenhygiene" gleichgesetzt wurde. Er starb 1911 in London.
2
Gould, S. J., Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt a. M. 1999, S. 75.
3
Schmid, R., Sozialhistorische und sozialpolitische Aspekte von psychologischen Testverfahren. l n : G r u bitzsch, S. und Rexilius, G. (Hg.),Testtheorie-Testpraxis. Voraussetzungen,Verfahren, Formen und Anwendungsmöglichkeiten psychologischer Tests im kritischen Überblick. Reinbek 1987,5.18.
4
Ebd.
5
Galton, F., Inquiries into Human Faculty and its Development. London 1883,zit. nach Schmid, Aspekte,S. 18.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
i8
In Bezug auf die Verteilung guter und schlechter Anlagen unter den verschiedenen „Rassen" bestanden für den Biologen Galton keine Zweifel. In seinem 1869 erschienenen Buch „Hereditary Genius" 6 schrieb er: „Die natürlichen Anlagen, von denen dieses Buch handelt, sind der Art, wie sie ein moderner Europäer In einem weit größeren Durchschnitt besitzt als Menschen niedrigerer Rassen. Wir finden nichts In der Domestikation von Tieren oder in der Evolution, was uns bezweifeln läßt, daß eine Rasse gesunder Menschen gebildet werden kann, die den modernen Europäern geistig und moralisch ebenso überlegen wäre, als die modernen Europäer den niedrigsten Negerrassen überlegen sind."7 In der Vorrede zu seinem Buch berichtete Galton, dass ihm aufgefallen sei, wie sehr sich „Begabung" auch Innerhalb einer Familie vererbe. Die Stammbaumanalyse von ausgezeichneten Männern in verschiedenen Berufen ergab für ihn eine klare Bestätigung der Vererbungstheorie, konnte doch gezeigt werden, dass diese herausragenden Männer auch hervorragende Blutsverwandte hatten. 8 Nach Galton war die unterschiedliche quantitative Ausprägung des Merkmals „Intelligenz" innerhalb einer bestehenden Gesellschaft normalverteilt. Wichtig ist In diesem Zusammenhang zu sehen, dass es sich dabei um eine bloße A n n a h m e handelt; noch dazu u m eine Annahme, die denkbar schlecht - nämlich zirkulär - begründet war: Well es sich bei der Intelligenz um ein natürliches Merkmal handele, u m ein natürliches Merkmal wie etwa die Körpergröße, so müsse Intelligenz wie andere natürliche Merkmale auch normalverteilt sein. Die Frage, warum Intelligenz als natürliches Merkmal aufzufassen sei, wurde dann wiederum mit Hinwels auf die Normalverteilung beantwortet. Dies ist deshalb wichtig, weil die Annahme einer Normalverteilung psychischer Eigenschaften letztlich für die gesamte Tradition der modernen Testpsychologie grundlegend geblieben ist: „Dieses biologische Verteilungsgesetz und seine Darstellung in der Glocken kurve ermöglicht es, auch im psychischen Bereich zu bestimmen, was als mittlere, als unterdurchschnittliche und als überdurchschnittliche Leistung zu gelten hat. Die Gaußsche Kurve stellt darum eine
6
Galton, F., Hereditary Genius. London 1869. Deutsche Ausgabe: Genie und Vererbung. Leipzig 1910.
7
Galton, F., Genie und Vererbung. Leipzig 1910,S. 9.
8
Die schwache theoretische Basis von Galtons Stammbaumanalyse legt Praschek(Praschek,T., Geschichte des deutschen Sozialdarwinismus bis 1914. Diplomarbeit Wien 1991,5.43) dar: „Er setzt also .Anerkanntheit' mit Intelligenz gleich, was an sich schon absurd ist, und schließt von Intelligenz unberechtigter Weise auf deren biologisch-genetischen Ursprung." Berühmtheit als Gradmesser für Intelligenz definiert Galton folgendermaßen: Menschen von „hohem Ruf" seien solche, „bei deren Tod der ganze Intelligente Teil der Bevölkerung trauert".
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
19
der wichtigsten mathematischen Grundlagen für die ganze Testpsychologie, insbesondere für die Eichung (Normierung) der Tests dar."9
Der Wunsch, seinen sozialdarwinistischen Ansatz empirisch zu fundieren, veranlasste Galton dazu, das „Eugenics Laboratory" im South Kensington M u s e u m in London ins Leben zu rufen. Es sollte d e m S t u d i u m der Frage dienen, „in welcher Weise soziale U m s t ä n d e verbessernd oder verschlechternd a u f die physischen und psychischen Rasseeigentümlichkeiten zukünftiger Generationen wirken". 1 0 Die Hauptarbeit des Laboratoriums, in d e m über 9 0 0 0 Personen registriert waren, bestand in der S a m m l u n g von statistischem Material über die geistige und körperliche Beschaffenheit von Menschen und über die Beziehungen dieser Eigenschaften zu Vererbung und Umwelt.' 1 In der Umsetzung dieses Programms wurden schließlich erste Ansätze zu einer „Intelligenzmessung" entwickelt. Galtons „Intelligenztests" lag die Theorie zugrunde, dass b e s t i m m t e messbare Fähigkeiten - z. B. einfache Sinnesleistungen - mit Intelligenz korrelieren' 2 und „dazu benützt werden können, in gewissem S i n n e d e n Grad der Intelligenz, der j e m a n d zukommt, vorauszusagen":
„Aufgrund von Beobachtungen mit dem Ergebnis, daß die Diskriminierungsfähigkeit von Idioten für Hitze, Kälte und Schmerz sehr abgestumpft ist und aufgrund der Tests, die er bis dahin zur Empfindungsfähigkeit von verschiedenen Personen durchgeführt hatte, nahm er an, daß diese Unterscheidungsfähigkeit im Bereich der Sinne,alles in allem bei den intellektuell Fähigsten am größten sein würde' [...] Auf diese Weise setzte er zweifellos zu diesem frühen Zeitpunkt Wesentliches der Testtheorie (theory of mental tests) voraus, und er arbeitete tatsächlich quantitative Tests heraus, basierend auf diesem Standpunkt."' 3
9
Kramer, J., Intelligenztest. Solothurn 1962, zit. nach Grubitzsch.S., Konstruktion psychologischer Tests. In: Grubitzsch/Rexilius (Hg.),Testtheorie-Testpraxis, S.85. 10 Elderton, E. M., Das Eugenics Laboratory. Zeitschriftfür angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. 5. Jg. 1909,(1 u. 2), S. 310. n Vgl. Praschek, Geschichte, S. 42. 12 Galton veröffentlichte 1888 die Schrift: „Correlations and their measurement, chiefly from anthropometric data." Hier entwickelte Galton ein einfaches Verfahren zur Berechnung von Zusammenhängen, das zu einem „index of co-relation" führte. Sein Schüler Karl Pearson (1857-1936) verbesserte die Methode zur Produkt-Moment-Korrelation; vgl. Ingenkamp, K., Geschichte der Pädagogischen Diagnostik. Pädagogische Diagnostik in Deutschland 1885-1932. Weinheim 1990, S. 121. Pearson wurde der erste Inhaber des von Galton gestifteten Lehrstuhls für Eugenik am Londoner University College. 13 Schmid, R., Intelligenz- und Leistungsmessung. Geschichte und Funktion psychologischer Tests. Frankfurt a.M. 1977, S. 19.
20
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich mit der Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse die gesellschaftspolitische Ausrichtung der psychiatrischen Denkweise zu verändern. Schmid stellt hierzu fest: „An kaum einer Institution ließ sich die Willkür und Despotie der feudalen Herrschaft besser zeigen als andern Irrenhaus, Tollhaus oder wie es sonst genannt sein mochte. Es war deshalb nur folgerichtig, dass fortschrittliche Fraktionen des Bürgertums die zu Unrecht Eingesperrten dort zu befreien suchten und die Internierungshäuser aus der Zeit des Absolutismus als Kennzeichen feudaler Machtausübung angriffen."14 Als unmittelbare Konsequenz auf die Beseitigung der Internierungsanstalten musste die Frage nach den noch „zu Recht" Internierten beantwortet werden. In der Psychiatrie galt als Kriterium, ob und in welchem Umfang Patienten sich den Anforderungen des alltäglichen Lebens anpassen konnten. In diesem Kontext wurde nun erstmals der mögliche Einsatz experimentalpsychologischer Verfahren thematisiert. Der Psychiater Emil Kraepelin (1855-1926) hielt in dem 1883 erschienenen „Compendium der Psychiatrie zum Gebrauch für Studierende und Ärzte" unter dem Kapitel: „Die Hülfswissenschaften und Methoden der psychiatrischen Forschung" Folgendes fest:
„[Die experimentelle Psychologie] lehrt uns, mit Hülfe des Experimentes zunächst die einfachsten psychischen Vorgänge in ihren qualitativen und quantitativen Beziehungen, wie in ihrem zeitlichen Verlauf gesondert zu studieren, und sie wird auch, so wenig sie bisher von den Irrenärzten kultiviert worden ist, der Psychopathologie neue reiche Quellen der Erkenntnis zu eröffnen im Stande sein."'5 Konrad Rieger (1855-1939) publizierte im Jahr 1889 als erster Psychiater einen „Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der Intelligenzprüfungen", mit der folgende Dimensionen erhoben werden sollten: Perzeption (optische, akustische,taktile u.a.Wahrnehmungen);Apperzeption (wobei festgestellt wird, ob die Perzeptionen die passenden Assoziationen auslösen); Gedächtnis und unmittelbares Behalten; Nachahmung: Nachsprechen (von einfachen Lauten bis zu fremden Wörtern), Nachsingen, Nachpfeifen usw.; Äußerungen von Assoziationen: Aufzählen von Wochentagen, Monaten, Beantwortung von Fragen, spontanes Sprechen, Darstellung von Gebärden usw.; Identifizierendes Erkennen: a) unter Ausschluss der Sprache (von optischen, akustischen usw.
14
Ebd., S.45.
15
Zit. nach Schmid, Intelligenz- und Leistungsmessung,S. 51 f.
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
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Eindrücken) b) Benennung von Gegenständen; Umsetzung von Sinneseindrücken in sprachliche Begriffe; Kombination (Zahlen, Lesen, Algebra, Schachspiel usw.).16 Ein einheitliches, auf experimentell-psychologische Untersuchungen gestütztes Diagnosesystem konnte sich im psychiatrischen Diskurs jedoch nicht durchsetzen. So merkte der im deutschsprachigen Raum einflussreiche Psychiater Theodor Ziehen (1897) an: „Ich erkenne den theoretischen, methodologischen Wert der Uniformität der Prüfungsfragen zwar an, halte aber für den praktischen Zweck der Diagnoseerstellung im Einzelfall den Verzicht auf Uniformität und eine weitgehende Niveauanpassung nicht nur für zulässig, sondern auch für notwendig."" Es war gerade dieser „Verzicht auf Uniformität" innerhalb der psychiatrisch-diagnostischen Praxis, der von William Stern in seinem 1912 erschienenen Buch „Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung" beklagt wurde. Stern hatte bei den Untersuchungsserien der Psychiater den Eindruck, „als ob die Auswahl der Tests mehr durch Zufall und Willkür als aufgrund einer wirklichen Eichung erfolgt wäre [...] Die Folge der Zufallsauswahl ist dann aber auch die mangelnde Übereinstimmung in den Testserien verschiedener Forscher; jede psychiatrische Klinik besitzt ihre Sondermethodik der Intelligenzprüfung, jeder Nervenarzt, jeder Hilfsschularzt wählt sich seine Tests nach privater Liebhaberei aus."'8 Der Versuch der Erfassung intellektueller Funktionen durch entsprechendeTestverfahren sollte neben den Psychiatern noch einer anderen Berufsgruppe zugutekommen: den um eine naturwissenschaftliche Fundierung ihrer Lehre bemühten Pädagogen. Der einheitliche Gebrauch von Intelligenztests als Diagnosemittel setzte sich schließlich nicht in der Psychiatrie, sondern in der Pädagogik durch. Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen sich jene Bildungsinstitutionen zu verfestigen, auf denen das Schulwesen im Wesentlichen noch heute basiert. Im Mittelpunkt der herrschenden bürgerlichen Ideologie stand das Individuum, das ungeachtet seiner wirtschaftlichen Bedingungen durch eigene Kraft zu Glück und Wohlstand gelangen kann. Diese Ansicht verhalf einem differenzierten Bildungssystem zu dauerhafter Existenz. Mit der zunehmenden Industrialisierung,Technisierung und Verstädterung offenbarten sich aber auch die sozialen Kosten des gesellschaftlichen Fortschritts: Die ehemalige aufklärerische Forderung, dass Bildung das Recht jedes Menschen sei, wurde mehr und mehr zurückgedrängt. Nicht alle Individuen hatten die
16
Vgl. Ingenkamp,Geschichte, S. 106.
17
Zit. nach ebd., S. 102.
18
Zit. nach ebd., S. 108.
22
i. Zur G e s c h i c h t e der J u g e n d f ü r s o r g e
gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsinstitutionen. Die Frage der Zuordnung von Individuen zu Bildungsinstitutionen war daher nicht eine Frage der Anpassung individueller Ansprüche an institutionelle Angebote, sondern eine Frage der Selektion der„Besten", der Auswahl der „Am-besten-Geeigneten". Holzkamp führt dazu aus: „Schulsysteme mit rigoroser Auslese von,unten' nach ,oben' erscheinen so als sinnvolles Mittel der Heraussonderung der,von Natur aus Besten', die demgemäß dazu bestimmt sind, gesellschaftliche Führungspositionen einzunehmen, und der Zurückdrängung .minderwertigen' Menschenmaterials. Dabei kann hier auf zirkuläre Weise der Anteil, der die institutionellen Selektionsfilter passieren kann, als Anteil der durch .natürliche' Begabung und Intelligenz besonders Ausgezeichneten gedeutet werden."1' Intelligenz und Bildungsfähigkeit wurden zunehmend mit Erwerbsfähigkeit gleichgesetzt. Somit wurde der Erziehung der Bildungsfähigen immer mehr Gewicht beigemessen. Die Argumentationslinie verlief nach dem Muster: Je mehr für die Erziehung von Bildungsfähigen aufgewendet wurde, umso weniger belasten diese später den Staat. 20 So war die Einführung des Unterrichts für „schwachsinnige" Kinder einer von vielen Versuchen, die Not der Arbeiterkinder zu mindern. Allerdings sollte nur da Mühe aufgewendet werden, wo es sich auch lohne. Ein zeitgenössischer Autor erläuterte dies anschaulich: „Durch die Einführung dieses Unterrichtes für schwachsinnige Kinder könnte auch außerordentlich viel auf sozialem Gebiet geschaffen werden; durch das Mittel der Hilfsschulen könnte verhindert werden, daß ein großer Teil dieser Schwachsinnigen wie in früheren Zeiten und bisher als Bettler, Arbeitsscheue, als Prostituierte und Verbrecher den öffentlichen Armen-, Siechen-, und Strafhäusern zur Last fällt und damit auch die Allgemeinheit finanziell belastet. Wenn ein solcher eigener Unterricht für schwachsinnige Kinder, für Schwachbefähigte eingeleitet würde, so wäre es möglich, dieselben anzuleiten, sich ihr Brot, wenn schon nicht zu verdienen, doch wenigstens mitzuverdienen und auf diese Weise wieder brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden."2'
19
H o l z k a m p , K., B e g a b u n g - Intelligenz. In: Wulf, C. (Hg.), W ö r t e r b u c h der Erziehung. M ü n c h e n =1976, S. 4 4 - 7 9 , zit. n a c h S c h m i d , Testverfahren, S. 24.
2 0 Vgl. Wiesbauer, E., D a s Kind als Objekt der W i s s e n s c h a f t : m e d i z i n i s c h e u n d p s y c h o l o g i s c h e Kinderfors c h u n g an der W i e n e r Universität 1 8 0 0 - 1 9 1 4 . W i e n 1 9 8 1 , 5 . 1 2 4 f. 21
Zit. n a c h Fadinger, B., Die v e r g e s s e n e n W u r z e l n der H e i l p ä d a g o g i k . Erwin Lazar u n d die H e i l p ä d a g o g i sche Station a n der Universitäts-Kinderklinik in W i e n . D i p l o m a r b e i t W i e n 1 9 9 9 , S. 11 f.
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
23
Die Idee der Bildungsfähigkeit von „Schwachsinnigen" führte zu einer neuen Sichtweise: Leichte sollten von schweren Formen des Schwachsinns differenziert werden. Die Intelligenz wurde dabei z u m Entscheidungskriterium für die weitere Bildungsfähigkeit. Die A n w e n d u n g e n von Intelligenztestungen in der Schule lassen sich für den deutschen Sprachraum a u f die letzten Dezennien des a u s g e h e n d e n 19. Jahrhunderts datieren. Zu Recht nennt Laux H e r m a n n E b b i n g h a u s ( 1 8 5 0 - 1 9 0 9 ) als den Begründer einer Pädagogischen Diagnostik. Dessen G e d ä c h t n i s u n t e r s u c h u n g e n t r u g e n insofern zur Konstruktion von Intelligenztests bei, als sie den Blick auf das Experimentieren mit Laien als Versuchspersonen frei gaben. 2 2 Andererseits w u r d e die experimentelle Untersuchung des Schwierigkeitsgrades verschiedener Aufgaben - im Anschluss an Ebbinghaus z. B. über die B e s t i m m u n g des A u s m a ß e s an psychischer Arbeit, das in das Erlernen von Lernmaterial investiert werden muss - zu einem zwar einfachen, aber sehr wirkungsvollen Prinzip bei der experimentell-psychologischen Testkonstruktion. 23
Diagnose und Prognose - der Intelligenztest von Binet und Simon
1 9 0 4 beauftragte das französische Unterrichtsministerium eine K o m m i s s i o n „mit der Frage des Unterrichts geistig zurückgebliebener Kinder". 2 " Dieser Auftrag erfolgte i m Kontext der Frage, w i e das Gesetz zur a l l g e m e i n e n Schulpflicht von 1882 auch a u f zurückgebliebene und s c h w a c h s i n n i g e Kinder zur A n w e n d u n g k o m m e n könne. 25 Die Kommission bestimmte, dass eine Prüfung der geistigen Fähigkeiten der Schüler darüber entscheiden sollte, ob sie in der Normalklasse verbleiben konnten oder ob sie in eine Hilfsschule a u f g e n o m m e n werden sollten. Alfred Binet (1857-1911), Direktor des psychologischen Laboratoriums an der Sorbonne, und sein Mitarbeiter Théophile Simon entwickelten daraufhin ein Verfahren, mit dessen Hilfe entschieden werden sollte, welche Kinder geistig nicht in der Lage sein würden, d e m Normalunterricht zu folgen. Wichtigstes Kriterium für die Testentwicklung war, dass das Instrument in der Praxis leicht und bequem anzuwenden sei. Binet und Simon sahen deshalb von den in der Psychologie üblichen Labortestungen ab. 1905 legten sie das „Maßsystem zur B e s t i m m u n g des intellektuellen Niveaus geistig Anormaler" vor, das aus 30 verschiedenen Test-Aufgaben 2 6 bestand. 27
22
Vgl. Benetka, C., Denkstile der Psychologie. Das 19. Jahrhundert. W i e n 2002,8.131.
23
Vgl. Ingenkamp, Geschichte, S. 113.
24
Laux, H., Geschichte der Pädagogischen Diagnostik. Pädagogische Diagnostik im Nationalsozialismus
1933-1945. Weinheim 1990,5.124. 25
Vgl. Schmid, Intelligenz- und L e i s t u n g s m e s s u n g , S . n 8 .
26 1 9 0 8 wurde die zweite, revidierte Binet-Simon-Skala veröffentlicht. Sie enthielt 4 9 Aufgaben. 27
Vgl. Laux, Geschichte, 5.124.
l. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
24
Erstellung und Auswahl der 30 Aufgaben waren das Resultat langwieriger empirischer Forschungsarbeit. 2 8 Kindern verschiedenen Alters und verschiedener sozialer Herkunft wurden Aufgaben gestellt und aufgrund der erzielten Ergebnisse wurde entschieden, welche Aufgaben für das Testsystem beibehalten werden sollten - nämlich nur diejenigen, die eine Unterscheidung zwischen „normalen" und „anormalen" Kindern ermöglichten. Die einzelnen Aufgaben wurden nach ihrem Schwierigkeitsgrad in eine Rangfolge gebracht - von Aufgaben, die auf der Stufe des „niedersten" Intelligenzniveaus gelöst werden konnten, bis zu Aufgaben, die nur von Kindern mit „normalem" Intelligenzniveau zu lösen waren: „Sämtliche Aufgaben hatten einen stark verbalen Charakter, aber sie erfaßten doch sehr verschiedenartige Probleme, wie z. B. Benennung von Gegenständen, Ergänzung unvollständiger Sätze, Verstehen von Sätzen. Die Aufgaben wurden an etwa 50 normalen und einigen schwachsinnigen Kindern ausprobiert, und es wurde eine Rangordnung der Schwierigkeit festgelegt."29 Als Grundlage der psychologischen Beurteilung der Intelligenz verwendeten Binet und Simon das Lebensalter (LA) der untersuchten Kinder. Die Altersunterschiede dienten gewissermaßen als äußerlich feste Punkte, an denen das Verhalten eines Kindes gegenüber bestimmten Tests eine Messung seines intellektuellen Niveaus gestattete. Otto Bobertag, der den Test 1914 für den deutschsprachigen Raum adaptierte, stellte dazu fest: „Solange man solcher festen Punkte entbehrt, ist man auf willkürliche Abschätzung angewiesen: man hat verschieden gute Resultate in der Hand und weiß im Allgemeinen, daß sie verschieden guten geistigen Fähigkeiten entsprechen; genauere Abstufungen, die in Praxis einer Messung gleich kämen, sind nicht möglich."50 Durch „die Rangordnung der Schwierigkeiten" der einzelnen Aufgaben, die an die Kinder gestellt wurden, das „Stufenmaß der Intelligenz" (échelle métrique de l'intelligence), wurde die „Messung" der Intelligenz ermöglicht, es entstand das so genannte „Intelligenzmaß": „Intelligenzmaß ist hier [...] in dem Sinne zu verstehen, daß dabei an eine Klassifikation, eine Gradeinteilung gedacht ist, die für praktische Zwecke einer Messung gleichkommt. Es soll ermittelt werden, ob ein Individuum geistig über oder unter dem anderen steht und um wieviel.
28 Näheres über die Untersuchungen ist in „L'Annee psychologique" zu finden, einem Jahrbuch, das Binet ab 1895 herausgab. 29 Drenth, P. J. D., Der psychologische Test. München 1969, S. 20, zit. nach Schmid, Testverfahren, S. 22. 30 Bobertag, 0., Über Intelligenzprüfungen nach der Methode von Binet und Simon. Leipzig 1928, S. 10.
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Entspricht die vorgeschlagene Testserie dem vorgeschlagenen Entwicklungsgang der kindlichen Intelligenz, so wird sich feststellen lassen, um wieviel Jahre ein bestimmtes Individuum zurückgeblieben oder vorausgeeilt ist; und schließlich welche Punkte des Stufenmaßes den Zuständen der Idiotie, Imbezillität und Debilität entsprechen." 3 '
Bobertag s a h vor a l l e m in der Psychopathologie, insbesondere aber in der Klassifikation von S c h w a c h s i n n s z u s t ä n d e n , d a s w i c h t i g s t e A n w e n d u n g s f e l d der n e u e n I n t e l l i g e n z m e s s u n g . Unter „ S c h w a c h s i n n " w u r d e in der psychiatrischen Tradition in erster Linie eine intellektuelle S c h w ä c h e verstanden, die bislang durch Schädel-, G e h i r n v o l u m e n s - und Körpermessungen ermittelt worden war.^2 Über die Klassifikation der S c h w a c h s i n n s g r a d e in Idiotie, Imbezillität und Debilität herrschte nach Bobertag w e i t g e h e n d e Einigkeit, nicht aber über die Kriterien, nach d e n e n diese A b s t u f u n g erfolgen sollte:
„Zunächst ist der Mangel einer allgemein gebräuchlichen Terminologie zu beklagen, der es den Psychiatern fast unmöglich macht, zu einer leichten Verständigung über das Wesen der verschiedenen Stufen geistiger Inferiorität und zu einer zweckmäßigen Klassifikation der einzelnen Fälle zu gelangen; und selbst wo einige Übereinstimmung herrscht, wie in der Unterscheidung von Idioten, Imbizillen und Debilen, da ist noch lange nicht die notwendige Voraussetzung erfüllt, daß sich die einzelnen Forscher bei diesen Bezeichnungen das gleiche vorstellen und daß sie die Grenzlinien zwischen ihnen in derselben Weise ziehen. Hierzu kommt dann als zweiter, noch wichtigerer Punkt, daß die praktische Methodik der Untersuchung Zurückgebliebener jeglichen festen Prinzips und Maßstabes entbehrt, daß auch hier keine Übereinstimmung erzielt ist und daß daher bei Erkennung und Beschreibung der Symptome, selbst bei gleicherTerminologie, Willkür und Unbestimmtheit herrschen. Daß diese Zustände zu mancherlei bedenklichen Mißgriffen in der ärztlichen Praxis führen, ist dann nicht zu verwundern. Was daher derjenige, der psychologisch gewissenhaft zu Werke gehen will, vor allem zu erstreben hat, ist, eine sichere Grundlage der Differenzialdiagnose zu schaffen. Man darf nicht bloß ungefähre Schilderungen geben und sich von subjektiven Eindrücken leiten lassen, die keiner Analyse und damit keiner Beurteilung zugänglich sind. Das wissenschaftliche Verfahren besteht darin, quantitative Unterschiede aufzufinden, die irgendwie gemessen werden können. Ein Maßstab zur Bestimmung des intellektuellen Niveaus geistig Anormaler ist es also, was Binet und Simon begründen wollen."«
31
Ebd., S. 12.
32 Vgl. Bock, G., Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Berlin (West) 1986, S.313. 33 Bobertag, Intelligenzprüfungen,S. 11.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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Das neue Stufenmaß der Intelligenz, die so genannte „psychologische Methode", sollte somit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Kategorien „Idioten", „Imbezille", „Debile" und „Normale" voneinander abzugrenzen. Während die Unterscheidung zwischen erwachsenen „Idioten" und „Imbezillen" mit Hilfe des Intelligenztests relativ leicht fiel, w a r - w i e Bobertag unter Berufung auf Binet feststellte - die Differenzierung zwischen „Debilen" und „Normalen" wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen: „Der Idiot spricht nicht und versteht Gesprochenes nicht, erreicht also höchstens das Niveau des Zweijährigen. Daher würde er in den beiden Tests [...], die direkt das Sprachverständnis prüfen, versagen. Der Imbezille kann nicht lesen und nicht schreiben, erreicht also höchstens das Niveau des Sechsjährigen. (Anwendung der beiden Schreibversuche auf ihn). Von dem Normalen, der wegen mangelnden Unterrichts im Schreiben diesen beiden Tests gegenüber versagt, ist er mit Hilfe der anderen Versuche für Sieben- und Achtjährige zu unterscheiden. Die Grenze zwischen Debilen und Normalen ist schwerer zu ziehen und hängt stets von einer Reihe sozialer Umstände ab."34 Um die Intelligenzleistung von Kindern - f ü r die der Test dem ursprünglichen Auftrag gemäß konstruiert worden w a r - z a h l e n m ä ß i g darzustellen, bestimmten Binet und Simon einen zweiten Wert, das so genannte „Intelligenzalter" (IA): Es gab für die verschiedenen Lebensalter altersgemäße Aufgabenreihen (sie bestanden aus jeweils fünf Aufgaben). Konnte ein Kind die seinem Lebensalter entsprechenden Aufgabenreihen lösen, so entsprach sein Intelligenzalter seinem Lebensalter. Konnte es fünf weitere im Schwierigkeitsgrad an die altersgemäße Aufgabenreihe anschließende Aufgaben lösen, wurde ein „Intelligenzjahr" hinzugezählt. Für zehn über die Altersstufe hinausgehende richtig gelöste Aufgaben wurden zwei „Intelligenzjahre" hinzugezählt usw. Die Beziehung zwischen Intelligenzalter und tatsächlichem Lebensalter sollte dann Aufschluss über die Intelligenzleistung und damit über die Bildungsfähigkeit eines Kindes geben. Zunächst wurde diese Beziehung einfach in Form einer Subtraktion dargestellt: IA - LA. Waren IA und LA gleich hoch, lag eine durchschnittliche Intelligenzleistung vor. War das l A u m i kleiner als das LA, galt das Kind als zurückgeblieben. Betrug die Differenz mehr als 2, wurde das Kind als„anormal" eingestuft. Über Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens in Bezug auf die Klassifikation von Schwachsinnszuständen merkte Bobertag an: „Man müßte, um hier ganz sicher zu gehen, wissen, wie sich ein Idiot, ein Imbeziller und Debiler entwickeln, und welche Prognose man bei einer Rückständigkeit um soundsoviel Jahre 34 Ebd., S. 31 f.
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auf jeder Altersstufe stellen kann. Einstweilen empfiehlt es sich, zur Beurteilung wirklich anorm a l e r - n i c h t bloß vernachlässigter-Kinder erst eine Rückständigkeit von mehr als zwei Jahren überhaupt in Betracht zu ziehen und dann von dem Alter des Kindes die Anzahl der Jahre abzuziehen, um die es sich als zurück erweist. Je nachdem ob man dann unter 3,7 oder 10 Jahre kommt, ist das Kind als idiotisch, imbezill oder debil zu betrachten. Natürlich ist aber solch ein Resultat nurein vorläufiges,denn man w e i ß j a nicht,wie sich das Kind weiterentwickeln wird, ob es also später um mehr oder weniger Jahre zurück sein wird."35
Der Klärung der Frage nach d e m Z u s a m m e n h a n g zwischen festgestelltem Intelligenzniveau und der Prognose der künftigen Bildungsfähigkeit hatte Chotzen seine Untersuchungen gewidmet, in denen er 236 „schwer schwachsinnige Kinder" nach der Intelligenztestmethode von Binet-Simon untersuchte. Mit d e m Einsatz des Staffelsystems, so hielt Chotzen fest, habe m a n endlich ein Prognoseinstrument zur Verfügung, das „eine sichere Voraussicht über die weitere Bildungsfähigkeit der Kinder" 36 erlaube. Chotzen argumentierte folgendermaßen:
„Die Feststellung des Abstandes zwischen dem Intelligenz- und Lebensalter gibt weiterhin die Möglichkeit einer brauchbaren Prognose über die Entwicklungsaussichten. Da die Schwachsinnigen je nach dem Grad der geistigen Schwäche über ein bestimmtes Intelligenzalter nicht hinaus kommen, andererseits die Entwicklung sich immer mehr verzögert, kann man aus der Größe des Rückstandes im Schulalter schon erkennen, wie weit die Entwicklung noch gehen kann. Ist z. B. im Beginn des Schulalters ein Kind noch zwei Jahre zurück, so ist eine ausreichende Bildungsfähigkeit kaum mehr zu erwarten; ist es im Alter von 8 Jahren über die Stufe von 3 Jahren nicht hinausgekommen,dann ist eine weitere Bildungsfähigkeit ausgeschlossenes ist idiotisch."37
Damit waren für Chotzen die Interpretationsmöglichkeiten derTestergebnisse noch lange nicht erschöpft. Das Staffelsystem von Binet und Simon gibt - so behauptete er - auch Aufschluss über die Ätiologie des „Schwachsinns", über seine endogenen bzw. exogenen Ursachen: Bei Kindern, bei denen die Differenz von Lebensalter und Intelligenzalter nur „einen Defekt von 1" betrage - und nur dann! - , könne nicht zwangsläufig a u f Schwachsinn geschlossen werden. Hier könne es sich a u c h u m ein geistig normal entwickeltes Kind handeln, das aber a u f g r u n d des Milieus, in dem es aufgewachsen sei, eine Abweichung von der Norm aufweise. 38 35 Ebd., S. 32. 36 Chotzen, F., Über Intelligenzprüfungen an Kindern nach der Methode von Binet und Simon. In: Zeitschriftfür Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5. Jg. 1913, Heft 2, S. 33-37, hier S. 37. 37 Ebd., S. 36. 38 Vgl. ebd., S. 36 f.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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1912 schlug Wilhelm Stern eine Verbesserung vor, die es ermöglichen sollte, das Intelligenzmaß „objektiver" zu machen. Bei der von Binet und Simon vorgenommenen quantitativen Einstufung in „normal" und „anormal" ergab sich das Problem, dass ein Zurückbleiben um zwei Jahre bei einem Vierjährigen gleich bewertet wurde wie das Zurückbleiben um zwei Jahre bei einem Zwölfjährigen. Stern schlug deshalb vor, nicht die Differenz von Lebensalter und Intelligenzalter als diagnostisches Kriterium zu werten, sondern den Quotienten aus Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA). Der berühmte „Intelligenzquotient" (10) war erfunden: 10 = IA/LA x 100. Betrug der 10-Wert 100, so war das Kind „normal". Die Abweichungen vom Mittelwert sollten sich als annähernd normalverteilt beschreiben lassen. 1916 gab Stern zur Einteilung von Schwachsinnsgraden folgende Werte an:fraglich Debile = 10 über 80, Debile (Hilfsschüler) = 10 um 75, Imbezille = 10 unter 71. Die Binet-Simon-Testreihe, die von den Autoren 1908 und 1909 noch verbessert wurde,fand breite Resonanz. Bobertag übersetzte den Test und adaptierte ihn ab 1909 für die Anwendung in Deutschland; darüber hinaus fand der Test nach der Adaption durch Terman 1910 in den USA Anwendung.
Die Anfänge der Erforschung endogener bzw. exogener Ursachen der kindlichen Dissozialität in Wien Die ersten Institutionen, die sich mit der Erziehung schwachsinniger Kinder in Wien befassten, gingen auf private Initiativen zurück. Auf Anregung Ludwig Mauthners (1806-1858), dem Begründer des St.-Anna-Kinderspitals, wurde 1856 die erste Anstalt für schwachsinnige Kinder gegründet. Die „Heilpflege und Erziehungsanstalt Levana" erhielt keine öffentlichen Gelder und wurde daher hauptsächlich von Kindern aus besseren Kreisen frequentiert. 1872 war die „Sektion der Heilpädagogen" gegründet worden, die sich mit den Ursachen sozialen Elends von schwachsinnigen und verwahrlosten Kindern in Österreich beschäftigte. 39 1902 wurde der Verein zur „Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische" eingerichtet, auf dessen Initiative 1910 die vierte „Konferenz für Schwachsinnigenfürsorge" in Wien stattfand. Dieser Verein leistete in Wien Vorarbeiten zur Errichtung von Hilfskassen für schwachsinnige Kinder. Die Bedeutung dieser Vereine lag neben den praktischen Hilfestellungen, die sie anboten, vor allem darin, dass sie den Gedanken der Bildungsfähigkeit (vermeintlich) schwachsinniger Kinder in einer breiten Öffentlichkeit verankern halfen. 40 Mit dem Hinweis auf eine mögliche
39
Vgl.Fadinger,Wurzeln,5.9f.
4 0 Vgl. Wiesbauer, Das Kind, S. 124.
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Bildungsfähigkeit war jedoch ein „diagnostisches" Problem aufgeworfen: Es galt „ l e i c h t e " - a l s o b i l d u n g s f ä h i g e - v o n „schweren" Fällen zu differenzieren. Das ist ebenjener Punkt, an dem das Konzept d e r j n t e l l i g e n z p r ü f u n g " relevant wurde. Die Leistung in Intelligenztests w u r d e zu j e nem Kriterium, a n h a n d dessen über weitere Bildungsfähigkeit und d a m i t über die künftigen Formen der Befürsorgung entschieden wurde. Bildungsfähigkeit w u r d e dabei mit künftiger Erwerbsfähigkeit gleichgesetzt und somit der Erziehung Bildungsfähiger großes Gewicht beigemessen. In Wien war es vor allem Erwin Lazar (1877—1932),der im Kontext dieser Problemstellungen nachhaltig wirksame Innovationen in das Wiener Fürsorgewesen einbrachte. Lazar kann zu den Vertretern jener Richtung in der Psychiatrie gezählt werden, die U m w e l t b e d i n g u n g e n für die Genese von Erscheinungsformen von Schwachsinn bei Hilfsschülern zumindest mitverantwortlich machten. Ihm ging es darum, angeborene von erworbener „Dissozialität"abzugrenzen,damit nicht Hilfsschüler, die z. B. aufgrund eines Sprachdefektes „schwachsinnig" erschienen, in so genannte Idiotenanstalten eingeliefert wurden. W a s unter Dissozialität zu verstehen ist, hat Lazar in seinen Schriften nirgendwo eindeutig festgelegt. Synonym gebrauchte er den Begriff der „moralischen Entartung". Die Beeinträchtigung der Verstandestätigkeit wurde als Ursache für„amoralisches" bzw.„asoziales" Verhalten bzw. Handeln angesehen. Bereits 1909 hatte Lazar in dem Artikel: „Die Verwahrlosung und ihre schädliche Einwirkung a u f die psychische Entwicklung des Kindes" darauf hingewiesen, dass sich Verwahrlosung bei Kindern, die ins schulpflichtige Alter kommen, häufig in einer V e r k ü m m e r u n g der Sprache geltend mache. Dadurch würden diese Kinder d e m Beobachter als schwachsinnig erscheinen, obwohl die vorhandenen Defekte milieubedingt seien. A u ß e r d e m insistierte Lazar darauf, dass bei m i s s h a n d e l t e n Kindern das Ausbleiben der Sprache psychisch verursacht sei. Jene Kinder, die für E r z i e h u n g s m a ß n a h m e n im Rahmen der Jugendfürsorge in Frage kamen, teilte Lazar in folgende Kategorien ein: normal veranlagte Intakte, normal veranlagte psychisch Alterierte und solche mit psychischen Abnormitäten, die einer Erziehung noch zugänglich sind. Unter „psychisch a b n o r m e n " Kindern sind, so schrieb Lazar,„im weiteren Sinne alle Kinder zu verstehen, die entweder nach der intellektuellen oder moralischen Seite von der Norm abweichen". 4 2
41
Erwin Lazar (1877-1932), Pädiater. Pädiatrische Ausbildung am St.-Anna-Kinderspital bei Theodor Escherich in Wien, ab 1906 als ehrenamtlicher Sachverständiger im Pestalozziverein tätig. Ab 1911 auf der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik beschäftigt, 1917 Habilitation für Kinderheilkunde. 1918 heilpädagogischer Konsulent im Ministerium für soziale Verwaltung, 1929 tit.ao. Professor. Lazar starb 1932 überraschend an den Folgen einer Gallenoperation. 42 Lazar, E., Über psychisch abnorme Kinder. In: Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 4. Jg. 1913, Heft 6, S. 105-112, hier S. 107. Wie Fadinger feststellte, setzte Lazar die „moralische Norm" mit der „sozialen Norm" gleich:„Lazars exemplarischer Darstellung der Kinder mit .minderen moralischen Qualitäten'
3°
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge Später hat Lazar „zwei H a u p t f o r m e n des j u g e n d l i c h e n Verwahrlosten, die N o r m a l e n und
die Abnormalen" unterschieden.« Bei den „Normalen" liege keinerlei Erkrankung vor; die Verw a h r l o s u n g sei durch den schädlichen Einfluss des Milieus, d e m die Kinder ausgesetzt waren, verursacht. Diese Kinder seien bloß scheinbar abnorm. Von diesen Kindern gelte es dann j e n e abzugrenzen, die, wie Lazar es formulierte, eine „angeborene Neigung zur Entartung" besäßen. Das Ziel einer solchen Differenzialdiagnostik ist klar: Viele als schwachsinnig erkannte Kinder und Jugendliche sind de facto nicht als s c h w a c h s i n n i g a n z u s e h e n - und daher therapierbar: „Dort aber, wo der Milieuwirkung ein Teil des Effekts zugesprochen wird, muss auch der Milieuwechsel und eine rationelle Behandlung unbedingt die Besserung herbeiführen."* 4 Lazars Publikationen geben beredtes Zeugnis von den engen Verbindungen, die zwischen Pädagogik, Psychiatrie und Psychologie vor und nach der Jahrhundertwende bestanden haben. In e i n e m Vortrag, den er a m 5. Oktober 1907 a u f d e m Österreichischen Irrenärztetag in W i e n über die Hilfsschulbewegung hielt, versuchte er diesen Z u s a m m e n h a n g der Disziplinen zu explizieren. A u f m e r k s a m machte er hier besonders a u f die Chancen, die das S t u d i u m des Hilfsschulkindes für den Arzt beinhaltet. Die Art und Weise, wie sich die Kinder beim Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens verhalten, biete, so Lazar,für den Arzt wichtige Anhaltspunkte, das Wesen psychischer Defekte genauer zu erfassen.« in einem 1914 z u s a m m e n mit seiner Mitarbeiterin Petra Beiern verfassten Artikel „Analyse verschiedener Schwachsinnsformen" ging Lazar d a n n insbesondere auf die Bedeutung der experimentellen Psychologie in Beziehung a u f Psychiatrie und Pädagogik ein: Die Stellung der experimentellen Psychologie sei besonders dadurch gefestigt, dass sie „für die Untersuchung der intellektuellen Funktionen ein unentbehrliches Hilfsmittel der Klinik geworden" sei. 46 Eigene Beobachtungen und Untersuchungen an Kindern waren Lazar zunächst durch seine Mitarbeit im Pestalozzi-Verein ermöglicht worden. Im Rahmen dieses Vereins begann er die Entwicklung einer Intelligenztestmethode voranzutreiben, die nach ihrer Fertigstellung 1922 im Fürsorgewesen des Roten Wien breite A n w e n d u n g finden sollte.
43 44 45 46
folgend, ist der Ausgangspunkt der Beobachtung hier das im sozialen Kontext von der Norm abweichende Verhalten" (S.105). Lazar, E., Zum Fürsorgeerziehungsgesetz. \n: Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 10. Jg. 1918, Heft 1, S. 7-11, hier S. 9. Ders., Über die endogenen und exogenen Wurzeln der Dissozialität Jugendlicher. \n: Zeitschrift für Kinderheilkunde. 4. Jg. 1913, Heft 8, S. 479-527, hier S. 526. Vgl. Ders., Zur Hilfsschulbewegung. In: Wiener medizinische Wochenschrift. 58. Jg. 1908,5.2427-2429. Vgl. Ders. und Beiern, P., Analyse einiger Schwachsinnsfälle. In: Zeitschrift für Kinderheilkunde. 3. Jg. 1914, Heft 12, S. 185-226, hier S. 189.
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3i
Der Pestalozzi-Verein: Erste Ansätze zur Entwicklung einer Intelligenzprüfungsmethode
Im Jahr 1 9 0 6 n a h m Erwin Lazar seine Tätigkeit in dem von i h m z u s a m m e n mit Theodor Escherich gegründeten „Pestalozzi-Verein zur Förderung des Kinderschutzes und Jugendfürsorge" in Wien auf.Ärzte, Pädagogen und Juristen arbeiteten hier unentgeltlich in Heimen, Ambulanzen, Horten und einer Logopädiestation, die von d e m Verein eingerichtet und erhalten wurden. Der Pestalozzi-Verein war gegründet worden,
„um schutzbedürftige Minderjährige in ihren durch die bestehenden Gesetze gesicherten Rechte zu schützen (Jugend-Rechtsschutz), an der Fürsorge für das sittliche und wirtschaftliche Wohl derselben durch private Hilfstätigkeit teilzunehmen (Jugend-Fürsorge) und der Kriminalität der Jugend vorzubeugen". 47
Neben der praktischen Hilfe für Kinder war Lazar im Pestalozzi-Verein die Möglichkeit gegeben, sich in wissenschaftlichen Studien mit Fragen der Differenzialdiagnostik von Schwachsinnszuständen auseinanderzusetzen. W i e bereits erwähnt, ging es darum,„endogene" Formen von Dissozialität von „exogenen" abzugrenzen. 4 8 Bei den Kindern, die dem Verein übergeben wurden, war stets das Milieu Anlass für die Einlieferung. Lazar hielt nach seinen Beobachtungen in den verschiedenen Anstalten fest, dass „demnach sich viele Schäden, die unter den Kindern z u f i n d e n waren, a u f diesem Wege erklären lassen" mussten.*» Ziel war die rationale Behandlung, also die „Therapie" milieubedingter Dissozialität. Diese Rechnung hatte u.a. auch zur Folge, dass diejenigen Kinder, die als „bildungsunfähige Idioten" erkannt wurden, keinerlei Unterstützung durch den Pestalozzi-Verein erhalten sollten: „Mit Geisteskrankheit behaftete Jugendliche scheiden, als der Irrenpflege bedürftig, von den Fürsorgemaßnahmen aus."5° Diesen Umstand verdeutlicht ein von Lydia von Wolfring, der Vorsitzenden des Pestalozzi-Vereins, 1908 verfasster Brief an den Böhmischen Landesausschuss:
„Tausende [...] Kinder fallen der Verwahrlosung zum Opfer, Tausende an Körper und Geist gesunde Kinder werden aus Mangel jeglicher Fürsorge seitens der Gemeinde und des Landes auf
47 Ohne Autor, XI. Tätigkeitsbericht des Pestalozzi-Vereines zur Förderung des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Wien 1914, S. 49. 48 Vgl. Lazar, E., Die heilpädagogische Abteilung der k. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien und ihre Bedeutung für die Jugendfürsorge. In: Zeitschriftfür Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5. Jg. 1913, Heft 11, S. 309-313. 49 Lazar, Dissozialität,S.484. 50 WUA Medizinischer Personalakt: Erwin Lazar. Boxnummer 99; Blatt 009.
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
32
die Bahn des Verbrechens getrieben. Trotz allen Mitgefühls für Sieche und Geistesschwache und beim lebhaftesten Wunsche, diese entsprechend versorgt zu wissen, müssen wir doch fragen, ob es nicht die erste und heiligste Pflicht eines Landes wäre, vor allem vorzubeugen, dass die an Leib und Seele gesunden Kinder nicht dem Siechtum und der Geistesschwäche verfallen?" 51
Anlässlich des 60. Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Josef I. hatte der Böhmische Landesausschuss drei Millionen Kronen für geisteskranke Kinder gespendet: Von Wolfring hielt diese S u m m e für „geisteskranke, skrofulöse" und „[...] geistesschwache Kinder" für „befremdend" und „wie Hohn gegenüber der schutzbedürftigen Kinderwelt":
„Alle die hungrigen, frierenden, ausgebeuteten, mißhandelten, unter dem Joch der Verhältnisse Zugrundegehenden, an Körper und Seele Gesunden verkümmern und verderben ungeachtet - nur für die Siechen, Geistesschwachen und Geisteskranken gibt man Millionen aus, scheut das Land keine Opfer. Sie werden verpflegt und versorgt, obwohl das für das Gemeinwesen nur eine Last bedeutet; ihr Nichtsein sichert sogar die größere Sanierung des Volkes.Trotzdem wendet man ihnen, gegen jede Gerechtigkeit, gegen jedes Prinzip gesunder Sozialpolitik und Sozialhygiene, die ganze Aufmerksamkeit zu, und hat für sie allein die Geldmittel, die den vielen tausenden,gesunden und begabten Kinder versagt sind."52
Die Ärztlich-pädagogische Auskunftsstelle für geistig abnorme Schulkinder Im Mai 1907 wurde von dem Verein zur„Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische" in Wien eine neue Institution ins Leben gerufen: die „Ärztlich-pädagogische Auskunftsstelle für geistig a b n o r m e Schulkinder", deren Zielsetzung an j e n e Aufgaben erinnert, die zwei Jahre zuvor in Paris an Binet herangetragen worden waren:
„In der Regel ist die Schule der erste Ort, wo der Verdacht auf geistige Minderwertigkeit rege wird. Nur schwere geistige Minderwertigkeit ist den Angehörigen schon früher bekannt. Die leichteren und eben deshalb Unterrichts- und erziehungsfähigen Fälle von Schwachsinn werden häufig erst dadurch offenbar, daß Kinder nicht imstande sind, dem gewöhnlichen Unterrichte der Volksschule zu folgen.
51
Lydia von Wolfring, Offener Brief über die Lage der Kinder an den Hohen Landesausschuß von Böhmen, 30.06.1908.zit. nach Fadinger,Wurzeln,S.i47f. 52 Ebd., S. 147.
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Da solche Kinder häufig durch disziplinarwidriges Betragen, durch Unreinlichkeit sowie durch krankhafte Symptome nervöser Natur auffällig werden, bilden sie in der Volksschule für Lehrer und Mitschüler eine große Unannehmlichkeit. [...] Die Entscheidung, ob es sich um unterrichtsfähige Schwachsinnige handelt oder nicht, ist demnach die erste und wichtigste Aufgabe der Auskunftsstelle." 53
Die ärztliche Leitung der Auskunftsstelle wurde Lazar übertragen, während die pädagogische Leitung Hans Schiner oblag, dem Direktor der einzigen bestehenden Hilfsschule. Die Kooperation zwischen Medizin und Pädagogik versuchte Lazar mit folgenden Erwägungen zu legitimieren:
„Eine Feststellung der geistigen Fähigkeiten eines Menschen ist geknüpft an das geistige Inventar. Bei Schulkindern gilt es daher, zu wissen, wie weit ein Kind vordem Schuleintritt geistig gebildet zu sein hat, eventuell was es entsprechend seiner Lernzeit alles gelernt haben kann. Und darüber zu entscheiden, kann nur Sache eines Menschen sein, der über größere pädagogische Erfahrung verfügt. Ist aber einmal das geistige Inventar eines Kindes festgestellt, dann gilt es den Ursachen gelegentlicher Defekte nachzugehen, Pathologisches vom Normalen zu unterscheiden, rein somatische Einflüsse vom Psychopathologischen zu trennen, kurzum Gebiete zu betreten, in denen die ärztliche, respektive ärztlich-psychiatrische Tätigkeit am Platze ist. Diesen beiden Erfordernissen in den Untersuchungen geistig abnormer Kinder wurde eben in der Errichtung einer ärztlich-pädagogischen Auskunftsstelle Rechnung getragen."5"
Die an der Auskunftsstelle v o r g e n o m m e n e n Untersuchungen bestanden aus einer ärztlichen Untersuchung, in der neben d e m körperlichen Zustand auch die Familiengeschichte, das Verhalten des Kindes zu H a u s e und die äußeren Lebensumstände erfasst wurden. Den nächsten Schritt stellte die pädagogische Untersuchung dar, die im Beisein des Arztes erfolgen sollte. Hier wurden vor allem die Fähigkeiten der Kinder im Lesen und Rechnen geprüft. Das abschließende Gutachten verfassten Arzt und Pädagogen gemeinsam:„Dieses Cutachten ist besonders auf die Prognose in Bezug a u f die nächste Schulzeit gerichtet und enthält davon abhängig die Bestimmung, welcher Art von Schule das Kind zugeführt werden soll."55 Die Auskunftsstelle w u r d e also eingerichtet, u m eine differenzierte D i a g n o s e über den körperlichen und geistigen Zustand der Kinder gewährleisten zu können. Einerseits sollte verhindert werden, dass Kinder schlechten schulischen Erfolgs wegen als geistig minderwertig
53 Lazar, E., Die ärztlich-pädagogische Beurteilung geistig abnormer Schulkinder. In: Schul- und Elternzeitung, i. Jg. 1910, Heft 3, S. 8 f. 54 Ebd.,S. 8. 55 Ebd.
Heilpädagogische
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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eingestuft wurden, obwohl für die schulischen Leistungen kein Intelligenzmangel, sondern die psychische und physische Vernachlässigung der Kinder oder Defekte der Sinnesorgane (z. B. Taubheit) verantwortlich waren. Andererseits sollte die ärztlich-pädagogische Auskunftsstelle eine Institution darstellen, die die Bildungsfähigkeit von Kindern beurteilen konnte. Die Unterscheidung zwischen „bildungsfähig" und „bildungsunfähig" führte die Kinder entweder in eine Hilfsschule oder in eine „Idiotenanstalt": „Als zweite Aufgabe fällt der Auskunftsstelle zu, ein Urteil darüber abzugeben, auf welche Weise die Kinder weiter zu unterrichten sind. Für geistig sehr Tiefstehende fällt naturgemäß jeder Schulunterricht als zwecklos weg und es besteht nur die Forderung, solche Kinder an die Idiotenanstalt abzugeben. Für die unterrichtsfähigen Schwachsinnigen kommt die Hilfsschule in Betracht."56 Es braucht nach alldem nicht zu verwundern, dass Lazar bei der Darstellung des Schwerpunkts seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit im Rahmen der Heilpädagogischen Auskunftsstelle anmerkte, dass er sich vor allem mit „der Ausarbeitung von Prüfungsmethoden zur Feststellung kindlicher Dissozialität" 57 beschäftigt habe. Diese Arbeit konnte er schließlich als Leiter der 1911 im Zug des Neubaus des Wiener Allgemeinen Krankenhauses errichteten Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik fortsetzen.
Die Errichtung der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik Die Medizin hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Wandlungsprozess durchlaufen. Physikalische und chemische Untersuchungen ermöglichten einen neuen Zugang zu Krankheitsbildern und Krankheitsursachen. In der Pädiatrie rückte vor allem auch die Entwicklung einer prophylaktischen, sozial-medizinischen Versorgung in den Mittelpunkt des Interesses, um die hohe Kindersterblichkeitsrate, die vor allem Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Scharlach und Keuchhusten geschuldet war, zu senken. 58 Als der Neubau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses in der Lazarettgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk anstand, wurde schließlich auch die Errichtung einer eigenen Universitätskinderklinik beschlossen. Der Leiter der neuen Einrichtung, Clemens Freiherr von Pirquet, geriet ins Schwärmen: „Die neue Kinderklinik ist (nach der 56 Lazar, E., Die ärztlich-pädagogische Beurteilung geistig abnormer Schulkinder (Schluss). In: Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 1. Jg. 1910, Heft 4, S. 3 f., hier S. 3. 57 Gnam, K., Stand des Hilfsschulwesens in Österreich. In: EOS: Zeitschrift für Heilpädagogik. 17. Jg. 1925, Heft 3, S. 153. 58 Vgl. Wiesbauer, Das Kind,S. 110 f.
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Straßburger Kinderklinik) die größte unter den ähnlichen Instituten Österreich-Ungarns und Deutschlands. Gegenwärtig ist sie die modernste und schönste Kinderklinik der Welt, eine Anstalt, auf die Wien und ganz Österreich stolz sein können." 59 Stolz war man vor allem auch auf den Besitz eines modernen Elektrokardiographen. Der Hauptapparat des Elektrokardiographen war mit den verschiedenen Abteilungen verbunden, so dass Aufnahmen der Herztätigkeit, die im Krankenhausgemacht wurden, gleichzeitig im Laboratorium aufgezeichnet werden konnten. 60 Die Beschreibung des großen Hörsaals der Universitätskinderklinik, der mit seinem a m phitheatralischen Aufbau Sitzplätze für 200 Studenten gewährleistete, spiegelt die Modernität der Einrichtung: „In einem der großen Vorbereitungszimmer ist ein Projektionsapperat untergebracht, der die Bilder auf eine weiße Glaswand im Hörsaal wirft. Um diese Projektionen während der Vorstellungen rasch veranstalten zu können, ist der Hörsaal mit einer elektrischen Verdunkelungsvorrichtung versehen, durch die alle Fenster automatisch mit schwarzen Rollo bedeckt werden."6' Die wissenschaftlichen Laboratorien - Einrichtungen für chemische, bakteriologische und Röntgenuntersuchungen - waren im Parterre und Souterrain untergebracht. Die dort erarbeiteten Erkenntnisse konnten auf den Stationen der Kinderklinik direkt zur Anwendung gebracht werden. Darüber hinaus war eine weitere Neuerung vorgesehen: die Errichtung einer heilpädagogischen Abteilung für schwachsinnige und schwererziehbare Kinder, die als Beobachtungsstation geführt werden sollte. Dazu Lazar: „Damit war wenigstens in der Hinsicht ein Novum geschaffen, als man hier [...] zum ersten Male denVersuch machte, die Dissozialität der Jugendlichen von der klinischen Seite herzu betrachten, den psychischen und physischen Defekten von Verwahrlosten und Kriminellen auch dort nachzuspüren, wo man bisher im allgemeinen nur selten und nur in den krassesten Fällen die krankhafte Wurzel erkannt hatte und nur da ärztlichen Rat in Anspruch nehmen konnte."62 „Auch die Beobachtung geistig abnormer und perverser Kinder wird in einer eignen Abteilung vorgenommen, wobei wir durch pädagogische Hilfskräfte unterstützt werden." 6 ' Mit diesen
59 Pirquet, C., Die neue Wiener Universitäts-Kinderklinik. In: Zeitschrifi für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4. Jg. 1912, Heft 3, S. 92 ff., hier S. 92. 60 Vgl.ebd. 61 Ebd. 62 Lazar, Die heilpädagogische Abteilung, S. 310. 63 Pirquet, C., Antrittsvorlesung an der Universitätskinderklinik in Wien. In: Wiener Medizinische Wochenschrift. 61. Jg. 1911, S. 2998-3002, hier S. 2999.
i. Zu r Gesch ichte der J ugendfü rsorge
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Worten hatte Pirquet als Leiter der Universitätskinderklinik bei seiner Antrittsrede am 13. November 1911 die Errichtung der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik bekannt gegeben. Diese Einrichtung sollte es ermöglichen, Kinder vor einer eventuellen Heimunterbringung zu begutachten: „Die Begutachtung wird immer zu erfolgen haben, wenn es fraglich erscheint, ob ein Kind wegen seiner Dissozialität in eine Anstalt zu bringen ist. Die Beobachtung wird also entscheiden, ob diese Maßnahme notwendig ist oder nicht."6" Die entscheidenden Impulse zur Errichtung dieser weltweit ersten klinischen Forschungsund Behandlungsstätte für hirnorganische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten waren von Lazar ausgegangen, der hier die Möglichkeit sah, seine Forschungen, die er im PestalozziVerein begonnen hatte, als Leiter der Station fortzusetzen. 6 * Die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung begründete er wie folgt: „Eine planmäßige, wissenschaftliche Erforschung des kindlichen Seelenlebens ist zur exakten Begründung meiner auf empirischen Voraussetzungen beruhenden Pädagogik notwendig. [...] In der pädiatrischen Klinik der Universität Wien sollen experimentell-psychologische Forschungen in der angedeuteten Richtung planmäßig betrieben werden."66 Anlässlich der Eröffnung der Heilpädagogischen Abteilung,die finanziell auch durch die Sektion fürVolksschulwesen des k.k. Unterrichtsministeriums unterstützt wurde,erging an die Schulleitungen folgende Zuschrift: „An der k.k. Kinderklinik wird am 1. Dezember 1911 ein Ambulatorium für geistig abnorme und schwererziehbare Kinder eröffnet. Hiervon wird hiermit die Schulleitung verständigt und gleichzeitig das Ersuchen gestellt, die Angehörigen der in die genannte Gruppe gehörigen Schulkinder über diese neue Institution zu informieren. Die Neuaufnahme erfolgt nur jeden Montag und Freitag von V210 -V211 Uhr in der neuen Kinderklinik, IX., Lazarettgasse 14. Erwünscht wäre, dass den Kindern, die über Aufforderung das Ambulatorium aufsuchen, ein Bericht über Schulfortschritte und Benehmen mitgegeben würde. Auf Verlangen erhält andererseits die Schule einen schriftlichen Befund sowie die schriftliche Beantwortung spezieller von der Schule gestellten Fragen. Die schriftlichen Befunde der Klinik sind von Seiten der Schule amtlich^eheimzuhalten." 67
64 65 66 67
Lazar, Zum Fürsorgeerziehungsgesetz, S. 9. Vgl. Fadinger,Wurzeln,S. 16. WUA Medizinischer Personalakt Boxnummer 99; Blatt 002. Bekanntmachung. In: Heilpädagogische Schul- und Elternzeitschrift. 2. Jg. 1911, Heft 7, S. 185 f.
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Ein wichtiges Ziel der Abteilung war es, „normale" Kinder von „abnormalen" Kindern möglichstfrüh zu unterscheiden: „Es sollte aber nicht mehr erst der Endeffekt abgewartet, der Mißerfolg gesehen werden, man sollte auch schon früher, bevor noch überflüssige Zeit und Mühe vergeudet waren, einen Aufschluß über die Persönlichkeit des jugendlichen Missetäters oder Verwahrlosten haben."68 War ein Kind der Klinik überstellt worden, wurden zunächst die wichtigsten Informationen zusammengetragen. Die Auskunft der Angehörigen wurde durch Schul- und Polizeiberichte ergänzt. Entscheidend für die Beurteilung der Persönlichkeit des Kindes waren die Beobachtungen, die auf der Heilpädagogischen Abteilung selbst gemacht wurden. 69 Eine Beobachtungszeit von vier bis sechs Wochen galt als ausreichend,„um eindeutige Ergebnisse zu erzielen".?0 Lazar ging davon aus, dassdiezu begutachtenden Kinder ihr„natürliches" Verhalten auch dann zeigen würden, wenn sie unter Beobachtung„einer geschulten pädagogischen Kraft" standen:
„Und da ergibt sich die vielfach befremdende Tatsache, daß sich die allermeisten Kinder auf einer derartigen Beobachtungsstation bald in ihrem wahren Wesen zeigen, daß man aus ihren Gesprächen, ihrem Zusammenschluß mit Gleichgesinnten, aus ihrem Umgang mit jüngeren und älteren Kindern, mit Pflegepersonen und Ärzten sich in kürzester Zeit ein Bild über die Charaktereigenschaften machen, speziell aber die Abnormitäten leicht erkennen kann. Der starke Wechsel, die verschiedenartigen Elemente, die Anwesenheit reizbarer Kinder, alles das bietet so viel Reibungsfläche, daß man einen Vergleich mit dem gewöhnlichen Leben ziehen kann, wenn auch wirkliche Schädlichkeiten, schlechte erzieherische Faktoren ausgeschaltet sind."71 Neben den anamnestischen Erhebungen und der Beobachtung erfolgte immer - da „das gewöhnliche psychiatrische Examen [...] nur in besonderen Fällen ein wertvolles Material" lief e r t e - „ e i n e genaue Erforschung der intellektuellen Funktionen, und zwar nach den üblichen Schulmethoden neben den speziellen (Ebbinghaus, Bourdon, Masseion, Binet)".72 Lazar zufolge hatte die experimentelle Psychologie seit Binet eine Fülle von entsprechenden Prüfverfahren entwickelt, wodurch sie für die Untersuchung intellektueller Funktionen ein unentbehrliches Hilfsmittel der Klinik geworden sei.73
68 69 70 71 72 73
Lazar, Die heilpädagogische Abteilung, S. 309. Vgl. ebd., S. 310. Lazar,Zum Fürsorgeerziehungsgesetz,S. 8. Lazar, Die heilpädagogische Abteilung, S. 310. Ebd. Vgl. Lazar/Tremel, Die klinisch pädagogische Auswertung, S. 54.
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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Die psychometrischen Tests, die auf der Heilpädagogischen Abteilung zur Anwendung kamen, wurden letztlich eingesetzt, um Entscheidungsträgern eine wissenschaftliche, d. h. „objektive" Differenzierung zwischen „normalen" und „abnormalen" Kindern zu ermöglichen. Lazar und seine Mitarbeiterin Petra Beiern stellten dazu fest: „Im allgemeinen aber bleibt das Grundprinzip bei der Auswertung aller Methoden immer dasselbe. Es soll die Differenzierung zwischen einer großen Anzahl als normal bezeichneter Kinder und dem untersuchten abnormen Kind deutlich zutage treten. Daß man dies dann ev. ziffermäßig ausdrücken kann, scheint der Methode eine größere Objektivität zu verleihen."» Unter „psychisch abnormen" Kindern sind nach Lazar„im weitesten Sinne alle Kinder zu verstehen, die entweder nach der intellektuellen oder moralischen Seite von der Norm abweichen".75 Zur objektiven Feststellung der Abweichung „nach der intellektuellen Seite" hatte Lazar von 1910 an ein eigenes Prüfverfahren zu entwickeln begonnen. 1921 konnte er es in der Zeitschrift für Kinderforschung einer Fachöffentlichkeit präsentieren. Die Endfassung des Tests stellt eine Kombination verschiedenster, bereits seit längerem vorliegender Verfahren dar:„Fürs erste war es die Aufgabe, aus der Fülle der bestehenden Tests eine Auswahl zu treffen, und zwar waren solche Tests zu wählen, die von vorneherein eine gewisse Gewähr dafür bieten, daß ihre Resultate sich möglichst ergänzen."76 Bei der Auswahl der einzelnen Tests spielte aber noch ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle: das von Binet entworfene „Stufenmaß der Intelligenz". Es wurden ausschließlich Tests herangezogen, die zum einen stufenmäßig aufgebaut waren und zum anderen bald eine Grenze erreichten,„über die auch der normale und vollsinnige Mensch im allgemeinen nicht hinaus kommt".77 Die Ergebnisse im Intelligenztest bildeten einen Teil des Gesamtgutachtens, das an der Heilpädagogischen Abteilung über jedes der dort aufgenommenen Kinder ausgestellt wurde. Diese Gutachten waren stets wie folgt gegliedert: Vorgeschichte: a)
Schwangerschaftsverlauf, Säuglingszeit und erste Kindheit; Kinderkrankheiten und ihre Behandlung; konstitutionelle Merkmale.
b)
Milieuschilderung: Familienkrankheiten, Neigungen; Gemütsart von Geschwistern und Eltern; das Vater-Mutter-Verhältnis; elterliche Erziehungsmethoden.
74 75 76 77
Lazar/Belem,Analyse,S.187. Lazar, Über psychisch abnorme Kinder, S. 107. Lazar/Tremel, Die klinisch pädagogische Auswertung, S. 54. Ebd., S. 56.
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I)
Erster Eindruck des Kindes: Beschreibung seiner psychischen Eigenheiten; Aufnahmegründe;
II)
Darlegung der mitgebrachten Arzt-, Schul-, Polizei- oder Heimberichte.
III)
Ergebnisse derTestverfahren.
IV)
Diagnose und Prognose.78
Beschreibung des momentanen Zustandes des Kindes.
Die Ratschläge, die aufgrund der Untersuchung an Eltern und Behörden ergingen (Punkt V), sprachen sich wie folgt „in präziserWeise über die notwendigen Schritte aus": „Es handelt sich da um die Abgabe an eine geschlossene Erziehungsanstalt (Besserungsanstalt) an Privatinternate, Klöster, Anstalten für Familiengruppenpflege, oder eventuell an Anstalten für Geisteskranke und Schwachsinnige. Die Leitung der Abteilung muß natürlich über die Ziele der einzelnen Institutionen unterrichtet sein und nur so kann es gelingen, die Kinder nach Möglichkeit am besten unterzubringen."79
Erziehungsberatung Die letztendliche Entscheidungskompetenz in Fragen der weiteren Befürsorgung von Kindern und Jugendlichen, die der öffentlichen Fürsorge überstellt wurden - insbesondere die Entscheidungskompetenz bezüglich eventueller Anstaltsunterbringung - , lag auch in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren bei der Berufsgruppe der Erziehungsberater und Erziehungsberaterinnen. Das psychologische Gutachterwesen war als Berufsfeld noch nicht entwickelt, akademisch ausgebildete Psychologen und Psychologinnen begannen erst allmählich in die Fürsorge einzudringen. Es ist hierbei eine Art von Ungleichzeitigkeit festzustellen: Psychologische Prüfverfahren waren zwar im Kontext der akademischen Psychologie entwickelt worden; die praktische Anwendung dieser Verfahren war allerdings noch nicht auf Psychologen und Psychologinnen beschränkt. Lazars Entwicklung eines Intelligenzprüfverfahrens zur Differenzialdiagnostik von „Dissozialität" ist dafür ein gutes Beispiel: Es stellt sozusagen nichts anderes als eine Kompilation schon bestehender Verfahren dar, die für die Zwecke des Einsatzes im Fürsorgesystem adaptiert wurden. Erst mit der Einbindung einer Forschungsgruppe des Wiener Psychologischen Instituts in der Kinderübernahmesteile begann sich eine Änderung abzuzeichnen. Die Mitarbeit zweier Psychologen - Edeltraud Baar und Igor C a r u s o - „ A m Spiegelgrund" ist auch ein Anzeichen dafür, dass die Testpsychologie sich allmählich als genuin psychologisches Berufsfeld zu etablieren begann.
78 Vgl. Fadinger,Wurzeln, S. 117. 79 Lazar, Die heilpädagogische Abteilung, S. 310.
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1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
Die entscheidenden Schritte zur Übernahme der Agenden der Erziehungsberatung durch Psychologen erfolgten dann zu Beginn der vierziger Jahre im Rahmen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt: Die dort neu eingerichteten Erziehungsberaterstellen sollten dezidiert von Psychologen geleitet werden. Das „Berufsbild" ist a l l e r d i n g s - w i e die nachstehenden Erörterungen zeigen - älter, älter auch als das Fürsorgesystem des Roten Wien.
Exkurs
Zur historischen Entwicklung der Jugendfürsorge Ernst Berger
Die bislang vorliegenden Arbeiten zum „Spiegelgrund" im Besonderen und zur NS-Psychiatrie im Allgemeinen haben die Rolle der Fürsorgeeinrichtungen - wenn überhaupt - nur marginal behandelt. 1 Als Ausgangspunkt kann zweifellos folgende Einschätzung Malinas gelten: „Die Einrichtungen der Fürsorge, die sich immer schon mit der Evidenthaltung randständiger Schichten der Gesellschaft beschäftigt hatten, waren an diesem Prozess (der Erfassung und Klassifizierung der Bevölkerung) nicht unwesentlich beteiligt. Identifizieren und Aussondern, Erfassen und Sortieren wurden zu einem wesentlichen Aufgabenbereich auch der Fürsorgeerziehung."2 Der Bericht des Wiener Gesundheitsamtes zur „Erfassung der negativen Auslese Groß-Wiens''^ belegt jedenfalls die Beteiligung der Gesundheitsfürsorge an der nationalsozialistischen Sichtungs- und Ausgrenzungspolitik. Da die Gesundheitsfürsorge und die Jugendfürsorge einen gemeinsamen Verwaltungskörper darstellten, ist diese Aussage auch auf die Jugendfürsorge zu erweitern. Im Folgenden wird eine Einordnung der NS-Jugendfürsorge in historische und internationale Zusammenhänge vorgenommen, um das Verständnis ihrer Funktion und Arbeitsweise zu erleichtern.
1
Die Arbeit von Peter Malina „Erziehung als sozialer Rassismus" (Vorwort zu Kaufmann, A., Spiegelgrund Pavillon 18. Wien 1993) stellt in einem ersten Überblick den Z u s a m m e n h a n g zwischen Pädagogik und Fürsorge einerseits und Psychiatrie andererseits im Kontext der Spiegelgrund-Literatur her.
2
Ebd.
3
Gesundheitsamt (Hg.), Bericht über die bisher geleistete Arbeit in der Abt. II des Gesundheitsamtes vom 28.07.1939; DÖW, ohne Aktenzahl.
i. Zur G e s c h i c h t e der Jugendfürsorge
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Jugendfürsorge in der Schweiz Ramsauer analysiert die Entwicklung der Jugendfürsorge am Beispiel der Schweiz.« Diese Analyse kann bezüglich der grundlegenden Prozesse-nicht unbedingt in der chronologischen Zuordn u n g - a u c h auf andere europäische Länder übertragen werden. In jedem Fall sind historische Parallelen nicht zu übersehen: Ähnlich wie in Wien ab 1919 begann in Zürich 1928 die Periode des „Roten Zürich", die sozialdemokratische Reformbestrebungen auf eine neue politische Basis stellte (z. B. Umstrukturierung der Vormundschaftsbehörde). Auch die Entwicklung des professionellen Fürsorgewesens kann als Parameter für Parallelitäten bzw. Unterschiede gewertet werden: In Deutschland gab es 1910 etwa 4 0 0 bezahlte Fürsorgerinnen; im selben Jahr (in der Schweiz zwei Jahre zuvor) wurde in Österreich die Berufsvormundschaft eingeführt; in Großbritannien gab es bereits 1893 rund 20.000 bezahlte Fürsorgerinnen. Überdies stand dort stets die Beratung im Vordergrund der Fürsorgearbeit, die sich in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorwiegend über die Kontrollfunktion derVormundschaftsbehörde entwickelte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete die Modernisierung der Kinder- und Jugendfürsorge einen wichtigen Bestandteil sozialdemokratischer und bürgerlich-liberaler Politik. Dieser Prozess war stets ambivalent: Die Intensivierung von Hilfe und Betreuung für benachteiligte Kinder ging einher mit einer Intensivierung von Kontrolle und mit der Stigmatisierung jener Kinder und Jugendlichen, die als „verwahrlost" bezeichnet wurden. Die inhaltliche Gestaltung der Kinder- und Jugendfürsorge erfolgte unter intensiver Beteiligung von medizinischen Experten (Psychiatrie, Heilpädagogik-Moritz Tramer war ab 1918 psychiatrischer Berater). Der Begriff der „Verwahrlosung" spielte in dieser Entwicklung zwischen 1900 und 1920 eine zentrale Rolle mit sich wandelnden Erklärungsmustern: Eine sozialdeterministische Sichtweise (ökonomische und soziale Bedingungen als Ursache) wurde vorerst mit deutlich moralisierenden Akzenten versehen („pflichtvergessene Eltern"). Die Heilpädagogik vertrat eine pädagogisierende Perspektive, die einen Reintegrationsanspruch propagierte, allerdings ohne sich konsequent von eugenischen Positionen abzugrenzen (Hanselmann sah die Sterilisation als präventive eugenische Maßnahme, übernahm die psychiatrischen Kategorien von Maier und Tramer und definierte die Heilpädagogik als psychiatrische Hilfswissenschaft). In der historischen Entwicklung wurde im Laufe der zwanziger Jahre der pädagogische Erklärungsansatz der Verwahrlosung von der eugenischen Interpretation überformt.
4
Vgl. Ramsauer, N., Verwahrlost - K i n d e s w e g n a h m . e und die E n t s t e h u n g der J u g e n d f ü r s o r g e im s c h w e i zerischen Sozialstaat 1 9 0 0 - 1 9 4 5 . Zürich 2 0 0 0 .
Ernst Berger
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Der Einfluss der biologistischen Modelle der Psychiater führte zu einer eugenisch-biologistischen Sichtweise, die die Vererbung in den Vordergrund rückte. Diese Erklärungsansätze verstanden Fürsorge nicht mehr im Sinne der Sozialhilfe für Schwächere und deren Integration in eine bürgerlich-egalitäre Gesellschaft, sondern postulierten die Vererbbarkeit von Verwahrlosung als Faktor einer unüberwindbaren Distanz zu den „normalen" Individuen. Die Forderung der Psychiater (und Hygieniker) lautete, die Fürsorge für Verwahrloste zugunsten einer Förderung der „Gesunden" einzuschränken. Dieses eugenisch-biologistische Paradigma fand auch unter den Vertretern einer sozialdemokratischen Weltanschauung immer mehr Verbreitung. In den zwanziger Jahren etablierte sich die eugenische Sichtweise und behielt ihre Dominanz noch über das Jahr 1945 hinaus. Die eugenische Sichtweise förderte die Differenzierung zwischen „heilbaren" und „unheilbaren" Leiden bzw. aus pädagogischer Perspektive zwischen „Bildungsfähigen" und „Bildungsunfähigen". Auf diese Weise wurde ein Bereich jenseits des Glaubens an die prinzipielle Erziehbarkeit geschaffen, der sich schließlich auch in der Struktur der Institutionen abbildete: Die Klassifikation „erziehbar", „beschränkt erziehbar" und „unerziehbar" - als Ergebnis der heilpädagogischen Begutachtung-war die Grundlage für die Einweisung in bestimmte Heime. Die Schaffung einer professionellen Amtsvormundschaft (in Zürich ab 1908) stellt einen wesentlichen Schritt der Entwicklung dar. In den ersten Jahren - dies war auch die Zeit der sozialen Not des Ersten Weltkriegs - dominierte die Maßnahme des Entzugs der elterlichen Gewalt; später (in der Schweiz ab etwa 1920) wurde die mildere Maßnahme der Kontrollaufsicht häufiger angewandt. In den dreißiger Jahren - nunmehr auch unter Mitwirkung von Juristen und Psychiatern - wurde wiederum (anstatt der arbeitsintensiven Kontrollaufsicht) häufiger der Entzug der elterlichen Gewalt verordnet, um „unbelehrbare Eltern", gegen die oft gleichzeitig die Entmündigung ausgesprochen wurde, zu disziplinieren. Die fürsorgerische Absicht der Anfangszeit der Zürcher Amtsvormundschaft verkehrte sich in den dreißiger Jahren - in deutlichem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Krisensituation - immer stärker in ein ordnungspolitisches Ziel. „Obwohl sich der Geschäftsumfang vergrößert hatte, arbeitete die Amtsvormundschaft mit weniger Beamten und Angestellten und verfügte über kleinere Fürsorgekredite. Damit war das präventive Konzept, das seit 1908 entwickelt worden war und abgestufte Maßnahmen vorsah, in Frage gestellt."! Somit ist der Prozess der Professionalisierung und Bürokratisierung zwiespältig einzuschätzen: Einerseits wurden professionellere Methoden angewandt, andererseits findet sich eine verhärtete Vormundschaftspolitik, die de facto eine Ausgrenzungspolitik war. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist jener der sozialen Schichtzugehörigkeit der Fürsorgerinnen. Viele von ihnen stammten aus dem 5
Ramsauer, Kindeswegnahme, S. 89.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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Bildungs- und Besitzbürgertum und hatten somit von ihrer Herkunft her eine beträchtliche soziale Distanz zur Lebenswirklichkeit jener Menschen, die sie betreuten. „Die Zürcher Fürsorgerinnen verstanden sich - wie ihre deutschen Kolleginnen - nicht als Vertrauenspersonen der Betreuten, sondern umgekehrt als Beauftragte der öffentlichen Hand. Der kontrollierende Zugriff einer Vormundschaftsbehörde lag ihnen näher als die beratenden und finanziellen Wohlfahrtsprogramme zugunsten von Müttern und Kindern, für die sich die britischen Fürsorgerinnen seit 1900 einsetzten."6 Zu bedenken ist dabei, dass die Fürsorgepraxis zwischen 1908 und 1945 entscheidend geprägt war durch widerständiges Handeln von Eltern und Kindern, sodass das neu entwickelte Vormundschaftswesen nicht auf ein Disziplinierungsmodell reduziert werden kann.
Jugendfürsorge in Wien 7 In Österreich wurde 1910 eine Berufsvormundschaft eingeführt; auch die Einrichtung von Kind e r s c h u t z ä m t e r n - i n Wien einer„Zentralstellefür Kinderschutz und Jugendfürsorge"-datiert aus der gleichen Zeit. Dennoch erfuhr die Fürsorge in Wien erst in der sozialdemokratischen Ära wesentliche Akzente der Entwicklung. Auch verstand sich die Fürsorge der Sozialdemokratie nicht mehr als Instrument der individuellen Wohltätigkeit, sondern als kollektive Hilfeleistung. Inwieweit diese theoretische Konzeption auch in der Alltagspraxis ihren Niederschlag fand, bleibt dahingestellt. Ein wesentliches Ziel sozialdemokratischer Fürsorgepolitik war es, den Auflösungserscheinungen der traditionellen Familienstrukturen durch Krieg, Inflation und Arbeitslosigkeit sozialpolitisch durch gezielte Familien- und Jugendfürsorge entgegenzuwirken. Wesentliche Elemente dieser Politik waren: Erweiterung der Jugendfürsorge auf das 18. Lebensjahr, Verankerung der Kinder- und Jugendfürsorge in der allgemeinen Familienfürsorge, Vereinheitlichung der gesamten Kinder- und Jugendfürsorge im Wiener Städtischen Jugendamt, Vermehrung der Berufsfürsorgerinnenposten, Einsatz von Jugendrichtern in Fragen der Vormundschaft und des Jugendstrafrechts, Schaffung eines Jugendstrafrechts,
6
Ebd., S. 286.
7
Das Folgende nach: WoIfgruber.G., Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle-Jugendfürsorge im Roten Wien, dargestellt am Beispiel der Kindesabnahme. Wien 1997.
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Aufbau der Fürsorgeerziehung anstelle von Gefängnisstrafen für Jugendliche, Einrichtung der„Kinderübernahmestelle" als zentrale Administrationsstelle. Mit dieser Entwicklung wurden auch in wachsendem Maße Familienfunktionen von der Gemeinde übernommen, die Familien wurden einer wachsenden öffentlichen Kontrolle unterstellt, deren Maßstab das Bild der bürgerlichen Familie w a r - d e r Großteil der Fürsorgerinnen stammte aus diesem Milieu. Ziel fürsorgerischer Maßnahmen war es,die Diskrepanz zwischen diesem Bild und der sozialen Realität der Arbeiterfamilien durch Eingriffe und Kontrollmaßnahmen zu überbrücken. .„Verwahrlosung' wurde nun zu einem Kampfbegriff der Kinder- und Jugendfürsorge der Ersten Republik. DieserTerminus inkludierte neben gesundheitlicher und sittlicher .Gefährdung' noch eine Reihe anderer Mißstände, wie etwa die Neigung zu Kriminalität und die .Schwererziehbarkeit' von Kindern und Jugendlichen. In weiterer Folge reichte er sogar so weit, instabile familiäre Verhältnisse, alle nicht einer Vollfamilie entstammenden und darin aufwachsenden Kinder und Jugendlichen als .verwahrlost' zu kategorisieren und damit zu .Fürsorgefällen' zu designieren. [So] wurden 1925 von insgesamt 6299 Kindern, die die Kinderübernahmsstelle passierten, 403 Kinder wegen .Verwahrlosung' überstellt."8 „Zusammenfassend läßt sich behaupten, daß unter dem Begriff der .Verwahrlosung' eine große Spanne von Ursachen [...] zusammengefasst wurden, die [...] eines gemeinsam hatten: sie paßten nicht in ein Bild bürgerlichen Familienglücks."9 Selektion und Ausgrenzung spielte in diesem Konzept eine tragende Rolle: Entwicklungstests (Bühler, Hetzer) wurden dazu eingesetzt,„bevölkerungspolitisch produktives Menschenmaterial von unproduktivem Material" (Tandler) zu trennen. Abschließend lässt sich feststellen, dass die professionelle Kinder- und Jugendfürsorge in Europa als Produkt einer in verschiedenen Ländern durchaus vergleichbar ablaufenden Entwicklung seit der Wende zum 20. Jahrhundert zu sehen ist. Mit der Professionalisierung sind zwei wichtige Tendenzen verknüpft: der wachsende Einfluss anderer Spezialdisziplinen, insbesondere der Psychiatrie, mit zunehmender Anwendung biologistischer und eugenischer Konzepte, und die wachsende Kontrollfunktion, die zur Ausgrenzungspolitik führte, während die Funktionen der Hilfe und Unterstützung - insbesondere unter den Bedingungen wachsender wirtschaftlicher Not - in den Hintergrund traten. Die NS-Fürsorgepolitik stützte sich auf diese bereits bestehenden Denkmuster und Strukturen und perfektionierte sie zu einer Ausgrenzungs- und Vernichtungsmaschinerie.
8 9
Ebd., S. 107. Ebd., S. 115.
Zur Geschichte des Wiener Jugendamts Clarissa Rudolph und Gerhard Benetka
Das Wiener Jugendamt entwickelte sich letztlich aus der durch den Cemeinderatsbeschluss vom 20. Dezember 1910 eingeführten „städtischen Berufsvormundschaft", durch die damals die ehrenamtlichen Einzelvormünder abgelöst wurden. Im Verwaltungsbericht des Jahres 1911 ist zu lesen:
„Die fortschreitende Industrialisierung und die kaum zu übersehende Mannigfaltigkeit unseres Erwerbslebens haben Rechtsverhältnisse und damit die rechtlichen Aufgaben der ehrenamtlichen Einzelvormünder derart kompliziert und erschwert, daß sie meistens versagen; ein Teil von ihnen versieht das Amt mit Widerwillen und vernachlässigt schon deshalb seine Erziehungspflichten, so daß viele hilfsbedürftige Kinder, insbesondere die unehelichen jenes besonderen Schutzes entbehrenden ihnen der Gesetzgeber an Stelle der fehlenden Familie sichern wollte. Dieser Mangel an ausreichender Fürsorge ist von tiefgehendster Wirkung, welche sich bei letztgenannten Kindern in einer stark gesteigerten Sterblichkeit und Verwahrlosung äußert."' Die städtische Berufsvormundschaft (Beamte als Vormünder) 2 begann 1911 ihre Tätigkeit. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte vor allem die Ü b e r n a h m e der V o r m u n d s c h a f t und die Befürsorg u n g unehelich geborener Kinder, die in öffentliche A r m e n p f l e g e gerieten:
„Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt und gestört begannen wir a m 1. Jänner 1913 die Berufsvormundschaft über alle nach diesem Zeitpunkt geborenen unehelichen Kinder im XVI. Bezirke,dem größten Arbeiterbezirk in Wien, zu übernehmen. Arzt, Rechtskundiger und Fürsorgerinnen wurden in der Fürsorgestelle dieses Bezirks zur gemeinsamen Arbeit v e r b u n d e n e m i.Jänner 1914 kam der kleinere XIV. Bezirk dazu."3
1
Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Gemeinde-Verwaltung der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im Jahre 1911. Bericht des Bürgermeisters Dr. Josef Neumayer. Wien 1912,5.458.
2
„Insoweit geeignete Vormünder, die zur Übernahme des Amtes bereit sind, nicht zur Verfügung stehen oder diese zur wirklichen Wahrung der Rechte und Interessen unmittelbarer Pflegebefohlener erforderlich ist, kann die Vormundschaft einem geeigneten Organe der öffentlichen Verwaltung übertragen werden." Reichsgesetzesblatt für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder.Wien 1914, Nr. 276: kaiserliche Verordnung vom 12.10.1914 über eine Teil novelle zum ABGB.S.nis.
3
Gold, J., Antrag an den Stadtrat. Ausbau der städtischen Jugendfürsorge. Wien 1917, S. 1.
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Die eigentliche G e b u r t s s t u n d e des W i e n e r J u g e n d a m t s ist allerdings 1917. Inmitten der Kriegswirren, in einer Zeit, in der die Säuglingssterblichkeitsrate erschreckende Höhen erreichte, g e n e h m i g t e der W i e n e r Stadtrat a m 27. April 1917 den großzügigen A u s b a u der städtischen Jugendfürsorge. Zentrale Bedeutung kam dabei den Fürsorgestellen - den Vorläufereinricht u n g e n der später errichteten Bezirksjugendämter - zu. Zwei solcher Fürsorgestellen hatten bereits v o r i g e bestanden: eine im 14. und eine im 16. Wiener Gemeindebezirk. Sie erfassten alle unehelichen Kinder bis z u m zweiten Lebensjahr, sofern ein Wiener Gericht zuständig war, und „darüber hinaus nur jene, welche gefährdet sind". 4 Solche Fürsorgestellen sollten jetzt auch in anderen Bezirken eingerichtet werden. Der erw ä h n t e Gemeinderatsbeschluss sah die Errichtung von gleich zehn weiteren Fürsorgestellen vor. D a m i t sollte das G e m e i n d e g e b i e t von W i e n in zwölf Kreise, die Vorläufer der Z u s t ä n d i g keitsbereiche der später entstandenen Bezirksjugendämter, eingeteilt werden. Ein 1917 dem Wiener G e m e i n d e r a t zur Beratung vorgelegter „Antrag an den Stadtrat" gibt Aufschluss über die geplanten Aufgabenbereiche der reorganisierten Berufsvormundschaft. Sie gliederten sich in: gesundheitliche Fürsorge, Unterhaltsfürsorge und Erziehungsfürsorge. Die gesundheitliche Fürsorge sollte von Geburt an die unehelichen Säuglinge erfassen, welche der Berufsvormundschaft unterstellt waren, sowie eheliche Säuglinge, w e n n ihre Mütter vom Jugendamt Beihilfe (Wochen- oder Stillbeihilfe) bezogen.
„Außerhalb der Familie sind es die städtischen Kindergärten mit genügend großem Gartengrund, ferner die Erholungsstätten der Gemeinde und die Spielplätze, welche der gesundheitlichen Fürsorge dienen; auch die hiezu geeigneten Einrichtungen (Anstalten) der privaten und öffentlichen Fürsorge, in welche das Jugendamt auf seine Kosten Kinder entsendet, sind hierher zu rechnen."5
Die Unterhaltsfürsorge sollte über den Rahmen der armenrechtlichen Hilfsbedürftigkeit hinaus zusätzlich Mittel zur Verfügung stellen. Durch eine G e w ä h r u n g von Wochen- und Stillbeihilfen erhoffte man sich eine durchgreifende Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. Die Erziehungsfürsorge hatte die Beaufsichtigung von Kindern und Jugendlichen zum Inhalt und die Beeinflussung ihrer Erziehung. Sie sollte „in erster Linie die Familie befähigen, selbst die Erziehung der Kinder zu führen. Die Einwirkung a u f die Familie geschieht gelegentlich durch Hausbesuche und durch Vorstellung der Kinder in der Fürsorgestelle". Schwer erziehbare Kinder, die sich in Familienpflege befanden, sollten durch einen „hiezu vorgebildeten Erzieher be-
4 5
Gold, Antrag, S. 25. Ebd., S. 26.
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aufsichtigt" werden, „ w e l c h e m a u c h die Auslese der schwer erziehbaren Kinder obliegt". 6 Die A u f g a b e n dieses „Erziehers" werden w i e folgt beschrieben:
„Diesem [dem Erzieher] wird in der Fürsorgestelle der Jugendliche (als solche werden auch schulpflichtige Kinder bezeichnet) vorgestellt, von ihm wird die im einzelnen Falle notwendige Ergänzungserziehung angeordnet. Er besucht die in Familien untergebrachten, von der Norm abweichenden erziehungsbedürftigen Kinder. Wo bei einem geistig oder psychisch abnormen Kinde eine Untersuchung oder eine Beobachtung notwendig ist, veranlaßt er die Aufnahme in einem Beobachtungsheim, an welchem sich auch die Untersuchungsstelle für den psychiatrisch vorgebildeten Arzt befindet. Je nach dem Befund kommt der Jugendliche entweder in die Familie zurück, erforderlichenfalls in Verbindung mit fachkundiger Überwachung oder wird eine ergänzende Erziehungsfürsorge angeordnet oder wird der Jugendliche in eine fremde, besonders ausgewählte Familie versetzt, wenn hiezu Mittel vorhanden sind. Mangelt es an solchen oder ist eine dauernde Anstaltsfürsorge notwendig, so wird es Sache der durch das Fürsorgegesetz hiezu berufenen Körperschaften sein,für die notwendige Erziehung Sorge zu tragen."'
Die d a n n nach d e m G e m e i n d e r a t s b e s c h l u s s tatsächlich u m g e s e t z t e n Reformen blieben allerdings weit hinter den i m „Antrag an den Stadtrat" formulierten Forderungen zurück. Nach d e m „ A u s b a u b e s c h l u s s " w u r d e n zwar 150 F ü r s o r g e r i n n e n s t e l l e n neu geschaffen, die 12 vorgesehenen Erziehungsberaterstellen w u r d e n allerdings nicht w i e vorgesehen besetzt. A u c h das i m A u s b a u b e s c h l u s s projektierte B e o b a c h t u n g s h e i m konnte nicht verwirklicht werden:
„Aus finanziellen Gründen konnte der Bau eines Beobachtungsheims nicht realisiert werden, obwohl die für die Jugendfürsorge Verantwortlichen eine derartige Einrichtung als notwendig erachteten. Bestehende Anstalten wurden daher als Beobachtungseinrichtungen genützt bzw. die Kooperation mit der heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik intensiviert. Die Zusammenarbeit mit dem Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik Dr. Erwin Lazar erwies sich im Laufe der Jahre als sehr fruchtbar." 8
M i t w e i t a u s n a c h h a l t i g e r e m Erfolg w u r d e der A u s b a u der Kinder- und Jugendfürsorge unter sozialdemokratischer Stadtverwaltung vorangetrieben. Die (politische) Legitimation der g e w a l t i g e n A n s t r e n g u n g , die m a n v. a. i m Bereich der Kinder- u n d J u g e n d w o h l f a h r t u n t e r n e h m e n wollte, erfolgte mit stets denselben A r g u m e n t e n :
6
Ebd., S. 30.
7
Koller, H., Von der Erziehungsberatung zum psychologischen Dienst. Wien o.J.,S.5.
8
Ebd.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
50
„Das Fundament jeder Fürsorge ist die Jugendfürsorge. Denn je mehr wir die Jugend befürsorgen, umso weniger werden wir es im Alter tun müssen, umso gesünder, umso lebenstüchtiger, umso beanspruchbarer für den Kampf ums Dasein wird diese Jugend sein. Was wir an den Jugendhorten verwenden, ersparen wir an Gefängnissen. Was wir in der Schwangeren- und in der Säuglingsfürsorge ausgeben, ersparen wir an Irrenanstalten. Großzügige, vollausschöpfende Jugendfürsorge ist die sparsamste Methode in der Verwaltung des organischen Kapitals, der Menschheit eines Gemeinwesens." 9 Mit dem Gemeinderatsbeschluss vom 30. Juni 1921 wurde eine Verwaltungsreform herbeigeführt, die eine intensive Zusammenarbeit aller Einrichtungen der offenen Fürsorge bewirken sollte: Öffentliche Armenpflege, Gesundheitswesen und Jugendfürsorge wurden zu einem „Wohlfahrtsamt" (Geschäftsgruppe III) zusammengefasst,das im Gebäude Rathausstraße 9 im i. Gemeindebezirk untergebracht und der Leitung des Amtsführenden Stadtrates Julius Tandler unterstellt war. Die Aufgaben des Jugendfürsorgeapparates (nach der Verwaltungsreform: MA 7) erstreckten sich unter sozialdemokratischer Stadtverwaltung auf folgende Tätigkeiten: Generalvormundschaft: automatisch anfallende Vormundschaft über alle in Wien geborenen unehelichen Kinder,für die ein Wiener Gericht zuständig war; Ziehkinderaufsicht: durch das Gesetz vom 4. Februar 1919 angeordnete Aufsicht über alle in Wien bei Familien oder in Anstalten verpflegten Ziehkinder; Mitüberwachung der Kinderarbeit; Schulfürsorge; Erziehungsberatung; administrative Angelegenheiten der städtischen Kindergärten und Horte, der öffentlichen Schulausspeisung und der Erholungsfürsorge des Wiener Jugendhilfswerkes; Unterbringung gefährdeter Kinder in Einrichtungen der Erziehungsergänzung (Kindergärten und Horte) oder der Ersatzerziehung (Anstaltsfürsorge); Organisation des Spiel- und Sportbetriebes der schulpflichtigen Jugend auf städtischen Spiel- und Eislaufplätzen; Mitwirkung bei der polizeilichen Jugendhilfe und bei der Jugendgerichtshilfe. 10 Nach dem politischen Kurswechsel wurde auch der Ausbau der Jugendämter verwirklicht. Die noch unter christlich-sozialer Stadtverwaltung geplanten zehn Bezirksjugendämter wurden
9
Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung der Bundeshauptstadt in der Zeit vom 1. Jänner 1923 bis 31. Dezember 1928 unter Bürgermeister Jakob Reumann und Karl Seitz.Wien 1933,5.623.
10
Vgl. ebd.
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Schritt für Schritt bis 1924 errichtet. 11 Als erster Erziehungsberater war August Aichhorn, Direktor des Zentralvereins zur Errichtung und Erhaltung von Knabenhorten, vorgesehen. Da Aichhorn aber 1918 die Leitung einer Ferienerholung für 3000 Schulkinder in dem ehemaligen Flüchtlingslager Oberhollabrunn übernahm, wurde Franz Winkelmayer, Heilpädagoge und Psychologe, als erster Erziehungsberater in dem 1919 errichteten Bezirksjugendamt Meidling tätig.' 2 Winkelmayer folgte Aichhorn allerdings bereits 1920 nach Oberhollabrunn. Erwin Lazar, der 1918 vom Gesundheitsamt an das neu gegründete Ministerium für soziale Fürsorge als Konsulent berufen worden war, ging dem Auftrag nach, die österreichischen Erziehungsanstalten zu reorganisierend Zusammen mit Aichhorn und Winkelmayer arbeitete er in Oberhollabrunn an der theoretischen Grundlegung einer individualisierten Zuteilung der Kinder auf verschiedene Anstalten. Wesentliche Impulse für die Gruppierungen der Kinder und Jugendlichen kamen von den Untersuchungen Ernst Kretschmers über Zusammenhänge zwischen körperlicher Entwicklung und Charakter. Während Aichhorn nach der Schließung der Anstalt Oberhollabrunn nach Wien zurückkehrte und ab 1922 als einziger Erziehungsberater Beratungsstunden für die Bezirke 3,8,10,12,16,19 und 20 abhielt, führten Winkelmayer und Lazar die erprobten Gruppierungsmodelle in der Erziehungsanstalt der Stadt Wien in Eggenburg weiter. 14 Bis 1922 Aichhorn als erster Erziehungsberater angestellt wurde, musste die Lücke, die sich bei „schweren Erziehungsnotständen" und in jenen Fällen ergab, die eine „besondere heilpädagogische Prüfung und Behandlung" erforderten, auf anderem Wege geschlossen werden. Die Alternative war eine „enge Verbindung des städtischen Jugendamtes mit der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik". 1 * Als erster und einziger Erziehungsberater Wiens sah Aichhorn die Hauptaufgabe der Erziehungsberatungsstellen in der Feststellung der Ursachen,die zu den diagnostizierten Verwahrlosungszuständen geführt hatten. 16 Nachdem unter sozialdemokratischer Stadtverwaltung im Arbeitsjahr 1923/24 mit einer Begutachtung von 1144 Kindern durch Aichhorn von einem flächendeckenden Angebot der Erziehungsberatung gesprochen werden kann, stieg in Folge die Zahl der begutachteten Fälle mit mehr als 3300 Fällen pro Jahr beträchtlich an,„wobei allerdings die Zahl derfür die Beratung aufgewendeten Stunden ein seltsames Bild auf die Tätigkeit wirft: eine dreiviertel Stunde pro Fall läßt eher an einen Verwaltungsakt als an eine eingehende pädagogische Beratung denken". 17
11
Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1 9 2 3 - 2 8 , 5 . 6 2 5 .
12
Jugendamt der Stadt Wien (Hg.), 70 Jahre Wiener Jugendamt. Wien 1987, S. 19.
13
Vgl.Fadinger,Wurzeln,S.70.
14
Vgl. Koller, Erziehungsberatung,S.7.
15
Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1 9 2 3 - 2 8 , 5 . 6 6 9 .
16
Vgl. Ungar, G., Fürsorge für Kinder und Jugendliche in Wien 1 9 3 0 - 1 9 3 8 . Dissertation Wien 1988, S. 104.
17
Ebd., S. 105.
52
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge 1926 erfolgte die Eingliederung der Erziehungsberatung in die Fürsorgeverwaltung. Zwei
Ärzte w u r d e n zusätzlich mit erziehungsberaterischen Funktionen betraut. 18 Die Erziehungsberater hielten nun in sämtlichen Bezirksjugendämtern wenigstens zweimal wöchentlich ihre regelmäßigen Sprechstunden ab und begutachteten hier Kinder, die von einer Fürsorgerin,„die in der Erziehungsfürsorge besonders erfahren und bewährt ist", vorgeführt wurden: 1 9
„Je nach dem Ergebnis der Prüfung und der Erwägungen, bei denen auch die Prüfung der sozialen Lage der Familie und der sonstigen Umgebung und der wirtschaftlichen Hilfsmöglichkeiten zu Rate gezogen werden müssen, erfolgt dann in kollegialer Beratung die Entscheidung über die künftigen Maßnahmen." 20
Von einer A u f n a h m e in eine geschlossene Anstalt sollte möglichst Abstand g e n o m m e n werden und eine Verbesserung der Lage des Kindes auf dem Weg der offenen Fürsorge „durch Einflußn a h m e a u f die Familie und die sonstige U m g e b u n g des Kindes" erreicht werden. Erwies sich aber die Überstellung in eine Anstalt als u n u m g ä n g l i c h , dann war dafür die Z u s t i m m u n g des Erziehungsberaters notwendig:„Sind besondere M a ß n a h m e n , wie die A b n a h m e eines Kindes aus erzieherischen Gründen aus der bisherigen U m g e b u n g und dessen Unterbringung in einer Erziehungs- oder sonstigen Spezialanstalt notwendig, dann ist ein Einvernehmen mit dem Erziehungsberater erforderlich." 21 Die Erziehungsberatung war fester Bestandteil im fürsorgerischen Prozess. Konnte keine eindeutige Entscheidung über die weitere Befürsorgung von Kindern getroffen werden, überstellte der Erziehungsberater das Kind zur Weiteren Beobachtung an eines der bestehenden Durchzugsheime. Ab 1940 erfolgte die Überstellung an die Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund". Der Erziehungsberatung kam also von A n f a n g an eine entscheidende Gutachterrolle zu, ein Umstand, der auch während der NS-Zeit bestehen blieb.
„Man handelt nicht mehr gefühlsmäßig": der Ruf nach einer wissenschaftlich fundierten Fürsorge „Wir wollen einwandfreie Tatsachen über das körperliche und das geistige Wesen dieser geschädigten Kinder und Jugendlichen bringen, aus diesen Tatsachen wohlbegründete Schlußfolgerungen auf die Ursachen derSchädigung einerseits, auf die Besserung der Schäden ande-
18 19 20 21
Vgl. Koller, Erziehungsberatung,S.8. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwa Itung 1923-28, S. 669. Ebd., S. 670. Ebd.
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rerseits ziehen. Wir wollen so zu allgemeingültigen und notwendigen M a ß n a h m e n kommen, wie es einer wissenschaftlichen Arbeit entspricht."22
D a s Geleitwort der in W i e n verlegten Zeitschrift EOS, zu deren Mitarbeitern neben Lazar und Winkelmayer auch Alfred Adler und Karl Bühler zählten, spiegelt den damals herrschenden Zeltgeist wider. Das Wohlfahrtswesen unterlag einem Wandel. „ M a n handelt nicht mehr gefühlsm ä ß i g " , schrieb Lazar im selben Jahr, in d e m er die Leitung der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik ü b e r n o m m e n hatte:
„Es spielt die religiöse Pflicht seinem Nächsten zu helfen, nicht mehr die Hauptrolle. Rein verstandesmäßige soziale Erwägungen traten in den Vordergrund. M a n begann, die Formen des Elends und der Verkommenheit zu studieren, man suchte ihre Wurzeln in wissenschaftlichen Faktoren, man analysierte schließlich das Individuum selbst und damit war die Zeit gekommen, wo der Naturwissenschaftler [...] wieder gehört werden mußte." 23
In der Diskussion u m die Erlassungeines Fürsorgeerziehungsgesetzes 2 4 stellte Lazar fest: „Alle unsere Einrichtungen können nur dann Aussicht auf Erfolg haben, w e n n sie auf wissenschaftlichen G r u n d l a g e n fußen." Die wissenschaftlichen Grundlagen, auf denen die Fürsorgeerzieh u n g basieren sollte, hatten „sich teils aus der Naturwissenschaft, teils aus der psychologischp ä d a g o g i s c h e n W i s s e n s c h a f t entwickelt". N u r w e n n der Z u s a m m e n h a n g des psychischen G e s c h e h e n s u n d die Ursachen für „Dissozialität" und V e r w a h r l o s u n g erkannt werden, kann auch p l a n m ä ß i g v o r g e g a n g e n werden. U m eine auf „wissenschaftliche" Erkenntnisse aufgebaute staatliche Fürsorgeerziehung zu betreiben, forcierte Lazar deshalb die Idee, Beobachtungsstationen nach d e m Vorbild der Heilpädagogischen Abteilung im Zentrum jedes Verwaltungsbezirks einzurichten. Die „planmäßig" betriebene Fürsorge sollte sich wie folgt gestalten:
„Sämtliche Anstalten eines Verwaltungsbezirkes bilden ein organisches zusammenhängendes System, um die Verteilung der Unmündigen und Jugendlichen nach rein sachlichen Gesichtspunkten durchführen zu können. Die Verteilung besorgt die Beobachtungsstelle, welche ein Erziehungsgutachten an das Pfleg-
22 Redaktionsausschuss und Mitarbeiter, Zum Geleit. In-, 50S: Zeitschrift für HeiSpädagogik. 17. Jg. 1925, Heft i,S.2 f., hier S.2. 23 Lazar, E.,Ärztliche Probleme in der Fürsorgeerziehung.\n-, Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 4. Jg. 1912, Heft 3, S. 150-154, hier S. 150 f. 24 Die Verabschiedung eines Jugendfürsorgegesetzes wurde seit dem Kinderschutzkongress von 1907 in Fürsorgekreisen unablässig gefordert. Ein Entwurf wurde allerdings erst in der Nachkriegszeit dem Nationalrat vorgelegt, aber-wegen der eintretenden Wirtschaftskrise-nicht verabschiedet.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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schaftsgericht abgibt und dann mit der Durchführung der Unterbringung der zur Fürsorge bestimmten Unmündigen und Jugendlichen betraut wird."25
An den nach dem Vorbild der Heilpädagogischen Abteilung einzurichtenden „Bezirksbeobachtungsstationen" sollte „durch ein regelrechtes Examen sowie durch die Prüfung der intellektuellen Funktionen"26 eine Entscheidung über die weitere Unterbringung getroffen werden. Für „unterrichtsfähige Schwachsinnige" waren von Lazar Hilfsschulen vorgesehen, für die „geistig sehr tief stehenden [Kinder] Idiotenanstalten".27 In der Diskussion um ein Fürsorgeerziehungsgesetz ging Aichhorn einen Schritt weiter als Lazar. Er vertrat die Ansicht, dass Kinder nicht erst dann auf einer Beobachtungsstation begutachtet werden sollten, wenn sie bereits auffällig waren. Jedes Schulkind sollte - noch bevor seine „Dissozialität" durch Lehrer festgestellt w u r d e - a u f seine körperlichen und psychischen Defekte hin untersucht werden: „Werden alle Schüler auf ihre psychischen Defekte hin untersucht, so können rechtzeitig Vorbeugungsmaßnahmen getroffen werden."28 Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden in einem Bereich, der sich bis dato im Wesentlichen durch praktisch-erfahrungsmäßiges Handeln ausgezeichnet hatte, entsprach auch den Ansichten des Stadtrates für das Wohlfahrtswesen Julius Tandler. Auch er vertrat die Meinung, dass nur eine auf Wissenschaft begründete Fürsorge planmäßiges Handeln ermöglichen konnte.29 Die Verknüpfung von Wissenschaft und Fürsorge war für Tandler eine logische Folge der gesellschaftlichen Veränderungen. In einem modernen Staat, schrieb Tandler unter dem programmatischen Titel:„Die wissenschaftliche Methode in sozialer Wohlfahrtsarbeit", sei die Fürsorge nicht mehr durch Nächstenliebe und durch die Vorschriften der Religion, sondern durch einen modernen Kollektivismus bestimmt: „Der moderne Kollektivismus als eine Erscheinung der heutigen Gesellschaft hat die Hilfsbereitschaft gesetzlich gefaßt, die Hilfeleistung unter gesellschaftliche und wissenschaftliche Normen gebracht. Aus der Freiwilligkeit ist Verpflichtung, aus dem Gutdünken des Einzelnen ist wissenschaftlich begründete Praxis geworden. [...] Unser ganzes Helfertum im modernen Staat und in der modernen Wirtschaft ist zur Exe-
25 Lazar, Fürsorgeerziehungsgesetz, S. 7 ff. 26 Ebd.,S.g. 27 Lazar, Die ärztlich-pädagogische Beurteilung (Schluss), S. 3. 28 Aichhorn, A., Nochmals zum Fürsorgeerziehungsgesetz. In -.Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5. Jg. 1918, Heft 3, S. 6 6 - 6 9 , hier S. 65. 29 Vgl.Tand ler, J., Die wissenschaftliche Methode in sozialer Wohlfahrtsarbeit. In: Österreichische Blätterfür Krankenpflege. 5. Jg. 1929, Heft 9, S. 129-137.
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kutive der Bevölkerungspolitik geworden. Ziel und Aufgabe der Bevölkerungspolitik ist die Bewirtschaftung organischen Kapitals, das durch die in einem Gemeinwesen lebende Menschheit dargestellt ist. Soll also dieses Kapital verwaltet werden, soll es erhalten, unter Umständen vermehrt, in seiner Qualität gesteigert werden, so ist dazu Wirtschaftlichkeit, Ökonomie, also Menschenökonomie notwendig."30 Da die Fürsorge auch mit Kapital und Ökonomie operiere, müsse sie wie die Wirtschaft wissenschaftlich betrieben werden,denn:„Wie zu jeder Wirtschaft wissenschaftlicheVoraussetzungen gehören ist auch die soziale Fürsorge an wissenschaftliche Voraussetzungen gebunden." 31 Ab 1929 wurden in Wien dann tatsächlich Beobachtungsstationen nach dem Vorbild der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik errichtet. Und wie an der Heilpädagogischen Abteilung, so kamen auch in diesen Einrichtungen Intelligenztests zur Anwendung. Eine auf Testungen beruhende Diagnostik schien die allseits erhobenen Forderungen nach einer Verwissenschaftlichung der Fürsorgepraxis geradezu paradigmatisch zu realisieren. Im Zuge des umfangreichen Reformwerks im Bereich des Wohlfahrtswesens wurden unter sozialdemokratischer Stadtverwaltung neue Beobachtungsstationen errichtet bzw. bestehende Einrichtungen mit Stationen ausgestattet, die nach dem Vorbild der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik eine Gutachterfunktion ausüben sollten, wenn die Wohlfahrt über den Werdegang der überstellten Kinder Entscheidungen zu treffen hatte. Prädestiniert für die Errichtung von Beobachtungsstationen waren so genannte „Kinderübernahmestellen" und „Kinderherbergen". Hier blieben die Kinder von jeher nur so lange, bis über ihre Verteilung in geeignete Anstalten zur Dauerunterbringung entschieden werden konnte. Die Jugendfürsorgeanstalten für Kinder, denen Tandler als Amtsführender Stadtrat vorstand, gliederten sich in zwei große Gruppen: „In Anstalten zur dauernden (d. h. längere Zeit währenden) Unterbringung von Kindern und in solche, die nur zur vorübergehenden Unterbringung von Kindern bestimmt sind. Die ersteren dienen dazu,dauernden Notständen abzuhelfen; die letzteren haben die Aufgabe, entweder in Fällen vorübergehender Hilfsbedürftigkeit einzugreifen oder die in städtischer Anstaltspflege gekommenen Kinder in gesundheitlicher, moralischer und sozialer Hinsicht zu beobachten, um ihren weiteren Lebensweg in richtigerweise bestimmen zu können."32
30 Ebd.,S. 129. 31 Ebd. 32 Ohne Autor, Kinderheim der Stadt Wien „Wilhelminenberg". Sonderabdruck aus: Blätterfür das Wohlfahrtswesen. 26. Jg. 1927, Nr. 264, S. 4.
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1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge Anstalten zur vorübergehenden Unterbringung waren einerseits Kinderübernahmestellen,
andererseits „Durchzugsheime" 33 , die auch als „Kinderheime" 34 oder „Kinderherbergen" 35 bezeichnet wurden. Ihrer Errichtung lag der Gedanke zugrunde, ein möglichst rasches Eingreifen unabhängig von formalen Aktengängen - also eine Art „Erste Hilfe bei moralischen und wirtschaftlichen Unglücksfällen" 3 6 - zu ermöglichen. Kennzeichnend für Kinderübernahmestellen bzw. Kinderherbergen war die kurze Aufenthaltsdauer der aufgenommenen Kinder: „Charakteristisch ist ein steter, sehr rascher Wechsel der Kinder, die aus den verschiedensten Gründen und den mannigfachsten Verhältnissen in die Anstalt kommen, körperlich, geistig und sittlich normale Kinder, körperlich und geistig Minderwertige, körperlich wohl alle Typen vom gesunden bis zum kranken Kinde, vom geistig Hochwertigen bis zum Schwachsinnigen, vom sittlich normal Veranlagten bis zum Dissozialen finden sich in diesen Heimen."37 Ihre Funktion als Sammelstelle für alle der Gemeinde Wien unterstellten, hilfsbedürftigen Kinder machte diese Anstalten für die Errichtung von Beobachtungsstationen besonders geeignet. Die Ergebnisse der Beobachtung spielten für das weitere Schicksal der Kinder eine entscheidende Rolle: „Je nach Resultat [...] wurde nun das Kind einer durch die Kinderübernahmesteile an das Heim gewiesenen Privatpartei in Pflege übergeben öderes wurde von der Heimleitung die Abgabe in eine Normal- oder Spezialanstalt beantragt." 38
Die erste „Kinderübernahmestelle": das Städtische Asyl für verlassene Kinder und die Kinderübernahmestelle in der Siebenbrunnengasse Das erste Heim zur vorübergehenden Unterbringung wurde in Wien 1886 eingerichtet. Das „Städtische Asyl für verlassene Kinder" in der Laurenzengasse im 5. Wiener Gemeindebezirk war für 50 Kinder bestimmt. Die Beobachtungszeit war auf 24 Stunden begrenzt. Da sich diese Einrichtung im Laufe der Zeit als unzureichend erwies, sollte durch die Eröffnung der städtischen Kinderübernahmestelle im Gebäude Siebenbrunnengasse 78 eine erweiterte Unterbringungsmöglichkeit für Kinder geschaffen werden.
33 34 35 36
Ebd. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Mitteilungen aus der Statistik, 1926, S. 17. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Mitteilungen aus der Statistik, 1927, S. 38. Baumgartner, J., Die Kinderherbergen der Stadt Wien.\n: Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien. 23. Jg. 1924, Heft 242, S. 49-53, hier S. 51. 37 Wolf, H., Die Städtischen Kinderherbergen. In: EOS: Zeitschrift für Heilpädagogik. 17. Jg. 1925, Heft 3, S. 142 ff., hier S. 142. 38 Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28,5.717.
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Die a m i . J u n i 1910 eröffnete Kinderübernahmesteile w u r d e in dem ehemaligen Kloster der „Frauen vom guten Hirten" untergebracht. W i e schon das Städtische Asyl für verlassene Kinder war a u c h diese Einrichtung als zentrale A u f n a h m e s t e l l e für alle der Armenfürsorge der G e m e i n d e Wien zugeführten Kinder gedacht: „Die Überstellung von Kindern in die G e m e i n d e erfolgt, w e n n diese nach W i e n zuständig sind, durch die Armeninstitute, w e n n sie nicht dahin zuständig sind,durch die k. k. Bezirks-Polizeikommissariate."" Jedes Kind, das der Obsorge der G e m e i n d e Wien übergeben wurde, musste die Kinderübernahmesteile passieren:„Diese Anstalt ist somit A u f n a h m e - und Dirigierungsstelle für alle der Gemeindepflegekinder, m a g der Überstellungsgrund welcher Art i m m e r sein." 40 Die formale Ü b e r n a h m e w u r d e durch die A n l a g e eines Evidenzblattes vollzogen. 4 1 N a c h d e m die abgegebenen Kinder ärztlich untersucht worden waren, wurden s i e - w e n n ihre Abgabe in die Außenpflege nicht sofort erfolgen konnte - in die direkt an die Kinderübernahmestelle angrenzende Städtische Kinderpflegeanstalt überstellt. Hier blieben die Kinder so lange,„bis über ihre anderwärtige Unterbringung eine Verfügung getroffen werden kann, also bis sie in Kostpflege gegeben, heimbefördert, in ein W a i s e n h a u s oder in eine andere Erziehungsanstalt a u f g e n o m m e n werden können und dergleichen". 42 Über die nach der A u f n a h m e getroffenen V e r f ü g u n g e n gibt nachstehende Tabelle (Vorkriegszeit, Kriegszeit und Nachkriegszeit) Auskunft:
Beförderung in die Heimatgemeinde Mit Unterstützung beteilt Bahnbegleitungen Abgewiesen Sofort in Privatpflege abgegeben In städtischen Heimen aufgenommen An Gesandtschaften verwiesen Überstellte Kinder gesamt
1913
1917
1922
154
217
305
67 71 42
1427
345
120
254 2640
2604
3035
2832
-
259 6929
-
4282
206 -
5005
636 -
Tabelle I: Weitere Befürsorgungderan die Kinderübernahmestelle überstellten Kinder«
39 Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Gemeinde-Verwaltung im Jahre 1911, S. 338. 40 Kundi, L., Die Beobachtungsstation in der städt. Kinderherberge „Am Tivoli" und die Aufnahmestation in der neuen Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien. I r\: Blätterfür das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien. 24. Jg. 1925, Heft 249, S. 83-92, hier S. 88. 41 Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28,5.702. 42 Ebd. 43 Die Tabelle beruht auf den Angaben in: ZeithammelJ., Die städtische Kinderübernahmestelle. In -.Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien. 23. Jg. 1924, Heft 241, S. 4 ff., hier S. 5.
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Mit einem Belegraum von 300 Betten stellte die neu errichtete Kinderpflegeanstalt in der Siebenbrunnengasse zwar gegenüber dem „Asyl für verlassene Kinder" eine Verbesserung, weil Vergrößerung dar; allerdings sollten sich auch diese Räumlichkeiten bald schon als zu begrenzt erweisen. 1922 war die Kinderpflegeanstalt mit bis zu 9 0 0 Kindern (!) überbelegt«: „Eine Ausgleichung des Zu- und Abgangs der Kinder war unmöglich geworden." 45 Der enorme Anstieg der Zahl der täglich a u f g e n o m m e n e n Kinder gepaart mit den beschränkten Räumlichkeiten der Institution hatte zur Folge, dass gesonderte Kinderherbergen zur vorübergehenden Unterbringung geschaffen werden mussten. Als solche neuen Kinderherbergen wurden die Kinderheime Jedlersee (1918) (nur vorübergehend in Betrieb), Grinzing (1919), Untermeidling (1920) und „Am Tivoli" (1922) eingerichtet. 46 Sie stellten für die Kinderübernahmestelle in der Siebenbrunnengasse insofern eine Entlastung dar, als die Kinder, nachdem sie dort ärztlich untersucht, gebadet und ihre Kleidung desinfiziert worden war,47 noch am selben Tag in eine der neu errichteten Kinderherbergen abgegeben werden konnten. Wurde bei der ärztlichen Untersuchung in der Siebenbrunnengasse eine Krankheit diagnostiziert, so wurden die betroffenen Kinder in Spitäler überstellt. Säuglinge kamen in das Zentralkinderheim, vorschulpflichtige, gesunde Kinder in die 1919 errichtete Kinderherberge Grinzing, schulpflichtige Kinder ab 1922 in die Kinderherberge „Am Tivoli". 48 In diesen Einrichtungen wurden die Kinder einer 16- bis 21-tägigen Quarantäne unterzogen, ehe sie unter die anderen, bereits in der Anstalt befindlichen Kinder aufgeteilt wurden. Da diese städtischen Kinderheime ebenso wie die Kinderübernahmestelle als Durchzugsheime konzipiert waren, ließen diese Einrichtungen einen Daueraufenthalt für die meisten Kinder nicht zu. Die Hauptaufgabe der Heimleitung bestand somit darin,„die der Veranlagung des Kindes a m meisten entsprechende weitere Versorgungsart zu bestimmen". 49 Als die Städtische Kinderübernahmesteile im 5. Bezirk eröffnet wurde, galt als Grundsatz, dass zwischen Kindern „mit gewöhnlicher und beeinträchtigter Bildungsfähigkeit" 5 0 unterschieden werden sollte. Diese Vorhaben konnten allerdings vorerst wegen der unzureichenden personellen Ressourcen nicht in die Praxis umgesetzt werden. 5 ' Um trotzdem wissenschaftlich fundierte prognostische Aussagen über die Zukunft der Kinder treffen zu können, wurde die Zusammenarbeit mit der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik intensiviert.
44 Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1 9 2 3 - 2 8 , $ . 268. 45 Zeithammel, Kinderübernahmesteile,S.4. 46 Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Mitteilungen 1927, S. 29. 47
Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28, S. 718.
48 Vgl. ebd., S. 716. 49 Ebd.,S. 718. 50 Jugendamt der Stadt Wien (Hg.), 70 Jahre, S. 20. 51
Vgl. ebd.
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59
Diese Kooperation wurde dann auch beibehalten, als 1925 eine eigene Beobachtungsstation in der Kinderherberge „Am Tivoli" eröffnet wurde. An dieser Einrichtung sollte nun neben den rein medizinisch-körperlichen Untersuchungen der Kinder auch eine Beurteilung in „psychischer und sozialer Hinsicht" 52 erfolgen, u m „ein klares Bild über ihr Wesen" 53 zu erhalten. Bei „speziellen pathologischen Fällen" 54 wurde aber weiterhin die Heilpädagogische Abteilung zu Rate gezogen.
Die Kinderherbergen Crinzing und „Am Tivoli"
Beide Kinderherbergen dienten der vorübergehenden Unterbringung von Kindern v o m 2. bis z u m 18. Lebensjahr. Die Kinder blieben nur so lange in diesen Durchzugsheimen, bis nach „Feststellung ihrer zweckmäßigen anderweitigen Unterbringung ihre Abgabe aus diesen Anstalten erfolgen" konnte. 55 Die Städtische Kinderherberge Grinzing wurde im August 1919 infolge des Gemeinderatsbeschlusses vom 8. Mai 1919 in den Baracken des ehemaligen Kriegsspitals Grinzing untergebracht und verfügte über einen Belegraum von 4 0 0 Betten. Nach Grinzing kamen auch Kinder, die „einer besonderen Ernährung oder Pflege" bedurften. 56 Z u d e m wurden dorthin auch Kinder zur weiteren Beobachtung überstellt, über die an der Beobachtungsstation „Am Tivoli" kein abschließendes Urteil getroffen werden konnte. Der Betrieb der Kinderherberge Grinzing w u r d e a m 11. Dezember 1926 eingestellt, das Kind e r h e i m „Am Tivoli" w u r d e 1928 geschlossen. 5 7 Der G r u n d dafür lag in d e m schlechten baulichen Zustand, in dem sich diese Einrichtungen - sie waren in e h e m a l i g e n Not- und Kriegsspitälern untergebracht - befanden. 58 Mit der Schließung der Kinderherberge „Am Tivoli" 1928 wurde mit den Kindern und d e m Personal auch die dort eingerichtete Beobachtungsstation in das a m 12. November 1927 eröffnete Kinderheim Schloss Wilhelminenberg verlegt.
Kinderheim Schloss Wilhelminenberg
Der Gedanke der Kinderherberge fand seine modernste Verwirklichung, als der Wiener G e m e i n derat den Beschluss fasste, das Schloss W i l h e l m i n e n b e r g im 16. Wiener Gemeindebezirk mit
52 53 54 55 56 57 58
Magistrat, Mitteilungen 1926, S. 27. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28,$. 736. Kundi, Beobachtungsstation, S. 88. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28,5.735. Ebd., S. 737 Vgl. ebd. Vgl. Magistrat, Mitteilungen 1927, S. 37.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
6o
mehreren Nebengebäuden,einem großen Park, einem Obstgarten und anschließender Freifläche zu kaufen und daraus ein Kinderheim zu machen: „Die Inbetriebnahme des Kinderheims Wilhelminenberg erfolgte am Nationalfeiertag, den 12. November 1927, in Gegenwart des Bundespräsidenten, der die Leistungen der Gemeinde Wien auf dem Gebiet der Kinderfürsorge lobend anerkannte, nach einer Ansprache des amtsführenden Stadtrates Professor Dr.Tandler durch den Bürgermeister in feierlicher Weise."59 Das neue Kinderheim sollte als „Symbol für die Fürsorgegesinnung der sozialdemokratischen Verwaltung" 6 0 im Sinne der von Tandler programmatisch formulierten „Menschenökonomie" wirken. Ziel war „den unter den Ungunsten des Schicksals leidenden Menschenkindern ihr Los sonniger zu gestalten und ihren Geist und Körper zu kräftigen, damit sie zu gesunden und aufrechten Menschen heranwachsen, die Freude an der Arbeit haben und fähig und willens sind, nach der Hilfe, die ihnen die Vaterstadt beim Eintritt ins Erwachsenenleben leistet, nicht nur sich selbst fortzubringen, sondern auch an der Arbeit der Allgemeinheit mit Erfolg teilzunehmen." 6 ' So lautete dann auch die Inschrift der Widmungstafel, die in der Eingangshalle rechts neben einer Skulptur des Bildhauers Theodor Charlemont angebracht war: „Wer Kindern Paläste baut, reist Kerkermauern nieder. Dieser Palast, für einzelne Auserwählte gebaut, wurde von der Gemeinde Wien erworben und den vielen hilfsbedürftigen Kindern dieser Stadt gewidmet." Der herrschaftliche Besitz beherbergte in sechs Abteilungen 200 Kinder. Zusätzlich waren noch 20 Betten in der Krankenabteilung vorhanden. 62 Die Kosten des Ankaufs und der unter der Leitung des Stadtbauamtes durchgeführten Adaptierungsarbeiten beliefen sich auf 2.169.600 Schilling.^ Tandler sah sich gezwungen, diesen enormen Aufwand gegen politische Angriffe zu verteidigen. „Die Ausgaben sind ohne Zweifel produktiv, die Mühe, die Arbeit lohnt sich und schafft Mehrwerte, weil sie nicht Einzelnen, sondern der Allgemeinheit zugute kommt. Dies ist der Grund, warum jede moderne Fürsorge, also auch die der Gemeinde Wien, ihr Hauptaugenmerk auf die Jugendfürsorge richtet."64
59 Zeithammel, Kinderübernahmestelle, S. 9. 60 Ungar, Fürsorge,S.120. 61
Zeithammel, Kinderübernahmestelle, S. 21.
62 Vgl. Magistrat, Mitteilungen 1927, S. 57. 63 Vgl. Zeithammel, Kinderübernahmestelle,S. 3. 64 Zit. nach Sablik, K., Julius Tand ler. Mediziner und Sozialreformer. Eine Biographie. Wien 1983, S. 94.
61
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Nach der Schließung der Kinderherberge „Am Tivoli" wurde 1928 die dort eingerichtete Heilpädagogische Beobachtungsstation an das Schloss Wilhelminenberg transferiert. Drei der sechs Abteilungen des H e i m e s - z w e i für Jungen, eine für M ä d c h e n - w u r d e n nun als Beobachtungsgruppen geführt. Im ersten Jahr seines Betriebs - 1 9 2 8 - fanden von den 1032 Kindern, die vom Wilhelminenberg an andere Einrichtungen oder an Pflegeeltern abgegeben worden waren, 521 Aufnahme in der Beobachtungsstation. 65 Die Überstellung der „Beobachtungsfälle" erfolgte zumeist auf Veranlassung der Bezirksjugendämter, nachdem sie „dem Erziehungsberater der Bezirksjugendamtes vorgeführt und von diesem ihre eingehende Beobachtung im Kinderheim Wilhelminenberg und eventuelle weitere Anstaltsunterbringung für notwendig befunden worden war". 66 Diesen Kindern wurden folgende Dokumente mitgegeben: ein Gutachten des Erziehungsberaters, ein von der Fürsorgerin abgefasster Bericht über das Kind, seine Familienverhältnisse, seine erbliche Belastung, seine Kindheitsentwicklung, seine besonderen Auffälligkeiten und über die Gründe, die die Überstellung veranlasst hatten. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Gründe von Überstellungen an die Beobachtungsstation. Die Zahlen gelten für das Jahri928. Knaben
Mädchen
Verwahrlosung
98
61
Misshandlung
27
12
Missbrauch
2
19
Erziehungsschwierigkeiten
85
Vagieren
177 13 35
Hausdiebstähle
Schulleistungen
25
5 13 14
Fremddiebstähle
23
6
Gewalttätigkeit
10
Sittlichkeitsvergehen
8
Sonstiges
6
3 9 4
Tabelle II: Gründe für die Überstellung an die Beobachtungsstation Schloss Wilhelminenberg 6 ?
Das Kinderheim Wilhelminenberg diente zur Aufnahme von der Kinderübernahmestelle überwiesener Kinder, die das sechste Lebensjahr bereits überschritten hatten. Auf der Beobachtungsstation sollte die „richtige Beurteilung bei der endgültigen Bestimmung des weiteren
65 Vgl.Winkelmayer, Beobachtungsstelle,S.6. 66 Ebd. 67 Die Tabelle beruht auf Angaben in: Magistrat (Hg.), Die Verwaltung 1923-28,5.747.
62
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
Schicksals der Kinder"68 gewährleistet werden. Die „zentrale Beobachtungsstelle" hielt „alle schwererziehbaren Kinder in dauernder Evidenz" und gewährleistete aufgrund der vorgenommenen Untersuchungen, „daß jedes Kind auf dem kürzesten Weg in die Anstalt kommt, in der es am zweckentsprechendsten untergebracht ist":6^ „Dies vom psychologisch-pädagogischen Gesichtspunkte aus festzustellen, ist die besondere Aufgabe der Heilpädagogischen Beobachtungsstelle, die, von einem Heilpädagogen geleitet, im engsten und stetigen Einvernehmen mit dem Direktorder Anstalt, dem Anstaltsarzt, der Heimmutter und dem gesamten Erziehungs- und Lehrpersonale ihre Beobachtungsresultate erarbeitet, auf Grund deren der Anstaltsleiter die Anträge über die weiteren Erziehungsmaßnahmen und Anstaltsunterbringungen stellt."70 Die Dauer dieser Arbeit war mit höchstens zwei Monaten befristet. Innerhalb dieser Zeit mussten, wie Tandler darlegte,„alle Fragen körperlicher, geistiger und sozialer Art erledigt sein".71 Ebenso wie in der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik wurden in der Beobachtungsstation Wilhelminenberg Intelligenztestungen angewendet. Die jüngeren Kinder wurden mit dem Intelligenztest von Binet-Simon-Bobertag getestet, ältere Kinder mit der Testmethode von Erwin Lazar: „Zur Ergänzung dieser Intelligenzprüfung steht derzeit noch ein neues Verfahren zur Untersuchung psychophysischer Eigenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Aufmerksamkeit und der Motilität in Ausarbeitung, bzw. vor dem Abschlüsse, das bereits an mehr als tausend Kindern erprobt wurde. Für besondere Fälle steht auch noch eine kleine Apparatur zur Einzeluntersuchung von Seh- und Hörschärfe, Farbenblindheit, Reaktionsgeschwindigkeit und ähnliches zurVerfügung."72 So entstand während der Beobachtung allmählich „das Bild der psychischen Struktur des Zöglings soweit, um die Ursache seiner Schwererziehbarkeit voll zu erkennen und einen begründeten Antrag für seine weitere Unterbringung zu stellen".73 Die Beobachtungsresultate wurden in einem Bericht zusammengefasst. Der erste Teil dieses Berichtes, „der typische, bei jedem Kinde
68 Vgl. Magistrat, Mitteilungen 1926, S. 24. 69 Winkelmayer, Beobachtungsstelle,S. 123 f. 70
Ebd., S.7.
71
Tandler, J., Richtlinien für die Anstaltsfürsorge. Die Anstaltsfürsorge der Stadt Wien für das Kind. Wien 1930, S. 12.
72
Winkelmayer, Beobachtungsstelle, S. 10.
73
Ebd., S. 122.
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63
e r f a s s b a r e C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n z u m G e g e n s t a n d e " hatte, w u r d e in F o r m einer Profilkurve dargestellt. Der Vorteil der K u r v e n d a r s t e l l u n g w u r d e d a r i n g e s e h e n , d a s s „ A b w e i c h u n g e n von der N o r m klar hervortreten [...] u n d ein m ö g l i c h s t a n s c h a u l i c h e s u n d plastisches C h a r a k t e r p r o fil" 74 e n t s t a n d :
„Aufgabe des Heimpädagogen ist es nun, a u f G r u n d der in der A n a m n e s e des Bezirksjugendamtes, in der Feststellung der Intelligenzprüfungen und psychophysischen Untersuchungen, in der somatischen Untersuchung des Anstaltsarztes, in den Beobachtungen des Erziehungs- und Lehrpersonals und der Heimmutter gegebenen Bestimmungsstücke j e n e Faktoren der Konstitution, der Umwelt und der Entwicklung in ihrem spezifischen Z u s a m m e n w i r k e n herauszuarbeiten, die zu dem gerade vorliegenden Charakter und eventuellen dissozialen Symptomen geführt haben. Neben seiner persönlichen Beobachtung ist es vor allem die Einzelaussprache mit den Zöglingen, die sowohl die Art der Erziehungsmängel, wie bestehende seelische Entwicklungsstörungen, psychopathische Züge, nervöse Reaktionen und andere abwegige Entwicklungen und Einstellungen in ihren Wurzeln und Auswirkungen aufzudecken imstande ist."75
D i e f o l g e n d e Tabelle gibt d i e E i n t e i l u n g der Kinder in H a u p t g r u p p e n a u s d e m Jahr 1 9 2 8 wieder.
Knaben
Mädchen
Vorwiegend durch Milieuschaden verwahrlost
30
50
Psychopathen
32
Nervöse Kinder
19 20
Debile Kinder
10
17,4 11,8
Vorübergehend seelisch irritiert
5
2,8
Körperlich hochgradig minderwertige
4
2,2
Sexuell depraviert
-
-
Epileptiker
1
0,6
Postencephalitiker
-
Normal ohne Besonderheiten
o,3 6
Vor Abschluss der Beobachtung entlassen
4,7
3,4
9,5
Tabelle III: Einteilung der Kinder in Hauptgruppen nach der Heilpädagogischen Beobachtung am Wilhelminenberg in Prozent76 Bei der Z u t e i l u n g der Kinder a u f e n t s p r e c h e n d e U n t e r b r i n g u n g e n sollte w i e folgt v o r g e g a n g e n werden:
74 Ebd., S. 125. 75
Ebd., S. 122.
76 Die Tabelle beruht auf Angaben in:Winkelmayer, Beobachtungsstelle, S.122.
64
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
„Normale Kinder werden tunlichst in Pflege gegeben, leichtere Fälle von Schwererziehbarkeit dann, wenn die Eltern oder Pflegeeltern selbst Verständnis für die Erziehung zeigen, einer Beratung zugänglich sind und in Verhältnissen leben, die für das Kind nicht für besonders gefährdend erscheinen. In diesen Fällen werden die Eltern oder Pflegeeltern entsprechend beraten und das Bezirksjugendamt ersucht, das Kind unter ständige Erziehungsaufsicht zu stellen und periodisch der Erziehungsberatung vorzuführen. Bei Nichtzutreffen dieser Voraussetzungen werden solche Kinder in indifferente Anstalten überstellt. Für ausgesprochen schwererziehbare oder hilfsschulbedürftige Kinder stehen städtische und private Spezialanstalten zur Verfügung."" Die Überstellung der Kinder nach der heilpädagogischen Beobachtung gibt Tabelle 4 wieder. Die Werte gelten für das Jahr 1928. Knaben
Mädchen
Rückstellungen
7,3
10,1
Fremde Pflegepartei
i,7
5,6
Erholungsheim
o,3
0,6
Städt. indifferente Anstalt
10,8
18
Private indifferente Anstalt
19,8
27,5
Städt. Spezialanstalt für Schwererziehbare
-
17,4
Priv. Spezialanstalt für Schwererziehbare
30,3
5,6
Städt. Spezialanstalt für Schwachsinnige
2,6
-
Priv. Spezialanstalt für Schwachsinnige
3,8
Städt. sonstige Spezialanstalt
0,6
1,7
Priv. sonstige Spezialanstalt
o,3
-
Erziehungsanstalt Eggenburg
21,9
Erziehungsanstalt Weinzierl
-
10,7 2,2
Sonstige
0,6
0,6
Tabelle IV: Anträge auf weitere Unterbringung nach der heilpädagogischen Beobachtung in Prozent78
„Ausgesprochen psychotische und schwer psychiatrische Fälle" wurden an die Heilpädagogische Abteilung der Universitätskinderklinik überstellt. 79 Die Beobachtungsstation Wilhelminenberg wurde 1934 geschlossen und die Heilpädagogische Beobachtungsstation in das Zentralkinderheim verlegt.
77
Ebd., S. 123.
78
Die Tabelle beruht auf Angaben in: Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Verwaltung 1923-28, S. 752.
79 Vgl. ebd., S. 122.
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65
Das Zentralkinderheim „Das Zentralkinderheim hatte sich aus einer alten Findelanstalt entwickelt. Diese war im Jahre 1784 von Kaiser Josef II gegründet worden. Am i.Juli 1868 ging die Findelanstalt aufgrund des Reichsgesetzes vom 28.11.1868 in die Verwaltung des Landes Niederösterreichs über. Die gesetzlichen Zwecke und Widmungen der Findelanstalt blieben dabei aufrecht erhalten. Sie sollten auch weiterhin hauptsächlich Aufnahme- und Durchzugsstelle, Pflege-, Kranken- und Heilanstalt für uneheliche Säuglinge sein. Im Laufe der Jahrzehnte war die Zahl der jährlichen Neuaufnahmen beträchtlich gestiegen. Am 20. April 1910 wurde daher unter Anwesenheit des Kaisers ein neues Kinderheim eröffnet. Die neue Anstalt erhielt einen neuen Namen: Niederösterreichisches Landes- und Zentralkinderheim und einen neuen Status. Im wesentlichen hatte sie aber die Aufgaben der alten Findelanstalt fortzusetzen."80 Die Zweckbestimmung des Niederösterreichischen Zentralkinderheims änderte sich mit seiner Übernahme durch die Gemeinde Wien infolge der gesetzlich verankerten Trennung Wiens und Niederösterreichs (Verfassungsgesetz vom 29. Dezember 1921) a m 1. Januar 1922:„Die Anstalt wurde zu einem Heim für sämtliche der Gemeinde Wien zur Versorgung anheim fallender Säuglinge und deren Mütter ausgestattet." 81 Damit war der Wirkungskreis der Institution bedeutend eingeengt und der Betrieb wesentlich geändert. Sie hörte vor allem auf, ein Findelhaus im Sinne des Armengesetzes vom 28. November 1868 zu sein: Voraussetzung für die Aufnahme war die erwiesene Fürsorgebedürftigkeit, unabhängig davon, ob es sich um eheliche oder uneheliche Kinder handelte. 82 Mütter fanden allerdings nur noch dann Aufnahme, wenn „ihre Anwesenheit in der Anstalt vom ärztlichen Standpunkte zur Ernährung und zur Pflege ihrer Kinder unbedingt notwendig" war.83 Zunächst war das Zentralkinderheim dazu bestimmt, alle durch die Kinderübernahmestelle in Gemeindepflege übernommenen anstaltsbedürftigen Kinder bis zum vollendeten 2. Lebensjahr unterzubringen. Im Juni 1924 wurde zusätzlich eine Abteilung für Kinder bis 14 Jahre eingerichtet, die an Gonorrhö oder Lues erkrankt waren und hier fachärztlich behandelt werden sollten.8" Mit Beschluss des Gemeinderates vom 7. Oktober 1927 wurde aufgrund der Schließung der Kinderherberge „Am Tivoli" auch die Errichtung einer Kleinkinderabteilung im Zentralkinderheim genehmigt. 85
80 Zarfl, M., 25 Jahre Zentralkinderheim. In: Zeitschriftfür Kinderschutz, Familien- und Berufsfürsorge. 27. Jg. 1935, Heft 7-8, S. 62-65, hier S. 63. 81 Wiener Jugendamt (Hg.), Wohlfahrtswesen, S. 24. 82 Vgl. Zarfl, Zentralkinderheim, S. 63. 83 Magistrat (Hg.), Mitteilungen 1927, S. 54. 84 Silaber, S., Das Fürsorgewesen in Wien 1895-1932. Diplomarbeit Wien 1985, S. 40. 85 Magistrat der Stadt Wien (Hg.),DieVerwaltungig23-28,S.72i.
66
i. Zur G e s c h i c h t e der Jugendfürsorge
Die Kinderübernahmesteile im 9. Wiener Gemeindebezirk Die große Zahl der abgegebenen Kinder und die dazu im Widerspruch stehende Unzulänglichkeit der räumlichen Ausstattung führten dazu, dass die Gefahr der Übertragung von Infektionskrankheiten in der Städtischen Kinderübernahmesteile sehr hoch war. Um diesem Missstand ein Ende zu setzen, beschloss der Wiener Gemeinderat am 9. März 1923 den Bau einer neuen Einrichtung. 86 Als geeignetes Areal wurde der Platz Ecke Lustkandl- und Ayrenhoffgasse im 9. Bezirk gewählt. Das neue, dreistöckige Gebäude sollte an das bereits bestehende KarolinenKinderspital angrenzen. Noch im Juli desselben Jahres wurde mit dem Bau begonnen. Am 18. Juni 1925 erfolgte die feierliche Eröffnung dieses „Juwels der modernen Kinderfürsorge" 87 , das den Kindern der Stadt Wien gewidmet war. In ihrer großzügigen Ausgestaltung entsprach die neue Kinderübernahm e s t e l l e - d i e Kosten für Bau und Einrichtung beliefen sich auf 3.390.000 Schilling 8 8 -ganz den Selbstdarstellungswünschen der sozialdemokratischen Stadtverwaltung: Die alte, in einem düsteren, winkligen Gebäude untergebrachte Kinderübernahmestelle in der Siebenbrunnengasse, die „gleichsam als Erbstück aus dem Bestand der früher christlichsozialen Wohlfahrtspolitik übernommen" 8 9 worden war, wurde durch ein Gebäude ersetzt, in dem die Idee Verwirklichung fand, „dass das Leben der vom Glück Enterbten der Schönheit nicht entbehren soll" 9 0 Die luxuriöse Ausgestaltung des „eigentlichen Prunkstücks des ganzen sozialdemokratischen Reformwerks" 9 ' fiel dem Besucher schon in der Eingangshalle ins Auge: Die Treppenhäuser waren mit Plastiken der akademischen Bildhauer Adolf Pohl, Max Krejca und Theodor Igler geschmückt. Dieser Bau s o l l t e - w i e es Tandler formulierte - in seiner „Pracht ferneren Zeiten ein Monument darstellen für das rastlose Bestreben unseres Gemeinwesens, den Kindern zu helfen". 92 Vor allem sollte durch d i e - i m buchstäblichen Sinn-architektonische Umsetzung moderner medizinisch-hygienischer Erkenntnisse die Infektionsgefahr eingedämmt werden. So wurde die Einrichtung baulich in eine „reine" und eine „unreine" Seite geteilt. Auf der „unreinen" Seite fand die Aufnahme der Kinder statt. Eine ärztliche Untersuchung klärte den Gesundheitszustand des Kindes ab. Konnte keine Erkrankung diagnostiziert werden, wurde das Kind, nachdem
86
Magistrat der Stadt W i e n (Hg.), Die V e r w a l t u n g 1 9 2 3 - 2 8 , S.721.
87
Magistrat der Stadt W i e n (Hg.), Die K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e der G e m e i n d e W i e n . W i e n 1927, S. 5.
88
Vgl. ebd.
89
Benetka, G., Psychologie in W i e n . Sozial- und T h e o r i e g e s c h i c h t e des W i e n e r psychologischen Instituts 1 9 2 2 - 1 9 3 8 . W i e n 1 9 9 5 , S. 135.
9 0 Tandler, J., Wohltätigkeit oder Fürsorge. In: M a g i s t r a t der Stadt W i e n (Hg.), K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e der G e m e i n d e W i e n im IX. Bezirk, Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. W i e n 1925, S. 5. 91
Benetka, Psychologie, S. 134.
92
M a g i s t r a t (Hg.), K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e der G e m e i n d e W i e n im IX., S. 5.
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
67
es gewaschen worden war und Anstaltswäsche ausgefasst hatte, auf die „reine Seite" überstellt. Ihrem Alter entsprechend wurden die Kinder auf die drei Stockwerke der Kinderherberge verteilt. Säuglinge waren im dritten Stock, Kleinkinder im zweiten Stock und größere Kinder in einem Teil des zweiten Stockes bzw. im ersten Stock untergebracht.« Auf der „reinen Seite" erfolgte dann eine 16- bis 21-tägige Beobachtung der Kinder. Für die Beobachtungsabteilungen wurde ein so genanntes „Boxsystem" gewählt, das auch schon in der 1911 eröffneten Universitätskinderklinik die Infektionsgefahr eindämmen sollte. Pirquet hatte dieses System seinerzeit als „wichtigste Neuerung" der modernen Universitätskinderklinik bezeichnet: „Für den Spitalbetrieb ist es eine Wohltat, eine solche Beobachtungsstation zu besitzen. Früher mußte man sich bei jeder scharlachverdächtigen Angina, bei jedem unklaren Ausschlage sofort entscheiden, in welcher bestimmten Kategorie man das Kind einzureihen hatte, und so kam es öfter vor, dass man unsichere Fälle auf die falsche Abteilung legte und so Doppelinfektionen hervorrief. Gewöhnlich half man sich damit, dass man die Kinder überhaupt nicht aufnahm bzw. mit der Transferierung eines infektionsverdächtigen Kindes aus der inneren Abteilung so lange wartete, bis die Symptome eindeutig wurden. Um diese Zeit waren dann häufig schon mehrere Nachbarn des Kindes angesteckt. Jetzt sind wir in der Lage, nicht nur das verdächtige Kind selbst zu isolieren, sondern auch die Nachbarn für solange Zeit in Einzelzimmer zu stecken, bis die Inkubationszeit der betreffenden Infektionskrankheiten abgelaufen ist."^4 Theodor Escherich hatte diese Beobachtungsstation nach französischem Vorbild entwickelt und insofern vervollkommnet, als er einen Mittelgang einrichten ließ, wodurch das System auch für den Unterricht an der Universitätskinderklinik geeignet sein sollte. Auch in der neuen Kinderübernahmestelle war das Boxsystem mit einem zentralen Gang ausgestattet. Allerdings wurde es - und das war eben völlig neu - aus dem Kontext der Infektionseindämmung herausgelöst und den Bedürfnissen der Kinderbeobachtung und -Überwachung nutzbar gemacht: „Die Trennungswände zwischen den einzelnen Boxes jeder Abteilung sind aus Glas, wodurch eine leichte und ständige Überwachung möglich wird."« Julius Tandler, der stets ein wissenschaftlich fundiertes Vorgehen innerhalb der Wiener Fürsorge proklamiert hatte, öffnete schließlich die Kinderübernahmestelle auch für die psychologische Forschung, wie sie seit 1922 am Wiener Psychologischen Institut von Karl undCharlot-
93
Ebd., S. 20.
94 Pirquet, Universitäts-Kinderklinik, S. 93. 95 Magistrat (Hg.), Die Kinderübernahmestelle, S. 24.
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
68
te Bühler organisiert und durchgeführt wurde. Wichtigstes Resultat der von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer seit 1926 an der Kinderübernahmesteile eingerichteten und geleiteten Arbeitsgruppe stellen die berühmten Wiener Kleinkindertests dar.«6 Im Gegensatz zum orthodoxen behavioristischen Ansatz ging Charlotte Bühler davon aus, dass nicht nur jene Verhaltensweisen angeboren sind, die unmittelbar nach der Geburt auftreten, sondern dass sich angeborene Reaktionen auch noch später zeigen, und zwar„in Abhängigkeit vom Erreichen eines bestimmten physiologischen Entwicklungsniveaus":„Wir können also sagen: tritt eine Verhaltensweise erstmalig als Aktion auf ohne vorher re-aktiv schon geübt worden zu sein, so läßt sich in diesem Fall auf das Hervortreten einer angeborenen Anlage mit Sicherheit schließen." 97 Anders als Watsons Behaviorismus war Charlotte Bühler daher nicht an Verhalten interessiert, das sich auf einen bestimmten Reiz hin zeigt; ihre Forschungsbemühungen gingen vielmehr dahin, den durchschnittlichen Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens eines bestimmten Verhaltens im Entwicklungsverlauf festzustellen. In der Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse fand Charlotte Bühler nun die Gelegenheit, durch 24-Stunden-Dauerbeobachtungen von Kindern verschiedenster Lebensalter ein so genanntes Inventar altersgemäßer Verhaltensweisen zu erstellen:
„Das Procedere war schlicht und einfach. Es galt, die Kinder rund um die Uhr 24 Stunden lang zu observieren und aufzuschreiben, was es dabei alles zu sehen gab. Die Beobachterinnen saßen untertags etwas abseits vom Bettchen des betreffenden Kindes, ausgerüstet mit Protokollblättern, Bleistift und Stoppuhr. Sobald ein neues Verhalten sich zeigte, sollte die genaue Uhrzeit des Auftretens neben dem entsprechenden Eintrag vermerkt werden. Des Nachts ging man nach draußen und beobachtete vom Gang aus durch die Glaswand. Die Kinder durften nicht gestört werden vom Licht der Taschenlampe, das zur Protokollführung im Dunkeln benötigt wurde. Alles sollte so sein, als o b - a u ß e r dem Pflegepersonal-gar niemand anderes da wäre. Nicht das durch die Setzung von Reizen produzierte Verhalten interessierte, sondern das Verhalten in .natürlichen Situationen'."«8
Auf den Ergebnissen solcherart durchgeführter Forschung aufbauend entwickelten Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer ihre Entwicklungstests. Den altersspezifischen Verhaltensinventaren gemäß wurden einzelne Testaufgaben konstruiert, die das jeweils in Frage stehende Verhalten „provozieren" sollten. Der strukturelle Aufbau des Testsystems entsprach dann ganz 96 Vgl. Benetka, Psychologie, S. 138. 97 Bühler, C., Die ersten sozialen Verhaltensweisen des Kindes. In: Dies., Hetzer, H. und Tudor-Hart, B., Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr. Jena 1927,5.1-102, hier S. i,zit. nach Benetka, Psychologie, S. 131. 98 Benetka, Psychologie, S. 140.
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dem binet-simonschen Modell der Intelligenzprüfung. Als entwicklungstypisch erkannte Situationen und Verhaltensweisen wurden zu altersentsprechenden Testreihen zusammengefasst. Da im ersten Lebensjahr jeder Lebensmonat durch charakteristische neue Verhaltensweisen vom vorangehenden abgehoben ist, konstruierten Bühler und Hetzer für jeden der ersten acht Lebensmonate eine gesonderte Teststufe. Für das letzte Vierteljahr wurde dann jeweils für zwei Lebensmonate eine gemeinsame Reihe entwickelt. Im zweiten Lebensjahr bildete man für die ersten sechs Monate zwei,für das zweite Halbjahr eine Teststufe. Vom dritten Lebensjahr aufwärts wurde schließlich eine Jahreseinteilung gewählt. Insgesamt bestand die gesamte Testbatterie also aus 17 altersspezifischen Reihen, die aus je 10 Einzeltests zusammengesetzt waren. „Bei der Entwicklungsprüfung wurden einem Kind die seinem Lebensalter entsprechende Testreihe und die beiden vorangehenden bzw. nachfolgenden Teststufen vorgelegt. Aus der Anzahl der gelösten bzw. nicht gelösten Aufgaben konnte nun ein .Entwicklungsalter' berechnet und dieses nach dem von William Stern für die so genannte Intelligenzmessung vorgeschlagenen Verfahren in Beziehung gesetzt werden: Analog zum .Intelligenzquotienten' ermittelte man also einen .Entwicklungsquotienten', indem man das Entwicklungsalter durch das Lebensalter dividierte. War das Ergebnis großen, so wurde das als ein Hinweis für Akzeleration, bei kleiner 1 als Anzeichen von Redartation gewertet."99 Dieses Verfahren wurde schließlich an der Beobachtungsstation der Kinderübernahmestelle eingesetzt, um Entscheidungen über die weitere Form der Befürsorgung zu treffen. Falls nach der Beobachtung und nach den psychologischen Intelligenz- und Entwicklungsprüfungen noch kein abschließendes Urteil erzielt werden konnte, wurde das der Fürsorge unterstehende Kind zur weiteren Beobachtung in das Zentralkinderheim oder in das Kinderheim im Schloss Wilhelminenberg überstellt. Auswirkungen politischer Umbrüche auf den Fürsorgesektor im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre Nach dem Ersten Weltkrieg gewannen Reformideen durch den politischen Neuanfang stark an Einfluss. Reformpädagogische Einrichtungen und Schulreformen, die von Prügelstrafe und eiserner Disziplin absahen, sollten nach dem Sturz der Monarchie zur Demokratisierung und Sozialisierung beitragen. Mit dem Prozess der Demokratisierung veränderte sich auch die Stellung des Kindes in der Gesellschaft. Die individuellen Eigenschaften eines Kindes sollten bei der 99 Ebd., 5.196.
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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Erziehung stärker berücksichtigt werden.' 00 Dem öffentlichen Bedürfnis nach Differenzierung begegnete man von Seiten der Wissenschaft mit Ermüdungsmessungen, Gedächtnisuntersuchungen und Begabungsforschung. Die Intelligenzmessungen erhielten eine individualistische Konnotation. In seinem „Lehrbuch der Pädagogik" aus dem Jahr 1929 verstand z. B. Herget die Intelligenztestung als Mittel zur individuellen Förderung eines Kindes: „Die experimentelle Psychologie bemüht sich gegenwärtig, Methoden ausfindig zu machen, die gestatten, die Intelligenz eines Kindes festzustellen. Um nämlich die Anlagen eines Kindes in besterWeise zu fördern, um es individuell behandeln zu können, ist das unbedingt notwendig." 101 Ging es Lazar noch darum, differenzialdiagnostisch ungünstige Umwelteinflüsse zu erkennen und durch die Beseitigung des schädlichen Milieus, in dem die Kinder aufwuchsen, eine Besserung des Verhaltens zu erzielen, so wurde im Nationalsozialismus im Gegensatz dazu von einer rein erbdeterminierten Sichtweise der Verwahrlosung ausgegangen. Alois Scholz, Internatsvorstand an derTechnischen Bundeslehranstalt in Mödling bei Wien, meinte bereits 1926: „Die ererbte Anlage spielt gegenüber der Umwelt, also auch gegenüber den Erziehungsmaßnahmen, die Hauptrolle." Er vertrat damit jene Haltung, die in Österreich mit der nationalsozialistischen Machtübernahme die vorherrschende wurde: „Und da also .Verwahrlosung' auf Grund genauerer Untersuchungen sich fast durchaus als Folge von ererbter Veranlagung erweist, so überrascht es nicht, dass [...] die Unterbringung in Besserungsanstalten oder auch bei ordentlichen Leuten meist keinen Erfolg bringt; wenigstens drei Viertel missraten auch in diesen gänzlich geänderten Umweltverhältnissen. Meist ist es wohl auch so, dass minderwertige Männer auch nur minderwertige Ehegenossinnen bekommen und auch hier kann Böses fortzeugend immer nur wieder Böses gebären."102 Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 führte dann zu einem rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit. 103 Die problematische Finanzlage zeigte naturgemäß auch Auswirkungen auf den Fürsorgesektor. Die Einsparungen beim „Lieblingskind" der sozialdemokratischen Regierung fanden vorerst im Gemeinderat den Beifall der Opposition. Als die Auswirkungen der Wirtschaftskrise deutlicher wurden, erhöhten sich auch die politischen Spannungen. 1933 wurde das Parlament ausgeschaltet, mit der „Maiverfassung" vom 1. Mai 1934 wurde Österreich ein autoritärer Ständestaat. Damit änderte sich auch die Orientierung der Fürsorgepolitik: Die Sozialdemokraten hatten eine Entwicklung vorangetrieben, durch die die ursprünglich rein private 100 Vgl. La ux, Geschichte, S. 8-36. 101 Herget, A., Lehrbuch der Pädagogik. Psychologie, Erziehungslehre. Leipzig 1929, S. 91. 102 Scholz,A., Rassenpflege und Erziehung.Wien 1926,8.5. 103 Von Sommeri929 bis Sommeri933 stieg die Anzahl der Arbeitslosen um 1 6 0 % (vgl. Ungar, Fürsorge, S. 15)-
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Hilfeleistung zu einer behördlichen Verpflichtung gegenüber Hilfsbedürftigen erklärt wurde. Der neue Wiener Bürgermeister Schmitz stellte dem tandlerschen Leitmotiv, dem „Recht auf Fürsorge", wieder die religiöse Motivation - den „Auftrag zur Nächstenliebe" - entgegen. In einem 1936 veröffentlichten Aufsatz:„Vom Geiste der Jugendfürsorge" hieß es dazu: „Weitaus der stärkste Motor der Fürsorgetätigkeit ist aber seit 1 9 0 0 Jahren die Predigt Jesu Christi von der Pflicht der Barmherzigkeit g e w e s e n . Seither flutet ein gewaltiger, nie versiegender Strom religiös motivierter Fürsorge durch die Welt. Keine Nation, keine Rasse, kein Erdteil wird von ihr vernachlässigt. W i e das C h r i s t e n t u m selbst durch Meere und Gebirge nicht a u f g e h a l t e n w e r d e n konnte, so drängt a u c h die Liebestätigkeit u m Christi willen überall hin. M ö g e n andere mit gewaltigen finanziellen Mitteln ausgerüstet sein,die aus der Religion sprieß e n d e Fürsorge ist d e n n o c h stärker als sie, d e n n die M a c h t der Seele ist größer als die M a c h t des M a m m o n s . " 1 0 4
Der Machtwechsel brachte drastische Sparmaßnahmen mit sich: Innerhalb des Wohlfahrtswesens wurden die stärksten Kürzungen im Bereich der Jugendfürsorge durchgeführt. 1930 hatte dieser Sektor noch 25 % der gesamten Wohlfahrtsausgaben ausgemacht. Der Anteil fiel kontinuierlich, bis er sich 1937 mit 14,2 % fast halbiert hatte.10* Die Sparmaßnahmen hatten konkrete Auswirkungen: Schon 1929 mussten die ersten beiden Erziehungsanstalten 106 geschlossen werden; weitere Heime folgten.'07 Die Christlichsozialen beschränkten die Anstaltsfürsorge „auf das Minimum [...], auf das die Stadt nicht verzichten" konnte.108 Die Anstalten zur vorübergehenden Unterbringung mit ihren Beobachtungsstationen (Kinderübernahmestelle und Zentralkinderheim), die eine Schlüsselstellung im organisatorischen Aufbau derJugendwohlfahrt innehatten, wurden allerdings fortgeführt. Mit der Eingliederung der „Ostmark" in das Deutsche Reich kam es 1938 innerhalb der Wiener Fürsorge zu einer entscheidenden Wende, die nicht nur die Einführung eines neuen Fürsorgerechtes brachte, sondern v. a. einer neuen geistigen Einstellung folgte, die in dem nationalsozialistischen Gedanken der „Volksgemeinschaft" wurzelte. Die Programmatik der Reformpädagogen der Weimarer Republik und des „Roten Wien", nach der es galt, das Kind in
104 Schmitz, R.,Vom Geiste der Jugendfürsorge. In: Reden und Aufsätze des Bürgermeisters Richard Schmitz. Wien 1936, zit. nach Ungar, Fürsorge, S.74. 105 Vgl. ebd., S. 56. 1 0 6 Die Erziehungsanstalt „Weinzierl" und das Waisenhaus in der Galileigasse. 107 Das Waisenhaus Gassergasse sowie die Erziehungsanstalten Meidling und Döbling wurden geschlossen. Das Waisenhaus Hohe Warte blieb zwar im Besitz der Gemeinde Wien, wurde aber seit 1934 aus Kostengründen von Klosterschwestern geführt, vgl. Ungar, Fürsorge, S. 128. 108 Vgl.ebd.,S. 129.
1. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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seiner Individualität zu erfassen, wurde unter nationalsozialistischer Herrschaft mundtot gemacht. Auf die Entfaltung von Anlagen und Fähigkeiten wurde in der „völkischen" Erziehung nur insoweit geachtet, als deren Förderung der Volksgemeinschaft diente. Der Einzelne wurde derTotalität des Ganzen unterworfen. Man proklamierte,„daß der Mensch als isoliertes Ich keine Wirklichkeit besitzt, daß er in allen seinen Handlungen Kollektivwesen ist, daß sein Leben sich nur in Gemeinschaft verwirklicht". 109 Dabei galt als „gemeinschaftsunfähig",„wer nicht in der Lage ist, den Mindestanforderungen an das persönliche Verhalten, das soziale Verhalten und das völkische Verhalten zu genügen"." 0 Die faschistische Weltanschauung blieb nicht ohne Konsequenzen auf psychologische Forschungsfragen: Erich Rudolf Jaensch z. B., ein Hauptvertreter der NS-Psychologie, begann seine ursprünglich wahrnehmungspsychologisch fundierte Typologie 111 zu einer„völkischen" Sozialpsychologie zu erweitern: „Integration" und „Desintegration" waren jetzt nicht mehr bloß auf Wahrnehmungsleistungen bezogen, sondern wurden zu Grundformen des menschlichen Seins verallgemeinert. Bezüglich der Sozialbeziehungen der von ihm postulierten „desintegrierten Typen" („S-Typen") stellte er fest: „Der S-Typus entbehrt des Sinnes für natürliche Gemeinschaft. [... Er] ist autistisch, egozentrisch. Sein Ich steht für ihn im Mittelpunkt der Welt, oder wenigstens seiner Umwelt. [...] Die J-Formen dagegen haben natürlichen Gemeinschaftssinn und neigen dazu, auch die Gebilde der Gesellschaft in solche der Gemeinschaft zurückzuverwandeln. Denn die J-Formen, die ja wesenhaft zur Gemeinschaft neigen, zeigen den organischen Aufbau des höheren Seelenlebens, das organische Herauswachsen des Höherseelischen aus dem Elementarseelischen, und in diesem organischen Aufbau gründet auch ihr Gemeinschaftsleben."112
Der Psychologe Franz Röser versuchte 1940 dieses Konzept für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen. Für die Psychologie stellt sich von hier aus als zentrale Frage, wie das Kind zur Gemeinschaft kommt. Das Ziel seiner eigenen sozialpsychologischen Untersuchungen war daher die Aufdeckung von psychologischen Ansatzpunkten, „die der sozialen Erziehung dienstbar ge-
109 Wächtler, D., Revolution des Denkens. Gemeinschaft und Erziehung. Dortmund 1939, S. 7f., zit. nach Laux, Geschichte, S. 38. n o Stumpfl, F., Referat. In -.Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie schaftshygiene. 111
einschließlich
Rassen- und
Gesell-
39. Jg. 1942, Heft 36, S. 72-75, hier S. 72.
Die Einteilung der Menschen in „Typen" bzw. „Charaktere" ist bezeichnend für die akademische Psychologie dieser Zeit. Es hatte sich ein Wechsel vollzogen: von der individualistischen Sicht der Reformpädagogen auf das Kind zum Kind als Kollektivwesen mit angeborenen Charaktereigenschaften.
112 Zit. nach Röser, F., Kind und Gemeinschaft. Würzburg 1940, S. 18
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macht werden können".1^ Was darunter zu verstehen war, wurde wie folgt erläutert:„Für unsere Untersuchung ist wesentlich, dass die Entwicklung des kindlichen Soziallebens Stufe um Stufe bis zu dieser Jugendform hinaufbaut, die selber nicht Endform ist, sondern in eine höhere Sozialform hineinführt, das Volk."11" Zur Ermittlung der geistigen Entwicklung eines Kindes diente Röser der Intelligenztest von Binet. Die „soziale Entwicklung" sollte mit Hilfe neu entwickelter Testfragen, deren Konstruktion an den Werten und Moralvorstellungen der nationalsozialistischen Weltanschauung angelehnt war, erfasst werden.„Gemeinschaftsfähigkeit" bzw.„Gemeinschaftsunfähigkeit" waren die neuen Konstrukte, die von Psychologen nun „gemessen" werden sollten. Der Z u s a m m e n h a n g von geistiger und sozialer Entwicklung konnte allerdings nicht - wie Röser gehofft hatte - nach dem Vorbild des Binetariums in exakten Zahlen ausgedrückt werden:„Während eine praktisch brauchbare Bestimmung des Intelligenzalters möglich ist, ist die Feststellung eines Sozialalters auf Grund unserer Tests vorerst nicht gelungen. Die Staffeltests eignen sich in dieser Form nicht zur Berechnung." 115 Eine inhaltliche Beschreibung war allerdings möglich: „Während also bei den ethisch Guten und ethisch fast Guten das ethische Verhalten dem Intelligenzwert entspricht, sind die ethisch Genügenden intellektuell am schwächsten. Dagegen ist bei den sieben ethisch Schlechtesten die Intelligenz besser als ihr ethisches Verhalten, bedeutend besser als die Intelligenz der ethisch Genügenden und auch - wenn auch wenig - besser als die Intelligenz des Gesamtdurchschnitts."116 In Österreich ist - wie auch in Deutschland - ein Eindringen sozialdarwinistischer Ideologien bei Funktionären der öffentlichen Wohlfahrtspflege bereits in den zwanziger Jahren zu verzeichnen: Hans Friedl, pädagogischer Leiter der Landes-Fürsorgeerziehungsanstalt Lichtenhof bei Graz, verfasste im Winter 1922/23 eine wissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel:„Jugendfürsorge und Rassenhygiene - Beiträge zur Theorie und Geschichte der öffentlichen Jugendfürsorge". Friedl untersuchte die Tätigkeit der Jugendämter in Bezug auf ihre „rassedienstlichen" Ziele:
„Alle Bestrebungen der Menschen, die daraufgerichtet sind, ihr organisches Erbgut bewußt zu erforschen, die Träger des wertvollen Teils dieses Erbgutes in der Ermöglichung ihrer Fortpflanzung
113 114 115 116
Röser, Kind, S.i. Ebd.,S.i99. Ebd., S. 266. Ebd., S. 267.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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zu unterstützen und die geschlechtliche Fruchtbarkeit der Vertreter schlechter Erbeinheiten zu behindern, kennzeichnen in dieser Schrift im weitesten Sinne das Wesen des Rassedienstes."117 Die Hauptaufgabe des Rassedienstes sei erfüllt,„sobald es gelungen sein wird, das Fruchtbarkeitsverhältnis zwischen den eugenisch wertvollen und nichtwertvollen Gliedern des Gesamtvolkes in dauernderWeise zugunsten der ersteren beeinflusst zu haben".1'8 Da für das Eingreifen des Jugendamtes „in erster Linie der Grad der sozialen Notwendigkeit, in zweiter Hinsicht der Stand der wirtschaftlichen Bedürftigkeit und erst zuletzt die Stufe der ethischen Würdigkeit" ausschlaggebend war, bezeichnete Friedl das Jugendamt als eine „Art Einrichtung antirassehygienischer Natur".' 19 Die „Zukunftsaufgaben der Jugendämter" sah er darin, an „Bestrebungen der Volkseugenik" 120 mitzuwirken: „i. Erbbiographische Personalbögen stellen vorläufig Mittel zur Beurteilung des eugenischen Wertes bestimmter Personen dar. Sie sollen später, wenn der Gedanke des Rassendienstes Volksgemeingut geworden ist, zu Familienstammbüchern ausgebaut werden. [...] 2. Anlage eines Verzeichnisses jener anormalen Kinder und Jugendlichen, deren zu erwartende Fruchtbarkeit aus einwandfreien volkswohlfahrtlichen Gründen nicht erwünscht sein kann. Kinder solcher Art wären im Hinblick auf ihre Erbanlagen besser unfruchtbar zu halten. Wenn man ihren Phänotypus zwar durchaus nicht die Irrungen der Eltern, mehr als es die Natur ohnehin eingeleitet hat, büßen lassen soll, muß für ihren Genotypus doch gefordert werden, daß er erlischt, denn das beste Material, aus dem Verbrecher zu machen sind, und das Material, aus dem sie am häufigsten gemacht werden, sind die Schwachsinnigen. [...] 3. Einleitung einer ständigen und wirksamen Befürwortung hinsichtlich des Austausches von Gesundheitszeugnissen zwischen Ehebewerbern. 4. Andauernde methodische Aufklärung über die Gefahren des außerehelichen Geschlechtsverkehrs. 5. Abwehrmaßnahmen gegen das Aufkommen von Keimschädigungen."'21
Erziehungsberatung im Wiener Jugendamt vor und nach 1938 Die Tätigkeit des Jugendamtes wurde durch die am 1. April 1940 in Kraft getretene „Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark" (JWVO) auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. 117 Friedl, H., Rassenhygiene und Jugendfürsorge. Graz 1925, S.i. 118 Ebd., S. 13 f. 119 Ebd.,S.i6. 120 Ebd., S. 69. 121 Ebd.
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Das „Erziehungsziel" wurde darin wie folgt beschrieben: „Dieses Ziel ist der körperlich und seelisch gesunde Mensch, der sittlich gefestigte, geistig entwickelte, beruflich tüchtige deutsche Mensch, der rassebewußt in Blut und Boden wurzelt und Volk und Reich verpflichtet und verbunden ist."122 Das Jugendamt erhielt die Bezeichnung „Gaujugendamt", die übrigen Bezirksjugendämter (zwischen 1940 und 1944 schwankte die Anzahl der Jugendämter zwischen 14 und 16) und Wohlfahrtsanstalten behielten ihre alte Bezeichnung bei. Nachdem die Kinder den Jugendämtern vorgestellt wurden, oblag die Entscheidung über die weitere Anstaltsunterbringung der Kinder bis 1938 Franz Winkelmayer, dem einzigen Erziehungsberater des städtischen Jugendamtes. 123 Winkelmayer hielt, wie auch schon in den Jahren zuvor, 1938 in jedem Bezirksjugendamt in 14-tägigem Turnus j e nach Größe des Amtes zwei bis vier Erziehungsberatungsstunden ab. An den Donnerstagnachmittagen begutachtete er alle Kinder, die in die Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse überstellt worden waren. Im Einvernehmen mit dem Leiter der Kinderübernahmestelle und der Anstaltsärztin wurden die Kinder für die Abgabe in eine Pflegestelle, eine Erziehungsanstalt oder zur weiteren Beobachtung auf die Beobachtungsstation in das Zentralkinderheim bestimmt. 124 „Nach Abschluss der Beobachtung im Zentralkinderheim wurden die K i n d e r - u n t e r Vorlage der Beobachtungsergebnisse-am Montagnachmittag nochmals dem Erziehungsberater vorgestellt. Nun bestimmte der Erziehungsberater die endgültige Zuweisung der Kinder in eine entsprechende Anstalt." 125 Wichtig ist, den Wandel in den Beurteilungsgesichtspunkten im abschließenden Befund des Erziehungsberaters festzuhalten. Ging es in der Zeit des „Roten Wien" vor allem darum, endogene von exogenen Formen der Dissozialität zu unterscheiden, so stand jetzt d i e - w e i t g e h e n d als erblich bedingt betrachtete - Gemeinschaftsfähigkeit bzw. Gemeinschaftswidrigkeit der Kinder im Mittelpunkt des diagnostischen lnteresses:„Nach den abschließenden Befunden lag
122 RGBl. I v. 20.03.1940, S. 519, zit. nach Mannlicher, E., Wegweiser durch die Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Verwaltung im Reichsgau Wien sowie in den Reichsgauen Kärnten, Niederdonau, Oberdonau, Salzburg, Steiermark und Tirol mit Vorarlberg (Stand vom 01.02.1942). Berlin u.a. 1942, S. 228. 123 Zu Franz Winkelmayers Tätigkeit als Erziehungsberater in Wien, Oberhollabrunn und Eggenburg in 1920er Jahren vgl. S. 51 ff. A b i . September 1933 leitete Winkelmayer in den Wiener Bezirksjugendämtern den Erziehungsberatungsdienst. Von der Gemeindeverwaltung des Reichsgaus Wien wurde Winkelmayer a m 26. Mai 1942, da er „seit längerer Zeit zur vollsten Zufriedenheit seinen Dienst" versah, der Titel „Gauerziehungsberater" verliehen. Winkelmayer bemühte sich im Juli 1938 u m die A u f n a h m e in die NSDAP, wurde jedoch abgewiesen, da er von Sommer 1922 bis Februar 1934 Mitglied einer Freimaurerloge gewesen war. Für Winkelmayer im Nachhinein ein glücklicher Umstand, der dazu führte, dass e r i g s o in eine höhere Gehaltsgruppe eingereiht wurde. (Vgl.WStLA, Personalakte Franz Winkelmayer M.-Abt. 202). 124 1940 wurde die Beobachtungsstation im Zentralkinderheim in die Wiener städtische Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" verlegt. 125 Magistrat (Hg.), Gemeindeverwaltung 1938, S. 197.
l. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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bei 80 % der vorgestellten Kinder gemeinschaftswidriges (dissoziales) Verhalten, bei 15 % Entwicklungsstörungen ohne gemeinschaftswidriges Verhalten vor, 2 % hatten keine besonderen abwegigen Erscheinungen und 3 % wurden nicht abschließend beurteilt." 126 Im Verwaltungsjahr 1939/40 - die bisherige Einteilung nach Kalenderjahren war geändert worden - wurden zu Winkelmayer zwei weitere Erziehungsberater eingestellt. Im Verwaltungsjahr 1943/44 erhöhte sich ihre Zahl auf sechs. Die personelle Erweiterung zog eine organisatorische Neustrukturierung der Erziehungsberatung nach sich: „Winkelmayer oblagen die allgemeinen, grundsätzlichen und organisatorischen Aufgaben der Erziehungsberatung sowie der Beurteilung besonders heikler und schwieriger Fälle aus den Bezirksjugendämtern, die Erziehungsberatung in den städtischen Anstalten, die Sichtung der Kinder und Jugendlichen in der Kinderübernahmestelle, im Zentralkinderheim und im Jugendheim Juchgasse, sowie die Erziehungsberatung in zwei Bezirksjugendämtern. [...] Die neu hinzugekommenen Erziehungsberater betreuten die übrigen Bezirksjugendämter."127 Über die Tätigkeit der Erziehungsberater gibt es von Anfang an statistische Unterlagen, die in der nachstehenden Tabelle zusammengestellt sind: Berater
Jahr
Fälle
1
1923/24
1144
1925
1471
zeitweise
1926
1649
mehr als
1927
1368
ein Berater
1928
1531
1929
2992
1930
2355
1931
864
1932
-
1
3
Kleinkinder
Schulkinder
Jugendliche
1933 1934 1935
1266
1936
1407
1937
1568
1938
975
32 (3,3%)
708 (72,6 % )
235 (24,1 % )
1939/40
2302
41 (1,8 % )
1729 (75,i %)
1940/41
2461
36(1,5%)
1648 (66,9 % )
532 (23,i %) 777 (3i,5 %)
126 Ebd. 127 Koller, Erziehungsberatung,S.21.
-
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6
77
1941/42
2742
48 (1,8 % )
1578 (57.5%)
1116 (40,7 % )
1942/43
3352
26 (0,8 % )
1776 (53-0 % )
1550 (46,2 % )
1943/44
3418
20 (0,6 % )
1704 (49,9 % )
1694 (49,5 % )
Tabelle V: Tätigkeit der Wiener Erziehungsberater 1 9 2 3 - 1 9 4 4
Die Errichtung der Hauptabteilung F - Jugendwohlfahrt und Jugendpflege am 6. November 1942 bedingte die Abtrennung der Jugendfürsorgeanstalten von der bisherigen Hauptabteilung E. Ab diesem Zeitpunkt standen den Erziehungsberatern folgende Anstalten für die Zuweisung der Kinder zur Wahl: Wiener städtische Kinderübernahmesteile - Heim, Wiener städtische Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund", Wiener städtische Erziehungsanstalt Hohe Warte, Wiener städtische Erziehungsanstalt Mödling, Wiener städtische Erziehungsanstalt Eggenburg, Wiener städtische Erziehungsanstalt Klosterneuburg, Wiener städtische Erziehungsanstalt Schwechat, Wiener städtische Erziehungsanstalt Biedermannsdorf, Wiener städtisches Jugendheim Liebhartsthal, Blindenschule mit Heim, Gehörlosenschule mit Heim, das Wiener städtische Lehrlingsheim Rennweg, das Wiener städtische Lehrlingsheim A m Augarten, das Wiener städtische Lehrlingsheim ImWerd. 128
Der Einsatz von psychologischen Intelligenztestungen im Dienste von „Selektion" und „Auslese" Laux weist darauf hin, dass nach 1941 keine neuen Untersuchungen mit dem Intelligenztest von Binet publiziert wurden. Allgemein spricht er neben anderen Autoren von einer geringen Popularität des Binetariums in der NS-Zeit: „Tests und mit ihnen die Priorität des Intellekts widersprachen den nationalsozialistischen Intentionen von einem Primat des Körpers in der Ganzheit von,Körper-Seele-Geist'." 129 Eine Analyse der einschlägigen Literatur zeichnet jedoch ein anderes Bild über den Einsatz von Intelligenztests in der NS-Zeit. Der erste Band der von Arthur Gütt, dem Mitverfasser des Erbgesundheitsgesetzes und Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern, 1936 herausgegebenen „Handbücher der Erbkrankheiten" macht die große Bedeutung der psychologischen Intelligenztestung bezüglich ihrer Anwendung als wissenschaftliches Legitimationsinstrument deutlich. Die Feststellung der Diagnose „Schwachsinn" war im Nationalsozialismus längst nicht mehr nur Sache des Fachpsychiaters, sondern jeder Amtsarzt sah sich vor die Not-
128 Vgl. Magistrat (Hg.),Gemeindeverwaltung 1940 bis 1945,S. 216. 129 Ebd., S. 127.
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i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
wendigkeit gestellt, seine Diagnose durch eine entsprechende Erhebung „wissenschaftlich" abzusichern. Die von Cütt herausgegebene Handbuchreihe sollte die Entscheidung über die Sterilisation von Erbkranken gemäß dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) für die Antragsteller der Unfruchtbarmachung (überwiegend Amtsärzte) erleichtern.130 Der erste Band der Reihe, die nacheinander alle im GzVeN angeführten Erbkrankheiten behandelte, wurde von Franz Dubitscher, Regierungsrat im Reichsgesundheitsamt, verfasst und trug den Titel:„Der Schwachsinn". Darin hieß es u.a.: „Die große Bedeutung, die der Intelligenzuntersuchung im Rahmen der Schwachsinnigenforschung zukommt, und die ungeheuere Fülle von Arbeiten - theoretischer und experimenteller Art - die das Testverfahren beinahe zu einer SpezialWissenschaft gemacht haben, ließen es geboten erscheinen, eingehender auf diese Frage einzugehen, als es im Rahmen einer Erörterung allgemeiner und spezieller Fragen aus dem Gebiet der Schwachsinnigenforschung möglich wäre. Aus dem Grund wurde die,Intelligenzuntersuchung' als Teil II gesondert behandelt."131 Durch das Erbgesundheitsgesetz wurde die schon vor 1933 praktizierte Sterilisation von Geisteskranken, die sich in psychiatrischen Anstalten befanden, legalisiert. Nach Meinung vieler NSApologeten war es aber vor allem wichtig, die Fortpflanzung so genannter Debiler zu verhindern. Die Erkennung schwerer Schwachsinnsgrade, also der Idiotien, bereitete im Allgemeinen keine Schwierigkeiten, ebenfalls gab der Schwachsinn mittleren Grades, die Imbezillität, kaum Anlass zu diagnostischen Schwierigkeiten. Dagegen bot die Abgrenzung leichter Schwachslnnszustände, also der Debilität gegenüber der Dummheit, die nicht unter den Begriff des Schwachsinns fiel und damit nicht unter die eugenische Gesetzgebung, erhebliche Schwierigkelten:„Daß eine Intelligenzuntersuchung vorwiegend nur bei leichten Schwachsinnsformen in Frage kommt, bedarf wohl keiner Erwähnung. Es wäre eine sinnlose Zeitvergeudung, einem Idioten Frage um Frage zu stellen und das zum Teil unverständliche Gestammel zu Papier zu bringen."132 Da die Grenze zwischen Debilität und landläufiger Dummheit nicht immer leicht zu ziehen war, diese Trennung aber nach „wissenschaftlichen" Grundsätzen erfolgen sollte,133 kam den Entscheidungsträgern die „objektive Bestimmung" von Intelligenzstufen durch Tests entgegen:13"
130 Dubitscher, Franz, Der Schwachsinn. Teilband 1 zu: Gütt, Arthur (Hg.), Handbuch der Erbkrankheiten. Leipzig 1937,S. VIII. 131 Ebd.,S. X. 132 Ebd., S. 185. 133 Vgl.ebd., S. 200. 134 W i e bereits erwähnt, konnten die hier genannten Kategorien (Idiotie, Imbezillität und Debilität) der Geistesschwäche seit der Einteilung durch W.Stern quantitativ erfasst werden.
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„Als Hilfsmittel dient im allgemeinen das Testverfahren. Es hat den Vorteil, annähernd gleiche Bedingungen zu schaffen, die eine qualitative Gliederung der Intelligenzfunktion gestatten. Die experimentelle Psychologie der Testuntersuchungen geht in erster Linie auf Weber, Fechner und Wundt zurück, aber auch schon Francis Galton hatte Ende der 8oer Jahre des vorigen Jahrhunderts alsersterTests in der Absicht verwandt ,to measure thedelicacy ofthe sensitivity of different persons'."'35 Dass psychologische Verfahren der Intelligenzprüfung als wissenschaftlich legitimiertes Entscheidungsinstrument innerhalb der Selektion von „angeborenen" gegenüber „erworbenen" Schwachsinnszuständen bzw.„bildungsfähigen" versus „bildungsunfähigen" Hilfsschülern in der NS-Zeit eine Rolle spielten, findet in der bis dato vorliegenden Fachliteratur jedoch kaum Erwähnung. Im Gegenteil: In der bisherigen Literatur zur Geschichte der Intelligenztestungen in der NS-Zeit wird zumeist davon ausgegangen, dass Intelligenztestung im Nationalsozialismus nicht zu diagnostischen Selektionsprozessen verwendet worden sei. Dass diese weit verbreitete Auffassung nicht haltbar ist, kann am Beispiel des Wiener Fürsorgewesens verdeutlicht werden. An folgenden zentralen Stellen wurden im Wiener Fürsorgewesen während der NS-Zeit unter Anwendung psychologischer Intelligenztestung Entscheidungen über die weitere Anstaltsunterbringung von Kindern getroffen: in der Erziehungsberatung an der Kinderübernahmesteile an der Beobachtungsstation im Zentralkinderheim an der Wiener städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund". Die letztendliche Entscheidungskompetenz in Fragen der weiteren Befürsorgung von Kindern und Jugendlichen, die der öffentlichen Fürsorge überstellt wurden, lag bei der Berufsgruppe der Erziehungsberater und Erziehungsberaterinnen. Wie aus dem Personalakt Winkelmayer hervorgeht, traf er diese Entscheidung unter Anwendung von psychologischen Testungen:„Begutachtung (Typisierung von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich der Unterbringung in Anstalten). Psychologische Untersuchung der Kinder und Jugendlichen unter Abgabe von Testen."136 In der Wiener Kinderübernahmesteile erfolgte die psychologische Begutachtung unter Anwendung des dort entwickelten Kleinkindertests von Bühler-Hetzer. In ihrem 1936 erschienenen Beitrag„Erbgesundheitsgesetz und Ermittlung kindlicher Schwachsinnszustände mit den Entwicklungstests von,Bühler-Hetzer'" legte Elisabeth Vowinckel dar, was mit diesem Verfahren wissenschaftlich bewiesen werden sollte:
135 Dubitscher, Schwachsinn, S. 252. 136 WStLA, Personalakte Franz Winkelmayer.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
8o
„i. Wie oben ausführlich klargelegt wurde, sind wir an Hand des Verfahrens in der Lage, bereits im Kindesalter auch bei leichten Schwachsinnszuständen in vielen Fällen eine eindeutige Diagnose zu stellen. Es ist für das Gesetz wichtig und m u ß daher noch einmal betont werden, daß es gelingt, kindliche Debile von Gesunden einerseits und von physiologisch D u m m e n andererseits zu unterscheiden. Auch soll hier wiederholt werden, daß Psychopathen und Neuropathien bei den Tests ein ganz anderes Bild bieten als Schwachsinnige. Auf diese Weise sind wir in der Lage, den Zeitpunkt für die Unfruchtbarmachung in vielen Fällen frühzeitig zu legen. Wir wissen, daß die Unfruchtbarmachung aller frei lebenden, angeborenen Schwachsinnigen bei freiwilliger Antragstellung des gesetzlichen Vertreters schon nach dem 10. Lebensjahr erfolgen kann und daß anderseits der Amtsarzt, sofern der Schwachsinn sichergestellt ist, von seinem Recht der Antragstellung im Laufe des 13. und 14. Lebensjahres Gebrauch zu machen verpflichtet ist, da nach der Schulentlassung eine erhöhte Gefahr für die Zeugung erbkranken Nachwuchses besteht. Ein sicheres Urteil über den Probanden, wie es im Sinne des Gesetzes gefordert werden muß, läßt sich, wie H e t z e r [Hervorhebung im Orig.] mir in einer mündlichen Rücksprache mitteilte, erst im dritten Lebensjahr abgeben, weil erst von dieser Altersstufe an durch die .Zentralisation der Lebensgestaltung' und durch die .bewußte Stellungnahme zu ich und Umwelt' die einheitliche Persönlichkeit in Erscheinung tritt und es erst jetzt zu bewußten Willensäußerungen kommt. 2. Aussagen über Probanden sind leichter, wenn ein Testergebnis aus der Kindheit vorliegt, das ein klares Bild von der damals vorhandenen psychischen Struktur gibt, als wenn man sich auf den Bericht eines Beobachters verlassen muß, der nur seinen allgemeinen Eindruck niedergelegt hat. Wir haben es bei den B ü h l e r - H e t z e r - T e s t s [Hervorhebung im Orig.] mit faßbaren Maßstäben und überprüfbaren Werten zu tun. Hierdurch wird die Arbeit in der gesamten Schwachsinnigenforschung wesentlich erleichtert. 3. Durch wiederholte Prüfungen kann ferner ein Beitrag dazu geleistet werden, angeborene von erworbenen Schwachsinnszuständen zu trennen. Es kann z. B. auffallen, daß ein mit 4 Jahren noch völlig normal entwickeltes Kind mit 6 Jahren bei der Prüfung auf einzelnen Gebieten Ausfälle zeigt, obwohl sich im gewöhnlichen Leben noch nichts Abnormes gezeigt hatte. Läßt sich kein exogener Schaden feststellen, so wären wir hier mittels des Tests auf eine angeborene Debilität aufmerksam geworden. Außerdem ergibt die qualitative Analyse bei erworbenen Schwachsinnszuständen gewöhnlich ein ganz anderes Bild als bei angeborenen Rückständigen, so daß man bereits nach dem einmaligen Testergebnis eine exogene Ursache annehmen oder ausschließen kann."'"
137 Vowinckel, E., Erbgesundheitsgesetz und Ermittlung kindlicher Schwachsinnszustände mit den Entwicklungstests von „Bühler-Hetzer". In: Archivfür Kinderheilkunde. 9. Jg. 1936 (Beiheft), S. 52 f.
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H i l d e g a r d Hetzer pries 1935 die V o r t e i l e d e s v o n ihr z u s a m m e n m i t C h a r l o t t e B ü h l e r a n der K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e k o n s t r u i e r t e n K l e i n k i n d e r t e s t s : Vor a l l e m sei es der g e r i n g e A u f w a n d a n Kosten u n d Zeit, der d e n E n t w i c k l u n g s t e s t a l s D i a g n o s e i n s t r u m e n t b r a u c h b a r m a c h e :
„Die Aufgaben des Psychologen im Rahmen des von uns vorgeschlagenen Verfahrens zur a m bulanten Beobachtung von psychisch auffälligen und schwierigen Kindern werden von denselben Gesichtspunkten bestimmt, wie die des Arztes. Auch er m u ß bei e i n e m M i n d e s t a u f w a n d an Zeit ein klares Bild der kindlichen Gesamtpersönlichkeit liefern. Dieses m u ß ein Ursachenbild sein, aufgrund dessen Prognosenstellung und Festsetzung der für die Behandlung in Frage k o m m e n d e n M a ß n a h m e n möglich ist. Diesen Forderungen glauben wir d a m i t gerecht geworden zu sein, d a ß wir unsere psychologischen Feststellungen an Hand des Kindes mit den W i e ner Kleinkindertests machten."' 38
Der W i e n e r K l e i n k i n d e r t e s t w u r d e als k o s t e n g ü n s t i g e s u n d z e i t s p a r e n d e s S e l e k t i o n s i n s t r u m e n t eingesetzt, u m die „Volksgemeinschaft" von „sozial-abnormen Persönlichkeiten" freizuhalten. Hetzer e r l ä u t e r t e dies f o l g e n d e r m a ß e n :
„Die G e s a m t h e i t m u ß von sozial-abnormen Persönlichkeiten möglichst freigehalten werden, überläßt m a n die Entwicklung solcher M e n s c h e n durch die Jugendzeit hindurch der Willkür und d e m Zufall, so entstehen irreparable Tatsachen, die sich als Störungspunkte im Leben der G e s a m t h e i t verhängnisvoll auswirken müssen. Auch von hier m u ß die Forderung gestellt werden, so frühzeitig wie möglich zu handeln; vorher aber durch ein H ö c h s t m a ß von Klarstellung die Aussichten für ein erfolgreiches H a n d e l n zu sichern. Die Öffentlichkeit ist ebenso daran interessiert, d a ß von vornherein die Frage beantwortet wird, ob die M a ß n a h m e n sich im gegebenen Falle a u c h lohnen, d a m i t die öffentlichen Mittel nicht für hoffnungslose B e m ü h e n vertan werden. Aus allen diesen G r ü n d e n m ü s s e n wir über eine Einrichtung und eine Methodik verfügen, die uns imstande setzt, erziehungsschwierige Kinder so früh wie möglich, also noch im Kleinkinderalter zu erfassen, die Ursachen der Störungen aufzudecken und eine Prognose zu stellen, die uns gestattet, nicht nur den richtigen Plan pädagogischer oder heilpädagogischer Beeinfluss u n g anzusetzen, sondern a u c h möglichst die Entscheidung darüber zu treffen, ob der Aufw a n d dafür als für einen aussichtsreichen Fall e m p f o h l e n werden kann oder ob m a n g e l s Erfolgsaussichten darauf verzichtet werden m u ß . " 1 "
138 Hetzer, H. und Zeller, W., Ambulante Beobachtung psychisch auffälliger Kleinkinder. In: Zeitschrift Kinderforschung. 139 Ebd.,S.i37f.
44. Jg. 1935. S. 137-180, hier S. 141 f.
für
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
82 Fallbeispiel R o s e C .
„Vorgeschichte: Erbbiologisch ist nichts bekannt. Die uneheliche Mutter kümmert sich nicht u m das Kind und ist nie zu Untersuchungen erschienen. Mit 1 Jahr 3 Monaten in Kinderheilanstalt aufgenommen. [...] Während des ganzen zweiten Lebensjahres war R. in der Kinderheilanstalt, und dort wiederholt in der Nervenabteilung. Mit 3 Jahren kommt sie zu einer Pflegefrau. Die Wohnung ist verhältnismäßig gut und wird ordentlich gehalten. Über die Pflegemutter wird berichtet, daß sie pedantisch sauber und ordentlich sei. Sie betont ihre Leistung immer wieder und freut sich über jede Anerkennung, ist aber über den geringsten Tadel verstimmt. Scheut keine Mühe bei der Pflege des Kindes, kann aber auch sehr gereizt und heftig werden, wenn das Kind sie enttäuscht. Die Pflegemutter läßt nicht ab, mit dem Kind zu Jemen'.
Psychologischer Befund: LA5;7
EA3;8 EO 0,62
Zusammenfassendes Cutachten: R.s gesamtes Verhalten täuscht einen ungeübten Beobachtereinen Stand der Entwicklung vor, der den Tatsachen keineswegs entspricht und der noch tiefer anzusetzen ist als das errechnete Entwicklungsalter, weil diese Berechnung sich auf Erfolg bei Aufgaben stützt, die durch ganz unadäquate, mechanische Verfahrensweisen, die sich vor allem, wenn R. älter wird, als völlig unzureichend erweisen werden, gewonnen werden. Daß R. unfähig ist, sinnvolle und produktive Methoden zu verwenden, zeigt ihr völliges Versagen bei allen diesbezüglichen Aufgaben, die ihre Möglichkeiten grundsätzlich überschreiten, so daß in dieser Hinsicht Fortschritte kaum zu erwarten sind (vgl. sittliche Bewertung, Hampelmann). Die Merkfähigkeit R.s ist ebenfalls gering (oftmaliges Wiederholen beim Versteckspiel, Nachsprechen), und zwar treten diese Mängel dort in Erscheinung, wo der Umfang des zu Behaltenden ein M i n i m u m überschreitet. Auch da scheint die Grenze für das, was außerhalb des Bereichs des Erlernbaren liegt, sehr deutlich.Trotz der scheinbaren Aktivität, die R.s vieles Sprechen vortäuscht (ihre Redefreudigkeit wird durch Störungen des Redeflusses, die immer wieder auftreten, keineswegs gestört),das ein mechanisches Hersagen von Unverstandenem nach Papageienart ist (sie echot auch sehr oft), ist sie ohne jede eigene Initiative von den Zufällen der Außenwelt abhängig, die als Antriebe wirksam werden und diesen Antrieben leicht folgend (schnelles Einfinden in die Situation, Wirksamwerden von Aufträgen, leichtes Überwinden von auftretenden Widerständen, leicht über Versagtes hinwegtrösten). Sie ist demnach leicht beeinflußbar, aber auch haltlos allen Antrieben ausgesetzt und gerade in dieser Beziehung außerordentlich gefährdet. Das starke Anlehnungsbedürfnis, das in dem vielen Reden auf den
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
83
anderen hin und den Zärtlichkeitsausbrüchen seinen Ausdruck findet, entspricht keineswegs dem Wunsche nach geistigem Kontakt, nach einem Sichmitteilen und Verstandenwerden, sondern wird durch die Nähe des anderen voll und ganz befriedigt. Auch im sozialen Verhalten wird deutlich, was bei den geistigen Leistungen ebenso wie bei der willensmäßigen Haltung klar in Erscheinung tritt, daß R. nicht nur auf einer sehr frühen Stufe der Entwicklungsich befindet, sondern daß sie auch über keinerlei Substanz verfügt, daß ihre Persönlichkeit sehr geringe Tiefen aufzuweisen hat, daß sich hinter der Fasade nichts weiter verbirgt. R. ist kaum als bildungsfähig zu bezeichnen."'40 Kinder und Jugendliche wurden, wenn über die geeignete Unterbringung nach der 21-tägigen Beobachtung in der Kinderübernahmesteile nicht entschieden werden konnte, bis zum Jahre 1940 in das Zentralkinderheim eingewiesen. Nach der Beobachtung im Zentralkinderheim bzw. ab 1940 nach der Beobachtung in der Beobachtungsabteilung der Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" wurde dann endgültig eine „geeignete" Anstalt festgelegt. Aus der Analyse des Archivbestandes der ehemaligen „Wiener Städtischen Erziehungsanstalt Biedermannsdorf für schwachsinnige Kinder" geht hervor, dass der „Ärztliche Fragebogen", der in Jugendämtern oder auf den Beobachtungsabteilungen der Kinderübernahmestelle bzw. des Zentralkinderheims ausgefüllt worden war, in der NS-Zeit das relevante Dokument im Prozess der Entscheidungsfindung zwecks Heimunterbringung war. Die Kopfzeile des Fragebogens war mit folgendem Hinweis versehen: „Zur Beachtung! Anträge um Aufnahme von geistesschwachen, siechen Kindern in geeignete Anstalten sind unter Benützung des vom Amtsarzt ausgefüllten Fragebogens unter Beischluß nachfolgender Dokumente bei der M.-Abt.7 - Kinderübernahmestelle, IX., Lustkandlgasse 50, einzubringen: 1. Überstellungsbogen des antragstellenden Amtes. 2. Heimatsrechtsnachweis. 3.Tauf- und Geburtsschein des Minderjährigen. 4. Zustimmung der Eltern oder des gesetzlichen Vertreters. 5. Schulnachweis. 6.Verdienstnachweis (Zahlungsverpflichtung)."
140 Ebd., S. 172 f.
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
84
D e r F r a g e b o g e n w a r f o l g e n d e r m a ß e n gegliedert:
Ärztlicher Fragebogen Über die U n t e r s u c h u n g e i n e s geistesschwachen, b i l d u n g s f ä h i g e n - n i c h t bildungsfähigen Kindes, behufs A u f n a h m e desselben in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder.
I.Personalien
1.
Zuname, Vorname
2.
Alter, Geburtsdatum, Religion
3-
Geburtsort und Land
4-
Zuständigkeitsort und Land II. Status Praesens
56.
Größe und Gewicht des Kindes
78.
Sinnesorgane Sprachvermögen
910.
Geistiger Zustand
Körperliche Beschaffenheit
Bewegungsvermögen
11.
Gemütsart
12.
Verhalten III. Anamnese
13-
Fragen nach Eltern, Krankheiten der Eltern
M-
Fragen nach Geschwistern, Krankheiten der Geschwister
1516.
Fragen nach Krankheiten von Verwandten
n
Fragen nach Krankheiten des Kindes
Fragen nach Schwangerschaftsverlauf
18.
Fragen nach Zustand erworben oder angeboren
1920.
Fragen nach Ursache der Idiotie Fragen nach Verhältnissen des Aufenthaltsortes IV. Gutachten
21.
Eignet sich das untersuchte Kind zur Aufnahme in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder? Speziell: a) Ist es schwachsinnig? b) Ist es entwicklungs- und erziehungsfähig? Ist es pflegebedürftig?
(10 = 0.78)
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
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Nach der Beobachtung im Zentralkinderheim wurde der Ärztliche Fragebogen an die Kinderübernahmestelle zurückgesandt. In der Folge wurden von der zentralen Entscheidungsinstanz „Kinderübernahmesteile" Überstellungsanträge an die für die Kinder vorgesehenen Heime gestellt. Dabei wurde dann zumeist die folgende-oder eine sinngemäße-Formulierung gewählt: „Auf Grund des beiliegenden Fragebogens wird um Aufnahme des mj. Kindes... in die dortige Anstalt ersucht." Interessant ist in diesem Zusammenhang die Antwort auf Punkt a) der Gutachten, die vom Zentralkinderheim an die Kinderübernahmestelle weitergeleitet wurden. Hier wurde offensichtlich der Intelligenztest von Binet-Simon-Bobertag verwendet. Der eingetragene IQ-Wert hinter der Frage: „Ist das Kind schwachsinnig?" weist darauf hin, dass angenommen wurde, allein aus diesem Wert könne die Frage nach „Schwachsinnigkeit" hinlänglich beantwortet werden. Einen weiteren Anhaltspunkt für die Bedeutung des gemessenen 10-Werts bieten die Aktenbestände des Kinderheims Biedermannsdorf, in dem in der NS-Zeit „schwachsinnige" Kinder untergebracht waren. Aus der Analyse von Krankengeschichten von Kindern, die dorthin überstellt wurden, können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Da die 10-Werte auf dem Ärztlichen Fragebogen stets insofern mit der Zuteilung der Kinder nach Biedermannsdorf korrelierten, dass kein Kind mit einem 10-Wert von über 0,80, also mit „normaler Intelligenz", nach Biedermannsdorf überstellt wurde, kann festgehalten werden, dass die Höhe des 10-Wertes ein, wenn nicht sogar das ausschlaggebende(s) Kriterium für die weitere Unterbringung darstellte.
Intelligenztestung nach dem binetschen Verfahren in der Wiener städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund"141 In der Anstalt „Am Spiegelgrund" wurden auch Kinder „mit schweren angeborenen Leiden"142 untergebracht, die in der nationalsozialistischen Terminologie als „lebensunwert" eingestuft wurden. Die Pavillons 15 und 17 unterstanden dem Verwaltungsbereich der Hauptabteilung E und damit den Gesundheitsbehörden. Hier wurde eine „Anstalt zur Aufnahme und Beobachtung psychisch abwegiger Kinder und Jugendlicher als selbständige Anstalt"143 errichtet. Diese war für die „Aufnahme der Fälle des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden sowie von debilen, bildungsunfähigen Minderjährigen" bestimmt.144 141 Zu dieser Institution vgl. die Darstellungen zur Geschichte des „Spiegelgrunds" von Peter Malina im vorliegenden Band. 142 Magistrat (Hg.),Gemeindeverwaltung 1940 bis 1945,5.214. 143 Ebd., S. 216. 144 Anklageschrift im Verfahren gegen Dr. Ernst Illing 18.06.1946, LG Wien: Vg 26 Vr 2365/45.Teil 2,zit. nach
i. Zur Geschichte der Jugendfürsorge
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Die neue Einrichtung erhielt die Bezeichnung „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder". A u f der Kleinkinder- und S ä u g l i n g s a b t e i l u n g i m Pavillon 15 w u r d e eine so g e n a n n t e „Kinderfachabteilung" eingerichtet. Für diese Kinderfachabteilung w a r der Mitte 1939 gegründete „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erforschung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" in Berlin zuständig. Der „Reichsausschuß war das zentrale Steuerungsorgan der sog. .Kinder-Euthanasie'": 1 4 5 „Im Pavillon XV (intern als .Reichsausschussabteilung' bezeichnet), wurden Kinder mit geistiger Behinderung oder verschiedenen neurologischen Erkrankungen auf ihren künftigen volkswirtschaftlichen Wert untersucht. Das entsprechende Selektionskriterum lautete .bildungsfähig' bzw. .bildungsunfähig', bei einem negativen Gutachten [...] drohte die klinische Hinrichtung durch Schlafmittel."' 46 Bevor die tödlichen C u t a c h t e n nach Berlin weitergeleitet wurden, w u r d e über jedes Kind noch e i n m a l beraten: „Es war eine Psychologin da, es war eine Sonderkindergärtnerin da, und es haben mehrere Leute die Betreuung dieser Kinder in verschiedenen Richtungen durchgeführt gehabt. Es wurde über jedes Kind, wenn eine Meldung nach Berlin gemacht wurde, vorher eine Beratung abgehalten, an der der Leiter der Anstalt, sämtliche Ärzte der Anstalt, die Psychologin, die Schwester, die das Kind betreute und die Stations- und Oberschwester teilgenommen haben."' 47
Die Leitung der in den Pavillons 15 und 17 untergebrachten Abteilungen oblag Dr. Ernst Illing. Nach seiner Aussage in seiner Hauptverhandlung vor d e m Volksgericht in Wien 1946 betreute und beobachtete er hier „charakterlich schwierige, verwahrloste Kinder" und hatte nach „Feststellung ihrer Erziehbarkeit"' 48 vorzuschlagen, was weiter mit ihnen geschehen sollte. Dass bei der Begutachtung a u f „Bildungsfähigkeit" bzw. „Bildungsunfähigkeit" der Intelligenztest von Binet und Simon - wie schon a u f der Beobachtungsstation des Z e n t r a l k i n d e r h e i m s - a u c h a u f der Beobachtungsstation „Am Spiegelgrund" als „wissenschaftliches" Selektionsverfahren ein-
145 146 147 148
Malina, P., Im Fangnetz der NS-„Erziehung". Kinder- und Jugendfürsorge" auf dem „Spiegelgrund" 1940-1945. In: Gabriel/Neugebauer, Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung, S. 77-98, hier S. 83. Ebd., S. 82. Czech,Selektion und Kontrolle, S. 175. Zeugenaussage Anna Katschenka in der Hauptverhandlung gegen Dr. Gross, 27.03.1950 - L G Wien Vg.ia 16101/48, zit. nach Malina, Fangnetz, S. 87. Aussage Dr. Ernst Illing in der Hauptverhandlung vor dem Volksgericht Wien, LG Wien Vg. 2b Vr 2365/45. Teil,zit. nach Malina, Fangnetz,S. 84.
Clarissa Rudolph/Gerhard Benetka
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gesetzt w u r d e , sei a n h a n d eines C u t a c h t e n s verdeutlicht, d a s Dr. Ernst Illing a m 2. D e z e m b e r 1942 über R a i m u n d H. erstellte:
Fallbeispiel R a i m u n d H. „Der a m 13.6.1926 in Wien geborene H. Raimund befindet sich seit dem 26.9.1942 in der hiesigen Klinik. Auf Grund der Kenntnisse der Akten sowie der hiesigen Untersuchung und Beobachtungen handelt es sich um einen unehelich geborenen, seit frühester Kindheit auf einem Pflegeplatz, anscheinend in nicht ungünstigen Verhältnissen aufgewachsenen Jugendlichen. Er ist durch den Vater, der arbeitsscheuer Trinker gewesen sein soll, erblich belastet. Auch seine Stiefgeschwister sollen Erziehungsschwierigkeiten bereitet haben. Raimund besuchte nur 3 Klassen Volksschule. Er bereitete frühzeitig Erziehungsschwierigkeiten. Laut Beschluß des Amtsgerichtes Wien (Jugendsachen) vom 21.8.1942 Aktenzahl 185 P171/42 wurde die vorläufige Fürsorgeerziehung angeordnet. Körperlich ist er normal entwickelt. Er zeigt intern und neurologisch keine Besonderheiten. Auf verstandesmässigem Gebiet weist er erheblichen Rückstand auf. Bei der Intelligenzprüfung nach Binet-Simon erreichte er bei einem Lebensalter von 16 y 2 Jahren ein Intelligenzalter von nicht einmal 10 Jahren [Hervorhebung v. Verf.]. Er ist deutlich auffassungserschwert. Praktisch ist er auch schlecht befähigt und konnte nur beschränkt zu Bastelarbeiten herangezogen werden. Charakterlich ist er in mehrfacher Beziehung abartig. Er ist grob gemütsarm, zeigt keine Bindung an Personen und Sachen, ist sachlich uninteressiert, arbeitsscheu, schlampig,faul, unkameradschaftlich, rücksichtslos. Besonders auffallend ist er durch sein geltungssüchtiges Wesen. Dieses, in Verbindung mit einer groben Gemütsarmut, wirkt sich den schwächeren Kameraden gegenüber in prahlerischer, brutaler Herrschsucht aus, während ersieh gegen Vorgesetzte abstoßend heuchlerisch benimmt. Besonders gefährdet ist er durch seine Haltlosigkeit, durch die er jedem schlechten Einfluss unterliegt. Durch seine gesteigerte Erregbarkeit wird er bei Ermahnungen durch Vorgesetzte ausfallend und frech. Seine Stimmung ist gleichmäßig indifferent. Sein Antrieb und seine Phantasie waren bis jetzt unauffällig. Er leidet an angeborenem Schwachsinn (Debilität) [Hervorhebung v. Verf.] mit groben charakterlichen Abartigkeiten. Da infolge seiner erheblichen geistigen und seelischen Regelwidrigkeiten von einer Fürsorgeerziehung kein Erfolg zu erwarten ist, wird er im Sinne des § 62 der Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark vom 20. März 1940 als nicht erziehbar angesehen. Ereignet sich zur Abgabe in ein Jugendschutzlager."'«
149 Krankengeschichtenarchiv des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe - Otto-Wagner-Spital, Bestand von Krankenakten überlebender Patienten der „Nervenklinik für Kinder", zit. nach Czech, Selektion und Kontrolle, S. 176 f.
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Die D i a g n o s e „ a n g e b o r e n " w u r d e - s o w e i t d a s a u s d e m hier v o r l i e g e n d e n G u t a c h t e n ersichtlich ist - v o n Illing w o h l d e s h a l b gestellt, weil der Vater „ein arbeitsscheuer Trinker" gew e s e n sein soll. D a s s bei d e m untersuchten J u n g e n „ S c h w a c h s i n n (Debilität)" vorliege, schloss Illing offenbar direkt a u s d e n E r g e b n i s s e n des Intelligenztests nach Binet-Simon. Ein niedriger 10 f ü h r t e s o m i t zur E i n w e i s u n g v o n R a i m u n d H. in ein Jugend-KZ 1 * 0 . A n d i e s e m Fall zeigt sich beispielhaft, d a s s die medizinischen A u f f a s s u n g e n über S c h w a c h s i n n im Vergleich zu den Jahren zuvor keine gänzlich neuen, anderen g e w o r d e n waren: Sie hatten sich lediglich radikalisiert. A n g e n o m m e n e e r b b e s t i m m t e Bildungsunfähigkeit w u r d e mit d e m Konzept der A u f w a n d s w ü r digkeit v e r b u n d e n u n d d a m i t der „eliminatorische" A n s p r u c h der Selektion im F ü r s o r g e w e s e n offen z u m A u s d r u c k gebracht.
150 Vgl. die Ausführungen von Regina Fritz zu den „Jugendschutzlagern" im vorliegenden Band.
2
Kindererziehung im Nationalsozialismus
„Erziehungs"-Terror: Politische und gesellschaftliche Voraussetzungen von Kindsein im Nationalsozialismus Peter Malina
Immer noch ist - rund 60 Jahre nach dem Zusammenbruch der N S - H e r r s c h a f t - v i e l zu wenig bekannt über das Leben von Kindern damals, über ihre Prägungen durch ein staatlich überwachtes Erziehungssystem, ihre Verletzungen und Demütigungen in einer Gesellschaft von Erwachsenen, die extreme Anforderungen an sie richtete, sie ganz in den Dienst eines lebensfeindlichen Regimes stellte oder ihnen direkt jedes Lebensrecht absprach. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Kindheit an sich bislang kaum als Gegenstand historischer Untersuchungen Interesse gefunden hat. Erst allmählich und zögernd beginnt auch die historische Forschung zu begreifen, dass zum Alltag des Nationalsozialismus u. a. der Alltag „seiner" Kinder gehörte. Die Aufarbeitung der belasteten und belastenden Vergangenheit des Nationalsozialismus wird nur dann gelingen, wenn die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der davon Betroffenen ernst genommen und ihre Auswirkungen über das Jahr 1945 hinaus offen besprochen werden. In diesem Sinne ist die folgende kurze historische Zusammenfassung auch als ein Beitrag zu einer notwendigen „Erinnerungsarbeit" zu verstehen. Kindheit im Nationalsozialismus war im Gegensatz zu den Beteuerungen der nationalsozialistischen Propaganda vielfältigen Formen „stiller" wie auch offener Gewalt ausgesetzt. Sie war einem Erziehungssystem ausgeliefert, das im Sinne der „Schwarzen Pädagogik" Kinder von klein auf unnachsichtig Zwängen unterwarf, Einordnung und Unterordnung forderte und nachgerade als Tugenden pries. Kindsein im Nationalsozialismus stand unter den Bedrohungen eines vom NS-System gewollten erbarmungslosen Vernichtungskriegs, der sich sowohl gegen äußere Feinde als auch gegen innere Gegner richtete, seien sie real oder zu solchen deklariert. Auch Kinder und Jugendliche wurden nicht verschont. Kindsein im Nationalsozialismus war den Anforderungen eines politischen Systems preisgegeben, das alle jene aus der Gesellschaft „ausschied", die aus politischen und/oder„rassischen" Gründen nicht in die Normvorstellungen des Systems einzuordnen waren oder sich nicht einfügen wollten oder konnten. Zu fragen ist, welche Denktraditionen und welche Erziehungsmuster das Leben von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus bestimmten, wie sie sich auf deren Alltag auswirkten und wie diese den Anforderungen des Systems begegneten. Im historischen Rückblick sind
92
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
daher auch die jeweiligen Rahmenbedingungen und individuellpersönlichen Entwicklungen zu berücksichtigen. Pauschalurteile sind dabei nicht möglich. Im Einzelfall waren die sehr spezifischen Verhaltenskonstellationen entscheidend dafür, wie sich der/die Betreffende tatsächlich verhielt. Eines der zentralen Erkenntnisse einschlägiger Forschungsprojekte ist es, dass sich selbst unter den Bedingungen eines terroristischen Regimes wie dem des Nationalsozialismus die An- und Einpassung in der Regel nicht so sehr unter dem Druck konkreter, persönlich erlebter Gewalt, sondern als Ergebnis eines „sanften" Konformitätsdrucks ereignete. Das Erziehungsideal des Nationalsozialismus, seine Berufung auf Ordnung und Unterordnung, Pflicht und Gehorsam, Stärke und Selbstverleugnung waren dabei ebenso wie die politischen Bestandteile der Ideologie des Nationalsozialismus im Grunde nichts Neues. Schon vor der Etablierung des Nationalsozialismus in Deutschland 1933 bzw. der deutschen Okkupation Österreichs 1938 hatten Kinder die Auswirkungen einer „Schwarzen Pädagogik" zu spüren bekommen. Die „Nazifizlerung" der deutschen/österreichischen Gesellschaft nach 1933/1938 zielte auf eine planmäßige, durch die Machtmittel eines diktatorischen Regimes gestützte Um-„Erziehung" durch die Institutionen von Partei und Staat ab. Entsprechend den Intentionen des „Führerstaates" sollten die Interessen des Einzelnen und jene sozialer bzw. politischer Gruppen hinter die Ansprüche der politischen Führung und der Integrationsfigur des „Führers" gestellt werden. Die Unterordnung unter die politischen Machtverhältnisse sollte nicht zuletzt sozioökonomische und soziokulturelle Unterschiede vergessen machen. „Erziehen" im Nationalsozialismus wollte die Erfassung des „ganzen" Menschen, dem nach Möglichkeit wenig individueller Spielraum gegeben werden sollte, so dass Fragen persönlicher Entscheidungen über Sinnbezüge des eigenen Lebens und gesamtgesellschaftlich-politischer Zusammenhänge gär nicht aufkommen konnten. Dass das NS-System Kindern und Jugendlichen gleichzeitig einen hohen Stellenwert einräumte und, wie oft gesagt wird, „viel für die Kinder tat", ist nur dann ein (scheinbarer) Widerspruch, wenn die politischen Zielsetzungen des Regimes, die eindeutig Priorität hatten, außer Acht gelassen werden. Durch die Herauslösung der Jugendlichen aus ihren bisherigen sozialen Beziehungen waren diese, nun auf sich selbst gestellt, für die Ansprüche des Regimes verfügbar und entsprechend den politischen Zielsetzungen formbar. So wurde zwar beständig die Bedeutung der patriarchalisch-autoritär „geführten" Familie hervorgehoben, andererseits aber verlagerte sich die Jugenderziehung mehr und mehr aus dem Elternhaus in die parteipolitisch orientierten und Ideologisch überwachten Organisationen der Staats- und Parteijugend. Die konkreten erziehungspolitischen Maßnahmen des Regimes konzentrierten sich daher bald nach der Etablierung des Systems 1933 immer deutlicher auf eine Ausgrenzung des Erziehungsbereichs aus den übrigen gesellschaftlichen Sektoren und die Veränderung der gesamten Persönlichkeit der „Erziehungsobjekte". Die Zielvorstellungen dieser Pädagogik waren durch eine extreme „Seibstvergötzung" und eine erbarmungslose Erniedrigungsideologie bestimmt, die
Peter Malina
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im Rassenantisemitismus, der Doktrin vom „lebensunwerten Leben" und der Klassifizierung von Slawen als „Untermenschen" zum Ausdruck kam. 1
Die „Hitler-Jugend": Jugenderziehung als Monopol des Staates und der Partei Nach der „Machtergreifung" der Nationalsozialisten Anfang 1933 war der Zugriff auf die Jugend und die Formung des „Volksgenossen" ein wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Aktivitäten des sich innerhalb und neben den (alten) staatlichen Institutionen etablierenden Parteiapparats der NSDAP. Angesichts der 1933 noch durchaus „lebendigen" Jugendkultur der Weimarer Republik, der meist oppositionellen Gruppen angehörenden Jugendorganisationen und nicht zuletzt wegen der Skepsis gegenüber den alten Erziehungsinstitutionen im staatlich-schulischen Bereich setzten die Nationalsozialisten vor allem auf den Ausbau der eigenen, politischen Jugendorganisation, die neben der unpolitisierten Schule als einzige institutionalisierte Erziehungsmacht agieren sollte. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch der„Hitler-Jugend" (HJ) führte dazu, dass in den folgenden Jahren die noch bestehenden Jugendverbände verboten wurden und die HJ versuchte, gleichzeitig möglichst viele Erziehungsfunktionen an sich zu ziehen mit dem Ziel, schließlich die gesamte Jugend zu „erfassen". Unterstützt durch die Rückendeckung der Partei und die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen,durch eine im Grunde immer willfährige Verwaltung nicht behindert und abgesichert durch die Machtmittel eines Polizeistaates, gelang es sehr bald, der HJ eine Monopolstellung im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit zu sichern. Wohl konnten sich die konfessionellen Jugendverbände der beiden großen christlichen Kirchen zunächst noch dem Anpassungsdruck mehr oder minder entziehen, bis auch sie 1937/38 endgültig aufgelöst wurden. In Österreich erfolgte diese Entwicklung nach der deutschen Okkupation 1938 gleichsam in einem Zeitraffer, und es ist kein Zufall, dass der erste große Konflikt zwischen der österreichischen Kirchenführung und dem NS-System durch die rasche Auflösung und Zerstörung der vielfältigen katholischen Jugenderziehung bestimmt wurde. Die HJ war 1926 als Jugendorganisation der NSDAP gegründet worden und hatte bis 1933 im Wesentlichen die Funktion einer Jugendabteilung der SA. Die Unterstützung der politischen Agitation bei Straßenaufmärschen und Demonstrationen stand gegenüber einer aktiven Jugendarbeit deutlich im Hintergrund. Ihr Nationalismus, das Leitbild von „Führer und Gefolgschaft", „Befehl und Gehorsam" und soldatische Verhaltensmuster waren auch in anderen Jugendverbänden anzutreffen. Die Übernahme und die Verwendung des Traditionsguts der bündischen Jugendbewegung, politische Repressalien und Einengung, vor allem aber die Ein1
Vgl.Scholtz, H., Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz. Göttingen 1985,5.17.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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engung des Handlungsspielraums der beiden großen christlichen Kirchen sicherten der HJ im Gefüge der nationalsozialistischen Erziehung nach 1933 sofort eine Monopolstellung. Innerhalb von nur zwei Jahren entwickelte sich die HJ von einer relativ unbedeutenden Organisation zu einem Parteijugendverband,der Ende 1934 bereits 3,5 Millionen Jugendliche erfasste. Dieser rapide Zuwachs (1933 hatte die HJ erst 100.000 Mitglieder) ist zum Teil sicher auch darauf zurückzuführen, dass mit der Mitgliedschaft bei der HJ häufig persönliche und berufliche Interessen verknüpft waren. Mit dem „Gesetz über die Hitler-Jugend" vom 1. Dezember 1936 wurde der HJ die gesamte körperliche, geistige und sittliche Erziehung der Jugend außerhalb von Schule und Elternhaus übertragen. Im Gegensatz zu anderen faschistischen Systemen war die HJ eine von der Institution Schule unabhängige „Erziehungsmacht", in der die Jugendlichen in die vorgegebenen politischen und gesellschaftlichen Zielsetzungen des Regimes eingeübt werden sollten. Allerdings bot sich erst mit dem Krieg die Möglichkeit, die Schule zumindest teilweise an die Erfordernisse der angestrebten politischen Erziehung anzupassen. Bis dahin war sie vor allem ein Mittel zur Loyalitätssicherung gewesen. Voraussetzung dafür waren die Vereinheitlichung des Schulsystems, die Schaffung neuer Schultypen zur politischen Erziehung, die Kontrolle über die Lehrerbildung,die Schaffung neuer Lehrpläne und die Formulierung neuer Erziehungsinhalte,die Revision der Stundentafeln und die Einschränkung der (alten) Bildungsinstitutionen. An die Stelle eines begründeten („wissenschaftlich" abgesicherten) Wissens sollten die politische Schulung und die körperliche Ausbildung treten, die über den Sport bis hin zur paramilitärischen Ausbildung reichte. Die Schule hatte die vollzogenen politischen Veränderungen zu „lehren". Die eigentliche Prägung der Jugend hingegen sollte in den Organisationen der Parteijugend vor sich gehen, wobei dem „Lager" als dem emotionalen Erlebnisraum und der „Kolonne" als dem Ausdruck der Einordnung und Einpassung in die staatliche Ordnung besondere Bedeutung zukam. Den Jugendorganisationen der Partei war die Aufgabe zugewiesen worden, außerhalb der Schule und wo nötig auch als Korrektur nationalsozialistische Haltung und Lebensauffassung zu prägen und die Jugendlichen auf die ihnen zugeordnete Aufgabe als künftige Träger des Reiches körperlich und geistig vorzubereiten. Mit der „Jugenddienstverordnung" vom März 1939 konnte der Anpassungszwang durch Sanktionen beträchtlich verstärkt werden. Vernachlässigung der HJ-Dienstpflicht konnte nun durch Jugendarrest bestraft und die Erziehungsberechtigten zur Verantwortung gezogen werden. Der„Dienst"-Betrieb der HJ unterlag somit einer rigiden Kontrolle und war durch einen aufwendigen bürokratischen Apparat sowie ein strenges Reglement bestimmt, das durch Dienstkontrollbücher, Disziplinarordnungen und Dienstvorschriften ähnlich dem Militärreglement organisiert war. Der„HJ-Streifendienst" überwachte das Verhalten der Jugendlichen im „Dienst" wie in der ihnen verbleibenden Freizeit. Da der HJ zunehmend auch „staatliche" Aufgaben übertragen wurden,entwickelten sich ihre Führungskader zunehmend von Jugend-Führern
Peter Malina
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zu Partei-Funktionären des NS-Staates. Die HJ wurde zur Partei der Jugendlichen im NS-Staat, ihr „Führer" zum jugendlichen Partei-Funktionär und die Mitgliedschaft in der HJ zur jugendlichen Eingangsstufe in das Karriere-System des nationalsozialistischen Herrschaftssystems.
Die Formung des nationalsozialistischen Menschen: Ordnung, Disziplin und Leistung Die Verpflichtung auf Führertum und Gefolgschaft,Treue und Pflichterfüllung, Gehorsam und Kampfbereitschaft war ein wesentliches Element eines Erziehungssystems, das sich die Formung des „nationalsozialistischen Menschen" zum Ziel gesetzt hatte. Die nationalsozialistische Erziehung ging von einem biologistischen Gesellschaftsmodell aus, das grundsätzlich zwischen „wertvollen" und „nicht wertvollen Menschen" unterschied. Die Ausrichtung der HJ auf Kampfspiele, Wettstreit und Wettbewerb, die Betonung des Ideals der Stärke, des Sieges und des Erfolgs bildeten die Voraussetzung für die permanente Prägung einer Lebenseinstellung, die durch Ablehnung gegenüber Schwächeren, Minderheiten, Randgruppen und Unterlegenen bestimmt sein sollte. Ordnung, Disziplin und Kameradschaft waren die grundlegenden „Werte". Jene Kinder und Jugendlichen, die den vorgegebenen Maßstäben dieser Erziehung nicht zu entsprechen vermochten, waren grundsätzlich chancenlos; viele durften von vorneherein aus politischen und/oder„rassischen" Gründen überhaupt nicht „dazugehören". In Festen und Feiern sollte der emotionale Erlebnisraum für die politische Prägung der Kinder und Jugendlichen genutzt werden. Der Mobilisierung von Gefühlen und dem Appell an Idealismus und Einsatzbereitschaft der Jugendlichen dienten u. a. der Einsatz bei den vielen Sammlungen (Geld, Altstoffe, Heilkräuter...) und die frühe Einbindung in den Kriegsdienst. Die Zugehörigkeit zur Parteiorganisation der HJ bedeutete für Jugendliche auch, Macht zu erhalten und diese gegenüber anderen Jugendlichen, aber unter Umständen auch gegenüber den „draußen" stehenden Erwachsenen ausüben zu können und zu dürfen: „Das Braunhemd und das Führerabzeichen, verliehen der Aggressionslust zahlreicher jugendlicher HJ-Führer gleichsam .amtliche' Sanktion, verschafften der Unreife und jugendlichen Brutalität eine Weltanschauungs-Legitimation und trugen erheblich dazu bei, dass sich in der HJ vielfach eine mit Selbstgerechtigkeit gepaarte Normenverwilderung breit machte, die Lehrer und Eltern mit Entsetzen erfüllte. Wenn in vielen Stimmungsberichten, z. B. anlässlich der außenpolitischen Krisenlage im Herbst 1938, immer wieder davon die Rede ist, dass den größten Teil der älteren Generation die Gefahr kriegerischer Entwicklung mit tiefer Sorge erfülle, die Mehrheit der Jugend aber für scharfe Maßnahmen gegen die Tschechen eintrete und auf kriegerisches Losschlagen brenne, so war solche ahnungslose Jugend-Aggressivität sicher in erheblichem Maße dem Geist der HJ-Erziehung zuzuschreiben. [...] Dabei waren es
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wahrscheinlich weniger die Schulungskurse der HJ, in denen die NS-Weltanschauung in der Regel mehr oder weniger pflichtgemäß und dürftig wiedergegeben wurde, die solche Gesinnung erzeugten, als die starke Ausrichtung der ganzen HJ-Tätigkeit auf Kampfspiele, Wettstreit und Wettbewerb, die die Ideale der Stärke, des .Siegers', des .Erfolgreichen' auch ohne explizite ideologische Begründung wirksam vermittelte und dabei zugleich Gefühllosigkeit gegenüber Schwächeren, Minderheiten und Unterlegenen und mithin eine tiefgreifende Inhumanität des Denkens und Fühlens hervorbrachte."2 Die HJ wurde von manchen Jugendlichen sicherlich auch als Gegenpol gegen die Ansprüche von Elternhaus, Schule und Kirchen und damit auch im Sinne einer „Gegenautorität" verstanden, die ein Gefühl von Selbständigkeit und Anerkennung vermittelte. Doch auch diese neue „Freiheit" war autoritär-reglementiert und im Grunde den Interessen Jugendlicher nicht entsprechend. Die scheinbare Befreiung vom Elternhaus, die Lösung der Bindungen an die („alten") Autoritäten, die Stärkung des jugendlichen Selbstbewusstseins, das sich ernst genommen fühlte, all dies sprach die Sehnsüchte und Erwartungen einer Jugend an, die bis dahin von den Erwachsenen immer „klein" gehalten worden war. In diesem Sinne kann durchaus davon gesprochen werden, dass die HJ zumindest in ihrer Anfangsphase im Bereich der Erlebniswelt Jugendlicher„modernisierend" zu wirken vermochte: Die ungezwungene, altersgemäße Form der Aktivitäten bot Jugendlichen die Möglichkeit, sich von traditionellen Bindungen zu lösen und eine vermeintliche Eigenständigkeit zu entwickeln. Die Förderung sportlicher Aktivitäten, die organisierten Reisen und Fahrten eröffneten Jugendlichen die Möglichkeit, zumindest zeitweilig der als eng empfundenen Begrenztheit der Heimat und der Obhut der Eltern zu entkommen. Die soziale Attraktivität der HJ bestand nicht zuletzt auch darin, dass sie den bisher nicht-privilegierten Unterschichten-freilich stets nur innerhalb der gesetzten Grenzen der P a r t e i - d i e Möglichkeit sozialen Aufstiegs und in den Ferienlagern, Schulen und Kursen den Zugang zu einer Erlebniswelt bot, die ihnen bisher aus gesellschaftlichen wie aus ökonomischen Gründen verschlossen geblieben war. Eine Erziehung zu kritischem, selbständigem Denken war jedoch trotz der in der Öffentlichkeit immer wieder betonten Eigenständigkeit der Jugend und ihrer gesellschaftlichen Aufwertung in der nationalsozialistischen Erziehung bereits vom Konzept her grundsätzlich nicht vorgesehen. Statt zu denken sollten die Jugendlichen gehorchen und handeln, wobei dieses „Handeln" immer in einer Hierarchie von Über- und Unterordnung zu geschehen hatte und stets auf die politischen Zielsetzungen des nationalsozialistischen Staates ausgerichtet war.
2
Klönne, A., Jugendprotest und Jugendopposition. Von der HJ-Erziehung z u m Cliquewesen der Kriegszeit. In: Broszat, M., Fröhlich, E. und C r o s s m a n n , A. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. Bd.4. M ü n c h e n / W i e n 1981, S. 527-620, hier S. 537.
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Anstelle der rein „geistigen" Schulung sollte die körperliche Ertüchtigung treten, wobei die Leistungssteigerung das Gefühl der Überlegenheit über andere, als „minderwertig" eingestufte Menschen und letztlich eine Auslese der „Tüchtigsten" ermöglichen sollte. Kinder im Nationalsozialismus sollten lernen, bedingungslos und bereitwillig die Befehle ihrer Vorgesetzten in den Parteiorganisationen und in den militärischen Organisationen auszuführen. Als Vorbild und Handlungsanweisung dazu dienten die Lebensgeschichten ihrer „Führer", die kritik- und bedingungslos als Muster für eigenes Verhalten übernommen werden sollten. Die frühe Einbindung in die staatlichen Jugendorganisationen, die von Jugendlichen durchaus als „Befreiung" erlebt wurde, unterbrach einen notwendigen Entwicklungsprozess: Statt die elterlichen Wertvorstellungen zu reflektieren, sie aufzuarbeiten und sich mit ihnen (kritisch) im Widerspruch auseinanderzusetzen, übernahmen Jugendliche unreflektiert die Wertvorstellungen des NS-Staates. Die NS-Doktrin lieferte ihnen ein äußerst einfaches Handlungsmuster. An die Stelle einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wurde ein Bild von der Wirklichkeit gesetzt,das keine systemgefährdenden Fragen zuließ. Durch den ständigen Einsatz, die Forcierung sportlicher Aktivitäten und die Vereinnahmung für die Ziele von Partei und Staat wurden Jugendliche von einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit sich, mit ihrer Umwelt und mit gesellschaftlichen Problemen abgelenkt. Das rigide System von Über- und Unterordnung, das die Staatsjugend des Nationalsozialismus bestimmte, führte letzten Endes dazu, dass selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Handeln systematisch „verlernt" wurde. Auch die jugendlichen Führer der HJ waren nicht ihren „Untergebenen" verantwortlich, sondern jenen, die ihnen die entsprechenden Befehle erteilten. Kameradschaftliches Verhalten im Sinne von Solidarität mit den jeweils Schwächeren hatte in diesem Erziehungssystem keinen Platz. An seine Stelle traten Kontrolle, (gegenseitige) Überwachung und die (bedenkenlose) Ausführung der von „oben" gegebenen Befehle. Wohl fanden sich auch innerhalb dieses rigiden Systems-anfangs mehr als in der Phase der Perfektion-Ansatzmöglichkeiten zu jugendgemäßen Aktivitäten, die zum Teil an dieTraditionen der nun nicht mehr zugelassenen Jugendbewegung anknüpften: Die Lagerfeuerromantik, das gemeinsame Singen, die „Fahrten", Sport und Spiel aktivierten sicherlich den „Idealismus" der jugendlichen „Führer" wie auch ihrer Gefolgschaft. Im Grunde jedoch blieb infolge des streng hierarchisch strukturierten „Führerprinzips" auch in der HJ so gut wie kein Freiraum für eine ernstzunehmende jugendliche Mitbestimmung.
Erziehung zum Weltanschauungskrieger: Kinder als „Politische Soldaten" Militarismus, Krieg, Verherrlichung von Gewalt als „Lösungs"-Mittel von Konflikten hatten ebenso wie die Einübung in „soldatische" (männliche) Tugenden auch vor dem Nationalsozialismus schon
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zum Repertoire zumindest eines Teiles der politischen Kultur gehört. Die NS-Pädagogik konnte daher auch hier auf traditionelle, gesellschaftlich durchaus akzeptierte „Erziehungs"-Muster zurückgreifen. Schon vor dem Kriege nahm die vormilitärische Erziehung mit dem Ziel der Wehrfreudigkeit und Wehrfähigkeit der männlichen Jugendlichen einen immer größer werdenden Stellenwert ein. In Sondereinheiten der HJ (Flieger-, Marine-, Nachrichten- und Motor-HJ) konnte eine spezielle Vorschulung erfolgen. Mit dem Jahr 1937/38 war die HJ zu einer militärähnlichen Organisation geworden, die nur noch wenig Raum für Spontaneität, Dynamik und „Jugendlichkeit" bot und wesentlich auf Diensterfüllung und Leistungswettbewerb abzielte. Ab 1938 stand die Erziehung zur Wahrhaftigkeit und Wehrfähigkeit für männliche Jugendliche im Vordergrund, wobei für diese Einübung in den Kriegsdienst, der letzten und höchsten Schule „vaterländischer Erziehung", paramilitärische Ordnungsübungen, Fahnenappelle, Exerzierübungen, Märsche, die Ausbildung mit Schusswaffen und der Dienst im Gelände eine wichtige Rolle einnahmen. Die kontinuierliche Erziehung zum „politischen Soldaten" war durch die Verpflichtung in Wehrertüchtigungslagern, den Reichsarbeitsdienst und den Kriegshilfsdienst (etwa als Flakhelfer) abgesichert. Der HJ-Dienst wurde nach Kriegsbeginn immer mehr den Anforderungen des Krieges untergeordnet. Gegen Ende des Krieges konnten Jugendliche ab dem sechzehnten Lebensjahr auch zum „Volkssturm" eingezogen werden. Die Jugendlichen wurden zum Teil auch während der Unterrichtszeit für „Einsätze" im Kriegsdienst abgestellt. Sammlungen, Transportbegleitung, Einsatz in der Landarbeit (Ernteeinsatz),Teilnahme an Massenveranstaltungen der Partei nahmen die Jugendlichen neben Schule und „Dienst" in der HJ mehr und mehr in Anspruch. Entsprechend dem Prinzip des Nicht[s]-Denkens sondern Handelns entwickelte sich eine ständige Aktivität im Dienste von Partei und Staat, welche die jugendliche Lebenswelt immer mehr okkupierte. Die Kriegsereignisse boten der politischen Führung überdies die Möglichkeit, in einem bis dahin nicht möglichen Ausmaß die politische Beeinflussung der Jugend mit dem Hinweis auf kriegsnotwendige Maßnahmen entscheidend zu verstärken. Vor allem die Jüngeren unterlagen nun im Rahmen der ab 1941 einsetzenden „Kinderlandverschickung" einer gesteigerten politischen Indoktrinierung: „In einer geradezu dramatischen Komprimierung, wie im unentrinnbaren Zeitraffer, rückte der von Hitler beschriebene,Phasenplan' zeitlich zusammen,verschärften sich die Unterdrückungsmechanismen schnell und systematisch. In zwei Formen wurde das Andere, das, was eben alles andere als .normal' ist, wurden die Abhängigkeit, die Unterwerfung, die Etablierung einer,Sonderwelt' neben Schule und Elternhaus im Krieg vorzeitig Alltag: in der .Kinderlandverschickung' und für die .Luftwaffenhelfer'. Nimmt man beides zusammen, wurden damit 6 bis 8 Jahrgänge ,erfasst'. Auch diese beiden Aktionen sind im Sinne einer linearen Steigerung miteinander verbunden: in der Kinderlandverschickung wurden die Kinder in .Lagern' zusammengefasst, die von einem anderen Lehrer als Schulleiter und einem von der Hitlerjugend eingesetzten .Lager-
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mannschaftsführer' geleitet wurden. Für Luftwaffenhelfer galt: Schüler leben in Flakstellungen unter dem Kommando von Soldaten und Offizieren, insbesondere der unteren Chargen, die hier eine zusätzliche Chance der Machtentfaltung hatten. Die Schule war günstigenfalls störend oder geduldet. Das Elternhaus war in beiden Konzepten ausgeschaltet. Die Nazis hätten, was durch die Verhältnisse legitimiert wurde, nicht kunstvoller erfinden können."3
Die Kriminalisierung abweichenden jugendlichen Verhaltens: Renitenz und Widerstand Die Qualität eines Erziehungssystems ist nicht zuletzt daran zu messen, wie es ihm gelingt, mit jenen menschlich umzugehen, die sich den vorgegebenen Erziehungsmaßnahmen verweigern. DieNS-Erziehung konnte wohl auf die Traditionen eines obrigkeitsstaatlichen, ordnungsbesessenen und auf Unterordnung fixierten Denkens aufbauen. Sie hatte aber auch mit gegenläufigen Entwicklungen zu rechnen: Sowohl in den Resten der ehemaligen politischen Jugendverbände wie auch in der bündischen Jugend und dem konfessionellen Bereich war e i n - i n seinen Wirkungen sicherlich beschränktes-,,Widerstands"-Potenzial vorhanden. Dazu kam, dass sich schon vor dem Krieg Jugendliche dem Anpassungsdruck der staatlich verordneten Jugenderziehung zu entziehen versuchten, ohne auf die traditionellen Formen jugendlicher Erziehungsinstitutionen zurückzugreifen: „Die schon vor 1939 in den Großstädten, bei Jugendlichen sowohl aus den Unterschichten wie aus besser situierten Kreisen erkennbare Tendenz zur Absonderung von der HJ und den Erziehungsnormen des NS-Regimes gewann durch den Krieg und vor allem seit 1941, nachdem die erste Welle der Sieges-Euphorie vorbei war und der totale Krieg sich bemerkbar machte, wachsende Bedeutung. Nach dem Übergang der HJ zur Organisation mit Jugenddienstpflicht entwickelte sich im Verlauf des Krieges bei Jugendlichen zunehmend eine Renitenz gegen den HJ-Drill, Abneigung gegen die Unterdrückung jugendlicher Lebensbedürfnisse durch staatlich verordnete Kriegshilfsdienste und Arbeitsanforderungen, wobei die Grenzen zu jugendspezifischen Formen der Asozialität und Kriminalität oft fließend waren. Dabei ist freilich zu bedenken, dass erst durch die NS-Gesetzgebung zum Teil neue, spezifisch totalitäre Normen von .Kriminalität' gesetzt wurden; als .verwahrlost' galt nun auch, wer sich den Zwängen der staatlichen Jugenderziehung verweigerte."4
3
4
Otto, G., Es war alles so normal und doch ganz anders. In: Klafki,W. (Hg.), Verführung, Distanzierung, Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus aus erziehungswissenschaftlicher Sicht. Weinheim/Basel 1988,5.121-130, hier S. 125. Klönne, Jugendprotest, S. 594.
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Mit dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen im September 1939 trat eine entscheidende Veränderung auch in der NS-Jugendpolitik ein. Im Z u s a m m e n h a n g mit der Verschärfung des Kampfes gegen den „inneren Feind" gerieten auch jene Kinder und Jugendlichen vehement unter Druck, die sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen und sich private Freiräume zu schaffen versuchten. Auch jugendtypische Verhaltensweisen, die aus der Sicht systemkonformer Erwachsener nicht den Zielen des Kriegs dienten, wurden als Zeichen der Opposition und der Verweigerung ausgelegt. Kinder und Jugendliche könnten der Kontrolle entgleiten und eigene Wege gehen, wurde befürchtet. „Die Erziehungsverhältnisse haben sich unter den durch den Krieg geschaffenen Bedingungen erheblich verändert. Es fehlt an ausreichender Aufsicht. Der Vater ist zum Wehrdienst einberufen und infolge des Krieges derart in Anspruch genommen, dass er sich nicht in ausreichendem Maße um die Kinder kümmern kann. Die Mutter ist häufig zu schwach oder durch Arbeit an einer erzieherischen Einflussnahme gehindert. Die HJ-Führer und die jüngeren Lehrer sind zum größten Teil zum Wehrdienst einberufen. Die Schulen sind häufig zu Wehrzwecken beschlagnahmt, der Unterricht kann nicht immer voll durchgeführt werden. Die Jugendlichen sind zwangsläufig zuviel sich selbst überlassen."5 „Unkontrollierte" Jugendliche erregten bei den für die „Erziehung" und Kontrolle zuständigen Behörden beträchtlichen Argwohn und die Befürchtungjugendliche, die eigene Wege gingen, könnten „kriminell" werden und auf Abwege geraten. Das Reichssicherheitshauptamt teilte den staatlichen Kriminalpolizeistellen dazu Anfang Dezember 1939 mit: „Seit Kriegsausbruch und dem Einsetzen der nächtlichen Verdunkelung haben Jugendgericht, Stadtjugendamt und Jugendstaatsanwaltschaft in München übereinstimmend die Beobachtung gemacht, dass die Kriminalität der Jugendlichen bedenklich im Steigen begriffen, ist. Es zeigt sich mehr und mehr, dass die verdunkelte nächtliche Großstadt für die halbwüchsige Jugend Schauplatz romantischer, nächtlicher Streifzüge wird, die sehr leicht einen kriminellen Charakter annehmen." 6 Die sich schon in den dreißiger Jahren und dann vor allem während des Krieges zusammenfindenden, mehr oder minder locker organisierten Jugendgruppen („Edelweißpiraten",„SwingJugend",„Blasen",„Schlurfs") waren für das NS-System insofern eine Herausforderung, als sie
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Neugebauer, M., Der Weg in das Jugendschutzlager Moringen. Eine entwicklungspolitische Analyse nationalsozialistischer Jugendpolitik. Mönchengladbach 1997, S. 62 f.
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Ebd., S. 63.
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zum großen Teil durchaus unpolitisch den Totalitätsanspruch des Systems in Frage stellten. Sie trafen sich in Parks, auf öffentlichen Plätzen oder in Privatwohnungen, verhielten sich „auffällig" in Kleidung und Aussehen. Sie dokumentierten ihre „Opposition" durch einen für damalige Begriffe auffälligen Haarschnitt, saloppe Kleidung und die Kultivierung einer dem zeitgenössischen Geschmack konträren Musikkultur: „Hinzu kommt, dass die terroristische Verfolgung freier Jugendgruppen, das erzwungene Fehlen erfahrener Jugendführer außerhalb der HJ und insbesondere dann die Umstände der Kriegssituation auch politisch antifaschistisch motivierte Jugendliche oft in die Nähe oder den praktischen Zusammenhang jugendkrimineller Banden drängte, was die Grenzen zwischen freien, bündischen Jugendcliquen [...] und jugendlicher Bandenkriminalität oft unscharf und fließend werden ließ. Zumindest die Jugendgruppen von der Art der .Edelweißpiraten' sind daher alseine Ausformung jugendlicher Opposition gegen den NS-Staat anzusehen, was sich auch in den dokumentierten Angriffen auf die HJ, in Kontaktnahmen zu Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen, in bewusstem Wehr-Defaitismus und in ihren von HJ und Gestapo so sehr verfolgten Liedern zeigte, die ein freiheitliches, oft romantisches Bild des Jugendlebens jenseits des Zwangs von NS und HJ beschworen."7 Jugendliche, die sich nicht so ohne weiteres einpassen und anpassen wollten, die ihre Träume und Sehnsüchte außerhalb der staatlichen Parteijugend und ihrer Gliederungen besser erfüllt sahen und die sich ein „anderes" Leben als das in der Zwangsorganisation der HJ wünschten, wurden kriminalisiert und, weil „anders", als nicht „normal" und daher „asozial" denunziert. Solcherart zu „Kriminellen" gemacht, waren siedann auch dem Zugriff des staatlichen Polizeiapparates ausgesetzt und für eine „entsprechende Behandlung" in Straf-„Erziehungs"-Lagern und für die Einweisung in die Fürsorge-Erziehung freigegeben. Als Folgen dieser als Jugend-„Verwahrlosung" und J u g e n d k r i m i n a l i t ä t " klassifizierten Verweigerungsstrategien wurde von den Parteidienststellen insbesondere eine Schwächung der „Wehrdienstfähigkeit" befürchtet. Vor allem während des Krieges wurden diese Jugendcliquen von den Dienststellen der Parteijugend nicht nur als eine Verweigerung der Eingliederung und als „Bandenbildung" abqualifiziert und als Element der politischen, sittlichen und kriminellen Zersetzung der Jugend betrachtet. Die von Heinrich Himmler als Reichsführer-SS und Chef der Polizei erlassene „Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend" (1940) war als eine strafpolizeiliche G e g e n m a ß n a h m e gedacht. Jugendliche unter 18 Jahren durften sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf öffentlichen Straßen, Plätzen oder sonstigen öffentlichen Orten „herumtreiben", der Zugang zu öffentlichen Lokalen und Lichtspieltheatern nach 21 Uhr war 7
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generell verboten. Der Alkoholgenuss in Gaststätten wie der Genuss von Tabakwaren in der Öffentlichkeit wurde für Jugendliche eingeschränkt bzw. ganz untersagt. 1940 wurde der „Jugendarrest" eingeführt, der die Arretierung Jugendlicher für höchstens vier Wochen oder vier „Wochenendkarzer" ermöglichte. Im Oktober 1941 wies der damalige Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler, die betreffenden Justizstellen an, speziell gegen fehlende Arbeitsdisziplin Jugendlicher den Jugendarrest als „geeignetes Zuchtmittel" einzusetzen, wobei darauf zu achten sei, die Jugendlichen im Vollzug unbedingt zu harter Arbeit, die sie auch ganz beanspruche,einzusetzen. 8
„Auslese", Verfolgung und Vernichtung: Kinder, die nicht dazugehören durften Entsprechend der Rassenideologie des Nationalsozialismus richtete sich die Praxis der Ausgrenzung vor allem gegen jene Kinder, die aus „rassischen" Gründen von vornherein aus der „VolksGemeinschaft" ausgeschlossen sein sollten. Betroffen waren davon nach der Etablierung des NS-Systems 1933 vor allem die jüdischen Kinder, deren Lebensraum systematisch durch (Polizei-) Verordnungen und scheinlegale Maßnahmen mehr und mehr eingeschränkt wurde. Sie waren vom allgemeinen Schulbesuch ausgeschlossen, durften nicht wie andere Kinder öffentliche Spielplätze benutzen und wurden durch den „Judenstern" als Ausgestoßene gekennzeichnet. Manche von ihnen konnten Deutschland und Österreich noch rechtzeitig verlassen und sich in das Exil (oft ohne ihre Eltern) retten. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der Ausdehnung des deutschen Herrschaftsbereichs wurden die ohnehin beschränkten Fluchtmöglichkeiten vollkommen beseitigt. Die Verfolgung erreichte eine weitere Stufe der Eskalation und erfasste nun alle jene, die im deutschen Herrschaftsbereich ergriffen werden konnten: Aus ganz Europa wurden Kinder mit ihren Familien in die NS-Vernichtungslager transportiert. Nur wenige haben überlebt. Opfer der menschenverachtenden Ausgrenzungsideologie des Nationalsozialismus waren auch „Zigeuner", die österreichischen Slowenen und auch jene Kinder, die im Zuge des Vernichtungskampfes gegen die Völker Osteuropas in den Machtbereich des NS-Terrors geraten waren. Als „Untermenschen" klassifiziert, sollten sie grundsätzlich auf dem Niveau von Dienern der (deutschen) „Herrenrasse" gehalten werden. Polnischen Kindern zum Beispiel war der Zugang zu höherer Bildung verwehrt, sie sollten nur die Grundschule besuchen dürfen und zu Gehorsam und Unterwürfigkeit „erzogen" werden. Für Kinder, die „auffällig" geworden waren, wurde als „Fürsorgeeinrichtung" 1941 in Litzmannstadt/Lodz ein „Jugendschutzlager" errichtet. Der dortige (deutsche) Polizeipräsident hatte in einem Schreiben u. a. angeregt die polnischen Kinder als Arbeitskräfte zu „verwerten", in zwei Altersgruppen getrennt (7 bis 12 und 13 bis 16 Jahre).
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Ebd., S. 595.
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Die Älteren sollten auch zu schwereren Arbeitsleistungen herangezogen werden. An Arbeitszeit war für beide Gruppen 10 bis 12 Stunden täglich vorgesehen. Die Einweisungs-„Begründungen" „kriminell" und „verwahrlost" waren tatsächlich nur Scheinbegründungen, da so gut wie nie konkrete strafbare Handlungen angeführt wurden. Ein polnisches Kind zu sein und damit zu den „Untermenschen" zu gehören, genügte - polnische Kinder sollten nicht erzogen, sondern der Bildung entzogen und als billige und willige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Die einzige Sorge der NS-Funktionäre galt dem Fassungsvermögen des Lagers, das zunächst für 2000 Kinder gedacht war. Insgesamt dürften dort etwa 3 bis 4000 Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis sechzehn Jahren eingesperrt gewesen sein.' In einem System, in dem Gesundheit als „nationale Pflicht" eingefordert wurde, galten Kranke, Schwache und Behinderte von vorneherein als Menschen „2. Klasse", die als Schädlinge am Volksganzen fortwährenden Denunzierungen ausgesetzt waren. In Kosten-Nutzen-Rechnungen wurde ihnen erbarmungslos ihre Lebenserhaltung als Schädigung der„Gemeinschaft" der Gesunden und Normalen vorgehalten. In der Tradition eines (von den Nationalsozialisten nicht erfundenen) Sozialdarwinismus wurde die Horrorvision einer Gesellschaft beschworen, die von Untüchtigen, Ballastexistenzen und „Asozialen" erdrückt werde. Als „Lösung" bot sich die „Leibesstrafe" der Sterilisation an und als „Endlösung" die totale Vernichtung und vorsätzliche Tötung aller jener, deren Existenz man nicht länger ertragen wollte. Die Förderung der Jugend als Garanten der Zukunft des deutschen Volkes hatte also als Kehrseite die Verfolgung, Erfassung und Lebenszerstörung jener Kinder, die den Ideologen und den Praktikern dieser neuen Gesellschaft nicht brauchbar und nicht genug an die geforderten Normen „angepasst" erschienen. Mitbeteiligt an diesem Prozess der Aussonderung war auch die Sonderpädagogik, die sich zum größten Teil nicht nur mit dem Konzept der Rassenhygiene und den damit verbundenen Selektionskriterien identifizierte, sondern auch die Maßnahmen der zwangsweisen Sterilisierung (die mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" 1933 möglich geworden war) und die Ausschulung so genannter Bildungsunfähiger unterstützte. Eine Pädagogik, die es nicht ertragen konnte, mit Schwachen, Kranken und angeblich nicht „Leistungsfähigen" umzugehen, und eine Medizin, die sich dem Töten statt dem Heilen verschrieb, waren die Voraussetzungen dafür, dass nun auch ein gnadenloser „Krieg gegen die psychisch Kranken", gegen körperlich und geistig Behinderte eröffnet wurde, der auch und besonders Kinder und Jugendliche betraf. Mit einem nicht zufällig auf den Kriegsbeginn rückdatierten „Erlass" Hitlers vom i. September 1939 war die systematische Ermordung behinderter Menschen eine „staatlich" sank-
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Vgl. Hepp, M., Mädchen im „Jugendschutzlager" Uckermark. In: Mues, I. (Hg.), Die Frau in der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997,5.49-71. Vgl. auch den Beitrag von Regina Fritz im vorliegenden Band.
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tionierte Realität geworden. Auslösender Anlass war u. a. das Gesuch von Angehörigen eines in der Kinderklinik Leipzig stationierten behinderten Kindes an die Parteikanzlei des Führers gewesen, dessen Tötung zu „genehmigen". Der 1939 gegründete „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" schuf den organisatorischen Rahmen, um im gesamten Reichsgebiet alle jene Kinder zu erfassen, denen nun jedes Lebensrecht abgesprochen war. Schon im August 1938 waren Hebammen und Ärzte verpflichtet worden, neugeborene Kinder mit schweren, angeborenen Leiden und ebensolche Kinder bis zu drei Jahren sofort zu melden. Auf dem Amtswege wurden die ausgefüllten Formblätter über die zuständigen Gesundheitsämter an die „Gut"-Achter des „Reichsausschusses" weitergeleitet, die per Ferndiagnose überTod (das heißt: Tötung) oder Weiterleben entschieden. Kinder,die nach dem Ermessen der Gutachter nicht mehr leben durften, wurden an Kinder-Fachabteilungen überstellt, wo sie „medizinisch" durch Beigabe von Medikamenten oder durch langsames Verhungernlassen getötet wurden. Dieser Mordanschlag gegen kranke, hilflose Kleinkinder wurde nach und nach auch auf ältere Kinder und Jugendliche ausgedehnt und war die Vorstufe einer Entwicklung, die schließlich auch Erwachsene ergriff. Im August 1941 wurden die Mordaktionen, denen insgesamt ca. 70.000 Kranke (darunter etwa 5000 Kinder im Rahmen der„Kindereuthanasie") zum Opfer fielen, nicht zuletzt aufgrund kirchlicher Proteste und des steigenden Unbehagens der Bevölkerung offiziell eingestellt. Von einem tatsächlichen Ende der Mordaktionen kann jedoch keine Rede sein. Auch in den folgenden Jahren wurden die Tötungen weitergeführt. Die Erfassung mit Hilfe von Meldebögen und die Klassifizierung wurden beibehalten. Die Kriterien der Erfassung wurden sogar beträchtlich erweitert und enthielten nun auch „Diagnosen" wie „Kriminalität",„Gemeingefährlichkeit" und „Asozialität". Die lautlose Tötung der Nichtgewollten war in den „Alltag" der Anstalten integriertworden: Im Prozess gegen einen Teil derVerantwortlichenfürdie Kindermorde auf dem „Spiegelgrund" in Wien sagten mehrere Zeugen übereinstimmend aus, im Tötungspavillon sei es auffallend still, j a sogar bedrückend ruhig gewesen.
Nachwirkungen? „Jeder, der fleißig und strebsam ist, kann auch etwas werden." Die Erinnerungen heute Erwachsener an ihre Jugendzeit im Nationalsozialismus sind widersprüchlich und zwiespältig. Wer seine Kindheit in Theresienstadt, im Konzentrationslager Auschwitz oder im „Zigeuner-Sammellager" Lackenbach „erlebt" (und überlebt) hat, wer als Jugendlicher Opfer der Zwangssterilisierungen oder zu medizinischen Versuchen missbraucht wurde, wer als Außenseiter abgestempelt unter der Ausschließungsideologie der NS-Erziehung zu leiden hatte, wer dieses Land noch rechtzeitig verlassen konnte und (vielleicht ohne Eltern) ein neues Leben beginnen musste,der hat wohl eine andere Erinnerung als jene, für die die
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Zugehörigkeit zu der Staatsjugend sozialen Aufstieg und Selbstbestätigung, Befreiung vom Elternhaus und Erweiterung des Erlebnisbereiches bedeutete. Der Nationalsozialismus hat trotz allen Leids, das er gebracht hat, und trotz aller Verwüstungen, die er anrichtete, auch heute noch immer eine überraschend gute Nachrede. Immerhin meinten noch Ende der achtziger Jahre etwa 47 Prozent der befragten Österreicher und Österreicherinnen, der Nationalsozialismus habe sowohl Gutes wie auch Schlechtes gebracht. 10 Damit wird lediglich ein Trend bestätigt, der schon in amerikanischen Befragungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erkennen war. Auch damals vertraten etwa 4 0 Prozent der Befragten die Meinung, Nationalsozialismus sei an sich eine „gute" Sache, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Die Erfahrung von Gemeinschaft und „Kameradschaft", Ordnung und „Sicherheit", von sozialer Verantwortung und sozialem Aufstieg wird in lebensgeschichtlichen Erinnerungen durchwegs als positives Ergebnis des nationalsozialistischen Erziehungssystems angeführt. Die eingeforderten und angesprochenen Werte wie Ordnung, Pünktlichkeit, Genauigkeit und Leistungswillen sowie fragloses Ausführen von Anordnungen werden grundsätzlich alsdurchaus nützliches Rüstzeug auch für das Überleben nach 1945 und als Voraussetzungfür den Wiederaufbau verstanden. Übersehen wird dabei die Instrumentalisierung dieser Erziehungsziele für das Unrechtsregime des Nationalsozialismus. Aus dem Gedächtnis verdrängt wurden und werden die vielen, die den Ansprüchen der NS-Erziehungzum Opfer gefallen sind. Betroffen von der NS-Erziehungspraxis waren auch jene, die „dazugehören" durften und vom Regime als die „deutsche Jugend" hofiert wurden. Auch sie wurden in den Erziehungsinstitutionen des „Dritten Reiches" Ansprüchen unterworfen, die auf Unterordnung und Einordnung abzielten. Mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftssystems war nicht einfach „alles aus und vergessen". Erziehungstraditionen, Prägungen und Einstellungen sind nicht einfach über Nacht zu verändern. Verdrängen, Verweigern und Vergessen sind die „Erbschaften" des Nationalsozialismus, die auch heute noch direkt und indirekt die nachfaschistische Gesellschaft und ihre politische wie auch ihre pädagogische „Kultur" prägen. Das heißt jedoch nicht, dass die „Auswirkungen" des Nationalsozialismus schicksalhaft und unwiderruflich weiterwirkten. „Erziehung" ist letzten Endes nur dort wirksam, „wo ihre Einwirkungen in irgend einem Maße von dem, der da erzogen wird oder erzogen werden soll, angeeignet, verarbeitet, beantwortet werden, sei es auch negativ im Sinne der Ablehnung, des Widerstandes, der offenen Gegenreaktion, der heimlichen oder verschleierten Abwehr". 11 Diese Prägung kann im weiteren Erziehungs- und Lebensprozess immer wieder modifiziert, verarbeitet und umgewertet, aber auch beibehalten werden. Die Einübung in ein Denken, das prinzipiell davon ausging,dass die
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Vgl. Kurier, 29.06.1988.
11
Klafki (Hg.), Verführung, Distanzierung, Ernüchterung,S. 11.
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2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
Starken i m m e r das Recht a u f ihrer Seite haben, erschwerte einer Generation, die in ihrer Jugend fast ausschließlich die nationalsozialistische D e u t u n g gesellschaftlicher Wirklichkeit kennen gelernt hatte, sich von diesen Prägungen nach d e m Z u s a m m e n b r u c h des NS- Systems zu lösen: „Ehemals aktivistisch erzogen, bezog sich dieser Aktivismus jetzt a u f den e m s i g e n Wiederaufbau und die eigene berufliche Erfolgsorientierung nach d e m Motto: Jeder, der fleißig und strebs a m ist, kann auch etwas werden." 12 Die Nachwirkung der NS-Erziehung besteht nicht so sehr darin, dass die ihr ausgesetzten Jugendlichen für immer, über den Z u s a m m e n b r u c h des Nationalsozialismus hinaus, an der ihnen anerzogenen Ideologie als fanatische Nationalsozialisten festhielten. Die Folgen der NS-Erzieh u n g finden sich vielmehr a u f subtilerer, aber u m s o nachhaltigerer Ebene: Erziehung im Nationalsozialismus war vor allem eine Erziehung zur Systemanpassung, z u m Verzicht a u f politische und gesellschaftliche Willensbildung und a u f die Entwicklung eigenständiger Zukunftsperspektiven. Die Aufarbeitung dieser E r z i e h u n g s e r f a h r u n g e n nach 1 9 4 5 war gewiss ein schwieriger Prozess, der sich in verschiedene Richtungen hin entwickeln konnte:
„Es bestehen also durchaus Zweifel, inwiefern die im .Dritten Reich' behinderte Entwicklung zu einer prinzipiengeleiteten Ich-Identität nach der Zerschlagung des NS noch aufgeholt werden konnte. Sicher, Identitätsentwicklung ist ein lebenslanger Prozess, und nach der jeweiligen Lebenssituation bestand vielleicht die Möglichkeit, bestimmte Prozesse nachzuholen. Doch ebenso war es möglich, ohne mit den neuen bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen in Konflikt zu geraten, weiterhin über Identifikation mit Autoritäten Identität zu besitzen und nationalsozialistische Deutungsstrukturen in die neuen Verhältnisse hinüberzuretten."^
12
Klönne, Jugendprotest,S.124.
13
Rosenthal, C. (Hg.), Die Hitlerjugend-Generation. Biographische Thematisierung als Vergangenheitsbewältigung. Essen 1986, S. 102.
Die „Schwarze Fürsorge" des Nationalsozialismus Peter Malina
„In der nationalsozialistischen Diktatur w u r d e die Fürsorge von den Nazis dazu benutzt, eine vermeintlich homogene Volksgemeinschaft zu konstruieren, i n d e m z. B. die als .asozial' eingestuften Jugendlichen ausgegrenzt und in Fürsorgeerziehungseinrichtungen eingesperrt wurden." 1 Dennoch ist die Tätigkeit der Fürsorgerinnen im Nationalsozialismus bisher in der wissenschaftlichen Aufarbeitung w e n i g beachtet worden. Ein G r u n d dafür liegt wohl darin, dass der Bereich der Fürsorge für die historische Forschung bisher eher als „unpolitisch" und daher für die Analyse des Nationalsozialismus nicht besonders relevant betrachtet worden ist. Hier hat sich offensichtlich ein vor-wissenschaftliches Bewusstsein ausgewirkt, das im Sinne eines engen, institutionen- bzw. personenzentrierten Politikbegriffs das gesamtgesellschaftliche Umfeld außer Acht gelassen hat. Fürsorgerisches Handeln wurde lange Zeit als „unpolitisch" interpretiert, für seine A u s ü b u n g schien die W e l t a n s c h a u u n g der handelnden Personen keine Rolle zu spielen. B e s t i m m e n d für diesen verengten Blick a u f die Wirklichkeit fürsorgerischen Handelns in der NS-Zeit war sicherlich auch, dass bis weit nach 1945 Erziehungsziele und Erzieh u n g s m a ß n a h m e n , die sich unter den Bedingungen des NS-Systems überaus unheilvoll für die Betroffenen ausgewirkt hatten, durchaus akzeptabel und nicht außergewöhnlich erschienen. Die Opfer der NS-„Fürsorge" haben in der Öffentlichkeit nach 1945 so gut wie kein Interesse, keine Z u w e n d u n g und keine Unterstützung erfahren,
„da es sich bei einem großen Anteil von ihnen um .unpolitische' Menschen handelte, die auf Grund ihres von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Verhaltens in den Blick und unter die Kontrolle von Fürsorge gerieten: Viele von ihnen waren bereits vor derzeit des Nationalsozialismus und ein Teil derjenigen, die den Nationalsozialismus überlebten, auch noch danach Objekte von Fürsorge."2
1 2
Limbächer, K., Merten, M. und Pfefferle, ß. (Hg.), Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Münster 2000, S. 11. Lehnert, E., Pflegeamtsfürsorgerinnen und die Betreuung „gefährdeter" Frauen und Mädchen. In: ebd., S.44.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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Im Konzept der NS-Fürsorge war die „Bewahrung" der Gesellschaft vor jenen, die nicht in das oktroyierte Konzept von sozialem Verhalten passten, ein wesentlicher Faktor. In der Praxis bedeutete dies für die davon Betroffenen Disziplinierung und Ausschluss aus der Gesellschaft. Durch „Verwahrung" sollten die Angepassten von den Unpassenden bewahrt werden:„lm Kern ging es darum, Personen, die weder straffällig geworden waren, noch an .Geisteskrankheiten' litten, aber sich nach Ansicht der in der Fürsorge Tätigen trotzdem nicht in die Gemeinschaft einordnen konnten oder wollten [...], zu entmündigen und in Fürsorgeanstalten und -heime einzusperren." 3 Fürsorgerinnen haben in der Ausübung ihres Berufes die schon vor dem nationalsozialistischen Regime vorhandenen, vom NS-System aufgenommenen und verstärkten sozialrassistischen Überzeugungen von den unterschiedlichen Wertigkeiten von Menschen und der Vererbung „asozialer" Eigenschaften durchaus geteilt: Auch Zwangssterilisation, Bewahrung und Entmündigung gehörten zur alltäglichen fürsorgerischen Praxis. Es ist mit Esther Lehnert davon auszugehen, dass die in der Fürsorge Tätigen ihre Bewertungen und Abwertungen durchaus im Wissen über die möglichen (vielfach wohl auch intendierten) Folgen für die Betroffenen trafen. Hier liegt die Verantwortung von Fürsorgerinnen, die sich an der Ausgrenzung von Menschen beteiligten, die ihnen anvertraut worden waren. Sie waren im Netz der sozialen Kontrolle eine wesentliche, vielfach die erste Instanz, die abweichendes Verhalten amtlich registrierte, in den Akten festhielt und damit die oft entscheidende Grundlage für die weitere Ausgrenzung legte." Was die Situation in Österreich betrifft, so sind die ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft (1938 bis 1940) durch eine Reorganisation des kommunalen Fürsorgeapparats und die Adaptierung an die nun verordneten nationalsozialistischen Zielsetzungen gekennzeichnet. Auch die Jugendwohlfahrt, die bisher nicht einheitlich geregelt war, wurde neu organisiert und das deutsche Jugendwohlfahrtsrecht in Österreich gültig. Die Aufgaben der öffentlichen Jugendwohlfahrtspflege wurden, a u s g e n o m m e n die Fürsorgeerziehung, zu Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeinden und Gemeindeverbände. Sie wurden nun von denselben Abteilungen und Ämtern wie die öffentliche Fürsorge - nur unter anderer Bezeichnung - wahrgenommen. In Stadt- und Landkreisen führten die Jugendwohlfahrtsbehörden nach der „Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark" vom 20. März 1940 die Bezeichnung „Jugendamt" und in den Reichsgauen die Bezeichnung „Gaujugendamt". Ab diesem Jahr ist ein „Aufbruch in Richtung kumulativer Radikalisierung und Deformation von Politik und Herrschaftsorganisation" festzustellen: 1940 wird auch in der „Ostmark" das„Gesetz zurVerhütung erbkranken Nachwuchses" in Geltung gesetzt. Damit werden auch die Fürsorge- und Gesund-
3
Ebd., S. 49.
4
Ebd., S. 57 f.
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heitsbehörden verpflichtend in die Jagd nach „Erbkranken" eingebunden. Im gleichen Jahr wird mit der „Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark" die dominante Position der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) festgeschrieben. Am Beispiel Oberösterreichs hat Brigitte Kepplinger gezeigt, dass die kommunale Sozial- und Gesundheitsbürokratie die Anordnungen ohne offenen oder hinhaltenden Widerstand ausgeführt hat - allerdings (so das Beispiel Jugendamt) ohne besondere Initiative zu zeigen darüber hinausgehende Aktivitäten zu setzen, wie sie beispielsweise für die Wohlfahrtsverwaltungen anderer Städte im Deutschen Reich dokumentiert sind: 5 „Allerdings genügten auch diese Anpassung an die neuen Gegebenheiten und das korrekte Verwaltungshandeln, um das Funktionieren der NS-Sozialbürokratie zu gewährleisten: Ohne das .ordnungsgemäße'Verhalten ihrer Mitglieder hätte die NS-Sozialbürokratie nicht so klaglos ihre Aufgabe im Bereich von Ausgrenzung und Vernichtung der als .minderwertig' gekennzeichneten Menschen wahrnehmen können."6 „Fürsorge" im Nationalsozialismus hieß nicht Sorge für alle, bedeutete nicht, dass die Sozialeinrichtungen und Unterstützungen des Staates „allen" zugutekommen sollten. Fürsorge sollte vielmehr nur jenen zuteilwerden, die den Zielsetzungen und den Normen der NS-Gesellschaft entsprachen. Fürsorge im Nationalsozialismus war grundsätzlich selektiv und ausgerichtet auf die Prinzipien von Nützlichkeit und Brauchbarkeit. Wer sich als einsatzbereit und arbeitsam erwies, der sollte weitere Unterstützung bekommen,der sollte einen Platz in der NS-Gesellschaft haben. Wer hingegen den Normen nicht entsprach, für den war bestenfalls ein Platz am Rande der Gesellschaft, schlimmstenfalls aber überhaupt keiner vorgesehen. Gänzlich ausgeschlossen von der öffentlichen Fürsorge waren alle jene, die als „Juden" per NS-„Gesetz" aus der deutschen/österreichischen Gesellschaft hinausdefiniert worden waren. Ihre Fürsorge war der j ü dischen freien Wohlfahrtspflege (in den Reichsgauen der „Ostmark" der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde) überlassen; erst wenn diese nicht zu helfen imstande war, griff „die öffentliche Fürsorge nach besonderen Bestimmungen" ein. Von Kinderbeihilfe waren Juden prinzipiell ausgeschlossen;? trotzdem hatten sie seit 1. Januar 1941 eine „Sozialausgleichsabgabe" als Zuschlag zur Einkommensteuer im Ausmaß von 15 v. H. des Einkommens zu leisten. 8
5
Kepplinger, B., Kommunale Sozialpolitik in Linz 1938-1945. Im Mayrhofer, F. und Schuster, W. (Hg.), Nationalsozialismus in Linz. 1. Bd. Linz 2001,5.717.
6
Ebd.
7
Mannlicher, E., Wegweiser durch die Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Verwaltung im Reichsgau Wien sowie in den Reichsgauen Kärnten, Niederdonau, Oberdonau, Salzburg, Steiermark und Tirol mit Vorarlberg (Stand vom 01.02.1942). Berlin u.a. 1942,5.210.
8
Ebd., S. 219.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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Was formal-amtlich unter „Fürsorgeerziehung" zu verstehen war, ist in Egbert Mannlichers für die „Ostmark" konzipiertem „Wegweiser durch die Verwaltung" (Ausgabe 1942) folgendermaßen definiert: „Zur Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung eines Minderjährigen unter dem 18. Lebensjahren bestimmten Fällen unter dem 19. Lebensjahr kann das Vormundschaftsgericht Fürsorgeerziehunganordnen. Die Einweisung des Fürsorgezöglings erfolgt durch das Gaujugendamt; die Fürsorgeerziehung wird in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt durchgeführt. Sie endet mit Vollendung des 19. Lebensjahres, kann aber vom Gaujugendamt früher aufgehoben werden, wenn der Zweck erreicht ist oder wegen erheblicher geistiger oder seelischer Regelwidrigkeit nicht erreicht werden kann. Bei Vorliegen besonderer Verhältnisse kann die Fürsorgeerziehung vom Vormundschaftsgericht über das 19. Lebensjahr, jedoch nicht über den Zeitpunkt des Eintrittes der Volljährigkeit angeordnet werden."'
Was mit jenen „Volksgenossen" geschehen sollte, die sich als nicht „brauchbar" erwiesen, und was „Fürsorge" in diesem Falle bedeutete, macht Mannlichers Wegweiser in einer Notiz deutlich, wenn erdarauf verweist, dass unter„Fürsorgebehandlung/Fürsorge",aberauch unter dem Stichwort „Arbeitsanstalten, zwangsweise Unterbringung in solche" nachzusehen sei.10 Unter diesem Stichwort findet sich dann eine Erläuterung der konkreten Vorgangsweise und die folgende Definition: „Arbeitsfähige über 18 Jahre alte Personen, die infolge ihres sittlichen Verschuldens der öffentlichen Fürsorge selbst anheimfallen oder einen Unterhaltsberechtigten anheimfallen lassen, können, wenn sie die Arbeit beharrlich ablehnen oder sich der Unterhaltspflicht beharrlich entziehen, auf Antrag des Fürsorgeverbandes des Aufenthaltsortes oder des Kostenträgers zwangsweise in einer Arbeitsanstalt untergebracht werden. Über die Unterbringung entscheidet die Verwaltungsbehörde, in Wien dieGemeindeverwaltung^bt.Ay." 11 Hinter dieser amtssprachlich formulierten Vorgangsweise steht eine spezifische Auffassung von Menschsein, die Wert und Wertschätzung eines Menschen in erster Linie an dem Wert misst, den er für die Zwecke des Staates und der Partei hat. Insbesondere die Medizin hat bei der Konstruktion dieses Menschenbildes entscheidende und verheerende Hilfsdienste geleistet. Karl Kötschau, der Leiter der 1935 gegründeten „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue
9 Ebd., S. 150. 10 Ebd.,S.44. 11 Führerverordnung § 20; Einführungsverordnung, 03.09.1938, § 16; zit. nach ebd., S. 35.
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D e u t s c h e Heilkunde" und seit 1 9 3 4 Inhaber eines Lehrstuhls für biologische Medizin in Jena, vertrat in seiner 1 9 3 6 erschienenen Schrift „Zum nationalsozialistischen U m b r u c h in der Medizin" den Standpunkt, im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Auffassung habe die Pflicht zu stehen, g e s u n d zu sein. Es sei ein Verbrechen gegen den Staat, krank sein zu wollen, u m in den G e n u s s irgendwelcher Fürsorge zu gelangen. Erste und oberste A u f g a b e des Staates bestehe daher nicht in der Fürsorge, sondern in der „Vorsorge". 12 Im Gesundheitskonzept Kötschaus war daher eine intensive (und kostspielige) Gesundheits-Fürsorge prinzipiell nicht vorgesehen. Sie sollte durch „Vorsorge" ersetzt werden:
„Vorsorge bedient sich nur eigentätiger Kräfte, organismuseigener Fähigkeiten, um den Körper gesund zu erhalten oder ihn seine Gesundheit wiedererlangen zu lassen [...] Vorsorge heißt vorbeugen, dass sich nicht Leistungsschwäche oder Leistungsunfähigkeit entwickelt. Vorsorge heißt Unproduktivität vorbeugen, um die Produktivität zu steigern." 13
Nur diejenigen, die sich den „Gesetzen" der NS-Lebensvorschriften a n p a s s t e n (oder unterwarfen), konnten die Sozialleistungen des N S - S y s t e m s in A n s p r u c h n e h m e n , die anderen waren davon unter U m s t ä n d e n ganz ausgeschlossen.„Unterstützungsbedürftigkeit" wurde auch daran gemessen, ob der/die Betreffende sich ihrer „würdig" erwies, bereit war (bzw. imstande), die von ihm geforderten Vorleistungen zu erbringen, und sich arbeitsam und arbeitsbereit zeigte: Nur wer sich arbeitsbereit zeigte, konnte mit staatlicher Unterstützung rechnen. In Mannlichers Wegweiser ist dazu unter d e m Stichwort „Arbeitspflicht für Unterstützungsbedürftige" zu lesen:
„Die Fürsorgeunterstützung Arbeitsfähiger kann in geeigneten Fällen durch Anweisung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art gewährt oder von der Leistung solcher Arbeit abhängig gemacht werden, es sei denn, dass dies eine offensichtliche Härte bedeuten würde oder ein Gesetz dem entgegensteht. Die Arbeitsleistung muss im Einzelfalle zumutbar sein; Frauen soll Erwerbsarbeit nicht zugemutet werden, wenn dadurch die Erziehung ihrer Kinder gefährdet würde. Auch der Familienunterhaltsberechtigte ist verpflichtet, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfs einzusetzen. Grundlose Verweigerung des Arbeitseinsatzes kann Kürzung oder Sperre des Familienunterhaltes zur Folge haben." 14
12
Kudlien, F., Fürsorge und Rigorismus. Überlegungen zur ärztlichen Normaltätigkeit im Dritten Reich. In:
13
Kötschau,K., Vorsorge und Fürsorge im Rahmen einer Neuen Deutschen Heilkunde. In: Deutsches Ärzte-
Frei, N. (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit. München 1991, S.101. blatt 66,1936,5.451, zit. nach: Wuttke-Groneberg, W., Medizin im Nationalsozialismus. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 2 1982,S.238. 14
Mannlicher,Wegweiser,S.38.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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Was es bedeutete, dieser Pflicht zur Arbeit nicht zu entsprechen, lässt der drohende Verweis Mannlichers auf das Stichwort „Arbeitsanstalten,zwangsweise Unterbringung in solche" unmissverständlich erkennen. 15 Wer nicht entsprechend „gesund" war, seiner „GesundheitsPflicht" nicht nachkam oder nicht nachkommen konnte und damit auch zeigte,dass er (aus der Sicht seiner Beurteiler) minder arbeitsfähig und nicht einsatzbereit war, dem wurde die Hilfe entzogen oder auf ein Minimum reduziert.Verhängnisvollfürdie Betreffenden war, dass ihnen in vielen Fällen gleichzeitig auch „erbliche Belastung" unterstellt und damit jede weitere Hilfe oder Unterstützung und Fürsorge als nutzlose Verschwendung von Mitteln deklariert wurde. Wie mit Kindern und Jugendlichen umgegangen werden sollte, die den gesetzten Normen nicht entsprachen, wurde sofort mit der Etablierung des nationalsozialistischen „Wohlfahrtsstaates" in Österreich nach dem März 1938 deutlich. Brigitte Kepplinger hat in ihrer Untersuchung zur kommunalen Sozialpolitik in Oberösterreich dazu zwei Beispiele zitiert: Bei einer Großkundgebung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in Bad Ischl im Oktober 1938 wurde ganz offen ausgesprochen, dass Hilfe und Unterstützung durch die NSV nicht für alle vorgesehen sei: „Die NSV hat nicht der allgemeinen Volkswohlfahrt zu dienen, wie zum Beispiel das Winterhilfswerk und die fürsorgerische Tätigkeit der Gemeinden, die noch immer ungeheure Beträge für Idioten und Kretins ausgeben müssen, sondern sie dient ausschließlich dazu, vollwertige Menschen vor Not zu schützen, ihnen Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen und ganz besonders jene Familien zu stützen, die in der Lage sind, der Nation erbgesunde und vollwertige Nachkommen zu schenken."'6 Was dies in der Praxis bedeuten konnte, war beispielsweise in der Zeitschrift Jugendfürsorge
in
Oberdonau vom November 1938 nachzulesen, wo es zu den Voraussetzungen für die Aufnahme in das Säuglings-, Kleinkinder- und Mutterheim Riesenhof des Landes-Jugendamtes hieß:„Aufgenommen werden nur erbgesunde, vorübergehend anstaltbedürftige Kinder."17
Aussonderung statt Fürsorge. Vom alltäglichen Erziehungs-Terror Der Preis für Anerkennung, Karriere und Fortkommen im NS-System war die Bereitschaft, sich den politischen und sozialen Normen des Systems zu unterwerfen. Verstöße dagegen wurden
Ebd. 16 Kepplinger, Kommunale Sozialpolitik, S. 738. 17 Zit. nach ebd., S. 737. 15
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auch bei j e n e n Jugendlichen geahndet, die durchaus in das System - etwa in den Verbänden der Staatsjugend - eingepasst waren, sich aber doch da und dort d e m Druck und d e m Z w a n g der Erwachsenen zu entziehen versuchten. So gab die örtliche HJ-Führung im August 1939 etwa d e m Wiener Polizeipräsidenten bekannt, dass HJ-Angehörigen das Betreten des Wiener W u r s telpraters ab 23.00 Uhr verboten sei. Dies g e s c h e h e - s o die B e g r ü n d u n g - „ m i t Rücksicht a u f den Umstand, dass der Wiener Wurstelprater keine Stätte positiver Erziehungsmöglichkeiten für Jugendliche" darstelle und sich in den späten A b e n d s t u n d e n dort Szenen abspielten, mit denen die Hitler-Jugend nichts zu tun haben wolle. Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sollte überhaupt - so die Forderung der HJ - der Besuch des Praters ab 22.00 Uhr nur in Begleit u n g von Aufsichtspersonen gestattet werden. 18 Als 1940 der „Jugendarrest" eingeführt wurde, wurde er als„Zuchtmittel" definiert und nur für die Korrektur von im Prinzip als „wertvoll" angesehenen, aber kurzfristig vom rechten Weg a b g e k o m m e n e n Jugendlichen vorgesehen: Polnische Jugendliche beispielsweise waren vom „Jugendarrest" prinzipiell ausgeschlossen und auch gegen j ü d i s c h e Jugendliche sollte dieses „Erziehungs"-Mittel nicht eingesetzt werden.' 9 In Wien w u r d e ein Raumbedarf von 120 bis 150 Einzelzellen angemeldet, wobei mit einer ständigen Belegung von etwa 8 0 Jugendlichen gerechnet wurde. 2 0 Im Januar 1943 beispielsweise mussten in Wien 242 Jugendliche 451 Wochenendkarzer und 459 Jugendliche 1049 Wochen Dauerarrest verbüßen. 2 1 Bedenken richteten sich jedoch gegen den Begriff, da Arrest als Strafe verstanden wurde. 1943 wurde der N a m e in „Freizeitarrest" umgewandelt. 2 2 Voraussetzung für die Praktizierung dieser Ausgrenzungs- und Vernichtungsideologie war die Verstärkung bzw. die Schaffung gesellschaftlicher Verhaltensmuster, die Menschen in „gute" und „schlechte",„tüchtige" und „untüchtige" trennten: „Aus dieser weltanschaulichen Einstellung heraus", so der Amtsleiter im „Hauptamt für Volkswohlfahrt" 1939,
„ist eine Volkswohlfahrtspflege nationalsozialistischer Prägung grundsätzlich erbbiologisch und rassenhygienisch orientiert. Ihr gilt nicht der Satz von der Gleichheit der Staatsbürger. Sie weiß, dass die Erbanlage die Menschen ungleich in ihrem Wert für das Wohl des Ganzen macht."23
18 Tantner, A.,„Schlurfs". Annäherungen an einen subkulturellen Stil Wiener Arbeiterjugendlicher. Diplomarbeit Wien 1993, S.40. 19 Ebd., S.43. 20 Vgl. ebd., S.44. 21 Vgl. ebd., S. 52. 22 Vgl. ebd., S.44. 23 Reyer, J., Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege. Entwertung und Funktionalisierung der Fürsorge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Freiburg/Bg. 1991, S. 169.
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2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
Im Prozess dieser p e r m a n e n t e n Deklassierung und A b w e r t u n g blieben letzten Endes vor allem a u c h j e n e Kinder a u f der Strecke, die aufgrund von Lernschwierigkeiten besondere Hilfe und Förderung gebraucht hätten. Ärzte und Angehörige des Pflegepersonals, Fürsorgerinnen, Erzieherinnen, Sonderschullehrerinnen, Juristinnen und V e r w a l t u n g s b e a m t e n bedienten ein e n g m a s c h i g e s System der Erfassung, Verfolgung und Vernichtung nicht gewünschter, weil körperlich und geistig behinderter, sozial „auffälliger" und w e g e n ihrer „Rasse" von vorneherein a u s der nationalsozialistischen Volks-„Gemeinschaft" ausgeschlossener Kinder. 24 Hilfsschulen und/oder Fürsorge- und Erziehungsheime wurden zu Instrumenten der „Auslese" und z u m Ort der „Verwahrung" jener, die den „Normalen" beim Lernen und Tüchtigsein im Weg standen. U n zählige Kinder w u r d e n hier m i s s h a n d e l t und lebenslang geschädigt. 2 5 Mit Erlass v o m 14. M a i 1 9 4 0 w u r d e die „Allgemeine A n o r d n u n g über die Hilfsschulen in Preußen" a u c h a u f die besetzte „Ostmark" ausgedehnt. Dort hieß es:
„Die Hilfsschulen sind Volksschulen besonderer Art [...] Die Hilfsschule entlastet die Volksschule, damit ihre Kräfte ungehemmt der Erziehung der gesunden deutschen Jugend dienen können [...] sie erzieht die ihr überwiesenen Kinder in besonderen, den Kräften und Anlagen der Kinder angepassten Verfahren, damit sie sich später als brauchbare Glieder der Volksgemeinschaft selbständig oder unter leichter Führung betätigen können." 26
24 Vgl. beispielsweise: Arnberger, H., Das Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934-1945. Wien "1987, S. 573-622; Baumgartner, G. und Mayer, A., Arbeitsanstalten für sog. „asoziale Frauen" im Gau Wien und Niederdonau. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. Endbericht. Wien 1990; Melinz, G., Interpretation und Ausgrenzung. Zur Entwicklungsgeschichte der Armutspolitik zwischen 1918 und 1945. Eine historische Skizze. In: Aufrisse, 9. Jg. 1988, Heft 2, S. 4—11; Neugebauer, W., Zur Psychiatrie in Österreich 1938-1945: „Euthanasie" und Sterilisierung. In: Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft, Symposion „Schutz der Persönlichkeitsrechte am Beispiel der Behandlung von Geisteskranken, 1782-1982" am 22. und 23. Oktober 1982. Wien 1983, Justiz und Zeitgeschichte 4, S. 197-285; Ders.,Von der „Rassenhygiene" zum Massenmord. In: Ohne Autor, Wien 1938.11. März bis 30. Juni 1988. Wien 1988 (110. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), S. 263-286; Ders., Vernichtung von „Minderwertigen" - Kriegsverbrechen? In: Ders. und Morawek, E. (Hg.), Österreicher und der Zweite Weltkrieg. Wien 1989, S. 121143; Seliger, M., Die Verfolgung normabweichenden Verhaltens im NS-System. Am Beispiel der Politik gegenüber „Asozialen" in Wien. In.- Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft. 20. Jg. 1991, Heft 91/4,5.409-429. 25 Stahlmann, M. und Schiedeck, J.,„Erziehung zur Gemeinschaft - Auslese durch Gemeinschaft". Zur Zurichtung des Menschen im Nationalsozialismus. Bielefeld 1991, S. 46. 26 Zit. nach:Wrba, H.,Von der Hilfsklasse zur Allgemeinen Sonderschule. Eine Sonderschulsparte und ihre historische Dimension. Unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungsgeschichte in Salzburg bis 1962. Diplomarbeit Salzburg 1993, S. 95 f.
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Ein wohl gar nicht so kleiner Teil der Hilfsschul-Lehrerlnnen war mit diesen Zielsetzungen durchaus einverstanden. In der Chronik der Allgemeinen Sonderschule 1 (Klagenfurt) für das Schuljahr 1938/39 ¡st beispielsweise von dem „grenzenlosen Vertrauen zu unserem Führer" die Rede, in dessen Dienst der „für die Volksgesundheit so wichtigen Erbauslese" sich auch die Hilfsschule in Kärnten zu stellen bereit sei.27 Eine Konsequenz dieser Beobachtung und Ausspähung der Schwächen der Hilfsschulkinder war die Denunziation zur Sterilisierung, an der auch Hilfsschul-Lehrerlnnen mitgewirkt haben. Für Österreich liegen dazu noch wenige gesicherte Angaben vor. Der Arbeitskräftemangel infolge der Forcierung des Krieges mag einige Jugendliche wegen ihrer prinzipiellen volkswirtschaftlichen „Verwertbarkeit" gerade noch vor diesem Schicksal bewahrt haben.28 „PubertäreTrotzhandlungen w u r d e n zu kriminellen Vergehen aufgeblasen, sexuell nicht a n g e passtes Verhalten als .sexuelle Verwahrlosung' stigmatisiert. Kinder und Jugendliche w u r d e n als .gemeinschaftsfremd' in Fürsorgeerziehungsanstalten, Jugend KZs und Psychiatrische Anstalten verbracht." 2 9
Trotz der Möglichkeiten, die das NS-System der Fürsorge bot, sich nicht genehmer Jugendlicher zu entledigen, war dies den Verantwortlichen immer noch zu wenig. So stellte beispielsweise das Rassenpolitische Amt Wien im September 1943 bedauernd und missbilligend als eine Schwierigkeit das Fehlen von Erziehungslagern für Jugendliche unter 16 Jahren und die lange Dauer des Einweisungsverfahrens in ein Jugendschutzlager (6-9 Monate) fest.30 Dr. Illing, der 1946 zum Tode verurteilte Leiter der Abteilung„Am Spiegelgrund", beklagte sich unter anderem über die Belastung durch „asoziale, kriminell veranlagte, charakterlich grob abartige Jugendliche" und forderte die „umgehende" Abziehung dieser „asozialen Elemente". Lediglich - fügte er h i n z u - b e i den „Mädels" sei eine prompte Erledigung dieser Vorstellungen insofern erfolgt, als diese „in Anstalten des Altreiches oder in das Jugenderziehungslager Uckermark überstellt wurden".31 Bis Mitte 1944 wurden dort etwa 800 Einweisungsanträge bearbeitet, wobei Wien mit 85 Anträgen reichsweit an der Spitze stand.32
27
Zit. nach: Franschitz-Payer, I., Zur Geschichte der Allgemeinen Sonderschule in Kärnten: Von der Schwachsinnigenfürsorgezum Hilfsschulwesen. Diplomarbeit Klagenfurt 1980,5.49.
28
Wrba,Sonderschule,S.96f.
29 Baumgartner/Mayer,Arbeitsanstalten,S. 131. 30 Vgl. ebd. 31
Zit. nach ebd., S. 131 f.
32
Zit. nach ebd., S. 226, Anm. 14; vgl. den Beitrag von Regina Fritz im vorliegenden Band.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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Aufarbeitung nach 1945. Verdrängen und „Vergessen" Die i m m e r wieder b e s c h w o r e n e „Stunde N u l l " des Jahres 1 9 4 5 hat es a u c h im F ü r s o r g e w e s e n nicht g e g e b e n : Die K o n t i n u i t ä t e u g e n i s c h e n D e n k e n s u n d die d a m i t v e r b u n d e n e n professionellen W e l t v e r b e s s e r u n g s a n s p r ü c h e blieben e b e n s o b e s t e h e n w i e die nur kurzzeitig geb r e m s t e n a k a d e m i s c h e n Karrieren weiterhin fortgesetzt w u r d e n . Im Verfahren vor d e m Volksg e r i c h t s h o f im Jahre 1 9 4 6 g e g e n d e n e h e m a l i g e n Anstaltsleiter der Arbeitsanstalt a m S t e i n h o f u n d seine M i t a r b e i t e r i n n e n w u r d e n z w a r relativ h o h e G e f ä n g n i s s t r a f e n v e r h ä n g t . In der Urt e i l s b e g r ü n d u n g w u r d e a u c h klar ausgesprochen, u m welche Art v o n Erziehung es sich a u f d e m „Steinhof" gehandelt hatte: die Arbeitsanstalt habe eher einem Konzentrationslager d e n n einer A n s t a l t geglichen; die e i n g e w i e s e n e n Frauen u n d M ä d c h e n seien dort in einen qualvollen Zus t a n d versetzt, e m p f i n d l i c h m i s s h a n d e l t u n d in ihrer M e n s c h e n w ü r d e gekränkt u n d beleidigt w o r d e n . " In der B e r u f u n g s v e r h a n d l u n g im D e z e m b e r 1 9 4 8 allerdings w u r d e n die A n g e k l a g t e n zu d e n eigentlichen „Opfern":
„Die Zeugen machten, soweit es sich um Ärzte und ehemaliges Pflegepersonal von Steinhof handelte, einen guten und durchaus glaubwürdigen Eindruck. W a s die Angehaltenen anbelangt, so m u s s t e d a s Gericht wohl zur Überzeugung kommen, dass unter ihnen eine Reihe unglaubwürdiger und z u m Teil gehässigerZeugen waren, zumal auch eine Reihe von Zeugen voll entmündigt waren."J 4
Q u ä l e r e i e n w u r d e n n u n d a m i t entschuldigt, d a s s sich unter d e n I n s a s s e n der A r b e i t s a n s t a l t vielfach „Psychopathen, geisteskranke u n d n a t u r g e m ä ß sehr s c h w e r zu b e h a n d e l n d e Frauen b e f a n d e n " u n d d a m i t zur „ A u f r e c h t e r h a l t u n g der O r d n u n g g e w i s s e D i s z i p l i n i e r u n g s m i t t e l " n o t w e n d i g g e w e s e n seien. Es v e r w u n d e r t nicht, d a s s die Strafen der A n g e k l a g t e n drastisch reduziert bzw. ü b e r h a u p t a u f g e h o b e n w u r d e n . « V o n den Opfern dieses tatsächlich mörderischen S o z i a l r a s s i s m u s w a r sehr bald nach 1 9 4 5 - s i e h t m a n v o n einigen Gerichtsverfahren a b - k a u m m e h r die Rede. Dieses viel zu lange S c h w e i g e n u n d Verschweigen, das erst in den letzten Jahren g e b r o c h e n w o r d e n ist, ist vor allem d a r a u f zurückzuführen, d a s s die Opfer selbst w e i t g e h e n d z u m S c h w e i g e n gebracht w u r d e n oder, s o sie überlebten, entweder in e i n e m hilflosen V e r s t u m m e n verharrten oder ihnen (heute wie damals) n i e m a n d zuhört. O h n e starke Interessenvertret u n g blieben sie in d e n Nachkriegsgesellschaften D e u t s c h l a n d s w i e Österreichs, die a u f Interessen u n d deren D u r c h s e t z u n g orientiert sind, n a h e z u chancenlos.
33 Ebd., S. 35 f. 34 Zit. nach ebd., S. 36. 35
Ebd.,S. 37-
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"7
Die w e n i g e n „ W i e d e r g u t m a c h u n g s " - A n t r ä g e w u r d e n j e w e i l s negativ „erledigt". Ich zitiere a u s einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs v o m 12. November 1986:
„...der Begriff der .politischen Verfolgung' iSd [im Sinne des] Paragraph i Abs. 2 OFG [Opferfürsorgegesetz] verlangt, dass die gegen eine bestimmte Person gerichtete M a ß n a h m e eines Gerichtes oder einer VerwBeh [Verwaltungsbehörde] bzw. der Eingriff der NSDAP aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität erfolgt ist. Nicht jede Anhaltung einer Person durch eine der im Paragraph 1 Abs. 2 angeführten Stellen ist, selbst dann, wenn sie einen vollständigen Freiheitsentzug der Person zur Folge hatte, als Verfolgungshandlung iS dieser Best [Bestimmung] zu werten [...] Selbst die Anhaltung in einem KZ ist dann keine Verfolgung, wenn es sich um die Anhaltungeines Berufsverbrechers oder um eine Anhaltung aus Gründen der polizeilichen Sicherungsverwahrung handelt [...] Der Bf [Beschwerdeführer] w a r , m i t Rücksicht auf seine Abstammung (Mischling) und die Aussichtslosigkeit eines Erziehungserfolges' in ein Arbeitslager für jugendliche Asoziale (Jugendschutzlager Moringen) aufgenommen und von 1939 bis 1945 angehalten worden. Die betreffende Behörde ist zwar davon ausgegangen,dass es sich bei dem genannten Lager um ein KZ gehandelt hat, dass aber der Bf nicht aus Gründen der Abstammung, sondern deshalb angehalten worden ist, weil er Vorstrafen aufgewiesen habe, arbeitsscheu gewesen sei und mit Rücksicht auf die Aussichtslosigkeit eines Erziehungserfolges nicht in die Fürsorgeerziehung eingewiesen worden sei."36
D e r V e r w a l t u n g s g e r i c h t s h o f hob diesen Entscheid schließlich w e g e n „Verfahrensmängeln" auf, wobei allerdings dieTatsache der z w a n g s w e i s e n E i n w e i s u n g in ein Jugenderziehungslager keine Rolle spielte. Die betreffende Behörde w ä r e - s o heißt es als B e g r ü n d u n g - „ v e r p f l i c h t e t gewesen, sich m i t beiden G r ü n d e n für die E i n w e i s u n g und A n h a l t u n g a u s e i n a n d e r z u s e t z e n und darzulegen, w a r u m s i e d e r Auffassung ist, dass G r ü n d e der A b s t a m m u n g nicht die wesentliche Ursache für die A n h a l t u n g des Bf gewesen sind". 37
36 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 12.11.1986, AZ 8 5 / 0 9 / 0 2 2 2 ^ . nach Zeitschriftfür Verwaltung. Beilage [Die administrativrechtlichen Entscheidungen des VWGH und die verwaltungsrechtlich relevanten Entscheidungen desVfGH in lückenloser Folge], 1987,4,5.453 [Nr. 1678]. 37 Ebd.
NS-Fürsorge in Wien Peter Malina
Die (staatliche) Kinder- und Jugendfürsorge war aufgrund der Verordnung über die Jugendwohlfahrt in der Ostmark vom 20. März 1940 im Bereich des damaligen Reichsgaus Wien den Jugendämtern übertragen. Ihnen oblag die Mitwirkung im Vormundschaftswesen, bei der Schutzaufsicht, der Fürsorgeerziehung, der Jugendgerichtshilfe und der Jugendpolizeihilfe, der Durchführung des Jugendschutzgesetzes und der Gesundheitsfürsorge. Beider Erfüllung dieser Aufgaben hatte das Jugendamt auch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV-Jugendhilfe) und die Hitler-Jugend zur Mitarbeit heranzuziehen,„um mit ihnen zum Zweck eines planvollen Ineinandergreifens zusammenzuwirken". Die Geschäfte des Jugendamtes führte in den Stadtkreisen der Oberbürgermeister, der zu seiner Beratung Beiräte bestellte, denen neben dem zuständigen Vormundschaftsrichter, einem Lehrer und einer Lehrerin sowie dem zuständigen Kreisamtsleiter des Amtes für Volkswohlfahrt auch je ein Vertreter der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel angehören sollten. Der Konnex mit den Dienststellen der Partei war auch dadurch gegeben, dass das Jugendamt die Erledigung einzelner Geschäfte der NSV-Jugendhilfe „einzelnen in der Jugendwohlfahrt erfahrenen und bewährten Männern oder Frauen" widerruflich übertragen konnte. Zur Administration der „Fürsorge" für Jugendliche waren im Bereich des Reichsgaus Wien insgesamt 19 Jugendfürsorgeanstalten eingerichtet.' Ein für die Betroffenen unter Umständen lebensentscheidender Bereich der Tätigkeit der Jugendämter war die „Erziehungsberatung".2 Ein Teil der Kinder und Jugendlichen wurde mehrmals zur „Kontrolle" vorgeladen. Ohne auf die ideologischen (und politischen) Zielsetzungen dieser Erziehungsberatung einzugehen, formuliert der Bericht: „Die Kinder und deren Eltern wurden erziehlich zu beeinflussen versucht. Veranlasst wurden die Vorstellungen in der Erziehungsberatung wegen Verwahrlosungsgefahr, Misshandlung, geschlechtlichen Missbrauchs, Erziehungsschwierigkeiten, Schulstürzen, Vagierens,Hausdieb1
Vgl. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien vom 1. April 1940
2
Vgl. Magistrat (Hg.), Gemeindeverwaltung 1940-1945, S. 245; eine ausführlichere Zusammenstellung,
bis 31. März 1945. Wien o. J. [1945], S. 198. allerdings ohne Angabe der Quelle, in: Koller, H., Von der Erziehungsberatung zum psychologischen Dienst. Wien o.J., S.23.
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2. Kindererziehung im Nationalsozialismus stählen, Freunddiebstählen, Gewalttätigkeit, sittlicher Gefährdung und Arbeitsflucht. Je nach der Lage des Falles verfügte die Erziehungsberatung: Belassung in der Familie ohne weitere Maßnahmen, Belassung in der Familie mit Kontrollvorstellung oder mit Umschulung, Hortunterbringung, Unterbringung in Lehre oder Arbeitsstelle, Pflegewechsel, Anstaltsunterbringung, Landdienst, Arbeitsdienst oder Pflichtjahr."?
In derWiener„Städtischen Arbeitsanstalt Steinhof", untergebracht im Pavillon 23 „Am Steinhof", wurden durchschnittlich 100 junge Frauen im Alter von 20 bis 22 Jahren angehalten, die bereits mehrmals „auffällig" geworden waren. Als Einweisungsgründe wurden hauptsächlich angeführt: „Arbeitsscheu", „Geheimprostitution", „Vagabundage", „Verwahrlosung", „Vernachlässigung von Familie und Wohnung". 4 Zwang und Unterdrückung waren die Mittel, mit denen die dort Angehaltenen „normalisiert" werden sollten, wobei die Drohung vor „Steinhof" offenkundig so abschreckend wirkte, dass sich die Rückfälligkeitsquote deutlich verringerte. Mit einer „Besserung" freilich rechnete diese Terror-Pädagogik nicht. In einem Referat des Beauftragten für die erbbiologischen Bestandsaufnahme in der Anstalt „Am Steinhof" und Leiters der Abteilung Erb- und Rassenpflege des Hauptgesundheitsamtes des Gaus Wien, Dr. Richard Günther, hieß es dazu: „Jetzt und in Zukunft kann es nur darauf ankommen, die ungehemmte Fortpflanzung der anlagebedingten Asozialen zu verhindern, aus dem vorhandenen Material aber für die Gemeinschaft das herauszuholen, was an nutzbringender Leistung überhaupt nur herausgeholt werden kann! Wenn wir im Rahmen der Asozialenbekämpfung Fürsorge betreiben, dann nur Fürsorge für die Gemeinschaft, nicht für die Asozialen."5 In einem Arbeitsbericht vom Januar 1944 wird über am „Steinhof" angewandte „Erziehungs"Methoden Folgendes berichtet: „Die Führung der Angehaltenen in der Arbeitsanstalt ist bei Einhalten strenger Zucht und Ordnung im allgemeinen als klaglos zu bezeichnen. Fälle von ausgesprochener Renitenz sind selten. Am häufigsten kommen kleinere Verstöße gegen die Hausordnung vor (lautes Sprechen, Lachen, Singen) oder auch Streitereien und Raufhändel."6 Der Zugriff der „Fürsorge" bedeutete für die Jugendlichen generell eine durch „gesetzliche" Maßnahmen verstärkte Kontrolle und Beobachtung, wobei die Partei permanent ihren Einfluss verstärkte und staatliche Funktion übernahm. Die Verschränkung von Funktionen in der Partei
3 4 5 6
Magistrat (Hg.),Gemeindeverwaltung 1940-1945,5.245. Seliger,Verfolgung,S.42i. Zit. nach ebd., S.422. Zit. nach ebd.
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und im Staatsapparat bzw. der staatlichen Verwaltung ist geradezu paradigmatisch an der Konstruktion der„Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" (NSV)?zu demonstrieren. Der Leiter des Hauptamtes für Volks Wohlfahrt der NSDAP war in Personalunion gleichzeitig auch Reichswalter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Als Reichsbeauftragter des Winterhilfswerkes (WHW) war er auch für die Durchführung des „Winterhilfswerkes des deutschen Volkes" verantwortlich. Ein Beispiel für die Politisierung der J u g e n d f ü r s o r g e " im NS-Staat ist die Einführung der „Schutzaufsicht", die zwar in der Kompetenz des Jugendamts (Wohlfahrtsamt) lag, konkret aber auch der NSV-Jugendhilfe - also einer Parteiorganisation - übergeben werden konnte: „Die Schutzaufsicht besteht in dem Schutz und der Überwachung des Minderjährigen unter Belassung in seiner bisherigen Umgebung und wird vom Gerichte von Amts wegen oder auf Antrag der Eltern, des gesetzlichen Vertreters oder des Jugendamtes (Wohlfahrtsamtes) zur Verhütung körperlicher, geistiger oder sittlicher Verwahrlosung von Minderjährigen angeordnet. Im Einvernehmen zwischen Jugendamt (Wohlfahrtsamt) und Erziehungsberechtigten kann sie auch ohne gerichtliche Anordnung ausgeübt werden. Die Ausübung obliegt dem Jugendamt (Wohlfahrtsamt) oder nach dessen Anhörung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV-Jugendhilfe) oder einer einzelnen Person. Derjenige, der die Schutzaufsicht ausübt, hat die Erziehungsberechtigten zu unterstützen und zu überwachen. Der Erziehungsberechtigte hat daher den Anordnungen unbedingt Folge zu leisten."8 Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt griff auch direkt in die staatliche Fürsorge ein: Ihre „Erziehungsberatungsstellen" waren mitbeteiligt an der Zuweisung von Kindern und Jugendlichen zu Pflegestellen, Heimen und Tagesstätten; „Erbgesundheit" und „Aufwandwürdigkeit" wurden zu den bestimmenden Kriterien für die Aufnahme in Jugendheimstätten. In der bereitwillig vorgenommenen Trennung ihrer Klientel in „gemeinschaftsfähige" und „gemeinschaftsfremde" entsprach sie durchaus der ihr zugewiesenen Aufgabe als soziales Selektions- und Erfassungsinstrument: „die Heimerziehung" (so hat es Jürgen Reyer in seiner Darstellung „Alte Hygienik und Wohlfahrtspflege" 1991 formuliert) „wurde somit zum Vollstrecker faschistischer Anpassungs- und Disziplinierungsmethoden, wobei man Jugendliche, die man nicht zu .brechen' vermochte, in die totale Institution,Jugendschutzlager' abschob und somit auch die KZInternierung unter SS-Gewalt als opportunes,Erziehungsmittel' anerkannte." 9
7
Zur Geschichte der NSV vgl. die Ausführungen von Vera Jandrisits im vorliegenden Band.
8
Jugendwohlfahrtsverordnung § § 4 3 - 4 8 ; Jugendgerichtsgesetz § 2; Durchführungsverordnung § 3. In: Mannlicher, Wegweiser, S. 391.
9
Reyer, Eugenik und Wohlfahrtspflege, S. 243.
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2. Kindererziehung im Nationalsozialismus Voraussetzung für diese selektiv-kontrollierendeJugend-„Wohlfahrt" war ein engmaschiges
Netz professioneller Denunziation, in das auch die Fürsorge e i n g e b u n d e n war. Mit der „erbbiologischen Bestandsaufnahme" stand ihr ein effizientes Erfassungs- und Kontrollinstrument zur Verfügung, d e m nach den Richtlinien des Reichsministeriums des Innern v o m März 1938 folgende Aufgaben aufgetragen waren:
„Die Erbbestandsaufnahme ist die Sammlung und übersichtliche Ordnung aller Untersuchungs- und Ermittlungsergebnisse, welche für die Beurteilung der erblichen und rassischen Beschaffenheit der Sippen und ihrer einzelnen Mitglieder von Wert sind oder sein können. Die Erbbestandsaufnahme umfasst grundsätzlich die Gesamtbevölkerung. Sie erstreckt sich jedoch vornehmlich auf die Personen, an denen Maßnahmen der Erb- und Rassenpflege durchgeführt werden oder werden sollen, und deren Verwandte." 10
A m Beispiel Wiens lassen sich Umfang und Effizienz dieses Systems permanenter Kontrolle und Auslese gut dokumentieren. Die systematische Erfassung der Wiener Bevölkerung begann bereits mit der Geburt. Ab 1. Juli 1939 w u r d e n sämtliche in W i e n geborenen S ä u g l i n g e in einer eigenen Säuglingskartei erfasst. W e n i g e Monate später bereits begann die regelmäßige Ausw e r t u n g dieser M e l d u n g e n für die Erbkartei. Von Januar bis März 1 9 4 0 waren davon bereits etwas m e h r als 8 9 0 0 Neugeborene betroffen. Bereits ab Mai 1939 erhielten H e b a m m e n ein neues Formblatt für Geburtsanzeigen, in d e m die Prinzipien der Erb- und Gesundheitspflege berücksichtigt waren. Für Kinder vom 6. bis z u m 18. Lebensjahr waren insgesamt f ü n f Reihenuntersuchungen vorgesehen, die von den Gesundheitsämtern durchgeführt wurden. 11 Im Schulj a h r 1939/40 beispielsweise wurden in Wien ca. 21.500 Schulkinder untersucht. Der „Jugendgesundheitsbogen" bot die Möglichkeit, auch die Familie der untersuchten Kinder zu erfassen und „Erbkrankheiten" bzw. nicht systemkonformes soziales Verhalten aufzuspüren. 1 2 In der Wiener Zentralkartei, die zeitweise von fast 80 Personen betreut wurde, waren Mitte 1939 bereits 320.000 Personen erfasst. 1 ' Im März 1944 enthielt die Kartei die N a m e n von nahezu 7 7 0 . 0 0 0 Personen. Ein Teil war aufgrund der Auswertung der bereits vorhandenen Unterlagen der Gesundheitsämter, Fürsorgeeinrichtungen und Polizeibehörden erfasst worden, die restlichen als Folge ärztlicher Untersuchungen in den Bezirksgesundheitsämtern. 1 4
10 Czech, H., Erfassung, Selektion und „Ausmerze". Die Abteilung „Erb- und Rassenpflege" des Wiener Hauptgesundheitsamtes und die Umsetzung der NS-„Erbgesundheitspolitik" 1938 bis 1945. Diplomarbeit Wien 2003, S. 37. 11 Vgl. Czech, Erfassung, S. 50 f. 12 Vgl. ebd., S. 51 f. 13 Vgl. ebd., S. 37-59. 14 Vgl. ebd., S. 44.
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Die große Angst der nationalsozialistischen Fürsorgeeinrichtungen war es, ihre Angebote könnten unberechtigterweise „ausgenützt" werden. Diese Angst bot gleichzeitig auch die Berechtigung für eine rigide, unbarmherzige Verfolgung und Bestrafung aller jener, die sich als nicht „würdig" für soziale Hilfeleistung erwiesen hatten. Dr. Robert Linke (städtischer Oberverwaltungsrat) hat dies in seiner Darstellung des Wohlfahrtswesens, erschienen 1942 in der Schriftenreihe der Alpen- und Donaureichsgaue, im Kapitel „Anhaltung in einer Arbeitsanstalt" folgendermaßen formuliert: „Gerade die nationalsozialistische Wohlfahrtspflege, deren großzügiger Ausbau einen besonderen Anreiz auf Menschen geringeren Selbstverantwortungsgefühls bietet, bedarf eines erhöhten Schutzes gegen Ausbeutung durch asoziale Elemente."15 Hier ist einzufügen, dass in Österreich bereits vor dem Nationalsozialismus im Bereich der Fürsorge in diese Richtung gedacht worden ist. In der Zeitschriftfür Kinderschutz plädierte der Mediziner und Chefarzt der Heimwehr Rudolf Uhlirz 1934für einen kostengünstigen Einsatz der Mittel der gesundheitlichen Fürsorge. Jede fürsorgerische Maßnahme habe den Zweck, die entstandene „Minderwertigkeit" zu heben,ja darüber hinaus womöglich auch „Wertzuwächse" zu bewirken. Jede öffentliche Mittel belastende Fürsorgemaßnahme, die nicht direkt oder indirekt diesem Ziele diene, entbehre der „inneren Berechtigung". Mit dem Tod eines Kindes entstünden „Verlustwerte", wobei diese bei einem „minderwertigen" Kind entsprechend geringer ausfielen. Den entscheidenden Wertmaßstab sah Uhlirz in der im Laufe eines Lebens erbrachten Arbeitsleistung: „Vollwertig ist ein Mensch, welcher voraussichtlich eine Mindestlebensdauer von 54Jahren vollenden, während dieser Zeit ein gewisses Minimum an Krankheitstagen nicht überschreiten und die übrigen Tage imstande sein wird, einen bestimmten Grad von Quantität und Qualität seiner Arbeitseffekte zu erreichen. Minderwertig ist jedes Kind, welches wenn auch nur einer dieser Aufgaben voraussichtlich nicht entsprechen wird."16
15
Linke, R., Wohlfahrtswesen. Wien 1942,8.98.
16
Zit. nach: Holub, F., Sonderpädagogik und Eugenik 1920 bis 1950 in Österreich. Diplomarbeit Wien 2002, S. 89 f.
Verfolgte Kindheit: Kinder und Jugendliche als Objekte der NS-Aussonderungs-„Pädagogik" Peter Malina
Im Folgenden soll beispielhaft an einigen ausgewählten Lebensgeschichten deutlich gemacht werden, w a s Leben als Kind und Jugendlicher unter den B e d i n g u n g e n der nationalsozialistischen Herrschaft tatsächlich bedeuten konnte. Die Spannweite dieser Geschichten reicht von den angepassten und eingepassten, dem System g e n e h m e n und von i h m geförderten Jugendlichen bis zu jenen, die im NS-System nicht wirklich bis gar nicht erwünscht und massiven Disziplinierungs- und S t r a f m a ß n a h m e n bis hin zur tödlichen Verfolgung ausgesetzt waren.
Fallbeispiel Richard Picker Die Härte dieses Erziehungssystems bekamen auch Kinder und Jugendliche zu spüren, die dem System durchaus g e n e h m waren. Der Wiener Psychotherapeut Richard Picker hat seine Kindheit im nationalsozialistischen Österreich als ein Kind erlebt, das vom System erwünscht war und jede Förderung erfuhr. Er berichtet über seine Nazi-Vergangenheit:
„Als der Krieg zu Ende ging, war ich gerade 12 Jahre alt. Ich habe gesehen und gehört, als Adolf Hitler durch die Linzerstraße an unserem Wohnhaus vorbei in Wien einzog, ich saß auf den Schultern meines Vaters am Wiener Heldenplatz (der gesamte Platz war schwarz von Menschen). Ich sah auf der Hauptstraße von Eisenstadt Juden mit dem gelben Judenstern an der Brust gehen. Ich trug unsere Schuhe zu einem Schuster in das Ghetto. Ich wurde .belehrt', dass es keine Konzentrationslager gäbe [...] Und schon fließen Bilder um Bilder [...] die blinkenden Spaten des Reichsarbeitsdienstes, der Geruch nach Leder, Fahnenstoff, der Klang der Fanfaren, das Braun-Rot-Gold-Holz-Licht im Gauhaus Eisenstadt anlässlich einer Namensgebungsfeier [...] die Deutsche Wochenschau, die Napola, in die mich meine Eltern schickten - bei den täglichen Appellen standen ,800 Jungs' angetreten, darunter nicht nur ich, sondern auch heutige Prominenzrein Nationalratspräsident,ein Minister,ein Magistratsdirektor,ein Diplomat".'
1
Picker, R., Psychotherapie und Nazivergangenheit-ein Versuch an konkreten Gestalten. In: Heimannsberg, B. und Schmidt, C. (Hg.), Das kollektive Schweigen. Nazivergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Heidelberg 1988, S. 141 f.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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In der Rückbesinnung a u f seine Lebensgeschichte versuchte Richard P i c k e r - w i e i h m selbstkritisch bewusst w u r d e - zunächst noch, eilig weiterzugehen und zu einem Ende zu kommen. Doch dann wurde ihm klar, dass sich die ganze „Ungeheuerlichkeit der Nazipädagogik" gerade in diesem Anfang zeigt:
„Eine Woche lang mussten wir Aufnahmeprüfung machen. Ich war erst neun Jahre alt, ein Jahr jünger als vorgesehen, hatte aber die ,Ehre', daran teilnehmen zu dürfen. Als einziger meines Schulortes wurde ich zugelassen. Die Erwartung von ganz Eisenstadt [...] lag auf mir, auch die Erwartung meines Vaters, meiner Mutter, meiner Verwandten. Mit dem Mut der Verzweiflung erkletterte ich zehnmal die Kletterstange im Turnsaal, sprang ich vom Fünf-Meter-Brett, obwohl ich Nichtschwimmer war (,wenn du nicht springst, hast du keine Chance'), bestand einen Boxkampf, lief fünf Kilometer Dauerlauf [...] Der Mut der Verzweiflung, die Ehre, ein .Jungmann' sein zu dürfen [...], das waren die Triebfedern des psychischen Überlebens in den wahnwitzigen zweieinhalb Jahren des Napola-Daseins [...] Diese Welt der Parteigenossen und der WaffenSS-Pädagogen! Alles war männlich, alles war uniformiert, jedes Hemd, jede Unterhose hatte eine Nummer und einen verbindlichen Platz im Spind [...] und das war wegen der Kontrolle [...] Zuoberst stand der Stärkste - zuunterst der Schwächste [...] Ja, nun wurde ich oft gefragt, hat denn diese Härte auch etwas gebracht? Hat sie auch, sicher. Härte brachte sie! Eine ebensolche Härte, wie man sie erleiden musste". 2
Fallbeispiel Hermann Lein Während sich Richard Picker (und viele andere) den Vorgaben der NS-„Erziehung" beugte und dafür die Wertschätzung seiner„Erzieher" errang, bekamen andere Jugendliche, die aus politischen und/oder „weltanschaulichen" Gründen dem NS-System entgegenstanden, dessen Verf o l g u n g s w u t mit aller Härte zu spüren. H e r m a n n Lein beispielsweise geriet als 18-Jähriger a m 9. Oktober 1938 in die Hände der Gestapo, weil er nach den Ereignissen rund u m die Jugendfeier anlässlich des Rosenkranzfestes a m 7. Oktober im Wiener S t e p h a n s d o m seine E m p ö r u n g herausschrie mit den Worten „Heil unser Bischof!" 3 . Nach Tagen erst erfuhren seine Eltern, dass er wegen einer „Innitzer-Demonstration" verhaftet worden sei: „sie haben" - berichtet Lein rückblickend:
2 3
Ebd., S. 142 f. Lein, H., Ais „Innitzergardist" in Dachau und Mauthausen. Ein Rückblick zum 50. Jahrestag. Wien u.a. 1988, S. 34.
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„alles getan, was in ihren Kräften stand, um mir zu helfen. Aber es fand kein persönlicher Kontakt statt. Meine Mutter konnte wohl Wäsche und die nötigsten Toiletteartikel im Gefängnis für mich abgeben, aber sie bekam mich niemals zu Gesicht. Den Eltern blieben meine Gedanken fremd, sie mieden jeden Anschein des Widerstandes und konnten mich nur bedauern. Mein Vater konnte aber auch nicht verstehen, warum die Polizei einen Achtzehnjährigen wegen einer solchen Lappalie, wie er meinte, so lange einsperrte."4 Anfang Dezember 1938 wurde Hermann Lein in das Konzentrationslager Dachau verbracht: „Meine Mutter erfuhr auf skurrile Weise von meinem Abtransport. Als sie mit den Toiletteartikeln auch ein Haarnetz abgeben wollte, meinte der Polizist:,Wo Ihr Sohn jetzt ist, braucht er ein Haarnetz sicher nicht.'"5 Im April 1940 wurde Lein entlassen. Nach seiner Entlassung blieb er ein „Gezeichneter": „Ich musste mich jede Woche beim zuständigen Polizeikommissariat melden. Ich galt weiter als politisch unzuverlässig und als wehrunwürdig. Das letztere hat mich nicht sehr gestört, das erstere degradierte mich zum Staatsbürger zweiter Klasse. Ich durfte keine Matura-Schule besuchen, von der Universität war überhaupt nicht die Rede. Aber selbst als ich versuchte, in den Berufeines Steuerberaters einzusteigen, blieb mir dies verwehrt."6
Fallbeispiel Alois Kaufmann Alois Kaufmann (geboren 1934) wurde von 1943 bis 1945 als schwer erziehbares Kind im Pavillon 18 der Psychiatrischen Klinik„Am Steinhof" zur„Normalisierung" festgehalten. Er schildert den Schrecken der Einlleferung: „Graue Mauern wuchsen aus dem Boden, und ich hörte die lauten Kommandorufe der Erzieherinnen. Ich spürte den Druck auf meiner Brust und die Angst [...] Dann ein langer, spiegelblanker Korridor, der nie zu enden schien. Alles war so glatt, so peinlich sauber, so steril [...] Ein Mann im weißen Mantel mit tadelloser Frisur, kurzgeschnittenem Haar und der Nettigkeit eines braven deutschen Bürgers schaute mich an. Seine Augen wurden immer größer, und meine Angst steigerte sich ins Unerträgliche. Dann hörte ich seine Stimme. Worte, die mir inhaltslos,
4 5 6
Ebd., S. 40. Ebd., S. 42. Ebd., S. 90.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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seelenlos mitteilten, dass ich Zögling im Kinderheim ,Am Spiegelgrund' sei und der Pavillon 18 mein Zuhause." 7
Das verschreckte Kind reagiert mit Angst, verzweifelter Hilflosigkeit und ohnmächtiger W u t a u f diejenigen, die ihn „erziehen" sollten: „Ich versuchte zu fliehen. Doch dieser gottverdammte spiegelglatte Boden ließ mich stürzen. Ein gellendes Lachen drang wie Messerstiche in mein Bubenherz. Ich schämte mich. Meine Unterwäsche war nass vom Urin, und die Hände waren schweißgebadet. Dann kam sie, die Frau im blau-weißen Kittel. Brüllte, ohrfeigte mich, riss mich hoch, und ihre Blicke schickten mich ins Jenseits. Ich empfand Hass, abgrundtiefen Hass, Hass auf alle Erwachsenen." 8
In den achtziger Jahren hat Alois K a u f m a n n sein Schweigen gebrochen und seine Erlebnisse mit der NS-„Erziehung" in einem Buch festgehalten. Zwei G r ü n d e waren es, die ihn z u m Schreiben gebracht haben: „Erstens, weil ich eine ungeheure Wut gehabt habe, dass die Euthanasie und der Spiegelgrund nie erwähnt wurden, wenn von der Verfolgung unter den Nazis die Rede w a r - v o n allem hat man geredet, aber vom Spiegelgrund nicht. Und zu dieser Wut ist dann das Gefühl gekommen, ich müsse mit aller Gewalt drauf achten, dass diese armen Hunde, die am Spiegelgrund umgekommen sind, nicht vergessen werden."?
Fallbeispiel Theresia S. Theresia S. wurde im Juli 1944 (sie war d a m a l s 14 Jahre alt) mit der Diagnose „asoziale Debile, sexuelle Triebhaftigkeit" in die Psychiatrische Anstalt „Am Steinhof" eingewiesen. Sie w u r d e verdächtigt, kleinere Kinder zur „Unsittlichkeit" verleitet und d a m i t die Jugend gefährdet zu haben. Auch sonst entsprach sie offenkundig nicht den Vorstellungen von sozialem Wohlverhalten: zu Hause habe sie n i e d e r Mutter geholfen, sei a u f der Straße herumgelungert und nur zu den Mahlzeiten nach Hause gekommen. Im Oktober 1944 wurde Theresia S. entmündigt, da sie „eine asoziale Schwachsinnige mit sexueller Triebhaftigkeit" sei - eine Einschätzung, die in einer Beurteilung für das Erbgesundheitsgericht noch Ende März 1945 wiederholt wurde.
7 8 9
Kaufmann, A., Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim.Wien 1993,5.31. Ebd. Kaufmann, A.,„... bis heute nicht verkraftet". In: Ders., Spiegelgrund Pavillon 18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim.Wien 1993, S.131.
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Die Sorge der zuständigen „Volkspflegerin" der NSV-Dienststelle („Jugendhilfe") galt in erster Linie der Frage, wie die sexuelle Triebhaftigkeit des M ä d c h e n s in Z a u m zu halten sei. Ende Juli 1944 richtete sie an die Pflegeanstalt die Bitte, ihr mitzuteilen, ob eine Sterilisation in Frage komme, denn:„das M ä d c h e n s t a m m t aus einer sehr schlechten Familie und ist jetzt schon sittlich v o l l k o m m e n verdorben"; Fürsorgeerziehung m ü s s e beantragt werden, „da sonst ihr schlechter Einfluss auf die Dorfjugend zu groß wäre". Mitte F e b r u a r i 9 4 5 bat die besorgte Fürsorgerin neuerlich, ihr mitzuteilen, ob die Jugendliche unfruchtbar g e m a c h t worden sei: „Ich halte es für das Richtigste, w e n n die Jugendliche sofort in eine anderweitige Anstalt eingewiesen würde, da sie für ihre U m g e b u n g durch ihre sittliche H e m m u n g s l o s i g k e i t eine große Gefahr bedeutet." Das Kriegsende bewahrte Theresia S. vor weiteren Bedrohungen. Ende Mai 1945 wurde sie aus der Anstalt zu ihrer Mutter entlassen. 1 0
Fallbeispiel Walter B. Bezeichnend für die Anwendung„ordentlicher" Erziehungsgewalt im NS-System ist das Verfahren gegen Walter B. Im Sommer 1944 richtete das Rassepolitische A m t der Gauleitung Wien der NSDAP an die Abteilung E 5 der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien die Bitte u m Einleit u n g des Ermittlungsverfahrens mit dem Bemerken, dass bereits bei der Asozialen-Kommission ein Verfahren wegen Einweisung in ein Arbeitserziehungslager a n h ä n g i g sei. Als Antragsteller wird das Arbeitsamt angeführt. 1 ' A m 11. Juli 1944 ersuchte die Abteilung E 5 das Bezirksjugenda m t f ü r den 6. und 7. Bezirk „streng vertraulich!" u m einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die Erwerbs-, E i n k o m m e n s - und Familienverhältnisse sowie über das soziale Verhalten („Jugenderziehung, ehelich, a.e., eigene F a m i l i e n e r z i e h u n g - f r e m d e Pflege, vorbestraft, sowie Vorleben der Eltern etc. etc"). Als G r u n d wird in dem hektographierten Vordruck „Arbeitsscheu" angegeben. 1 2 Wenige Tage später hielt das Bezirksjugendamt für den 6. und 7. Bezirk in seinem Bericht an die Abteilung E 5 den Lebenslauf des Walter B. fest: Die Mutter („Trinkerin") war bereits 1936 an D e l i r i u m t r e m e n s a m „Steinhof" gestorben. Das Kind w u r d e v o m Vater aufgezogen und 1938 a u f dessen Ersuchen, da sich dieser nicht mehr zu helfen wusste, in der E r z i e h u n g s a n -
10 Zit. nach: Baumgartner/Mayer,Arbeitsanstalten, S. 133. 11 Schreiben der Gauleitung Wien der NSDAP, Rassepolitisches Amt an die Abteilung E 5 der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien mit der Bitte um Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen Walter B., 05.07.1944. WSTLA-MA Abt. 255, A 3/3: Einweisungen 1940-1944, Einweisungen in Arbeitsanstalten A-E. 12 Ersuchen der Abteilung E 5 der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien an die Bezirkshauptmannschaft für den 6V7. Bezirk, Bezirksjugendamt, 11.07.1944. WSTLA - MA Abt. 255, A 3/3: Einweisungen 1940-1944, Einweisungen in Arbeitsanstalten A-E.
ljo
2. K i n d e r e r z i e h u n g im N a t i o n a l s o z i a l i s m u s
stalt Eggenburg„untergebracht".Trotz der Bemühungen des Vaters, der einen „guten Eindruck" machte, war die „Führung" seines Sohnes zeitweise wieder so schlecht, dass „mit Besuchssperre vorgegangen werden musste". Im März 1942 wurde die Fürsorgeerziehung aufgehoben und Walter B. nach Hause entlassen: „Seit dieser Zeit verschlechtert sich seine Führung immer mehr. Er bleibt der Arbeit oft ferne, er bricht zu Hause sämtliche Schlösser auf und verschleppt, was er kann. Im Wohnhaus genießt er einen sehr schlechten Leumund. Erst vor kurzem hat er der Hausbesorgerin Lebensmittelkarten entwendet, die bei ihm gefunden wurden."'3 Die telefonische Rücksprache mit dem Dienstgeber, der ebenfalls in die Ermittlungen eingeschaltet wurde, bestätigte dem Jugendamt das bisherige Urteil: „er ist frech, kommt nur zeitweise zur Arbeit, marodiert und hat sich absichtlich [...] mit heißem Wasser verbrüht, um nicht arbeiten zu müssen. Seit 1 Woche kam er überhaupt nicht mehr zur Arbeit und wurde wegen Vagabundage in Eggenburg aufgegriffen." 1 * Auf der Grundlage dieses vernichtenden Urteils des Jugendamtes stand für die Abteilung E 5 das weitere Vorgehen gegen Walter B. außer Frage: „Da es sich bei Walter B. um einen völlig undisziplinierten, arbeitsscheuen und asozialen Menschen handelt, der durch sein Verhalten offenkundig jede geregelte Beschäftigung ablehnt, erscheint seine Anhaltung in einem Arbeitserziehungslager notwendig und gerechtfertigt." Der Leiter der Abteilung stellte daher in seinem Schreiben an die Abteilung A 7 (Vermerk: „Schnellfall") den Antrag, Walter B. in die Arbeitsanstalt „Dauerheim" einzuweisen, da er laut amtsärztlichem Gutachten „beschränkt arbeitsfähig" sei.'5 In der Begründung des Bescheids über die Einweisung in eine Arbeitsanstalt heißt es, Walter B. sei als „asoziale Person zu werten"; um „drohende Hilfsbedürftigkeit zu verhüten", aber auch um die Arbeitskraft und die Gesundheit zu erhalten, werde daher dem Antrag auf Einweisung in ein „Arbeitserziehungslager" stattgegeben. Danach folgt eine Zusammenfassung seiner Verfehlungen. Zuletzt wird noch darauf hingewiesen, dass gegen den Bescheid binnen zwei Wochen Einspruch an den Reichsstatthalter in Wien eingebracht werden könne. Um allfälligen Versuchen von vorneherein jedwede Illusion zu nehmen und damit der drohenden Einweisung zumindest zeitweilig aus dem Wege gehen zu können,
13
Ebd.
14
Schreiben des Leiters des B e z i r k s j u g e n d a m t e s für den 8. u n d 9. Bezirk a n die A b t e i l u n g E 5 der G e m e i n d e v e r w a l t u n g des Reichsgaues Wien, 20.07.1944. W S T L A - M A Abt. 255, A 3/3: E i n w e i s u n g e n 1 9 4 0 - 1 9 4 4 , E i n w e i s u n g e n in A r b e i t s a n s t a l t e n A - E .
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E r s u c h e n der A b t e i l u n g E 5 a n die A b t e i l u n g A 7 der G e m e i n d e v e r w a l t u n g des R e i c h g a u e s W i e n u m E i n w e i s u n g von Walter B. in die Arbeitsanstalt „Dauerheim", 27.11.1944. WSTLA - M A Abt. 255, A 3/3: Einw e i s u n g e n 1 9 4 0 - 1 9 4 4 , E i n w e i s u n g e n in A r b e i t s a n s t a l t e n A - E .
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wird aufschiebende Wirkung dieses Einspruchs von vorneherein aberkannt.' 6 Es war wohl nur eine Formalität, dass angesichts dieser Verurteilung das Rassepolitische Amt der Gauleitung Wien der NSDAP zu der vorgeschlagenen Einweisung auch im Namen der Deutschen Arbeitsfront (Ehrenund Disziplinargericht) seine Zustimmung erteilte und bat,die Einweisung durchzuführen.' 7
Fallbeispiel Fritz Kleinmann Fritz Kleinmann war 1938 fünfzehn Jahre alt. Er kam aus einer Familie alteingesessener Österreicher, der Vater war Handwerker, gelernter Tapezierer, die Mutter versorgte im Haushalt die vier Kinder: „Dann plötzlich, mit dem Einmarsch der Deutschen Truppen in Österreich 1938, änderte sich alles: Wir mussten erfahrenes gibt kein Österreich mehr! Für unsere Familie kam über Nacht noch etwas gänzlich anderes dazu. Wir mussten erfahren, dass wir nicht,rassenrein', dass wir .jüdisch'waren [...] Wir fühlten uns nicht als fromme Juden, wir waren auch nicht religiös und wir hatten auch nichts vom Antisemitismus gespürt. Für mich ganz unerwartet, kam eines Tages in die Gewerbeschule die HJ und die SA mit einer Liste, auf der auch mein Namestand, und sie sagten: ,Raus aus der Klasse! Juden raus!' So mussten wir unter Hieben die Schule verlassen und durften sie nie mehr wieder besuchen. Gleich Anfang April 1938 war es auch, dass mich mein Meisterentließ. Auf einmal mussten wir feststellen, Judenkinder dürfen nicht Lehrlinge sein, dürfen die Schule nicht mehr besuchen! Wir durften keinen Park mehr betreten! Wir durften auf keiner Bank mehr sitzen! [...] Wir durften keinen Fußballplatz mehr betreten! Wir durften in kein Kino mehr gehen! Jetzt hielten wir uns fast ständig zu Hause auf: vier Kinder, der Bruder war wesentlich jünger, in so einer kleinen Wohnung! Die Mutter hat uns nicht mehr auf die Gasse gelassen, weil sie Angst hatte, dass wir in eine Schlägerei verwickelt werden."'8
16 Sodie Formulierungen in einem Bescheid der Abteilung A 7 der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien betreffend Walter B., Einweisung in eine Arbeitsanstalt, aus dem Jahre 1944. WSTLA- MA Abt. 255, A 3/3: Einweisungen 1940-1944, Einweisungen in Arbeitsanstalten A-E. 17 Zustimmung zur Einweisung von Walter B. durch das Rassepolitische Amt der Gauleitung Wien der NSDAP an die Abteilung A 7 der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien. WSTLA - MA Abt. 255, A 3/3: Einweisungen 1940-1944, Einweisungen in Arbeitsanstalten A-E. 18 Kleinmann, F., Über Nacht waren wir nicht „rassenrein". In: Horsky, M. (Hg.), Man muß darüber reden. Schüler fragen KZ-Häftlinge. Wien 1988, S. 43 f.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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Im September 1939 w u r d e Fritz K l e i n m a n n in das Konzentrationslager B u c h e n w a l d verschleppt, wo er später auch seinen Vater wiedertraf, mit d e m er im Oktober 1942 nach Auschwitz transportiert wurde. Anfang 1945 kam Fritz Kleinmann nach Mauthausen. Er hat - ebenso wie sein Vater - überlebt. Kleinmann, der seine Jugend in Konzentrationslagern leben musste.war bei Kriegsende 1945 zweiundzwanzig Jahre alt. In Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern sagt er dazu: „...trotz aller Freude und der vielen Hoffnungen war es für mich nicht einfach. Ich war als Kind ins KZ g e k o m m e n und hatte dort so viele Jahre sein müssen."^ Opfer dieser Auslese-Ideologie waren auch Kinder und Jugendliche, die in Kinderheimen und Erziehungsanstalten oder in Pflegefamilien untergebracht waren - auch wenn sie getauft waren und einer christlichen Konfession angehörten.
Fallbeispiel Kurt M. Kurt M. befand sich 1938 in einem Kinderheim auf dem Gießhübl. Als das Heim 1938 von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übernommen wurde, war für ihn dort kein Platz mehr: „Plötzlich stand 1938 über dem Kinderheim ,NSV-Kinderheim'. Die Buben hatten alle sofort schwarze Hosen, weiße Hemden und Hakenkreuzbinden bekommen. Im Garten wurden niedrige Tische aufgestellt, und es wurde ein Fahnenappell abgehalten und gesungen. Zur selben Zeit hat man einige Kinder, darunter war ich, rausgeholt, und wir durften nicht mehr bei den anderen sein, weil wir angeblich keine Deutschen waren, keine Arier waren, sondern Juden, Zigeuner, Negermischlinge. Im Heim gab es zwei Negermischlinge und Zigeuner. Wir haben sofort kein Besteck mehr bekommen und durften nicht mehr mit den anderen am gleichen Tisch essen. Wenn wir in die Schule gegangen sind, haben uns die Leute angespuckt."20
Kurt M. wurde in ein Heim der Caritas in der Rückertgasse im 16. Bezirk gebracht, das als Sammellager für„rassisch minderwertige Kinder" eingerichtet wurde: „Das Heim wurde dann von der SS übernommen, und da wurden wir sofort alle kahl geschoren; wir durften das Heim auch nicht verlassen. Das Haus hatte für maximal 60 Kinder Platz, aber über kurz oder lang waren da 200,300 Kinder drin. Wir mussten zu dritt auf den Matrat-
19 Ebd., S. 63. 20 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. Wien 1992, S. 126.
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zen liegen, man hatte schon gar keinen Platz mehr gehabt, und es gab fast keine Möglichkeit mehr, aufs Klosett zu gehen."21 Immer wieder kamen neue Kinder und andere wurden weggebracht: „Es wurden Immer Listen von Kindern zusammengestellt, die wegkamen, dafür kamen auch wieder andere ins Heim. Es war wie ein Bahnhof; es kamen am Abend vielleicht so 20,30 Kinder mit Koffern und Packerin an, und am nächsten Tag zur selben Zeit kamen 20,30 weg. Man wusste zuletzt überhaupt nicht mehr, wer da war."22
Fallbeispiel Karl Stojka Karl Stojka, ein „geborener Österreicher" (Jahrgang 1931), wurde 1943 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern als „Zigeuner" nach Auschwitz und später nach Buchenwald und Flossenbürg deportiert. Er berichtet über seine Kindheit in Auschwitz: „Die Kinder von acht bis vierzehn Jahren mussten täglich um halb sieben Uhr aufstehen und ab sieben Uhr Appell stehen. Danach mussten wir wieder abrücken und bekamen ein grausliches, dunkles Getränk, das sie Kaffee genannt haben, einen halben Liter, und etwas, was sie Brot genannt haben, das mussten wir uns alles zu viert teilen. Dann mussten wir wieder antreten, und es ging, für Mädchen, Buben, egal, im Alter von acht bis vierzehn Jahren, aus dem Lager hinaus, und wir mussten Steine schleppen für den Straßenbau. Jeder bekam einen Stein aufgeladen, einmal drei Kilo schwer, fünf Kilo oder mehr, damit marschierte man drei Kilometer. Dann wurde die Last abgeladen und zurück, um die nächste Last aufzuladen. Das ging so bis ein Uhr Mittag. Jeder hatte am Rücken ein Reindl aufgebunden. Mit dem stellten wir uns dann an, und wir bekamen eine Brühe mit Steckrüben und Kartoffeln hineingeschöpft. Den Brei schlangen wir hinunter, und danach wurden wieder Steine geschleppt bis vier Uhr [...] Um vier Uhr mussten wir uns wieder in Fünferreihen aufstellen, 800,900,1200,1500 Kinder, und dann sind wir wieder ins Lager reinmarschiert [...] Am Morgen darauf wieder Morgenpfiff um halb sieben Uhr, sieben Uhr Morgenappell, und spätestens um halb acht Uhr wieder zur Arbeit raus."23
21 Ebd., S. 127. 22 Ebd. 23 Stojka, K., Nach der Kindheit im KZ kamen die Bilder. Herausgegeben von G.Grassl.Wien 1992, S. 27f.
2. Kindererziehung im Nationalsozialismus
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K i n d e r w i e Karl Stojka waren für die Herrenmenschen von Auschwitz keine Kinder:„Wir waren auch keine Erwachsenen. Die haben Tiere besser behandelt als uns." 2 « Stojka hat sich seine Kindheit im KZ als Erwachsener von der Seele gemalt. Zu e i n e m seiner Bilder, „Der Schrei" mit der Bildinschrift „Mein Bruder Ossi Z 5793 in Birkenau 1943 an Hunger und Flecktyphus gestorben" hat Karl Stojka in e i n e m Ausstellungskatalog Folgendes vermerkt:
„Mein Bruder Ossi. In Auschwitz Birkenau kamen wir nach derTätowierung der Häftlingsnummern in das Zigeunerlager. Ossi war sechs Jahre alt. Es gab wenig zu essen, meistens Steckrüben. Eines Tages erkrankte mein Bruder an Flecktyphus und kam in die Krankenbaracke. Dort gab es aber keine ärztliche Hilfe, und Ossi starb - auch an Hunger. Er war kein Verbrecher, er war nur ein einfacher Zigeunerjunge." 25
Fallbeispiel Irma Sperling Irma Sperling, geboren im Januar 1930 in H a m b u r g , w u r d e erstmals A n f a n g 1933 in ein Kinderkrankenhaus eingewiesen, w o sie deutliche Fortschritte in ihrer Entwicklung machte, auch w e n n sie immer noch als geistig und körperlich „zurückgeblieben" eingeschätzt wurde. Professor Villinger (nach 1945 Ordinarius für Psychiatrie in Marburg, ausgezeichnet mit d e m Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1952) konstatierte i m November 1933 freilich ausgesprochenen „Schwachsinn", und Irma wurde daraufhin Ende 1933 in die Alsterdorfer Anstalten verbracht. Im ersten Bericht wird deutlich, „dass mit Beginn der Anstaltsaufnahme nicht nur eine Weiterentwicklung Irmas verhindert wurde, sondern dass auch auf Grund mangelnder Zuwendung und Förderung bereits erlernte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten wieder verloren gingen. Vielmehr führten Art des Umgangs und .Behandlung' zu Abwehrreaktionen des Kindes, die dann im folgenden zu der Einstufung,unheilbar' beitrugen." 26
Mehr und mehr erlahmte Irmas Bereitschaft, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und ihre Fähigkeiten weiter zu entwickeln. Nach vier Jahren Anstaltsunterbringung gehörte sie bereits zu den besonders pflegeaufwendigen und - aus der Sicht ihrer B e t r e u e r - „ s c h w i e r i g e n " Patienten. Im August 1943 wurde Irma Sperling mit anderen Frauen und Mädchen in die Wiener 24 Ebd., S. 28. 25
Ebd., S. 53.
26 Romey, S.,„Unheilbar und nicht mehr arbeitsfähig". DasTodesurteil für Irma Sperling aus den Alsterdorfer Anstalten, die nie Schülerin sein durfte. In: Lehberger, R. und de Lorent, H.-P. (Hg.),„Die Fahne hoch". Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz. Hamburg 1986, S. 262.
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Anstalt „Am Steinhof" transportiert. Zunächst war Irma im Pavillon 21 mit einigen erwachsenen Frauen untergebracht. Verzweifelt bäumte sie sich mit den ihr gegebenen Mitteln gegen die Anstaltsunterbringung auf. Vier Wochen später wurde sie in den Pavillon 15 verlegt, in dem eine der Kinder-Fachabteilungen untergebracht war. Hier wurde Irma Sperling am 8. Januar 1944 ermordet. Wie sie starben 195 der 228 aus Alsterdorf nach Wien verschleppten Frauen und Mädchen.27
27
Romey,„Unheilbar u n d nicht m e h r a r b e i t s f ä h i g e s . 2 7 5 .
3
Institutionen der filS-Fürsorge
Zur Struktur des Fürsorgewesens im NS-Wien Vera Jandrisits
Die Hauptabteilung V „Volksgesundheit und Volkswohlfahrt'", geleitet von Stadtrat Max Gundel, war das Amt, von dem aus „das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem der Stadt Wien nach nationalsozialistischen Grundsätzen ausgerichtet" wurde.2 Der Hauptabteilung waren u. a. die Abteilungen Gaujugendamt und allgemeine Fürsorge untergeordnet,3 auch das Hauptwohlfahrtsamt unterstand der Hauptabteilung. Im April 1942 wurde im Rahmen einer reichsweiten Neuorganisation die Hauptabteilung F „Jugendwohlfahrt und Jugendpflege" gebildet. 4 Diese Hauptabteilung, geleitet von Stadtrat Karl Kowarik.warin vier Abteilungen unterteilt: • Fi: Allgemeine Verwaltungsabteilung für Jugendwohlfahrt und Jugendpflege, • F2: Gaujugendamt, dem die Bezirksjugendämter fachlich unterstellt waren, • F3:Verwaltung der Jugendfürsorgeanstalten, • F4: Jugend pflege.5 Das Gaujugendamt 6 (F2) war für die homogene und zweckdienliche Arbeit der Bezirksjugendämter zuständig. Dem Gaujugendamt kam somit die Aufgabe zu, für „die Aufstellung gemeinsamer Richtlinien" der Bezirksjugendämter und für „geeignete Maßnahmen für die zweckentsprechende und einheitlicheTätigkeit" zu sorgen und die Ämter zu beraten. Die Kontrolle der Jugendämter hatte jedoch nicht das Gaujugendamt, sondern der Reichsstatthalter
1
Die Hauptabteilung V wurde 1941 in Hauptabteilung E „Gesundheitswesen und Volkspflege" umbenannt.
2
Vgl.Czech, H., Selektion und Kontrolle. Der „Spiegelgrund" als zentrale Institution der Wiener Jugendfürsorge zwischen 1940 und 1945. In: Gabriel, E. und Neugebauer, W. (Hg.),Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien.Teil II. Wien 2002,5.173.
3
Vgl. Handbuch des Reichsgaues Wien, 63764. amtlich redigierter Jahrgang. Wien 1941, S. 519.
4
Vgl.Czech, H., Selektion und Kontrolle. Der „Spiegelgrund" als zentrale Institution der Wiener Jugend-
5
fürsorge zwischen 1940 und 1945. Unveröffentl.Text, S. 18. Vgl. WStLA, Mag.-Abt. 212, A2-1625/42, Jung 1942,1.
6
Als Gaujugendamt wurde die Zentrale des Jugendamtes bezeichnet; vgl. Jugendamt Wien (Hg.), 70 Jahre Wiener Jugendamt. Wien 1987,5.33.
140
3. Institutionen der NS-Fürsorge
über. 7 Neben Beamten und (Haupt-)Fürsorgerinnen waren Kindergärtnerinnen, Horterzieherinnen und Erziehungsberaterinnen im G a u j u g e n d a m t tätig. 8 Nach § IO, Abs. i der Verordnung für Jugendwohlfahrt in der Ostmark 9 fielen „Pflegekinder, Vormundschaftswesen, Schutzaufsicht, Fürsorgeerziehung einschließlich Erziehungsberatung, Jugendgerichtshilfe, Jugendpolizeihilfe", die Mitarbeit beim Jugendschutzgesetz und G e s u n d heitsfürsorge sowie die Fürsorge für Lehrlinge in das Aufgabengebiet des Gaujugendamtes. 1 0 Die Obliegenheiten der Kreisjugendämter bzw. Stadtjugendämter wurden durch § 4 der Jugendwohlfahrtsverordnungfestgelegt. Dazu zählten:
„• Schutz der Pflegekinder, • Mitwirkung im Vormundschaftswesen, • Mitwirkung bei der Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung (FE), • Jugendgerichts- und Jugendpolizeihilfe, • Mitwirkung bei der Durchführung des Jugendschutzgesetzes, • Mitwirkung bei der Durchführung der Gesundheitsfürsorge.""
Das Jugendamt war, so wie die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), vor allem für die „erbgesunden" Minderjährigen zuständig, aber auch für so genannte „Minderwertige", w e n n diese nach N S - M a ß s t ä b e n „wertvolle Anlagen trotz Schädigung" aufwiesen. „... so darf nicht gefolgert werden, dass im neuen Staate etwa die Hilfe für gefährdete und verwahrloste, für geistig, seelisch oder körperlich a b n o r m e Minderjährige, also die Psychopathen-, Schwachsinnigen-, Krüppel- und T a u b s t u m m e n f ü r s o r g e vernachlässigt oder ganz außer acht gelassen wird." Wurde keine Möglichkeit zur Eingliederung der genannten Gruppen konstatiert, sollten diese vor allem in konfessionellen H e i m e n „primitiv" bewahrt werden. 12 Die Jugendämter waren dazu verpflichtet, mit den G e s u n d h e i t s ä m t e r n in Hinblick a u f gesundheitliche Hilfe und mit den freien Wohlfahrtsverbänden (NSV, konfessionelle Wohlfahrtsverbände, Rotes Kreuz) zusammenzuarbeiten. Vor allem aber sollten NSV und HJ hinzugezogen
7
Wolschansky, H., Jugendwohlfahrt. In: Dennewitz, B. (Hg.), Schriftenreihe. Verwaltung der Alpen- und Donau-Reichsgaue. Wien 1942, S. 6. 8 Vgl. Handbuch des Reichsgaues Wien, S. 521. 9 Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark (JWVO), ab 20. März 1940: Verordnung über Jugendwohlfahrt in den Alpen- und Donau-Reichsgauen, zit. nach Wolschansky, Jugendwohlfahrt, S. 2. 10 Handbuch des Reichsgaues Wien, S. 521. 11 Ziering, G., 90 Jahre Jugendamt Ottakring 1913 bis 2003. Von der Berufsvormundschaft zur Jugendwohlfahrt der MAG ELF. Wien 2002, S. 26 f. 12 Spiewok, E. C., Der Aufbau des Wohlfahrtswesens im nationalsozialistischen Staat. In: Lammers, H. und Pfundtner, H. (Hg.), Grundlagen, Aufbau und Wirtschaftsordnung des nationalsozialistischen Staates. Berlin 1937, S. 26 f.
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werden. Die Nationalsozialisten verfolgten dabei das Ziel, die gesamte deutsche Jugend zu erfassen. Durch die Hinzuziehung von Beiräten -Vormundschaftsrichtern, Lehrern und Kreisamtsleitern der N S V - sollte die Erfüllung des „nationalsozialistischen Erziehungszieles" verwirklicht werdend Da es in Österreich bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kein einheitliches Jugendwohlfahrtsgesetz gegeben hatte, versuchte die NSV in der Jugendhilfe eine Vormachtsstellung zu erreichen und die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Familien und bei Fremdunterbringungen durch die Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark (JWVO) für sich zu sichern.' 4 Die Tätigkeit der Jugendämter w u r d e laut Mues von der NSV sukzessive „auf die Kontrolle und staatliche Eingriffsmaßnahmen reduziert". 1 *
Familienpflege
Die Unterbringung von Minderjährigen in Familienpflege wurde unter d e m Nationalsozialism u s forciert, da die Familie als „Keimzelle des Staates" galt und die Unterbringung in Pflegef a m i l i e n eine Erziehung im Sinne des nationalsozialistischen G e d a n k e n g u t s gewährleisten sollte.' 6 Familienpflege w u r d e als Bestandteil einer v o r b e u g e n d e n Jugendhilfe propagiert, d a m i t den Kindern „richtige Pflege und Erziehung zu Teil werden" und S c h ä d i g u n g oder Verw a h r l o s u n g verhindert würden.' 7 Pflegestellen, die eine solche Erziehung nach Einschätzung der neuen Machthaber nicht bieten konnten, w u r d e n aufgehoben.' 8 Und nicht zuletzt sollte die Unterbringung von Kindern in Familienpflege auch dazu beitragen, die z u m größten Teil dauernd überfüllten Kinderheime zu entlasten.'' Vor In-Kraft-Treten der Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark vom 20. März 1940 hatten für Pflegekinder die Gesetze vom 4. Februar 1919 StGBI. Nr. 76 und vom 1. April 1919 StGBI. Nr. 202 Gültigkeit. In diesen Gesetzen waren der Schutz von Ziehkindern und unehelichen Kindern und die Vollzugsanweisung von Ziehkindern geregelt. Das Jugendamt entschied über eine Bewilligung der A u f n a h m e von Pflegekindern. 2 0 Ziehkinderaufsichtsstellen überprüften durch 13 Ziering, 90 Jahre Jugendamt, S. 27; Spiewok, Der Aufbau, S. 29 f. 14 Kreitner, C., Öffentliche „Jugendfürsorge" während des Nationalsozialismus in Österreich 1938-1945. Diplomarbeit Klagenfurt 2002, S. 33 f. 15 Mues, I., Die Frau in der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997,5.41. 16 Vgl. Spiewok, Der Aufbau, S. 27 t. 17 Vgl. Kneißler, P., Pflegestellen-Vermittlung und -Beaufsichtigung, eine vordringliche Aufgabe, in:Nationalsozialistischer Volksdienst. 7. Jg. 1940, Heft 1, S. 1-7, hier S. 3. 18 Vgl. Spiewok, Der Aufbau, S. 28. 19 Kneißler, Pflegestellen, S.4. 20 Vgl.Wolschansky,Jugendwohlfahrt, S. 6.
3- Institutionen der NS-Fürsorge
142
Fürsorgerinnen laufend die Pflegeverhältnisse jener Kinder, die in Pflegefamilien, Privatanstalten oder auch in der Herkunftsfamilie untergebracht waren. 21 Im Jahrig3i waren insgesamt 4700 Kinder in familienfremden Pflegestellen untergebracht. 22 Die Praxis der Pflegevermittlung wurde auch nach der Zeit des Roten Wiens, im Ständestaat, kaum verändert. Im Frühjahr 1934 wurde mit der Errichtung von Familienasylen begonnen. Bescheidene Wohnungen wurden gebaut, damit Familien in Fällen von Wohnungsnot, Delogierung oder Arbeitslosigkeit nicht getrennt würden. So sollte verhindert werden, dass die Kinder in die Pflege der Stadt Wien kamen, die Eltern aber in ein Obdachlosenheim.^ Mit der Jugendwohlfahrtsverordnung (JWVO) wurde das Pflegewesen in Österreich dann erstmals gesetzlich geregelt. In den §§ 15 bis 26 wurden der Begriff des Pflegekindes, die Erlaubniserteilung der Aufnahme eines Pflegekindes, die Aufsicht über alle Pflegekinder, die vorläufige Unterbringung, die behördlich angeordnete Familien- und Anstaltspflege und die Strafbestimmungen geregelt. 24 Wie im gesamten Fürsorgewesen nahm die NSV auch im Pflegewesen eine zentrale Rolle ein. Die Erlaubniserteilung, Pflegekinder aufnehmen zu dürfen, und deren Widerruf blieben jedoch Aufgabe des Jugendamtes. Auch für die vorläufige Unterbringung von Pflegekindern - bei Gefahr im Verzug - war weiterhin das Jugendamt zuständig. An die NSV wurde die Ermittlung von Pflegestellen und daraufhin deren Vorschlag an das Jugendamt übertragen. Darüber hinaus hatte die NSV die Überwachung der Pflegekinder, die Überprüfung der Pflegeparteien und die Pflegemutterschulung inne. 2 ' Das Jugendamt hatte bei dieser Kompetenzverteilung an sich die stärkere Stellung, da es über die Einwilligung, ein Pflegekind aufnehmen zu können, und deren Widerruf entschied. Die NSV jedoch suchte die Pflegefamilien aus und überprüfte sie, d.h. das Jugendamt konnte die Erlaubnis nur an Pflegeeltern erteilen, die von der NSV ausgesucht und überprüft worden waren.
Pflegekinder Als Pflegekinder galten nach der JWVO von 1940 Kinder unter 14 Jahren, die entweder permanent oder regelmäßig für einen Teil des Tages fremduntergebracht waren. Kinder, die bei ihren Verwandten bis zum dritten Grad lebten, oder uneheliche Kinder, die sich bei ihren leiblichen
21
Vgl.Wolfgruber,G., Z w i s c h e n Hilfestellung und sozialer Kontrolle.Jugendfiirsorge im Roten W i e n , d a r -
22
Vgl. J u g e n d a m t W i e n (Hg.), 7 0 Jahre W i e n e r j u g e n d a m t . W i e n 1987,5.17.
gestellt a m Beispiel der K i n d e s a b n a h m e . W i e n 1997,S. 179. 23
V g l . e b d . , S . 31 f.
24
V g l . W o l s c h a n s k y , J u g e n d w o h l f a h r t , S . 7 f.
25
Vgl. Vorländer, H., Die NSV. Darstellung und D o k u m e n t a t i o n einer nationalsozialistischen Organisation. Bopard a. Rhein 1 9 8 8 , S.470.
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Müttern in Pflege befanden, galten nicht als Pflegekinder. Bei den Pflegefamilien ist zu unterscheiden, ob sie Kinder entgeltlich, gewohnheitsmäßig oder gewerbsmäßig in Pflege nahmen.26 Hier einige erläuternde Beispiele: Ein uneheliches Kind galt als Pflegekind, wenn für die Unterbringung Pflegegeld an die jeweilige Familie bezahlt wurde. Ein eheliches Kind, das bei einer Tante untergebracht war, die nicht gewohnheitsmäßig und entgeltlich Pflegekinder aufnahm, galt nicht als Pflegekind. Ein Kind, das nur vorübergehend bei Fremden untergebracht war, galt als Pflegekind, wenn die Pflegeeltern gewohnheitsmäßig Kinder aufnahmen und betreuten.27 Folgende Kinder und Jugendliche wurden in Pflegefamilien untergebracht: Voll- und Halbwaisen, uneheliche Kinder, Kinder, deren Eltern geschieden oder ihre Ehen zerrüttet waren, Kinder, deren Mütter berufstätig waren, Kinder, deren Eltern aufgrund ihres Verhaltens eine Erziehung im Sinne des Nationalsozialismus nach Einschätzung der Behörden nicht erwarten ließen.28 Jede Pflegepartei, die ein Pflegekind aufnehmen wollte, benötigte eine Einwilligung des zuständigen Jugendamtes. Die Voraussetzungen für die Bewilligung, ihr Erlöschen und für die Zurücknahme der Bewilligung waren nicht im Gesetz festgelegt. Nach §i8derJWVO hatte das jeweilige Gaujugendamt die Amtsgewalt, die Bestimmungen anzupassen und festzulegen.29 Die Pflegefamilie musste v. a. in politischer Hinsicht zuverlässig und „erziehungsfähig" sein, damit die physische, psychische und moralische Entwicklung des Kindes im Sinne des Nationalsozialismus gewährleistet war.3° „Mit Rücksicht auf das nationalsozialistische Erziehungsziel muß besonderes Gewicht darauf gelegt werden, daß die Pflegeperson in weltanschaulicher und charakterlicher Hinsicht eine Erziehung des Kindes zu einem wertvollen Glied der Volksgemeinschaft erwarten lässt."3' Den jeweiligen Pflegeparteien wurde per Bescheid mitgeteilt, ob sie Pflegekinder aufnehmen durften oder nicht.32 Alle Pflegekinder und alle unehelichen Kinder, die bei ihren leiblichen Müttern lebten, standen unter der Aufsicht des jeweiligen Jugendamtes. Eine Fürsorgerin vom Jugendamt bzw. eine Volkspflegerin der NSV kontrollierte in periodischen Hausbesuchen „das gesundheitliche und sittliche Gedeihen"« der Kinder. Die Mütterberatungsstellen, Kindergärten und Schulen hatten ebenfalls die Aufgabe, die Pflegeeltern zu überwachen.
26 Vgl.Wolschansky,Jugendwohlfahrt,S.7 f. 27 Vgl. ebd., S. 8. 28 Vgl. Christians, I., Das Pflegekind und seine Beaufsichtigung. In: Nationalsozialistischer 1943, Heft 2, S. 33-37, hier S. 33. 29
Vgl.Wolschansky,Jugendwohlfahrt,S.9.
30 Vgl. Christians, Das Pflegekind, S. 34. 31
Wolschansky, Jugendwohlfahrt, S. 9.
32
Vgl. ebd.
33
Ebd.,S. 11.
Volksdienst. 9. Jg.,
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3. Institutionen der NS-Fürsorge Die tatsächliche Kontrolle der Pflegestellen wurde jedoch meist von der NSV, die die Beauf-
sichtigung der Familien als eine ihrer zentralen Aufgaben sah, durchgeführt. Das Jugendamt war aufgrund der geringen Kapazitäten nur imstande, die jeweiligen Familien einmal zu prüfen, die NSV jedoch hatte mit ihren zahlreichen (ehrenamtlichen) Helfern die Möglichkeit, die Familien laufend zu betreuen. Dadurch übernahm die NSV, neben der Auswahl und Überprüfung der Pflegestellen, nach kurzer Zeit auch die Betreuung und Beaufsichtigung der jeweiligen Familien.
„Zur Durchführung dieser sehr wichtigen Teilaufgabe der Pflegekindervermittlung benennt die NSV-Jugendhilfe Helfer und Helferinnen, sogenannte Betreuer und Betreuerinnen, die ausschließlich den Auftrag haben, in engster Zusammenarbeit mit der NSDAP, Amt für Volkswohlfahrt, durch intensive Überwachung und Beaufsichtigung der Pflegestelle die Interessen des Pflegekindes wahrzunehmen." 34
Im Jahr 1938 kamen 4 6 0 7 Kinder und Jugendliche in Familienpflege. Im Jahr 1 9 4 0 galten insgesamt 7 9 2 4 Minderjährige als städtische Pflegekinder, 4217 von ihnen wurden in Pflegefamilien untergebracht. Die Jugendämter der Stadt Wien waren dabei bestrebt möglichst viele Kinder nicht nur in Wien in Pflege zu geben, sondern vor allem auf dem Land unterzubringen. So wurden von den 4217 Kindern und Jugendlichen, die 1940 in Pflegefamilien untergebracht wurden, 1887 an Pflegeparteien in Wien vermittelt und 2330 kamen in Landpflege. 35 Die Unterbringung der Pflegekinder auf dem Land hatte drei feststellbare Gründe: Aufgrund der hohen Anzahl von Pflegekindern fehlten vor allem in größeren Städten die nötigen Pflegeplätze. 36 Darüber hinaus sollte den Großstadtkindern auf dem Land Bodenständigkeit sowie eine stärkere Verwurzelung und Verbundenheit mit der Heimat vermittelt werden." Die Vermittlung von Kindern - bereits im ersten Lebensjahr - in die Provinz wurde außerdem auch als Möglichkeit gesehen, der Landflucht entgegenzuwirken. 3 8 Diese Kinder sollten nach der Schulzeit einen ländlichen Beruf erlernen, d a m i t sie auch später a u f d e m Land lebten und nicht in die Stadt zogen. Die Bereitschaft der Menschen auf dem Land, ein Pflegekind aufzunehmen, hatte ihrerseits offenbar vor allem wirtschaftliche Gründe. Alle Pflegeeltern erhielten für das jeweilige Kind Pflegegeld und Kleidung. 39 Darüber hinaus waren die Pflegezöglinge billige Arbeitskräfte, da es nicht verboten war, Kinder zu landwirtschaftlichen Arbeiten heranzuziehen. 4 0
34 35 36 37 38 39 40
Christians, Das Pflegekind, S. 34. Vgl.WStLA,Mag.Abt.212,A5/1 Hartl, 1940,1 f. Vgl.Wolschansky,Jugendwohlfahrt,S.u. Vgl. Spiewok, Der Aufbau, S. 27. Vgl. Kneißler, Pflegestellen,S.4. Vgl. KÜSt, 1938. Vgl. MA11 P, Johann D.
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Die Unterbringung der Kinder erfolgte nicht wahllos über das gesamte ländliche Gebiet des Reichsgaues, sondern man versuchte die Wiener Pflegekinder in einem begrenzten Gebiet unterzubringen. So existierten im heutigen Südburgenland und der Südsteiermark die Pflegekolonien Jennersdorf und Hartberg. Zum Kreis Jennersdorf gehörten Jennersdorf und die umliegenden Ortschaften Mogersdorf, Weichselbaum, Heiligenkreuz, Doiber,Grieselstein, Rohrbrunn, St. Martin, Rax, Wallendorf, Krobotek, Windisch Minihof, Minihof Liebau, Neuhaus, Welten, Eisenberg und Rohrbach. Mindestens 100 Wiener Kinder des Geburtenjahrgangs 1938 wurden in den Kreis Jen nersdorf vermittelt. 41 Die Unterbringung der Wiener Pflegekinder in den möglichst selben Ortschaften folgte wahrscheinlich der Grundidee einer vereinfachten Verwaltung und Kontrolle der Kinder und Pflegestellen. Zwischen dem Reichsgau Wien und dem Gau Steiermark gab es eine Vereinbarung, dass Wiener Pflegekinder nur in die genannten zwei Kreise vermittelt wurden. Eine Vermittlung steirischer Pflegekinder nach Hartberg und Jennersdorf hingegen konnte nur erfolgen, wenn der Reichsgau Wien zustimmte. 42 Die Vermittlung von Wiener Kindern in das heutige Burgenland bzw. in die Steiermark war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Seit 1905 wurden Pflegekolonien des niederösterreichischen Zentralkinderheims aufgebaut. Zu einer Kolonie gehörten die Gemeinden eines Pfarrsprengels, mehrere benachbarte Pfarrsprengel konnten zu einer Kolonie vereinigt werden. In der Regel umfasste eine Pflegekolonie mindestens 20 Kinder. Im Jahr 1916 bestanden 229 Pflegekolonien, in denen 7365 Kinder untergebracht waren. In der Steiermark gab es sieben Kolonien mit 419 Kindern, in Ungarn (zum Teil das spätere Burgenland) gab es sechs Kolonien mit 479 Kindern.«
41
Vgl. K Ü S t , i 9 3 8 . Die A b k ü r z u n g „ K Ü S t , i 9 3 x " wird im Folgenden für die Kinderkarteikarten des entspre-
42
V g l . W S t L A . M A 2 1 2 , A 5 / 1 - 2 , Pamperl 1 9 4 0 , 1 .
43
L a n d e s a u s s c h u s s der E r z h e r z o g t u m s Österreich unter der E n n s (Hg.), Die F ü r s o r g e - E i n r i c h t u n g e n der
c h e n d e n G e b u r t e n j a h r g a n g s der KÜSt verwendet.
niederösterreichischen L a n d e s v e r w a l t u n g z u m S c h u t z e d e s Kindes. A u s A n l a s s der T h r o n b e s t e i g u n g Seiner k a i s . u . k ö n . A p o s t o l i s c h e n M a j e s t ä t Karl I.Wien 1 9 1 7 , S . 8 2 f. D e m B e z i r k s h a u p t m a n n von Jennersdorf, Hofrat Dr. Janics, und d e n Sozialarbeiterinnen des J u g e n d a m t e s Jennersdorf w a r keine Pflegekolonie für Kinder a u s W i e n vor d e m Zweiten Weltkrieg und w ä h r e n d des Krieges bekannt. Hofrat Dr. Janics berichtete der Verfasserin g e g e n ü b e r j e d o c h von einer Pflegekolonie von W i e n e r Kindern n a c h d e m Zweiten Weltkrieg, d. h. die Kolonie blieb a u c h nach d e m Krieg bestehen und w u r d e weitergeführt.
146
3. I n s t i t u t i o n e n der N S - F ü r s o r g e
Fürsorgeerziehungsanstalten im Raum Wien«4 Innerhalb der Fürsorgeerziehung unterschied man drei Kategorien von Anstalten: Beobachtungsheime (Ausleseheime), Jugendheimstätten und Erziehungsanstalten.« In den Beobachtungsheimen 46 wurden Minderjährige auf ihre Erziehungsfähigkeit hin untersucht, wobei diese kaum durch objektive Kriterien festgestellt wurde. 47 Für „erbgesunde" Kinder und Jugendliche war die Unterbringung in Jugendheimstätten vorgesehen. In Erziehungsanstalten wurden die „gemeinschaftsgefährdenden" Kinder und Jugendlichen untergebracht; sie wurden dort nicht erzogen, sondern zwangssterilisiert und „bewahrt". 48 „Die Bewahrung innerhalb der FE war gedacht für die Grenzfälle zwischen den Normal- und Unerziehbaren." 49 Im März 1940 waren insgesamt 261 Kinder und Jugendliche aus Wien in Fürsorgeerziehungsanstalten untergebracht. Als Fürsorgeerziehungsanstalten für männliche Jugendliche galten die Erziehungsanstalt in Eggenburg, die 145 Jugendliche aufnehmen konnte, und die Landeserziehungsanstalt in Korneuburg, die für 30 schulpflichtige Knaben aus Wien Platz bot. Schulpflichtige Jungen sollten in das spätere NSV-Heim Wien 11, Dreherstraße 53, überstellt werden, das für 80 „schwer erziehbare" Kinder vorgesehen war. In der Erziehungsanstalt in Theresienfeld (81 Plätze) und in der Erziehungsanstalt Wiener Neudorf (24 Plätze) waren 105 über 14-jährige Mädchen untergebracht. Diese zwei Anstalten wurden zu diesem Zeitpunkt noch konfessionell geführt, die Erreichung des „nationalsozialistischen Erziehungszieles" schien in diesen klösterlichen Heimen jedoch nicht gewährleistet zu sein. Die Anstalt in Wiener Neudorf sollte daher von der Stadt Wien gepachtet werden und für 300 „Fürsorgeerziehungsfälle" Platz schaffen. Schulpflichtige Mädchen wurden in die städtischen Erziehungsanstalten in Klosterneuburg, Stadlau und Unter Olberndorf überstellt. 50
44
Seit I . O k t o b e r 1 9 3 8 galt d a s „Reichsgesetz über G e b i e t s v e r ä n d e r u n g e n i m Land Österreich". S o m i t w u r d e n die G e m e i n d e n d e s G a u e s W i e n , die bisher n o c h n i c h t v e r w a l t u n g s m ä ß i g m i t der Stadt vereinigt w a r e n , in e i n e V e r w a l t u n g s e i n h e i t z u s a m m e n g e f ü h r t . A m 15. O k t o b e r 1 9 3 8 w u r d e d u r c h e i n e u m f a s s e n d e E i n g e m e i n d u n g , initiiert v o m e r s t e n n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n B ü r g e r m e i s t e r S A - B r i g a d e f ü h r e r Ing. Dr. H e r m a n n N e u b a u e r , die s t ä d t i s c h e V e r w a l t u n g s e i n h e i t „ G r o ß - W i e n " geschaffen. N a c h erfolgter E i n g e m e i n d u n g sollte s i c h „ G r o ß - W i e n " über 1218 k m 2 e r s t r e c k e n u n d 2 . 0 8 7 . 0 0 0 E i n w o h n e r z ä h l e n . „ G r o ß - W i e n " w u r d e in 2 6 Bezirke geteilt.
45
Vgl. K u h l m a n n , C., Erbkrank oder e r z i e h b a r ? J u g e n d h i l f e als Vorsorge u n d A u s s o n d e r u n g in der Fürsorg e e r z i e h u n g in W e s t f a l e n von 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . W e i n h e i m bei M ü n c h e n 1 9 9 3 , S. 130.
46
W i e b e i s p i e l s w e i s e die „ H e i l p ä d a g o g i s c h e Klinik d e r S t a d t W i e n , A m S p i e g e l g r u n d ' S ä u g l i n g s - u n d
47
Vgl. K u h l m a n n , Erbkrank oder erziehbar, S. 128.
48
Vgl. ebd., S. 130.
Kleinkinderabteilung".
49
Ebd., S. 147.
50
Vgl. W S t L A M a g . A b t . 212, A 5 / 1 - 2 , 1 9 4 0 , 1 - 9 .
Vera Jandrisits
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„Wichtig ist hiebei, dass in der Anstalt für schulmündige Mädchen auch die Möglichkeit einer Berufsausbildung [...] geschaffen wird, damit das Endziel der,Fürsorgeerziehung' auch tatsächlich erreicht werden kann. Es handelt sich hiebei darum, wenigstens denjenigen Zustand zu erreichen, den die Fürsorgeerziehungsanstalten des Altreichs bereits als Selbstverständlichkeit durchgeführt haben."51
G e r a d e hier zeigt sich, dass Fürsorgeerziehung nicht für alle gedacht war: Jüdische Kinder, „Zigeunerkinder" und „Mischlinge" sollten in den staatlichen Erziehungsanstalten und den N S V - H e i m e n nicht untergebracht werden. Bis z u m Erlass des Reichsministers des Innern vom 20. S e p t e m b e r i 9 4 3 war es jedoch noch zulässig, für minderjährige Juden und „Zigeuner" Fürsorgeerziehung anzuordnen. 5 2 Diesem Erlass zufolge galt die V e r h ä n g u n g der Fürsorgeerzieh u n g über Juden und „Zigeuner" als nutzlos, sie verursache nur Kosten und eine unverantwortbare Belastung für die Erziehungsanstalten und die dort untergebrachten deutschen Zöglinge. Stattdessen sollten minderjährige Juden und „Mischlinge" im Falle von V e r w a h r l o s u n g oder Straffälligkeit an die Staatspolizei,„Zigeuner" und „Zigeunermischlinge" an die Kriminalpolizei gemeldet werden. Kinder und Jugendliche wurden daraufhin von der Staatspolizei bzw. der Kriminalpolizei in Konzentrationslager" deportiert. Doch bereits ab März 1943 wurden minderjährige „Zigeuner" und „Zigeunermischlinge" aus den Erziehungsanstalten und Jugendkonzentrationslagern 5 4 nach Auschwitz deportiert. 55
Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt: Entstehung, Aufgaben, Erfolge
Im Folgenden soll die Entwicklung der NSV als eine der wichtigsten N S - O r g a n i s a t i o n e n beschrieben werden. Die NSDAP verfügte vor der M a c h t ü b e r n a h m e im Jahr 1933 über keine Prog r a m m e oder Konzepte einer möglichen Sozial- und Wohlfahrtspolitik. A m Anfang stand die NSDAP der Wohlfahrtspflege sogar eher ablehnend gegenüber. 56
51 52 53 54
55 56
WStLA Mag. Abt. 212, A5/1-2,1940,7; der erwähnte „Zustand" wird in diesem Dokument nicht näher beschrieben. Fings, K. und Sparing, F., „tunlichst als erziehungsunfähig hinzustellen". Zigeunerkinder und -jugendliche: Aus der Fürsorge in die Vernichtung. In: Dachauer Hefte, 91993, S. 159-180, hier S.179. So wurde Ludwig M., geboren am 5. März 1938, als „Zigeunerkind" im August 1944 in ein Zigeunerlager deportiert (KÜSt, 1938 Ludwig M.). Landesjugendämter überstellten „Zigeuner" und „Zigeunermischlinge" in die Jugendschutzlager Moringen und Uckermark, da es sich bei diesen um „schwererbbeschädigte asoziale" Fälle handele, vgl. Fings/Sparing,„tunlichst als erziehungsunfähig hinzustellen",S. 176. Vgl. ebd., S.179 f. Vgl. Hammerschmidt, P., Die Wohlfahrtsverbände der NSV. Die NSV und die konfessionellen Verbände
3- Institutionen der NS-Fürsorge
148
Der NSV vorausgegangen war die G r ü n d u n g der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt Croß-Berlin" im September 1931 durch Erich H u m b e r t und H e r m a n n Kluge. 57 Zu dieser Zeit war diese Organisation nur eine von vielen Selbsthilfeorganisationen der NSDAP, zu deren Klientel SA-Schläger und ihre A n g e h ö r i g e n zählten. 5 8 Bereits im Jahr 1932 g e n ü g t e den G r ü n d e r n der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt Groß-Berlin" die Aufgabe einer innerparteilichen Hilfsorganisation nicht mehr. In der Betreuung der sozial Schwachen, über die Parteimitglieder hinaus, sah man vielmehr einen politischen Auftrag. 59 Die i m m e r größer werdende Popularität der„Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt GroßBerlin" stieß bei vielen NSDAP-Mitgliedern a u f Ablehnung. Die NSDAP versuchte sich anfangs von dieser Organisation zu distanzieren: M a n erwog sogar ein Verbot. Hans Frank, Leiter der Rechtsabteilung der NSDAP, erreichte, dass sich der Verein nicht mehr nationalsozialistisch nennen durfte. Auf B e m ü h e n von Eva von Schröder (eine Vertraute Hitlers), Ingeborg Altgelt (Journalistin) sowie des Ehepaars Goebbels wurde dieses Verbot wieder aufgehoben. Darüber hinaus forderten die drei genannten Frauen die parteiamtliche Anerkennung der NSV. 60 Nach der M a c h t ü b e r n a h m e der NSDAP kam es bereits a m 3. Mai 1933 zur formellen Anerkennung des Vereins:,,Die NS-Volkswohlfahrt (e.V.) wird hiermit als Organisation innerhalb der Partei für das Reich anerkannt. Sie ist zuständig für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge und hat ihren Sitz in Berlin." 61 Z u m Leiter der „NS-Volkswohlfahrt e.V." wurde der frühere Kreisleiter und Gauinspekteur der Inspektion 1 des G a u e s Groß-Berlin, Erich Hilgenfeldt, bestellt. 62 Laut Vorländer hatte die A n e r k e n n u n g der NSV nicht den Beweggrund, dass die W o h l f a h r t ein wesentlicher Programmpunkt der NSDAP geworden w ä r e - v i e l m e h r sah m a n durch eine reichsweite Organisation die Möglichkeit, soziale Unruhen bereits i m Keim ersticken zu können. 63 Die nun offiziell anerkannte NSV sah ihren Auftrag darin, das gesamte Wohlfahrtswesen in nationalsozialistischer Hinsicht neu zu gestalten. In ihrer Satzung vom 14. A u g u s t 1933 übern a h m die NSV alle Gesundheitsangelegenheiten des deutschen Volkes. 64 Binnen kürzester Zeit wurde aus einer ursprünglich innerparteilichen Hilfsorganisation die zweitgrößte Organisation
Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus. Opladen 1999, S. 135-
57 Vgl. Hansen, E., Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat" des Dritten Reiches. Augsburg 1991, S. 8. 58 Vgl. Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände, S. 135. 59 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 8 f.; Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände, S. 135 f. 60 Vgl. ebd. 61 Ebd., S. 154. 62 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 9. 63 Vgl.Vorländer, Die NSV,S.u. 64 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 14.
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der NSDAP nach der „Deutschen Arbeitsfront".6* Die Mitgliedszahlen stiegen ständig. Im Jahr 1934 hatte die NSV 3,7 Millionen Mitglieder, im Jahr 1941 zählte man bereits 16 Millionen und 1943 stieg die Mitgliedszahl auf über 17 Millionen.66 Im Jahr 1936 hatte die NSV bereits 562 Anstalten der Gesundheitsfürsorge, 67 der Erziehungsfürsorge 68 und der Wirtschaftsfürsorge 69 in Eigentum, Pacht, Miete oder unter Aufsicht genommen. 70 Der organisatorische Aufbau der NSV erfolgte im Sommer 1933. Die Struktur entsprach dem Aufbau der NSDAP.71 An der Spitze stand die Reichsleitung-das Hauptamt für Volkswohlfahrt - in Berlin.72 Diese Einrichtung war für alle Dienststellen und angeschlossenen Verbände zuständig, die sich mit der freien Wohlfahrtspflege und Fürsorge befassten.73 1936 setzte sich das Hauptamt für Volkswohlfahrt in Berlin aus fünf Ämtern zusammen: Organisationsamt, Amt für Finanzverwaltung, Amt für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe, Amt für Volksgesundheit, Amt für Werbung und Schulung.74 Diese Zahl vervielfachte sich im Lauf der Zeit mit zunehmender Bedeutung des Hauptamtes: Im Jahr 1942 war das Hauptamt in folgende Ämter unterteilt: Organisationsamt, Amt Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe, Amt Volksgesundheit, Amt Werbung und Schulung, Finanzverwaltung, Verbindungsstelle München, Winterhilfswerk (WHW), Ernährungshilfswerk, NS-Volkswohlfahrt.« Die Leitung der Unterabteilung „Amt für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe" des Hauptamtes für Volkswohlfahrt hatte Oberbefehlsleiter Hermann Althaus inne.76 Die Abteilung für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe unterteilte sich wiederum in die Abteilungen Allgemeine Wohlfahrtspflege, Familienhilfe, Jugendhilfe, Erholungspflege, Anstalts- und Sonderfürsorge und Schwesternwesen.77 Die Untergliederung entsprach weiterhin der NSDAP-Struktur: In den Gau-, Kreis- und Ortsamtsleitungen wurden Ämter für Volkswohlfahrt errichtet. In diesen Ämtern erfolgte wiederum eine Unterteilung in Organisationsamt, Amt für Finanzverwaltung,
65 Vgl. ebd., S.i. 66 Vgl. ebd., S. 30. 67 Krankenhäuser, Kinderheilstätten, Nervenheilanstalten, Anstalten für Geschlechtskranke, Anstalten für Alkoholkranke, Heilstätten fürTbc- und Lungenkranke, Kinderheime, Säuglingsheime usw. 68 Erziehungsheime für Kleinkinder und Schulpflichtige, Spezialheime für Schwererziehbare und Gefährdete,„Psychopathen heime",Lehrlingsheime und Heime für Berufstätige. 69 Altersheime, Obdachlosenheime, Heilsarmeeheime, Heime für „Wanderer", Heime für einen „besonderen Berufsstand". 70 Vgl.Spiewok, Der Aufbau, S. 52. 71
Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S.i3.
72 Vgl. Leh, R., Nationalsozialistisches Jahrbuch 1942.16. Jg. München/Berlin 1942, S. 193. 73 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 372. 74 Vgl.Spiewok, Der Aufbau, S. 47. 75 Vgl. Leh, Nationalsozialistisches Jahrbuch, S. 193 f. 76 Vgl. ebd., S. 193. 77 Vgl. Kreitner, Öffentliche Jugendfürsorge"^. 43.
150
3. Institutionen der NS-Fürsorge
Amt für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe, Amt für Volksgesundheit und Amt für Schulung und Werbung. Innerhalb dieser Ämter kam es zur Unterteilung in Gaue und Kreise.78 Im Jahr 1938 bestanden im gesamten Reich insgesamt 798 Kreisverwaltungen. Diese standen den 24.288 Ortsgruppen und Stützpunkten vor. Den Ortsgruppen" waren 91.034 Zellen mit 483.789 Blocks untergeordnet. Ehrenamtliche Mitarbeiter ermöglichten eine flächendeckende Arbeit der NSV. So waren sämtliche Block- und Zellenwalter ehrenamtliche Helfer. Insgesamt arbeiteten 96,1 % der Mitarbeiter der NSV ehrenamtlich. 80 Erst in den Kreisverwaltungen wurden Mitarbeiter hauptamtlich angestellt.81 „Der eigentliche Motor der fürsorgepolitischen Entwicklung lag in den Gauen der NSDAP, die,je nach der Radikalität, den Machtbefugnissen und dem Staatsverständnis dort führender NS-Funktionäre, über alle bürokratischen Hemmnisse hinweg Maßstäbe in der .Volkskörperpflege' setzten."82 Die NSV bezog ihre Finanzen aus verschiedensten Quellen. Beträchtliche Mittel kamen über das Winterhilfswerk, das Mittel aus unterschiedlichsten Spendenaktionen der Bevölkerung bezog. Die große Spendefreudigkeit der Bevölkerung war nicht immer freiwillig. So wurde z. B. die Einhaltung der so genannten Eintopfsonntage von ehrenamtlichen Helfern der NSV kontrolliert. Personen, die ihrer Spendenpflicht nicht nachkamen, drohten Repressalien durch die NSV. Zusätzlich erhielt die NSV Mittel aus den Mitgliedsbeiträgen und auch vom Reich. Die Kreis- und Ortsamtsleitungen wurden von regionalen Regierungsstellen finanziell unterstützt.83 Vor 1933 gehörten das Deutsche Rote Kreuz, die evangelische Wohlfahrtsorganisation Innere Mission und der katholische Träger-der Deutsche Caritas Verband-der „Liga der freien Wohlfahrtsverbände" an. Diese Liga wurde im Juli 1933 in die „Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Deutschland" umgewandelt. Die NSV übernahm die Leitung dieser Arbeitsgemeinschaft durch das Hauptamt für Volkswohlfahrt.84 Auf diese Weise versuchte die NSV ihren Führungsanspruch durchzusetzen und Innere Mission, Caritas und das Rote Kreuz zu übernehmen.85 Das Rote Kreuz setzte diesen Ansprüchen der NSV 1934 nichts entgegen, Caritas und Innere Mission standen ihnen nicht wohlwollend gegen über, taten diese Ablehnung jedoch nicht öffentlich kund. Die Innere Mission versuchte durch eine unpolitische Haltung und eine enge
78 Vgl. Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände, S. 163. 79
In der „Ostmark" existierten im Jahr 1938 bereits 2427 Ortsgruppen mit 7434 Zellen und 37.822 Blocks (vgl. Wulff, E., Die Organisation der NS-Volkswohlfahrt. In -.Nationalsozialistischer
Volksdienst, 6. Jg. 1939,
Heft i,S. 15-21). 80 Vgl. ebd. 81
Vgl. ebd.
82
Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S.2.
83 Vgl. ebd.,S. 27 f. 84 Vgl.Spiewok, Der Aufbau, S. 45 f. 85 Vgl. Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände; Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat; Vorländer, Die NSV.
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Anbindung an die NSV bestehen bleiben zu können. Diese versuchte die beiden konfessionellen Verbände immer weiter einzuschränken. Auf der einen Seite sollten die Verbände finanziell ruiniert werden, indem man die Zuschüsse sukzessive reduzierte und ihnen eigene Sammlungen untersagte. Auf der anderen Seite sollten sie weiter existieren und ihr Arbeitsbereich auf die „förderungsunwürdigen" Fälle beschränkt werden, während sich die NSV um die „förderungswürdigen" Fälle bemühte.86 Bereits 1934 meinte Hilgenfeldt:„Die anderen Organisationen sind willkommen als Mitarbeiter, aber sie haben sich unserer Führung zu unterwerfen."87 Die NSV propagierte „Hilfe zur Selbsthilfe". Hilfe von außen sollte erst dann einsetzen, wenn die persönlichen, familiären oder sonstigen Ressourcen ausgeschöpft waren.88 Und sie sollte darauf abzielen, nicht „geschehenes Übel wiedergutzumachen, sondern entstehendes Übel zu verhüten und an den Wurzeln auszurotten".89 Hilfe der NSV stand jedoch nicht jedem zu. Man unterschied zwischen förderungswürdigen und nicht förderungswürdigen Hilfsbedürftigen. Die „weniger wertvollen" Fürsorgeempfänger, wie „Arbeitsscheue" und „Geisteskranke", würden Mittel verbrauchen, so die damalige Sicht, die den „wertvollen Volksgenossen" dann fehlten. Die NSV sah die Aufgabe der Fürsorge darin, aus „brauchbaren" Volksgenossen wieder leistungsfähige Mitglieder der Volksgemeinschaft zu machen. Die „Schädlinge" der Volksgemeinschaft sollten nur so viel Unterstützung bekommen, wie für ihr Überleben notwendig war. Um diese „Schädlinge" hatte sich nicht die NSV zu kümmern, sondern die öffentliche 90 bzw. eben die konfessionelle Fürsorge.9' „Rassenhygienisch" und „erbbiologisch" „Minderwertige" wurden ebenfalls aus der Nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege ausgeschlossen. 92 So wurde in einem Rundschreiben des Hauptamtes für Volkswohlfahrt vom 18. Dezember 1941 die Betreuung von Juden und jüdischen „Mischlingen" durch die NSV-Jugendhilfe verboten. Gleiches galt auch für „Zigeuner" und „Zigeunermischlinge". In einer Mitteilung von Hilgenfeldt vom 21. Mai 1942 wurden sie auch aus der Betreuung durch die NSV ausgeschlossen.9' Als Hauptaufgaben der NSV wurden die eigene Jugendfürsorge mit dem Ziel der Prävention von Verwahrlosung, die Fürsorge für Mütter zur Sicherung des deutschen Volkes und die Beseitigung von Notständen durch die Winterhilfe deklariert.9" Die Arbeitsgebiete der NSV unterteilten sich in die verschiedenen Hilfswerke und Fürsor-
86 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S. 1 6 - 2 7 . 87
Ebd., S. 18.
88 Vgl. ebd., S. 32. 89 Hilgenfeldt, E., Die Idee der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege. München/Berlin 1937, S. 27. 9 0 Beispielsweise Wohlfahrtsamt, Gesundheitsamt oder Jugendamt. 91
Vgl. Spiewok, Der Aufbau, S. 9.
92 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S.32. 93 Vgl.Vorländer, Die NSV,S.426ff. 9 4 Vgl. Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände der NSV, S. 105.
3. Institutionen der NS-Fürsorge
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geeinrichtungen: Ausbildung von Schwestern, Kleinkindbetreuung und Jugendhilfe. Während des Krieges war es Aufgabe der NSV, die Bevölkerung mit Gasmasken und Lebensmittelkarten zu versorgen, und sie übernahm auch Sonderaufgaben wie die organisatorischen Maßnahmen infolge von Bombenangriffen und die Betreuung von Flüchtlingen.^ Eigens ausgebildete NSSchwestern waren für die „Erhaltung der Volkskraft" zuständig: Gemeindepflege, vor allem die Betreuung von Müttern und Kindern. 96 Da es der NSV nicht gelang, genügend Frauen anzuwerben und auszubilden, blieb die Krankenpflege in den Anstalten immer Arbeitsschwerpunkt konfessioneller Schwestern. Die NSV versuchte zumindest im Ausbau der Gemeindepflegestellen in ländlichen Regionen die Vormacht zu erringen. Auch dort war die NSV jedoch gezwungen, konfessionelle Schwestern einzustellend
Hilfswerke und Fürsorgeeinrichtungen der NSV Das größte und bekannteste Hilfswerk der NSV wurde binnen kürzester Zeit das im Sommer 1933 gegründete Winterhilfswerk (WHW). Die benötigten Mittel wurden über Sachspenden, Geldspenden, Lotterien, Straßensammlungen usw. gesammelt. In den ersten Jahren stand die Hilfe für Notleidende im Vordergrund. Die Spenden wurden von den zuständigen NSV-Gauleitern verteilt. Ab 1937/38 wurden beträchtliche Mittel für andere NSV-Werke verwendet,Teile der Spenden kamen auch der NSDAP zugute. 98 Die Arbeit der Hilfsstelle für Mutter und Kind (Hilfswerk „Mutter und Kind", MuK) wurde in drei Hauptarbeitsgebiete gegliedert: Stopp des Geburtenrückgangs, Verhinderung erbkranken Nachwuchses und Rassenhygiene. Die Aufgaben des Hilfswerks „Mutter und Kind" umfassten zum einen wirtschaftliche Hilfe zur Beseitigung von Notständen durch Arbeitsplatz- und Wohnhilfe, zum anderen Gesundheitsförderung vor allem für Wöchnerinnen und werdende Mütter und die Betreuung und .Ertüchtigung'vorschulpflichtiger Kinder durch Kindergärten. 99 Im Rahmen der Erholungsfürsorge wurden Mütter mit ihren Kindern in Müttererholungsheime bzw.
95 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 18-25. Die Einzelgebiete der NSV umfassten den Betrieb von Horten und Kindergärten, den Jugendschutz, die Haftverschonung für Jugendliche, die vorbeugende Jugendhilfe, die Müttererholung, die Wohnungshygiene, die Wohnungsbeschaffung, die Schädlingsbekämpfung,die Unfallverhütung, die Kleingartenvermittlung.die Naherholung, die Brandverhütung, die Berufsberatung, die Aufklärung über Volksseuchen usw., vgl. Albrecht, K. 0., Wie sozial waren die Nationalsozialisten? Der vermeintliche nationalsozialistische Wohlfahrtsstaat. Frankfurt a. M. 1997, S. 86 f. 96 Vgl. Vorländer, Die NSV, S. 95. 97 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 21 f. 98 Vgl. Vorländer, Die NSV, S . 4 4 - 6 2 . 99 Vgl. ebd., S. 6 2 - 6 6 .
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„Mutter und Kind Heime" verschickt. Die Erholungsfürsorge für schulpflichtige und schulentlassene Kinder wurde durch örtliche Erziehungskuren, Kinderlandverschickungen in ländliche unentgeltliche Familienpflege, Unterbringung in Kindererholungsheimen und Erholungslagern gewährleistet. Neben WHW.MuK, dem Erholungswerk und dem Hilfswerk für die deutsche bildende Kunst betätigte sich die NSV in der Gesundheitsfürsorge über dasTuberkulosenhilfswerk, das Ernährungshilfswerk und die Organisation der Zahnpflegemaßnahmen. 1 0 0 Den Arbeitsschwerpunkt der NSV bildete jedoch die Betreuung von Kindern unter sechs Jahren in Kindertagesstätten, im Kleinkindbereich im Rahmen des Hilfswerks MuK. In Städten wurden konfessionelle Kindergärten übernommen und auch neue Kindergärten gegründet. In ländlichen Gebieten sollten Mütter durch die Errichtung von Erntekindergärten entlastet werden. 101 Die Kindergärten sollten gesundheitliche Betreuung ebenso wie „Erziehung zum Nationalsozialismus und damit zum Dienst an der Volksgemeinschaft" ermöglichen. 102 Die Jugendhilfe der NSV betreute jene Jugendlichen und ihre Familien, die nach zeitgenössischer Einschätzung noch einen Wert für die Volksgemeinschaft hatten. Nach den Reichsrichtlinien der NSV-Jugendhilfe hatte die Jugendhilfe „die Aufgabe, erbgesunde, erziehbare Jugendliche bei einer Gefährdung oder Verwahrlosung erzieherisch zu betreuen. Die dabei notwendigen M a ß n a h m e n werden im Rahmen der nationalsozialistischen Familienhilfe durchgeführt als Ergänzung der natürlichen Erziehungsfaktoren Familie, Hitlerjugend und Schule." 103
Offene Jugendhilfe In der offenen Jugendhilfe versuchte die NSV-Jugendhilfe im Bereich des Pflegekinder- und Vormundschaftswesens, in der Jugendgerichtshilfe und in der Erziehungsberatung eine zentrale Rolle einzunehmen. Ab dem Jahr 1940 übernahm die NSV Arbeitsbereiche, die bis dahin in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes fielen. Durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) 1940 und analog dazu durch die Jugendwohlfahrtsverordnung für die Ostmark (JWVO) konnte die NSV legal Einfluss auf die Jugendbetreuung nehmen. 10 « Durch die JWVO von 1940 sollte die NSV folgende Arbeitsbereiche vom Jugendamt übernehmen: im Pflegekinderschutz die Ermittlung und den Vorschlag von geeigneten Pflegestellen, die Kontrolle der Familien und Pflegekinder und die Schulung der Pflegemütter. Der Pflegekinderschutz war dabei nicht nur Aufgabe der NSV, sondern auch der Gesundheitsfürsorge. So 1 0 0 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 24. 101 Vgl. ebd., S. 68. 102 Vgl. Vorländer, Die NSV, S. 268. 103 Reichsrichtlinien der NSV-Jugendhilfe 1936, zit. nach ebd., S. 287. 104 Vgl. Kreitner, Öffentliche „Jugendfürsorge", S. 43 ff.
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
waren für den Schutz der Pflegekinder bis zum sechsten Lebensjahr sowohl die NSV als auch die Gesundheitsämter zuständig. Die übertragbaren Geschäfte des Jugendamtes an die NSV umfassten im Vormundschaftswesen das Recht zur Benennung von Vormündern, Pflegern und Beiständen, die Unterstützung des Jugendamtes in der Beaufsichtigung, Beratung und Schulung der Vormünder und die erzieherische Betreuung der Amtsmündel'0*. Im Bereich der Schutzaufsicht konnte die NSV wie im Vormundschaftswesen die Benennung, die Beratung, Schulung und Beaufsichtigung der Helfer übernehmen. Die Kontrolle der häuslichen Verhältnisse, die Ermittlung von Erziehungsnotständen, die Ermittlung und Beobachtung der Familienpflegestellen waren Arbeitsgebiete der Fürsorgeerziehung und Jugendgerichtshilfe, die an die NSV übertragen werden konnten. Sämtliche gesetzlichen Aufgaben, wie Erlaubniserteilungen im Pflegekinderwesen, gesetzliche Amtsvormundschaften, Anträge an das Vormundschaftsgericht auf eine Anordnung der Schutzaufsicht, die Einleitung von Fürsorgeerziehungsverfahren, die Vertretung von Jugendlichen vor Gericht usw. blieben hingegen alleinige Arbeitsgebiete des Jugendamtes.106 Die Übertragung von Arbeitsbereichen des Jugendamtes an die NSV sollte lautWolschansky das Jugendamt in seiner behördlichen Tätigkeit unterstützen und ergänzen.10' Die NSV wollte jedoch weit mehr als eine unterstützende und ergänzende Maßnahme sein. Vor allem im Pflegekinderwesen hatte sie durch die vielen ehrenamtlichen Blockwarte die Möglichkeit, Familien und deren Kinder zu kontrollieren. Da das Jugendamt diese permanente Aufsicht der Pflegefamilien nicht erfüllen konnte, versuchte die NSV das Aufgabengebiet des Pflegekinderschutzes zur Gänze für sich zu beanspruchen.108 Die NSV versuchte schließlich auch die Arbeitsgebiete Vormundschaftswesen und Jugendgerichtshilfe vom Jugendamt zu übernehmen. Dies führte zu lokalen und regionalen Konflikten mit den Jugendämtern. In den Jugendämtern wurde die Kompetenz der NSV-Mitarbeiterlnnen in Frage gestellt. Es wurde bezweifelt, ob die NSV alle Obliegenheiten der Jugendfürsorge an Stelle des Jugendamtes erfüllen konnte. Deswegen forderten die Jugendämter das Recht ein, selbst entscheiden zu können, welche Aufgaben der NSV übertragen werden sollten.109 Den Monopolanspruch konnte die NSV jedoch, abgesehen von dem heftigen Widerstand der Jugendämter und der Wohlfahrtsverbände, zum Teil auch wegen Personalmangels nicht erfüllen. Eine einheitliche Regelung der Aufgabenverteilung zwischen NSV, Jugendamt und den Wohlfahrtsverbänden in der offenen Jugendhilfe konnte nie erreicht werden und so wurden die Aufgaben zwischen NSV, Wohlfahrtsverbänden und Jugendamt in den Kreisen unterschiedlich verteilt.110
105 Kinder und Jugendliche, die unter Amtsvormundschaft standen, wurden auch Amtsmündel genannt. 106 Vgl.Wolschansky,Jugendwohlfahrt,S.2-5. 107 Vgl. ebd., S. 5. 108 Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 245. 109 Vgl. Kuhl mann, Erbkrank oder erziehbar, S. 153 f. 110 Vgl. Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände.S. 487-518.
Vera Jandrisits
155
Geschlossene Jugendfürsorge Die geschlossene Jugendfürsorge war immer das Hauptarbeitsgebiet der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Dies blieb auch in der Zeit des Nationalsozialismus so. Die NSV versuchte zwar, die konfessionellen Heime zu übernehmen, war dabei aber mit zwei schwerwiegenden Problemen konfrontiert: Einerseits wollte sich die NSV auch in der Anstaltsunterbringung nur um die „wertvollen",„noch erziehbaren" Kinder und Jugendlichen kümmern, andererseits war der Betrieb der Anstalten mit hohen Kosten verbunden. In der geschlossenen Jugendhilfe wurden fünf Gruppen von Kindern und Jugendlichen unterschieden. Die erste Gruppe (Gruppe I) erfasste die „erbgesunden",„geistig normalen",„förderungswürdigen" Minderjährigen, die als „erziehbar" galten und somit wieder „gemeinschaftsfähig" gemacht werden konnten. Zur zweiten Gruppe (Gruppe II) zählten körperlich Behinderte, gehörlose und blinde Kinder, die als „normalbegabt" galten. Die so genannten „erbgeschädigten Minderjährigen sowie Kinder mit Erscheinungsformen fortgeschrittener Verwahrlosung" bildeten die Gruppe III. Die letzten beiden Gruppen unterteilten sich in die „stark unterbegabten, die schwachsinnigen und die schwer psychopathischen Minderjährigen" (Gruppe IV) sowie „Zigeuner und Zigeunerähnliche" (Gruppe V).111 Um Kinder und Jugendliche der Gruppe I und II wollte sich die NSV kümmern. Diese sollten in so genannten Jugendheimstätten wieder in die Volksgemeinschaft eingegliedert werden. Die „unerziehbaren",„minderwertigen" Minderjährigen, die in den Gruppen III bisVzusammengefasst waren, wurden in „Bewahranstalten" untergebracht, in die Betreuung durch konfessionelle Träger übergeben oder ab August 1940 in die„Pollzeilichen Jugendschutzlager" Moringen und Uckermark eingewiesen. Vordem Krieg versuchten die Fürsorgeerziehungsbehörden der NSV „erziehbare" Kinder und Jugendliche verstärkt In Familienpflege unterzubringen und die Aufenthaltszeiten in den Heimen zu verkürzen, um so die konfessionellen Heime auszuschalten." 2 Zusätzlich begann die NSV verstärkt Aufsicht über konfessionelle Anstalten auszuüben: Die NSV nahm Einfluss auf die Zusammensetzung der Vorstände, versuchte die pädagogische und politische Anschauung des Personals zu beeinflussen und schreckte nicht davor zurück, Auflagen zu machen. Mit konfessionellen Heimen, die ihre Zöglinge nach „nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen" erzogen, suchte man die Kooperation.113„Auch die Schulung des konfessionellen Erzieherpersonals war ein Ansatzpunkt nationalsozialistischer Fürsorgepolitik."114
111
F i n g s / S p a r i n g , „ t u n l i c h s t als e r z i e h u n g s u n f ä h i g hinzustellen", S. 172.
112 Vgl. H a m m e r s c h m i d t , Die W o h l f a h r t s v e r b ä n d e der NSV, S. 5 3 8 - 5 5 2 . 113 H a n s e n , Wohlfahrtspolitik im N S - S t a a t , S . 2 6 y f f . 114 Vgl. ebd., S. 269.
3. Institutionen der NS-Fürsorge
i56
Aufgrund des Krieges kam es jedoch zu einem Mangel an Pflegeplätzen in Familien und viele Kinder und Jugendliche wurden wieder in Heimen untergebracht.' 15 Der SS und den Polizeiführern w u r d e in e i n e m Schreiben des H a u p t a m t e s für Volkswohlfahrt vom 7. März 1941 erlaubt, wegen des Platzmangels in den eigenen Heimen kirchliche Heime und Klöster zu beschlagnahmen. 1 ' 6
NSV in der „Ostmark"
Nach d e m „Anschluss" war die NSV b e m ü h t die Organisation des Wohlfahrtssystems in Ö s terreich an das System Deutschlands anzupassen. Ziel war die geschlossene Fürsorge in der „Ostmark" so schnell als möglich nationalsozialistisch auszurichten und zu führen. Dies sollte durch die Einrichtung der „Arbeitsgemeinschaft für die freie Wohlfahrtspflege in der Ostmark" und die Aufsicht der konfessionellen Heime durch die NSV erreicht werden. Die Schaffung der Arbeitsgemeinschaft wurde dadurch begründet, dass es in Österreich bis zu diesem Zeitpunkt keine Kontrolle gab, welche O r g a n i s a t i o n e n oder Stellen sich mit der Wohlfahrtspflege befassten.ln diese Arbeitsgemeinschaft unter Leitung von Stillhaltekommissar H o f m a n n wurden konfessionelle und nicht-konfessionelle Organisationen einberufen. Die Leitung der Arbeitsgemeinschaft übernahm im Dezember 1938 Oberbefehlsleiter Hilgenfeldt, z u m ständigen Vertreter der „Ostmark" wurde Franz Langoth bestellt. Die nicht-konfessionellen Vereine wurden in der Mehrzahl aufgelöst und unter die Führung der Reichsverbände und Reichsorganisationen gestellt." 7 Die österreichische Caritas sollte durch ein A b k o m m e n vom 25. April 1938 in die NSV eingegliedert werden. Die G e n e r a l v e r s a m m l u n g billigte ihrerseits dieses A b k o m m e n zwischen Generaldirektor Josef van Tongelen und der NSV nicht, sondern strebte eine Vereinigung mit der deutschen Caritas an. Die Vereinigung der beiden konfessionellen Verbände w u r d e jedoch verboten, da eine Stärkung der konfessionellen Vereine nicht im Sinne der Nationalsozialisten war. 118 Der Leiter der Inneren Mission, Ernst Gottfried Meyer, näherte sich bereits vor 1938 d e m Kurs der d a m a l s noch illegalen NSDAP und der NSV an; im März 1938 w u r d e die Innere Mission von der NSV ü b e r n o m m e n . Meyer versuchte Anfang 1939 die Innere Mission d e m parteiamtlichen Zugriff wieder zu entziehen, was i h m j e doch nicht gelang." 9
115 Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S.267ff. 116 Vgl.Vorländer, H., Die NSV,S.423. 117 Villnow, H., Neuordnung der freien Wohlfahrtspflege in der Ostmark. In: Nationalsozialistischer dienst. 7. Jg. 1940, Heft 8, S. 141-146, hier S. 141 ff. 118 Hansen, Wohlfahrtspolitik Im NS-Staat,S. 178 f. 119 Vgl. ebd., 5.178-184.
Volks-
Vera Jandrisìts
157
Villnow beschreibt die Z u s a m m e n a r b e i t der NSV mit evangelischen und katholischen W o h l fahrtsverbänden in der „Ostmark" folgendermaßen: „Die Arbeitsteilung ging innerhalb der evangelischen freien Wohlfahrtspflege reibungslos vonstatten. Insbesondere war es auch die evangelische Diakonie in der Ostmark, die die Zweckdienlichkeit und Notwendigkeit einer über die NS-Volkswohlfahrtpflege planvoll ausgerichteten freien Wohlfahrtspflege anerkannte [...]. Dieses Verständnis lag leider nicht im gleichen Umfang bei den betroffenen katholischen Organisationen vor."120
Mit der Verabschiedung des „Gesetzes über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden" vom 17. Mai 1938 bekam Stillhaltekommissar H o f m a n n einen w e i t e n H a n d l u n g s s p i e l r a u m . Ziel dieses Gesetzes w a r im g e s a m t e n Reich den Einfluss der konfessionellen Vereine gänzlich zu beseitigen." 1 Der Kompetenzbereich der konfessionellen Verbände wurde a u f den Bereich der „geschlossenen Fürsorge bewahrender und versorgender Natur" eingeschränkt. Caritas und Innerer Mission war es weiterhin erlaubt, Heime für Alte und Kranke, Obdachlosenasyle,„Anstalten für Idioten und Schwachsinnige" sowie „Bewahrungsanstalten für erbkranke Kinder und Jugendliche" zu führen. Die offene Fürsorge, wie z. B. Säuglings-, S c h w a n g e r e n - u n d Mutterfürsorge, Beratungsstellen, Wirtschaftsfürsorge, Erholungsfürsorge usw. mussten der NSV übergeben werden. Auch die halboffene Fürsorge, die Führung von Kindertagesstätten, w u r d e von der NSV ü b e r n o m m e n . Die Weiterführung von Einrichtungen für „förderungswürdige" und „erbgesunde" Kinder w u r d e den konfessionellen Stellen verboten. 122 Die NSV erhöhte den Druck a u f Innere Mission und Caritas durch das Besetzen von Einrichtungen, B e s c h l a g n a h m e n von Vermögen und Eingriffe in die Geschäftsführung. 1 2 ' Bei den Kinderheimen Rosenhof und Frischau bei Z n a i m handelte es sich eindeutig u m Anstalten für „nicht bildungsfähige" Kinder, d. h. Kinder, von denen a n g e n o m m e n wurde, dass sie nicht zu „nützlichen" Gliedern der Volksgemeinschaft erzogen werden konnten. W a r u m die NSV bei solchen Heimen, die„gemeinschaftsunfähige" Kinder a u f n a h m e n , zumindest als Kostenträger fungierte, kann derzeit nicht beantwortet werden. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Leit u n g dieser H e i m e in den Händen der Caritas verblieb, die als konfessioneller Wohlfahrtsträger für „bildungsunfähige" Kinder zuständig war, und nur die Finanzierung durch die NSV erfolgte. Auch in der offenen Fürsorge versuchte die NSV eine Monopolstellung in der„Ostmark" einz u n e h m e n . Bis März 1939 wurden 1933 NSV-Hilfs- und Beratungsstellen eingerichtet, weitere
120 121 122 123
Villnow, Neuordnung, S. 145. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S. 178-184. Vgl.Villnow, Neuordnung,S. 143ff. Vgl. Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat,S. 184f.
158
3. Institutionen der NS-Fürsorge
280 Einrichtungen dieser Art standen zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Eröffnung. 372 Erntekindergärten wurden geschaffen, 200 Dauerkindergärten unter die Leitung der NSV gestellt. Die zusätzliche Übernahme von 200 Kindergärten war geplant. Im Rahmen der Erholungsfürsorge wurden im ersten Jahr nach der„Angliederung" Österreichs an das Deutsche Reich bereits 4105 Mütter sowie 20.000 Kinder in Heime und 102.850 Kinder in Landpflegestellen verschickt. Beträchtliche Mittel des WHW wurden in den neuen Gebieten des Reiches, in Österreich und Teilen derTschechoslowakei und Polens, investiert. Ziel war, der „deutschen" Bevölkerung dieser Länder die sozialen Vorteile des Anschlusses deutlich zu machen. Über zwei Millionen Menschen in Österreich erhielten bis zum März 1939 Hilfe im Rahmen des WHW durch Lebensmittel, Sachspenden, Kleider und Schuhe.124
124 Vgl. Janowsky, W., Die NS-Volkswohlfahrt in der Ostmark. In: Nationalsozialistischer 193g, Heft 3, S. 9 8 - 1 0 1 , hier S. 99 f.
Volksdienst. 6. Jg.
Zur Geschichte des „Spiegelgrunds" Peter Malina
Die Einrichtungen in der Heil- und Pflegeanstalt auf dem „Steinhof" in Wien wurden unter dem Begriff „Spiegelgrund" zum Synonym für eine bedrohliche, demütigende, in vielen Fällen auch tödliche „Heil"-Pädagogik in der NS-Zeit.1 Schwierig wird die Annäherung an den „Spiegelgrund" nicht zuletzt dadurch, dass zunächst der „Nebel" der getrübten Erinnerung gelichtet und bruchstückhaft auftauchende Erinnerungsreste rekonstruiert und zusammengefügt werden müssen. Sprechen wir von „Erziehungs-Anstalten" am „Spiegelgrund", so sind im Prinzip zwei Institutionen gemeint: das „Erziehungsheim" und die„Nervenheilanstalt". Während Letztere-vor allem im Zusammenhang mit dem Namen Dr. Heinrich Gross - in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist, ist über Erstere - das Erziehungsheim - immer noch relativ wenig bekannt, obwohl - dies der zweite Widerspruch - sich ebenfalls in den letzten Jahren einige Zeitzeugen zu Wort gemeldet haben, die als „Erzogene" dieser Anstalt über ihre Erfahrungen berichten konnten.2 In seinem „Beitrag zur Methode der Erfassung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen" hat Johann Krenek, ab Mitte 1942 Leiter des städtischen Erziehungsheimes auf dem „Spiegelgrund", auf die Geschichte der Fürsorgeanstalt Bezug genommen: Seit 1925 hatte die Gemeinde Wien eine eigene „Schulkinderbeobachtungsstation" eingeführt, die zunächst in der Kinderherberge „Am Tivoli", dann im Schloss Wilhelminenberg und seit 1934 als „heilpädagogische Abteilung" in einem Pavillon des Zentralkinderheims untergebracht worden war.3
1
Verwiesen sei hier vor allem auf:Mende,S., Die Wiener Landesheil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof" in der NS-Zeit. Med. Dissertation Freiburg/Bg. 1998 (insbes. die Kapitel „Lebensunwertes Leben": Ideologie und Umsetzung, S. 18-67; Die Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund, S. 141-154); Dahl, M., Endstation Spiegelgrund. Wien 1998; Koncilia, M., Die Kinder„heil"anstalt „Am Spiegelgrund" als Fallbeispiel für NS-Kinder„euthanasie". Diplomarbeit Klagenfurt 1996; Neugebauer, W., Die Klinik „Am Spiegelgrund" 1 9 4 0 - 1 9 4 5 - e i n e „Kinderfachabteilung" im Rahmen der NS-„Euthanasie". In: Jahrbuch des Vereinsfür Geschichte der Stadt Wien, 52/53 (1996/97), S. 289 ff.
2
Kaufmann, A., Wenn der Wind ... Pavillon 18. Erlebnisse eines ehemaligen Zöglings des berüchtigten „Spiegelgrunds". Wien 1986; Ders., Spiegelgrund. Pavillon 18. Ein Kind im NS-Erziehungsheim. Wien 1993; Ders., Kindheit am Spiegelgrund. Mit einer historischen Nachbetrachtung von Peter Malina. Wien 1999;Gross,J.,Leben in NS-Erziehungsanstalten.Wien 2000; Lehmann,O.und Schmidt,T.,In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel.Wien 2001.
3
Krenek, Beitrag, S. 72.
i6o
3. Institutionen der NS-Fürsorge Als Reaktion a u f die in W i e n nach 1938 deutlich(er) merkbar werdende Notwendigkeit der
Unterbringung betreuungsbedürftiger Kinder und Jugendlicher, die gleichzeitig steigende Geburtenzahl und den d a m i t verbundenen Bedarf an entsprechenden Einrichtungen entstand zunächst in der Abteilung „Gesundheitswesen und Volkspflege" der G e m e i n d e W i e n der Plan, einen Teil der Kinderübernahmestelle aufzulassen und d e m Karolinen-Kinderspital anzugliedern. Mit der „Freiwerdung" fast der Hälfte der Pavillons der Heilanstalt a m Steinhof w a r d a n n die Gelegenheit gegeben,„auffällig" gewordene Kinder und Jugendliche dort zusammenzufassen und j e nach Bedarf und Notwendigkeit anderen „Erziehungs"-Anstalten zuzuweisen: A m 24. Juli 1 9 4 0 n a h m die neu errichtete städtische Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" a u f d e m Territorium der Anstalten „Am Steinhof" mit einem Belag von 640 Betten ihren „Betrieb" auf.« Voraussetzung dafür, dass die Anstalt a u f dem „Steinhof" eingerichtet werden konnte, war die Leermordung eines beträchtlichen Teils der Pavillons im Rahmen der großen Krankenmord-Aktion „T4" 1940/41. In d e m nach Kriegsende von der Abteilung für Statistik des Magistrats der Stadt Wien erstellten „Verwaltungsbericht" für die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien 1 9 4 0 bis 1945 wird die Errichtung der neuen Anstalt überaus zurückhaltend f o l g e n d e r m a ß e n beschrieben:
„Auf Grund eines mit der Wehrkreisverwaltung XVII am 22. Februar 1940 abgeschlossenen Mietvertrages wurde ein Großteil der Erziehungsanstalt Eggenburg, die ,neue Anstalt', der Wehrmacht zur Benützung überlassen. Dadurch gingen ungefähr 350 Plätze für Kinder und Jugendliche verloren, was sich für die Unterbringung solcher Kinder in einer Fürsorgeanstalt äußerst ungünstig auswirkte. Die Errichtung einer zentralen, dem Umfange und den Einrichtungen nach ausreichenden Fürsorgeanstalt für psychisch abwegige Kinder und Jugendliche war dadurch notwendig geworden. Die Verlegung [siel] von Patienten der Wagner v. Jauregg Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien XIII., Baumgartner Höhe in verschiedene Anstalten Deutschlands machte ungefähr 2.000 Plätze frei und ermöglichte die Freistellung von 9 Pavillons zur Errichtung einer eigenen Jugendfürsorgeanstalt für psychisch abwegige Kinder und Jugendliche [...]. Die Anstalt stand unter ärztlicher und pädagogischer Leitung. Der Normalbelag wurde anfangs mit 640 Plätzen festgelegt und 1941 auf 1000 erhöht. In dieser Anstalt war auch die Unterbringung von Kindern mit schweren angeborenen Leiden vorgesehen. Eine sechsklassige Sonderschule war angeschlossen." 5
4 5
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien gegen Dr. Ernst Illing, Dr. Marianne Türk, Dr. Margarethe Hübsch, 18.06.1946 - LG Wien: Vg ia Vr 2365/45. Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien 1945, S. 214.
Peter Malina
161
Dr. Marianne Türk, 1940 bis 1945 Ärztin auf dem „Spiegelgrund", hat in ihrer Vernehmung am 16. Oktober 1945 vor dem Untersuchungsrichter die Entstehung der Klinik folgendermaßen beschrieben: „Im August 1940 wurde diese Station eröffnet, unter dem Titel: .Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund' [...] Die Anstalt wechselte den Namen und machte auch Wandlungen durch. Schließlich spaltete sich die Anstalt auf in einen medizinisch-klinischen Teil, die spätere Nervenklinik für Kinder mit dem Leiter Dr. Illing, dann das Erziehungsheim am Spiegelgrund unter Leitung von Dr. Krenek, einem Pädagogen [...] Die Nervenklinik unterstand der Hauptabteilung E des Gesundheitsamtes der Stadt Wien. Das Erziehungsheim der Hauptabteilung F."6 Dr. Johann Krenek, der ebenfalls die Gründungsphase der Anstalt miterlebte, beschrieb die Aufgabenbereiche der 1940 gegründeten „Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund" wie folgt: „...alle psychisch auffallenden Kinder und Jugendlichen vom Säuglingsalter bis zur Erreichung der Volljährigkeit nach genauester Beobachtung und Prüfung ihrer psychischen und physischen Kenntnisse und Fähigkeiten nach erfolgter Begutachtung in die für sie entsprechende Anstalt bzw. Pflegestelle einzuweisen. Außerdem sollen die hiebei gewonnenen Erfahrungen für spätere wissenschaftliche Arbeiten gesammelt werden."7 Die sich distanziert-wissenschaftlich gebende Darstellung Kreneks gab nur einen Teil der Wirklichkeit der Anstalt wieder. Die neu gegründete „Fürsorge"-Einrichtung warTeil eines umfassenden Plans, auch im Bereich des Reichsgaus Wien nach Möglichkeit alle Kinder und Jugendlichen zu erfassen, die nicht in das nationalsozialistische Konzept von Brauchbarkeit, Leistung und Gesundheit passten. Mit der an der „Jugendfürsorgeanstalt" eingerichteten „Kinderfachabteilung" wardiejugendfürsorgeanstalt" auch in die Kindermordaktion des „Reichsausschusses zur Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" eingebunden. Administrativ unterstand sie aber weiterhin dem Hauptgesundheitsamt der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, wo in der Abteilung „Erb- und Rassenpflege" auch ein eigenes Referat „Ausmerzende Maßnahmen" eingerichtet war.8 Ende 1941 war mit der „Arbeitsanstalt für asoziale Frauen und Mädchen", die in dem ebenfalls leer gemachten Pavillon 23 eingerichtet wurde, zusätzlich eine
6
Beschuldigtenvernehmung Dr. Marianne Türk, 16.10.1945: Strafverfahren gegen Anna Katschenka u. a. Bd. 1.
7
Krenek, Beitrag, S. 72.
8
Neugebauer, Die Klinik „Am Spiegelgrund", S. 295.
162
3. Institutionen der NS-Fürsorge
Einrichtung geschaffen worden, in der Frauen, die „auffällig" geworden waren, durch Anhaltung zur Arbeit diszipliniert werden sollten. Nach einem Bericht über die Arbeitsanstalt, verfasst vom damaligen ärztlichen Leiter der Arbeitsanstalt, Dr. Thaller, sollte diese Anstalt gegenüber der Arbeitsanstalt Klosterneuburg einen „wesentlich verschärften Charakter" haben.' Die Verbindung zwischen Heil-Anstalt und Gesundheitsverwaltung wurde auch in der personellen Besetzung der Leitungsfunktion deutlich: Dr. Erwin Jekelius war zunächst am 20. Juni 1940 zum Leiter des Referats „Geisteskranke-, Psychopathen- und Süchtigenfürsorge" im Hauptgesundheits- und Sozialamt der Stadt Wien und einen Monat später (24. Juli 1940) zum Leiter (ärztlichen Direktor) der Wiener Städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" ernannt worden.10 Wie sehr die neu geschaffene Anstalt von allem Anfang an in das Konzept einer selektiven „Fürsorge" eingebunden war, zeigt sich auch darin, dass Jekelius als Teilnehmer der Konferenz von etwa 30 Experten über das „Euthanasie"-Gesetz im Oktober 1940 und zwei weiterer Sitzungen des „Reichsausschusses" und der „Reichsarbeitsgemeinschaft" im März 1941 nachgewiesen ist." Nach Kreneks Bericht hatte die Anstalt damals 15 Gruppen mit je 30 Zöglingen und zwei Doppelgruppen mit je 60 Zöglingen. Dazu kamen noch eine eigene Säuglings- und Kleinkinderabteilung mit einem Belag von 120 Betten, eine eigene Krankenabteilung mit einem durchschnittlichen Belag von 50 Betten und zwei Gruppen mit je 30 Kindern im Schulalter. Die Anstalt war nach Kreneks Darstellung grundsätzlich zwar als „Durchzugsheim" organisiert. Die Errichtung von drei „Dauergruppen" für besonders schwierige Erziehungsfälle, die als noch nicht hoffnungslos galten,„deren Führung in anderen Anstalten aus pädagogischen Gründen aber untragbar ist", war bereits vorgesehen. In diesen Gruppen sollte-so Krenek-der Versuch gemacht werden, diese Kinder durch „geeignete" Maßnahmen (Krenek nennt als Methoden dazu „Zucht, strenge Disziplin, lückenlose Beschäftigungstherapie und ganz besondere Pflege des Gemeinschaftssinnes") wieder in die Gruppengemeinschaft einzugliedern.12 Die Unterbringung der neuen Anstalt auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik entsprach wohl dem Selbstverständnis einer Erziehung, die in „auffällig" gewordenen Jugendlichen gleichzeitig auch ein Zeichen von „Abnormalität" erkennen wollte. Um die Akzeptanz der Anstalt sicherzustellen, warfreilich nur an eine vorübergehende Unterbringung auf dem „Steinhof" und an eine spätere Verlegung der Anstalt nach Ybbs gedacht, wo ebenfalls im Zuge derT-4-Mordaktion Platz gemacht worden war:„denn nicht die Bezeichnung der Anstalt als Er9
Baumgartner, G. und Mayer, A., Arbeitsanstalten für sog. „asoziale Frauen" im Gau Wien und Niederdonau. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. Endbericht. Wien 1 9 9 0 , 5 . 2 4 - 2 8 .
10
Ebd., S. 295.
11
Ebd., S. 296.
12
Ebd., S. 73.
Peter Malina
163
Ziehungsanstalt und nicht eine geänderte Leitung werden das auf der Anstalt lastende Odium entfernen. Dies kann einzig und allein durch eine örtliche Verlegung erfolgen." 13 Im Herbst 1941 wurde die Jugendfürsorgeanstalt nach Ybbsan die dortige von der Gemeinde Wien betreute Heil-Anstalt verlegt. In seinem Beweisantrag an das Landesgericht Wien vom 12. März 1946 erwähnt Max Thaller, der spätere Leiter der „Arbeitsanstalt" a m Steinhof, die Widmungsänderung der Anstalt in Ybbs 1941, die nun „Jugendfürsorgeanstalt" sein sollte:„Die leerstehenden Räume wurden als Schulzimmer etc. eingerichtet. Doch kamen in der Zwischenzeit - im Frühjahr 1941 - Berliner Kinder der Kinderlandverschickung als Einquartierung, die bis Herbst 1941 verblieben.""» Im Spätsommer und Herbst seien dann, so Thaller weiter, die leer gebliebenen Räume mit Jugendlichen belegt worden, die von der Fürsorge der Gemeinde Wien eingewiesen wurden. Diese blieben jedoch nicht lange und wurden nach Wien zurückgeschickt, da Anfang 1942 die Heilanstalt Ybbs von der Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt wurde, die dort ein Reservelazarett einrichtete. 15 Der ehemalige Zögling Johann Gross hat in seinen Erinnerungen an den „Spiegelgrund" die Verlegung des Heimes nach Ybbs beschrieben: „Am Morgen des 1. September 1941 hieß es plötzlich:,Rasch, rasch, alles anziehen und am Gang antreten.' Dort erhielt jeder von unsein kleines Päckchen mit Knäckebrot und in Packpapier ein Stück Speck. Es war übrigens das erste Mal, dass wir ein derartiges Essen bekamen. Vor dem Pavillon standen einige Autobusse. Rasch mussten wir in die Busse einsteigen und schon waren wir unterwegs. Ein wenig ratlos sahen wir uns an, keiner wusste, was da eigentlich los war. Am Westbahnhof war Halt und wir wurden in Gruppen in vorbereitete Waggons verfrachtet. Vorbei ging's an St. Pölten, wo mir der Bahnhof noch gut in Erinnerung war. Die Schwestern, die mit uns fuhren, schenkten aus großen Thermoskannen Tee aus und wir aßen unseren Reiseproviant. Beim Speck war's ein wenig mühsam, denn es war nur ein einziges Messer da. Endlich waren wir am Ziel. Am Bahnhof, er war ziemlich klein, stand ,Ybbs-Kemmelbach'. Zirka eine Viertelstunde marschierten wir dann in langen Reihen bis zu einem großen, gelblichen Gebäude. Es bestand aus mehreren Häusern, die durch Gänge miteinander verbunden waren. Über dem Eingang stand in großen Buchstaben ,Landes-Nervenklinik'."16
13 Czech, H., Selektion und Kontrolle, S. 169. 14 Beweisantrag Max Thaller, 12.03.1946: Strafverfahren gegen Max Thaller u. a., LG Wien: Vg 4c Vr 5520/46. 15 Ebd. 16 Gross, Spiegelgrund, S.71 f.
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In Ybbs blieb Johann Gross bis über Weihnachten. Das Weihnachtsfest war für ihn eine „große Enttäuschung":„Wir hatten zwar Weihnachtsferien (meiner Ansicht nach hauptsächlich wegen der Lehrer), aber sonst war gar nichts. Kein Christbaum, keine Weihnachtspackerln, nicht einmal Briefe kamen an. Ein Stück Mehlspeise und zwei, drei Äpfel und schon war Weihnachten wieder vorbei."17 Dass die vorgesehene Auflassung der Erziehungsanstalten in Eggenburg, Klosterneuburg und in der Dreherstraße nicht erfolgte, ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Deutsche Wehrmacht die Anstalt in Ybbs für die Errichtung eines Wehrmachtslazaretts in Anspruch nahm. Der Verwaltungsbericht für den Reichsgau Wien für die Jahre 1940 bis 1945 berichtet über die zeitweilige Umwidmung der Anstalt Ybbs zu einer„Erziehungsanstalt" im Jahre 1941: „Die Widmung der Wiener städtischen Heil- und Pflegeanstalt Ybbs a./D. wurde mit Genehmigung des Bürgermeisters geändert. Die Anstalt wurde unter dem Namen .Wiener städtische Erziehungsanstalt Ybbs a./D.' für schwererziehbare schulpflichtige Knaben bestimmt. Die Belagsmöglichkeit war für 500 Knaben festgesetzt. Mit den erforderlichen baulichen Veränderungen wurde sofort begonnen, und am 20. August 1941 wurden die ersten 80 Kinder in die Anstalt aufgenommen. Der Höchststand war 150 Kinder. Da das Gebäude, in dem die Jugendfürsorgeanstalt untergebracht war, der Wehrmacht für ein Wehrmachtslazarett überlassen werden musste, wurden die dort befindlichen 150 Zöglinge am 26. Jänner 1942 in Wiener Anstalten gebracht, womit die Jugendfürsorgeanstalt Ybbs a./D. aufgelöst war."'8 A m 27. Januar 1942 war auch für Johann Gross das Kapitel Ybbs zu Ende. Seine Gruppe wurde wieder nach Wien auf den „Spiegelgrund" verlegt. Und wieder wussten die Zöglinge nicht, warum sie auf die Reise geschickt wurden und wohin diese gehen sollte: „Zeitig am Morgen hieß es:,Alles anziehen,fertigmachen zum Abtransport!'Wieder wussten wir nicht, wohin es gehen sollte, und auch nicht,aus welchem Grund. Auch drei von den Ärzten, welche die ganze Zeit für uns unsichtbar gewesen waren, tauchten wieder auf. Diesmal fuhren wir mit den Autobussen nicht zur Bahn, sondern es ging direkt zurück zum Spiegelgrund."19
17 Ebd., S. 73. 18 Magistrat (Hg.), Gemeindeverwaltung 1945, S. 215. 19 Gross, Spiegelgrund, S.73.
Peter Malina
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Als sie wieder in den Pavillons waren, kam Johann Gross die ganze Sache der Hin- und Herverleg u n g „ g a n z mysteriös" vor:
„Die Anstalt sah nämlich so aus, wie wir sie vor drei Monaten verlassen hatten. Es hatte keine Renovierung oder dergleichen stattgefunden. Sogar einzelne Papierreste, Zeichnungen, die wir vor der Reise zurückgelassen hatten, lagen noch am selben Platz. Was also war in diesen Monaten wohl am Spiegelgrund geschehen? Die Kleinkinder von Pavillon 15 und 17 hörten wir noch immer, wenn sie manchmal laut weinten. Sie waren auch nicht mit uns in Ybbs gewesen. Ob es dieselben Kinder waren wie vorher oder andere, neue konnte von uns natürlich nicht festgestellt werden, aber immerhin gab es einige Gerüchte vom .Großen Reinemachen' und so. Unsere Pavillons konnten damit jedenfalls nicht gemeint sein."*0
Mit der Einrichtung der neuen Anstalt a u f d e m „Spiegelgrund" war es möglich, bereits bestehende Einrichtungen ähnlicher Funktion zu ü b e r n e h m e n und dort Platz zu schaffen: Die Schulkinderbeobachtungsstation im Zentralkinderheim der Stadt Wien übersiedelte im Juli 1 9 4 0 und machte so Platz für die Erweiterung der Geburtenklinik in der Bastiengasse, und im November 1 9 4 0 die Beobachtungsstation des Polizeijugendheimes in der Juchgasse, die in ein Lehrlingsheim u m g e w a n d e l t wurde. 2 ' Als 1941 die Erziehungsanstalt Schwechat von einer Knaben-Fürsorgeanstalt in eine solche für M ä d c h e n u m g e w a n d e l t wurde, wurden die bisher dort untergebrachten Knaben mit 1. Oktober 1941 a u f den „Spiegelgrund" gebracht. 2 2 Der „Spiegelgrund" diente mit seinen verschiedenen Funktionsbereichen („Nervenklinik", „Kinderfachabteilung", „Erziehungsheim") als das e n t s c h e i d e n d e S e l e k t i o n s i n s t r u m e n t der Wiener J u g e n d f ü r s o r g e " . Die Kriterien für die Einweisung sind in einem Erlassdes Amtsleiters der Hauptabteilung E vom Juni 1941 festgehalten:
„1. Grundsätzlich erfolgt die Einweisung erbkranker und sonst wie auffälliger Kinder ab 1.7.1941 in entsprechende Anstalten der Gemeindeverwaltung des Reichsgaus Wien. 2. Für die Entfernung von in den Heimen der NSV befindlichen Pflegekindern, die nach ihrer Anlage oder ihrem Verhalten von der NSV nicht befürsorgt werden sollen, werden vom Rassenpolitischen Amt der Gauleitung Wien Richtlinien aufgestellt, nach denen auch die künftige Einweisung in die NSV-Heime erfolgen soll.
20 Ebd., S. 74. 21
Vgl.Czech,Selektion und Kontrolle,S.168.
22 Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 215.
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3. Die Übernahme der aus den NSV-Heimen zu entfernenden Kinder erfolgt ab 1.7.1941 etappenweise im Wege der Beobachtungsstationen der Jugendfürsorgeanstalt ,Am Spiegelgrund'." 23
Im Verwaltungsbericht der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien 1940 bis 1945 wird dieser Vorgang der Übergabe „nicht passender" Jugendlicher durch die N S V a m Beispiel des Lehrlingsheimes Franzensbrückenstraße ausführlich beschrieben:
„Auf dem Gebiet der Lehrlingsfürsorge wurde der Mangel an gemeindeeigenen Lehrlingsheimen besonders schwer fühlbar. Die hier herrschenden Verhältnisse machten die Schaffung von Lehrlingsheimen unaufschiebbar. Laut Mitteilung des Jugendamtes vom September 1940 waren 182 schulmündige Fürsorgezöglinge für die Unterbringung in Lehrlingsheimen vorgemerkt. In der Erziehungsanstalt Mödling gab es mit Ende des Schuljahres 1940 6 0 schulentlassene Knaben, von denen nur 30 in Privatpflege untergebracht oder den Eltern übergeben werden konnten. Es war daher notwendigen der nur für Schulkinder bestimmten Anstalt in Mödling auch eine Lehrlingsgruppe zu führen. Schließlich sah sich die NSV im November 1940 gezwungen, das von ihr geführte Lehrlingsheim in der Franzensbrückenstraße 30 wegen baulicher Gebrechen und Nichteignung dieses Gebäudes als Lehrlingsheim aufzulassen. Da die NSV keine Möglichkeit hatte, die Lehrlinge dieses Heimes in einem ihrer neueren Lehrlingsheime unterzubringen und sie überdies in die von ihr betriebenen Heime grundsätzlich nur erbgesunde, normale Lehrlinge aufnehmen durfte, die in der Franzensbrückenstraße untergebrachten Jugendlichen jedoch zum größten Teile diesen Bedingungen nicht entsprachen, war die Stadt gezwungen, 70 Lehrlinge in die öffentliche Fürsorge zu übernehmen." 2 *
In der Praxis bedeutete dies: In zehn von der NSV ü b e r n o m m e n e n Jugendheimen waren Mitte 1941 insgesamt 253 Kinder als nicht förderungswürdig eingestuft und zur Überstellung a u f den „Spiegelgrund" vorgesehen. 2 * Die „Jugendfürsorgeanstalt" vereinigte bis zurTrennung im Jahre 1942 im G r u n d e zwei Institutionen: ein Erziehungsheim zur „Korrektur" und „Normalisierung" jener Kinder und Jugendlichen, die in den Augen ihrer „Erzieher" noch „brauchbar" und „normalisierbar" schienen, und eine Einrichtung zur Selektion, Beobachtung und „Behandlung" von jenen, die wegen ihrer Behinderung zu Tode „behandelt" werden sollten.Wenn Herwig Czech meint,die Jugendfürsorge-
23 Ebd., S. 179. 24 Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 213. 25 Czech,Selektion und Kontrolle,S. 181.
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anstalt a u f dem„Spiege)grund" sei „demnach eine komplexe Institution, deren Funktion nicht a u f die Kindereuthanasie reduziert werden kann" 26 , so ist dem z u z u s t i m m e n . Nicht gelöst ist d a m i t allerdings die Frage, wie die beiden Bereiche nach der organisatorischen Trennung von 1942 miteinander in Beziehung standen. Institutionell gehörten sie w o h l zwei verschiedenen Geschäftsbereichen innerhalb der Administration der Stadt Wien an.Tatsächlich jedoch scheinen die Verbindungen enger gewesen zu sein. Neben der Kinderübernahmesteile waren es vor allem die Bezirksgesundheits- und die Bezirksjugendämter, die (im Einverständnis mit der Kinderübernahmestelle) Einweisungen a u f den „Spiegelgrund" in die Wege leiteten. Aber auch Amtsärzte waren - vor allem bei der Meld u n g von „Missbildungen" oder „Schwachsinn" - an der Einlieferung ihrer Patienten a u f den „Spiegelgrund" (der „Jugendfürsorgeanstalt" wie auch der „Nervenklinik für Kinder") beteiligt. Vereinfacht wurde der Vorgang der Einweisung auch dadurch, dass - dies ist dem Rundbrief des zuständigen Stadtrats Gundel an alle Bezirksgesundheitsämter vom November 1941 zu entnehm e n - i n vielen Fällen Fürsorgerinnen in beiden Institutionen aktivwaren:„Die Aufgaben gehen sachlich im Einzelfall so eng ineinander, da im Dienst der einzelnen Fürsorgerin oft eine Trennung kaum möglich ist. Dies gilt im übrigen auch für die Aufgaben der Erb- und Rassenpflege, insbesondere bei den Erhebungen über die sozialen Familien." 2 ' Der „Spiegelgrund" - und hier insbesondere die „Nervenklinik für Kinder" - agierte aber auch durchaus aktiv, w e n n es d a r u m ging, Kinder aus anderen Erziehungsanstalten zu erfassen. Dr. Jekelius beispielsweise führte regelmäßig Untersuchungen in anderen Häusern durch. Im März 1942 wurde die Wiener städtische Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" in „Heilpädagogische Klinik der Stadt W i e n A m Spiegelgrund Wien XIV./109, Baumgartner Höhe 1. Fernruf U 3 1 0 30" umbenannt. 2 8 W e n i g e Monate später kam es zu einer neuerlichen organisatorischen Änderung: Infolge der Errichtung der H a u p t a b t e i l u n g „Jugendwohlfahrt und Jugendpflege" unter der Leitung von Dr. Karl Kowarik w u r d e die Z w e c k b e s t i m m u n g der Pavillons der „Heilpädagogischen Klinik" geändert und mit Entschließung des Bürgermeisters der Stadt W i e n vom 16. Juni 1942 die Pavillons 1 , 3 , 5 , 7 , 9 , 1 1 und 13„vorübergehend" der Hauptabteilung F„Jugendwohlfahrt und Jugendpflege" „zur Führung einer Erziehungsanstalt" überlassen. Die Pavillons 15 und 17 blieben als „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder" weiterhin bei der Hauptabteilung E („Volksgesundheit und Volkswohlfahrt", ab 1941:„Gesundheitswesen und Volkspflege"). Nach der Formulierung im Verwaltungsbericht für den Reichsgau Wien 1 9 4 0 bis 1945 war die Nervenklinik für Kinder „nach ihrer Aufgabe und W i d m u n g " die Fortsetzung der
26 Ebd., S. 183. 27 Vgl.ebd. 28 Vgl. Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien. Hauptabteilung E, Gesundheitswesen und Volkspflege. Anordnungen des Anstaltenamtes. 1942, A Nr.481 (ausgegeben am 19.03.1942).
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
ehemaligen Jugendfürsorgeanstalt. 2 9 In den Pavillons 15 und 17 wurde eine „Anstalt zur Aufnahme und Beobachtung von psychisch abwegigen Kindern und Jugendlichen jeder Art und Stufe als selbständige Anstalt errichtet und dem Anstaltenamte unterstellt". Mit Entschließung des Bürgermeisters vom 11. November 1942 führte diese Anstalt dann die offizielle Bezeichnung „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder".3° Die mit der Reorganisation 1942 selbständig gewordene „Erziehungs"-Anstalt erhielt den offiziellen Titel „Wiener städtisches Erziehungsheim ,Am Spiegelgrund'". Dr. Heinrich Gross hat diese Namens- und Organisationsänderungen in seinem Gerichtsverfahren 1950 folgendermaßen beschrieben: „Zu der Zeit, als Dr. Jekelius eingerückt war, ist ein Streit in der Form entbrannt, als das Jugendamt bemüht war, den Teil, der nicht unter die ärztlichen Belange fällt, unter ihre Agenden zu stellen, und die restlichen Pav. 15 und 17 wurden damals schon vor dem Eintreffen Illings dem Steinhof überantwortet. Mit Ausnahme der Frau Dr. Türk, die noch als Schulärztin tätig gewesen ist. Dr. Illing hat dann Pav.15 und 17 übernommen."31 Mit der Neukonzeption der Anstalt und deren Trennung in die Bereiche „Erziehung" und Jugendpsychiatrie/Kinderfachabteilung war auch ein Wechsel in der Leitung verbunden. Im Konflikt mit Stadtrat Gundel (dem Verantwortlichen für das Gesundheitswesen der Stadt Wien) und Dr. Hans Bertha zog Jekelius den Kürzeren: Er verlor mit seiner Einberufung zur Deutschen Wehrmacht 1942 seine Leiterstelle und wurde 1944 schließlich an das Altersheim Lainz versetzt. Nach seiner Flucht 1945 wurde er „von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet, weil er auch in Rußland .Euthanasie'-Handlungen durchgeführt haben soll, und verstarb 1952 in einem Lager".32 Anfang Januari942 wurde Dr. Hans Bertha (zu diesem Zeitpunkt ärztlicher Direktor der Wiener städtischen Nervenheilanstalt Rosenhügel) für kurze Zeit mit der ärztlichen Oberleitung betraut. 33 Mit 1. Juli 1942 wurde schließlich Dr. Ernst Illing über Vermittlung des „Reichsausschusses" zum Leiter der Heilpädagogischen Klinik der Stadt Wien „Am Spiegelgrund" bestellt. 34 29 Vgl. Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 216. 30 Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien. Hauptabteilung E, Gesundheitswesen und Volkspflege. Anordnungen des Anstaltenamtes. 1942, A Nr. 500 (ausgegeben a m 12.11.1942). 31
Aussage Heinrich Gross in seinem Verfahren vor dem Volksgericht, 27.03.1950: Strafverfahren Dr. Heinrich Gross, LG Wien Vg ia Vr 1601/48.
32
Neugebauer, Die Klinik„Am Spiegelgrund" 1 9 4 0 - 1 9 4 5 , $ . 296.
33
Vgl. Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Hauptabt. E (Gesundheitswesen und Volkspflege), Abt. E/9, Personalabt., an die Hauptabteilung B, Uabt. B2a (Beamtenangelegenheiten), Wien, 13.01.1942 (DÖW E-19210: Kopie Personalakt Dr. Hans Bertha).
34 Vgl. Neugebauer, Die Klinik „Am Spiegelgrund" 1940-1945,5.297.
Peter Malina Er hatte seine„Fach"-Ausbildungin der Landesanstalt Görden bei Brandenburg an der Havel bei Prof. Hans Heinze erhalten, der dort auch die erste „Kinderfachabteilung" eingerichtet hatte.35 Illing ordnete in der Hauptverhandlung seines Strafverfahrens am 15. Juli 1946 die Funktion der beiden Pavillons der „Nervenklinik" für Kinder eindeutig zu: „Im Pavillon 15 waren im wesentlichen jene Kinder, die unter die Prüfungsaktion des Reichsausschusses fielen und im Pavillon 17 jene, die zur Beobachtung auf ihre Erziehbarkeit da waren. Der Belag in Pavillon 15 betrug 100 bis 200 Betten und warfast ausschließlich voll belegt. Ich mußte oft wochen- und monatelang Aufnahmen zurückweisen, weil nicht so viel Betten vorhanden waren."36 Ihre Aufgabe war - so die Formulierung in der Anklageschrift - die „Aufnahme der Fälle des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden sowie von debilen, bildungsunfähigen Minderjährigen". 37 Die Funktion dieser Abteilung bestand nicht in derWiederherstellung des Gesundheitszustandes der Kinder, sondern in der Selektion jener, die nicht mehr leben sollten: „Der Zweck der Reichsausschussabtlg., die so unter den Ärzten genannt wurde, war es auch nicht, die einzelnen Kinder zu pflegen, sondern zu beobachten, ob bei ihnen noch irgendwie Aussicht bestand, sie zu heilen oder zu brauchbaren Menschen zu machen. Es wurde deswegen auch besonders anfangs jedes Kind auch von Psychologen und Pädagogen genau geprüft. Es gab auch Sonderkindergärten, und nur jene Fälle, in denen nach dem damaligen Stand der Wissenschaft keine Aussicht auf Heilung bestand oder Besserung, wurden dann auf [dem] bekannten Weg durch die Meldeformulare an den Reichsausschuss nach Berlin gemeldet, von wo dann die Entscheidung kam, ob das betreffende Kind getötet werden sollte oder weiter beobachtet oder überhaupt aus der Reichsausschusskartei zu streichen wäre."38
35 Vgl. ebd. 36 Aussage Dr. Ernst Illing, 15.07.1946 im Strafverfahren gegen Dr. Ernst Illing, Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch - LG Wien: Vg 1a Vr 2365/45. 37 Anklageschrift im Verfahren gegen Dr. Ernst Illing, Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch, 18.06.1946 - LG Wien: Vg 1a Vr 2365/45. 38 Zeugenvernehmung Anna Katschenka, 24.06.1949: Verfahren gegen Dr. Heinrich Gross Vg 1a Vr 1601/48.
3. Institutionen der NS-Fürsorge
In Wien hatte Illing - so seine Aussage in der Hauptverhandlung vor dem Volksgericht in Wien 1946 - zum einen „charakterlich schwierige, verwahrloste Kinder" zu betreuen, zu beobachten und „nach Feststellung ihrer Erziehbarkeit" vorzuschlagen, was weiter mit ihnen geschehen sollte. Z u m Zweiten gehörten „die vom Reichsausschuss zu behandelnden Fälle" zu seinem Aufgabengebiet. Die„Kinderfachabteilung" an der „Jugendfürsorgeanstalt" auf dem „Spiegelgrund" war eingebunden in eine Organisation, die vom „Reichsausschuss" in Berlin zur „Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" seit 1939 organisiert wurde. Ihre Aufgabe bestand darin, mit Unterstützung der Cesundheitsbehörden und der Krankenhäuser jene Kinder aufzuspüren, die bisher ihrer Kontrolle entzogen gewesen waren, weil sie sich zum Großteil noch in der Obhut ihrer Familien befanden. Sie sollten schließlich zur medizinischen Tötung freigegeben werden. Konkrete Vorarbeiten dieses Tötungsprogramms, dem bis 1945 Tausende Kinderzum Opfer fielen, reichen bis ins Jahr 1938 zurück.« Die politische Funktion dieser Kinder-„Erziehungs"-lnstitution wird deutlich an dem Anforderungsprofil, das von der Hauptabteilung E der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien (Gesundheitswesen und Volkspflege) im Oktober 1942 für eine neue Arztstelle in der Heilpädagogischen Klinik (der schriftliche Zusatz lautet „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder") entworfen wurde:,,... wird ein jüngerer Arzt (Ärztin) gesucht, der sachliches Interesse für Kinderpsychiatrie, -Neurologie und Erbbiologie aufbringt. Unbedingt verlangt wird von diesem Arzt ein einwandfreier politischer Leumund und weltanschauliche Zuverlässigkeit." 40 Nicht hinreichend geklärt sind immer noch die Beziehungen zwischen dem „Kinderheim" und der „Nervenklinik" für Kinder nach der offiziellen Trennung der beiden Bereiche. Aus Zeitzeugenberichten ist bekannt, dass Ärzte der „Nervenheilanstalt"-genannt wird insbesondere Dr. Heinrich Gross - auch im Bereich des Erziehungsheimes tätig geworden sind. 4 ' Im Detail nicht klar ist jedoch bislang, wie die Zuteilung der Kinder und Jugendlichen tatsächlich erfolgte, das heißt welche Kriterien dafür maßgebend waren, ob ein Kind in das Erziehungsheim oder 39 Aus der umfangreichen Literatur zur Geschichte des „Reichsausschusses" sei beispielhaft auf folgende Veröffentlichungen verwiesen: Aly,G. (Hg.), Aktion T 4 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Die„Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin 1987; Burleigh, M., Death and Deliverance.„Euthanasie" in Germany 1 9 0 0 - 1 9 4 5 . Cambridge 1994; Friedlander, H., Der Weg zum NS-Genocid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997; Klee, E., „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens". Frankfurt a. M.1985; ders., Dokumente zur „Euthanasie". Frankfurt a . M . 1 9 8 6 ; Ders., Was sie taten, was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte a m Kranken- oder Judenmord. Frankfurt a. M. 1986; Lifton, R. J., Ärzte im Dritten Reich. Stuttgart 1988; Mitscherlich, A. und Mielke, F. (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a . M . 1 9 8 9 ; Schmuhl, H.-W., Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten" Lebens 1 8 9 0 - 1 9 4 5 . Göttingen 2 ig87. 4 0 Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Abt. E 9 b - 8778/41 an alle Direktionen der Wiener städtischen Krankenanstalten ...,Wien 2 3 . 1 0 . 1 9 4 2 - D K W [Sammlung Hoffinger]. 41
Gross, Leben in NS-Erziehungsanstalten.
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in die Nervenklinik eingewiesen wurde. Dies betrifft vor allem jene Kinder und Jugendlichen aus Pavillon 17, die dort zur oft mehrmonatigen „Beobachtung" untergebracht waren. Die Zuteilungskriterien sind aufgrund der erhalten gebliebenen Patienten-Akten nicht eindeutig nachzuvollziehen. Auch das Kriterium der „Behinderung" wurde offensichtlich von Fall zu Fall verschieden interpretiert: So kamen 1944 im Zuge der Räumung der Heilanstalt in Cugging 15 Kinder in das Erziehungsheim und 31 in die Nervenklinik. 42
Fallbeispiel Heinz P. Am Beispiel der Krankengeschichte von Heinz P. lässt sich zumindest etwas Klarheit in die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen am „Spiegelgrund" bringen. Auf dem Deckblatt seiner in der „Nervenklinik" angelegten „Krankengeschichte" findet sich der Hinweis, dass er Anfang Februar 1943 von der Erziehungsanstalt „Am Spiegelgrund" dorthin überstellt wurde. In einer„gutachterlichen Äußerung" (unterzeichnet von Dr. Illing) wird festgehalten, dass der 1931 geborene Heinz P. im Oktober 1942 zuerst in das Kinderheim Josef-Hackl-Gasse und von dort in das Erziehungsheim „Am Spiegelgrund" überstellt wurde. Dort „wurde der Verdacht schwerer psychischer Störungen (schizoid?) geäußert und eine jugendpsychiatrische Begutachtung und Beobachtung in der hiesigen Klinik für erforderlich gehalten".« Der Krankengeschichte beigelegt ist ein vier Seiten umfassender Führungsbericht mit Gutachten der Wiener städtischen Erziehungsanstalt „Am Spiegelgrund", unterzeichnet vom Anstaltsleiter Dr. Krenek,dem zu entnehmen ist, dass Heinz P.wegen „großer Erziehungsschwierigkeiten" zunächst in der Heilpädagogischen Kinderklinik von Dr. Asperger begutachtet wurde, der eine Anstaltsunterbringung für „unausweichlich" hielt. Im Erziehungsheim wurde er „beobachtet", psychologischen Prüfungen unterzogen und zur weiteren Beobachtung an die Nervenklinik weiterverwiesen. 44 Dort war er in Pavillon 15/Jugendliche untergebracht. Am 2. September 1943 wurde er wieder an das Erziehungsheim verwiesen. Wie viele Kinder und Jugendliche im Komplex „Spiegelgrund" insgesamt festgehalten, untersucht, „begutachtet" und schließlich anderen„Erziehungs'VKorrektur-lnstitutionen zugewiesen wurden, lässt sich nicht exakt angeben. Nur für das erste Jahr des Bestehens der Jugendfürsorgeanstalt liegen Zahlen vor. Nach den Angaben von Johann Krenek wurden zwischen 24. Juli 1940 und 23. Juli 1941 insgesamt 1583 Kinder und Jugendliche in die Anstalt auf dem „Spiegelgrund" eingewiesen.« 42 Czech, Selektion und Kontrolle, S. 184. 43 Gutachterliche Äußerung von Dr. Ernst Illing, 30.07.1943-PKBH-KGA: Krankengeschichte Heinz P. 4 4 Wiener städtische Erziehungsanstalt „Am Spiegelgrund", Führungsbericht und Gutachten, unterzeichnet von Dr. Krenek, 06.01.1943 _ PKBH-KGA: Krankengeschichte Heinz P. 45
Krenek, Beitrag, S. 79.
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Die „Nervenheilanstalt" für Kinder und das „Erziehungsheim am Spiegelgrund" führten die für etwa 700 ihrer Schutzbefohlenen tödlichen „Begutachtungen" und Selektionen bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes fort. Als Institution existierten sie bis etwa Sommer 1945 weiter. Nach einer Aufstellung vom Mai 1945 hatte das „Erziehungsheim am Spiegelgrund" 495 und die „Nervenklinik" 155 Betten, die durch „kranke erziehungsbedürftige Kinder" bzw. „nerven kranke Kinder" belegt waren.46 Mitte August 1945 teilte die nun wiederden alten Namen tragende Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof" der Anstaltenverwaltung der Stadt Wien mit, dass die Nervenklinik für Kinder mit 30. Juni 1945 aufgelöst worden sei. Mit i.Juli 1945 sei das gesamte Personal von der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof" in Stand und Gebühr genommen worden.« Krenek übte seine Funktion als Leiter der Erziehungsanstalt „Am Spiegelgrund"-wie er als Zeuge im „Steinhof'-Prozess 1946 a n g a b - b i s zum 10. August 1945 aus."8
Die „Nervenklinik für Kinder"
Die auf dem „Steinhof" eingerichtete Nervenklinik für Kinder (in der auch die „Kinderfachabteilung" untergebracht war) war ein Instrument der Auslese und der Kontrolle jener Kinder und Jugendlichen, die den ärztlich-medizinisch begründeten Vorstellungen des NS-Systems von „normal" und anpassungsbereit nicht entsprachen. Sie führte damit jenen Teil der Arbeit der „Jugendfürsorgeanstalt" fort, der nicht explizit als „Erziehung" zu verstehen war. Dr. Marianne Türk hat in ihrer Vernehmung als Beschuldigteam 16. Oktober 1945 die Funktion der Anstalt am „Spiegelgrund" recht präzise beschrieben, freilich damals von den politischen Voraussetzungen und den Absichten dieser Auslese-Psychiatrie nichts (mehr) wissen wollen: „Dies sollte etwas ganz Neues sein mit dem Zweck, auf Grund der Beobachtungen die richtige Behandlung und dann in weiterer Folge eine richtige Lenkung der Kinder durchführen zu können, vor allem auch, um Fehler zu vermeiden, die sich sonst sehr schwer auswirken mussten, und vielleicht dazu führten, das Leben der so verfehlt Diagnostizierten zu ruinieren. Dass dabei irgend welche pol. Momente mitspielten, vor allem im Sinne der durch den NS neuvertretenen
46 Schreiben, unterzeichnet vom ärztlichen Direktor, Primararzt Dr. Pawlicki, und dem Verwalter, Direktor Karl Bock, an das Polizeirevier 112,14.04.1945-WStLA: Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof/Direktionsakten 1-400/45:401-900/45. 47 Ebd. 48 Zeugenaussage Dr. Johann Krenek im Verfahren gegen Dr. Illing, Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch, 16.07.1946 - LG Wien: Vg ia Vr 2365/45.
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Anschauung in rassischer und medizinischer Hinsicht, weiß ich nicht. Dr.Jekelius hat in dieser Hinsicht mit mir nicht gesprochen."49 Diese „Lenkung" der Kinder, die Marianne Türk als vollkommen „unpolitisch" abtun möchte, orientierte sich an den eugenischen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen der nationalsozialistischen Ideologie. Chancen zu überleben hatten in der NS-Gesellschaft und der ihr dienenden Medizin nur jene, die in dieses Muster passten oder zumindest Anpassungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit erkennen ließen. Marianne Türk wollte diesen Z u s a m m e n hang allerdings nicht wahrhaben und berief sich darauf, immer „unpolitisch" gewesen zu sein. In ihrer Vernehmung vom Oktober 1945 gab sie an, sich „nie" für Politik interessiert und „nie" einer politischen Richtung angehört zu haben - „insbesondere keiner pol. Partei". Als sie als Aushilfsanstaltsärztin in der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof" angestellt wurde, habe sie „keinerlei Protektion oder sonstige Empfehlung, insbesondere nicht in parteipolit. Hinsicht" gebraucht. Als sie an die Nervenklinik versetzt werden konnte, habe sie vor allem die Neukonzeption dieser „Beobachtungsstation für psychisch kranke oder auffällige Kinder" anges p r o c h e n : , ^ mich mein Wunsch zu Kindern zog und ich Kinderärztin werden wollte, war ich damit einverstanden, in diese neu zu gründende Station als Ärztin einzutreten, als man mich darum bat." 50 Im weiteren Verlauf der Vernehmung war ihr dann sehr wohl bewusst, dass „in der Irrenanstalt am Steinhof aus den bekannten Ideen des NS über die Bewertung von gesunden und kranken Menschen Personen vom Leben zum Tod gebracht wurden". Und sie konnte nun auch nicht mehr „verhehlen", dass es „naheliege", dieses System vor allem bei Kindern anzuwenden, „die aus körperlichen oder seelischen Mängeln für die menschliche Gesellschaft keinen Wert haben". 51 Die Zeugenaussage Marianne Türks im Verfahren gegen Dr. Heinrich Gross enthält einige Hinweise über die Aufteilung der Pavillons der Nerven klinik: „Es waren auch eine Zeitlang die größeren nervenkranken Kinder auch am Pav. XV untergebracht. Zu der Reichsausschussabteilung gehörten ja nicht nur Säuglinge und Kleinkinder, sondern auch Beobachtungsfälle im jugendlichen Alter. Es ist auch oft vorgekommen, dass Kinder (oft Säuglinge) als idiotisch in die Anstalt zur Beobachtung eingewiesen wurden, von denen sich dann herausstellte, dass sie nicht idiotisch, sondern nur verwahrlost waren. Es war ja der Zweck der Anstalt, die eingewiesenen Fälle zu beobachten und festzustellen, in welchen Fällen 49 Einvernahme Dr. Marianne Türk, Landesgericht für Strafsachen Wien II, 16.10.1945 - LG Wien: Vg ia Vr 2365/45. Teil 1. 50 Beschuldigtenvernehmung Dr. Marianne Türk, 16.10.1945: Strafverfahren gegen Anna Katschenka u.a. Bdi. 51 Ebd.
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mit einer Heilung gerechnet werden kann und in welchen Fällen nicht. Diese wurden dann dem Reichsausschuss gemeldet, der dann darüber zu entscheiden hatte."52
Über die Z u s t ä n d e in der „Kinderfachabteilung" sagte Heinrich Gross in s e i n e m Verfahren im März 1950 aus:
„Der Zustand in der Klinik war natürlich nicht gerade der Beste, weil es sich j a um eine Neugründung handelte. Ich habe versucht, die Umstände, die vielleicht dazu beigetragen haben, dass gewisse Infektionskrankheiten auftraten, zu vermindern. Es war unendlich schwierig, Windeln zu bekommen, und man m u ß bedenken, dass damals fast 300 Kinder auf dieser Abt. gelegen sind, und dass der Großteil davon so war, dass sie immer Windeln brauchten. Wir haben dann auch Windeln bekommen, die aber nach einmaligem Waschen auf ein Taschentuchformat zusammengeschrumpft sind. Wenn mir vorgehalten wird, dass von den Eltern der Kinder die Zustände auf das Schrecklichste geschildert wurden, so war das gar nicht so arg, es sind Infektionskrankheiten nicht direkt ausgebrochen, aber vielleicht gefördert worden in gewisser Hinsicht, und es war schwierig, diese Krankheiten einzudämmen, weil es an erfahrenen Pflegerinnen fehlte."53
Das Morden in der „Kinderfachabteilung" auf d e m „Spiegelgrund" geschah planvoll und überlegt. Es war ein kontrolliertes Töten, das dort in den Jahren 1941 bis 1945 praktiziert wurde. Und es entsprach d e m Konzept einer NS-Medizin, die das Töten (in der beschönigenden Sprache der Zeit: die „Todesbeschleunigung") unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten „Fällen" in den Alltag des Krankenhauses zu integrieren versuchte. Die „Ausmerze" - das heißt die ärztlich angeordnete H i n r i c h t u n g - v o n Menschen, deren Leben als nicht mehr „lebenswert" definiert wurde, sollte nicht mehr der A u s n a h m e f a l l , sondern die v o m System Krankenhaus praktizierte Alltags- und Normalsituation sein. Heilen und Vernichten waren die beiden Seiten einer Medizin, die ihren Fachverstand einsetzte, u m eine effizientere und kostengünstigere medizinische Versorgung zu realisieren. Aus dieser Sicht war es kein Wider-Sinn, w e n n die Kinder und Jugendlichen, die d e m „Reichsausschuss" gemeldet wurden, im Zuge ihrer „Behandlung" durchaus nach den Regeln des medizinischen Alltags untersucht wurden. Die wissenschaftliche Verwertung der Opfer war ein Teil dieser Tötungs-Medizin, die sich daran machte, den A n o m a lien auf die Spur zu kommen. Dass bei der Selektion der Kinder die Prinzipien ärztlich-fachlicher
52 Zeugenvernehmung Marianne Türk im Landesgericht Wien, 24.06.1949: Verfahren gegen Dr. Heinrich Gross. Vg ia Vr 1601/48. 53 Aussage Heinrich Gross in seinem Verfahren vordem Volksgericht, 27.03.1950: Strafverfahren Dr. Heinrich Gross. Vg ia Vr 1601/48.
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Vorgehensweise eingehalten wurden, ändert nichts daran, dass die Vorgaben der N S - G e s u n d heitspolitik für die tödliche Diagnose die entscheidenden Kriterien waren:
„Es war eine Psychologin da, es war eine Sonderkindergärtnerin da, und es haben mehrere Leute die Betreuung dieser Kinder in verschiedenen Richtungen durchzuführen gehabt. Es wurde über jedes Kind, wenn eine Meldung nach Berlin gemacht wurde, vorher eine Beratung abgehaltenen der der Leiter der Anstalt, sämtliche Ärzte der Anstalt, die Psychologin, die Schwester, die das Kind betreute und die Stations- oder Oberschwester teilgenommen haben."54 A m Prozess der Begutachtung waren verschiedene Bereiche der Nervenklinik beteiligt. Einen wesentlichen Anteil hatten dabei die Beobachtungen der Erzieherinnen (egal, welchen Status sie tatsächlich hatten): Sie beschrieben die Kinder und Jugendlichen und ihr Helmleben, ihr Verhalten in der G r u p p e und ihr Verhalten zu den Erziehern. Ihre Beobachtungen finden sich in vielen Fällen wörtlich in den abschließenden Begutachtungen wieder, die von der ärztlichen Leitung formuliert wurden. Auch die Schülerbeschreibungen, die Beurteilungen von Lehrherren und die Ergebnisse von psychologischen Tests sind In diesen Gutachten berücksichtigt. In ihren „Gutachten" und Stellungnahmen griffen die Ärzte a u f die Vor- und Zuarbeiten des Pflegpersonals und die übrigen vorliegenden Berichte zurück. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Beobachtungen und Bewertungen der Schwestern hat nicht stattgefunden. Auch die Frage, wie diese Beurteilungen zustande g e k o m m e n sind, wurde nicht gestellt.
Fallbeispiel Franziska H. Ein Beispiel für diese vordergründig nur von Sachverstand geleitete Vorgehenswelse ist die „Krankengeschichte" von Franziska H. (geboren 1935). In d i e s e m Fall findet sich ein a u s f ü h r liches (von Dr. Gross unterzeichnetes und von Dr. Illing genehmigtes) ärztliches Gutachten, in d e m vorgeschlagen wird, das Kind in einer „Erziehungsanstalt mit Beschulungsmöglichkeit" unterzubringen; des Weiteren ein Fragebogen, gerichtet an das G e s u n d h e i t s a m t ; ein Bericht des Bezirksjugendamts Enkplatz; ein kurzes psychologisches Gutachten der Heilpädagogischen A m b u l a n z der Wiener städtischen Kinderklinik Glanzing. Ein Sippenfragebogen und ein psychologisches Gutachten (unterzeichnet von Dr. Caruso) liegen dem Akte ebenso bei wie ein Schreiben der Wiener städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" an das Gesundheitsamt für den 6V7. Bezirk, das von der „Anstaltsärztin" Dr. M a r i a n n e Türk unterzeichnet ist. Das Schreiben an die Mutter des Kindes bzw. den Stiefvater mit der Aufforderung, den beillegenden Fragebogen
54 Zeugenaussage Anna Katschenka In der Hauptverhandlung gegen Dr. Heinrich Gross, 27.03.1950. LG Wien: Vg ia Vr 1601/48.
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(vermutlich war damit der „Sippenfragebogen" gemeint) „genauestens auszufüllen", trägt die Unterschrift des damaligen „Abteilungsarztes" Dr. Heinrich G r o s s e Die Ärzte und Ärztinnen des „Spiegelgrunds" agierten - entgegen ihren Schutzbehauptungen nach 1945 ~ als durchaus willige Erfüllungsgehilfen der NS-Cesundheitspolitik. Patienten, die den gesetzten Standards nicht entsprachen, wurden gewissenhaft gemeldet und damit den eugenischen Zwangsmaßnahmen ausgeliefert. So zum Beispiel im Falle Franz M.,für den Dr. Heinrich Gross die Überstellung in die Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Gugging beantragte und gleichzeitig anmerkte: „Vor eventueller Entlassung Unfruchtbarmachung angezeigt." 56 Der Krankengeschichte beigelegt ist ein von der Mutter des Kindes unterschriebener Blanko-Antrag auf Unfruchtbarmachung. 57 Dass die Nervenklinik für Kinder sehr konkret die Sterilisierung der ihr Anvertrauten betrieben hat, geht aus der Krankengeschichte von Melanie H. hervor. Am 18. Juni 1943 fasste das Erbgesundheitsgericht Wien den Beschluss, dass Melanie H. als „erbkrank anzusehen" sei. Es wurde daher, dem Antrag ihres gesetzlichen Vertreters und dem Mitantrag des Leiters der Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder „auf Unfruchtbarmachung der Beschriebenen Folge gebend, ihre Unfruchtbarmachung hiermit angeordnet". Die Entscheidung sei - so heißt es ausdrücklich - „ e n d g ü l t i g und ausführungsreif" 58 . Melanie H. war zum Zeitpunkt des Antrags (Oktober 1942) im 6. Monat schwanger. Im Gutachten der Erziehungsberatung wurde sie als „körperlich schwächliches, geistig unterwertiges, kritikloses, sehr triebhaftes Mädchen mit hypochondrischen Zügen" bezeichnet und ihre Einweisung zur psychiatrischen Beobachtung und die eventuelle Stellung eines Unfruchtbarmachungsantrags beantragt. 59 Am 19. Oktober 1942 unterzeichnete sie vor Dr. Heinrich Gross eine Erklärung, in der sie sich mit der Unterbrechung der bei ihr bestehenden Schwangerschaft einverstanden erklärte. 60 Die soziale Diagnostik spielte bei der Beurteilung der Kinder und Jugendlichen eine oft entscheidende Rolle. Zur Erfassung der dafür notwendigen Daten und Informationen wurde ein beachtlicher administrativer Aufwand betrieben. Die „Wiener Städtische Jugendfürsorgeanstalt" und später dann die „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien" bzw.die „Nervenklinik für
55
Krankengeschichte Franziska H . - P K B H - K G A : Krankengeschichte Franziska H.
56 Ärztliches Gutachten Franz M., 28.05.1942, unterzeichnet: der Abteilungsarzt Dr. Heinrich Gross, Dr. Margarete Hübsch für den D i r e k t o r - PKBH-KGA: Krankengeschichte Franz M. 57
Antrag auf Unfruchtbarmachung, unterzeichnet von Isabella M., nicht datiert, nicht ausgefüllt - PKBHKGA: Krankengeschichte Franz M.
58 End-Entscheidung des Erbgesundheitsgerichtes W i e n [Erbgesundheitsgerichtssache Melanie H.], 18.06.1943- PKBH-KGA: Krankengeschichte Melanie H. 59 Gutachten der Erziehungsberatung über Melanie H., 0 6 . 1 0 . 1 9 4 2 - PKBH-KGA: Krankengeschichte Melanie H. 60 Erklärung, 19.10.1942, unterzeichnet von Melanie H. und bestätigt von Dr. Heinrich Gross - PKBH-KGA: Krankengeschichte Melanie H.
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Kinder" schickten routinemäßig einen Fragebogen an das Gesundheitsamt, in dem der A m t s arzt bzw. die zuständige Fürsorgerin u m „möglichst genaue" Beantwortung bzw. Überprüfung der bereits bekannten Daten gebeten wurde. Festgehalten wurden neben den Personaldaten auch die A b s t a m m u n g („Arier, Mischling, Jude, Zigeuner, Neger usw."), ein genauer Bericht über die Entwicklung des Kindes, bisherige Erkrankungen, aber auch die„Familiengeschichte", in der neben Name, Alter, Beruf und Schulbildung der Eltern, Geschwister, Großeltern und sonstiger Verwandter anzugeben waren:„Lebenstüchtigkeit", charakterliche Eigenschaften, körperliche Krankheiten und Missbildungen, Geistes- und Nervenkrankheiten wie „Schwachsinn" und Schizophrenie, aber auch Anfälle von Krämpfen und Bewusstlosigkeit,„Melancholie",„Manie", Alkoholismus, Nikotinismus sowie Blutsverwandtschaft der Eltern und eventuell der Großeltern. Zusätzlich wurde eine „Sippentafel" angelegt, in der in einer eigenen Rubrik frühere und jetzige Krankheiten, das soziale Verhalten und Begabung zu vermerken waren. Wer den „positiven" Vorurteilen der Erziehungs-Gewalt entsprach, dessen Lebens-/Überlebenschancen waren ungleich besser als die jener Kinder, die in ihrem Aussehen, ihrem Verhalten und/oder ihrer Familiengeschichte nur bestätigten, was man von ihnen an Negativem ohnedies zu wissen glaubte.
Fallbeispiel Edda R. Edda R. (geboren Juni 1941) wurde Anfang Januar 1942 durch die Kinderübernahmestelle aus dem Kinderheim Freyenturmgasse in die Wiener Städtische Nervenklinik für Kinder eingewiesen. Das leicht behinderte Kind scheint bei dem Spitalspersonal wegen seiner Erscheinungsweise von vorneherein einen guten Eindruck gemacht zu haben. Der kommissarische Direktor, Dr. Ernst Illing, bescheinigte dem Kind a m 6. März 1943 eine altersentsprechende Entwicklung: Das Kind zeige lebhaftes Interesse an seiner Umwelt, beschäftige sich eifrig mit seinem Spielzeug und habe guten Kontakt mit Kindern und Erwachsenen. Charakterlich allerdings falle an dem „sehr herzigen" Kind (es war damals 1 3/4 Jahre alt), das „durch seinen Liebreiz Gefahr läuft verwöhnt zu werden, ein etwas gesteigertes Geltungsbedürfnis" auf. Illing schlug im Weiteren vor, das Kind wieder in die Pflege der Mutter zu geben, was dann auch wenige Tage später geschah. 61 Das freundliche Gutachten sollte allerdings nicht täuschen. Auf dem Deckblatt der Krankengeschichtejst zur Rubrik „Erbkrank" zwar ein Fragezeichen g e s e t z t - d a n e b e n allerdings findet sich die für das Kind vermutlich gar nicht so günstige, w o h l einschränkend gemeinte Bemerkung: „Nein, i. S. des GzVeN". D a m i t war wohl ausgedrückt, dass sich diese Einschätzung nur a u f die im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" aus d e m Jahre 1933 festgelegten Merkmale von „erbkrank" bezog. Auch die in einem durchaus freundlich gehaltenen Ton f o r m u lierte Mitteilung Dr. M a r i a n n e Türks an die Mutter des M ä d c h e n s vom Mai 1943, es w ü r d e sie
61
Gutachterliche Äußerung Dr. Ernst Illings, 06.03.1943 - P K B H - K G A : Krankengeschichte Edda R.
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freuen, einmal zu hören, wie es der kleinen Edda gehe, und die A u f f o r d e r u n g a n die Mutter, mit d e m Kind einen kurzen Besuch auf der Abteilung zu machen, 6 2 ist nicht unbedingt beruhigend. W a s wäre passiert, w e n n die Entwicklung des Kindes nicht (mehr) den Erwartungen der Ärzte vom „Spiegelgrund" entsprochen hätte?
Fallbeispiel Heinz P. W e n n die ihm Ausgelieferten ihre vermeintlichen Verfehlungen nicht einsehen wollten und sich nicht als reuig genug erwiesen, reagierte das nationalsozialistische „Erziehungs"-System empört und aggressiv. Die Klassenlehrerin von Heinz P. beispielsweise notiert (wie aus der Krankengeschichte zu e n t n e h m e n ist) verärgert: „Nie gab er seine Schuld zu, er war maßlos feige, verlogen und hinterhältig." Auch die Mutter, die ihr Kind in Schutz nahm, wird von der Lehrerin abqualifiziert:„Sie machte einen völlig verständnislosen und hysterischen Eindruck. Mit der Km. war überhaupt kein vernünftiges Wort über den Jungen zu sprechen." Es verwundert nicht, dass dann auch in der W a h r n e h m u n g der Lehrerin die Schulleistungen des Kindes seiner„Führung" entsprachen: „Er hatte nur sehr m a n g e l h a f t e Leistungen a u f z u w e i s e n und war gerade noch fähig z u m Aufsteigen in die 5. Kl. der Volksschule. Die Km. drängte ihn zur Überprüfung an die Hauptschule, bei d e r e r hundertprozentig versagte." 6 '
„... Früherfassung anlagebedingter Asozialität auf dem Boden erblicher charakterlicher Abartigkeit..."
An der „Nervenklinik" wurde nicht erzogen, sondern selektiert. D i e d o r f praktizierte „Auslese"Psychiatrie war wesentlich geprägt durch die in der Anstalt Görden von H a n s Heinze e n t w i ckelten Prinzipien. Görden ging im Zuge einer w e i t g e h e n d e n Umstrukturierung der Landesanstalten Brandenburgs aus der Landesanstalt Potsdam hervor. Bereits die Anstalt Potsdam hatte sich unter Heinzes Leitung seit 1943 als jugendpsychiatrische Anstalt entsprechend den sozialrassistischen Zielsetzungen des NS-Systems profiliert. 64
62 Dr. Marianne Türk an Anna R., 12.05.1943 -PKBH-KGA: Krankengeschichte Edda R. 63 Führungsbericht der Volksschule für Knaben und Mädchen, Wien IV, Sankt-Elisabeth-Platz 8 betreffend Heinz P., 12.03.1943 - PKBH-KGA: Krankengeschichte Heinz P. 64 Vgl. Knaape, H.-H., Kinderpsychiatrie und Euthanasie in der Landesanstalt Görden 1939-1945, in:,.Eugenik und Euthanasie" im sogenannten Dritten Reich. Stand der Forschung und Diskussion in beiden deutschen Staaten. Fachtagung des Diakonischen Werkes der ev. Kirchen in der DDR, 29.10.-01.11.1989. Lobetali99o,S.7.
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Welche Auffassung von Jugendpsychiatrie Illing (und später Dr. Heinrich Gross, der ebenfalls, allerdings nur kurze Zeit, in Görden ausgebildet wurde) dort nahegebracht wurde, lässt sich an einem "Tätigkeitsbericht Helnzes aus dem Jahre 1942 nachlesen. Heinze, der in seinem Tätigkeitsbericht vom September 1942 als eine seiner Forschungsaufgaben u. a. auch die „Dressurfähigkeit tiefstehender Schwachsinniger" präsentierte, hatte die Notwendigkeit der Mitarbeit der Jugendpsychiatrie in Fürsorgeerziehungsverfahren damit begründet, dass es eine„unerlässliche" nationalsozialistische Forderung sei, an den Beginn sowohl individuell wie „sippenmäßig" die „Wertbestimmung" jedes einzelnen Zöglings und Kranken zu stellen: „Aber nicht nur die Erkennung Erbkranker, sondern auch die Früherfassung anlagebedingter Asozialität auf dem Boden erblicher charakterlicher Abartigkeit ist meines Erachtens am besten durch die jugendpsychiatrische Beobachtung in einer fachlich geleiteten Aufnahmeabteilung sichergestellt." Vor allen Dingen, so Heinze, werde dieses Vorgehen „dazu beitragen helfen, überflüssige Kosten zu ersparen, unnütze erzieherische Versuche am untauglichen Objekt zu vermeiden und damit erzieherische Enttäuschungen zu ersparen, die Anstaltserziehungsbedürftigen auszusondern und Unerziehbare wegen erheblicher geistiger und seelischer Regelwidrigkeit gemäß § 73 RJWG rechtzeitig auszumerzen".6? Analog zu der von ihm bereits in Potsdam praktizierten Differenzierung der Patienten und der Trennung in heilerzieherische und jugendpsychiatrische Sondergebiete schuf Heinze Aufnahme- und Beobachtungsabteilungen für Knaben und Mädchen, in denen ihre Erziehbarkeit oder Unerziehbarkeit nach ärztlicher und heilpädagogischer Untersuchung und Beobachtung festgestellt wurde:„Die erziehbaren Kinder und Jugendlichen wurden den Sondererziehungsabteilungen der Anstalt zugewiesen, die untergegliedert wurden in Abteilungen für vorwiegend Umweltgeschädigte und Abteilungen für charakterlich Abartige, diese wiederum untergegliedert in Abteilungen für Kinder und Jugendliche."66 Das System Heinzes war grundsätzlich auf die (De-)Klassierung der Kinder und Jugendlichen nach ihrem sozialen Wert ausgerichtet.„Bildungsfähige" Schwachsinnige beispielsweise sollten in einer„Lebenshilfe"für ihre soziale Integration trainiert und zur Arbeit angeleitet werden.67 Als „bildungsfähig" diagnostizierte Kinder und Jugendliche wurden nach charakterologischen Kriterien in erziehbare und unerziehbare unterteilt.68 Zur Durchführung dieser Klassifikationsarbeit war bereits 1937 in Potsdam ein Standarduntersuchungsprogramm für geistig schwer behinderte Kinder und Jugendliche entwickelt worden, das neben der Anamnese, der Erhebung der „Sippentafel", der körperlichen und der ausführlichen neurologischen Untersuchung und 65 Klee,„Euthanasie" im NS-Staat,S. 380. 6 6 Knaape, Kinderpsychiatrie und Euthanasie in der Landesanstalt Görden, S. 8. 67 Vgl. ebd. 68 Für diese Gruppe lässt sich (in Analogie zum „Spiegelgrund") nicht nachweisen, dass sie der „Euthanasie" in der Landesanstalt Görden zum Opfer fiel, vgl. ebd., S.17.
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der fotografischen Erfassung der Patienten auch die Luftenzephalographie routinemäßig vorsah. 6 ' Auch hierbei sind die Parallelen z u m „Spiegelgrund" nicht zu übersehen. Dass Heinzes Konzeptionen in der Nervenklinik in Wien wohl bekannt waren, geht auch aus den Gerichtsverfahren gegen das a u f d e m „Spiegelgrund" tätig gewesene ärztliche Personal hervor. Dr. M a r i a n n e Türk gab in ihrer Zeugenaussage im Kreisgericht Krems im Oktober 1948 an, sie habe von der Anstalt Görden bei Berlin aus Erzählungen Dr. Illings gewusst: Er habe ihr erklärt, dass auch dort eine Reichsausschussabteilung bestehe und dass dort die „aussichtslosen Fälle" in der gleichen Weise behandelt w ü r d e n wie in Wien.? 0 Auch die N a m e n Dr. Brack und Dr. H e f e l m a n n hatte M a r i a n n e T ü r k in Z u s a m m e n h a n g mit d e m Reichsausschuss in Erinnerung, allerdings konnte sie nicht angeben, welche Funktion diese beiden dort bekleideten. 71 Die Verbindung zu Brandenburg-Görden war im Übrigen auch durch Dr. Gross gegeben, der in seinem Strafverfahren aussagte, dass er im S o m m e r 1941 für einen Zeitraum von sechs bis sieben Wochen einen „Spezialkurs" in Brandenburg besucht habe, w o sich „eine ähnliche Anstalt mit j u g e n d l i c h e n Psychopathen befand". 72 Bewerten und Abwerten, Beurteilen und Verurteilen, Strafen und Bestrafen b e s t i m m t e n den Alltag der Kinder und Jugendlichen, die in der Nervenklinik zur Beobachtung eingeliefert wurden. Anders als die Kinder der„Kinderfachabteilung", die den „Spiegelgrund" bis auf Ausn a h m e n kaum überlebten, konnten sie den „Spiegelgrund" jedoch wieder verlassen. Im Verfahren gegen Anna Katschenka kam dennoch auch ein „Todesfall" zur Sprache, in den eine m i t a n geklagte Pflegerin aus Pavillon 17 verwickelt war. Im Erhebungsbericht der Staatspolizei beim Landes- und Volksgericht Wien vom 5. JuIi 1946 wird zur Erhebung über Schwester Erna Walter, verehelichte Storch,festgehalten: „Schwester St. war als NSDAP-Angehörige bekannt, trug stets das Parteiabzeichen und kassierte die Mitgliedsbeiträge für die NSV. Weiters war bekannt, dass die Schwester St. zu den Pfleglingen sehr streng war und in manchen Fällen die Pfleglinge sogar misshandelte. Über den zur Anklage stehenden Vorfall ist bekannt, dass die Schwester St. den Pflegling misshandelte, in eine Einzelzelle sperrte und an dem darauffolgenden .Selbstmord' nicht ganz unbeteiligt war."73
69 Vgl. ebd., S. 11. 70 Vgl. Zeugenvernehmung Marianne Türk im Landesgericht Wien, 24.06.1949: Verfahren gegen Dr. Heinrich Gross. 71 Vgl. ebd. 72 Aussage Heinrich Gross, 27.03.1950: Strafverfahren gegen Dr. Heinrich Gross, LG Wien Vg ia Vri6oi/48. 73 Staatspolizei beim Landes- und Volksgericht Wien, 05.06.1946: Strafverfahren gegen Anna Katschenka u.a.Bd.i.
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Melitta Stern, ebenfalls Pflegerin in der„Nervenklinik", gab am 1. Juli 1946 dazu zu Protokoll, sie sei bei ihrem Dienst im Kleinkindergarten von einem Mädchen (einem Zögling der Anstalt) unterstützt worden, die auf sie einen „sehr niedergeschlagenen Eindruck" gemacht habe. Als Grund dafür habe das Mädchen angegeben, sich mit einigen Schwestern der Anstalt nicht zu verstehen. Einige Tage später wurde Melitta Stern mit einigen anderen Schwestern zu einem „Appell" in das Büro Illings bestellt: „Dr. Illing sprach über das Verhalten der Pflegerin gegenüber den Zöglingen, verbot das Schlagen der Zöglinge und forderte die Pflegerinnen auf, wenn eine Pflegerin wirklich einmal einen Pflegling schlagen sollte, so möge sie dies sofort Dr. Illing melden. Als Beispiel, was entstehen könnte, wenn dies nicht so gehandhabt würde, führte er den Fall der Pflegerin Storch [an]. Diese hatte nach der Erzählung des Dr. Illing einen Zögling mit Ohrfeigen misshandelt und den Zögling dann in eine Einzelzelle gesperrt. Am nächsten Morgen war das Kind tot. Es hatte sich angeblich mit einem Schlafpulver selbst vergiftet."74 Wie das Mädchen zu dertödlichen Dosis Schlafmittel gekommen war, konnte sich Melitta Stern nicht recht erklären. Möglich sei aber, dass die Schwester dem Mädchen die Schlaftabletten selbst verabreicht habe. Ähnliches sagten auch andere ehemalige Pflegerinnen aus. Dem Gerichtsakt des Strafverfahrens gegen die ehemalige Pflegerin Anna Katschenka liegt auch eine Strafanzeige der Mutter des Mädchens bei. Martha Angeboren 1929, war demnach in die „Erziehungsanstalt für Jugendliche" am „Steinhof" eingewiesen worden, weil sie „an Wandertrieb litt und schwer erziehbar war". Nach einer Operation im Wilhelminenspital wollte das Mädchen nicht mehr zurück ins Heim und bat die Mutter„händeringend", sie doch da zu lassen. Die beigezogene Fürsorgerin allerdings erklärte kategorisches gebe kein Nachhausegehen, und im Übrigen werde sie dafür sorgen, „dass diesem Fratzen dieser,ganz gemeine Wandertrieb' ausgetrieben werde". Illing, an den sich die Mutter daraufhin wandte, versprach, das Kind nach Beendigung der Untersuchung nach Hause zu schicken. Im Oktober 1944 erhielt die Mutter von der Heimleitung den Bescheid, dass das Mädchen, das sich jetzt zu einem „Mustermädel" entwickelt habe, zu Weihnachten nach Hause entlassen werde. Als die Mutter a m 17. Oktober 1944 von der Polizei vom Tod des Mädchens benachrichtigt wurde, war sie begreiflicherweise in „größter Bestürzung". Man erklärte ihr, das Mädchen habe sich mit Schlaftabletten vergiftet:
„Den Rest des Pulvers habe man gefunden. Sie habe sich nach einer unerlaubten Entfernung die Pulver verschafft, am Abend vorher sei sie sehr aufgeregt gewesen, so dass sie einzeln ein-
74 Aussage Melitta Stern vorder Staatspolizei beim Landes- und Volksgericht Wien, 01.07.1946: Strafverfahren gegen Anna Katschenka u. a. Bd. 1.
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gesperrt werden musste! Am nächsten Morgen habe man sie in tiefer Bewusstlosigkeit aufgefunden, der herbeigerufene Arzt Dr. Türk habe nur mehr den Eintritt des Todes feststellen können." Beim Verlassen der Anstalt stieß die Mutter, die von einer Bekannten begleitet wurde, auf zwei Zöglinge, die ihnen den anderen Teil der Geschichte berichteten: „Und nun ereignete sich etwas, was mich mit höchstem Schmerz und Entsetzen erfüllte: Beim Pavillon 16 befanden sich ein Knabe und ein Mädchen. Als sie erfuhren, dass ich die Mutter der toten Martha sei, sagte der Knabe, er wäre nicht so dumm gewesen (er meinte, sich umzubringen), worauf das Mädchen erwiderte, er wisse ja nicht, was man mit ihr getrieben habe. Auf meine neugierige Frage, was sie denn davon wisse, erzählte sie, man habe Martha am Abend .einzeln gegeben', warum wisse sie nicht und um 1/2 12 Uhr nachts habe Schwester Storch Martha so entsetzlich geschlagen, dass Martha geschrieen habe. Die Kinder im Saal hätten gedacht, Martha habe irgend einen Anfall gehabt. Am nächsten Morgen habe es geheißen, Martha sei tot. Als ich dann mit meiner Freundin [...] bei der Haltestelle der Straßenbahn stand, machte eine dort stehende Frau die Bemerkung, es sei nicht mehr schön gewesen, was man mit dem Mädel gemacht habe."75 Da Marthas Mutter vermutete, dass der Tod ihrer Tochter kein natürlicher gewesen sei, erstattete sie 1946 Strafanzeige mit der Bitte, diese in das Verfahren gegen Dr. Illing und Dr.Türk mit einzubeziehen. Im Verfahren gegen Illing kam dieser Vorfall allerdings nicht mehr zur Sprache.
Das „Erziehungs"-Heim Während die Vorgänge in der„Nervenklinik" für Kinder (den Pavillons 15 und 17 also) durch die Gerichtsprozesse gegen das verantwortliche ärztliche und pflegerische Personal in etwa nachvollzogen werden können, ist über das „Erziehungsheim" bisher kaum etwas bekannt.76 Einiges ist allerdings aus Veröffentlichungen Dr. Kreneks, 1942 bis 1945 Leiter des Erziehungsheimes, zu rekonstruieren. Im Archiv für Kinderheilkunde hat Krenek 1942 mit Hinweis auf seine Arbeit in der Städtischen Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" einen „Beitrag zur Methode der Erfas-
75 Strafanzeige Marie Zanger, 25.04.1946: Strafverfahren gegen Anna Katschenka u.a.Bd.i. 76 Ein Überblick findet sich bei: Müller, J., Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Verfolgung durch Euthanasie- in Erziehungsheimen - Jugendgefängnissen - Arbeitserziehungslagern - Jugend-KZ. Eine Dokumentation.Teil 1, in: Betrifft Widerstand, Folge 42/02/1999, S.4-13.
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sung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen" veröffentlicht. Darin nimmt er eingangs auch auf die Geschichte der Fürsorgeanstalt Bezug und berichtet, dass die Gemeinde Wien seit 1925 eine eigene„Schulkinderbeobachtungsstation" eingeführt habe, die zunächst in der Kinderherberge „Am Tivoli", dann im Schloss Wilhelminenberg und seit 1934 als „heilpädagogische Abteilung" in einem Pavillon des Zentralkinderheims untergebracht worden sei. Die 1940 gegründete „Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund" sei - so Krenek - 1 9 4 2 vor allem als „Durchzugsheim" konzipiert worden. Daneben gab es auch „Dauergruppen" für „besonders schwierige Erziehungsfälle", die als „noch nicht hoffnungslos" galten. Die „Durchzugsgruppen" - v o r allem die Säuglings- und Kleinkinderabteilung-dienten in erster Linie der Beobachtung und Begutachtung der Kinder, wobei es auch darum ging, in etwa nach dem selben Muster wie in den Pavillons 15 und 17 der „Nervenklinik" das zur Verfügung stehende „Zöglingsmaterial" sowohl in medizinisch-psychologischer als auch in erbbiologischer und psychiatrischer Hinsicht zu erfassen und einer späteren wissenschaftlichen „Verarbeitung" zuzuführen.77 Auch diesen Vorgang hat Krenek detailliert beschrieben: „Schon bei der Überstellung in unsere Anstalt, welche entweder über die Kinderübernahmestelle nach erfolgter Ouarantänisierung oder direkt erfolgt, werden von der zuweisenden Stelle, sei es wie bisher das Jugendamt oder ein Gesundheitsamt, eingehende Darlegungen des Überstellungsgrundes und eine genaue Familiengeschichte des Kindes verlangt, wobei besonderer Wert auf die Angabe aller erblichen Belastungen und Umweltschädigungen gelegt wird. Weiter wird auch, soweit es möglich ist, ein genauer Schulbericht eingeholt, um auch in dieser Hinsicht allfällige Erziehungsmängel oder sonstige Auffälligkeiten des Kindes genau erfassen zu können. Oft geben auch die von der Leitung unserer Sonderschule von den einzelnen Schulen angeforderten Schülerbeschreibungsbögen, welche ebenfalls einer genauen Durchsicht unterzogen werden, sehr wichtige Aufschlüsse. Wenn der Zögling schon einmal bei einer öffentlichen Erziehungsberatung vorgeführt wurde, so wird auch diese Stelle veranlasst, das Ergebnis dieser Beratung schriftlich bekanntzugeben. War das Kind früher bereits Zögling einer Anstalt, so wird auch von dieser ein genauer Führungsbericht eingeholt."78 Bereits beim Eintreffen der Kinder und Jugendlichen in der Anstalt hatte der Anstaltsarzt die Aufgabe, den status somaticus der Eingewiesenen zu erheben, wobei besonders internistische und neurologische Aspekte im Vordergrund der Untersuchung standen. Dazu kamen - neben eventuellen speziellen Untersuchungen - bei Besuchen der Eltern oder sonstiger Angehöriger eine genaue Anamnese sowohl in erbbiologischer wie auch in psychiatrischer und somatischer
77
Vgl. Krenek, Beitrag, S. 73.
78
Ebd.
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Hinsicht. Die Kinder und Jugendlichen wurden gemessen und gewogen und fotografiert. Nach einer Eingewöhnungszeit erfolgte dann die weitere psychologische Untersuchung: „...wird der Zögling einer psychologischen Prüfung unterzogen, die zum Teil auch noch als eine Art Intelligenzprüfung nach den gegenwärtig gebräuchlichen Methoden nur in wesentlichen Punkten besonders erweitert und ausgebaut ist, wobei es uns aber weniger auf die Erstellung eines Intelligenzquotienten [...] als vielmehr auf die Erfassung der Cesamtpersönlichkeit und auf eine Kontrolle des Funktionierens gewisser, für die Erziehung ausschlaggebender psychischer und phasischer Fähigkeiten ankommt."79 Ergänzend dazu wurden die Kinder und Jugendlichen im Verlauf dieses Beobachtungsprozesses angehalten, Aufsätze zu schreiben, die wohl nicht in erster Linie dazu dienten, die Persönlichkeiten der Kinder besser kennen zu lernen, sondern dazu, sie besser in die vorgegebenen Klassifizierungsmuster einordnen zu können: „Im Zusammenhang mit der schriftlichen Ausarbeitung von sorgfältig ausgewählten Themen, welche im besonderen geeignet sind, Einblick in das Seelenleben des Kindes oder Jugendlichen zu gewähren, und nicht selten wichtige Aufschlüsse über ihre charakterliche Entwicklung geben, gelangen wir auch in den Besitz vollkommen unbewusst erstellter Schriftproben, die sehr oft das Charakterbild des Zöglings auf das Trefflichste vervollständigen."80 Durchgeführt wurden diese psychologischen Prüfungen - wie Krenek ausdrücklich b e t o n t - v o n „eigens hinzu ausgewählten psychologisch geschulten und erfahrenen Fachkräften unter Leitung eines in pädagogischer Hinsicht erfahrenen Fachpsychologen." 81 Von besonderer Bedeut u n g f ü r die Erstellung des abschließenden Cutachtens waren die „Führungsberichte", die von der (Sonder-)Schule bzw. vom Erziehungspersonal erstellt wurden, die über den schulischen Erfolg und über das soziale Verhalten Aufschluss geben sollten. Das Gutachten bestand zu einem wesentlichen Teil aus einer Rekapitulation aller psychischen, physischen und erbbiologischen Daten und Vorschläge für die weiteren Erziehungsmaßnahmen bzw. den Antrag für die Überstellung in eine dazu geeignete Anstalt oder eine Pflegestelle. Bereits im ersten Jahr des Bestehens der neuen Anstalt wurden über 659 von den insgesamt 1583 aufgenommenen Kindern und Jugendlichen einer„genauen Beobachtung und Prüfung" unterzogen.„Dissozialität" bzw.„Asozialität" wurde bei 33 männlichen und 35 weiblichen Zög-
79
Ebd., S.75 f.
80 Ebd., S.76. 81
Ebd.
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lingen festgestellt; als „arbeitsscheu" wurden sechs Burschen und 22 Mädchen klassifiziert. Bezeichnend ist, dass von den 42 von November 1940 bis Juli 1941 begutachteten männlichen Jugendlichen nur bei fünf ein „gesteigertes sexuelles Interesse" festgestellt wurde, während von den im gleichen Zeitraum begutachteten 98 weiblichen Jugendlichen 57 als „sexuell triebhaft, depraviert" bezeichnet wurden. 8 2 Welche Eigenschaften in den A u g e n der Erzieher als positiv bzw. negativ erschienen, hat Krenek a m Beispiel der für die Abfassung eines Führungsberichtes und eines Gutachtens produzierten Berichte für Franz P„ der als „schwer erziehbar" a u f den „Spiegelgrund" eingeliefert wurde, selbst dokumentiert.
Fallbeispiel Franz P. Nach den „Erhebungen" der Anstalt wirke die Kindesmutter „etwas kokett" und sei „geistig nicht sehr rege". Franz P. sei den ganzen Tag a u f der Straße gewesen, habe weder Schule noch Hort besucht, Zigaretten geraucht, das von seiner Mutter erhaltene Essensgeld z u m Spielen verwendet und die übrigen Parteien seines Wohnhauses belästigt. Zu Hause sei er nie frech gewesen, sondern anhänglich und willig. Von der Knabenvolksschule Wien 10 wurde b e r i c h t e t e r sei ein „Raufbold", Diebstähle und dergleichen seien aber bisher nicht vorgekommen; er weise einen schlechten Lernerfolg a u f und habe die 2. Klasse wiederholen müssen; bei Nichtbesuch des Unterrichts bringe er m a n c h m a l keine Entschuldigungen. Nach der Beobachtung in der Anstalt wird er als „ruhig und still" eingeschätzt, wirke ängstlich und verschlossen, halte aus persönlicher Bequemlichkeit weder auf persönliche Reinheit noch auf Ordnung und drücke sich vor jeder Arbeit. Seine Verträglichkeit und Nachgiebigkeit gegenüber seinen Kameraden wird a u f seine große Passivität zurückgeführt; er füge sich widerspruchslos allen Anordnungen, sei freundlich und folgsam. Auch im Bericht der Sonderschule wird seine teilnahmslose, passive Einstellung besonders hervorgehoben. Seine Haltung sei „wenig straff", er zeige „wenig A u s dauer und Härte", sei kein Freund körperlicher Anstrengungen. In der psychologischen Prüfung wird er als ein „geistig etwas rückständiger, g e h e m m t e r Bub" klassifiziert. Das z u s a m m e n f a s sende G u t a c h t e n beschreibt ihn d e m n a c h als einen Jungen von „unterwertiger Intelligenz" und „haltschwach", der im guten wie im schlechten Sinne beeinflussbar sei. Bei entsprechender „Führung" zeige er eine „besonders gute Unterordnungsbereitschaft". Beantragt wurde eine „indifferente" Anstalt, aber kein NSV-Heim. 8 3 Wie sehr die Sehnsucht nach „draußen" das Leben der Kinder a m „Spiegelgrund" bestimmte, zeigt sich in ihren Aufsätzen. In ihrem Text „Was w ü r d e ich in W i e n e i n e m Fremden zeigen"
82 Vgl. ebd., S. 81. 83 Vgl. ebd., S. 82 ff.
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möchte Marie P. den Besucher u. a. auch dorthin führen, wo sie selbst lebt, denn außer Schönbrunn, dem Tiergarten und der Gloriette gebe es noch viel mehr zu sehen: „Zum Beispiel das schöne Steinhof. Die Kirche und der Wasserturm sind sehr sehenswert. Am,Spiegelgrund' sind wir dann zu Hause. Es ist ein sehr schöner Garten hier". Auch den Stephansdom, das Parlament und das Rathaus,den Prater und Grinzing und Sievering würde sie dem Fremden zeigen, doch: „momentan geht es aber nicht, da ich selbst nicht raus kann."8"
Dr. Johann Krenek, Spiegelgrund-Pädagoge Nach 1945 war Krenek bestrebt, seiner Tätigkeit am „Spiegelgrund" den Anschein von „Normalität" zu geben und jede Nähe zur NS-Psychiatrie von sich zu weisen. In seinem Ansuchen um Befreiung von der Behandlung nach den Bestimmungen des Artikels III des NS-Gesetzes 1947 an den Bundespräsidenten vom 21. Mai 1947 bezeichnet ersieh ohne Scheu nach wie vor als „Direktor" des Wiener städtischen Erziehungsheimes „Am Spiegelgrund"-„derzeit außer Dienst". Zu seiner Exkulpierung führt er an, dass er trotz seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP seit 1938 nie aufgehört habe,„Sozialist" zu sein. Als psychologisch-pädagogischer Leiter der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" habe er erzieherische „Unzukömmlichkeiten" schärfstens angegriffen. Als Gegner der „Injektions-Behandlung" will er die Ausschaltung des so genannten fachärztlichen Einflusses betrieben und die Abtrennung der späteren „Nervenklinik" vom Erziehungsheim veranlasst haben. In den letzten Kriegstagen habe er der Einberufung zum Volkssturm nicht Folge geleistet und sei bei den Kindern und Angestellten im Erziehungsheim geblieben. Er habe mit ihnen die schwere Zeit der letzten Kriegsereignisse gemeinsam durchgemacht und durch sein Bleiben die größte Erziehungsanstalt der Gemeinde Wien als einzige „gerettet"; mit „Stolz" dürfe er daher feststellen, „dass trotz aller Wirren nicht die kleinste Kleinigkeit weggekommen ist". Aufgrund seiner „antifaschistischen Betätigung" h a b e - f ü h r t Krenek als letztes Argument für seine politische Untadeligkeit noch an - der Zentrale Prüfungsausschuss der SPÖ seine Rehabilitierung ausgesprochen und seiner Wiederaufnahme in die Partei mit i.Januari946 zugestimmt. 85 Im Prozess gegen Illing u.a. konnte Krenek am 2. Verhandlungstag, dem 16. Juli 1947, als Zeuge auftreten, ohne dass seine berufliche Nähe zum „Spiegelgrund" in irgendeiner Weise das Gericht zu der naheliegenden Frage nach seiner persönlichen wie beruflichen Verbindung zu 84 Aufsatz Marie P.„Was würde ich einem Fremden in Wien zeigen" - PKBH-KGA: Krankengeschichte Marie P. 85 Dr. Johann Krenek, Ansuchen um Befreiung von der Behandlung nach den Bestimmungen des Artikels III des N.S. Gesetzes vom Jahre 1947 an den Herrn Bundespräsidenten der Republik Österreich, Wien, 21.05.1947-AdR- Präsidentschaftskanzlei -61970/1966.
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den Geschehnissen in der „Nervenklinik" provoziert hätte. In seiner Anstalt (gemeint ist wohl das Erziehungsheim) sei - so Krenek-„überhaupt" kein Todesfall zu verzeichnen gewesen; hier seien nur körperlich und geistig gesunde Kinder untergebracht gewesen, die lediglich in ihrer Erziehung verwahrlost gewesen seien. Man könne diese Kinder nicht als „asozial" bezeichnen. Er habe auch Gelegenheit gehabt, Dr. Illing kennen zu lernen. Nach seinem Eindruck sei dieser „wegen seiner Strenge, ich möchte hier das Zeitungswort .zackig' gebrauchen, und seiner Schroffheit weniger beliebt" gewesen. Kreneks anschließend vorgebrachte, für Dr. Marianne Türk günstige Aussage sollte offenkundig auch dazu dienen, die Verhältnisse in der von ihm geführten Anstalt als annehmbar und unverdächtig darzustellen: Niemals habe er wahrgenommen oder davon gehört, dass Dr.Türk sich gegenüber den Kindern brutal verhalten habe:„Frau Dr.Türk hat auch meine Jugendlichen behandelt, wenn ein Zögling von mir krank war. Ich hätte mich sicherlich nicht an eine brutale Ärztin gewandt. Die Frau Dr. Türk war auf unserer Krankenabteilung sehr beliebt."86 Von „Todesbeschleunigungen" und von Tötungen habe er selbst nichts gehört: „Dass Kinder in dieser Klinik ins Jenseits befördert worden sind, habe ich nicht gehört. Von Euthanasierungen habe ich nicht gehört. Davon habe ich nur jetzt in den Zeitungen gelesen."8? Krenek hat 1946 im Verlag Mayer & Comp, in Wien ein „Hilfsbuch der Erziehung" veröffentlicht, gewidmet „allen Eltern, die ihre Kinder lieben". Prof. Dr. August [von] Reuß rühmt in seinem Geleitwort vom Dezember 1945 dieses Erziehungsbuch als das Werk eines Fachmannsauf dem Gebiete der Pädagogik und Psychologie, der keine Bücherweisheit bringe, sondern „ganz und gar aus dem Leben schöpft".88 Dass diese pädagogische Erfahrung auf der Tätigkeit im Erziehungsheim auf dem „Spiegelgrund" beruhte, wollte Reussden Leserinnen und Lesern freilich nicht mitteilen. Dass Krenek-ein „österreichischer Mensch im besten Sinne des Wortes"-vor kurzer Zeit noch ein eingeschriebener österreichischer Nationalsozialist gewesen war, hielt er ebenfalls nicht für erwähnenswert.8« Auch Krenek selbst lässt diesen Teil seiner Vergangenheit nicht zur Sprache kommen. In seiner Einleitung, datiert mit Oktober 1945, berichtet Krenek kryptisch, dass er „durch Zufall" jetzt einige Wochen frei gewesen sei und die Zeit genützt und sich an diese immer wieder zurückgestellte Arbeit gemacht habe.'0 Auch hält er es nicht für wesentlich, seiner Leserschaft darzulegen, dass diese ihm plötzlich zur Verfügung stehende Freizeit dadurch begründet war, dass er seinen Posten wegen seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP verlassen musste und dass dieser Posten die Leitungsfunktion auf dem „Spiegelgrund" betraf. 86 Zeugenaussage Dr. Johann Krenek im Verfahren gegen Dr. Illing, Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch am 16.07.1946-LG Wien:Vgia Vr236s/45. 87 Ebd. 88 Krenek, H., Unser Kind. Ein Hilfsbuch der Erziehung. Wien 1946, S.7. 89 Vgl.ebd. 90 Vgl. ebd., S. 9.
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In seinem Buch gibt Krenek sich durchaus verständnisvoll. Im Konkreten spricht hier freilich immer noch der Erziehungsleiter vom „Spiegelgrund", der vor allem darauf bedacht ist, dass bei aller Liberalität und bei allem Verständnis die Ordnung gewahrt wird und die Autorität keinen Schaden erleidet. Diese Erziehung zur Ordnung will Krenek bereits in der ersten Lebensphase des Kindes beachtet wissen. Gesundheitlich zuträglich und von besonderer Bedeutung für seine ganze Entwicklung sei es, dem Kinde nur zu festgesetzten Zeiten Nahrung zu geben und es auf diese Weise an die Einhaltung dieser Zeiten zu gewöhnen. Jede „diesbezügliche Unregelmäßigkeit" sei schädlich, störe die Verdauung des Kindes und könne zu seinem eventuellen Krankwerden beitragen. Vor allem aber fürchtet Krenek, dass das „immer wiederkehrende Durchbrechen einer einmal festgelegten Ordnung" sich in erzieherischer Hinsicht sehr zum Nachteil für die charakterliche Entwicklung des Kindes auswirken könnte.' 1 Drohend fügt er hinzu, man dürfe nicht vergessen, dass einmal gemachte Fehler in der Erziehung nur schwer wieder gutzumachen seien: „Ihre Folgen wachsen mit dem Kinde mit und können oft erst in späteren Jahren die Grundlage für unangenehme Auffälligkeiten,für empfindliche Erziehungsschwierigkeiten sein."92 Die große Sorge Kreneks ist es, Kinder könnten sich ungehemmt entwickeln. Hier gelte es, einem Gärtner gleich, die Kinder permanent zu beobachten, sie bei Bedarf zurechtzustutzen und ihnen den gewünschten Gemeinschaftssinn beizubringen,denn:„Unsere ganzen Beobachtungen aber wären nutzlos, wollten wir gerade bei unseren Kindern den Gemeinschaftssinn wild entwickeln lassen und wachsen wie das Unkraut in ungepflegten Gärten." 93 Wenn Krenek den „Gemeinschaftssinn" als ein wesentliches Erziehungsprinzip immer wieder in seinem Erziehungsbuch betont, so ist damit konkret immer auch die Befürchtung verbunden, Kinder könnten gegen Erwachsene ihren Willen d u r c h s e t z e n - w a s verhindert werden müsse:
„Wenn die gute Mutter stolz ist auf ihren kleinen Franzi, weil er in seiner groben Art es immer wieder versteht, sich alles, was ihm bei den anderen Kindern gefällt, einfach anzueignen, dann müssen wir wohl sagen, dass sie damit einen schweren Erziehungsfehler macht, denn, wenn er immer und immer wieder seinen Willen durchsetzen kann und dafür womöglich noch gelobt wird, dann ist damit für die Lenkung der Entwicklung des Gemeinschaftssinns nicht das Richtige getan, sondern aus dem kleinen, anfänglich ganz originellen Franzi wird sich im Laufe derzeit ein kleiner Streithansl entwickeln und seiner guten Mutter vielleicht später einmal wegen seiner herrschsüchtigen, unverträglichen Art viel Sorge bereiten. Gewiss wird sie sich dann nicht erklären können, warum gerade ihr Franzi so ein Unhold und Raufbold sein muss."94
91 92 93 94
Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.
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In der geordneten Erziehungs-Welt Kreneks ist es allerdings auch ein Problem, wenn sich ein Kind zurückhaltend und zu wenig konkurrenzorientiert verhält. Auch diese Mutter dürfe sich dann nicht wundern, wenn die kleine Adi (Krenek nimmt als Beispiel bezeichnenderweise ein Mädchen) „schließlich einmal vielleicht ein Sonderling wird oder ein Kind, das nie den richtigen Kontakt zur Umwelt findet".« Die große Angst des ehemaligen „Spiegelgrund"-Pädagogen Krenek besteht darin, Kinder könnten durch - aus seiner S i c h t - f a l s c h e Erziehung in späteren Jahren „Führungsschwierigkeiten" machen. Um dies zu vermeiden, sei es wichtig, bereits in früher Kindheit die Kinder zu unbedingter Ordnung anzuleiten. Als ein Erziehungsmittel dazu führt Krenek das Aufräumen der Spielsachen an: „Schon der noch nicht dreijährige Karli und sein kleines Schwesterl könnten dazu verhalten werden, ihre Bausteine nach dem Spielen wieder alle zusammenzusuchen und fein säuberlich in die dazu bestimmte Schachtel einzuschlichten. Da darf dann auch kein einziger fehlen. Ebenso später auch bei den Figuren der Spielzeugschachtel. Es muss unseren Kleinen das Aufräumen und Ordnungmachen geradezu in Fleisch und Blut übergehen, dann werden wir auch in späteren Jahren diesbezüglich keinerlei Schwierigkeiten haben. Sie werden dann nicht nur auf ihre Kleider und Spielsachen, sondern auch in ihren Schularbeiten nett, ordentlich und genau sein. Dies wird die Formung ihrer Persönlichkeit sicherlich nur im günstigen Sinne beeinflussen. Unterlassungssünden aber würden sich später schwer rächen. Und dadurch bedingte Führungsschwierigkeiten und Erziehungsauffälligkeiten nur mit viel Mühe und Geduld und dann nur sehr schwer wieder behoben werden können."?6 In der Pädagogik Kreneks hat auch die Strafe als Erziehungsmittel ihren Platz. Allerdings nur dann, wenn sie konsequent und unmittelbar erfolgt. Ausgangspunkt der Strafpädagogik Kreneks ist die Überzeugung, dass das Kind gefehlt und durch sein Verhalten die Erwachsenen gekränkt habe. Hier sei es notwendig, Erziehungsfehler zu vermeiden, die, wie die Praxis in vielen Fällen bewiesen habe,„Führungsschwierigkeiten" und „Schwererziehbarkeit" verursachten: „Wenn schon unbedingt Strafe erforderlich ist, dann muss sieder bösen Tat auf dem Fuße folgen. Das Kind muss sich dessen bewusst sein, dass es die Strafe verdient, dass es durch sein Tun seine Mitmenschen, seine Eltern und Erzieher gekränkt hat. Nurdann,wenn das Kind innerlich selbst die Berechtigung der Strafe fühlt, dann wird sie auch von erzieherischem Wert sein."97
95 Ebd. 96 Ebd., S. 50 f. 97 Ebd., S. 55.
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igo
Bei „schwer erziehbaren" Kindern aber will Krenek solche Einschränkungen nicht gelten lassen. Hier ist er davon überzeugt, dass Strafe meist unverzichtbar sei. Doch solle auch in diesen Fällen nur ausnahmsweise gestraft und vorher gut überlegt werden, ob die Strafe berechtigt ist: „Vor allem aber müssten sich Eltern und Erzieher ehe sie strafen, zuerst gewissenhaft fragen, ob sie es nicht selbst sind, die die Schuld an dem schlechten Handeln ihrer Kinder trifft, da sie entweder durch ihr eigenes Beispiel oder durch mangelnde Unterweisung oder dadurch, dass sie zu viel verboten und nichts geboten, gefehlt haben."98 Diese Schuldzuweisung in Richtung der Eltern folgt letztlich derselben Gut/Böse-Straflogik wie Kreneks Blick auf die Kinder. Geradezu selbstkritisch könnte es anmuten, wenn Krenek in seinem Erziehungsratgeber dann über die „körperliche Züchtigung" schreibt: „Die körperliche Züchtigung ist, wenn man von einer Reihung der verschiedenen Strafen sprechen will, wohl die allerschwerste und soll überhaupt nicht oder, wenn schon unbedingt notwendig, nur von Eltern und dann nur in den allerseltensten Fällen, niemals aber [...] im Affekt angewendet werden. Leider ist sie sowohl bei den Eltern als auch bei den Erziehern nur allzu gebräuchlich."99 Diese E i n s i c h t - hier theoretisch formuliert - hat sich auf die Praxis der Erziehungsrealität im Erziehungsheim auf dem „Spiegelgrund" nicht sonderlich ausgewirkt. Im „Archipel Spiegelgrund" (der die „Erziehung" von Kindern und Jugendlichen im Erziehungsheim, aber auch die Korrektion von erwachsenen Frauen im „Arbeits[Erziehungs"]-Lager umfasste) waren Körperstrafen an derTagesordnung. Das „Verständnis", das Krenek für die Sorgen der Kinder zeigt, gilt freilich bei genauerem Hinsehen nur jenen Kindern, die bereit sind, den Erziehungsbemühungen ihrer Eltern/Erzieher zu entsprechen. Nicht so hingegen bei jenen Kindern, die in ihrem Verhalten nicht in sein Bild vom erziehungswilligen Kind passen. Ein Beispiel dafür sind seine Ausführungen zum Umgang mit „nervösen" Kindern. Zu ihrer Erziehung empfiehlt Krenek den Eltern, nicht zu nachgiebig zu sein und nicht „jede ihrer schrullenhaften Ideen" mit ihrer Nervosität zu entschuldigen. Die Probleme mit solchen Kindern führt er darauf zurück, dass diese Kinder Schwierigkeiten m a chen. Grundfalsch sei es daher zum Beispiel, vorgetäuschte Schmerzen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, denn damit „würde man die Kinder in ihrer Wehleidigkeit nur bestärken und
98 Ebd., S. 126. gg Ebd., S. 127.
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völlig verweichlichen". Krenek weiß auch die Lösung für solche „nervösen" Kinder. A m besten sei es,„ihr ewiges Raunzen und Jammern in so einem Falle völlig zu überhören, dann gewöhnen sie es sich von selbst ab, wenn sie sehen, dass sie damit nichts erreichen". 100 Die größte Gefahr sieht Krenek darin, dass Kinder und Jugendliche die Prinzipien von Ordnung und Arbeitsbereitschaft nicht annähmen und eigene/andere als die vorgesehenen Wege gingen. Dass die Welt der Erwachsenen diese Kinder und Jugendlichen gerade eben noch für ihre (politischen) Zwecke missbraucht, ihnen wesentliche Grundrechte vorenthalten und sie in die im Wortsinne mörderische Disziplin eines Unrechtsregimes gezwängt hat, will er nicht erinnern. Doch blieben in seinem Gedächtnis überdeutlich die Normen der NS-Erziehung. So ist der ehemalige Leiter eines NS-Erziehungsheimes 1946 weiterhin fest davon überzeugt, dass „Arbeitsunlust, Eigentumsdelikte und sexuelle Verwirrungen" es sind,„die unsere Jugend in erster Linie bedrohen". 101 In Kreneks Verständnis von einem „ordentlichen" Leben ist kein Platz für Jugendliche, die „anders" (als er selbst) leben und nach ihren eigenen Vorstellungen und Werten leben wollen: „Ob sie sich nun in Tanzschulen oder in Kaffeehäusern herumtreibt, sich in ihrer Großmannssucht in eine Welt der Lüge und des Scheins hineinlebt, sich in lächerlicher Art bemalt und kleidet, um soden Eindruck von Erwachsenen, von Halbweltmenschen vorzutäuschen; immer ist es die Arbeitsunlust und das Streben, auf leichte, wenn auch nicht einwandfreie, ja manchmal sogar gefährliche Art ihren Lebensunterhalt zu erwerben, dem Müßiggang zu frönen."102 Am Schluss des zweiten Kapitels seines Erziehungsbuches hat Johann Krenek geradezu überschwänglich beschrieben, was für ihn Erziehung ist: „Wie herrlich ist es doch, von seinen Kindern geliebt zu werden. Und wie wunderbar, wenn sie in gläubiger Liebe und Verehrung zu ihren Eltern aufsehen und zutiefst überzeugt sind, dass nur sie es sind, die ihnen nicht nur Nahrung geben, sondern ihnen auch immer helfend zur Seite stehen, wenn sie sich mit der Welt und ihren vielen Rätseln nichts Rechtes anzufangen wissen, die sie beraten,führen und leiten, vor allem späterdann, wenn der Lebenspfad besonders steinig ist."103
1 0 0 Ebd.,S. 97. 101 Ebd., S. 160. 102 Ebd. 103 Ebd., S. 62.
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In seiner Praxis als Erziehungsleiter auf dem „Spiegelgrund" hat Krenek allerdings ganz anders gehandelt. Johann Gross, der eine Zeit lang seiner „Erziehung" ausgeliefert war, hat beschrieben, was passierte, wenn ein Zögling die von Krenek eingeforderte Ordnung nicht einhielt. Als er nach einer „Entweichung" wieder in das Heim zurückgebracht wurde, erlebte er nicht Zuwendung und Verständnis, sondern harte Strafe: „Das erste war einmal ein Vortrag vom Direktor. Ich hätte sein Vertrauen missbraucht und das müsse Konsequenzen haben. Mir war alles egal, und so sagte ich:,Ich hab überhaupt kein Vertrauen gebrochen, denn ich habe nie eines gehabt.' Das trug mir erst einmal eine Riesenohrfeige ein; ich hatte auch gar nichts anderes erwartet. Und dann verfügte er:,Dauereinweisung in die Strafgruppel'Auch das war zu erwarten gewesen. Auf seine Frage, wo und bei wem ich so lange gewesen sei, gab ich nicht einmal eine Antwort. Das war die nächste Ohrfeige. Und ab ging's mit zwei Schwestern zur Strafgruppe."104
104 Gross, Leben in NS-Erziehungsanstalten,S.ioi.
Die Entwicklung der Kinderübernahmesteile in Wien zwischen 1910 und 1938 Regina Böhler
Die Kinderübernahmestelle (KÜSt) war aufgrund ihrer Drehscheibenfunktion eine der wichtigsten Institutionen der Wiener Kinder- und Jugendfürsorge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Folgenden soll die Geschichte dieser Einrichtung bis zum „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich 1938 nachgezeichnet werden. Als ein Vorläufer der Wiener Kinderübernahmestelle ist das Asyl für verlassene Kinder in Wien 5, Gassergasse 1 zu sehen, das sich vor 1910 der Aufnahme von Kindern annahm, die nicht bei Pflegeeltern untergebracht werden konnten. Der erste Typ einer Übernahmestelle mit angeschlossener Kinderpflegeanstalt in Wien wurde am 1. Juli 1910 in der ehemaligen Strafanstalt für weibliche Verbrecher (Wien 5, Siebenbrunnengasse 78) eingerichtet. Dem Magistrat oblag die Organisation der Übernahmestelle, mit der Leitung der Kinderpflegeanstalt waren katholische Schulschwestern betraut. Die Kinderpflegeanstalt beherbergte die Kinder bis zur Übernahme durch geeignete Pflegeeltern und fungierte auch als Lehrlingsvermittlungsstelle. Bald aber war die Anstalt überfüllt. Bei der Unterbringung der Kinder erfolgte weder eine Trennung nach Alter noch nach Aufnahmegründen. So waren in manchen Abteilungen Säuglinge und Kinder verschiedenen Alters sowie behinderte Kinder gemeinsam mit nicht behinderten Kindern untergebracht. 2 „Durch die Überfüllung mussten Säuglinge auf Matratzenlager gebettet werden. Die Sterblichkeit der Säuglinge war eine erschreckende geworden. An manchen Tagen lagen 3 - 4 Kinder in der Totenkammer. Die hygienischen Zustände waren unbeschreibliche geworden. Die Öffentlichkeit beschäftigte sich bald mit dieser Einrichtung und nach einer Aufsatzreihe in einer Wr.Tageszeitung über,Die Hölle in der Siebenbrunnengasse' überzeugten sich der damalige Bürgermeister Dr. Neumayer und der zuständige Stadtrat für das Armenwesen Dr. Haas per-
1
2
1930 wurde das Asyl für verlassene Kinder, das Waisenhaus Gassergasse, als Spezialeinrichtung für bedürftige und bettnässende Knaben geführt; vgl. Jugendamt der Stadt Wien (Hg.), 70 Jahre Wiener Jugendamt.Wien 1987, S. 23. Hilscher hingegen schreibt 1930,dass die Erziehungsanstalt Gassergasse zur Aufnahme „debiler" und „imbeziller" Kinder bestimmt sei, vgl. Hilscher, K., Geschichte derSchwachsinnigenfürsorge, des Schwachsinnigenbildungswesens und der Hilfsschule. Wien/Leipzig 1930, S. 160. Vgl. WStLA Mag. Abt. 212, A5/1-2,02.06.1940.
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sönlich von den Missständen in dieser Kinderpflegeanstalt. [...] Es wurde der Beschluss gefasst eine neue Anstalt zu bauen."3 Der I.Weltkrieg verhinderte allerdings die Ausführung der Pläne zum Bau einer neuen Kinderpflegeanstalt in unmittelbarer Umgebung des Versorgungshauses Lainz. Im Jahre 1915 stand die Übernahmestelle mit dem dazugehörigen Heim unter magistratischer Leitung. Das Heim wurde zu dieser Zeit mit einer Belagsmöglichkeit von 4 0 0 Kindern geführt. Es bestand aus einer Säuglingsabteilung mit drei Gruppen (50 Kinder), einer Kleinkinderabteilung mit zwei Gruppen (70 Kinder), einer Knabengruppe mit f ü n f Schlafsälen und zwei Tagräumen (200 Kinder) sowie einer Mädchengruppe mit zwei Schlafsälen und einem Tagraum (80 Kinder). Aufgrund der hohen Kinderzahlen und neuerlicher Überbelegungen verbreiteten sich Infektionskrankheiten immer stärker und immer weniger Kinder konnten in Privatpflege abgegeben werden. 4 Es kam zur Schließung des Heimes und man richtete vorerst die Spitalsbaracken in Untermeidling und später die Baracken des Kriegsspitals Tivoli als Kinderheim für gefährdete Kinder „Am Tivoli" ein. Somit verblieb die zentrale Übernahmestelle in der Siebenbrunnengasse, wo die Kinder täglich gesammelt wurden und nachmittags, sofern sie nicht bei Pflegeeltern untergebracht werden konnten, mit Autobussen, der Straßenbahn oder zu Fuß ins Heim „Am Tivoli" überstellt wurden. Die Beförderung der Kinder empörte bald die Öffentlichkeit und so kam es 1925 zur Schaffung einer neuen Institution mit Übernahmestelle und Durchzugsheim in Wien 9, Lustkandlgasse 50.5 (siehe Abbildung 1) A m 3. Juli 1925 wurde die KÜSt in der Lustkandlgasse eröffnet. Käthe Komoly, Hauptfürsorgerin des Jugendamtes der Stadt Wien, sah die KÜSt als „eine Zentralstelle, durch die jedes Kind, sofern es der geschlossenen Fürsorge bedürftig wird, hindurchgehen muss". 6 Bei ihrer Ankunft in der KÜSt waren viele Minderjährige krank und benötigten medizinische Pflege. Andere waren im Inkubationsstadium infektiöser Erkrankungen. Wahrscheinlich waren es diese Umstände, die zur Errichtung der neuen Übernahmestelle in unmittelbarer Nähe des Karolinen-Kinderspi-
3
Ebd.
4
Über die Zustände in der alten Kinderübernahmestelle schrieb der Wiener Vizebürgermeister Max Winter 1919 in der Arbeiterzeitung
dass Wien keine größere Schande hat als dieses Haus. [...] Die städ-
tische Kinderübernahmsstelle [...] ein Massendurchzugsheim. Sechshundert, achthundert hat es oft beherbergt - um 2 0 0 / 3 0 0 Kinder mehr als das Haus vertrug und Säuglinge nahm auch das Haus auf. Die wenigsten haben es lebend verlassen. Eine Mördergrube nannte der Kommissionsbericht dieses Haus." Winter, M., Kinderfürsorge. In-. Arbeiterzeitung,
25.11.1919, S. 4, zit. nach Wolfgruber, G., Zwischen
Hilfestellung und sozialer Kontrolle. Wien 1997, S. 142 f. 5 6
WStLA Mag. Abt. 212, A5/1-2,02.06.1940. Komoly, K., Der Aufgabenkreis der Fürsorgerin in der Kinderübernahmestelle. \n-.Zeitschriflfür
Kinder-
schutz. 22. Jg. 1930, S. 105, zit. nach Wolfgruber, Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle, S. 138.
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tals führten J In der KÜSt waren insgesamt 204 Betten für Kinder jeder Altersstufe verfügbar. Ihr oblag die konsequente Erfassung fürsorgebedürftiger Kinder und Jugendlicher und in weiterer Folge deren Abgabe und Überstellung in kommunale Pflege. Das Kind wurde zum Mittelpunkt ärztlicher und psychologischer Beobachtungen.8 Die auf diesem Weg erstellten Cutachten bestimmten maßgeblich, ob die Kinder und Jugendlichen den Eltern zurückgegeben wurden, in eine Pflegefamilie kamen oder an geeignet scheinende Anstalten übergeben wurden. Ließen die Ergebnisse der Beobachtungsphase noch keine passende Intervention zu, übergab man die Kinder dem Heim Wilhelminenberg oder dem Zentralkinderheim.'„Die Kinderübernahmesteile fungierte somit als Drehscheibe zwischen der Abnahme aus der elterlichen Familie und einem weiteren Familienaufenthalt in einer Pflegefamilie oder dem Beginn seines Aufenthaltes in einer Anstalt."101936 berichtete das Abendblatt, dass die KÜSt im Schnitt täglich 21 Kindern die Aufnahme gewährte. Im Jahresdurchschnitt des vorangehenden Jahres berechnete man über 8000 bearbeitete Fälle, davon 60 % Jungen und 40 % Mädchen."
7 8
Wolfgruber,Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle, S. 143 f. Hildegard Hetzer und Charlotte Bühler nutzten das vorhandene „Kindermaterial" für Untersuchungen (z. B. „Kindheit und Armut") und zur Testentwicklung („Entwicklungstests vom 1.-6. Lebensjahr"), vgl. ebd., S. 155. 9 Vgl.Melinz, G.,Von der „Wohltäterei" zur Wohlfahrt. Aspekte kommunaler Sozialpolitik 1918-1934. In: ohne Autor, Das Rote Wien 1918-1934 (177. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), S. 104-120, hier S. 113; Sablik, K.Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Eine Biographie. Wien 1983,5.24 f. 10 Wolfgruber, Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle, S. 139. 11 VglAbendblatt, 17.06.1936, S. 8
Die Wiener Kinderübernahmesteile in der I^S-Zeit Vera Jandrisits
Auch während der Zeit des Nationalsozialismus behielt die KÜSt ihre Rolle als Schaltstelle der weiteren Lebensabläufe fürsorgebedürftiger Wiener Kinder. 1 Weiterhin war sie in zwei Bereiche unterteilt, die spezifische Funktionen zu erfüllen hatten: die Übernahmestelle und das Durchzugsheim. Die Funktionen des Durchzugsheimes wiederum waren in unterschiedliche Bereiche gegliedert, denen verschiedene Aufgaben oblagen: Einen möglichst vollständigen Befund über den gesundheitlichen und körperlichen Zustand des jeweiligen Kindes zu erstellen. Den körperlichen Zustand der Kinder zu verbessern, sodass sie an die jeweiligen Pflegeparteien oder eine Anstalt übergeben werden konnten. Die V e r h ä n g u n g einer Q u a r a n t ä n e über Schulkinder im A u s m a ß von zehn Tagen, u m die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Alle anderen Kinder 2 w u r d e n a u f Infektionskrankheiten ärztlich untersucht. Die A u f n a h m e von Kindern der geschlossenen Fürsorge, d. h. durch die Überstellung von Jugendämtern,der Polizei und der NSV. Die A b g a b e der „in jeder Hinsicht i m tadellosesten Zustand" befindlichen Kinder nach (zahn)ärztlichen Untersuchungen an Pflegeparteien und Anstalten, sobald ein Platz frei war. Die ständige A u f n a h m e f ä h i g k e i t von Kindern. Diese konnte nur gewährleistet werden, w e n n Kinder möglichst rasch an verschiedenste Institutionen und Pflegeeltern abgegeben wurden.'
Das D u r c h z u g s h e i m konnte 6 0 Säuglinge, 48 Kleinkinder, j e 48 schulpflichtige Jungen u n d M ä d c h e n sowie sechs Mütter mit ihren Kindern aufnehmen." Die Kinder wurden in G r u p p e n unterteilt, Schulkinder in G r u p p e n zu 18 Kindern, S ä u g l i n g e und Kleinkinder in G r u p p e n von f ü n f bis sechs Kindern. D a m i t sollte die Ausbreitung von Infektionskrankheiten möglichst ein-
1 2 3 4
Vgl. Wolfgruber, Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle, S. 188. Säuglinge und Kleinkinder. Vgl.WStLA,MA2i2,A5/i-2,Wunderbaldingeri940,3f. Vgl. WStLA, MA 212, As/i-2, Hartl 1940,8.
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g e d ä m m t werden - die Kinder w u r d e n beim Ausbruch von Krankheiten gruppenweise unter Quarantäne gestellte Die Übernahmestelle der KÜSt hatte ebenfalls mehrere Funktionen zu erfüllen:
„Zentrale Stelle, die für das ganze Wiener Stadtgebiet über die Aufnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen in die geschlossene Fürsorge über Antrag der Jugendämter, der Polizei und der NSV entscheidet. Die Gründe der Überstellung können sein: Wirtschaftlicher Notstand, Obdachlosigkeit, Ke. in einer Heilstätte (Spital), Ke. in Haft, Doppelwaisen, Misshandlungen, Gefährdungen, Verwahrlosungen, Schwererziehbarkeit, Gebrechen." 6
Folgende Funktionen können dabei unterschieden werden: Einweisung körperlich behinderter, blinder, tauber und geistig behinderter Kinder a u f direktem Weg, d. h. ohne A u f n a h m e in das Durchzugsheim, nach einer ärztlichen Untersuchung in die „einschlägigen Anstalten". 7 Einweisung von S ä u g l i n g e n aus E n t b i n d u n g s h e i m e n und Gebärkliniken in das Zentralkinderheim. Zentrale Evidenz sämtlicher städtischer Pflegekinder 8 und der Pflegeparteien, die Pflegekinder a u f n e h m e n wollten. Z u w e i s u n g von Kindern aus d e m Durchzugsheim, dem Zentralkinderheim und den anderen Anstalten, in denen Pflegekinder untergebracht waren, an die j e w e i l i g e n Pflegeparteien. Überprüfung der Familienverhältnisse der Angehörigen der überstellten Kinder durch die zugeteilte Fürsorgerin. Diese entschied, ob das Kind weiterhin fremduntergebracht w u r d e oder die Möglichkeit einer Rückgabe an die eigene Familie gegeben war. Versorgung der Pflegekinder mit Bekleidung, Pflegegeld,orthopädischen Behelfen usw. E v i d e n z h a l t u n g und periodische U n t e r s u c h u n g von Kindern, die an Geschlechtskrankheiten wie Gonaden und Lues litten. Betreuung jugendlicher Pflegekinder, die eine Lehrstelle suchten bzw. eine Lehrstelle hatten. Einholung der Elternbeiträge durch die Regressstelle (Abteilung VI/6). Administration der Karteikarten sämtlicher Kinder im Alter von wenigen Tagen bis z u m 19. Lebensjahr, die von der Fürsorge betreut wurden oder Hilfen (Geldaushilfe, Reisegeld) des Jugendamtes in A n spruch nahmen.9 5 6 7 8 9
Vgl. WStLA, MA 212, A5/1-2, Wunderbaldinger 1940,3 f. Ebd., 4. WStLA, MA 212, A5/1-2, Wunderbaldinger 1940,4. Rund 8000 Kindergalten 1940 als städtische Pflegekinder; vgl.ebd. Ebd., 4 f.
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Im Jahr 1940 war das Durchzugsheim der KÜSt völlig überbelegt. Es diente als längerfristige Unterbringungsmöglichkeit der Kinder. Entsprechende Heime waren nicht vorhanden, da 19 der 44 konfessionellen Heime geschlossen und 17 Heime von der NSV übernommen worden waren und Familienpflegeplätze fehlten. Aus diesem Grund kam es unter Vorsitz des Beigeordneten für das Hauptgesundheits- und Sozialamt Univ. Prof. DDr. Max Gundel zu einer Besprechung, ob die KÜSt in ihrer bisherigen Form noch notwendig sei. Bei dieser Besprechung waren neben Max Gundel Univ. Prof. Dr. Franz Hamburger, der damalige Leiter der Universitätskinderklinik, Prof. Dr. August Reuß, Univ. Dozent Dr. Kurt Hassmann, Prof. Siegl, Oberjugendanwalt Dr. Bauer, Obermagistratsrat Dr. Parville, Medizinalrat Dr. Vellguth 10 , Physikatsrat Dr. Krämer und der Direktor der KÜSt, Stadtoberinspekteur Josef Wunderbaldinger, anwesend. Diskutiert wurde, wie das Problem der Überfüllung zu lösen sei. Reuss und Wunderbaldinger sahen das Hauptproblem im Mangel an entsprechenden Heimen und Anstalten, in denen Kinder untergebracht werden konnten. Hamburger wollte vor allem die lange Beobachtungszeit von „schwer erziehbaren" Kindern verkürzen. Dabei ging es ihm nicht um die Abklärung pädagogischer Fragen, sondern um verwaltungstechnische Abläufe, die die Beobachtungszeit, so Hamburger, unnötig in die Länge zögen." Für Gundel „war es [...] nicht möglich für gesunde Kinder einen derartigen Luxusapparat lediglich für Ouarantänezwecke" aufrecht zu halten. 12 Sein Ziel war, einen Teil des Gebäudes der KÜSt als Infektionsabteilung an das Karolinen Kinderspital anzugliedern. Auch Bauer vertrat die Meinung, dass die Aufrechterhaltung der KÜSt aus verwaltungstechnischer Sicht nicht notwendig sei.13 Wunderbaldinger hingegen wehrte sich gegen diese Pläne, indem er in einem Referat die Aufgaben der Übernahmestelle und des Durchzugsheimes darlegte. 14 Alle an dieser Besprechung beteiligten Personen waren sich darin einig, dass die Möglichkeit einer Entlastung der KÜSt nur durch zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in anderen Institutionen gegeben sei. Die KÜSt versuchte zwischen 1938 und 1945 alle in Wien lebenden Familien mit ihren Kindern in einer ausführlichen Kinderkartei zu erfassen, die Leistungen des Fürsorgewesens in Anspruch nahmen - sei es durch die Abnahme des Kindes und die darauffolgende Fremdunterbringung oder durch Unterstützungen wie Geld- und Kleideraushilfen. Andererseits hatte die KÜSt auch eine wichtige begutachtende und zuliefernde Funktion, da von dieser Stelle aus
10
Dr. H e r m a n n V e l l g u t h w a r m e d i z i n i s c h e r Direktor der A b t e i l u n g „Erb- u n d R a s s e n p f l e g e " i m H a u p t g e s u n d h e i t s a m t in W i e n (vgl. h t t p : / / w w w . d o e w . a t / i n f o r m a t i o n / m i t a r b e i t e r / b e i t r a e g e / r a c h y g . h t m l ) . ( D o w n l o a d 0 1 . 0 4 . 2 0 0 3 , dort wird offensichtlich fälschlicherweise der V o r n a m e „Hans" a n g e g e b e n ) .
11
Vgl. WStLA, M A 212, A 5 / 1 - 2 , 0 5 . 0 6 . 1 9 4 0 , 1 - 3 .
12
Vgl.ebd. 1.
13
Vgl. ebd., 1 - 3 .
14
Vgl. ebd., 1 - 1 0 .
200
3. Institutionen der NS-Fürsorge
Kinder in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht wurden. 1 ! Das „Küst Anstaltsreferat" (2-5-1) erkundigte sich bei den Heimen, ob und wann die entsprechende Institution ein Kind aufnehmen konnte.16 Czech vertritt zudem den Standpunkt, dass die KÜSt als einer „der Hauptzuträger des Selektions- und Vernichtungsprogramms gegen behinderte Kinder und Jugendliche" tätig war.17 Diese Einschätzung wird durch die Dissertation von Matthias Dahl untermauert, der 312 Krankengeschichten auf dem „Spiegelgrund" verstorbener Kinder untersuchte: Von diesen 312 Kindern wurden 145 aus Wien eingewiesen, deutlich mehr als die Hälfe (90) dieser 145 Kinder wurde von der KÜSt in die Anstalt „Am Spiegelgrund" überstellt.18
Die Kinderkarteikarten Die KÜSt legte von allen Kindern und Jugendlichen, die an die KÜSt überstellt und im Durchzugsheim aufgenommen wurden, eine Kinderkarteikarte an. Auch Kinder, die zwar an die KÜSt19 überstellt, aber nicht im Durchzugsheim untergebracht, sondern sofort an Pflegefamilien und Heime abgegeben wurden, wurden in der Kartei registriert. In dieser Karteikarte wurden - oft sehr detailliert, manchmal sehr dürftig ausgefüllt - folgende Daten vermerkt (siehe Abbildung 2a/b): Name, Geburtsdatum,Wohnort (Kreis und Gau), Religionszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft des überstellten Kindes, Name, Geburtsdatum, Wohnort, Religionszugehörigkeit, Beruf des Vaters, der Mutter,20 der mütterlichen und väterlichen Eltern, Vormundschaft: In dieser Spalte wurde eingetragen, wer die Vormundschaft des Kindes innehatte. Name, Geburtsdatum und Aufenthaltsort der Geschwister, Übersteller, Überstellungsgrund. Die verfügte Maßnahme wurde mit Datum, manchmal auch mit Unterschrift versehen. Als Verfügungen galten Geldaushilfen aller Art wie auch die Überstellung in ein Heim, in eine Pflegefamilie usw.
15 16
Vgl.Czech,Selektion und Kontrolle,S. 166. Dahl,M., Endstation Spiegelgrund. Die Tötung behinderter Kinder w ä h r e n d des Nationalsozialismus a m Beispiel einer Kinderfachabteilung in W i e n 1 9 4 0 bis 1945. W i e n 1998, S. 58 f.
17
Vgl.Czech,Selektion und Kontrolle,S.166.
18
Dahl, Endstation Spiegelgrund, S. 58 f.
19
Eine Überstellung an die KÜSt ging nicht automatisch mit einer Unterbringung im Durchzugsheim einher - d i e Kinder wurden zum Teil sofort in Pflegefamilien oder Heime überstellt. Kinderkarteikarten wurden auch von Kindern und Jugendlichen angelegt, bei denen lediglich Kleider- und Geldaushilfen erfolgten.
2 0 Waren die Eltern verheiratet, w u r d e a u c h der Hochzeitstag und der Ort der Trauung eingetragen.
Vera Jandrisits
201
Ausfolgeverbot: Ausfolgeverbote wurden per Gerichtsbeschluss des zuständigen Bezirksjugendgerichtes gegen Eltern, Großeltern, „alle" oder „jedermann" verfügt, d. h. bestimmte Personen durften keinen Kontakt mit dem betreffenden Kind haben. 21 Pflegegeldbezug und dessen Einstellung, Unterstützung der Kinder durch Bekleidung. In einer eigenen Spalte konnten Anmerkungen zum betreffenden Kind, den M a ß n a h m e n und Untersuchungen gemacht werden. Die Kinderkarteikarten waren zum Teil mit verschiedenen Stempeln versehen, wie z. B.„Regress",„NSV",„Magistratsabteilung 18, Referat: Jugendfürsorgeanstalten". Es wurden zwei unterschiedliche Vordrucke von Kinderkarteikarten verwendet. Der eine Vordruck stammte noch aus der Zeit vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Die Karteikarten unterschieden sich in zwei Punkten: In der Karteikarte aus der Zeit vor März 1938 war zusätzlich eine Grundnummer einzutragen. Die Bezeichnungen Bezirk und Land wurden auf den neuen Kinderkarteikarten durch Kreis und Gau ersetzt. Bei den Stempeln kann bis auf einen Stempel, den Stempel „NSV", nicht nachgewiesen werden, ob der jeweilige Stempel aus der Zeit des Nationalsozialismus oder aus den Jahren nach 1945 stammt. Die Bedeutung der einzelnen Stempel konnte nicht in jedem Fall erklärt werden. 22 Der Stempel „Regress Referat" zeigt wahrscheinlich an, welche Eltern für ihre untergebrachten Kinder Regresszahlungen 2 ' leisten mussten. Jene Zahl, die an der Karteikarte meist links oben verzeichnet und der die Buchstaben AZ vorangestellt waren, könnte eine Aktenzahl darstellen. Die sechsstellige Grundnummer könnte als Erleichterung bei der Aktenordnung gedient haben. Die Bedeutung der handgeschriebenen „B"s in Blockbuchstaben und in den Farben rot und blau konnte nicht geklärt werden, ebenso der Belang der handgeschriebenen Abkürzung „N.B.". Mit dem Stempel „FE" wurde die Verhängung der Fürsorgeerziehung gekennzeichnet. Der Stempel „CALMETTE" bezieht sich auf die Durchführung der TBC-Impfung. Die Stempel „FAM U." und „FU" bedeuten höchstwahrscheinlich Familienunterstützung. Unter den 44 mit „FREMD" gekennzeichneten Kinderkarteikarten waren drei als „Zigeuner", eines als „Jude", ein Kind, das aus Ungarn stammte, eines aus der„CSR" und jeweils ein als „staatenlos" bzw. „heimatlos" deklariertes Kind. Bei den restlichen 36 Kinderkarteikarten ließ sich keine Erklärungfür den Stempel „FREMD" finden.
21
Die Aufhebung des Ausfolgeverbotes wurde ebenfalls in der Kinderkarteikarte verzeichnet.
22
Auch dem Leiter des heutigen „Julius Tandler Familienzentrum", Herrn Guby, waren die Bedeutungen der jeweiligen Stempel nicht bekannt.
23
Es könnte auch umgekehrt gewesen sein: Vielleicht wurden Karteikarten mit diesem Stempel versehen, wenn die Eltern keine Zahlungen tätigten.
Die Auswertung der Kinderkarteikarten des Geburtenjahrganges 1931 der Wiener Kinderiibernahmestelle Regina Böhler
Im Folgenden wird eine Analyse des Jahrgangs 1931 im Kinderkarteikartenbestand der ehemaligen Kinderübernahmestelle der Stadt Wien vorgestellt. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren im „Julius Tandler-Familienzentrum"' Zehntausende Kinderkarteikarten von Kindern und Jugendlichen ab dem Geburtenjahrgang 1931 eingelagert. Die Karteikarten waren nach Geburtenjahrgängen und in weiterer Folge alphabetisch geordnet und informieren neben den Basisdaten der Kinder über deren Eltern, Großeltern, die Religionszugehörigkeit, die Übersteller, eventuelle Gerichtskundigkeit sowie über Aufnahmen und Verlegungen in Heime und zu Pflegeparteien.2 Der Geburtenjahrgang 1931 der KÜSt wurde digital erfasst und bildet die Basis der weiteren Auswertung. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Herbst 2001 bis ins Frühjahr 2002. Es wurden 1157 Rohdatensätze erhoben, davon gelangten 1153 in die weitere Auswertung. Angemerkt muss an dieser Stelle werden, dass die Karteikarten bei der Digitalisierung großteils bereits 70 Jahre alt waren und Verfall und Verwitterung sich bemerkbar machten. In die Auswertung gelangten lediglich vollständige Datensätze, alle aufgrund von Unlesbarkeit unvollständigen Datensätze wurden aus dem Sample entfernt. Anhand der Kinderkarteikarten des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt wurde versucht, den Prozess der Kindesabnahme nachzuzeichnen. Insbesondere jene Anstalten, die besonders häufig frequentiert wurden oder als Zuträger der Anstalt „Am Spiegelgrund" fungierten, werden genauer beleuchtet. 2339 Überstellungsgründe und 5399 daraus resultierende Maßnahmen bilden die Basis der weiteren Ausführungen. So lässt sich eine Überweisungsstruk-
1
Die ehemalige KÜSt trägt seit dem 1. Juli 1985 die Bezeichnung „Julius Tandler-Familienzentrum", vgl. Wolfgruber,Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle,S.i38.
2
Die Kinderkarteikarten befinden sich seit Dezember 2002 im WStLA (Auskunft Hr. Prinz,„JuliusTandlerFamilienzentrum"). Die Daten, die zur Auswertung gelangten, stammen aus dem Archiv der ehemaligen KÜSt. In weiterer Folge wurden auch die Archive des Jugendamtes in der Rüdengasse und in der Patrizigasse (MA11 P), das Archiv der Erzdiözese Wien (DAW) und das Krankengeschichten-Archiv des Otto Wagner-Spitals (KGA) und Hauschroniken verschiedener Ordensgemeinschaften zu Recherchezwecken herangezogen.
3. Institutionen der NS-Fürsorge
204
tur der Kindesabnahme erkennen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Verfahrensweise mit Kindern gelegt, die als „schwer erziehbar" oder „behindert" galten oder nicht den „Rassekriterien" entsprachen. Es sollte geklärt werden, welche Anstalten z. B. zur Bewahrung von Kindern mit Behinderung zur Verfügung standen und in welchem Ausmaß diese frequentiert wurden. Anhand von Fallbeispielen.teils aus den Mündelakten des Jugendamtes, teils aus Krankengeschichten der ehemaligen „Nervenklinik für Kinder,Am Spiegelgrund'", wurde versucht, Einblick in die Arbeit von Fürsorgerinnen, Erziehungsberatern, Pädagogen, Psychologen und Ärzten zu gewinnen, die durch ihre Gutachten über „Erziehbarkeit" und„Unerziehbarkeit" entschieden und soden weiteren Lebensweg der Kinder mitbestimmten. Ziel war es, einen Ablauf und ein System nachzuzeichnen, das nicht willkürlich, sondern nach bestimmbaren Vorgehensweisen agierte. Ausgehend von der These,dass ein Zusammenhang zwischen Überstellungsgrund und ergriffenen Maßnahmen bestand, soll eine strukturierte Vorgehensweise im System der Zuweisung dargestellt werden.
Allgemeine Auswertungen Aus der Gesamtübersicht der 1153 ausgewerteten Datensätze des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt können folgende Fakten hervorgehoben werden: Knaben kamen häufiger in die Obhut öffentlicher Fürsorge als Mädchen. Lediglich 3 % der Kinder kamen nicht aus dem Deutschen Reich. Bei 20 % der Kinder bestand ein Ausfolgeverbot. 29 % waren gerichtskundig, möglicherweise in Verbindung mit einer Einweisung in Fürsorgeerziehung. 8 % waren Vollwaisen, 22 % Halbwaisen, 72 % der Eltern waren verheiratet, 28 % unverheiratet. 3 Die Berufsverteilung der Väter und Mütter lässt Rückschlüsse auf die primäre Gesellschaftsschicht zu, aus der die Fürsorgekinder stammten: Der Großteil galt als „nicht zuordenbar" (33 % der Väter, 51 % der Mütter) oder arbeitete als Hilfskraft (30 % der Väter, 20 % der Mütter). 4 Die Verteilung der häufigsten Überstellungsgründe ergibt, dass der Überstellungsgrund „schwer erziehbar" mit 342 Nennungen führend war und weitaus öfter genannt wurde als etwa „Verwahrlosung" mit 244 Nennungen. 5 Bei der Analyse der genannten Anstalten fällt auf, dass der Anstalt „Am Spiegelgrund" als meistfrequentierte Anstalt nach dem KÜSt-Heim eine bedeutende Rolle zukommt: Auf den „Spiegelgrund" entfallen 418 Überstellungen, gefolgt vom Heim in Mödling mit 282. Bei den Maßnahmen hebt sich das Heim in der Rückertgasse als Heim für die Unterbringung „rassisch minderwertiger" Kinder mit 16 Einweisungen deutlich von den anderen Maßnahmen ab.6
3
Vgl.Tabelle 1.
4
Vgl.Tabellen 5,6.
5
Vgl.Tabelle 7.
6
Vgl.Tabelle 8.
Regina Böhler
205
23 Kinder des Geburtenjahrganges galten als „Mischlinge", darunter ein so genannter „Negermischling". Von 1153 Kindern wurden 921 als römisch-katholisch, 97 als evangelisch und 5 als mosaisch geführt; 130 waren nicht zuordenbar bzw. fehlte die Angabe. Ein Knabe war in der Eintragung a u f seiner Kinderkarteikartei als römisch-katholisch vermerkt, ein späterer handschriftlicher Zusatz wies ihn jedoch als „Volljuden" a u s J Insgesamt 51 Kinder galten als „geistig behindert", zehn wiesen eine körperliche Behinderung auf, weitere 12 galten a u f g r u n d einer Hör- oder S e h b e h i n d e r u n g bzw. w e g e n Epilepsie oder der Little-Krankheit als behindert. Das entspricht sechs Prozent des Samples. 8 Bei der Unterbringung von Kindern mit geistiger Behinderung k o m m t der Anstalt Biedermannsdorf eine wichtige Rolle zu, da sie mit 57 Einweisungen nach d e m KÜSt-Heim als meistfrequentierte Institution auffällt. Zählt m a n die Einweisungen der Anstalt „Am Spiegelgrund" und der„Nervenklinikfür Kinder" z u s a m m e n , ergeben sich ebenso 57 Einweisungen geistig behinderter Kinder. M a n kann also davon ausgehen, dass die Anstalt „Am Spiegelgrund" und die„Nervenklinikfür Kinder" für die Unterbringung geistig behinderter Kinder gedacht waren. 9 Kinder mit Körperbehinderung wurden bevorzugt im H e i m für körperbehinderte Kinder in Rodaun (Wien 25,Sauberskirchengasse 20) untergebracht. 1 0 14 als behindert geltende Kinder verstarben, 9 davon auf dem Spiegelgrund." Insgesamt ist a u f 35 der 1153 Kinderkarteikarten des G e b u r t e n j a h r g a n g e s 1931 der Tod des befürsorgten Kindes vermerkt. Zehn der verstorbenen Kinder kamen in der Anstalt „Am Spiegelgrund" und drei in der„Nervenklinikfür Kinder" ums Leben. 12
7 Vgl.Tabelle 9. 8 Vgl.Tabellen. 9 Vgl. Tabelle 12. 10 Die Institution nahm am 26. September 1940 den Betrieb auf. Der Anstalt angeschlossen war eine „Sonderschule für verkrüppelte Kinder", vgl. Magistrat der Stadt Wien, Abteilung für Statistik (Hg.), Die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien vom 1. April 1940 bis 31. März 1945. Verwaltungsbericht, Wien 1945, S. 214 t. Das Heim wurde von Hans Radi geleitet, von der Hauptabteilung E verwaltet und fiel in die Rubrik „Kinderkranken- und Heilanstalten". Unter den 75 Zöglingen befanden sich zehn jugendliche Mädchen, die eine Ausbildung im Weißnähen machten, vgl. Handbuch des Reichsgaues, 65766. amtlich redigierter Jahrgang. Wien 1944,5.194. Vgl.Tabelle 13. 11 Vgl.Tabelle 15. 12 Vgl.Tabelle 14.
206
3. Institutionen der NS-Fürsorge
Die Heime Aus den Kinderkarteikarten konnte eine Liste von etwa 80 Heimen und Anstalten1* erstellt werden, in denen in der Zeit von 12. März 1938 bis 8. Mai 1945 Kinder des Geburtenjahrganges 1931 untergebracht wurden. Am stärksten frequentiert (mit 1149 Eintragungen) war das KÜSt-Heim, da ein Großteil der aufgenommenen Kinder meist bis zu einem Monat im Durchzugsheim der KÜSt untergebracht wurde (ausgenommen sind jene Kinder, die sich bereits vor März 1938 in Gemeindepflege befanden). Die Unterbringung in der KÜSt bedeutete für viele Kinder den Beginn ihrer Heimkarriere. Die folgende Tabelle enthält eine Auflistung jener Anstalten - einschließlich der Einweisung zu Pflegefamilien - , in denen die meisten Kinder des Geburtenjahrganges 1931 untergebracht wurden. Es wurden jene Anstalten ausgewählt, in die mehr als 50 Einweisungen gezählt wurden. In die restlichen Heime wurden weniger Kinder überwiesen. In viele Heime gab es nur eine bzw. einige wenige Einweisungen. Im Folgenden werden zu den am häufigsten frequentierten Heimen einige Details bezüglich ihrer historischen Entwicklung, ihren Aufgaben und ihren Trägern zusammengestellt. Zum Teil werden die einzelnen Heime auch anhand der Überstellungsgründe des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt nach ihrer Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen untersucht. Die Anstalt „Spiegelgrund" sowie die KÜSt werden in eigenen Abschnitten dargestellt.
H e i m e u n d Anstalten
Überstellungen
Eingewiesene Kinder
KÜSt-Heim
1149
Anstalt „ A m S p i e g e l g r u n d " *
418
344
Erziehungsanstalt M ö d l i n g
282
209
944
Kinderheim Josef-Hackelgasse
251
240
Zentralkinderheim
197
188
Privat pflegeparteien
175
130
Kinderlandverschickungslager**
171
Erziehungsanstalt H o h e Warte
139
86
E r z i e h u n g s h e i m Pötzleinsdorf
113
106
Kinderheim M e i e r h ö f e n
108
90
Erholungsheime***
109
J u g e n d h e i m Kollburggasse
76
13
60
Zu den 8 0 H e i m e n u n d A n s t a l t e n k o m m e n verschiedene E r h o l u n g s h e i m e w i e Kinderlandverschickungslager.
207
Regina Böhler
Heime und Anstalten
Überstellungen
Eingewiesene Kinder
Bildungsanstalt Biedermannsdorf
74
56
Erziehungsanstalt Klosterneuburg
64
50
Erziehungsanstalt Schwechat
62
59
Kinderheim Stadlau
56
52
Landerziehungsheim Schloss Eichhof
56
45
51
41
Kinderheim Wimmersdorf (Wimmersdorf bei Neulengbach) *
Hinzu kommen noch 22 Überstellungen an die „Nervenklinik für Kinder". DieZahl der eingewiesenen Kinder in die„Nervenklinikfür Kinder" beträgt 20. ** Z. B. Kranichberg, Schneck, Neumühlen b. Znaun, Brambach, Lainach, Kreis Lienz, Rateisberg bei Erlangen, Haibach. Maria Taferl, KLV-Lageri86 in Kucora (Ungarn) etc. *** Z. B. Sulzbach-Ischl, Sonntagsberg, Heilanstalt San Pelagio, Willensdorf, Erholungsheim Cugging, Erholungsheim der Kinderklinik Weidlingau Wurzbach, Eichgraben etc. Tabelle VI: Die a m häufigsten frequentierten Heime des Ceburtenjahrganges 1931 der KÜSt
Die Erziehungsanstalt Mödling Die ehemalige „Dr. Josef Hyrtl'sche Waisen-Stiftung" in Mödling (Wien 24, Mödling, Wiener Straße 18) wurde am 1. Oktober 1886 eröffnet14 (siehe Abbildung 3). Josef Schöffel, Mitglied des niederösterreichischen Landesausschusses des Erzherzogtums Österreich unter der Enns, schrieb 1903 zur „Geschichte der Gründung und Entwicklung des Waisenhauses":„Die Anstalt muß [...] selbständig, frei und unbeirrt von allen politischen, kirchlichen und sozialreformatorischen Einflüssen erhalten bleiben."^ Am 7. Februar 1910 übernahm der niederösterreichische Landesausschuss das Waisenhaus für Kinder beiderlei Geschlechts in die Verwaltung des Landes Niederösterreich.16 Im Bescheid des Stillhaltekommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 20. Januar 1939 wurde die Leitung der Anstalt von der Auflösung der Waisenhausstiftung in Kenntnis gesetzt. Das Stiftungsvermögen ging an die Gemeinde Wien.
14
Cötzl, K., Festschrift zur 100jährigen Wiederkehr der feierlichen Eröffnung der „Dr. Hyrtl'schen WaisenStiftung in Mödling" a m 1. Oktober des Jahres 1986. Mödling 1986, S. 35.
15
Zit.nachebd.,S.94.
16
Landesausschuss des Erzherzogtums Österreich unter der Enns (Hg.), Die Fürsorge-Einrichtungen der niederösterreichischen Landesverwaltung z u m Schutze des Kindes. Aus Anlass der Thronbesteigung Seiner kais. u. kön.Apostolischen Majestät Karl I.Wien 1917, S. 125 f.
208
3. Institutionen der NS-Fürsorge
„Anstelle von Waisenkindern wurden nun Fürsorgekinder eingestellt, das Zahlzöglingsinternat wurde aufgelassen, und 1941 wurde die Anstalt wieder auf Selbstverwaltung gestellt. [...] Im März [1942] erfolgte militärische Einquartierung und Kinderlandverschickung. [...] Eine Sonderschule'7 wurde der Anstalt zugeteilt. [...] 1944 war wieder Einquartierung, und der,Deutsche Volkssturm' bezog Quartier."'8 Im Handbuch des Reichsgaues 1941 wird Ernst Wurth als Anstaltsleiter angegeben. Als Oberaufseher war Franz Heckermann neben 15 weiteren Zöglingsaufsehern tätig. Außerdem waren noch drei Personen als Hauspersonal und sechs Bedienstete angestellt. 1 9 1944 stand das Wiener städtische Erziehungsheim Mödling mit 480 Betten unter der Leitung von Direktor Josef Jenke. 20 Bei insgesamt 466 angegebenen Überstellungsgründen des Geburtenjahrganges 1931 führt der Überstellungsgrund „schwer erziehbar" mit 115 Nennungen. 21
Das Kinderheim Josef Hackelgasse (Antonigasse) in Wien 22 Im Jahre 1868 eröffnete in der heutigen Antonigasse 72 eine „Arbeitsschule" für Mädchen, 1869 kam eine „Bewahrschule" und ein Internat hinzu. 1938-45 hieß die Straße Josef Hackelgasse; die Hauschronik der Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz von Paul gibt Einblick in die Zeit nach dem „Anschluss" und die Veränderungen im Heim: „Mit dem Jahre 1938 begann die nazistische Ära, und eine harte, dornenvolle Zeit für alle Klöster, auch für unsere Anstalt. Die Schulen in den Klöstern wurden geschlossen, die Internate aufgelöst, die meisten Jugendwerke lahmgelegt. Das sämtliche Schulinventar mußte an die Schopenhauerschule abgeliefert werden. Nächst Gott ist es der ehrw. Sr. Agathe Rauscher, die mit Umsicht und Tatkraft das Haus leitete, zu verdanken, daß die Anstalt den Schwestern erhalten blieb. Sie rettete das Haus vor der Beschlagnahme durch die Unterbringung verschiedener
17
Die N o r m a l s c h u l e der Anstalt M ö d l i n g w u r d e zu Beginn des Schuljahres 1 9 4 2 / 4 3 in eine S o n d e r s c h u l e für Schwererziehbare u m g e w a n d e l t ; vgl. Magistrat der Stadt W i e n (Hg.), Die G e m e i n d e v e r w a l t u n g des Reichsgaues W i e n v o m 1. Jänner 1 9 3 9 bis z u m 31. M ä r z 1 9 4 0 . Verwaltungsbericht, W i e n 1941, S. 212,249.
18
Götzl, F e s t s c h r i f t , S . i o o f .
19
Vgl. H a n d b u c h des Reichsgaues 1941, S. 505.
20
Vgl. H a n d b u c h des Reichsgaues 1 9 4 4 , S. 2 0 8 .
21
Vgl.Tabelle 17.
22
Laut E n t s c h l i e ß u n g des Bürgermeisters v o m 0 9 . 1 2 . 1 9 3 9 w u r d e die d a m a l i g e A n t o n i g a s s e in Josef H a ckelgasse u m b e n a n n t , vgl. A m t s b l a t t der Stadt W i e n v o m 2 0 . 0 4 . 1 9 3 9 , 9 . Die Josef H a c k e l g a s s e w u r d e n a c h 1 9 4 5 wieder in A n t o n i g a s s e u m b e n a n n t (Information It. K a t a s t e r a m t Wien).
Regina Böhler
209
Werke, wie die Aufnahme verwahrloster Buben, die Übernahme schwererziehbarer Kinder.^ [...] Anfang Oktober wurden 14 Magistratspfleglinge abgefordert und einem N.S. Kinderheim in Melk a./D. übergeben. Nur 24 Kinder verblieben im Internat, meist solche, deren Rückgabe an die Familie bevorstand. Sie mussten auswärtige Schulen besuchen. [...] Am 1. Juli [1939] wurde unser Kindergarten von der N.S.V. übernommen. [...] Einige Kinder blieben uns dennoch: 3 0 - 4 0 Magistratspfleglinge wurden uns wie im vergangenen Jahr so auch heuer von der Kinderübernahmstelle belassen. Sie besuchen von uns aus die auswärtigen Schulen. Das erschwert allerdings die Überwachung der Fortschritte in der Schule sehr. [...] Auch werden die Kinder sehr oft gewechselt, an die Familie zurückgegeben oder an NSV-Heime überstellt, was Erziehung und Schulfortschritte auch erschwert."24 Im Jahre 1940 wurden im Kinderheim Josef Hackelgasse zwei Isoliergruppen für Kinder der KÜSt geschaffen. 25 Gruppen Knaben und Mädchen verbrachten im Jahre 1940 ihre Zeit der Quarantäne im Heim der Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz von Paul in der Josef Hackelgasse. 25 1941 wurde die Dauergruppe „auf 45 Zöglinge aufgebaut und die Durchzugsgruppen waren ständig besetzt. 25 Zöglinge der Dauergruppe besuchten die Hilfsschule Wien 18, Anastasius Grüngasse 10. Die anderen Kinder waren in die Normalschule verteilt." 26 „[1943 wurden 50 Kinder] in der Dauergruppe verpflegt und durchschnittlich 25-30 Buben und Mädchen in der Durchzugsgruppe. [...] Am 6.Oktober [1944] bekamen wir nach Rücksprache des Herrn Direktors der Übernahmsstelle [...] .Lehrlinge' zur Betreuung, da die Anstalt in der Juchgasse geputzt wird. Am 10. Oktober war die Oberschwester mit der Stationsschwester bei uns, um alle verfügbaren Räume aufzunehmen,falls die Übernahmestelle Schaden leiden sollte, denn wir sind, laut magistratischer Bewilligung, die Ausweichestelle derselben. [...] Am 4. IV. [1945] schloss der NSV Kindergarten und kam an uns zurück. Einstweilen näherten sich die Russen immer mehr Wien. Frauen und Kinder wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Auch unsere Dauergruppe traf das traurige Schicksal, durch eine Zustimmung des Gaujugendamtes wurde der 5. April zur Abreise bestimmt. Sr. Leonarda und Sr. Henrika begleiteten die 36 Zöglinge. Proviant für 6 Tage wurde eingepackt [...] um V2 3 h holte ein Auto die Kinder ab und führte sie zur Reichsbrücke. Die Reise sollte nach Passau gehen, und dann weiter. Kein Postverkehr! [...] Am 11. IV. nahmen wir mit aller Liebe das ausgebrannte Heim 35 Kinder und
23 Ohne Autor, Chronik des Hauses der Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz v. Paul: Wien 18, Antonigasse 72. Bd. IV1926-1947,0. p. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Ebd.
210
3. Institutionen der NS-Fürsorge
8 Schwestern von der Wexstraße auf.27 Die Schwestern mussten sich erst umkleiden. Unsere Schwestern liehen ihre Kleider her. Gleich wurde ein Nachtmahl bereitet. Sie blieben bis 21. IV. an welchem Tage sie in ihr früheres Heim wieder einzogen, Lacknergasse 98. Am 2. Mai eröffneten wir unter dem Schutz der .Marienkönigin' den Kindergarten. [...] Die Überstellung der Kinder von der Kinderübernahmsstelle wurde fortgesetzt bis wir eine Gruppe von 70 Kindern im Hause hatten. [...] Am 20. Oktober [...] kehrten auch Sr. Leonarda und Sr. Henrika mit unseren Zöglingen aus der Verbannung - Bayern-zurück [...] ein Großteil der Kinder wurde von ihren Eltern abgeholt. Die übrigen kamen in die Anstalt,Spiegelgrund' und einige davon wurden auch im Internat eingereiht."28 Bei insgesamt 510 angegebenen Überstellungsgründen des Geburtenjahrganges 1931 in das Heim Josef Hackelgasse steht der Überstellungsgrund „schwer erziehbar" mit 9 0 Nennungen an der Spitze. 29
Das Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim Das Zentralkinderheim (ZKH) wurde vom Land Niederösterreich zwischen 1908 und 1910 als Nachfolgeeinrichtung der alten Gebär- und Findelanstalt in Gersthof erbaut. A m 20. April 1910 eröffnete das Haus in Wien 18, Bastiengasse 36-38. 3 0 Im Jahr 1917 verfügte die Einrichtung über 184 Betten für Wöchnerinnen, 98 Betten für A m m e n und 520 Betten für Kinder. „Im Jahre 1919 übernahm die Gemeinde Wien das Zentralkinderheim in ihre Verwaltung und damit verschwand der letzte Rest vom Wesen des alten Findelhauses. Die bevorzugte Stellung unehelicher Säuglinge wurde aufgehoben und das Heim für bedürftige Kinder bis zu sechs Jahren [...] umgestaltet." 3 ' Im Roten Wien fungierte das ZKH als Durchzugsheim für Säuglinge. 32 1933 wurden aus der Erziehungsanstalt Eggenburg 150 schulpflichtige schwer erziehbare Knaben ins ZKH überstellt. Deswegen wurde zu Beginn des Schuljahres 1933/34 in einigen Räumen des ZKH die „Öffentliche Sonderschule für Schwererziehbare" eingerichtet, die im Juli 1934
27
Vgl.S. 298, insbesondere Anm. 1 0 4
28 Ohne Autor, Chronik des Hauses der Barmherzigen Schwestern, o. p. 29 Vgl.Tabelle 18. 30 Vgl. Pawlowsky.V., Mutter l e d i g - V a t e r Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910. Innsbruck u.a. 2001, S. 268. 31
Rathsprecher, M., Das Wiener Findelhaus. Von der Drehlade zur modernen Kinderübernahmesteile. In: Arbeiterzeitung,
08.09.1931; nach Czeike ging das Zentralkinderheim erst 1922 in die Verwaltung der
Gemeinde Wien über, vgl. Czeike, F., Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden. Bd. 1. Wien 1992,5.563. 32
Vgl.Melinz.Von der „Wohltäterei" zur Wohlfahrt, S. 113.
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aufgrund der Auflösung des Heimes wieder geschlossen wurde. Die Übersiedlung des Durchz u g s h e i m e s des Kinderheimes W i l h e l m i n e n b e r g ins Z K H machte eine Eröffnung der Sonderschule (Öffentliche Sonderschule, 18, Bastiengasse 36) erneut notwendig, was mit Beginn des Schuljahres 1935/36 geschah. Diese Schule war explizit dafür gedacht, in enger Z u s a m m e n a r beit mit d e m Z K H die Schüler zu beobachten, u m sie anschließend in passende Anstalten überstellen zu können. Ab 1 9 3 9 / 1 9 4 0 trug das Z K H die Bezeichnung „Wiener Städtische Fürsorgeklinik".
„Dieser neue Name machte - die auch kriegsbedingt notwendig gewordene - spitalsmässige Ausrichtung der Anstalt deutlich. Die zum Teil neue Klientel, die in dieser Institution Aufnahme und Betreuung fand, bedingte auch interne strukturelle Veränderungen. Neben bestehenden Räumen für Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und stillende Mütter entstand nun eine Frühgeburtenstation, eine Abteilung für schwangere Frauen und eine für geschlechtskranke Mütter."33
Dozent Dr. Kurt H a s s m a n n löste Dr. August R e u ß a l s Direktor des Zentralkinderheimes bzw. der „Wiener Städtischen Fürsorgeklinik für Mutter und Kind" ab.' 4 A m 24. Juli 1 9 4 0 zog die „heilpädagogische Abteilung des Zentralkinderheimes"« s a m t Sonderschule in die neu gegründete Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund". 36 Bis z u m Zeitpunkt der Übernahme der Verwaltung der Jugendfürsorgeanstalten durch die Hauptabteilung F „Jugendwohlfahrt und Jugendpflege" war das Kinderheim Pötzleinsdorf an das Z K H angeschlossen."
33
Cervik, K., Fürsorgezögling im Dritten Reich. L e b e n s e r i n n e r u n g e n 1 9 3 1 - 1 9 4 5 . V o n d e n Schwierigkeiten E r w a c h s e n e r im U m g a n g m i t Kindern. Unveröffentl. E n t w u r f v o m 0 6 . 0 6 . 2 0 0 2 (im Besitz der Verf.), S. 1 0 6 . 1 9 4 0 w u r d e in der W i e n e r S t ä d t i s c h e n Fürsorgeklinik m i t d e m Bau einer n e u e n Frauenklinik, der späteren „Ignaz S e m m e l w e i s - F r a u e n k l i n i k der Stadt W i e n - H e b a m m e n l e h r a n s t a l t " , b e g o n n e n , vgl. Magistrat, Die G e m e i n d e v e r w a l t u n g 1945, S. 2 0 3 f.
34
Vgl. Lautsch, H. u n d Dornedder, H. (Hg.), Verzeichnis der Ärzte u n d Heilanstalten in der Ostmark. Z u s a m mengestellt in V e r b i n d u n g m i t d e n W i e n e r Dienststellen der R e i c h s ä r z t e k a m m e r u n d Kassenärztlichen V e r e i n i g u n g D e u t s c h l a n d s , sowie den Ä r z t e k a m m e r n W i e n , N i e d e r d o n a u , O b e r d o n a u , Salzburg, Steiermark, Kärnten,Tirol-Vorarlberg. Leipzig 1941, S. 2 2 , 9 0 .
35
Die „ S c h u l k i n d e r b e o b a c h t u n g s s t a t i o n " der G e m e i n d e W i e n b e s t a n d schon s e i t d e m Jahre 1925. Vorerst war die Station in der Kinderherberge „Am Tivoli", in weiterer Folge im Schloss W i h e l m i n e n b e r g untergebracht, bis sie d a n n a b 1 9 3 4 als h e i l p ä d a g o g i s c h e Abteilung mit 1 8 0 Betten in e i n e m Pavillon des Z K H g e f ü h r t w u r d e , vgl. Krenek, H., Beitrag zur M e t h o d e der E r f a s s u n g von psychisch auffälligen Kindern und J u g e n d l i c h e n . In: Archivfür
Kinderheilkunde.
15. Jg. 1942, Heft 126, S. 72. Ich d a n k e H e r w i g C z e c h für
die Kopie. 36
Vgl. ebd.
37
Vgl. M a g i s t r a t (Hg.), Die G e m e i n d e v e r w a l t u n g 1945, S. 214.
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Die Erziehungsanstalt Hohe Warte Das Kinderheim Hohe Warte (19, Hohe Warte 3-5), eine Stiftung der ungarischen Gräfin A n drassy, wurde zunächst als Waisenhaus für Mädchen gebaut. Auf der Liegenschaft wurde am 27. August 1908 ein Waisenhaus für Knaben, das „Franziska Gräfin Andrassysche Waisenhaus für Knaben", eröffnet. Zu dieser Zeit waren im Heim 240 Kinder untergebracht, die von geistlichen Schwestern betreut wurden. 38 Dem Handbuch des Reichsgaues Wien zufolge konnte das Waisenhaus der Stadt Wien Hohe Warte (dann Wiener städtisches Erziehungsheim Hohe Warte), 1941 geleitet von Direktor Stephan Hopfner, 280 Kinder aufnehmen. Als Hausarzt fungierte Dr. Wolfgang Feigl. Neben der Heimmutter Margarete Mayrhofer waren 19 Personen als Erziehungspersonal, eine Person als Pflegepersonal und 20 Personen als Hauspersonal beschäftigt. 39 Erwin Peter und Johann Seiinka, Zöglinge des Heimes Hohe Warte, berichteten in der Heimchronik über Veränderungen im Heim durch den „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich: „In den ersten Monaten begannen auch wir Kinder Anteil zu nehmen am Geschehen der politischen Lage Österreich-Deutschland. Von den einzelnen Erziehern wurde eifrigst darüber diskutiert und dadurch wurden auch wir Kinder mit dem kommenden Geschehen konfrontiert, ohne überhaupt zu wissen, welcher tiefere Sinn hinter der ganzen .Anschlusspolitik' steckte. Unter Anleitung der Erzieher lernten wir die Herstellung von Hakenkreuzabzeichen und ähnlicher Symbole des ,dritten-Reiches'. Diese Abzeichen wurden dann bei jedem Ausgang ganz stolz getragen. Die nun eintretenden Veränderungen im Heim bekamen alle sofort zu spüren. Der bisherige Direktor, die Heimmutter und einige Erzieher wurden von einem Tag auf den anderen entlassen. Mit dem neuen Direktor kamen auch neue Erzieher. Unsere neuen Erzieher, meist junge, unerfahrene Männer, ohne irgendwelche pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten, hatten nur eines im Sinn, uns junge Burschen so hart wie Stahl zu machen. Militärische Zucht und Ordnung begann über uns Besitz zu ergreifen. Die neuen Erzieherwaren keine Erzieher mehr, sondern .Feldwebel' und unser Kinderalltag wurde nun auf,zack-zack'ausgerichtet. [...] Die meisten von uns waren schon bald bei der HJ [...]. Ihr oberstes Gebot war: ,Hart wie Kruppstahl - zäh wie Leder - und flink wie Windhunde - so sollt ihr sein.' [...] Körperliche Ertüchtigung wurde im Heim sehr groß geschrieben, verlangte doch der Führer:.mens sana in corpore sano' [...] Jeder versuchte dem Führer zu dienen, so gut es ging, denn Schwäche wurde
38 Vgl.Linseder,S.,Vom Kinderheim zur sozialpädagogischen Wohngemeinschaft. A m Beispiel des Kinderheimes Hohe Warte. Diplomarbeit Wien 1997, S. 66. 39 Vgl. Handbuch des Reichsgaues Wien 1941, S. 505.
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von unseren .Aufsehern' nicht geduldet. Einzelhaft und Essensentzug waren gängige Erziehungsmittel."''0 Das Erziehungsheim Pötzleinsdorf Im Jahre 1903 nahm die Erholungsstätte Pötzleinsdorf versuchsweise den Betrieb auf. Dort konnten bis zu 1000 Kinder aufgenommen werden. 41 Das Objekt „Heimstätte für Kinder spitalsbedürftiger Eltern" in Wien 18, Pötzleinsdorferstraße 46, ging am 8. März 1939 aufgrund der Einweisungsverfügung des Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände vom i. Februar 1939 in das Eigentum der Gemeinde Wien über. Im August 1940 wurde das Heim zur Unterbringung von Kindern spitalsbedürftiger Eltern aus Administrationsgründen an die vom Anstaltenamt verwaltete Wiener städtische Fürsorgeklinik (Wien 18, Bastiengasse 36-38) angeschlossen. Durch die Eingliederung der bisher vom Anstaltenamt verwalteten Jugendfürsorgeanstalten in die 1942 gebildete Hauptabteilung F Jugendwohlfahrt und Jugendpflege" wurde das Wiener städtische Erziehungsheim Pötzleinsdorf ab 1. Oktober 1942 an das Erziehungsheim Hohe Warte angeschlossen.* 2 Im Geburtenjahrgang 1931 lagen insgesamt 227 Überstellungsgründe für die Einweisungen in das Heim Pötzleinsdorf vor. Mit dem 68 Mal verzeichneten Überstellungsgrund „KM [Kindsmutter] im Spital" erfüllte es seinen Zweck als „Heimstätte für Kinder spitalsbedürftiger Eltern".43
Das Kinderheim Meierhöfen Der Zwicklhof in Maria Anzbach in Meierhöfen 1 wurde 1898 von den „Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz v. Paul" gekauft. Das Anwesen war zunächst als Wirtschaftshof, ab 1907 als Knaben-Sommerheim, Urlaubsheim für Schwestern und als Schwesternsanatorium in Verwendung. 4 4 Unter dem Namen Ludovikaheim wurde das Haus bis ins Jahr 1938 als Ferienheim genutzt (siehe Abbildung 4). Im Sommer 1938 kamen zum letzten Mal 120 Knaben aus dem 4 0 Heimchronik Kinderheim Hohe Warte, o. p.,zit. nach Linseder.Vom Kinderheim zur sozialpädagogischen Wohngemeinschaft, S. 28 ff. 41
Vgl. Landesausschuß des Erzherzogtums Österreich unter der Enns (Hg.), Die Fürsorge-Einrichtungen der niederösterreichischen Landesverwaltung zum Schutze des Kindes. Aus Anlaß der Thronbesteigung Seiner kais. u.kön. Apostolischen Majestät Karl I.Wien 1917,5.157.
42 Magistrat der Stadt Wien (Hg.), Zur Entstehungsgeschichte des „Hauses Pötzleinsdorf". Wien 1945, S. 214, S. 249. 43 Vgl.Tabelle 19. 4 4 Vgl. ohne Autor, Maria Anzbach. Eine Wienerwaldgemeinde im Wandel der Zeiten, o. 0., o. J.; ich danke Herrn Vouk, Gemeindeamt Maria Anzbach, der mir das Buch zur Verfügung stellte.
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H e i m W i e n 15, G e b r ü d e r Langgasse (Vinzentinum), mit ihren S c h w e s t e r n in d a s S o m m e r h e i m Meierhöfen. 4 5 Die H a u s - C h r o n i k der „Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz v. Paul" beschreibt die teilweise d r a m a t i s c h e Entwicklung i m H a u s Meierhöfen 1 w ä h r e n d der NS-Zeit:
„Das Jahr 193g brachte dann gleich zu Beginn eine unliebsame Einquartierung. Am 4. Jänner um 3 h Nachmittag wurde an der Pforte ein offener Brief abgegeben. Das Schriftstück war ausgestellt von der Arbeitsgemeinschaft der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt NSV und unterfertigt von der Gräfin Czernin. In demselben wurde die Leitung des Ludovikaheimes aufgefordert, die Kindersäle und alle Räume, die den Ferienkindern aus der Gebrüder Langgasse in Wien gehörten an die NSV abzutreten. Sollte dies nicht geschehen, so werden diese Räumlichkeiten mit Gewalt beschlagnahmt. A m 6. Jänner wird mit 120 Kindern u.12 Personen Pflegepersonal eingezogen. [...] Sr. Oberin Dorothea fuhr gleich nach Wien, um die Ehrw. Mutter zu benachrichtigen und sich Weisungen für diesen Fall zu holen. Um 9 h abends kam sie zurück und brachte Sr. Wigberta zum Helfen mit. Nur ein Tag, der s.Jänner stand uns zur Verfügung, u m für diese große Schar nur das Nötigste herzurichten. [...] Doch der 6. Jänner verging und niemand kam. Gräfin Czernin, die Leiterin des ganzen Unternehmens, war erkrankt und so wurde der Einzug der Kinder um 8 Tage verschoben. [...] Nebst den Kindersälen mussten wir von unseren Räumlichkeiten noch abtreten: das große Arbeitszimmer des Hw. Geistlichen Vaters, das Zimmer der Sr. Oberin und das Schlafzimmer der Hausschwestern. Dieses wurde als Krankenzimmer für die Kinder bestimmt. [...] A m Samstag [...] kamen mit dem Frühzug einige Personen des Dienstpersonals, um für die Kinder, die mittags eintreffen sollten, alles vorzubereiten. Um % 11 h kam der große Kinderzug mit den übrigen Personen des Pflegepersonals. Es waren 117 Kinder im Alter von 4 bis 14 Jahren u.13 Personen Dienst- und Pflegepersonal, im ganzen 130 Personen. Nach dem Mittagessen wurden die Heiligenbilder, die noch in den Kindersälen hingen, zurückgebracht - und wir sahen, wie sie ober den Türen der Kindersäle Hakenkreuze anbrachten. [...] A m 23. Aug. [August 1939] wurde das Ludovikaheim als Sammelstelle für das Militär bestimmt. Dies dauerte 3 Tage. [...] Vom Wehrkommando, sowie von d. Gemeinde kam der Auftrag, daß die Räume des Kinderheimes freigemacht werden müssen, da diese für Militärzwecke benötigt werden. Die Kinder kamen in das hiesige Schloß Eichhof.Am 28. Nov. [November 1939] kamen die Kinder wieder zurück. [...]
45 Vgl. Ludovikaheim in Maria Anzbach, Meierhöfen 1, Haus-Chronik 1898-1905. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Oberin Sr.Otmara Kapella, die mir die Einsicht in die Haus-Chronik ermöglichte. Die Chronik schrieb immer die jeweilig amtierende Oberin. Sie wurde von Sr. Maria Franziska aus der Kurrentschrift umgesetzt.
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A m 17. November [1940] schickte Fr. Gräfin Czernin H. H o f m a n n mit d e m Auftrag zu uns, das D i e n s t m ä d c h e n z i m m e r sofort zu räumen. W e n n wir uns weigern, wird die SS kommen. Johann g i n g z u m Bürgermeister, dieser telefonierte an die Gräfin, sie solle zu i h m k o m m e n u. d a n n werden sie beide zu uns k o m m e n u. die Angelegenheit besprechen. A m N a c h m i t t a g kam aber die Gräfin allein und es w u r d e alles in Ruhe besprochen. Fr. Gräfin sagte, sie w ü r d e n halt sehr dringend ein Isolierzimmer brauchen. Sr. Oberin sagte ihr, d a ß wir das Z i m m e r nicht hergeben können und selbst die Herren von der Partei sagten, d a ß das Z i m m e r den Dienstmädchen bleiben m u ß . Fr. Gräfin sah es schließlich ein u. sagte, sie werden im S o m m e r M a n s a r d e n bauen. Mitte Dez. ließ Fr. Gräfin abermals durch die Arbeitsgemeinschaft der O s t m a r k einen Brief an die Erw. Mutter schreiben, w e n n wir das M ä d c h e n z i m m e r nicht freiwillig abgeben, werden sie k o m m e n u n d den ganzen G e b ä u d e k o m p l e x in A u g e n s c h e i n n e h m e n u. uns noch mehr nehmen. Erw. Mutter sprach darüber mit Hw. Geistlichen Vater u. beide meinten, m a n solle halt, u m endlich Ruhe zu b e k o m m e n , ihnen das Z i m m e r überlassen. [...] W i r sind nun ganz a b g e schlossen v o m Kinderheim. Die Mitteltür a m G a n g w u r d e ganz zugesperrt. [...] Das Kinderheim hatte a m 17. Feb. [Februar 1941] Inspektion. Gräfin Czernin kam darnach in Begleitung eines Herrn a u s W i e n u n d eines Herrn a u s Mar. A n z b a c h zur Oberin des H a u s e s u. verlangte die Schwestern räume zu sehen. ,Man braucht Säle für die Kinder', sagte sie. Die Oberin verweigerte vorerst einen Eintritt in die Räume, ließ aber dann, da der Herr sehr erregt war, v o m G a n g aus, das Refektorium und einige Z i m m e r des 1. Stockwerkes besehen, u m zu beweisen, w i e sehr die Schwestern bereits z u s a m m e n g e d r ä n g t sind. A u f die Bemerkung hin, d a ß der 2. Stock von lungenkranken Schwestern bewohnt sei, entfernten sich die Besucher höflich und o h n e Besichtigung dieser Räume. [...] A m 14.9. [1942] k a m e n die Kinder von unserem H e i m nach Erlanghof bei Klosterneuburg 4 6 . An deren Stelle sollten die Kreuzschwestern mit Schwachbegabten Kindern' 17 hierherkommen. A m 15.9. waren Kreuzschwestern wegen der Ü b e r n a h m e hier. Die Oberin d. Kreuzschw. machte bei G r ä f i n Czernin verschiedene A n s p r ü c h e und sagte: .Früher ziehen wir nicht ein.' In den großen Sälen w u r d e n Z w i s c h e n m a u e r n gelegt u. alles frisch geweißt. A m 19. wurde mit der Fr. Gräfin das Inventar d u r c h g e n o m m e n . Gefehlt haben alle Gläser, Besteck, W ä s c h e und Geschirr - gut VA von allem. Die Betten der Kinder waren in miserablem Zustand: Strohsäcke zerrissen,
46 Der Erlang(s)hof, ein kleines Schlösschen, wurde ab 1928 als Kinderheim geführt und an Private verkauft, vgl. Pongratz.W. und Seebach, G., Burgen und Schlösser Y s p e r - Pöggstall - Weiten. Wien 1971, S. 3947
Im Sachindex der Mag. Abt. F2 aus dem Jahr 1942 gibt es einen Hinweis auf die „Übersiedlung v. debilen Kdrn. [Kindern] v. Viehofen nach Maierhöfen" (das Heim Meierhöfen wird in zeitgenössischen Dokumenten unterschiedlich geschrieben; in diesem Beitrag wird einheitlich „Meierhöfen" verwendet). Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich im Heim in Viehofen Kreuzschwestern um die untergebrachten Kinder kümmerten.
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vieles ruiniert, nur die Holzbettgestelle waren ganz. [...] Am 7.11. [1942] kamen die Kreuzschwestern mit den Kindern ins Heim. Am Sonntag, 8.11. kamen über 80 Kinder mit den Schwestern zu uns in die hl.Messe. [...] Der Graf Czernin hatte die ganze Zeit den ehrw. Kreuzschwestern die Lebensmittel für die Kinder nicht ausgefolgt, wie es hätte sein sollen: Butter sehr gekürzt, Milch 10-30 % gewässert, Obst und Gemüse nicht beliefern lassen. [...] Die ehrw. Provinzoberin war auf das hin gezwungen, dem Grafen zu kündigen, tat es auch. Termin war der 31. Mai [1943]. Der Graf nahm die Kündigung an, bat jedoch, die Schwestern sollen bis Ende Juni verbleiben. Am Donnerstag, d. 27.5. kam der Graf und sagte, die Schwestern können am 31.5. gehen, er habe Leute genug. Das waren herzzerreissende Szenen: Die Kinder klammerten sich an die Schwestern, schrieen nach ihnen. Am 31.5. u. 1.6. war Übergabe an weltliche Pflegerinnen. Am Dienstag,d.i.6.gab unsere Sr. Oberin den ehrw. Kreuzschwestern das Mittagessen, Nachmittag schieden sie mit großem Weh von uns. [...] Am 2.6. kam vom Eichhof ein großer Wagen, die Gräfin ließ die schönen Sonntagskleider u.Mäntel aufladen und wegführen. Die Kinderstanden schreiend und weinend am Fenster und mussten zusehen, wie alles Schöne fortgeführt wurde. Die Gräfin sagte zu den Kindern selbe müssen gerichtet werden, weil sie von den Schaben zerfressen sind. Doch mit diesen Ausreden konnte man das Weh der Kinder nicht lindern. Die Kinderkannten ihre Sachen nur zu gut. Auch Wäsche und viele Möbelstücke wurden zum Eichhof geführt. Für die Kinder begann eine traurige Zeit Sie wurden geschlagen, litten Hunger, sie kamen zu unserer versperrten Kapellentür und bettelten laut am Gang:,Bitte, lieber Jesus, schicke uns was zu essen, wir haben Hunger!'"48 Ab Sommer 1945 wurde das Ludovikaheim in Meierhöfen wieder als Ferienheim der Kinder des Vinzentinums genutzt.«
Das Jugendheim Kollburggasse Franz Secky war während der NS-Zeit als pädagogischer Leiter im Jugendheim Kollburggasse in Wien 16, Kollburggasse 6-10 5 0 tätig. Bereits im März 1938 verfasste er in der Zeitschrift für Kinder-, Familien- und Berufsfürsorge einen Artikel mit dem Titel „Grundsätzliches über Heilpädagogik", in dem er die Gründe, die aus seiner Sicht zu „Schwererziehbarkeit" führen, eingehend diskutierte. Secky folgerte:
48 Ludovikaheim, Haus-Chronik 1898-1905,0. p. 49 Heute heißt das Haus „St. Louise Alten- und Pflegeheim" der Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz v. Paul in 3034 Maria Anzbach,Meierhöfen 1. 50 Auch: Wiener Städtisches Jugendheim Liebhartstal.
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„Jedes Einzelwesen bekommt erst Wert und Maß im Hinblick auf die Gemeinschaft. [...] Neben Elternhaus und Lehranstalt ist die Zusatzerziehung [Jungvolk, HJ, BdM; Anm.d.Verf.] eine unabänderliche Notwendigkeit, besonders für das männliche Kind, das sich nach der Gemeinschaft der Gleichaltrigen sehnt. [...] Als die Ultima ratio wird die Anstaltserziehung ihren Wert behaupten, besonders wenn es sich um wirklich schwererziehbare Kinder handelt. [...] Die Anstalt bietet vielerlei Vorteil: geschulte Kräfte; die Erfahrung, die Eltern auch mit fünf Kindern nicht aufbringen können. [...] Die gutgeführte Anstalt - sie ist es ja nicht immer - ist eine unausschöpfbare Segensquelle für das Volksganze und derzeit bei der Beschränkung der Schule auf die kalte Lehrtätigkeit fast notwendiger als diese in bezug auf die Charakterbildung."* 1
Das Jugendheim Kollburggasse stand 1941 unter der Leitung von Frau Direktor Emmy Formanek und konnte bis zu 125 Kinder aufnehmen. Als Kostenträger fungierte die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien. Lang bezeichnete die Insassen als ,,[s]chwer erziehbare, schwer lenkbare und z u m Teil auch asoziale Knaben". 52 Bei insgesamt 121 Überstellungsgründen kommt in dieser Anstalt bezogen auf die Daten der Auswertung des Geburtenjahrganges 1931 der Einweisungsgrund „schwer erziehbar" a m häufigsten v o r «
Die Bildungsanstalt Biedermannsdorf Die Anstalt Biedermannsdorf („Stephanie-Stiftung") wurde a m 28. November 1883 mit 26 Zöglingen eröffnet. Im Jahre 1 8 9 0 beherbergte die Anstalt bereits 1 0 0 Kinder. 5 4 1917 waren in der „Stephanie-Stiftung" in Biedermannsdorf „schwachsinnige Knaben und Mädchen im Alter von 6 bis 13 Jahren, die bildungs- und erziehungsfähig sind" untergebracht. 5 5 Die Bildungsanstalt der Stadt Wien (Biedermannsdorf 24, Ortstraße 56) stand während des NS-Regimes unter der Leitung von Direktor Leopold Krickl (vorher Direktor Hiener). Die Zahl der Insassen war auf 180 51 52
53 54 55
Secky, F., Grundsätzliches über Heilpädagogik. In: Zeitschrififür Kinder-, Familien- und Berufsfürsorge 1938,5.29. WStLAMag. Abt. 212, Lang an Scharizer am 07.04.1941. Im Handbuch für den ehrenamtlichen Fürsorgerat mit einem Vorwort aus dem Jahre 1946 wird das Kinderheim Liebhartstal (Wien 16, Kollburggasse 6-10) angeführt. Dieser Quelle zufolge wurde es am 1. November 1945 mit 90 Betten für „anstaltsbedürftige Knaben von 6 bis 18 Jahren, die öffentliche Schulen besuchten" eröffnet. Es unterstand der Direktion des Erziehungsheimes „Am Spiegelgrund"; vgl. Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues 1945, S. 75. Heute befindet sich an dieser Adresse das „Sanatorium Liebhartstal", ein Krankenhaus und privates Pflegeheim. Leider fanden sich dort keine Hinweise bzw. kein Ouellenmaterial zum ehemaligen Jugendheim Kollburggasse. Vgl.Tabelle 20. Vgl. Hilscher, Geschichte der Schwachsinnigenfürsorge, S. 139 f. Landesausschuß (Hg.), Die Fürsorge-Einrichtungen der niederösterreichischen Landesverwaltung, S. 209.
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festgesetzt. Lang beschrieb den Insassenkreis als „Schwachsinnige, Geisteskranke, zum Teil auch Idioten, an denen noch ein letzter Erziehungsversuch gemacht werden soll. Die Zöglinge werden hier soweit herangezogen, dass wenigstens ein Teil von ihnen später als Hilfsarbeiter Verwendung finden kann."56
Fallbeispiel Karl H.
Karl H.,geboren 1931, wurde am 1. Novemberi94i in der Erziehungsberatung (Winkelmayer) vorgestellt: „Degenerativer, primitiver Bub, Hilfsschüler, schwer verwahrlost, mit Neigung zum Schulstürzen, Straßenaufenthalt, Unfug, Gewalttätigkeiten u. Eigentumsdelikten. Lt. Mitteilung der Schule bedeutet er dadurch auch eine sittliche Gefahr für seine Mitschüler. Daher erscheint Anstaltsunterbringung geboten. Da er den Voraussetzungen für F.E. [Fürsorgeerziehung] im Sinne d. J.W.Vo. [Jugendwohlfahrtsverordnung] nicht entsprechen dürfte, andererseits aber für die E.A. [Erziehungsanstalt] Biedermannsdorf dh. [durch] seine charakterliche Entwicklung vielleicht eine zu große Belastung sein dürfte, wird Beobachtung,Am Spiegelgrund' zum Zwecke einer endgültigen Anstaltsunterbringung beantragt."57 Warum Karl H. nicht wie vorgeschlagen zur Beobachtung in die Anstalt „Am Spiegelgrund" überstellt wurde, bleibt offen. Karl kam zu einer Tante, da beide Eltern gestorben waren, und wurde am 18. Januar 1943 erneut zur Erziehungsberatung bestellt. Dr. Nekula beantragte eine Überstellung in die Anstalt Biedermannsdorf.58 Der Junge wurde am 3. Februar 1943 über die KÜSt nach Biedermannsdorf eingewiesen. Im Mai 1943 stellte ein Onkel den Antrag, seinen Neffen in häusliche Pflege zu bekommen. Dies wurde bei negativ ausfallendem Führungsbericht abgelehnt.5' Im Führungsbericht der Anstalt Biedermannsdorf vom 31. Mai 1943 heißt es: „In der Erziehungsgruppe ist von einer Besserung noch nichts zu bemerken. Mj. [Minderjähriger] gewöhnt sich nur schwer an Ordnung und Reinlichkeit, ist unfolgsam, vorlaut, unverträglich, führt gerne unanständige Reden. [...] Erzeigt keine Arbeitslust, ist in der Gruppe unbeliebt, sehr faul. Einer Abgabe in hsl. [häusliche] Pflege stimmt die Heimleitung nicht zu. Selbst bei geordneten Familienverhältnissen kann voraussichtlich dem Jungen nicht diese lückenlose
56 WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Scharizeram 07.04.1941. 57
MA11 P, 53189.
58 Vgl. ebd. 59 Vgl. ebd.
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Aufsicht und straffe, konsequente Führung geboten werden, wie bei Anstaltsführung und wie beides er unbedingt nötig hat."60 Im Schulbericht heißt es weiter: „Mj. war bei Eintritt sehr verwahrlost. [...] Sein Benehmen war ausrastend und rüpelhaft. Durch ständiges Heranziehen zur Arbeit besserteer sich bald und holte viel nach. Er ist aber sehr faul u. muß immer angehalten werden. Von einer Abgabe in hsl. Pflege wird von Seiten der Schule abgeraten, da der Schüler deutlich zur Verwahrlosung neigt. Es sind auch psychopathische Züge an ihm bemerkbar. Bei entsprechender pädagogischer Beeinflußung (Heimerziehung) ist zu erwarten, daß der Mj. sich günstig weiter entwickelt."61 Karl H. blieb bis 1945 im Heim in Biedermannsdorf, kam dann zu Verwandten und wurde im selben Jahr wieder in Gemeindepflege genommen. 62 Betrachtet man die Überstellungsgründe in das Heim Biedermannsdorf bezogen auf den Geburtenjahrgang 1931 insgesamt, so fällt auf, dass die Kategorien „Schwer erziehbar" und „Behinderung des Kindes" überwiegen. 6 '
Die Erziehungsanstalt Klosterneu bürg Die Erziehungsanstalt der Stadt Wien Klosterneuburg (Wien 26, Klosterneuburg, Martinstraße 56-58) stand unter der Leitung von Direktor Josef Jenke. Hausarzt war Dr. Ferdinand Glanz, die Heimmutter war Marie Horacek. Das Erziehungspersonal bestand aus 19, das Pflegepersonal aus zwei, das Hauspersonal aus sieben Personen.6" 1941 konnten 170 Mädchen aufgenommen werden. „Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine ausgesprochene Erziehungsanstalt für Kinder im schulpflichtigen Alter. Ferner besteht die Möglichkeit, 20 im jugendlichen Alter stehende Mädchen - im allgemeinen verwahrloste, asoziale, sittlich gefährdete und schwer erziehbare - unterzubringen." 6 * Schulpflichtige erziehungsbedürftige Mädchen wurden zur Fürsorgeerziehung in die Erziehungsanstalt Klosterneuburg eingewiesen. Um das Ziel der „Fürsorgeerziehung" zu erreichen, wurde am 7. September 1942 eine Berufsschule für geprüfte Haushaltsgehilfinnen und Wäscheschneiderinnen errichtet. 66
6 0 Ebd. 61
Ebd.
62 Vgl. KÜSt, 1931. 63 Vgl.Tabelle 21. 64 Vgl. Handbuch des Reichsgaues 1941, S. 507. 65 WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Schanzer am 07.04.1941. 6 6 Vgl. WStLA Mag. Abt. 212, A5/1-2,30.05.1940, Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 212,215.
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Die Erziehungsanstalt Schwechat Die NSV richtete bereits 1939 im Kloster der „Gesellschaft der Karmeliterinnen vom göttlichen Herzen Jesu" in Wien 11 (Schwechat), Dreherstraße 66, ein NSV-Jugendheim für schulpflichtige Knaben ein. 67 Aufgrund der teilweisen Okkupation der Anstalt Eggenburg durch die Wehrmacht gingen dort etwa 350 Unterbringungsplätze verloren. Daraufhin wurde am 15. April 1941 eine Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Kinder eröffnet. 68 Die Erziehungsanstalt konnte bis zu 100 schulmündige „erziehungsbedürftige" Knaben aufnehmen. 6 9 Dem Haus angegliedert war auch eine „Sonderschule für Schwererziehbare", eine Expositur der Sonderschule „Am Spiegelgrund". A m 1. Oktober wurden die schwer erziehbaren Knaben in die „Fürsorgeklinik ,Am Spiegelgrund'" transferiert und ab dem 13. Oktober 1941 wurden Mädchen in diese Anstalt überstellt. 70 In der Mädchenerziehungsanstalt, geleitet von der Kindergärtnerin Valerie Lifka, konnten etwa 100 Mädchen untergebracht werden. 71
Zeitzeuge Karl C. Karl C., geboren 1931, war von Mai bis August 1941 im Kinderheim Schwechat als Zögling untergebracht. Er kann sich noch an diese Zeit erinnern: „An das Schwechater Heim habe ich - ohne despektierlich zu sein - bösartig zu nennende Erinnerungen. Es gab dort stockdunkle Arrestzellen, deren Fenster mit Holzbrettern verschlagen waren, weil die Arrestanten schon mal ausbrachen und an der Außenwand von Fenster zu Fenster kletterten. Ich kam mir in dieser dunklen Zelle damals wie eine Ratte vor. Wurde einer nach dem Weglaufen erwischt und zurückgebracht, erfolgte eine Strafmaßnahme vor der versammelten Front der Jungen, eine Kreuzrasur durch das Kopfhaar oder eine Glatze. So wurde man auf diese Weise zum einen dem Spott der übrigen Kinder ausgesetzt, zum anderen sollte es als Abschreckung dienen und präventiv ein weiteres Weglaufen erschweren. Einer von den Erziehern hatte eine Vorliebe für gezielte Erziehungsmaßnahmen: er warf meistens seinen Schlüsselbund nach uns unartigen Kindern. Dass er uns dabei auch verletzen konnte, nahm er offensichtlich in Kauf."72
67 68 69 70 71 72
Erhalten geblieben ist aus dieser Zeit vom Erziehungsheim Klosterneuburg das „Standesbuch Klosterneuburg [1924?] 1929-19.8.1948", das Auskunft über die aufgenommenen Kinder (Name, Geburtsdatum, Überstellungsgrund, Eintritts- und Austrittsdatum ...) gibt. Ich danke Herrn Gamauf,der mir Einblick in das Standesbuch gewährte. Vgl. Völkischer Beobachter, 29.07.1939. Vgl. Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 212. Vgl. WStLA Mag. Abt. 212, A5/1-2,03.06.1940. Vgl. Magistrat (Hg.), Die Gemeindeverwaltung 1945, S. 212, S. 215. Vgl. Handbuch des Reichsgaues 1944, S. 208. Cervik, K., Fürsorgezögling. Unveröffentl.Text, S. 117.
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Das Kinderheim Stadlau Die Genossenschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesu in Wien 22, Hardeggasse 65, vermietete ab Mai 1939 einige Räume der Liegenschaft Hardeggasse 65 an die NSVzur Errichtung einer NSV-Jugendheimstätte für schulpflichtige Mädchen.« A m 1. Januar 1942 mietete die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, Abteilung E 6, Gaujugendamt, das Kinderheim Stadlau in Wien 22, Hardeggasse 65.?" Die Erziehungsanstalt Hardeggasse konnte bis zu 95 „schwer erziehbare Mädchen" aufnehmen."
Das Landerziehungsheim für Mädchen Schloss Eichhof Schloss Eich hof war bis 1938 in jüdischem Besitz. Die Eigentümerin wurde unter Druck gesetzt und verkaufte das Anwesen an Gräfin Melanie Czernin, die dort ein Kinderheim einrichtete. 76 Das „Landerziehungsheim für Mädchen Schloss Eichhof", geleitet von Gräfin Czernin, lag in Maria-Anzbach im Wiener Wald, nicht mehr in Wien, sondern in „Niederdonau". Hier fanden Mädchen „arischer Abstammung" im Alter von sechs bis siebzehn Jahren Aufnahme. Im Folder des Instituts 77 schreibt Czernin: „So wachsen hier in der Sicherheit der sie umgebenden Opferwilligkeit und Sorgfalt der Erziehungskräfte junge Mädchen in einer Atmosphäre seelischer, geistiger und körperlicher Gesundheit ins Leben. Gebunden durch die strengen Gesetze der Gemeinschaft lernen sie es bald, sich in das Gleichmaß der Zeitgesetze des Heimes einzufühlen. [...] Die Beschäftigung der Jugend in unserer großen Landwirtschaft und in der Gärtnerei erweckt in ihr eine tiefe Landverbundenheit, fördert ihre Schaffensfreude und sichert gleichzeitig damit eine vollkommene Harmonie des Tagesablaufs [...]. Aus der Gesinnungsgemeinschaft Gleichaltriger bilden sich unter den Mädchen Kameradschaften, die mit der aus ihrer Mitte erwählten Kameradschaftsführerin die eigentlichen Träger des Heimlebens sind. In diesen Gruppen werden die Mädchen in psychologisch vorsichtiger Behandlung von den Erzieherinnen umsorgt und zur inneren Bereitschaft für das Gute geführt. [...] Die Tageseinteilung hält sich strenge an die Leistungskurve des jungen Menschen, welche das geregelte Ablösen geistiger und körperlicher Anspannung
73 74 75 76 77
Vgl. Völkischer Beobachter, 29.06.1939. Vgl. DAW, Genossenschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesu. WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Scharizer am 07.04.1941. Für diese Auskunft danke ich Herrn Kletzl.dem derzeitigen Besitzer des Gutshofes Aichhof. Ich danke Herrn Kletzlfürden Folder des „Landerziehungsheimes für Mädchen Schloss Eichhof",den er mir in Kopie überlassen hat.
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mit der Erholung fordert. [...] Die schulpflichtigen Mädchen besuchen gemeinsam die 15 Minuten vom Schlosse entfernte sechsklassige Volksschule Maria-Anzbach, die Älteren die 25 Minuten vom Schlosse entfernte Haupt- und Höhere Wirtschaftsschule in Neulengbach. [...] Bei ihrer Ankunft und in regelmäßigen Zeitabschnitten werden die Mädchen vom Heimarzte genauestens untersucht, gewogen und gemessen. [...] Mit dem Bunde deutscher Mädchen und dem Deutschen Jungvolk, denen fast alle Kinder angehören, steht das Heim in fruchtbarer Zusammenarbeit. Die örtlichen Gliederungen, deren Führerinnen meist von den Heimzöglingen gestellt werden, umfassen im Sinne der Volksgemeinschaft die Mädchen aus dem Dorfe in gleicherweise wie die Heimkinder."78 Ein Vergleich zu den oben zitierten Passagen der Hauschronik der „Barmherzigen Schwestern v. hl. Vinzenz v. Paul" bezüglich der Rolle, die Czernin in der Geschichte von Haus Meierhöfen 1 spielte, lässt diese Eigenwerbung der Heimleiterin freilich allzu emphatisch und irreal erscheinen (siehe Abbildung 5).
Das Kinderheim Wimmersdorf Die private Erziehungsanstalt in Wimmersdorf bei Neulengbach stand unter der Leitung von Schuldirektor Stellbogen. Die Anstalt hatte Platz für etwa 80 Kinder, die in zeitgenössischen Quellen wie folgt beschrieben wurden:„noch erziehbare Knaben,die von der Gemeindeverw. d. Reichsgaues Wien eingewiesen werden. Nicht mehr behandlungsfähige Fälle von Geisteskrankheit sowie Idiotie befinden sich in der Anstalt nicht."7«
Der Geburtenjahrgang 1931 in der Anstalt „Am Spiegelgrund" Die Übersicht der Überstellungsgründe der am „Spiegelgrund" eingewiesenen Kinder zeigt, dass aus dem Geburtenjahrgang 1931 überwiegend Kinder mit d e m Überstellungsgrund „schwer erziehbar" (179 Nennungen) und „Verwahrlosung" (98 Nennungen) eingewiesen wurden. 80 Die Überstellung von 29 Fürsorgeerziehungsfällen soll die A n n a h m e stützen, dass die Anstalt „Am Spiegelgrund" auch als Fürsorgeerziehungsanstalt fungierte. Auch die Folgemaßnahmen wurden ausgewertet: In 92 Fällen kamen Kinder zurück in die ürsprifngsfamilie, in 20
78 Czernin, M., Landerziehungsheim für Mädchen Schloss Eichhof. Faltblatt o.O.,o.J. 79 WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Scharizer a m 07.04.1941. 80 Vgl.Tabelle 23.
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Fällen zu Verwandten. Als Heim, an das die Anstalt „Am Spiegelgrund" quantitativ am meisten Kinder überstellte,fällt die Erziehungsanstalt Mödling mit 71 Überstellungen auf.8' Bei insgesamt 13 Kindern des Geburtenjahrganges 1931 ist als Todesort „Am Spiegelgrund" vermerkt. Von diesen 13 Kindern galten neun laut Eintragung auf den Kinderkarteikarten der KÜSt als behindert, davon sieben als geistig behindert. Die weiteren Angaben zeigen eine Häufung der Todesfälle im Jahre 1942.82 Betrachtet man die Überstellungsgründe genauer, fällt auf, dass vor allem die weniger häufig genannten Überstellungsgründe durchaus ein gemeinsames Muster erkennen lassen. Die im Vorfeld ergriffenen Maßnahmen wiederum weisen darauf hin, dass bei den Todesfällen eine ungewöhnliche Häufung der überstellten Kinder aus dem „Spezialkinderheim Pressbaum" besteht. Im Folgenden werden am Beispiel der getöteten Kinder des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt die „Zuträger" der Tötungsabteilung der Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" im weitesten Sinn angeführt.83 In den beschriebenen Anstalten waren behinderte Kinder des Geburtenjahrganges 1931 untergebracht, die dort auf ihre Überstellung in die Anstalt „Am Spiegelgrund" und ihre Tötung warteten.
Das Pius Institut Das Pius Institut, eine Privatanstalt der Kongregation der barmherzigen Schwestern vom hl. Kreuze in St. Ruprecht bei Bruck/Mur, wurde 1879 als erste „Idiotenanstalt" der Steiermark gegründet.84 Die „Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder,Pius-Institut'" wurde 1917 als Anstalt für „schwachsinnige Knaben und Mädchen im Alter von 4 bis 16 Jahren, die bildungs- und erziehungsfähig sind" beschrieben, in der etwa 120 Landesfreiplätze zur Verfügung standen. Der Anstalt war auch eine Taubstummenschule angegliedert.8* Im Frühjahr 1940 waren im Pius Institut Bruck/Mur 50 Wiener Pflegekinder untergebracht.86 Auch zwei behinderte Kinder des Geburtenjahrganges 1931 wurden bis zu diesem Zeitpunkt von den Kreuzschwestern in der Anstalt in Bruck/Mur versorgt.
81
Vgl.Tabelle 24.
82
Vgl.Tabelle 25.
83
Zu d e n Zulieferern der A n s t a l t „ A m Spiegelgrund" vgl.Tabelle 22.
84
Hilscher, G e s c h i c h t e , S . 138, S. 174.
85
Vgl. L a n d e s a u s s c h u ß (Hg.), Die F ü r s o r g e - E i n r i c h t u n g e n der niederösterreichischen Landesverwaltung, S. 2 0 9 .
86
Ich d a n k e Sr. R o m a n a (Pius Institut der Kreuzschwestern Bruck/Mur) für die Kopien a u s der Chronik des Piusinstitutes der Kreuzschwestern Bruck/Mur, die sie mir freundlicherweise überlassen hat.
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
Fallbeispiele Christine R. und Rosa S. Bei C h r i s t i n e R., geboren a m 4. M a i 1931, w a r e n a u f der Kinderkarteikarte der KÜSt f o l g e n d e Ü b e r s t e l l u n g s g r ü n d e a n g e g e b e n : „ h o c h g r a d i g debil, g e l ä h m t , KE ger. gesch. [Kindeseltern g e richtlich geschieden] kann nicht sprechen, Hydrocephalus". 8 7 Für Rosa S. geboren a m 26. N o v e m b e r 1931 w a r e n die Ü b e r s t e l l u n g s g r ü n d e „KV [Kindesvater] offene Tbc, g e i s t e s s c h w a c h , mongoloid" m a ß g e b l i c h für eine Anstaltseinweisung. 8 8 Diese zwei M ä d c h e n verblieben bis M a i 1 9 4 0 in der O b h u t der Kreuzschwestern im Pius Institut in Bruck/Mur. Im April 1 9 4 0 w u r d e die Leitung des Pius Instituts in B r u c k / M u r von der „N.S.Arbeiterpartei Graz M a r i a G r ü n " davon in Kenntnis gesetzt, die Kinder a u s W i e n und „Niederdonau" seien zu entlassen, und zwar bis z u m 15. M a i 1 9 4 0 :
„Die Kinder wurden tatsächlich für diesen Tag zur Abreise bereit gehalten, da aber niemand kam, um sie abzuholen und auch keine Unterkunft für sie bestimmt war verblieben sie vorläufig in der Anstalt. Am 10. Mai kamen auf Veranlassung des Charitasverbandes Wien die Generaloberin der engl. Fräulein in Begleitung der Oberin der Anstalt Schiltern bei Langenlois N.D. [Niederdonau] in das P.l. [Pius Institut] um die Kinder zu sehen u. sich wegen der Pflege derselben zu informieren. Die Wiener Kinder sollten nämlich in das seit Aufhebung ihres Anstaltsbetriebes leerstehende Haus der engl. Fräuleins untergebracht werden, das in keiner Weise für diesen Zweck eingerichtet war.89 Am 17. wurden die engl. Frl. von der Arbeitsgemeinschaft der N.S.V. nach Graz zur Besprechung berufen u. am 18. kamen sie in Begleitung des Parteimitgliedes Dr. Hoffmann wieder in das P.l. um nochmals Kinder und Anstalt zu besichtigen und einen endgültigen Entschluß zu fassen. Dr. Hoffmann bestimmte nun daß die Kinder am 27. früh 5 Uhr unbedingt abreisen müßten, daß ihnen die notwendige Kleidung u.Wäsche, auch Bettgitter Leibstücke Einlagen u.s.w. mitzugeben seien, da die dortige Anstalt für den Anfang gar nichts habe. Auch die Sr. engl. Fräuleins baten dringend da ihnen momentan auch die Beschaffung der notwendigen Sachen unmöglich sei da ihnen einerseits das Geld mangelte u. andererseits die Sachen auch nicht zu
87 KÜSt, 1931 Stapel O-R. 88 KÜSt, 1931 Stapel S. 89 Am 18. Mai 1938 erging an die Mutter Oberin des Klosters Schloss Schiltern ein Brief, in dem es hieß, „dass Schiltern auch weiterhin Wiener Fürsorgekinder zugewiesen [würden]. Im Allgemeinen steht es allerdings um unsere katholischen Anstalten in dieser Beziehung nicht günstig, da man die Fürsorgekinder entweder in städtischen Anstalten oder aber in Privatpflegefamilien unterbringen will. Es werden uns nur einige spezialisierte Anstalten verbleiben, die auch in Zukunft Berücksichtigung finden werden. Bezüglich Schiltern hat mir Herr Direktor Kundi [damaliger Leiter der KÜSt; Anm.d.Verf.] die ganz dezidierte Zusage gegeben, dass an der bisherigen Praxis nicht gerüttelt werde." Vgl. DAW, Institut Beatae Mariae Virgines (Englische Fräulein). Mutter Oberin Wotypka wies am 26. August 1938 in einem Brief an die Bezirkshauptmannschaft Krems a.d. Donau darauf hin, dass im Schloss Schiltern ein Internat für Wiener Fürsorgekinder bestehe, das vom Wiener Magistrat aufrechterhalten werde; vgl. ebd.
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bekommen seien. Da sie sich a u ß e r d e m mit den blöden u. schwachsinnigen Kindern nicht zu helfen w ü ß t e n daher auch den Transport nicht übernehmen könnten, wurden 3 Schwestern des P.l. bestimmt welche die Kinder begleiten sollten u m d a n n auch ein paar Tage in Schiltern zu bleiben u m d a n n auch die eng. Frl. in ihre neue Beschäftigung einzuführen. [...] Ein paar Tage später kam aus Schiltern ein Brief und a m 25. vom dortigen Bürgermeisteramte ein Telegr. [Telegramm] mit dem Inhalte:,Kinder sollen nicht überstellt werden, das Haus wurde als Militärspital angefordert!' M a n stellte nun die weiteren Reisevorbereitungen ein, aber siehe da, Sonntag 26. abends 9 Uhr erschien abermals Dr. Hoffmann u. befahl, daß die Kindertrotz aller Einwendungen u. Absagen trotzdem abreisen müßten. 1 Wagon und 1 Krankenwagon waren von W i e n bereits bestellt u. ebenfalls 1 Autobus aus Bruck, welcher die Kinder um Vi 5 Uhr früh z u m Bahnhof führen mußte. N u n mußten die Schwestern die ganze Nacht durcharbeiten u m die notwendigen Reisevorbereitungen zu vollenden. In aller Frühe gab es einen ergreifenden Abschied. Die Kleinen schrieen u. die großen vernünftigeren Mädchen weinten und wollten sich von ihrem lieben Heim nicht trennen. A m Bahnhof gab es wieder denselben Auftritt bis alles geordnet war. Nun ging die Reise soweit gut bis in Leobersdorf die beiden Wagen abgekuppelt wurden und von 10 Uhr bis 15 Uhr warten m u ß t e n bis sie an den Zug nach Langenlois angehängt werden konnten. Endlich um 21 Uhr abends kam die Reisegesellschaft in Schiltern an und wurde von den engl. Frl. liebevoll aufgenommen. A m 30. Mai kehrten die 3 Schwestern wieder in das P.l. zurück."' 0
Schloss Schiltern D a s J u g e n d h e i m Schloss Schiltern w u r d e z u m i n d e s t 1 9 3 9 als N S V - J u g e n d h e i m s t ä t t e f ü r s c h w e r erziehbare M ä d c h e n geführt (Jugendwohlfahrt nur durch die N S V 1 9 3 9 ) . Das Geschäftsprot o k o l l d e s G a u j u g e n d a m t e s 1 9 4 0 ( K a t e g o r i e „diverse A n s t a l t e n " ) bietet e i n e n Ü b e r b l i c k ü b e r s ä m t l i c h e n Briefverkehr m i t d i e s e m H e i m . Eine E i n t r a g u n g v o m 11. A p r i l 1 9 4 0 v e r w e i s t a u f d i e „ Ü b e r s i e d l u n g v. s t ä d t i s c h e n P f l e g e k i n d e r n u n d S c h ü t z l i n g e n v. B r u c k a / M . n a c h S c h i l t e r n " . Z w e i Tage später folgt d i e E i n t r a g u n g „ H e i m d. E n g l i s c h e n Fräulein S c h l o ß S c h i l t e r n - Freigabe f. s c h w a c h s . [ s c h w a c h s i n n i g e ] Kinder". E i n e E i n t r a g u n g v o m 1. O k t o b e r 1 9 4 0 t r ä g t d e n Betreff „ R ä u m u n g d e s Klosters in Schiltern".' 1 Ein Brief der S c h w e s t e r O b e r i n v o m 1. D e z e m b e r g i b t an, d a s s die E n g l i s c h e n F r ä u l e i n i m S e p t e m b e r 1 9 4 0 d a s I n s t i t u t v e r l a s s e n m u s s t e , d a es v o n der „ V o l k s d e u t s c h e n M i t t e l s t e l l e f ü r R ü c k w a n d e r e r " b e s c h l a g n a h m t w o r d e n war. 9 2 D i e b e i d e n o b e n e r w ä h n t e n M ä d c h e n C h r i s t i n e R. u n d Rosa S. v e r b l i e b e n bis E n d e S e p t e m ber 1 9 4 0 i m K i n d e r h e i m S c h i l t e r n bei L a n g e n l o i s u n d w u r d e n w a h r s c h e i n l i c h a u f g r u n d d e r
90 Piusinstitut,Chronik,o.p. 91
Vgl. Sachgeschäftsprotokoll für d. M. Abt. F 21940.
92 Vgl. DAW, Institut Beatae Mariae Virgines (Englische Fräulein).
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
Schließung der Anstalt a m 29. September 1940 in das St. Josefsheim in Frischau bei Z n a i m überstellt.«
Das St. Josefsheim in Frischau bei Z n a i m
Im St. Josefsheim in Frischau bei Z n a i m waren laut zeitgenössischen Quellen „schwachsinnige, nicht bildungsfähige Kinder, sowie Geisteskranke u. Idioten" untergebracht. Die Anstalt wurde von den Hedwigschwestern geführt und von der Caritas geleitet. Als Kostenträger fungierte jedoch die NSV. Die Stadt Wien konnte in diesem H e i m bis zu 7 0 Knaben und Mädchen unterbringen. 9 4 Dass im St. Josefsheim in Frischau bei Znaim Begutachtungen und Selektionen von Minderjährigen durch Dr. Heinrich Gross stattfanden, beweist beispielsweise das von Dr. Heinrich Gross verfasste Gutachten über Elisabeth S., die aufgrund von „Schwachsinn höheren bis höchsten Grades" zur Beobachtung in die Anstalt „Am Spiegelgrund" überstellt und dort getötet wurde. 95
Die Anstalt Rosenhof in Viehofen
Auch die Anstalt Rosenhof in Viehofen bei St. Pölten wurde von der Caritas geleitet. Dort wurden bis zu 100 Mädchen aufgenommen, die als „leichtdebil",„meist nicht bildungsfähig" galten. 96
Fallbeispiel Herta K. Herta K., geboren a m 11. April 1931, w u r d e a u f g r u n d von „Schwererziehbarkeit" und „Debilität" a m 28. November 1938 in das H e i m Rosenhof bei Viehofen verlegt. Die ärztlichen Untersuchungsergebnisse lauteten „Debilität, cerebrale Schädigung, S p a s m e n u. Lähmungen". A m i. März 1 9 4 0 wurde Herta K. ins Kinderheim St.Ägyer a m Neuwald 9 7 transferiert und a m n . O k 93 Laut den Kinderkarteikarten der KÜSt wurden die beiden nach eineinhalb Jahren im St. Josefsheim in Frischau bei Znaim am 8. März 1942 in die„Kinderfürsorgeanstalt am Spiegelgrund" verlegt. Christine R. verstarb am 8. April 1942, Rosa S. am 12. August 1942, vgl. KÜSt, 1931 Stapel O-R, Stapel S. Leider war eine Einsicht in die Krankengeschichten der getöteten Kinder nicht möglich. 94 Vgl. WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Scharizeram 07.04.1941. 95 Vgl.Czech, H., Erfassung, Selektion und „Ausmerze". Die Abteilung „Erb- und Rassenpflege" des Wiener Hauptgesundheitsamtes und die Umsetzung der NS-„Erbgesundheitspolitik" 1938-1945. Diplomarbeit Wien 2003, S. 91 f. 96 Vgl. WStLA Mag. Abt. 212, Lang an Scharizer am 07.04.1941. 97 Zu diesem Heim konnten keine weiteren Informationen gefunden werden.
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tober 1941 kam sie nach Frischau bei Znaim, von wo sie am 23. März 1942 ebenfalls in die „Kinderfürsorgeanstalt am Spiegelgrund" überstellt wurde; sie starb dort am 18. Juli 1942.9®
Das „Spezialkinderheim Pressbaum" Die Stadt Wien war berechtigt, in der dem Sacré Coeur gehörenden Erziehungsanstalt Tullnerbach-Pressbaum 120 Minderjährige unterzubringen.^ Im Folgenden werden drei Fallbeispiele von Kindern dargestellt, die in diesem Heim untergebracht waren.
Fallbeispiel Richard S. Richard S., geboren am 25. Dezember 1931, kam am 8. Juli 1940 wegen „Schwererziehbarkeit" und „Debilität" über die KÜSt ins Kinderheim Pressbaum und wurde am 4. August in die„Kinderfürsorgeanstalt am Spiegelgrund" überstellt, wo er am 22. Januar 1942 starb. 100 Ein Dokument des Fürsorgeaktes (Mündelakt) des Jugendamtes gibt als Todesursache an:,.exogener Schwachsinn (Geburtstrauma), Lungenentzündung". 101
Fallbeispiele Edith und Elfriede B. Die Zwillinge Edith und Elfriede B. wurden am 18. September 1931 geboren.„Mittellosigkeit" und „Obdachlosigkeit" sind in der KÜSt-Kartei bei beiden Mädchen als Überstellungsgründe angegeben. Bei der Minderjährigen Elfriede B. kamen außerdem die Überstellungsgründe „schwer erziehbar" und „debil" hinzu. 102 Nach mehreren Privatpflegestellen wurde Elfriede B. ab Januar 1936 im „Spezial-Kinderheim Schloß Süssenbrunn" untergebracht. Im Führungsbericht des „Spezial-Kinderheimes Schloß Süssenbrunn" vom 23. November 1936 wurde sie als „unruhiges, geistig tiefstehendes Kind" beschrieben, das „vollständig pflegebedürftig" sei. Im Führungsbericht vom i 6 . J a n u a r i 9 3 9 heißt es: „Sie hat im Sprechen gute Fortschritte gemacht und hat einige Blockbuchstaben schreiben gelernt. Sehr lebhaft, unruhig, unfolgsam und grossen Stimmungsschwankungen unterworfen. Gegen die anderen Kinder aggressiv. Vollständig pflege-
9 8 Vgl. KÜSt, 1931 Stapel l - K . 9 9 Zur G e s c h i c h t e des S p e z i a l k i n d e r h e i m e s P r e s s b a u m vgl. im vorliegenden B a n d die A u s f ü h r u n g e n von Vera Jandrisits zu den H e i m e n , in die der G e b u r t e n j a h r g a n g 1 9 3 8 überstellt wurde. 1 0 0 Vgl. KÜSt, 1931 Stapel St. 101 M A 1 1 P, 64551. 1 0 2 KÜSt, 1931 Stapel B.
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
bedürftig. Bettnässerin." 103 Elfriede wurde im März 1939 ins „Spezial-Kinderheim Pressbaum" überstellt. Der am 5. November 1940 in Pressbaum abgefasste Führungsbericht über das Mündel Elfriede B. gibt an,dass sich das Mädchen seit 1936 im Heim befinde. 104 Weiterhin heißt es, geistige Fortschritte seien beobachtet worden, jedoch sei das Kind unfolgsam und pflegebedürftig. Elfriede wurde infolge der Auflösung des „Spezial-Kinderheimes Pressbaum" im August 1941 in die Wiener Städtische Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" verlegt. 105 Im Oktober 1942 wurde sie in die „Nervenklinik für Kinder" 106 eingewiesen und im November 1943 ins St. Josefsheim in Frischau bei Znaim überstellt. 10 ? Laut Mündelakt wurde das St. Josefsheim in Frischau bei Znaim 1944 aufgelassen. Da die Kindesmutter Elfriede nicht in häusliche Pflege übernehmen wollte, wurde das Mädchen im Mai 1945 in die Heilanstalt Cugging verlegt. 108
Das Wiener Städtische Altersheim Wien Währing Am 23. Juli 1875 wurde in Wien Währing das „Haus der Barmherzigkeit" eröffnet. Die Institution, geleitet von den Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul, war auf „die Aufnahme und Verpflegung der armen schwerkranken Unheilbaren" ausgerichtet. Im Juni 1938 ordnete die Stillhaltekommission zunächst an, dass die Arbeit im Haus der Barmherzigkeit fortgesetzt werden könne. „Dennoch kommt es 1939 zur Auflösung und zwangsweisen Überführung in das öffentliche Eigentum der Stadt Wien. Denunziationen und Schikanen aller Art machen den Schwestern und Geistlichen das Leben schwer. [...] Das Haus wird zu einem Altersheim [Wiener Städtisches Altersheim Währing in Wien 18, Josef Hackelg.70; Anm.d. Verf.] umgewidmet. Ein Großteil von Unheilbaren, Epileptikern und behinderten Kindern wird in die damalige Irrenanstalt Steinhof abtransportiert. Viele von ihnen sterben bereits nach einigen Tagen."109
103 M A 1 1 P, 101583. Dieser Bericht ist mit „Dir. Reisinger" gezeichnet. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Person um Frau Direktor Reisinger vom „Spezialkinderheim Pressbaum". 104 Diese Tatsachen legen die Vermutungen nahe, dass die beiden Heime („Spezial-Kinderheim Schloß Süssenbrunn" und „Spezialkinderheim Pressbaum") unter einheitlicher Leitung standen, dass es sich um das gleiche Heim handelte oder dass die Institution nach Pressbaum übersiedelte. 105 V g l . M A n P, 101583. 106 Die entsprechende Krankengeschichte lag der Verfasserin nicht vor. 107 Vgl. KÜSt, 1931. 108 V g l . M A n P, 101583. 109 http://www.hdb-wien.at/c_wir_vinz_geschichte.htm (Download 15.04.2003).
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Unter den an den „Spiegelgrund" überstellten Kindern des Ceburtenjahrganges 1931 der KÜSt waren auch zwei, die im Mai bzw. August 1944 aus diesem Altersheim überstellt wurden:
Fallbeispiel Marie B.
Die Kinderkarteikarte der KÜSt gibt bei Marie B.„Erhaltungsunvermögen" als Überstellungsgrund in Gemeindepflege an.™ Im Fürsorgeakt wird der Zustand von Marie B. in einem Führungsbericht des Hauses der Barmherzigkeit folgendermaßen beschrieben:„Pflegling leidet an spastischer Paraplegie u. an Imbezillität. Körperl. Befinden unverändert. Die Sprachstörungen jedoch deutlich gebessert, was auf eine gewisse Entwicklung der geistigen Fähigkeiten deutet."' 11 Marie B. starb kurz vor Ende der NS-Ära a m 24. Februarig45 in der „Nervenklinik für Kinder". 112
Fallbeispiel Karl E.
Als Gründe für eine Fremdunterbringungvon Karl E. wurden auf der Kinderkarteikarte der KÜSt „Körperliche Gebrechen, Lähmung" angegeben. Karl E. war ab Januar 1 9 4 0 im Haus der Barmherzigkeit untergebracht. 11 * Der Junge wurde a m 17. Mai 1944 vom Städtischen Altersheim Währing/Totzenbach' 1 ' 1 in die „Wiener Städtische Nervenklinik für Kinder" (Pavillon 15/Krankenabteilung) eingewiesen. Er gab dort a m 19. Mai 1944 an:
„Er sei seit d. Geburt gelähmt, habe nie laufen können. Im orthop. Spital in der Gassergasse sei er von Prof. Spitag [unleserlich] behandelt worden; die Beine seien gestreckt worden, auch elektrisiert habe man ihn. Er habe auch im Gips gelegen. [...] Zu Hause sei es ihm gut gegangen. Die Stiefmutter u.auch der Vater seien gut zu ihm gewesen, doch habe man ihn fortgeben
110 Vgl. KÜSt, 1931. 111 MA11 P,51616, Datum des Berichts unleserlich. 112 Vgl. KÜSt, 1931. Ein Einblick in die Krankengeschichte war nicht möglich. 113 Vgl. KÜSt, 1931. 114 Dr. Erwin Jekelius schreibt im Juli 1941 an das Anstaltenamt:„Ihr Auftrag, Pfleglinge der Filiale Totzenbach des Altersheimes Währing und der Erziehungsanstalt Biedermannsdorf physisch und psychisch zu untersuchen, gelang am 4. ds. in meine Hände. Hiezu möchte ich bemerken, daß [...] gemäß meinem Auftrage die Sonderanstalten für psychisch abwegige Kinder und Jugendliche zu besuchen und die Pfleglinge dort zu begutachten, eine ganze Reihe von Untersuchungen durch mich stattgefunden haben. So wurde auch von mir die Anstalt Biedermannsdorf mehrere Male aufgesucht und die nicht dorthin gehörenden Kinder und Jugendlichen zur Verlegung in die für sie zuständigen Sonderanstalten beantragt [...]. Montag den 14. ds. beabsichtige ich nach Totzendorf hinauszufahren, um mit Hilfe meiner Mitarbeiterin Dr. Hübsch die dortigen Kranken zu begutachten. Nach Abschluss der Untersuchungen werde ich ausführlich berichten und eventl. Versetzungsanträge vorlegen. Montag, den 21. ds. ist die Begutachtung von Zöglingen in Eggenburg geplant." (DÖW 20.486/4)
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3. Institutionen der NS-Fürsorge
müssen, da er immer so zornig u. eigensinnig gewesen sei. Mit 7 Jahren kam er ins Altersheim Währing, wo er 4 Jahre lang blieb. Bei der Auflösung des Heimes vor 1 Jahr hätte er schon auf den Spiegelgrund kommen sollen, doch hätten ihn die Schwestern dann doch nach Totzenbach mitgenommen. Noch während seines Aufenthaltes in Währing seien ihm die Wunden aufgebrochen. Der Doktor habe gesagt, er habe Rheumatismus und Tuberkulose und es ließe sich mit ihm nichts mehr machen. Lunge habe er eine gute. Im Heim hätten die Schwestern Unterricht erteilt. Er könne lesen und rechnen.""5
Dr. Ernst Illing unterschrieb a m i.Juli 1944 die gutachtliche Ä u ß e r u n g über Karl. E. (siehe Abbild u n g 6). A m 3. August 1944 erging an den Kindesvater die M e l d u n g , „ d a ß der G e s a m t z u s t a n d leider jetzt als ausgesprochen ernst zu bezeichnen ist" (schwere Tuberkulose mit Nierenbeteilig u n g und Schwellung der Füße). Karl starb a m 8. August 1944. Als Todesursache wurden „Knochen- und Gelenkstuberkulose",„Nieren-Tbc?" und „Kreislaufschwäche" angegeben. 1 ' 6
Der Geburtenjahrgang 1931 im Pavillon 17 „Am Steinhof" und in der Erwachsenenpsychiatrie Im Pavillon 17, der aus einer Station für „Bildungsunfähige (17/B.U.)", einer „Krankenabteilung (17/Krk.Abtg.)" und e i n e m Kindergarten bestand, waren die so g e n a n n t e n „leichteren Fälle" untergebracht. Viele der überlebenden Kinder wurden in Pavillon 17 aufgenommen. 1 ' 7 Nach Dr. Illing wurden dort „charakterlich schwierige, verwahrloste Kinder" a u f g e n o m m e n , „die zur Beobachtung a u f ihre Erziehbarkeit da waren". In weiterer Folge sollten Vorschläge für die weitere Unterbringung angeboten werden." 8 Aus d e m G e b u r t e n j a h r g a n g 1931 der KÜSt w a r e n z u m i n d e s t zehn Kinder"' (neun Jungen und ein Mädchen) vorübergehend in Pavillon 17 untergebracht. Fallbeispiel Johann T. Johann T., geboren a m 15. Februar 1931, w u r d e a m 28. August 1941 von der Erziehungsanstalt Biedermannsdorf in die „Heilpädagogische Klinik der Stadt W i e n , A m Spiegelgrund' Säuglings-
115 116 117 118
KGA, Krankengeschichte Karl E. Ebd. Dahl, Endstation Spiegelgrund, S. 68 f. Vgl. Malina, P., Im Fangnetz der NS-„Erziehung". Kinder- und Jugend-,.Fürsorge" auf dem „Spiegelgrund" 1940-1945. In: Gabriel, E. und Neugebauer, W. (Hg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-EuthanasieTeil II. Wien 2002,5.84. 119 Diese Zahl ergibt sich aus der Anzahl der im KGA aufgefundenen Krankengeschichten des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt.
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und Kleinkindabteilung" (Pavillon 17/P) eingewiesen. Das am 26. November 1938 verfasste Gutachten der Heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik (verfasst von Dr.Asperger) beschreibt Johann als „erethischen, debilen Buben, der keine Gefahr erkennt und noch nicht in ganzen Sätzen spricht und in seiner unruhigen Getriebenheit ohne dauernde Beaufsichtigung sich selbst und seine Umgebung gefährdet. Im Falle eine Anstaltsunterbringung aus fürsorgerischen Gründen nötig erscheint, empfehlen wir Biedermannsdorf oder eine ähnliche Anstalt."120 A m 19. April 1939 unterzeichnete die Fürsorgerin Linz folgende Eintragung im Mündelakt: „Über wiederholte Vorsprachen der Km [Kindesmutter] nach Ansuchen um Anstaltsunterbringung, Schulbericht abverlangt. Mj. kam im September 37 das ix zur Schule, wurde wegen geistiger Minderwertigkeit im Dez. 1937 auf ein Jahr zurückgestellt. Mit Beginn d. Schuljahres 38/39 abermals in der 1. Kl. aufgenommen, die er nun regelmäßig besucht. Unterrichterfolg gleich Null, Schüler gänzlich abnormal, kann in der Schule zuwenig beschäftigt werden, stört [...] den Unterricht. Auch über sein Benehmen auf dem Schulwege fortwährende Klagen. Anstaltsunterbringung notwendig."121 Vom selben Tag datiert auch die Aufzeichnung über einen Hausbesuch: „Familie klagt über schlechte Führung, wird mit dem Jungen nicht mehr fertig, in die Erz.Beratung bestellt." 122 In seinem ebenfalls am 19. April gezeichneten Erziehungsberatungsgutachten über Johann T. stellt Dr. Baar folgende Diagnose:„Eretische Debilität, führt in der Schule zu großen Lern- und disziplinären Schwierigkeiten. Die häuslichen erziehlichen Verhältnisse sind ausserdem unzulänglich, sodass es notwendig ist, die Überstellung des Minderjährigen in die Anstalt StefanieStiftung in Biedermannsdorf zu beantragen." 1 ^ (siehe Abbildung?). Johann T. wurde am 14. August 1939 mit dem Überstellungsgrund „Mj. schwachsinnig" über die KÜSt in die Stefaniestiftung Biedermannsdorf eingewiesen. 124 Am 11. D e z e m b e n 9 3 9 unterschrieb der Direktor der „Bildungsanstalt der Stadt Wien Biedermannsdorf" einen Führungsbericht überJohannT.: Er besuche
120 121 122 123 124
KGA, Krankengeschichte Johann! MA11 P, 11387. Ebd. Ebd. Vgl. KÜSt, 1931.
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„seit 18. August die Vorschule der Anstaltsschule. Der Junge ist sehr ruhig, beteiligt sich spontan wenigam Unterricht,doch herangezogen kann erteilweise mitarbeiten. Seine Sprache besteht in abgerissenen Wörtern. [...] Bei den Beschäftigungen und bei den graphischen Übungen bemüht er sich recht, doch zeigt er sich etwas schwach. [...] Auffassungsmängel, große Gedächtnisschwäche lassen nur bescheidene Fortschritte erwarten."12! Die im Mündelakt eingeordnete „Abschrift der KÜSt" legt die Vermutung nahe,dass Dr.Jekelius eine Überstellung in die „Abteilung für bildungsunfähige Kinder" beantragte (siehe Abbildung 8). Johann wurde in weiterer Folge laut KÜSt-Kartei am 26. August 1941 in die „Jugendfürsorgeanstalt ,Am Spiegelgrund'" transferiert. Aus seiner Krankengeschichte geht hervor, dass er am 28. August 1941 in Pavillon 17 eingewiesen wurde. Aus dieser Zeit stammt das abgebildete ärztliche Cutachten über Johann T126 (siehe Abbildungen 9 und 10). A m 19. Mai 1942 wurde Johann T. in die Heil- und Pflegeanstalt Gugging verlegt, 127 eine der Heil- und Pflegeanstalt Cugging-Kierling angegliederte Pflege- und Beschäftigungsanstalt für Kinder' 28 mit 250 verfügbaren Betten unter der Leitung von Dr. Schicker. 129 Im Juli 1942 wollte die Großmutter mütterlicherseits den Jungen in Eigenpflege nehmen. Die Bezirkshauptmannschaft bat um Bekanntgabe, für welche Klasse der Hilfsschule Johann geeignet wäre. 130 Von der Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Gugging wurde im Januar 1943 ein Führungsbericht verfasst, in dem es hieß:
„Der mj. Pflegling [...] wurde in der Heilpädagogischen Klinik der Stadt Wien ,Am Spiegelgrund' sowie in unserer Anstalt als anerethischer, bildungsunfähiger Schwachsinn geführt, welche Annahme durch die bisherigen Beobachtungen und die negativen Lernerfolge des Kindes als gerechtfertigt erscheint. Nach unserer Ansicht ist daher der Pflegling für eine Hilfsschule nicht geeignet."131
125 M A 1 1 P, 11387. 126 KGA,Johann T. 127 Vgl. KÜSt, 1931. 128 Die „Landes-Pflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige und epileptische Kinder in G u g ging" wurde a m 18. August 1896 eröffnet, vgl. Hilscher, Geschichte, S. 170.1917 wird der Zweck der A n stalt wie folgt beschrieben:„Die Landes-Pflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Gugging, die sich in eine Beschäftigungs- und Pflegeabteilung gliedert, ist bestimmt, nach Niederösterreich zuständige, schwachsinnige, idiotische und epileptische Kinder beiderlei Geschlechts ohne Unterschied der Religion in ihrer Beschäftigungsabteilung möglichst zur Erwerbsfähigkeit heranzubilden, nicht bildungsfähigen dergleichen Kinder aber in der Pflegeabteilung angemessene Pflege zuteil werden lassen"; Landesausschuß (Hg.), Die Fürsorge-Einrichtungen der niederösterreichischen Landesverwaltung, S. 195. 129 Vgl. Lautsch/Dornedder (Hg.),Verzeichnis, S. 90. 130 Vgl. MA 11 P, 11387. 131 Ebd.
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J o h a n n ! wurde a m i. März 1944 in die Heil- und Pflegeanstalt Wagner Jauregg überstellt, wo er bis 19. April 1944 untergebracht war.1*2 Sein Fall zeigt eindrücklich, wie sich die Geschichte von Fürsorgezöglingen aus der NS-Zeit nach 1945 fortsetzte: In einem Schreiben an das Fürsorgeamt mit dem Betreff „Aufnahme des ha. Mündels HansT. [...] in ein Versorgungsheim der G e m e i n d e Wien" heißt es a m 2. Juli 1951:
„Am 20.4.1944 wurde er wieder von seinen Verwandten [Großmutter; Anm.d.Verf.] in Pflege genommen. Er ist ein körperlich gut entwickelter Bursche, der seit Okt. 1946 mit größeren Unterbrechungen an verschiedenen Arbeitsplätzen als Hilfearbeiter untergebracht war. Es zeigte sich, daß der gutmütige Bursche einfache, wenn auch körperlich anstrengende Arbeiten ordentlich durchführte, solange er schlechten Einflüssen von Arbeitskameraden fern war. Dann blieb er der Arbeit ferne, und ließ sich von den Kameraden den Wochenlohn abnehmen (Geld kennt er überhaupt nicht). Außerdem findet er nicht den Weg zur Arbeitsstelle, wenn sie außerhalb der Wohngemeinde liegt. Prügel muß er ständig, für andere, die seine Beschränktheit ausnützen, einstecken. Da die geistig primitive KM keinerlei Einfluß auf den Mj. hat, der Großvater bettlägerig ist und die Großmutter mit Rücksicht auf ihr Alter der Überwachung des Mj. nicht gewachsen ist, wird der Antrag auf Unterbringung des Mj. in ein Versorgungsheim der Gemeinde Wien befürwortet." 133
Sechs Kinder des Geburtenjahrganges 1931 der KÜSt wurden im untersuchten Zeitraum in die Erwachsenenpsychiatrie 1 3 4 eingewiesen. Aus welchen Gründen Kinder (vermutlich so genannte „Verwahrungsfälle") dorthin überstellt wurden, bleibt offen.
Fallbeispiel Waltraude A. A u f der Kinderkarteikarte von Waltraude A., geboren a m 13. September 1931, wurden als Überstellungsgründe „Km debil, Erh Unv" angegeben. Das Mädchen wurde a m 1. April 1939 in G u g ging untergebracht. Im Befund des Anstaltsarztes (Dr. Knauer) vom 3. April 1939 wird der Zustand des Mädchens folgendermaßen beschrieben:
„Das Kind ist erethisch schwachsinnig in mittlerem Grade, sie ist äußerst unruhig und unstet, völlig zerstreut u. zerfahren im Gedankenablauf und ihrem ganzen Handeln, dabei äusserst 132 Ebd. 133 Ebd. 134 In den Überstellungsmaßnahmen der KÜSt standen folgende Bezeichnungen für eine Einweisung in die Erwachsenenpsychiatrie:„Am Steinhof",„Baumgartner Höhe",„Heil- und Pflegeanstalt ,Am Steinhof", „Wagner Jauregg".
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geltungsbedürftig und starrköpfig, sie ist aus diesen Gründen völlig bildungsunfähig u. bedarf der ständigen Aufsicht und Pflege. Sie ist körperlich gesund."'35
Waltraude A. w u r d e laut der Eintragung a u f ihrer Kinderkarteikarte der KÜSt a m 10. Februar 1944 in die Anstalt „Wagner Jauregg" überstellt. 136
Fallbeispiel Leopoldine P. Dass auch Befunde der „Nervenklinik für Kinder" für eine Einweisung in die Erwachsenenpsychiatrie maßgebend waren, zeigt das von Dr. M a r i a n n e Türk a m 16. März 1945 gezeichnete C u t achten über Leopoldine P.
„Leopoldine P., geb. am 1.3.1931, befand sich vom 6.5.43 bis 27.7.1943 in der hiesigen Klinik. Sie leidet an angeborenem Schwachsinn höheren Grades (untere Grenze der Imbezillität) und ist in bescheidenem Maße arbeitsverwendungsfähig. Da sie in letzter Zeit an immer häufig werdenden Erregungszuständen leidet und sogar schon mit dem Messeraufdie 72 jährige Stiefmutter losgegangen ist, kann sie, da sie eine Gefahr für ihre Umgebung bedeutet, nicht mehr daheim belassen werden. Sie eignet sich zur Unterbringung in der Wagner v.Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt." 137
135 KÜSt,1931 Stapel A-B. 136 Vgl.ebd. 137 KGA, Leopoldine P.
Die Auswertung der Kinderkarteikarten des Geburtenjahrganges 1938 der Wiener Kinderübernahmestelle Vera Jandrisits
Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse einer Analyse der Daten aller Kinder des Jahrgangs 1938, die an die KÜSt überstellt wurden und bei denen es zwischen März 1938 und Mai 1945 zu Fremdunterbringung kam, vorgestellt. Insgesamt wurden für diese Untersuchung die Daten von 1034 Kinderkarteikarten in eine Datenbank a u f g e n o m m e n . Die Auswertung dieser Daten sollte einerseits Aufschluss geben über die sozialen, ethnischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der überstellten Kinder und deren Familien. Andererseits sollte anhand der Daten dargestellt werden, aus welchen Überweisungsgründen Kinder überstellt und welche M a ß n a h m e n gesetzt wurden, d. h. in welche Heime oder Pflegeunterkünfte die Kinder eingewiesen wurden.
Allgemeine Auswertung Von den 1034 überstellten Kindern waren 548 (53,64 % ) Jungen und 4 8 0 (46,36 % ) Mädchen. 1 Insgesamt 974 der 1034 an die KÜSt überstellten Kinder wurden im Gebiet des heutigen Österreichs geboren. Allein a u s W i e n und Niederösterreich s t a m m t e n 9 0 % der Kinder. 2 Die Anzahl ehelich geborener Kinder überwiegt, die Anzahl unehelich geborener Kinder ist jedoch mit 39,2 % bemerkenswert hoch. 3 Ein großer Teil der Eltern g i n g einer Arbeit als Hilfskraft nach. Die hohe A n z a h l der nicht z u o r d e n b a r e n Fälle bei den M ü t t e r n ergibt sich daraus, d a s s bei i h n e n oft keine Eintragung z u m Berufsstand vorlag. 4 7 0 % der an die KÜSt überstellten Kinder hatten eines oder m e h r Geschwister. Der ü b e r w i e g e n d e Teil der G e s c h w i s t e r - 1 0 0 1 von i n s g e s a m t 1853 G e s c h w i s t e r n - lebte nicht bei den Kindseltern oder V e r w a n d t e n : 685 w a r e n in Pflegefamilien, 322 in der K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e u n d 9 4 in unterschiedlichen Kinderhei-
1 2 3 4
Bei sechs Kindern konnte aufgrund des fehlenden Vornamens nicht festgestellt werden, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Vgl.Tabelle 26. Vgl.Tabelle 27. Vgl.Tabelle 30.
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men untergebracht.* Der überwiegende Teil der Kinder wurde von den zuständigen Bezirksjugendämtern (64,5 % ) und den Frauenkliniken 1 und 2 (19,5 % ) an die Kinderübernahmestelle überwiesen. 6 Am häufigsten wurden die Überstellungsgründe „Obdachlosigkeit" und „Mittellosigkeit" eingetragen. 263 Kinder wurden an die KÜSt überstellt, weil ihre Mütter in ein Krankenhaus oder eine Heilanstalt eingewiesen wurden. Besonders häufig wurden die Überstellungsgründe„Verwahrlosungsgefahr",„Gefährdung" und „Aufsichtsmangel" angegeben. Insgesamt 49 Kinder wurden an die KÜSt überstellt, da die Eltern für die Erziehung ihrer Kinder - laut Kinderkarteikarte - nicht geeignet waren. 29 Mal wurde eine „Behinderung" des Kindes als Überstellungsgrund genannt und 27 Mal war„5chwererziehbarkeit" der Anlass für eine Überstellung. Bei vielen Kindern findet sich mehr als ein Überstellungsgrund. Sehr häufig (230 Mal) wurde z. B. der Überstellungsgrund „Mittellosigkeit" in Kombination mit dem Überstellungsgrund „Obdachlosigkeit" verwendet. 7 Darüber hinaus hatten Kinder, die mehr als einmal an die KÜSt überstellt worden sind, nicht jedes Mal ein und denselben Überstellungsgrund. Franz P., geb. 28. Januar 1938, wurde beispielsweise das erste Mal aufgrund von „Obdachlosigkeit" und „Kindseltern gerade geschieden" überstellt (März 1938), beim zweiten Mal lautete der Überstellungsgrund „Schwererziehbarkeit" (November 1940) und beim dritten Mal „Geistige Minderwertigkeit" (November 1944). 8 Bei 201 Kindern kam es zu Gerichtsverhandlungen, bei 190 wurde ein Ausfolgeverbot 9 erlassen. Die jeweiligen Bezirksjugendämter übernahmen 333 Mal die Vormundschaft eines Kindes. Insgesamt wurde 347 Eltern die Vormundschaft entzogen. 10 Die überwiegende Anzahl der Kinder gehörte der römisch-katholischen Kirche an.11 Zwei als „Giltjude", ein a l s j ü d i n " und ein als „Jüdin ersten Grades" deklarierte Kinder waren laut Kinderkarteikarte röm.-kath. getauft. 12 Unter den 56 Kindern ohne Eintrag bei der Religionszugehörigkeit waren zwei „Zigeuner", eine „Jüdin 2. Grades, glaubenslos" 13 und ein „Mischling 1. Grades". 14 Bei 15 Kindern war„gottgläubig" als Religionszugehörigkeit eingetragen. Als „gottgläubig" durften sich nur„Arier" bezeichnen,„überzeugte antiklerikale Nazis, wichtige Kader des Regimes".15
5
Vgl.Tabellen 2 8 , 2 9 .
6
Vgl.Tabelle 31.
7
Vgl. KÜSt, i 9 3 8 ; v g l . T a b e l l e 3 2 .
8
Vgl. KÜSt, 1 9 3 8 Franz P.
9
D a s Ausfolgeverbot w u r d e g e g e n die Kindseltern bzw. Kindsvater oder Kindsmutter, „alle" oder „jederm a n n " erlassen.
10
Vgl. KÜSt, 1938.
n
Vgl.Tabelle 33.
12
Vgl. KÜSt, 1938.
13
KÜSt, 1 9 3 8 Josefine K.
14
KÜSt, 1 9 3 8 Josef R.
15
Pehle, W. (Hg.), Lexikon des d e u t s c h e n W i d e r s t a n d e s . Überarbeitete N e u a u s g a b e . Frankfurt a. M. 2 0 0 0 , S.33.
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237
Überstellungsmaßnahmen Die häufigsten Überstellungsmaßnahmen' 6 des Ceburtenjahrganges 1938 waren die Rückkehr in die Ursprungsfamilie und die Überstellung in die KÜSt. An nächster Stelle folgte die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien (568 Kinder wurden in Pflegefamilien untergebracht) und im Zentralkinderheim. Die Maßnahme „Am Spiegelgrund" steht bei insgesamt 49 überstellten Kindern an sechster Stelle der Überstellungen. Von den insgesamt 1034 aufgenommenen Kindern wurden 508 als Erstmaßnahme in die KÜSt transferiert. Bei 372 Kindern erfolgte eine Einweisung in das Zentralkinderheim als Erstmaßnahme. Die hohe Anzahl der aufgenommenen Kinder im Zentralkinderheim lässt sich dadurch erklären, dass vor allem obdachlose, mittellose Mütter ihre Kinder entweder im Zentralkinderheim 1 ? geboren haben oder kurz nach der Geburt mit ihren Kindern im Zentralkinderheim aufgenommen wurden. 18 Bei 450 Kindern kam es auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu Überstellungen überdie Kinderübernahmesteile.
Ethnische Minderheiten Insgesamt gehörten laut Eintragungen in den Kinderkarteikarten 28 Kinder einer ethnischen Minderheit an. Für die als „Volljuden" gekennzeichneten neun Kinder war nach den „Nürnberger Rassegesetzen" im Grunde die israelitische Kultusgemeinde zuständig, da diese Kinder wie die erwachsenen Fürsorgeempfänger„aus der Zuständigkeit der Gemeinde Wien ausgeschlossen" wurden.' 9 Warum sie trotzdem von der KÜSt übernommen wurden, obwohl die „Nürnberger Rassegesetze" zum Zeitpunkt der Überweisungen auch in Österreich bereits Geltung hatten, bleibt ungeklärt. Bei den „Mischlingen 1. und 2. Grades" war keine Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe verzeichnet. Die Nachnamen der meisten dieser Kinder lassen jedoch eine jüdische Zugehörigkeit vermuten. 20 Die häufigsten Überstellungsgründe bei „rassisch minderwertigen" Kindern waren „Mittellosigkeit" und „Obdachlosigkeit". In keiner dieser 28 Karteikarten wurde die Religionszugehörigkeit bzw. die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit als Überstellungsgrund genannt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern zu diesem Zeitpunkt bereits deportiert worden waren,
16
Insgesamt wurden 57 unterschiedliche M a ß n a h m e n bei den Kindern des Geburtenjahrganges 1938 gesetzt; vgl.Tabelle 34.
17
Das Zentralkinderheim nannte sich auch „Fürsorgeanstalt für Mutter und Kind", vgl. KÜSt, 1938.
18
Vgl. KÜSt, 1938.
19
Czech, Selektion und Kontrolle,S.180.
20 Vgl. KÜSt, 1938.
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ist aufgrund der hohen Anzahl von Nennungen des Überstellungsgrundes„Kindseltern in Haft" (sechsmal) hoch. Jeweils elf Kinder wurden als Erstmaßnahme in die KÜSt und das Zentralkinderheim überstellt. „Rassenfremde" Kinder und „Mischlinge" wurden bevorzugt im „Mischlingsheim" Wien n, Molitorgasse 13,„Mischlingsheim" Wien 16, Rückertgasse 5 - 7 und im Heim Wien 20, Wexstraße22a untergebracht. Vier „volljüdische" Kinder wurden in dasjüdische Kinderheim, Untere Augartenstraße 35, überstellt. Zwei Kinder, die in der Unteren Augartenstraße 35 untergebracht waren, kamen nach der Deportation in ein KZ ums Leben.21
Kinder mit Behinderungen Insgesamt wurden 39 Kinder als behindert eingestuft, 22 bei 28 Kindern war die Behinderung einer der Überstellungsgründe. 18 Kinder hatten nur den Überstellungsgrund „Behinderung", bei zwei Kindern kam „Heimwechsel" hinzu. Ein Kind hatte insgesamt fünf Überstellungsgründe: Neben „Behinderung" waren noch die Überstellungsgründe„Gefährdung",„Erziehungsunfähigkeit", „Pflegebedürftigkeit" und „Lieblosigkeit der Kindseltern" eingetragen.^ Die elf Kinder, bei denen die Behinderung nicht der Überstellungsgrund war, wurden aufgrund von z. B.„Obdachlosigkeit" (viermal),„Mittellosigkeit" (fünfmal),„Gefährdung" (dreimal),„Aufsichtsmangel", „Arbeitslosigkeit" oder „gerichtliche Abnahme" überstellt. Es stellt sich die Frage, ob die Behinderung bei diesen elf Kindern 24 zum Zeitpunkt der Überstellung noch nicht ersichtlich war. Da es sich bei den überstellten Kindern um Säuglinge und Kleinkinder gehandelt hat, könnte es sein, dass vor allem geistig behinderte Kinder bei der Überstellung noch nicht aufgefallen waren. Die KÜSt ist nur bei neun Kindern die Erstmaßnahme, bei vier Kindern war das erste Heim das Zentralkinderheim. Die anderen 35 Kinder wurden als Erstmaßnahme sofort in andere Heime überstellt: Sieben Kinder kamen als Erstmaßnahme an den „Spiegelgrund", fünf Kinder in das Spezialkinderheim Pressbaum und drei Kinder in das Taubstummeninstitut Wien 13, Speisingerstraße 105. Auffällig ist, dass bei Kindern mit einer Behinderung nach der KÜSt die häufigste Maßnahme der „Spiegelgrund" (16) war. Außer auf dem „Spiegelgrund" wurde ein großerTeil der behinderten Kinder in den für sie vorgesehenen Heimen (Spezialkinderheim Pressbaum, St. Josefsheim, Frischau bei Znaim,Taubstummeninstitut Wien 13, Speisingerstraße
21
Vgl.Tabellen35,36,37.
22 Vgl.Tabelle 38. 23
Vgl. KÜSt, 1938 Elfriede M.
24 Gemeint sind jene Kinder, bei denen die Behinderung nicht der Überstellungsgrund war.
Vera Jandrisits
239
105, Kinderheim Wien 11, Molitorgasse 13, Kinderheim Biedermannsdorf und BlindenerziehungsinstitutWien 2,Wittelsbacherstraße 5) untergebracht.25 Von den 1034 in die Datei aufgenommenen Kindern des Geburtenjahrganges 1938 starben 43 in den Jahren zwischen 1938 und 1949. Von den 43 verstorbenen Kindern waren i5 26 behindert, d.h. 34,88 % der verstorbenen Kinder waren behindert. Die Anzahl der behinderten Kinder, die ums Leben gekommen sind, ist sehr hoch im Vergleich zur Cesamterhebung - macht doch die Gruppe der Kinder mit einer Behinderung insgesamt lediglich 3,7 % aus. Auffällig oft (vierzehnmal) ist kein Todesort eingetragen. 2 ? Der „Spiegelgrund" ist der am häufigsten genannte Todesort. Zumindest acht Kinder sind dort verstorben. Zählt man die drei Kinder hinzu, deren letzter Aufenthaltsort der „Spiegelgrund" war, bei denen jedoch kein Todesort verzeichnet ist, so erhöht sich die Zahl der auf dem „Spiegelgrund" verstorbenen Kinder auf elf. Bei zwei verstorbenen Kindern, eines kam im Karolinen Kinderspital,das andere im Mauthner-Markhof Kinderspital ums Leben, gibt es keinerlei Einträge zu Überstellungsmaßnahmen. Der Überstellungsgrund war bei beiden Kindern eine Behinderung („Little'sche Krankheit" und „Kind debil u. blind"). Ein Kind, Guido S., war von der „Fürsorgeerziehungsanstalt am Spiegelgrund" am 17. Juni 1942 in das Mauthner-Markhof Kinderspital eingewiesen worden, wo er am 19. Juni 1942 starb.28 Hedwig S. starb am 19. September 1938 im Karolinen Kinderspital. In ihrer Karteikarte sind bis auf ihren Namen, das Geburtsdatum, das Todesdatum und den Todesort keine weiteren Einträge verzeichnet.29 Bei 25 der insgesamt 43 verstorbenen Kinder ist keine Todesursache eingetragen, acht Kinder sind den Angaben auf der Karteikarte zufolge an Lungenentzündung gestorben.*0 Bei keinem der auf dem „Spiegelgrund" umgekommenen Kinder ist eine Todesursache in der Karteikarte verzeichnet. Bei den Todesjahren fallen die Jahre 1939,1941 und 1942 auf: Während im Jahng40 kein Kind verstorben ist, kamen in den Jahren 1939,1941 und 1942 insgesamt 29 Kinder ums Lebend
25
Vgl.Tabelle 39.
26
38,46 % der behinderten Kinder starben. D a g e g e n k a m e n „nur" 2,8 % der nicht behinderten Kinder u m s
27
Vgl.Tabelle 4 0 .
Leben. 28
Vgl. KÜSt, 1 9 3 8 G u i d o S .
29
Vgl.KÜSt, 1 9 3 8 H e d w i g s .
30
Vgl.Tabelle 41.
31
Vgl.Tabelle 42.
240
3. Institutionen der NS-Fürsorge
Ärztliche Untersuchungen In den Kinderkarteikarten waren 62 Mal die Befunde ärztlicher Untersuchungen vermerkt, 52 Mal hatte Frau Dr. Knauer 32 die Diagnose unterschrieben. Einige Kinder waren zum Zeitpunkt der Untersuchung in Heimen oder Pflegefamilien im heutigen Burgenland untergebracht. Fraglich ist, ob die Kinder für diese Untersuchungen in die KÜSt gebracht worden sind oder ob Frau Dr. Knauer als eine Art „fahrende Ärztin" direkt in den Heimen Untersuchungen durchführte. Hier seien beispielhaft zwei Diagnosen von Kindern angeführt, die im Spezialkinderheim Pressbaum untergebracht waren: „Mongoloid, angeboren" und beim zweiten Kind „Blind, epileptische Anfälle, Mikrozepha lies, Anämie. Geistig sehr zurück".« Ein Kind war zum Zeitpunkt der Untersuchung im Kinderheim Wien 18, Pötzleinsdorferstraße 46, ein anderes Kind im NSV-Heim Wien 13, Freyenturmgasse und ein weiteres Kind im Kinderheim Wien 20, Wexstraße 22a untergebracht. Die Untersuchungsbefunde von Kindern, die in Pflegefamilien lebten und von Cemeindeärzten an die KÜSt geschickt wurden, wurden von Dr. Knauer mittels Unterschrift bestätigt. Aus den Kinderkarteikarten wird ersichtlich, dass eine Diagnose von Dr. Knauer einige Male der Überweisung „Am Spiegelgrund" voranging.
Soziale Daten Von den 1034 Kindern des Ceburtenjahrganges 1938 waren 568 Kinder zumindest vorübergehend in Familienpflege untergebracht, die Überstellungsmaßnahme „Pflegefamilie" wurde insgesamt 676 Mal verfügt. Unter diesen 568 Kindern befanden sich 287 Jungen und 281 Mädchen. 3 " Die Anzahl der unehelich geborenen Kinder lag bei 271 und betrug fast die Hälfte (47,71 % ) der in Familienpflege untergebrachten Kinder. Als Halbwaisen 35 galten 166 Kinder, 16 Kinder hatten beide Elternteile verloren. Ein Ausfolgeverbot an die Kindesmutter, den Kindesvater, die Kindseltern bzw. „an alle" und „jedermann" wurde bei 146 Kindern verhängt. 407 der 568 Kinder hatten Geschwister; drei der in Familienpflege genommenen Kinder hatten 10 Geschwister. Die Geschwister waren zum Teil in Pflegefamilien und bei Verwandten untergebracht oder aber auch in Erziehungsheimen 36 und den Ursprungsfamilien. Bei den Überstellungsgründen überwogen Obdachlosigkeit (212) und Mittellosigkeit (207). Häufige
32
Frau Dr. Knauer war Ärztin in der Kinderübernahmestelle, vgl. Handbuch des Reichsgaues Wien. 63764. amtlich redigierterJahrgangi94i,Wien,S.48g.
33
Vgl. KÜSt, 1938 Richard D.; Elfriede H.
34 Vgl. KÜSt, 1938. 35
Bei 93 Halbwaisen war der Vater verstorben, bei 73 die Mutter.
36 Bei drei Geschwistern w a r d e r Aufenthaltsort „Spiegelgrund" verzeichnet.
Abb. i Die K i n d e r ü b e r n a h m e s t e l l e Quelle: Magistrat der Stadt W i e n (Hg.), Kinderübernahmestelle der G e m e i n d e W i e n im IX. Bezirk, Lustkandlgasse,Ayrenhoffgasse,Sobieskigasse. W i e n 1925.
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Abb. 3 Die Dr. Josef Hyrtl'sche L a n d e s - W a i s e n a n s t a l t in M ö d l i n g Quelle: L a n d e s a u s s c h u ß des Erzherzogtums Österreich unter der Enns (Hg.), Die Fürsorge-Einrichtungen der niederösterreichischen L a n d e s v e r w a l t u n g z u m Schutze des Kindes. A u s A n l a ß der T h r o n b e s t e i g u n g Seiner k a i s . u . k ö n . A p o s t o l i s c h e n Majestät Karl I.Wien 1917,5.125.
Abb. 4 Das Ludovikaheim in Meierhöfen Q u e l l e : O h n e Autor, M a r i a A n z b a c h . Eine W i e n e r w a l d g e m e i n d e i m W a n d e l der Zeiten. M a r i a A n z b a c h 1983.
Abb. 5 Das L a n d e s e r z i e h u n g s h e i m Schloss Eichhof Quelle: Czernin, M e l a n i e , L a n d e r z i e h u n g s h e i m für M ä d c h e n Schloss Eichhof. Faltblatt o. J„ o. 0 .
immrteaRtmUia fir Mer d
1
«i 1. J « " 1944.
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ituflsrung:
Bai 4s» aa 23. 6. 1931 geborenen Karl H B g" 17« 5- 44 aus den Altersheiarthringin die hiesig« Klinik überstellt ward», besteht ein wahrsohoinliah geburtstrauaartlsah erworbenes hlrn»rg«nlach«e Leiden alt leichter UlkrocephsJLie, H i n nervfnstBrvmgen und »chwer»n »p»»ti»ahen 'a.Hieg J i.iesiag jnutx in A r b i i v . f l i « artterl.OrosBaiutt«* f ' i h r t die S i r t s c h a f t . H5. Eaas ssifde c e r i i t s von der Leitung des Kindergartens I.iesiag ?i«g«E eeiim* Lä>bhs.ftigkeit,5iiehtanteiliiÄhme beim Sniel.bzw.BildungBuafähi ' '" " wegsn
Beginn
^chulj&hres.
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Volksschule is. Liesing aufgenommen.Lt.Scnulbencht dar Schulleitung vom l S . 4 . 1 5 3 5 i s t * U n t i r r i c h t s e r f o l g g l e i c h 8 u i l ; ü e r M i . i s t gtinsliish abnormal v e r a n l a g t and kann in keiner CSeiea dsm Unterricht« f o l g e n . Durch ¿inen Bichtfogen beim Unterrichte ist. der Schiller zu wenig bes c h ä f t i g t wid s t ö r t durch fortgesetztes DelEstic?er. trete wi,»aerholt«r energischer xmthnungen »«in« M.itechtfl«r,bildet neoit ein« direkt« Ge f a h r t a r den o*d«atlich«n Unterricht. Iii« ¡vinoesisiwtwjeia» g e i s t i g minderwertige ?rau ist. ¿er E r ai«hung d-is i'iadae in keiner vä^ise gewachsen;auch die Grossinutter fuhrt«"wiederholt Kl«.ge,dfcss sich die Sührun? des Minder;.jchrigim, {ftllzugrosc» Lebhaftigkeit,Unfolgsap)keit)in l e t z t e r Z e i t derer! v e r s c h l e c h t e r t /.aby, d&»6 ¿»des Krz iah unguis i t i . e l Mj.nu.rcl» «uu I S . 4 , 1 0 ^ 5 ner na.'Taiehungsber&tUBg v o r g e s t e l ' i t , d a e äutacfrtea l & a t e t " S t a t i s c h e i»«bili t s t , '"«ihr* in i r r Schale EU grossen Lern und d i a z i £ l i n ä r t n S c h w i e r i g K e i t e n j M e h; u&licJien erziehlichen V» h ä l t a i s s « siad ausserdwr «azulfcnglioh.ec f 5 notwendig i s t , d i e üfc I b e r s t e l i i a i g ¿es » i a d e r J ä h r i g e n in die A n s t a l t S t e f a n i e - i ' t i t t u u g in Siecerasnasdori' au beantragen« Antrag: Mit Hnek&Ioht auf die SchulBöhniprigi eS t»n und das Versag«n — a«;- imöslicb»» ärztehaze " t r i die Hierat«!!vatg des Kindes In
tiesy Abb. 7 Überstellungsbericht für Johann T. Quelle: KÜSt, 1931.
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graphi sehen . Übungen f ü r d i s a e S t u f e g u t e M i t a r b e i t . tfciest e i n Heraushören d e r Laute j r e l i n g t aeor' a a l t e » . n i c h t s i c h e r . Zahl b e g r i f f
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1. 2, g u t . 3 u n s i c h e r . Farben p o r t i a r a n ^gai^JKart t r o t a
v i e l e r Übung n i c h t f e h l e r l a s . Die., Sprache J y»3j»t; i ä ; . F l n s ^ c h ! a « f t J W i a " ^ g s j " g r a c h » k e i n e w e s e n t l i c h » » Sch&diggung a u f , doch-/ i a I n f i n i t i v e » . Der Junge mlt KuXoamea. Kervenfacharztlioh- ^ t a ^ h t l i c h . Subjektive
Angaben d e » P r o b e n d e » ! «amei B a k a l i i "
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J a h r e s z e i t e n ? Monate; ? : Z e i t a n g a b e : - T . p M e k t i v e r Bafnadi '¿unaanaSnfaaeungi. d.m^ a i f l s p j o l i i a n . hsnrt .11 i
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Abb. 8 KÜSt-Abschrift für Johann T. Quelle: KÜSt, 1931.
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Abb. 12 Sterbeurkunde von Elfriede M. Quelle: MA i i P, Elfriede M.
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Abb. 13 Fürsorgeprotokoll von Karoline C. Quelle: MA11 P.KarolineG.
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Die S u m m e von 54 Überweisungen ergibt sich dadurch, dass einige Kinder öfter als einmal an den „Spiegelgrund" überstellt wurden.
445
Vera Jandrisits/Tabellarische A u s w e r t u n g
Tabelle 55: M a ß n a h m e n vor der Überstellung an den „Spiegelgrund" bei Kindern des Geburtenjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt KÜSt
21
Direkt an den Spiegelgrund überwiesen
13
Heim XVIII, Pötzleinsdorferstraße 4 6
6
St. Josefsheim, Frischau bei Z n a i m
4
Spezialkinderheim Pressbaum 7 2
2
Kinderheim Wien 11, Molitorgasse 13
2
Nach einem Spitalsaufenthalt überstellt
2
Zentralkinderheim Wien 18, Bastiengasse 3 6 - 3 8
2
Kinderheim Wien 18, Josef Hackelgasse 72
1
Pflegefamilie
1
Kinderheim in Erlanghof bei Weitenegg
1
Tabelle 56: Behinderungen der an den „Spiegelgrund" überstellten Kinder des Geburtenjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt Schwachsinn
3
Debilität
3
M o n g o l o i d e Idiotie
2
Kind geisteskrank/geistige Minderwertigkeit
2
Blind, epileptische Anfälle, Mikrozephalie, Anämie, geistig sehr zurück
1
Epileptische Geistesstörung
1
Geistig und körperlich sehr zurück
1
Kind geistig zurück, spricht nichts, teilnahmslos
1
Littlesche Krankheit, Idiotie, kann nicht gehen, Außenrotation der Beine
1
Tabelle 57:Todesjahrderan den „Spiegelgrund" überstellten Kinder des Geburtenjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt 1941
2
1942
4
1943
3
1944
3 12
Summe
72
Die beiden Kinder w u r d e n im A u g u s t 1941 v o m Spezialkinderheim Pressbaum an den „Spiegelgrund" überwiesen.
5. Anhang
446
Tabelle 58: Ausfolgeverbot der an den „Spiegelgrund" überwiesenen Kinder des Geburtenjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt Alle
6
Alle, besonders Kindsmutter
1
Jedermann
2
Kindseltern
2
Kindsmutter
2
Tabelle 59: Untersuchender Arzt/Psychologe am Spiegelgrund/Anzahl der Krankengeschichten" bei Kindern des Geburtenjahrgangs 1938 der Wiener KÜSt Direktor74 Dr. Ernst Illing
4
Abteilungsarzt Dr. Heinrich Gross
4
Anstaltsoberärztin Dr. Margarethe Hübsch
3 1
Direktor Dr. Erwin Jekelius Anstaltsärztin Dr. Marianne Türk
1
Dr. Edeltrud Baar
4
Dr. Elisabeth Muth
3 2
Dr. Igor Caruso
73 Zwei psychologische Gutachten und ein ärztlicher Befund waren nicht unterschrieben, daher ist eine Zuordnung nicht möglich gewesen. 74
Auch mit „komm. Direktor Dr. E. Illing Obermedizinalrat" unterschrieben.
Verzeichnis der Abkürzungen (bei mehreren verschiedenen Schreibweisen in den Quellen findet sich hier stets jene ohne Interpunktion und/resp. in Großschrift)
a.e.
außerehelich
A/W
Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Jerusalem)
AdR
Archiv der Republik
AZ
Aktenzeichen
BArch
Bundesarchiv Berlin
BDM
Bund Deutscher Mädel
Bf
Beschwerdeführer
BH
Bezirkshauptmannschaft
B.S.I.
Bezlrks-Schul-Inspektor
CAHPJ
Central Archlvesforthe History ofthe Jewish People
DAF
Deutsche Arbeitsfront
DAW
DiözesanarchivWien
DÖW
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands
DSM
Diagnostisch Statistisches Manual
EA
Erziehungsanstalt
EAB
Erziehungsanstalt Biedermannsdorf
EBBef
Erzlehungsberatungsbefund
FE
Fürsorgeerziehung
GdB
Grad der Behinderung
Gm
Großmutter
GzVeN
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933
Ha.
Hieramts
HJ
Hitlerjugend
Hsl.
Häusliche Pflege
HstA, Hann.
Hauptstaatsarchiv Hannover
IA
Intelligenzalter
ICD
International Classification of Deseases
IKG
Israelitische Kultusgemeinde Wien
10
Intelligenzquotient
ISd
Im Sinne des
5. Anhang
448 ISD
Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen
Israel.
Israelitisch
JFA
Jugendfürsorgeanstalt
JFEA
Jugendfürsorgeerziehungsanstalt
JWVO
Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark vom 20.03.1940
KBI
Kriminalbiologisches Institut
KE
Kindseltern
KGA
Krankengeschichten-Archiv des Otto Wagner-Spitals
KH
Kinderheim
KLV
Kinderlandverschickung
KM
Kindsmutter
KÜSt
Kinderübernahmestelle
Kv
Kindsvater
LA
Lebensalter
LG
Landesgericht
Lt.
Laut
MA
Magistratsabteilung
M.-Abt.
Magistratsabteilung
Mag. Abt.
Magistratsabteilung
Mj.
Minderjährige/r
Ms
Mütterlicherseits
MuK
Hilfswerk Mutter und Kind
N.D.
Niederdonau
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSV
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
OFG
Opferfürsorgegesetz
ÖSTA
Österreichisches Staatsarchiv
P.l.
Pius Institut
PKBH
Psychiatrisches Krankenhaus Baumgartner Höhe
PTSD
Posttraumatische Belastungsstörung
RAD
Reichsarbeitsdienst
RdErl
Runderlass
RF-SS RGr.
Reichsführer SS - Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge
RJWG
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
RKPA
Reichskriminalpolizeiamt
Abkürzungen
Rmdl
Reichsministerium des Inneren
R5HA
Reichssicherheitshauptamt
Schwachs.
Schwachsinnig
SD
Sicherheitsdienst
SSWVHA
SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt
StGB!
Staatsgesetzblatt
STIKO
Stillhaltekommissar
Uabt
Unterabteilung
VerwBeh
Verwaltungsbehörde
VO
Verordnung
WHW
Winterhilfswerk
WKP
Weibliche Kriminalpolizei
WPV
Wiener Psychoanalytische Vereinigung
WstLA
Wiener Stadt- und Landesarchiv
WUA
Wiener Universitätsarchiv
ZKH
Zentralkinderheim
449
Biografische Angaben
Gerhard Benetka, Dozent am Institut für Psychologie der Universität Wien. Schwerpunkte: Geschichte der Psychologie, wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie. Ernst Berger, ao. Univ. Prof. (Medizinische Universität Wien). Kinderpsychiater und -neurologe (Rothschild'sches Neurologisches Zentrum Rosenhügel), Psychotherapeut. Regina Böhler, Pädagogin und Sonderkindergärtnerin. 2003 Diplomarbeit zum Thema „NS-Jugendfürsorge im Spiegel von .Auslese',,Ausgrenzung' und .Vernichtung'. Am Beispiel der Kinderübernahmsstelle der Stadt Wien - e i n e r Schaltstelle .selektiver' Jugendfürsorge". Elisabeth Brainin, Psychoanalytikerin, Kinder- und Lehranalytikerin (WPV). Bis 2002 ärztliche Leiterin der Institute für Erziehungshilfe in Wien, seit 2002 in freier Praxis. Schwerpunkte: Erziehungshilfe, Traumaforschung, Gedächtniskultur. Regina Fritz, Historikerin. 2004 Diplomarbeit zum Thema:„Die nationalsozialistischen,Jugendschutzlager' Uckermark und Moringen. Disziplinierung, Internierung und Beseitigung normabweichender Jugendlicher im Dritten Reich". Vera Jandrisits, Sonder- und Heilpädagogin. 2003 Diplomarbeit zum Thema „Die Kinderübernahmestelle als Wendepunkt der weiteren Lebensabläufe behinderter und .gesellschaftsunfähiger' Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus". Marie-Luise Kronberger, Fachärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin (WPV).Tätigkeit im Institut für Erziehungshilfe und im Kriseninterventionszentrum Wien. Peter Malina, Zeithistoriker. Schwerpunkte: NS in Österreich, Medizin im NS, Zeitgeschichte in der Kinder- und Jugendliteratur, Rechtsextremismus, Neofaschismus. Else Rieger, Sachbuchlektorin (Schwerpunkt NS) und Mitarbeiterin der Abteilung Gesellschaftswissenschaften des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur.
452
5. Anhang
Clarissa Rudolph, Psychologin. 2004 Diplomarbeit zum Thema „Kontinuität oder Bruch? Zur Geschichte der Intelligenzmessung im Wiener Fürsorgewesen vor und in der NS-Zeit". Samy Teicher, klinischer Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut (Psychoanalyse). Schwerpunkte: Geschichte und Psychoanalyse,Traumaforschung.
Register Abwehri05,338,345,375,382 - b e m ü h u n g 382 -manöver384
Bühler, Charlotte (siehe a u c h Intelligenztest nach Bühler-Hetzer) 6 7 / 6 8 , 6 9 , 8 1 , 1 9 5 Bühler, Karl 53
- m a ß n a h m e n 74 - m e c h a n i s m e n 344,367 -Organisation 344 -zwecke 367
Caritas 1 3 2 , 1 4 8 , 1 5 0 , 1 5 6 , 1 5 7 , 2 2 6 , 2 4 2 , 2 4 3 , 2 4 6 , 2 4 7 , 248,295,297,298,299 Caruso, Igor 39,175,257
Aichhorn, A u g u s t 51,54,357,358
Chotzen, Fritz 27
Aktualneurose 340
Czernin, M e l a n i e 2 1 4 , 2 1 5 , 2 2 1 , 2 2 2
Altersheim W i e n W ä h r i n g 2 2 8 , 2 2 9 , 2 3 0 „Am Spiegelgrund" siehe E r z i e h u n g s h e i m „Am
D a n n , S o p h i e 362
Spiegelgrund", (Kinder, Jugend)Fürsorgeanstalt
Danneberg-Löw, Franzi 282
„Am Spiegelgrund" und Kinderfachabteilung
Deckerinnerung 367
„Am Spiegelgrund"
Dessauer, Heinrich 281
A n g s t s t ö r u n g 341,379
Dr. Krüger-Heim 2 7 9 , 2 8 3 , 2 8 5
A n p a s s u n g s s t ö r u n g 341
Dworschak, Rosa 272,358
Asperger, H a n s 171,231,267 Asyl, Städtisches für verlassene Kinder W i e n 56,57, 58,193
Ebbinghaus, H e r m a n n 23,37 „Edelweißpiraten" 1 0 0 , 1 0 1 Eissler, Kurt R.377
Baar, Edeltraud (Edeltrud) 39,231,257,267
Engel, Emil 287
Baron Springer'sches W a i s e n h a u s für Knaben 279,
Erziehungsanstalt B i e d e r m a n n s d o r f (Stephanie-
284/285 Belastungsreaktion, akute 341 Belastungstrauma 362,363,379 Beiern, Petra 30,38 Berl, Ludmilla 2 9 0 Bertha, H a n s 168 Berufsvormundschaft 4 2 , 4 4 , 4 7 , 4 8 , 1 4 0 , 2 7 0 , 2 7 8 Bienenfeld, W i l h e l m 281 Bildungsfähigkeit 2 2 , 2 3 , 2 6 , 2 7 , 2 8 , 2 9 , 3 4 , 5 8 , 8 6 Bildungsunfähigkeit 1 7 , 8 6 , 8 8 , 2 6 7 Binet, Alfred 1 6 , 2 3 , 2 4 , 2 5 , 2 6 , 2 8 , 3 2 , 3 7 Binet-Simon'scher Intelligenztest (Binet-SimonSkala, Intelligenztestmethode von Binet-Simon, Binet-Simon-Testreihe u.a.) 2 3 , 2 5 , 2 7 , 2 8 , 6 2 , 6 9 , 73,77,85,86,87,88,257
Stiftung, Stefanie-Stiftung) 77,83,85,205,207, 217,218,219,229,230,231,239,263,264,265,266, 267,268,269,270,271,272,273,274,275 Erziehungsanstalt Eggenburg 51,64,75,77,130,146, 160,164,210,220,229,262,352,353,354 Erziehungsanstalt für s c h w a c h s i n n i g e Kinder PiusInstitut (St. Ruprecht Bruck/Mur) 2 2 3 , 2 2 4 Erziehungsanstalt K l o s t e r n e u b u r g 7 7 , 1 4 6 , 1 6 2 , 1 6 4 , 207,215,219,349,350,351 Erziehungsanstalt Mödling, ehem. Hyrtel'sche Waisenstiftung 7 7 , 1 6 6 , 2 0 4 , 2 0 6 , 2 0 7 , 2 0 8 , 2 2 3 , 299,368,369,373 Erziehungsanstalt Schwechat (Dreherstraße) 77, 146,164,165,207,220 Erziehungsanstalt Theresienfeld 146
„Blasen" 1 0 0
Erziehungsanstalt W i e n e r Neudorf 146
Blindenerziehungsinstitut W i e n 2 Wittelsbacher-
Erziehungsanstalt (Waisenhaus) Hohe W a r t e 71,77,
straße 239 Bobertag, Otto 2 4 , 2 5 , 2 6 , 2 8 , 6 2 , 8 5
206,212,213,279,285 Erziehungsberater(in) 3 9 , 4 0 , 4 9 , 5 1 , 5 2 , 6 1 , 7 5 , 7 6 , 7 7 , 79,140,204,267,358
5-Anhang
454
Erziehungsberatung (Erziehungsberatungsstellen u.a.) 39,40,50,51,52,64,74,75,76,79,119,120,
Gundel,Maxi39,i67,i68,i99 Gütt,Arthur77,78
121,140,153,176,183,218,231,259,262,267,272, 356,357.358,359.361 Erziehungsheim „Am Spiegelgrund" 159,161,165, 168,170,171,172,182,186,187,190,217,251,252,261, 264,265,267,268,269,270,274 Erziehungsheim Pötzleinsdorf 206,211,213,240, 247,253 Erziehungsheim Unter Olberndorf 146 Erziehungsheim Wien 11 Dreherstraße siehe Erziehungsanstalt Schwechat Escherich, Theodor 29,31,67 ESRA 347,355,368,374,375 Eugenik (eugenisch) 16,17,19,42,43,45,74,78,116, 173,176,268,311,336
Hamburger, Franz 199 Hassmann, Kurt 199,211 Hauptabteilung E-Volksgesundheit und Volkswohlfahrt (ab 1941:Gesundheitswesen und Volkspflege) 85,139,161,165,167,168,170,205, 244 Hauptabteilung F - Jugendwohlfahrt und Jugendpflege 77,139,161,167,211,213 Hauptabteilung V-Volksgesundheit und Volkswohlfahrt 139,281 Heilanstalt Gugging 171,176,228,232,233,262,274, 293 Heilpädagogische Abteilung (Station, Beobachtungsstation) der Universitätskinderklinik Wien
Familienpflege 48,141,153,154,155,199,240 Formanek, Emmy 217 Frankl, Viktor 284 Freisler, Roland 102,307
16,22,29,34,36,37,38,49,51,53,54,55,58,59,62, 64,259,267 Heim Meierhöfen (Maierhöfen, Ludovikaheim) 206,213,214,215,216,222
Freizeitarrest 113
Heim St. Leopold Wien 20 248
Freud, Anna 362
Heinze, Hans 169,178,179,180
Frick, Wilhelm 307
Herget, Anton 70
Friedl, Hans 73,74
Hetzer, Hildegard (siehe auch Intelligenztest nach
Galton, Francis 16,17,18,19,79
Heydrich, Reinhard 307,308,312
Gegenübertragung 365,374
Hilfswerk Mutter und Kind 152,153
Bühler-Hetzer) 68,69,81,195
-saspekte 337
Hilgenfeld, Erich 148,151,156
-sgefühle373
Himmler, Heinrich 101,307,308,310,312,322
-sphänomen 372,373
Hitler-Jugend (HJ) 93,94,95,96,97,98,99,100,101,
Genossenschaft der Franziskanerinnen Missionarinnen Mariens (F.M.M.) 248,297,298 Genossenschaft der Schwestern vom armen Kinde Jesu in Wien 221 Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswe-
113.119.131.140.212,217,311,369 Hübsch, Margarethe 229,257 Hyrtel'sche Waisenstiftung siehe Erziehungsanstalt Mödling Hysterie 340
sens 327 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) 78,103,108,177,327 Ghetto Riga 291,294 Goebbels, Joseph 307
Ich-Stä rke 339,381,383 Illing, Ernst 86,87,88,115,161,168,169,170,171,175, 179,181,182,186,187,230,256,271,272,369,370, 372
Göring, Hermann 307
Innere Mission 148,150,156,157
Gross (Groß), Heinrich 8,86,159,168,169,170,173,
Intelligenz
174,175,176,179,180,226,245,246,254,255,257,
-alter 26,27,28,73
260,353,355,359,365,371,373,375,376,385,446
-messung 15,16,19,25,69,70
G r o s s j o h a n n 163,164,165,192,261,361
-prüfung 16,20,21,24,29,31,62,63,69,79,87, 184
Register
455
-quotient 28,69,184,348
Kinderheim Marokkanergasse 243
-test (Kleinkindertest nach Bühler-Hetzer u.a.)
Kinderheim Mohapelgasse (Tempelgasse) 248/249,
68,79,81,257 -testung 23,62,70,77,79,85 Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG)ic>9,237, 277,278,280,281,282,283,284,285,286,287,288, 290,291,347,368
249,288,290,291,292 Kinderheim Rosenhof (Viehofen) 157,215,226 Kinderheim Rückertgasse St. Josef 132,204,238, 246,247,295,296,297,298,299 Kinderheim Schloss Schiltern 224,225,226 Kinderheim Schloss Wilhelminenberg 59,60,61,62,
Jaensch, Erich Rudolf 72
63,64,69,75,159,183,195,211
Jekelius, Erwin 162,167,168,173,229,232,266
Kinderheim Seitenberggasse 243,293
Jüdisches Kinderheim Untere Augartenstraße
Kinderheim St. Rafael siehe Kinderheim Wien 11,
(Mädchenblindenheim Providentia) 238,248, 249,279,284,285,288,290
Molitorgasse Kinderheim Stadlau (Hardeggasse) 146,297,221
Jüdisches Waisenhaus Baden 279
Kinderheim Trautmannsdorfgasse 243
Jugendarrest 94,102,113,307,310
Kinderheim Viehofen siehe Kinderheim Rosenhof
Jugenddienstverordnung 94
Kinderheim Wexstraße (St. Brigitta) 209,238,240,
Jugendheim Juchgasse 76,165,209,261,262 Jugendheim Kollburggasse siehe Jugendheim Liebhartsthal Jugendheim Liebhartsthal 77,206,216,217,246 Justin, Eva 322 JWVO siehe Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark
242,243,246,247,248,297,298,299 Kinderheim Wien 11 Molitorgasse (St. Rafael) 238, 239,242,243,246,247,253,298 Kinderheim Wimmersdorf bei Neulengbach 207, 222,261,262 Kinderherberge Grinzing 58,59 (Kinder, Jugend)Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" 52,75,77,79,83,85,159,160,161,162,166,
Karolinen Kinderspital 66,160,199,239
167,168,170,172,175,176,182,183,186,2ii, 223,
Katschenka.Anna 180,181,264
226,227,228,232,241,244,251,252,253,259,264,
Kaufmann, Alois 127,128,261 Keilson, Hans 338,364,379,380,381 Kinderfachabteilung„Am Spiegelgrund" 86,159,
265,266,272,274,293,299, Kinderherberge, Städtische „Am Tivoli" 58,59,61, 6
5.159. 1 83,194,211,
161,165,168,169,170,172,174,180,252,254,256,
Kinderklinik Glanzing 175
260,262
Kinderland Verschickung (Kinderlandverschi-
Kinderheim Antonigasse siehe Kinderheim Josef Hackelgasse Kinderheim Bauernfeldgasse siehe Waisenhaus für israelitische Mädchen Charlotte Merores Itzeles Kinderheim des Ältestenrates der Juden in Wien siehe Kinderheim Mohapelgasse Kinderheim des Wiener Fraueinvereines zum Schutze armer verlassener Kinder 279
ckungslager) 98,153,163,206,208 Kinderspital Ferdinandstraße 288,291 Kinderübernahmesteile Siebenbrunnengasse 56, 58,66,193,194 KinderübernahmestelleWien (KÜSt) 39,45,56,57,58, 61,65,66,67,68,69,71,75,76,77,79,8i, 83,85,145, 160,167,177,183,193,194,195,197,198,199,200, 203,204,205,206,207,209,218,223,224,226,227,
Kinderheim Freyenturmgassei77,240
229,230,231,232,234,235,236,237,238,240,241,
Kinderheim Frischau bei Znaim (St. Josefsheim) 157,
242,243,245,246,247,249,250,251,253,254,256,
226,227,228,238,245,253,258,260 Kinderheim Galvanigasse 243 Kinderheim Gießhübl 132,295 Kinderheim Josef Hackelgasse (Antonigasse) 206, 208,209,210,245,260,298,299, Kinderheim Lacknergasse 210,242,296,298,299
259,260,261,262,264,266,267,268,269,270,273, 275,284,285,288,291,292,293,294,299,331,349, 350,353.354.356,357.358,359,368,372 Kleinmann, Fritz 131,132 Knabenwaisenhaus Probusgasse 278,285,286,287, 292,294
5. Anhang
456 Komoly, Käthe 194
Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Kreuz (Kreuzschwestern) 215,216,223,224
Mädchenblindenheim Providentia siehe Jüdisches Kinderheim Untere Augartenstraße Mädchenwaisenhaus Ruthgasse 278,287
Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom
Maly Trostinec 249,291,293
hl. Vinzenz von Paul (Vinzentinerinnen) 208,
Mannlicher, Egbert 110,8,112
209,214,216,222,228,246,295,298,299
Mauthner Markhof Kinderspital 239,253
Konzentrationslager Ravensbrück 302,316,317,318, 326
Merores-Waisenhaus siehe Waisenhaus für israelitische Mädchen Charlotte Merores Itzeles
Kötschau, Karl 110,111
Murmelstein, Benjamin 281
Kowarik, Karl 139,167
Muth, Elisabeth 257
Kraepelin.Emil 20 Krenek,Johann (Hans) 8,159,161,162,171,172,182,
Narzisstische Kränkung 337,366
183,184,185,186,187,188,189,190,191,192,266,
Narzisstische Zufuhr 355,374
267,268,269,350,354,359,399
Nationalfonds der Republik Österreich für die
Kreuzschwestern siehe Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Kreuz
Opfer des Nationalsozialismus 330,331,365,371,
Krickl, Leopold 217,265
374-375 Neurasthenie 340
Kriegsneurose 340,348
(Niederösterreichisches, Landes-) Zentralkinder-
Kriminalbiologische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamts 323 Kriminalbiologisches Forschungsinstitut des
heim Wien (ZKH), Bastiengasse siehe Zentralkinderheim Nürnberger Rassegesetze siehe Rassegesetze
Reichsgesundheitsamts 322,323,325 KÜSt siehe Kinderübernahmesteile Wien
Objektbeziehungen 339,346,353,364,374,383 Opferfürsorgegesetz 117,328,330,331
Labeling-Theorie 336 Landerserziehungsheim Schloss Eichhof 207,214, 216,221
Ordensfrauen vom Heiligen Herzen Jesu/Sacre Coeur 227,249 Ottakringer Jugendschutz 295
Landesanstalt Görden bei Brandenburg 169,178, 179,180 Lazar, Erwin 16,29,30,31,33,34,35,36,37,38,39,49, 51,53,54.62,70
Parville, Rudolf 199,244,281 Pestalozziverein (zur Förderung des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge) 29,30,31,36
Lederer-Heim 283
Pflegeanstalt Ybbs 163,164,165,293,352,369
Lehrlingsheim Am Augarten 77
Pflegekolonie Hartberg 145
Lehrlingsheim Im Werd 77
Pflegekolonie Jennersdorf 145,258
Lehrlingsheim Rennweg 77
Picker, Richard 125,126
Lehrlingsheim Zukunft siehe Waisenhaus für j ü -
Pirquet, Clemens Freiherr von 34,36,67
dische Knaben Crünentorgasse Lein, Hermann 126,127 Lele-Bondi-Heim (Böcklinstr.) 279,285,288,290 Lifka, Valerie 220
Pius-Institut siehe Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder Pius-Institut Postträumatische Belastungsstörung (PTSD) 341, 342,343,371
Liga der freien Wohlfahrtsverbände 150 Linke, Robert 123
RAD siehe Reichsarbeitsdienst
Löwenherz, Josef 281,284,290
Rassegesetze, Nürnberger 237,246,330,345
Ludovikaheim siehe Heim Meierhöfen
Rasse(n)dienst(lich) 73,74
Ludwig Zwieback Kinderheim für Mädchen 279
Rehn, Erwin 312,315 Reichenfeld, Lily 282,287,288 Reichsarbeitsdienst (RAD) 98,125,318,324
Register Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde 110/111 Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung
457
Station Immaculata 249,250 Stephanie-Stiftung siehe Erziehungsanstalt Biedermannsdorf
von erb- und anlagebedingten schweren Leiden
Sterilisation, zwangsweise (Unfruchtbarmachung)
sowie von debilen, bildungsunfähigen Minder-
42,74,78,80,103,104,108,115,129,146,176,255,
jährigen 85,86,104,161,162,169,170,174,180, 260,336,361 Reichsausschussabteilung 86,169,173,180
301,311.313.325.328,336.359 Stojka, Karl 133,134 Storch, Erna (geb. Walter) 180,181,182
Reizschutz 339,344,379
Strain Trauma siehe Belastungstrauma
Rentenneurose 340,348
Swing-Jugend 100,303,312
Reuß, August 187,199,211 Rieger, Konrad 20
T a n d l e r j u l i u s 45,50,54,55,60,62,66,67,71
Ritter, Robert 322,323,325
Taubstummeninstitut Wien 13, Speisingerstraße
Rosenberg, Alfred 307
238
Röser, Franz 72,73
Thaller,Maxi62,163
Rotes Kreuz 140,150
Therapeutische Allianz 338
Rozsa, Eduard 289
Toberentz, Lotte 304,311,318,324 Tramer, Moritz 42
Sacre Coeur siehe Ordensfrauen vom Heiligen Herzen Jesu/Sacre Coeur
Trauma 338,339,340,341,342,343,344,362,363, 364,367,379,382
Sammellager Große Sperlgasse 291,294,299
Traumatische Neurose 340
Sandler,Joseph 363,367
Tuchmann, Emil 288,290
Säuglings-, Kleinkinder- und Mutterheim Riesen-
Türk, Marianne 161,168,169,172,173,175,180,182,
hofii2
187,234
Scharizer, Karl 250 Schiner, Hans 33
Übergangslager Dallgow-Böberitz 317
Schlurfsioo
Überlebenssyndrom nach KZ-Haft 341
Scholz, Alois 70
Übertragung 365,371,374
Schönfelder,Thea 348 Schwarz, Rosa Rachel 282
-sgefühle337,369 -Situation 370
ScreenTrauma siehe Deckerinnerung
Uhlirz, Rudolf 123
Secky, Franz 216
Unfruchtbarmachung siehe Sterilisation, zwangs-
Simon,Théophile (siehe auch Binet-Simon'scher
weise
Intelligenztest) 23,24,25,26 Sperling, Irma 134,135
Vellguth, Hermann 199,244,281
Spezialkinderheim (Tullnerbach-)Pressbaum 223,
Verein zur Förderung der Handwerke unter den
227,228,238,240,241,249,250,253,293 „Spiegelgrund" siehe Erziehungsheim „Am Spiegelgrund", Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund" und Kinderfachabteilung„Am Spiegelgrund"
inländischen Israeliten 289 Verein zur Versorgung hilfsbedürftiger israelitischer Waisen 278 Verordnung über Jugendwohlfahrt in der Ostmark
St. Anna Kinderspital 28,29
(Verordnung über Jugendwohlfahrt in den
St. Brigitta Kinderheim siehe Kinderheim Wex-
Alpen- und Donau-ReichsgauenJWVO)74,87,
straße (St. Brigitta) St. Josef Kinderheim (Wien) siehe Kinderheim Rückertgasse St. Josef St. Ruprecht Bruck/Mur siehe Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder Pius-Institut
108,109,140,141,142,143,153,292 Vinzentinerinnen siehe Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul Vowinckel, Elisabeth 79
458
5. Anhang
Waisenhaus für israelitische Mädchen Charlotte Merores Itzeles (Bauernfeldgasse) 278,279,285, 286,287,288,290,292,294 Waisenhaus für jüdische Knaben Grünentorgasse 248,279,285,288,289,290,292,294 Walter, Erna siehe Storch, Erna Werner, Paul 306,311,313,315,319,324,325 Wertheimsteinsche Stiftung für Säuglinge und Kleinkinder 283 Wieiking, Friederike 307 Wilhelminenspital 181,292 Winkelmayer, Franz 51,53,75,76,79,218,267,272, 358,359 Winterhilfswerk (WHW) 112,121,149,150,152,153, 158,280 Wochenendkarzer 102,113 Wolfring, Lydia von 31 Wolschansky, Hans 154 Wunderbaldinger, Josef 199,256 Zawrel, Friedrich 329 Zentralkinderheim (ZKH) 64,65,69,71,75,76,79,83, 85,86,145,159,165,183,195,198,206,210,2ii, 237, 238,242,243,247,249,258,262,293,294,299 Zeugenschaft 337,338 Ziehen,Theodor 21
# Carola Einhaus
Zwangssterilisation
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in Bonn (1934-1945) Die medizinischen Sachverständigen vor dem Erbgesundheitsgericht (Rechtsgeschichtliche Schriften, B d . 2 0 ) 2 0 0 6 . XII, 1 9 4 S. G b . ISBN 978-3-412-29005-4
Zur nationalsozialistischen Rassenideologie gehörte es, vermeintlich erbkranke Menschen an der Fortpflanzung zu hindern. U m ihre zwangsweise vorgenommene Sterilisation zu legitimieren, erließen die Machthaber am 1. Januar 1934 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und errichteten Erbgesundheitsgerichte. Vor diesen Gerichten übten medizinische Sachverständige großen Einfluss auf das Verfahren aus: Sie waren es häufig, die den »Erbkrankverdächtigen« anzeigten, seine Sterilisation beantragten und das Gutachten abgaben, das nach d e n »Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft« Auskunft darüber geben sollte, ob der »Erbkrankverdächtige« tatsächlich erbkrank war. Das Buch kommt zu dem erschreckenden Ergebnis, dass die Gutachten der Bonner Sachverständigen keineswegs d e m damaligen medizinischen Kenntnisstand entsprachen, sondern oberflächlich und tendenziös gehalten waren. Gleichwohl legte das Bonner Erbgesundheitsgericht die gutachtliche Diagnose der Sachverständigen in über 90 % der untersuchten 519 Fälle seinem Urteil zugrunde, ohne dass sich die Betroffenen dagegen erfolgreich zur Wehr setzen konnten.
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H e i n z E b e r h a r d G a b r i e l / W o l f g a n g N e u g e b a u e r (Hg.)
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N S - E u t h a n a s i e in W i e n (NS-Euthanasie in Wien, Symposiumsbönde, Teilband 1} 2000. 17 x 24 cm. Br. 140 S. EUR 29,90. ISBN 3-205-98951-1
Mit Beiträgen von William Seidelmann, Klaus Dörner, Henry Friedlander, Susanne Mende, Matthias Dahl, Michael Hubenstorf und Wolfgang Neugebauer. Berichte von Zeitzeugen und Betroffenen ergänzen und veranschaulichen die wissenschaftlichen Analysen. H e i n z E b e r h a r d G a b r i e l / W o l f g a n g N e u g e b a u e r (Hg.)
Von der Zwangssterilsierung zur Ermordung. Zur Geschichte der N S - E u t h a n a s i e in W i e n (NS-Euthanasie in Wien, Symposiumsbände, Teilband 2) 2002. 17 X 24 cm. Br. 420 S. EUR 49.-. ISBN 3-205-99325-X
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Im Folgeband zur „Geschichte der NS-Euthanasie in Wien" werden neueste Forschungsergebnisse u.a. zur Zwangssterilisierung, Zwangserziehung, den jüdischen Opfern der NS-Euthanasie in Wien, der Vernachlässigung und Tötung von Kranken durch Hunger (sogenannte „Wilde Euthanasie") vorgelegt. H e i n z E b e r h a r d G a b r i e l / W o l f g a n g N e u g e b a u e r (Hg.)
Vorreiter d e r V e r n i c h t u n g Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in d e r D i s k u s s i o n v o r 1 9 3 8 (NS-Euthanasie in Wien. Symposiumsbände, Teilband 3) 2005. 17 x 24 cm. Br. 272 S. EUR 35,-. ISBN 3-205-77122-2
Die Beiträge beziehen sich zum ersten Mal in so umfassender Weise und zu einem guten Teil abgestützt auf neue Forschungsergebnisse auf die Anthropologie jener Zeit, den Eugenik-Diskurs in verschiedenen politischen Lagern und Institutionen sowie herausragende Persönlichkeiten. Ein abschließender Beitrag verknüpft die historischen Erfahrungen unter dem Titel „Medizin und Gewissen" mit der aktuellen Diskussion der Biomedizin. WlESINGERSTRASSE I, 1010 W l E N , TELEFON (01)330 2 4 27-O, FAX 33O 2 4 27 32O
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