Partizipation als Programm: Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 9783839439401

How can children and teens, particularly those who grow up under precarious conditions, be provided with the opportunity

180 89 1MB

German Pages 270 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Perspektiven Aus Der Gesellschaft
Diversity Education Im Fokus Kultureller Bildung. Diskurse Vernetzen Und Synergien Nutzen
Das Junge Publikum. Erkenntnisse Der Empirischen Teilhabeforschung
Das Politische In Der Kulturellen Bildung. Warum Gesellschaftliche Teilhabe Und Kritische Künstlerisch-Ästhetische Auseinandersetzung Zusammengehören
Literatur
Perspektiven Für Die Praxis
„Sagt Einfach, Was Ihr Seid. Das Ist Allemal Gut Genug.“ Thesen Zur Arbeit Mit Bildungsbenachteiligten Jugendlichen
Wir Wollen Mit Euch Gehen, Auch Ins Theater. No Education Und Junge Kollaborationen Als Programmatische Projekte Der Ruhrtriennale
Trotzdem. Von Der Reibung Der Welten Und Dem Ringen Um Ein Gegenseitiges Verstehen
Wo Geht’s Denn Hier Ins Theater? Forschungsinstrumente Zur Künstlerischen Beteiligung Am FFT Düsseldorf
Auch Die Kinder Haben Uns Ihre Welten Eröffnet. Wege Ins Moks
Theater Als Begegnungsraum. Neugierde Wecken, Welt Beschreiben Und Erfahrungen Machen
Man Muss Sie Herstellen, Aber Man Darf Nicht Genau Wissen, Wie. Ein Selbstgespräch Über Augenhöhe Im Theater Mit Jugendlichen
Perspektiven Für Eine Partizipative Programmatik
Teilhabe Künstlerisch Denken. Fragestellungen Und Anregungen Für Vermittlungspraktiken In Partizipativen Projekten
Antragslyrik. Formulierungen Theaterpädagogischer Praxis In Projektanträgen
Wege Zu Kindern Und Jugendlichen. Empfehlungen Für Die Praktische Projektarbeit
Beteiligung. Partizipationsversprechen Und Die Schwierigkeit, Sie Einzulösen
Wege Zum Tanz. Künstlerisches Gestalten Mit Dem Eigenen Körper
Tanz Und Theater Machen Stark. Beteiligung In Projekten Der Freien Darstellenden Künste
Theater Für Alle! Wege Ins Amateurtheater
Perspektiven Für Die Kulturlandschaft
Movies In Motion – Mit Film Bewegen. Teilnahme Und Teilhabe Im Kultur Macht Stark-Konzept Des Bundesverbandes Jugend Und Film E. V.
Land In Sicht Mit Soziokultur. Theater Als Phänomen Von Partizipativer Soziokultur Im Ländlichen Raum
Unsere Museen. Mit Museum Macht Stark Sehen Lernen Und Die Welt Entdecken
Bündnisse Für Musikalische Bildung. Wege Zur Musik Im Programm Der Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände
Perspektiven Für Die Politik
Bühnen Ohne Barrieren. Theaterpolitik Für Kulturelle Teilhabe
Wege Ins Theater Führen Über Die Hauptstraße Der Partizipation. Jugendpolitik Für Kulturelle Teilhabe
Literatur
Eine Frage Des Politischen Willens. Bildungspolitik Für Kulturelle Teilhabe
Literatur
Autor*Innen
Theater- Und Tanzwissenschaft
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Partizipation als Programm: Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche
 9783839439401

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Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.) Partizipation als Programm

Theater | Band 100

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche

Die Publikation ist Teil des Projekts Wege ins Theater! der ASSITEJ im Rahmen des Programms Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Stefan Schmidbauer 2016 Lektorat, Korrektorat & Satz: Aron Weigl Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3940-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3940-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Wolfgang Schneider und Anna Eitzeroth | 9

P ERSPEKTIVEN AUS DER G ESELLSCHAFT Diversity Education im Fokus Kultureller Bildung. Diskurse vernetzen und Synergien nutzen

Viola B. Georgi | 15 Das junge Publikum. Erkenntnisse der empirischen Teilhabeforschung

Thomas Renz | 27 Das Politische in der Kulturellen Bildung. Warum gesellschaftliche Teilhabe und kritische künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung zusammengehören

Aron Weigl | 37

P ERSPEKTIVEN FÜR DIE PRAXIS „Sagt einfach, was ihr seid. Das ist allemal gut genug.“ Thesen zur Arbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen

Ingo Toben | 51 Wir wollen mit euch gehen, auch ins Theater. No Education und Junge Kollaborationen als programmatische Projekte der Ruhrtriennale

Cathrin Rose | 57 Trotzdem. Von der Reibung der Welten und dem Ringen um ein gegenseitiges Verstehen

Dagmar Domrös | 63 Wo geht’s denn hier ins Theater? Forschungsinstrumente zur künstlerischen Beteiligung am FFT Düsseldorf

Maximiliane Horbach und Lisa Zehetner | 77

Auch die Kinder haben uns ihre Welten eröffnet. Wege ins Moks

Rebecca Hohmann und Caroline Eisenträger | 91 Theater als Begegnungsraum. Neugierde wecken, Welt beschreiben und Erfahrungen machen

Bassam Ghazi | 103 Man muss sie herstellen, aber man darf nicht genau wissen, wie. Ein Selbstgespräch über Augenhöhe im Theater mit Jugendlichen

Turbo Pascal | 115

P ERSPEKTIVEN FÜR EINE PARTIZIPATIVE P ROGRAMMATIK Teilhabe künstlerisch denken. Fragestellungen und Anregungen für Vermittlungspraktiken in partizipativen Projekten

Ursula Jenni | 123 Antragslyrik. Formulierungen theaterpädagogischer Praxis in Projektanträgen

Thomas Lang | 131 Wege zu Kindern und Jugendlichen. Empfehlungen für die praktische Projektarbeit

Anna Eitzeroth | 137 Beteiligung. Partizipationsversprechen und die Schwierigkeit, sie einzulösen

Christoph Scheurle | 147 Wege zum Tanz. Künstlerisches Gestalten mit dem eigenen Körper

Katharina Schneeweis | 161 Tanz und Theater machen stark. Beteiligung in Projekten der freien darstellenden Künste

Eckhard Mittelstädt | 171 Theater für Alle! Wege ins Amateurtheater

Irene Ostertag | 179

P ERSPEKTIVEN FÜR DIE KULTURLANDSCHAFT Movies in Motion – mit Film bewegen. Teilnahme und Teilhabe im Kultur macht stark-Konzept des Bundesverbandes Jugend und Film e. V.

Claudia Schmidt und Maren Ranzau | 189 Land in Sicht mit Soziokultur. Theater als Phänomen von partizipativer Soziokultur im ländlichen Raum

Beate Kegler | 199 Unsere Museen. Mit Museum macht stark sehen lernen und die Welt entdecken

Johanna Beate Lohff | 211 Bündnisse für musikalische Bildung. Wege zur Musik im Programm der Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände

Lorenz Overbeck | 219

P ERSPEKTIVEN FÜR DIE P OLITIK Bühnen ohne Barrieren. Theaterpolitik für kulturelle Teilhabe

Wolfgang Schneider | 229 Wege ins Theater führen über die Hauptstraße der Partizipation. Jugendpolitik für kulturelle Teilhabe

Gerd Taube | 243 Eine Frage des politischen Willens. Bildungspolitik für kulturelle Teilhabe

Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss | 253 Autor*innen | 263

Vorwort W OLFGANG S CHNEIDER UND A NNA E ITZEROTH

Seit über 50 Jahren setzt sich die ASSITEJ, der deutsche Verband der „Association Internationale du Théâtre pour l’Enfance et la Jeunesse“, für die Belange der Kinder- und Jugendtheater in Deutschland ein. Kinder- und Jugendtheater engagieren sich allerorts dafür, dass Kinder und Jugendliche ihr Recht auf kulturelle Teilhabe einlösen können, indem sie Theater für junges Publikum produzieren und distribuieren und Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, Theater zu erleben und spielend auszuprobieren. Trotz dieser vielfältigen Anstrengungen in mehreren hundert Kinder- und Jugendtheatern bleibt vielen Kindern und Jugendlichen der Weg ins Theater verwehrt – vor allem denen, die strukturell benachteiligt sind, weil sie z. B. von Armut betroffen sind. Um Kindern und Jugendlichen, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind, Zugänge zu Kultureller Bildung zu eröffnen, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Programm Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung ins Leben gerufen, das bildungsbenachteiligten Zielgruppen kulturelle Teilhabe ermöglichen soll. 32 Programmpartner*innen aus verschiedenen Kulturbereichen von A wie Alltagskultur bis Z wie Zirkus initiieren lokale Bündnisse für Bildung, in denen sich jeweils drei Institutionen gemeinsam für ein Projekt engagieren. In diesem Rahmen setzt die ASSITEJ zwischen 2013 und 2017 das Projekt Wege ins Theater! um. Es finanziert Theatern und ihren Partner*innen die Realisierung von künstlerischen Kooperationen, die darauf ausgerichtet sind, neue Wege zu Kindern und Jugendlichen zu finden, um ihnen zu ermöglichen, Theater zu entdecken und mitzugestalten. Wege ins Theater können ganz unterschiedlich aussehen und richten sich z. B. nach der ästhetisch-inhaltlichen Programmatik und Organisationsform des Theaters, dem städtischen oder ländlichen Umfeld und den Zielgruppen vor Ort. Drei Formate prägen die Grundausrichtung der Projektmaßnahmen: Im Format „Besuch“ geht es darum, Kindern und Jugendlichen Theatererlebnisse in ihren Sozialräumen zu ermöglichen; im Format „Gegenbesuch“

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kommen die Teilnehmer*innen ins Theater, sehen Aufführungen professioneller Schauspieler*innen und erhalten z. B. Blicke hinter die Kulissen; und im Format „Scouts“ werden junge Menschen in die Lage versetzt, Theater mitzuentwickeln, indem sie zum Beispiel als Jury einen Preis vergeben, selbst künstlerisch tätig sind oder Räume gestalten. Über 200 Maßnahmen wurden im Projektzeitraum von über 100 Bündnissen umgesetzt, über 3000 Teilnehmer*innen wurden erreicht. Die beteiligten Theater, Vereine, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Kindertagesstätten u. a. haben Zeit und Engagement eingebracht, sie haben Räume und Infrastruktur zur Verfügung gestellt, sie haben Teilnehmer*innen angesprochen, Schnupperworkshops gegeben, Krisen überwunden und Premieren gefeiert, sie haben Neues ausprobiert und Erkenntnisse gewonnen. Diese Publikation bringt die Diskurse und Perspektiven zum Projekt Wege ins Theater! zusammen, um das Projekt zu dokumentieren, zu reflektieren und die weitere Verständigung über zukünftige Wege ins Theater anzuregen. Die deutsche Theaterlandschaft ist im Umbruch. Globalisierung und Digitalisierung verändern die Welt, und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, muss sich deshalb auch einiges ändern. Auf den Bühnen ist die künstlerische Entwicklung gefordert, um die gesellschaftliche Selbstverständigung des Theaters auch zukünftig zu gewährleisten. Vor allem gilt es, das Theater in Bezug auf den Zuschauerraum zu reformieren. In einem multikulturellen Land mit reichlich Zuwanderung darf weder das Publikum noch das Ensemble oder die Leitungsebene der Theater monoethnisch deutsch bleiben. Kinder- und Jugendtheater garantiert schon seit eh und je, die Breite der Bevölkerung mitzudenken. Wenn Kindertagesstätten und Grundschulen zu Gast bei den darstellenden Künsten sind, dann sind alle dabei, mit oder ohne Migrationshintergrund, aus allen Schichten, mit allen Religionen. Ein solches Theater ist mehr denn je ein Experimentierfeld. Denn es gilt nicht, möglichst viele Zuschauer*innen gleichzeitig zu bespielen, sondern jede Zuschauerin und jeden Zuschauer zu jeder Zeit ernst zu nehmen. Mit Wege ins Theater! konnten kleine Gruppen gebildet und genügend Theatervermittler*innen verpflichtet werden, um mit einer zum Teil sehr betreuungsintensiven Klientel erfolgreich arbeiten zu können. Da geht es um einen intensiven Prozess, Ideen zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass hierfür Zeit da ist und die Rahmenbedingungen stimmen. Die Bündnispartnerschaften konnten sich kooperativ austauschen, denn es bedarf des Blickwechsels, um mit Empathie aufeinander zuzugehen. Ob im Sozialraum der Kinder und Jugendlichen oder im Theaterraum des Kinder- und Jugendtheaters, immer ist es eine Schule des Sehens. Es geht nicht mehr nur darum, das gedruckte Wort zu deklamieren, sondern um ein Lesen, in dem das

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Sehen, das Hören und das Fühlen durch die Kunst des Theatermachens gelernt werden. Das braucht als Fundament die Kulturelle Bildung, um Zugänge zu schaffen, um Teilhabe zu generieren und Teilnahme zu initiieren. Es geht um das Menschenrecht auf kulturelle Teilnahme und künstlerische Teilhabe als die Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben. Theater kann begeistern, Freude bereiten und zum Nachdenken anregen – aber nur diejenigen, denen Theater nicht fremd bleibt und die die Chance haben, barrierefrei zu rezipieren und Relevantes sowie Komplexes zu erfahren. Das macht aus einem Projekt ein erfolgreiches Programm und eine nachhaltige Entwicklung. Das speist aus vielen einzelnen Erfahrungen ein Labor der sozialen Fantasie. Das reformiert im besten Fall die deutsche Theaterlandschaft mit dem Ziel: mehr Theater für mehr Menschen. Und es setzt voraus, dass sich Theater stärker von der Angebotsorientierung zur Teilhabeorientierung wendet, dass Theater mehr in qualifizierte Theaterpädagogik investiert und dass Theater noch mehr auf Kooperationspartnerschaften in Stadt und Land setzt. Die Vernetzung in Kultur, Bildung und Zivilgesellschaft ist eine dezidiert kulturpolitische Aufgabe, ihre kommunale Umsetzung ist noch am Anfang eines Weges, aber Wege ins Theater! will dazu beitragen, dass Konzeption und Implementierung in Theorie und Praxis vorankommen. Die Publikation Partizipation als Programm. Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche fokussiert das Projekt Wege ins Theater! und die damit verbundenen Themen, Herausforderungen und Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Kapitel „Perspektiven aus der Gesellschaft“ werden verschiedene übergeordnete Aspekte der Kulturellen Bildung und künstlerischen Teilhabe erörtert. Viola B. Georgi stellt Bezüge zur Diversity Education her, Thomas Renz diskutiert Erkenntnisse aus der empirischen Teilhabeforschung in Bezug auf junge Zuschauer*innen und Aron Weigl nimmt das Politische in der Diskussion um gesellschaftliche Partizipation in den Fokus. Im Kapitel „Perspektiven für die Darstellenden Künste“ steht die Projektpraxis im Zentrum. Hier werden infrastrukturelle Entwicklungen, künstlerische Positionen und programmatische Ausrichtungen vorgestellt, in denen die Zusammenarbeit mit jungen Menschen, die nicht mit Bildungsprivilegien ausgestattet sind, erprobt wird. Hier sind mehrere Beispiele aus der Projektpraxis von Wege ins Theater! zu finden, es werden aber auch Projekte aus anderen Kontexten vorgestellt, in denen über längere Zeiträume Arbeitsformen für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen entwickelt wurden.

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Das Kapitel „Perspektiven für eine partizipative Programmatik“ versammelt Beiträge von Expert*innen, die jeweils einen größeren Überblick über verschiedene unterschiedliche Projekte, Konzeptionen und Entwicklungen haben, weil sie z. B. in Jurys Konzepte bewertet und Präsentationen gesichtet haben, weil sie die Praxis aus Verbandsperspektive oder aus wissenschaftlich-praktischer Sicht beobachten. Hier werden neben Projekten von Wege ins Theater! auch Projekte anderer Programmpartner*innen beschrieben und reflektiert, die im Rahmen von Kultur macht stark Bündnisse im Bereich der darstellenden Künste initiiert und gefördert haben. Einen „Blick über den Tellerrand“ in andere Kulturbereiche wirft das Kapitel „Perspektiven für die Kulturlandschaft“: Was können die Akteur*innen und Institutionen der darstellenden Künste aus den Konzeptionen und Projekten von Museen, Musikvereinen und Filminitiativen lernen? Welche besonderen Bedingungen gibt es im ländlichen Raum? Abschließend werden die politischen Diskurse in den Blick genommen: Das Kapitel „Perspektiven für die Politik“ beschreibt das Dreieck politischer Verantwortung für Kulturelle Bildung, indem es Analysen, Fragestellungen und Herausforderungen für die Kulturpolitik, für die Bildungspolitik und für die Jugendpolitik zusammenbringt. Kultur macht stark hat von 2013 bis 2017 viel bewegt und vielen jungen Menschen neue Wege eröffnet – zum Beispiel auch ins Theater, in viele andere Ausdrucksformen von Kunst und Kultur und in andere Gesellschaftsbereiche. Es gibt jedoch weiterhin strukturelle, institutionelle und gesellschaftliche Barrieren, die bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschließen oder benachteiligen. Projekte mit Kindern und Jugendlichen, die von Benachteiligungen betroffen sind, können diese Strukturen und Diskriminierungen nicht innerhalb von fünf Jahren abbauen, aber sie haben das Potenzial, in Kulturinstitutionen Prozesse der Öffnung und des Lernens anzuregen sowie Perspektiven sichtbar und hörbar zu machen, die bisher zu wenig Aufmerksamkeit erhalten haben. Kultur macht stark wird ab 2018 für weitere fünf Jahre „Bündnisse für Bildung“ fördern, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Diese Publikation will dazu anregen, Projekte zu erfinden und zu entwickeln und in diesen Projekten einen Dialog mit den Zielgruppen zu beginnen, der nachhaltig angelegt ist, der vom Projekt zum Programm, von der Idee zur Programmatik führt und durch den Kinder und Jugendliche sowie Kulturinstitutionen und Bündnispartner*innen gleichermaßen gewinnen und voneinander lernen.

Perspektiven aus der Gesellschaft

Diversity Education im Fokus Kultureller Bildung Diskurse vernetzen und Synergien nutzen V IOLA B. G EORGI

Folgender Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Diversity Education und Kulturelle Bildung zusammengedacht werden können und sollten, damit die Bildungsteilhabe von Kindern und Jugendlichen in ihrer individuellen und kollektiven Vielfalt gefördert werden kann. In dieser Absicht werden die entwicklungsgeschichtlichen und theoretischen Grundpfeiler der Diversity Education skizziert. Darüber hinaus wird das Dilemma einer Pädagogik der Vielfalt formuliert, welches die Kulturelle Bildung zwar nicht auflösen, aber mit künstlerischen Mitteln, etwa der bildenden Kunst, den angewandten Künsten, der Literatur, der darstellenden Künste – Theater, Tanz, Film – und der Musik „anders“ bearbeiten kann. Denn die Bezugnahme auf die Künste kann vielfältige Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten jenseits des gesprochenen oder geschriebenen Wortes bieten.

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Der Begriff „Diversity“ hat zwar in den letzten Jahren Einzug in unterschiedliche Bereiche von Politik, Gesellschaft und Kultur gehalten, dabei aber nicht an Kontur gewonnen. Diversity ist eher als Diskurs zu verstehen, „in dem die Frage des angemessenen politischen, rechtlichen, ökonomischen und pädagogischen Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt thematisiert wird“ (Hauenschild et al. 2013: 16). Auslöser für diesen Diskurs sind die Pluralisierung der „nationalen Gesellschaft“, etwa durch Migration, und damit einhergehend ein gestiegenes Bewusstsein für Diskriminierung sowie generell Tendenzen der Individualisierung. Aus dieser

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Vermehrung „hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster“ erwachse, so Wolfgang Welsch (2002: 5), die Notwendigkeit nach vielfältiger Anerkennung, die für die Gestaltung von Bildungsprozessen eine Herausforderung darstellt. Denn es gilt u. a., theoretische, empirische und konzeptuelle Modelle zu entwickeln, die erfassen und erklären können, wie Diversity in unterschiedlichen Kontexten von Bildung und Erziehung zum Ausdruck gebracht und bearbeitet wird und welche Folgen dies für die Organisation und die Gestaltung von Bildung hat. Gerade in diesem Zusammenhang erscheint es interessant, theoretisch wie empirisch der Frage nachzugehen, welchen spezifischen Beitrag Kulturelle Bildung zur Diversity Education leisten kann.

D IVERSITY = R ESSOURCENORIENTIERUNG Diversität (Diversity) bedeutet Verschiedenheit und Vielfältigkeit. Oft werden Begriffe wie Vielfalt, Verschiedenheit, Differenz, Heterogenität und Diversität synonym verwendet, um die Verschiedenheit von Menschen zu beschreiben, ohne zu hierarchisieren. Diversity-Ansätze zielen auf die Komplexität von Identitätsbildungsprozessen und fokussieren damit die Einzigartigkeit des Individuums (Prengel 2013: 12). Diversity umfasst individuelle ebenso wie gruppenbezogene Merkmale von Menschen und unterstreicht die Mannigfaltigkeit der wirkenden Differenzlinien und die Heterogenität individueller und kollektiver Identitäten, etwa bezogen auf soziale Herkunft, Ethnizität, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter und Geschlecht (vgl. Alleman-Ghionda 2012). Diversität ist immer auch Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse, d. h., dass Verschiedenheit durch Praktiken des „doing difference“ (Fenstermaker/West 2002) erst hervorgebracht wird. Die Diversity-Perspektive thematisiert soziale Differenzierungen und stellt Homogenitätsvorstellungen in Frage, indem sie Verschiedenheit als Normalfall propagiert. Der Blick richtet sich auf die sich vielfältig überschneidenden Differenzlinien, die für die soziale Positionierung jeder bzw. jedes Einzelnen entscheidend sind. Diversity-Konzepte verweisen auf Vielfalt und Verschiedenheit als gesellschaftliche Ressource und zielen darauf, durch die Wahrnehmung und Anerkennung von Diversity Benachteiligungen abzubauen. Diese Ressourcenorientierung knüpft an zwei Diskursstränge an: Der erste Strang kann als utilitaristisch oder auch affirmativ bezeichnet werden. Diversity wird im Rahmen von Diversity-Management in der Wirtschaft als Konzept der Unternehmensführung eingesetzt, um insbesondere im Bereich der Personalentwicklung die Effizienz und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu steigern (vgl. Engel 2004). Der zweite Dis-

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kursstrang kann als eher normativ-demokratisch oder auch machtkritisch charakterisiert werden: Diversity wird dabei einerseits aus Menschenrechts- und Antidiskriminierungsperspektive bewusst berücksichtigt und anerkannt, andererseits als Folge von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen reflektiert. In Konsequenz wird die Notwendigkeit betont, eine kritische Sicht auf Normalitätsvorstellungen von Individuen und Organisationen zu entwickeln. In dieser Denkbewegung offenbart sich zugleich ein normativer Anspruch. Das Gemeinsame der beiden Diskursstränge ist jedoch, dass sie – ungeachtet aller Unterschiede – Diversität als Ressource verstehen. Dies mag u. a. der Tatsache geschuldet sein, dass die Diversity Studies ebenso wie Konzepte des Diversity-Management aus den am Gleichheitsprinzip orientierten Anerkennungskämpfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen hervorgegangen sind.

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Diversity-Konzepte betrachten die Vielfalt der Kulturen als Reichtum und Potenzial, sehen jedoch auch deren Konfliktpotenzial. In Nordamerika wurden die Debatten um die Bedeutung von Diversität für die Gestaltung von Bildungsprozessen und die Organisation von Bildungsinstitutionen – ausgelöst durch die sozialen Bewegungen (etwa der Frauenbewegung oder der schwarzen Bürgerrechtsbewegung) – bereits seit den 1970er und 1980er Jahren geführt. Als Resultat sind Konzepte von „multicultural education“, „culturally responsive education“ oder eben auch „diversity education“ entstanden, die heute zum festen Bestandteil von Lehrerausbildung, Rahmenplänen, Curricula, Unterrichtspraxis und Schulentwicklung gehören (vgl. Applebaum 2002). Im deutschsprachigen Raum lässt sich seit Mitte der 1990er Jahre eine Verdichtung der erziehungswissenschaftlichen Diskurse um Diversity beobachten. Zu Beginn der Jahrtausendwende nimmt die Theoretisierung von Differenz – in der Auseinandersetzung mit Intersektionalität – nochmals Fahrt auf (vgl. Lutz/Wenning 2001; Krüger-Portratz/Lutz 2002). Die „erziehungswissenschaftliche Entdeckung der Differenz“ (Mecheril/Plößner 2009: 1) ist mit der Aufforderung verbunden, Differenz anzuerkennen, d. h. die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in der Gestaltung von Bildungsprozessen angemessen zu berücksichtigen. In der Folge entstanden pädagogische Konzepte, die Differenz zu ihrer zentralen Bezugsgröße machten: etwa die feministische Pädagogik, die integrative Pädagogik und die interkulturelle Pädagogik. Diese drei an jeweils einer Differenzlinie (Geschlecht, Behinderung, Kultur und Sprache) festgemachten Zugänge zum pädagogischen Handlungsfeld werden im Kontext von Diversity Education miteinander verbunden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwurf einer „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1995).

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Diversity Education basiert auf der Annahme, dass jeder Mensch durch seine individuelle Lebensgeschichte einzigartig und heterogen im Vergleich zu anderen Menschen ist (vgl. Prengel 2007: 56ff.). Es geht daher im Kern um die Ermöglichung einer vollständigeren Entfaltung jedes Einzelnen. Die Vielfalt und Individualität jedes Einzelnen soll gefördert, vielfältige Zugänge zu Bildung eröffnet und möglichst umfassende Partizipation in allen Lebensbereichen ermöglicht werden. Daher werden die Anerkennung und Wertschätzung von individueller und kollektiver Vielfalt ebenso groß geschrieben wie die Vermeidung struktureller Ausgrenzung (vgl. Nestvogel 2008). Indem Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Zugehörigkeiten von Individuen und Gruppen gleichzeitig adressiert werden, soll Diversity Education für Vielfalt sensibilisieren, möglichen Konflikten vorbeugen und entstandene Konflikte konstruktiv lösen helfen.

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Der multidimensionale Prozess der Globalisierung mit seinen ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen hat das Verhältnis von Lokalem, Regionalem, Nationalem und Globalem auf so radikale Weise verändert, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse in Zukunft nicht ohne eine Reflexion auf diese Entwicklungen gedacht werden können (vgl. Georgi 2008). Damit gewinnt der Erwerb von Handlungsorientierung in und für eine globalisierte Welt an enormer Bedeutung. Im Zeitalter von Globalisierung und Migration pluralisieren sich Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster in rasanter Geschwindigkeit. Steven Vertovec hat hierfür den Begriff „Superdiversity“ (2007) in die Debatte eingeführt. Mit diesem verweist er auf die Komplexitätssteigerung sich überschneidender Formen von Unterschiedlichkeit bereits existierender Formen sozialer und kultureller Vielfalt und macht dabei u. a. deutlich, dass auch Zuwanderung höchst heterogen ist. Im Spiel sind ganz vielfältige Dimensionen von Differenz, etwa die Wanderungsmotivation, der individuelle Bildungshintergrund, der aufenthaltsrechtliche Status, die religiöse Zugehörigkeit, die beruflichen Qualifikationen, die Beziehungen zum Herkunftsland und die Generationszugehörigkeit. Der Bildungsforscher Asit Datta überführt diese Heterogenitätsdimensionen in das Konzept der Transkulturalität, „welches über den traditionellen Kulturbegriff hinaus- und durch die traditionellen Kulturgrenzen hindurchgehe und auf die interne Pluralität der Individuen verweise, deren Aufgabe es sei, Kultur subjektiv zu konstruieren“ (Datta 2010: 157). Die unaufhaltsame Ausdifferenzierung heutiger Gesellschaften bringt hybride und transkulturelle Identitäten, Wahrnehmungen, Konstruktionen und Zuschreibungen von Fremdheit und Fremden sowie neue For-

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men kollektiver Zugehörigkeit und Ethnizität hervor. Dabei geben komplexe Konzepte wie Ambiguität, Unbestimmtheit und Nicht-Wissen den Ton an. Erziehung zum Umgang mit Differenz und Gleichheit muss daher häufig mit Privilegien verbundene gewohnte Denk- und Handlungsmuster irritieren, dazu anleiten, Perspektivwechsel vollziehen zu können, eigene Standpunkte und „Gewissheiten“ über die Anderen kritisch zu hinterfragen und das Nichtwissen über die anderen als Grenze des Verstehens zu akzeptieren. Die neuen Mehrfachzugehörigkeiten setzen körper-orientierte, räumlich-orientierte und ökonomisch-orientierte Differenzkategorien in ein je spezifisches Verhältnis zueinander. Kulturelle Bildung erlaubt hier ein vielfältiges und multiperspektivisches Erkunden dieser neuen Zugehörigkeits- und Anerkennungsverhältnisse. Zugleich hat sie das kreative und kritische Potenzial auf die Wirkungsmacht diskursiv erzeugter sprachlicher, kultureller und sozialer Differenzsetzungen und Verwerfungen hinzuweisen und Prozesse des „Othering“ zu thematisieren. Das ist hochbedeutsam, weil Erziehungsund Bildungsprozesse, die in einer auf Differenzen basierenden gesellschaftlichen Architektur verankert sind, Ungleichheiten (re)produzieren, wenn diese Differenzen nicht erkannt und anerkannt werden. Diversity Education ist im „Kampf um Anerkennung“ (Gutmann 2004) entstanden und muss bis heute dort verortet werden, denn einerseits geht es um Anerkennungskämpfe bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als „different“, andererseits geht es aber auch um einen Kampf gegen die Zuschreibungen von Andersheit (vgl. Prengel 2013: 11; Fuchs 2007: 22). Man kann in diesem Zusammenhang von einem Dilemma sprechen, weil auch der Diversity-Ansatz die Zuschreibung von Differenzen über Identitäten nicht aufheben und Diskriminierungen nicht verhindern kann (vgl. Plößner/Mecheril 2009: 10). Da dieses Dilemma nicht aufgelöst werden kann, stehen Ansätze der Diversity Education immer vor der Herausforderung, die im Zuge der Anerkennung und Förderung von Diversity in Bildungsprozessen und Bildungsinstitutionen initiierten Lern- und Entwicklungsprozesse stets aufs Neue selbst- und machtkritisch zu reflektieren.

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Historisch betrachtet waren es also die verschiedenen sozialen Bewegungen, die die systematische Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Diversität entscheidend prägten und prägen. Durch sie wurden Perspektivwechsel, Gesellschaftsanalysen, empirische Forschung und Theorien hervorgebracht, die wir heute unter dem Sammelbegriff Diversity Studies diskutieren (vgl. Krell et al. 2007). Zu diesen gehören die Gender-, Disability-, Queer- und Postcolonial Studies sowie ver-

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schiedene Strömungen der Cultural Studies. Es gehört zum Verdienst der mit diesen Theorierichtungen verbundenen sozialen Bewegungen, die gesellschaftlichen Differenzverhältnisse grundlegend mit Bezug auf Macht und Ungleichheit thematisiert und untersucht zu haben (vgl. Mecheril/Plößner 2009: 1). Dabei haben die genannten sozialen Bewegungen stets auch die künstlerische Praxis in den Dienst ihrer Sache gestellt, um ihre Anliegen auf vielfältige und „authentische“ Weise in den öffentlichen Raum zu tragen. Es ging darum, auf die gesellschaftliche Marginalisierung, die Diskriminierung und die unzureichenden Repräsentationen von „people of color“, Frauen, Homosexuellen und Behinderten aufmerksam zu machen, aber auch darum, als Kulturschaffende anerkannt zu werden. Als Beispiele seien hier die im Zuge der Frauenbewegung entstandene feministische Kunst (vgl. Schor 2015; Robinson 2015; Kaiser 2013), die künstlerischen Ausdrucksformen und Einflüsse des Civil Rights Movement in den USA (vgl. hierzu etwa Meili 2011) oder auch die Crip- oder Disability Culture (vgl. Brown 2013; Gill 1995) genannt, die mannigfaltige Kunstformen behinderter Künstler*innen hervorgebracht hat. Eine diversitätsbewusste Kulturelle Bildung kann hier anschließen, indem sie nicht nur das historische Gewordensein dieser künstlerischen Hervorbringungen thematisiert, sondern zugleich künstlerische Handlungsräume für Kinder und Jugendliche eröffnet. Durch darstellendes Spiel, Tanz oder Film können Heranwachsende sich selbst kreativ zu unterschiedlichen Aspekten kollektiver und individueller Vielfalt verhalten sowie persönliche Bezüge, Widersprüche, Ambivalenzen und Herausforderungen „inszenieren“. Hierzu lassen sich zahlreiche Beispiele aus dem Schullalltag finden, etwa wenn Schüler*innen einer Gemeinschaftsschule eine Comedy Show zum Thema Coming-Out entwickeln, Schüler*innen einer Stadtteilschule ein eigenes Musical zum Thema Islamophobie auf die Bühne bringen, Berufsschüler*innen einen Dokumentarfilm zum Thema „Vielfalt am Arbeitsplatz“ drehen oder Schüler*innen einer Förderschule, ihre körpergroßen Zeichnungen zu eigenen Ausgrenzungserfahrungen in der Fußgängerzone ausstellen und mit den Passant*innen diskutieren. Solche künstlerischästhetisch-musischen Bildungsprojekte ermöglichen es Kindern und Jugendlichen, unterschiedliche Zugänge, Methoden und Perspektiven zu erproben, sich selbst darzustellen, aber auch in andere Rollen zu schlüpfen und dabei über das Verhältnis von Differenz und Gleichheit zu reflektieren. Kurz: Die Kulturelle Bildung verfügt über ein großes Potenzial zur Wahrnehmung, Thematisierung und Reflexion von Verschiedenheit.

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Diversity-Ansätze helfen uns, den Blick für die komplexen Zusammenhänge zu schärfen, in denen soziale, geschlechtliche, kulturelle, sprachliche und religiöse Unterschiede produziert und reproduziert werden. Sie ermöglichen es, individuelle und kollektive Differenz gleichermaßen zu thematisieren sowie die jeweils spezifischen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu reflektieren, die gesellschaftliche Unterscheidungen, Repräsentationen und Zuschreibungen beeinflussen. Die Kulturelle Bildung kann hier in besonderer Weise dazu beitragen, die Vielfalt und Individualität jedes Einzelnen zu fördern und vielfältige Zugänge zu Bildung zu eröffnen, indem sie sich künstlerischer Mittel bedient und damit einen kreativen, zuweilen auch spielerischen, experimentellen Umgang mit gesellschaftlicher und individueller Diversität ermöglicht. „Dies bedeutet in einer Lebenswelt zunehmender kultureller Vielfalt auch die Bereitschaft und Neugier, sich mit dem eigenen kulturellen Hintergrund ebenso wie mit dem Fremden und Anderen auseinanderzusetzen“ (Kultusministerkonferenz 2013: 2). Wie dies konkret aussehen kann, soll an drei Projektskizzen aus dem pädagogischen Handlungsfeld Schule aufgezeigt werden.1 Beispiel 1 Eine Grundschule beschäftigt sich intensiv mit religiöser Vielfalt in der deutschen Migrationsgesellschaft. Um diese sichtbar zu machen, werden die religiösen Bräuche unterschiedlicher Religionsgemeinschaften durch das Nachspielen von Familiensituationen mittels darstellenden Spiels erkundet. Zusätzlich werden Personen verschiedener Religionsgemeinden interviewt und auf das jeweilige Fest bezogene Lieder gehört und eingeübt, wobei auch die Mehrsprachigkeit der Kinder berücksichtigt wird. Die Vielfalt religiöser Orientierungen wird durch die gezielte Einbindung darstellenden Spiels und musikalischer Zugänge für die Kinder erlebbar. Überdies werden auch Mischformen bestimmter Feste wie „Weihnukka“ (Kugelmann 2005) zum Thema gemacht und dazu eine Ausstellung im Museum be-

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Die Beispiele aus der schulischen Praxis sind unterschiedlichen Forschungs- und Praxiskooperationen des Zentrums für Bildungsintegration an der Stiftung Universität Hildesheim entnommen. Die Skizzen sind zwecks Anonymisierung leicht verfremdet worden.

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sucht. Dies führt zu einer intensiven Reflexion der Frage von eindeutiger religiöser Zugehörigkeit und eröffnet eine Sowohl-als-auch-Perspektive. So berichten z. B. muslimische Schüler*innen, dass sie zuhause neben den islamischen Festen, auch Weihnachten feiern. Beispiel 2 Eine Gymnasialklasse beschäftigt sich im Rahmen einer Projektwoche mit der Diskriminierung von Minderheiten während des Nationalsozialismus in Deutschland und gestaltet gemeinsam mit Schüler*innen einer Förderschule und mit dem Stadtmuseum einen inklusiven Erinnerungspfad. Die Informationstafeln sowie auch selbst entwickelte „Denkmäler“ werden von den Schüler*innen mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln gestaltet (literarische Texte, Gedichte, Zeichnungen, Fotokollagen, Bildhauerei, Holzarbeiten). Die Texte werden in mehrere Sprachen übersetzt, auch in leichte Sprache und in die Blindenschrift Braille. Beispiel 3 Eine Berufsschule mit einer hohen Zahl von neuzugewanderten Jugendlichen, die aus ihren Herkunftsländern nach Deutschland geflohen sind, will den Jugendlichen Raum geben, um ihre Geschichten zu erzählen. Zwei ehrenamtlich tätige Theaterpädagog*innen, eine arabischsprachige Sozialpädagogin und die Leiterin der Theater-AG der Schule arbeiten ausschließlich mit den größtenteils unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen an einem biografischen Theaterstück, in dem es vor allem um das Ankommen in Deutschland und um Erfahrungen zwischen Kulturschock, Willkommenskultur und Stigmatisierung geht. Die Jugendlichen entwickeln die Inhalte, gestalten die Bühnenbilder und spielen die Rollen. Sie führen das Stück – aufgrund des Erfolgs – nicht nur an ihrer Schule, sondern an anderen Schulen in den umliegenden Kommunen auf. Die Beispielskizzen sollen aufzeigen, in welchem Maße Diversity Education und Kulturelle Bildung wechselseitig voneinander profitieren können: Die Vielfalt und Breite der Zugänge in der Kulturellen Bildung (Musik, darstellendes Spiel, Skulpturen, Zeichnungen, Film) bewirkt einerseits, dass den unterschiedlichen Bedürfnissen der Lernenden (etwa Lernertypen) besser Rechnung getragen werden kann. Zum anderen können die jeweiligen Lerngegenstände (etwa Religion) multiperspektivisch und kreativ bearbeitet und durchdrungen werden. Die hier skizzierten Schul- und Unterrichtsprojekte schaffen daher einzigartige Reflexions-, Experimentier- und Gestaltungsräume. In Beispiel 1 erleben und reflektieren die Lernenden unterschiedliche religiöse Orientierungen, Rituale und Bräuche; in Beispiel 2 entwickeln Schüler*innen mit und ohne Behinderung ein multimediales

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inklusives Konzept historischen Lernens und setzen sich dabei mit Diskriminierung auseinander; in Beispiel 3 experimentiert eine höchst vulnerable Gruppe von Schüler*innen (geflüchtete Jugendliche) im darstellenden Spiel mit identitär bedeutsamen Fragen von Selbst- und Fremdzuschreibungen in Deutschland. Kulturelle Bildung und Diversity Education sind ein integrales, notwendiges Element von Allgemeinbildung und sollten deshalb in der Schulpraxis, aber auch in der Lehrer*innenbildung mehr Raum einnehmen. Bereits 1996 verabschiedete die Kultusministerkonferenz (KMK) erstmals Empfehlungen zu Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Darin wurde interkulturelle Bildung und Erziehung nicht auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund reduziert, sondern als „neue Allgemeinbildung“ definiert. In den überarbeiteten Empfehlungen von 2013 wird interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz und Querschnittsaufgabe ausgewiesen und als ein wichtiges Ziel von Schulentwicklung und Schulqualität benannt. Dass die Diversity-Perspektive hier Einzug gehalten hat, lässt sich an Überschriften wie „Schule nimmt Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle wahr“ festmachen (vgl. Kultusministerkonferenz 2013a). Zeitgleich publiziert die Kultusministerkonferenz ihre überarbeitete Version der Empfehlung zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung2, in der die Bedeutung Kultureller Bildung sowohl für die Entfaltung von kreativen Potenzialen und Persönlichkeitsentwicklung als auch für gesellschaftliche Inklusionsprozesse von Kindern und Jugendlichen betont wird (vgl. Kultusministerkonferenz 2013b). Mit Blick auf die Bildungsherausforderungen des 21. Jahrhunderts markieren beide KMK-Empfehlungen, wie bedeutsam die Entwicklung von Handlungsorientierung für eine pluralisierte Gesellschaft und globalisierte Welt ist. Diversity Education und Kulturelle Bildung können hier einen entscheidenden Beitrag leisten. Ein besonderes Potenzial für die Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung, die Partizipation und die Inklusion Heranwachsender liegt dabei zweifelsohne in der Verknüpfung von Diversity Education und Kultureller Bildung. Damit ergeht gewissermaßen der (wechselseitige) Auftrag, sich noch stärker als bisher dem systematischen Ausloten von Synergien in der Gestaltung von Bildungsprozessen zuzuwenden.

L ITERATUR Allemann-Ghionda, Cristina (2012): Bildung für alle. Diversität und Inklusion. Paderborn.

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Die erste Fassung wurde 2007 veröffentlicht.

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Das junge Publikum Erkenntnisse der empirischen Teilhabeforschung T HOMAS R ENZ

Ohne Publikum macht Theater keinen Sinn. Die Theaterwissenschaft kommt ohne Rezipienten nicht aus, denn es ist immer „der Zuschauvorgang, der das Wahrgenommene zum Theater macht“ (Balme 1999: 129). Die Betriebswirtschaftslehre interessiert sich dafür, die Auslastung eines Theaters zu erhöhen und betrachtet in der Marktforschung daher die Zuschauer*innen und deren Bedürfnisse und Motive unter einem ökonomischen Blick genauer. Und aus Perspektive der Sozialforschung wird untersucht, welche gesellschaftlichen Gruppen ins Theater kommen und welche eben nicht. Empirische Forschung liefert für solche Fragestellungen entsprechende Daten und Antworten (vgl. Glogner-Pilz 2012). In quantitativ standardisierten Untersuchungen wird die gesamtgesellschaftliche Teilhabe abgebildet und dargestellt, welcher Anteil der Bevölkerung und vor allem welche sozialen Gruppen oder Milieus ins Theater kommen. Qualitative Studien zeigen zudem, welche Barrieren potenzielle Besuche verhindern, was die Motive und Ansprüche der Zuschauer*innen sind und welche Aspekte grundsätzlich Interesse am Theater fördern. In den 1990er Jahren war solch ein empirisches Interesse an der bzw. am Zuschauer*in aufgrund der sich verändernden ökonomischen Verhältnisse von öffentlich geförderten Theatern in Deutschland stark betriebswirtschaftlich geleitet. Es ging dann darum, mehr über das eigene Publikum zu erfahren, um dieses im besten Falle häufiger in die Vorstellungen zu locken (z. B. Müller-Wesemann 1995). Gegenwärtig werden empirische Studien zum Theaterpublikum allerdings zunehmend unter dem Begriff der Teilhabe (vgl. Renz 2016, Mandel 2016) und daraus resultierend vor dem Hintergrund der Idee von Teilhabegerechtigkeit verhandelt (vgl. Bartelheimer 2007). Es geht also nicht darum, nur den Laden mit möglichst vielen zahlenden Zuschauer*innen vollzukriegen. Vielmehr wird hinterfragt, welchen Gruppen – im Sinne von Exklusion – durch gesellschaftliche

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Mechanismen der Weg ins Theater versperrt ist und wie andere Gruppen den Weg zum Theater fanden und finden. An solche wissenschaftlichen Erklärungen knüpfen auch kultur- und theaterpolitische Konsequenzen in der Tradition einer „Kultur für alle“ (Hoffmann 1981) an. Dann geht es darum, durch visionäre Strategien und konkrete Instrumente die Teilhabe an Theater einem möglichst großen und sozial diversen Adressatenkreis zugänglich zu machen. Im Folgenden werden daher die bestehenden empirischen Erkenntnisse zum Theaterpublikum, insbesondere zu jungen Zuschauer*innen dargestellt. Es werden besuchsverhindernde Barrieren diskutiert und es wird erläutert, welche empirisch überprüften Aspekte Teilhabe und daraus resultierend Teilhabegerechtigkeit prinzipiell fördern. Die Ausführungen schließen mit Überlegungen, welchen grundsätzlichen Nutzen die Aktivitäten von Theaterpolitik (z. B. Schneider 2013) und Theatermanagement (z. B. Schmidt 2012) aus solchen Erkenntnissen empirischer Sozialforschung ziehen können.

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Der empirische Blick auf das Theaterpublikum zeigt immer auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen auf. In den letzten dreißig Jahren haben unter anderem demografischer Wandel und Globalisierungsprozesse zu einer enormen Ausdifferenzierung der Gesellschaft geführt, was nicht ohne Folgen für Kultureinrichtungen blieb. Theater haben ihre Funktion als Leitmedium der Gesellschaft mehr und mehr verloren (vgl. Wagner 2004) und müssen jeden Abend neu um Aufmerksamkeit auf einem diversen Freizeitmarkt und gegen andere kulturelle Praktiken, wie beispielsweise Kino und Onlinemedien, kämpfen. Auch nehmen seit den 1990er Jahren die Besucherzahlen von öffentlich geförderten Theatern in Deutschland kontinuierlich ab (vgl. Deutscher Bühnenverein 2012), wohingegen das gesamte (auch öffentlich geförderte) Angebot an Kulturveranstaltungen gewachsen ist (vgl. Glogner-Pilz/Föhl 2016). Diejenigen, die ins Theater kommen sind empirisch durch bevölkerungsübergreifende Studien (z. B. Keuchel/Wiesand 2006) und Untersuchungen zum Publikum einzelner Theater (z. B. Tauchnitz 2000) recht gut erfasst. Solche Erkenntnisse sind in Sekundäranalysen aufgearbeitet (vgl. Föhl/Nübel 2016; Renz 2016) und erlauben eine recht gesicherte, empirische Beschreibung des typischen Publikums öffentlich geförderter Theater. In Bezug auf soziodemografische Merkmale zeichnet sich dieses insbesondere durch hohe Bildungsabschlüsse aus. Unter typischen Theaterbesucher*innen sind zudem überdurchschnittlich viele ältere Menschen und mehr Frauen als Männer (vgl. Mandel/Renz 2016). Der Anteil der Kernbesucher*innen, die neben Theatern auch regelmäßig und intensiv andere Kultursparten besuchen, liegt bei etwa 10% der

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Bevölkerung. Circa 40% der Bevölkerung kann den Gelegenheitsbesucher*innen zugeordnet werden, welche sporadisch Theater besuchen. Etwa 50% der deutschen Bevölkerung zählt zu den Nicht-Besucher*innen von Theatern, Museen und anderen öffentlich geförderten Kultureinrichtungen (vgl. Renz 2016). Die bekannten deutschsprachigen empirischen Forschungen zu Theaterbesucher*innen sind überwiegend Querschnittuntersuchungen, also in sich geschlossene Momentaufnahmen ohne Zeitvergleiche. Das bedeutet, dass die erkenntnisleitenden Fragen temporär einmal gestellt werden und dadurch keine Aussagen über Veränderungen im Zeitverlauf möglich sind. Ausnahmen stellen punktuell die Studien dauerhaft arbeitender Forschungsinstitute dar, welche in ihren Untersuchungen auch Zeitvergleiche vornehmen. Das Zentrum für Kulturforschung zeigte beispielsweise in den regelmäßig durchgeführten KulturBarometern, „dass die Gesellschaftsgruppen, die sich für einzelne Kultursparten mobilisieren lassen, wieder kleiner werden“ (Keuchel/Wiesand 2006: 76). In dieser Reihe entstanden auch bereits zwei Jugend-KulturBarometer (vgl. Keuchel/Wiesand 2006; Keuchel/Larue 2012). Indem viele Fragen ein paar Jahre später im gleichen Wortlaut gestellt wurden, sind interessante Zeitvergleiche möglich – nach Susanne Keuchel „ein extrem seltener Luxus“ (Keuchel 2014: 64) der Besucherforschung. Angesichts des nach dem PISA-Schock gestiegenen wissenschaftlichen Interesses an Kultureller Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (vgl. Bockhorst et. al. 2012), sowie einer Zunahme entsprechender Bildungsangebote von Theatern und anderen Kultureinrichtungen für junge Menschen (vgl. Keuchel/Weil 2010), ist der empirische, zeitvergleichende Blick auf die Teilhabezahlen besonders interessant. Es mag überraschen, dass 2012 im 2. Jugend-KulturBarometer das Interesse von Jugendlichen an Kulturangeboten im Vergleich zur Erhebung von 2006 insgesamt leicht abgenommen hat (vgl. Keuchel/Larue 2012: 43). Zwar ist der Anteil derjenigen Befragten, die noch nie einen Kulturbesuch im Allgemeinen unternommen haben, auf 12% gesunken (ebd.: 43), werden allerdings die Besuche einzelner Kultursparten im Einzelnen differenzierter betrachtet so fällt schnell auf, dass dieser – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erfreuliche Wert – stark durch populäre Kulturaktivitäten in den Sparten Film und Musik, ferner auch Museen geprägt wird. Der Anteil der 14- bis 24-Jährigen hingegen, die Theaterveranstaltungen noch nie besucht haben, lag 2012 im modernen Theater bei 69%, im Kabarett bei 81% und im experimentellen Theater sowie in der Oper bei jeweils 85% (ebd.: 30). Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass in Bezug auf Teilhabegerechtigkeit theaterpolitisch noch einiges zu tun wäre.

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B ESUCHSVERHINDERNDE B ARRIEREN Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, welche Barrieren potenzielle Theaterbesuche von Kindern und Jugendlichen (und weiter auch von Erwachsenen) verhindern. Barrieren, die von Theatern selbst ausgehen, sind in der Forschung am einfachsten identifizierbar. Das Vorhandensein einer Kultureinrichtung in einigermaßen erreichbarer Nähe ist grundsätzliche Voraussetzung für Kulturbesuche (vgl. Europäische Kommission 2007: 17). Neben der Problematik, nach dem Besuch einer kulturellen Veranstaltung wieder nach Hause zu kommen (vgl. Gerdes 2000: 13), ist in diesem Kontext vor allem die in Deutschland existierende Diskrepanz in der kulturellen Infrastruktur zwischen ländlichen und urbanen Räumen relevant. Die Landbevölkerung besucht entsprechend seltener Kulturveranstaltungen (vgl. Opaschowski 2005: 212), allerdings ist die bloße Existenz einer Kultureinrichtung noch lange keine Garantie für Besuchsaktivitäten der ansässigen Bevölkerung. Von allen bekannten Studien wird der Eintrittspreis als relevante, oft auch als primäre Barriere benannt (z. B. Kirchberg 2005: 292). Von Seiten der Theater wären kostenlose Angebote oder zumindest Preisvergünstigungen denkbar. Immerhin wünschen sich über 80% der Europäer*innen kostenlose Kulturangebote (vgl. Europäische Kommission 2007: 57). Interessant ist in diesem Kontext aber die vor allem bei Nicht-Besucher*innen verbreitete Unkenntnis der Eintrittspreise öffentlich geförderter Kultureinrichtungen. Bereits Rainer Dollase hat in den 1980er Jahren empirisch nachgewiesen, wie stark der Subventionsbetrag für klassische Konzerte von der Bevölkerung unterschätzt wird (vgl. Dollase 1986: 56), was sich bis heute nicht geändert zu haben scheint (vgl. Keuchel/Wiesand 2006: 81). Deshalb führt eine bloße Preisreduzierung nicht automatisch zur Aktivierung dadurch anvisierter Zielgruppen mit niedrigem Einkommen. Susanne Keuchel kommt in der Rheinschienen-Untersuchung zum Schluss, dass „attraktive Preisvergünstigungen […] vor allem von den schon erreichten Zielgruppen sehr positiv aufgenommen“ (Keuchel 2003: 227) werden. Sollen Preisbarrieren abgebaut werden, um bisherige Nie-Besucher*innen zu aktivieren, so sollte dies mit einer offensiven Kommunikationspolitik verbunden werden. Dementsprechend kann auch bereits eine unpassende Kommunikation der kulturellen Angebote eine besuchsverhindernde Barriere darstellen. Eine der wenigen verbandspolitisch intendierten Nicht-Besucherstudien vom Deutschen Bühnenverein zeigt zum Beispiel, dass gerade einmal 16% der dort befragten Jugendlichen dem Satz „das Theater bemüht sich aktiv, mich über das Programm zu informieren“ (Deutscher Bühnenverein 2003: 4) zustimmen. Damit die Kommunikati-

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onspolitik von Theatern Einfluss auf die Entscheidungsfindung dieser Zielgruppen nehmen kann, müsste das Informationsverhalten von Nie-Besucher*innen berücksichtigt werden. Bei Nie-Besucher*innen überwiegt tendenziell „ein situativ, spontanes Informationsverhalten“ (Frank et al 1991: 217) und die Mund-zuMund-Propaganda hat einen noch höheren Stellenwert als bei der Gesamtbevölkerung. Nicht-Besucher*innen mit niedriger Schulbildung scheinen durch die klassische Medienarbeit, z. B. im Kulturteil von Tageszeitungen, nicht erreicht werden zu können (vgl. Keuchel 2003: 101). Das Kunstwerk bzw. das künstlerische Angebot selbst war bislang selten im Sinne einer Barriere Gegenstand der empirischen Publikumsforschung. Tendenziell schrecken Nicht-Besucher*innen vor Verständnisschwierigkeiten zurück (vgl. Klein et al. 1981: 198) und lehnen moderne Ästhetik im Theater ab (vgl. Deutscher Bühnenverein 2003:16). Allerdings beruhen diese Zuschreibungen weniger auf dem tatsächlichen Kulturangebot und mehr auf subjektiven Imagezuschreibungen. Ein solches negative Image bildet sich „aus der Summe aller positiven und negativen Einstellungen gegenüber den einzelnen Leistungsbestandteilen“ (ButzerStrothmann et al. 2001: 62) einer Kultureinrichtung heraus. Klassischen Kultureinrichtungen und ihren Veranstaltungen wird mehrheitlich ein Image als Bildungseinrichtung zugeschrieben (vgl. Mandel 2005) ohne dass dies positiv konnotiert wird. Vor allem stellt die Zuschreibung von „langweilig“ (Keuchel/Wiesand 2006: 87) eine besuchsverhindernde Barriere dar. Anders als in älteren Studien ergibt sich aus einem potenziellen Kleiderzwang in Theatern derzeit keine Barriere mehr, obgleich dieser noch bemerkt wird (vgl. Damas 1995: 102). Ausgehend vom hohen Stellenwert von Kulturbesuchen als soziale Aktivität stellt auch fehlende Begleitung, die auf mangelndes Interesse im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zurückzuführen ist, eine relevante Barriere dar (vgl. Deutscher Bühnenverein 2003: 4; Renz 2016: 226). Ebenfalls sehr subjektiv in der Bewertung ist der Faktor Zeit. Fehlende Zeit ist als besuchsverhindernde Barriere in allen Sparten relevant (vgl. Europäische Kommission 2007:17). Der Umfang von Freizeit steht dabei nicht zwingend im Zusammenhang mit der Intensität des Interesses und der Nutzung (vgl. Frank et al 1991:197). Fehlende Zeit für potenzielle Theaterbesuche entsteht auch durch alternative Freizeitaktivitäten. Wenn also z. B. der neueste Blockbuster im Multiplexkino, der abendliche Besuch im Fitnessstudio oder einfach ein gemütlicher Fernsehabend wichtiger als der Besuch einer öffentlich geförderten Kultureinrichtung ist, dann kann ein Denken in Barrieren vielleicht gar nicht greifen. Denn wo keine Motivation existiert, da kann diese auch nicht durch Barrieren unterbrochen werden.

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M ERKMALE

VON

T EILHABEGERECHTIGKEIT

Woran liegt es nun, dass viele Menschen überhaupt keine Grundmotivation haben, das öffentlich bereit gestellte Kulturangebot zu besuchen? Gerade vor dem Hintergrund von „Kultur für alle“ als Maxime von Kulturpolitik und Kulturbetrieb fällt auf, dass weite Teile der Bevölkerung die öffentlichen Theater nicht nutzen und dies nicht nur auf persönliche Entscheidungen, sondern auch auf gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen ist, die auf eine „soziale Exklusion bestimmter Teile der Bevölkerung“ (Renz 2010: 250) hinauslaufen. Aus dieser Perspektive wird Publikumsforschung zur sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. Es geht dann darum, herauszuarbeiten ob „Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ‚wertvollen Gütern‘ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (Hradil 2001: 30). Anders als beim primär ökonomisch begründeten Interesse am Publikum in der betriebswirtschaftlichen Forschung, geht es hierbei nicht um eine quantitative Maximierung der Publikumszahlen, sondern vielmehr darum, zu fragen, welche gesellschaftlichen Gruppen an öffentlich geförderten Kulturveranstaltungen weniger teilhaben und auf welche Merkmale und Strukturen diese Exklusion zurückzuführen ist. Die Verortung dieser Fragestellung im Rahmen der sozialen Ungleichheitsforschung impliziert also die Haltung, das Nicht-Besuchen von Theatern nicht ausschließlich als freie Entscheidung der Individuen zu verstehen, sondern eine ungleiche Verteilung der Teilhabe immer als abbauwürdigen sozialen Missstand und als Exklusion bestimmter Gruppen der Gesellschaft von demokratischen Prozessen zu begreifen (vgl. Renz 2016). Alle repräsentativen Studien zum Kulturpublikum in Deutschland zeigen, dass Bildung der wichtigste Einflussfaktor auf kulturelles Interesse ist und ein hohes Kulturinteresse meist mit den formal höchsten Bildungsabschlüssen einhergeht (z. B. Frank et al. 1991: 254, 341; Keuchel 2003: 102). Im Umkehrschluss verfügen formal bildungsarme Menschen auch über wenig Wissen bezüglich der Rahmenbedingungen und des Ablaufs von Kulturveranstaltungen. Das trifft auch auf Jugendliche zu: Die Autoren des 2. Jugend-KulturBarometers kommen daher zum Schluss, dass kulturelle Teilhabe im engen Zusammenhang mit Schulbildung steht. Im Zeitvergleich habe „sich die Bildungsschere noch weiter geöffnet“ (Keuchel/Larue 2012: 82). Die Motivation zum Besuch kultureller Veranstaltungen wie Theater entsteht am ehesten in Kindheit und Jugend, wobei die Hinführung zu Kunst und Kultur durch die Eltern nachhaltigere Konsequenzen auf das Kulturinteresse hat als die Aktivitäten der Schulen (vgl. Mandel 2008: 28). Die Motivation kann sich im Verlauf des Lebens ändern, vor allem Berufseintritt oder eine Veränderung der familiären Situation kann zu einem Rückgang der

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Motivation führen (vgl. Renz 2016). Spätestens hier wird deutlich, dass die Motivation auf unterschiedliche Bedürfnisse zurückgehen kann: Kulturbesuche können auf dem Wunsch nach sozialer Interaktion, nach ästhetischem oder inhaltlichem Nutzen oder auch nach einer symbolischen Aufwertung basieren (vgl. Mandel 2008: 49). Die Motivation, Theater zu besuchen kann aber auch dann entstehen, wenn ein wie auch immer initiierter Besuch die eigenen Bedürfnisse nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung erfüllte und somit eine Relevanz für das eigene Leben erfahren wurde. Nicht-Besucher*innen haben dabei andere Präferenzen als das Stammpublikum von Kultureinrichtungen: Sie bevorzugen soziales Miteinander im Familienkreis und aktives Mitmachen (vgl. Hood 1983: 54).

K ONSEQUENZEN FÜR T HEATERPOLITIK T HEATERMANAGEMENT

UND

Welche praktischen Konsequenzen können aus solchen empirischen Analysen entwickelt werden? Entscheider*innen in Politik, Verwaltung und Management können ihre Planungen und Strategien auf diesem empirisch überprüften Status quo aufbauen. Voraussetzung für eine solche Diskussion von Konsequenzen ist eine wertbasierte Entscheidung, dass die vorgestellten Zahlen der prozentual geringen und auf bestimmte Bevölkerungsteile begrenzten Teilhabe am öffentlich geförderten Kulturleben überhaupt einer Veränderung bedürfen. Der Status quo der kulturellen Teilhabe in Deutschland wird dann als soziale Exklusion verstanden und Hoffmanns ursprüngliche „reale Utopie“ (Hoffmann 1981) zum Ziel oder Paradigma des Kulturbetriebs erhoben. Auf Ebene der Kulturpolitik kann der bereits geführte Diskurs über neues Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen auf eine Diskussion konkreter Instrumente einer zielorientierten und evidenzbasierten Politik gelenkt werden. Dazu zählen beispielsweise Steuerungsinstrumente wie Zielvereinbarungen, die (noch) nicht in allen Bundesländern genutzt werden (vgl. Renz 2016). Ziel könnte es sein, dass die Ansprache neuer oder bestimmter Zielgruppen als selbstverständlicher Teil der öffentlichen Kulturpflege verstanden werden würde und nicht – wie bisher – nur in zusätzliche und temporär beschränkte Extraprogramme ausgelagert oder gar an Stiftungen und Sponsoren delegiert wird. Auf Ebene des Marketings einzelner Theater kann es darum gehen, zukünftig (noch) kleinteiligere Zielgruppen zu definieren, um mit einem intensiven Segmentmarketing diese individuell anzusprechen. Entscheidet sich ein Theater jedoch für die Bearbeitung neuer Zielgruppen, zu denen auch bisher Nicht-Besucher*innen zählen, so muss dies auch von der Ebene der Führung der Organisation ausgehen. Denn eine solche Entscheidung kostet Ressourcen und ist nicht ausschließlich an das Marketing zu delegieren. Zum einen können durch

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individuelle Nicht-Besucherforschung offensichtliche Barrieren erkannt und abgebaut werden. Zum anderen können Kooperationen mit Multiplikatoren gesucht werden. Um diese neuen Zielgruppen auch nachhaltig an die eigene Einrichtung anzubinden, ist eine positive Rezeptionserfahrung unumgänglich. Kulturvermittelnde Angebote können diese unterstützen. Solche Aktivitäten werden auch Einfluss auf die Programme der Einrichtungen haben. Allein die Veränderung der Kommunikation wird vermutlich nicht zu einer dauerhaften Integration neuer Zielgruppen führen. Für öffentlich geförderte Theater stellt sich also die Frage, ob und wie sie auf diese Herausforderungen nach Ansprache neuer Zielgruppen im Sinne eines sozial ausgewogeneren Publikums reagieren und inwiefern sie bereit sind, sich selbst und ihre Angebote in Auseinandersetzung mit neuen Besucher*innen kritisch zu hinterfragen. Theater können sich bewusst dafür entscheiden, Brücken zu bisherigen Nicht-Besucher*innen zu bauen. Dann ginge es darum, die Diskrepanz zwischen bewusst und berechtigt anstrengend, komplex und mehrdeutig gestalteter Kunst auf der Seite der Produzierenden und den ebenfalls berechtigten Ansprüchen nach Unterhaltung und Erholung auf der Seite der NichtBesucher*innen zu überbrücken.

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Das Politische in der Kulturellen Bildung Warum gesellschaftliche Teilhabe und kritische künstlerischästhetische Auseinandersetzung zusammengehören A RON W EIGL

Kunst ist politisch. Sie ist es immer wieder und in vielerlei Hinsicht, wenn sich Künstler*innen mit politischen Themen auseinandersetzen. Sie ist es aber auch dann, wenn das Politische nicht thematisiert wird. Ohne es unbedingt zu wollen, wird Kunst politisch, wenn sie ästhetische Erfahrung in einem bestimmten sozialen Raum ermöglicht. Sie konstruiert, dekonstruiert, reflektiert und/oder transformiert soziale Wirklichkeit oder Utopie. Genau deshalb kann Kunst zu politischen Zwecken vereinnahmt werden. Sie kann genauso zur Distinktion verschiedener kultureller Welten, zur Verschleierung dieser Abgrenzungen oder zu deren transkultureller Verbindung beitragen. Entscheidend ist dabei weniger, welche Themen verhandelt werden, sondern vielmehr, auf welche Art und Weise dies geschieht. Kulturelle Bildung bietet einen Weg, diese Prozesse zu erkennen und zu verstehen, wenn sie grundsätzlich einer kritischen Betrachtung von eigenen und fremden Welten verpflichtet ist. Wie politisch ist Kulturelle Bildung dann? Und inwiefern dient sie politischen Motiven?

K ULTURELLE B ILDUNG

ALS

P OLITIK

Die grundsätzliche Programmatik von Kultureller Bildung ist politisch. Sie beinhaltet die Betonung von „Partizipation, Teilhabegerechtigkeit, Interkulturalität und Akzeptanz kultureller Vielfalt (‚cultural diversity‘) und eigenständiger Jugendkulturen, freiwilligem Engagement und Kultureller Bildung/Kulturvermittlung“ (Zacharias 2009: 244). Wenn jeder Art von Kultureller Bildung diese Ziele inhärent wären, so könnte ihr eine erhebliche politische Bedeutung für aktuelle

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Problemlagen zugemessen werden. Ist dem so? In der Tat fällt auf, dass wir im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in eine neue Phase des politischen Interesses an Kultureller Bildung eingetreten sind. Während nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse 2001 die Debatte einen Aufschwung erfuhr und bereits gegen Ende der Nullerjahre zwar ein klares politisches Bekenntnis zur Bedeutung von Kultureller Bildung für die Gesellschaft auf diversen Ebenen zu beobachten war, so fand dies noch nicht konsequenterweise seine Umsetzung in politischem Handeln. „Das politische Problem liegt wirklich in der Diskrepanz von Appell und Vollzug“ (ebd.: 246), stellt Zacharias noch 2009 fest. Dies lässt sich heute so pauschal nicht mehr behaupten. Auch wenn es noch an vielen Stellen an entsprechender Berücksichtigung fehlt, so lassen sich doch gewichtige Gegenbeispiele liefern. Wenn sich politisches Handeln in Zahlen ausdrücken lässt, so wurde mit Kultur macht stark ein bundesweites Förderprogramm aufgesetzt, das nicht nur, was den finanziellen Rahmen betrifft, seinesgleichen sucht. 2013 bis 2017 wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 230 Millionen Euro für das Programm zur Verfügung gestellt (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016a: 4). Die zweite Förderrunde von 2018 bis 2022 ist beschlossen. Es scheint, als wolle man die Folgen der eigenen Fehler der Vergangenheit bekämpfen, genauer: der Fehler der Kulturpolitik. Denn die Bildungspolitik hat bisher im Prinzip nur den Fehler der Nichteinmischung begangen. Kulturelle Bildung war bislang zumindest auf Bundesebene insbesondere Thema der Kulturpolitik im Rahmen von Förderungen von Modellprojekten, über Preise u.Ä. und der Jugendpolitik, z. B. im Rahmen des Jugendkulturaustauschs und der Verbandsförderung. Dass man nun in nicht unerheblichem Maße finanzielle Mittel für kulturelle Kooperationsprojekte bereitstellt, die bewusst bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche berücksichtigen, beschreibt einen deutlichen Wandel in der Bundesbildungspolitik. Eines der beiden Ziele des Programms umfasst die „Förderung von Maßnahmen der außerschulischen kulturellen Kinder- und Jugendbildung für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016b: 2). Dass dabei nicht einmal der Versuch unternommen wird, dem zugrundeliegenden Verständnis von Kultureller Bildung auf die Spur zu kommen1, relativiert diese Entwicklung allerdings. Es wäre auch auf politischer Ebene danach zu fragen, wie sich Kulturelle Bildung gestaltet. Welche Verständnisse von Kultur und Bildung werden mit ihr verknüpft? Inwiefern berücksichtigt

1

Dies ist eine erste Erkenntnis aus Gesprächen im Zuge einer laufenden Studie zu deutschlandweiten Förderstrukturen der Kulturellen Bildung, die EDUCULT/Wien im Jahr 2017 durchführt.

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und konstruiert bzw. dekonstruiert Kulturelle Bildung soziale Realität bzw. inwieweit verstärkt eine exklusive Zielgruppenorientierung die Marginalisierung? Was die Seite der Kulturpolitik betrifft, so waren die angestellten Bemühungen vor allem seit den 1970er Jahren nur bedingt erfolgreich. Das Ziel, kulturelle Teilhabe für alle zu ermöglichen, hat sich so nicht erfüllt (vgl. Sievers et al. 2009). Und auch im Jahr 2012 bezeichnet Schneider noch „‚Kultur für alle‘ als unabgegoltene Forderung“ (Schneider 2012: 370). Darüber hinaus ist zu vermuten, dass ein vielerorts missverstandenes „Kultur für alle“, das zur Unterstützung von partikularen kulturellen Interessen bestimmter sozialer Gruppen dienlich war, sogar dazu beigetragen hat, die Schere der kulturellen Teilhabe weiter zu öffnen. Dies wird unter anderem in den Ergebnissen des 2. Jugend-Kulturbarometers deutlich: „So ist der Anteil der wenig bzw. überhaupt nicht Kulturinteressierten unter den 14- bis 24Jährigen mit niedriger Schulbildung seit 2004 um 16 Prozentpunkte gestiegen. Auch künstlerisch-kreative Freizeitaktivitäten stehen 2010/11 in einer deutlichen Beziehung zur Schulbildung der 14- bis 24-Jährigen. Dabei kann im Zeitvergleich ebenfalls ein deutlicher Rückgang der künstlerischen Hobbyaktivitäten von acht Prozentpunkten bei den jungen Leuten mit niedriger Schulbildung beobachtet werden.“ (Zentrum für Kulturforschung 2012)

Es gibt zwei Weisen, wie auf diese Entwicklung zu reagieren wäre. Entweder würden die Bemühungen um eine „Kultur für alle“ weiter verstärkt werden, um das Ziel doch noch zu erreichen. Oder aber man würde anerkennen, dass dies rein definitorisch und mit den bisherigen Zugangsweisen nicht möglich ist, wie es Henschel formuliert: „‚Alle‘ wäre demnach ein Sollzustand, mithin ein Versprechen, das sich jedoch nie einlösen lässt. […] Totalinklusion als empirische Größe […] bleibt dann eine Möglichkeit der Rhetorik.“ (Henschel 2010: 189f.) Das bloße Postulieren von „kultureller Vielfalt“, die euphemistische Version eines Multikulturalismus, erweist sich aus demselben Grund als kontraproduktiv gegenüber der Erreichung von gesellschaftlicher Teilhabe. Die Anerkennung der kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaften ist unabdingbar. Sie führt aber – wird sie nicht weitergedacht, sondern lediglich zum politischen Paradigma stilisiert – zu einem Nebeneinander von Gemeinschaften, die es verlernen oder nicht erlernen, nicht nur das Andere zu akzeptieren, sondern sich auch mit der eigenen inhomogenen Verfasstheit innerhalb eines diversen Umfeldes auseinanderzusetzen. Will Kulturelle Bildung ein demokratisches Klima begünstigen, bedarf es mehr als die Förderung einzelner sozialer Gruppen und die Beschäftigung mit den je eigenen Problemlagen. Kulturelle Bildung muss endlich dort, wo sie es noch nicht ist, eine kritische Kulturelle Bildung werden, in der nichts – auch nicht die eigene Form – für gegeben akzeptiert, aber alles als möglich anerkannt wird.

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Kultureller Bildung werden diverse Wirkungen zugeschrieben. Kernargumente liefern immer wieder eine gute Basis, wenn z. B. in oder gegenüber der Politik erklärt werden soll, warum Kulturelle Bildung für die eine oder andere Sache nützlich und hilfreich ist. Dazu gehören auch Transfereffekte, die keinen Kunstbezug aufweisen, wie „Urteilsvermögen, soziale Kompetenzen, […] gesellschaftliches Denken und Gesellschaftsfähigkeit“ (Elbertzhagen 2010: 65). Die genannten Argumente stehen in direktem Bezug zu demokratischem Handeln, das ohne diese Kompetenzen nicht auskäme. Eine kritische Kulturelle Bildung weist allerdings nicht den Weg zur Urteilsfähigkeit im Speziellen, sondern legt das eigene System offen und befragt es kritisch. „Kritik ist immer die Kritik einer institutionalisierten Praxis […] und sie verliert ihren Charakter in dem Augenblick, in dem von dieser Tätigkeit abgesehen wird und sie nur noch als rein verallgemeinerbare Praxis dasteht.“ (Butler 2001) Wie aber kann dies gelingen? Wie kann sich Kulturelle Bildung in ihrer eigenen Praxis einer Selbstkritik unterwerfen und diese auf ihre Prozesse zurückspiegeln? Die Antwort liegt in der Verfasstheit der Künste als Medien Kultureller Bildung. Die künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung inkludiert stets sowohl das der Kunst Eigene, also ein bestimmter ästhetischer Ausdruck und dessen sinnliche Wahrnehmung, als auch die Rahmung in einem spezifischen sozialen Umfeld. Kunst kann nur in diesem ambivalenten Zustand existieren. Spricht man ihr die eine oder andere Sphäre ab, nutzt man sie beispielsweise auf der einen Seite als Mittel zu politischen Zwecken, so besteht das Ergebnis dieser Handlung nicht mehr aus der Kunst selbst, sondern aus ihrem Zweck. Das heißt aber auch, dass Kunst die – vielleicht einzige – Aufgabe hat, eben diese Einheit aus ästhetischer und gesellschaftlicher Sphäre in sich bevorzugt herzustellen. (Vgl. Weigl 2016: 53f.) Letztendlich hilft gerade die in ihrer Zielvorstellung unabhängig von thematisch orientierten Zwecken geformte Kunst dabei, der ästhetischen Auseinandersetzung ein kritisches Moment hinzuzufügen. Baecker, hier zwischen dem allgemeinen Kulturbegriff und Ästhetik unterscheidend, leitet systemtheoretisch her: „Wenn die Kultur Gesellschaft als richtig bezeichnet, so behält die Ästhetik zugunsten des sich selbst bestimmenden Individuums sich vor, diese Bezeichnung wie auch die Gesellschaft, der sie gilt, und die Kultur, der sie sich verdankt, als falsch zu bezeichnen.“ (Baecker 2001: 131)

Er formuliert damit die Möglichkeit ästhetischer Kommunikation, das sie selbst Konstituierende sowohl zu bestätigen als auch zu negieren.

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Das Künstlerische ist für Butler sogar eine Alternative zum herkömmlichen Urteilen, wenn sich Selbstbildung im „Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist“ (Butler 2001), vollzieht. Dann stellt sich die Frage: „Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen, ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zu Gunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen?“ (Ebd.)

Kunst ist dann kritische Praxis, wenn sie sich der eigenen, durch die Existenz in einem bestimmten System entstandenen Deformierung stellt. Künstlerisch-ästhetische Bildung ist nur dann kritische Bildung, wenn sie sich autonom mit den sie konstituierenden Welten auseinandersetzt. Das kann nur gelingen, wenn ihr zuallererst Zweckfreiheit, aber auch Uneinheitlichkeit zugesprochen wird, sie also zugleich in der ästhetischen und der sozialen Sphäre existiert, ohne dass dabei die eine oder die andere dominiert. Darüber hinaus wären sowohl die ästhetischen Mittel als auch die sozialen Bedingungen als nicht gegeben anzuerkennen und zu befragen. Im Rahmen des großangelegten Forschungsprojekts zum Freien Theater in Europa (vgl. Brauneck 2016) stellte sich heraus, dass der freien Kinder- und Jugendtheaterszene eine besondere Bedeutung bezüglich dieser beiden Sphären zukommt. Ihr wohnt „angesichts der von ihr beanspruchten ‚Freiheit‘ in der Wahl des methodischen Zugriffs und der Gestaltung des künstlerischen Arbeitsprozesses ein spezifisches Potenzial“ (Koch 2016: 473) inne. Koch spricht vom Potenzial, „kulturelle Bildungsangebote im Bereich der Partizipationsformate zu unterbreiten“ (ebd.: 473). Dabei wäre Partizipation als Teilhabe an künstlerischen Prozessen zu verstehen, ohne dabei rein rezeptive oder rein produktive Zugangsweisen vorzusehen. Die Förderrichtlinien der zweiten Phase Kultur macht stark von 2018 bis 2022 berücksichtigen dezidiert eine solche Verbindung von sinnlicher, reflektierender Rezeption und kreativer Produktion (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016b: 3). Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob die Unterstützung einer emanzipatorischen Gesinnung der freien Kinder- und Jugendtheaterszene für die Ermöglichung kultureller Teilhabe nicht bedeutsamer ist, als zeitlich begrenzte Bildungsprogramme, die mit künstlerischen Mitteln versuchen, Teilhabe zu ermöglichen, dabei aber bestehende Abgrenzungen manifestieren helfen, indem die soziale Sphäre politischen Kriterien genügen muss. Diese Kriterien selbst wären außerdem zu hinterfragen: Bräuchte es nicht neue Formen des Miteinanderlernens verschiedener sozialer Gruppen auf Basis einer gleichwertigen, nicht gleichen Behandlung? Denn wie Beispielprojekte im Rahmen von Kultur macht stark zeigen,

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wird durch den Fokus auf homogene Gruppen eine soziale Realität des Nebeneinanders erhärtet. Im Gegenzug können in gemischten Gruppen Synergien für alle Beteiligten entstehen und Untergruppen voneinander profitieren2. Oder wie es Mörsch formuliert: „Problematisch ist die Definition von Zielgruppen auch dann, wenn sie Zuschreibungen von Defiziten enthält. Dazu gehören die im Fachdiskurs der Kulturvermittlung häufig auftauchenden Kategorien ‚bildungsfern‘ oder ‚kulturfern‘. Solche Bezeichnungen setzen unhinterfragt voraus, dass geklärt ist, was ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘ jeweils bedeuten, wer sie hat und wer sie nicht hat. Angebote für auf diese Weise definierte Zielgruppen laufen so Gefahr, die Ungleichheit, die durch sie eigentlich bekämpft werden soll, zu verstärken.“ (Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste 2013: 45)

Zudem ist nicht geklärt, inwiefern sich Strategien von Theaterhäusern durch die Beteiligung an außerschulischen Kooperationsprojekten dahingehend ändern, auch über Kultur macht stark hinaus selbstbestimmte Kreativität für bislang unberücksichtigte Adressat*innen zu fördern und Bündnisse mit außerschulischen Partner*innen einzugehen. Der Blick müsste weg von Zielgruppenorientierung hin zur eigenen Verfasstheit wandern. Zu gelingen scheint dies nur dann, wenn einzelne Unterprogramme wie z. B. Wege ins Theater! eigene Kriterien aufstellen, die explizit die Entwicklung neuer künstlerischer Formate der Ansprache bzw. Beteiligung und die Rückwirkung ins Theater befördern sollen (vgl. ASSITEJ 2015)3. Wäre nicht angesichts dessen und der prekären Produktions- und Präsentationsbedingungen der freien Kinder- und Jugendtheater (vgl. Koch 2016: 499ff.) eine „tabulose Umverteilung der öffentlichen Kulturförderung“ (Schneider 2016: 621) notwendig?

T EILHABE

DURCH KRITISCHE

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Der 15. Kinder- und Jugendbericht appelliert auffallend deutlich an Politik und Institutionen, junge Menschen an demokratischen Prozessen zu beteiligen – vermutlich nicht zuletzt durch das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen.

2

So beschreibt z. B. Katharina Schneeweis in ihrem Beitrag in diesem Buch, wie in einer heterogenen Teilnehmer*innengruppe eines Projekts im Rahmen von ChanceTanz alle voneinander profitieren konnten.

3

Z. B. verdeutlicht Dagmar Domrös in ihrem Beitrag in diesem Buch, wie stark die beteiligten Künstler*innen ihre eigene Rolle, ihre Überzeugungen und Motive im Laufe des Projekts im Rahmen von Wege ins Theater! zu hinterfragen begannen.

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„Beteiligung Jugendlicher an für sie zentralen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen und damit die Stärkung ihrer Rolle als gesellschaftlich handelnde Akteure ist wesentlicher Teil einer demokratischen Gesellschaft. Das institutionelle Gefüge des Aufwachsens und die verschiedenen Ebenen der Politik müssen sich daher daran messen lassen, inwieweit sie eine zivilgesellschaftliche Beteiligungs- und Verantwortungskultur im Jugendalter und bei jungen Erwachsenen stärken und Beteiligung ermöglichen.“ (Deutscher Bundestag 2017: 473)

Gefordert werden „Gestaltungs- und Ermöglichungsräume, die zur Selbstpositionierung und Verselbstständigung Jugendlicher beitragen und so gestaltet sind, dass sie soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen in den Beteiligungsprozessen vermeiden bzw. abbauen“ (ebd.: 473). Es wird deutlich, wie wichtig es ist, nichtvordefinierte Räume zu schaffen. In diesem Sinne könnten künstlerisch-ästhetische Bildungsprozesse einen Beitrag leisten, wenn ihnen eben diese Freiräume, wie bereits ausgeführt, eingeschrieben sind. Wenn allerdings Modelle Kultureller Bildung wie eine Schablone über Adressat*innengruppen gelegt werden – als ob Kulturelle Bildung an sich gut sei und man sie nur auch noch den Letzten, die sie noch nicht erfahren durften, kredenzen müsse –, bleibt die Möglichkeit unberücksichtigt, dass weniger die Zielgruppenorientierung in Förderprogrammen als vielmehr die Beschaffenheit von Kultureller Bildung selbst ein grundlegender Faktor für oder gegen kulturelle Teilhabe darstellt. Hellinger entdeckt in einer unkritischen, aber einheitlichen, überprüfbaren Standards folgenden Förderung Kultureller Bildung sogar ein hintergründiges Ziel: „Optimiert werden soll die Anpassungsfähigkeit entfremdeter Subjekte durch ihre Angleichung innerhalb der Klassenlage, nicht jedoch die Fähigkeit, sich irrationalen Vorgaben gegenüber widerständig zu erweisen oder gar den imaginativen Blick darauf zu wagen, die ‚antagonistische Gesellschaft‘ durch Kultivierung gegenhegemonialer Allianzen in eine ‚klassenlose Solidargemeinschaft‘ zu transformieren.“ (Hellinger 2017: 129)

In den Ansprüchen des Kinder- und Jugendberichts und Programmen wie Kultur macht stark geht es nicht um die Entwicklung von Resilienz, sondern es sollen Beteiligungschancen erhöht und soziale Ausgrenzung in diesen Beteiligungsprozessen vermieden, ihr im Gegenteil entgegengewirkt werden. Die Künste oder auch Kultur allgemein in den Mittelpunkt solcher Prozesse zu stellen, bedeutet nicht per se, dass dies gelingt. Oft genug bildete Kunst das Mittel zur sozialen Distinktion, sei es zur Abgrenzung von Adel und Volk oder von Bürgertum und Proletariat. Das heißt nicht, dass nur der Adel und das Bürgertum bestimmte kulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen pflegten, sondern dass sich diese

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jeweils zwischen den sozialen Gruppen unterschieden und damit Abgrenzung mitkonstituierten (vgl. Wagner 2009). Heutzutage zeigt sich das in der kulturellen Spezifizierung verschiedener Gemeinschaften. „Jeder Stamm hat seine Kultur, die im Verhältnis zu anderen Kulturen gleich und ungleich zugleich ist: gleich, weil auch die anderen Stämme Stämme sind, und ungleich, weil jeder Stamm historisch und regional individualisiert ist. Jede soziale Schicht hat ihre Kultur, die dann als Programm der Regulation der Reproduktion dieser Schicht beschrieben werden kann, wenn sie die Hierarchie ebenso stabilisiert wie das sich der Hierarchie entgegensetzende Selbstverständnis jeder Schicht.“ (Backer 2001: 126f.)

Wenn aktuell eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft konstatiert bzw. in politischen Sonntagsreden davon gesprochen wird, die gesellschaftlichen Gräben müssten zugeschüttet werden4, dann scheint es so, als wären Gemeinschaften kulturell entweder ähnlich oder unterschiedlich. Dabei sind sie sowohl das eine als auch das andere. Das Ziel einer pluralistischen Gesellschaft, die Mehrheiten und Minderheiten in einem demokratischen Sinne an der Gestaltung des Zusammenlebens beteiligen will, sollte dennoch sein, die Ungleichheit zumindest dahingehend zu überwinden, dass eine gemeinsame Kommunikation möglich wird. Hier wären zwei Ebenen zu berücksichtigen. Die erste Ebene wird von den Gemeinschaften definiert. Das Politische – gewissermaßen die Polis – ist dabei der Raum, in dem sich die verschiedenen Gemeinschaften treffen müssen, insofern über ein gesellschaftliches Miteinander entschieden werden soll. Die politischste Aufgabe, die nicht der Kulturellen Bildung an sich, sondern der Gestaltung von Rahmenbedingungen Kultureller Bildung zukommt, wäre demnach, in einem ersten Schritt ein Bewusstsein über Kongruenz und Differenz von verschiedenen Gemeinschaften zu entwickeln. Ein zweiter Schritt wäre dann, sowohl in Einzelprojekten als auch in Förderprogrammen, nicht nur auf spezielle Gemeinschaften zu fokussieren, sondern diese Separation zu überwinden. Der Blick wäre weg von bestimmten Zielgruppen hin zu Inhalten Kultureller Bildung zu lenken (vgl. Mörsch 2016). Dabei gilt es nicht, Differenzen zu harmonisieren, sondern eine Basis zur Aushandlung zu schaffen, die durchaus konfliktfähig sein müsste. Es ist schön, dass es 89 Prozent (prognos AG 2016: 32) der Bündnisse im Rahmen von Kultur macht stark gelingt, bildungsbenachteiligte

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So äußerten sich beispielsweise der österreichische Bundespräsidentschaftskandidat Alexander van der Bellen in seiner Rede nach der ersten Stichwahl am 22.05.2016 oder der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach der Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten am 08.11.2016.

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Kinder und Jugendliche zu erreichen. Wenn aber in nur 38 Prozent (ebd.: 32) der Fälle in gemischten Gruppen „voneinander lernen“ als Ziel definiert wird, zeigt es, wie wenig verstanden wurde, welche politische Relevanz das Miteinanderlernen besitzt. Das kritisiert auch Benedikt Sturzenhecker (2014) unter sozialräumlicher und zivilgesellschaftlicher Perspektive. Die zweite Ebene bezieht sich auf das Individuum. Die Fähigkeit zur Unterscheidung, also zur Reflexion von Eigenem und Fremdem, ist Bedingung für Aushandlungsprozesse. Dies kann nur dann gelingen, wenn sich das Individuum in einem ersten Schritt mit der eigenen Verfasstheit auseinandersetzt. Kulturelle Bildung bietet dazu einen guten Ansatz, denn richtig verstanden verwirklicht sie das Prinzip der Lebensweltorientierung (vgl. Braun/Schorn 2012: 130). Als eine auf das Individuum fokussierende Praxis kann die Lebenswelt des rezipierenden und/oder produzierenden Individuums Eingang in kulturelle Bildungsprozesse finden. In einer diesem Kriterium verpflichteten Kulturellen Bildung realisiert sich die subjektorientierte Emanzipation. Dabei steht nicht das Ergebnis der Bildung im Mittelpunkt, sondern der ästhetische Erfahrungsprozess, der eben diese Emanzipation begünstigt. Nun gilt es, diese beiden Ebenen zusammenzudenken. Zu oft wird das unbedingte Zusammenspiel vernachlässigt oder mit falschen Kausalitäten argumentiert. So ist nicht die Stärkung des Subjekts Bedingung dafür, gemeinschaftsfähig zu werden oder in der Gesellschaft bestehen zu können, sondern der auf mehreren Ebenen miteinander verwobene Prozess des Aushandelns von Eigenem und Fremdem. Eine künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung muss gegenüber den eigenen Vorannahmen sowie denen der anderen kritisch sein. Es geht um die Schaffung eines „Dritten Raumes“, in dem unterschiedliche Zugänge verhandelt werden können. „Es ist also – zumindest auch – das Verhältnis von Selbstbestimmung und Fremdzuschreibung, das es unabdingbar erscheinen lässt, sich bei kulturellen Bildungsbemühungen auf einen größeren (politischen) Kontext einzulassen, der den unabweisbaren Rahmen für eine Kulturelle Bildung in einer zunehmend sozial und damit auch kulturell fragmentierten Gesellschaft abgibt.“ (Wimmer 2015: 33)

Es kann an dieser Stelle nicht mehr darum gehen, erneut deshalb für Kulturelle Bildung zu plädieren, weil durch sie das Subjekt eine Stärkung erfährt – und damit das gemeinschaftlich agierende Individuum in den Hintergrund tritt; sich Kompetenzen vermitteln lassen – und indirekt kulturkapitalistische Selbstoptimierung betrieben wird; oder der Beitrag zur Integration im Fokus steht – und dabei Differenzen und deren Potenzial ausgeblendet werden. Vielmehr gilt es, in einer Zeit, in der Kultureller Bildung ideelle, aber zunehmend auch finanzielle Anerkennung

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zuteilwird, sich verstärkt um die Frage des „wie“ zu kümmern: Wie soll Kulturelle Bildung beschaffen sein? Wie soll sie umgesetzt werden? Welchen Kriterien ist sie verpflichtet? Der Begriff selbst wäre einer kritischen Analyse zu unterziehen und es wäre über Alternativen nachzudenken. Es sollte klar sein, dass jede Art von Kultureller Bildung stets politisch ist. Die freie künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Lebenswelten zur Offenlegung kultureller Andersartigkeit als Basis einer kritischen Kulturellen Bildung, die selbstgeschaffene Machtstrukturen reflektiert und in einem kooperativen Umfeld verändert, bietet den Raum, sich dessen bewusst zu werden.

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Perspektiven für die Praxis

„Sagt einfach, was ihr seid. Das ist allemal gut genug.“ Thesen zur Arbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen I NGO T OBEN

1. S AGT

EINFACH , WAS IHR SEID . N ICHT WAS IHR GERN WÄRT UND AUCH NICHT , WAS IHR SEIN MÜSSTET . S AGT EINFACH , WAS IHR SEID . D AS IST ALLEMAL GUT GENUG .

Ich nehme diesen Satz des amerikanischen Filmemachers John Cassavetes zum Ausgangspunkt. Seit zehn Jahren arbeite ich jetzt ausschließlich mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Performer*innen. Ich werde den Begriff „Performer*in“ später präzisieren bzw. durch einen besseren Begriff ersetzen. Meine Arbeit mache ich nicht allein, sondern mit einem Team von Künstler*innen, das im Kern seit acht Jahren zusammenarbeitet. Aus Kolleg*innen sind Freund*innen geworden. Wir sind als künstlerisches Team ein kleines Ensemble, eine familienähnliche Gemeinschaft, die sich zum Arbeiten trifft wie andere zu Festen. Dass wir fast zehn Jahre kontinuierlich zusammenarbeiten können, ist hart erkämpft, und wir wissen das zu schätzen. Wenn wir unter meinem Namen zusammenarbeiten, ist das für niemanden von uns Theateralltag, sondern immer eine aufregende Sache. In unserer Arbeit haben wir uns seitdem konzentriert auf die Arbeit mit sogenannten bildungsbenachteiligten Jugendlichen. Wie es genau zu dieser Schwerpunktsetzung kam, ist heute für mich nicht mehr ganz präzise herzuleiten. Es ist jedenfalls eine eher glücklich zufällige Entwicklung gewesen und kann – zumindest was mein Dazutun angeht – überhaupt nicht mit Strategien des „audience development“ in Bezug gesetzt werden. Sicher gab es Leute, die uns Arbeitsgelegenheiten in dieser Szene verschafft haben, weil sie vielleicht gesehen oder gespürt haben, dass zwischen Jugendlichen

52 | I NGO T OBEN

aus „bildungsfernen Schichten“ und meinem künstlerischen Team eine interessante Spannung besteht. Ausschlaggebend für uns war aber vermutlich eher die seltene Kombination, dass man sich gegenseitig zwar fremd war, aber zugleich neugierig aufeinander. So kam es, dass sich beide Gruppen – Künstler*innen und Jugendliche – gegenseitig in ihre Welt eingeladen haben. Aus meiner Perspektive bleibt nachhaltig der Eindruck, dass die Jugendlichen uns in deren Welt eingeladen haben. Eine Welt, in der ich ein Fremder bin. Eine Welt augenscheinlich voller Härten: wirtschaftliche Armut, Sprachbarrieren, Traumatisierungen beispielsweise durch Flucht und Verfolgung aus den Heimatländern. Es sind aber nicht die sozialen Härten, die die Nachhaltigkeit dieser künstlerischen Beziehungen geprägt haben. Die Härten sind nur ein Vehikel für enge Räume, die dazu führen, dass Lebensenergie ganz schnell an äußere Grenzen stößt, weil es nur wenige Räume gibt, die die Gesellschaft aktuell diesen Jugendlichen anbietet, und diese Räume sind sehr klein. Diese Enge führt schnell zu Reibung mit dem Außen, und diese Reibung führt zu Erzählungen. Diese Erzählungen haben mit dazu geführt, dass wir das heute noch machen, was wir 2007 begonnen haben. Diese Erzählungen spielen alle im Außen, im Miteinander, nicht im Inneren. Die Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, kennen wir eher nicht auf der Suche nach sich selbst. Es ist hier nicht das Zuviel an Möglichkeiten eines heranwachsenden postkapitalitischen Bürgertums. Die Jugendlichen, die aus dem Klima der sozialen Härten kommen, sind schon sehr früh Personen geworden. Wir kennen sie eher im Kampf für mehr und für größere Räume im Außen. Ihre Erzählungen haben uns interessiert und interessieren uns nach wie vor. Viele der Gedanken und Gefühle sind erstmals in unseren Projekten laut geäußert, veröffentlicht worden. Mein Interesse, diesen Geschichten zuzuhören, sie zu Theater oder Film zu machen, ist kein helfendes, kein pädagogisches, sondern die Neugier auf das Fremde, das ja völlig in meiner Nähe ist. Das trifft es vielleicht. Deshalb ist für mich auch in Zukunft noch spannend, dass diese Leute einfach sagen, was sie sind, nicht was sie sein müssten. Cassavetes verabschiedet in diesem Satz den Rollenbegriff. Das Nicht-Identisch-Sein, das zu Cassavetes Zeit – in den 70er und 80er Jahren - und auch heute noch oft den Kern vieler Theaterarbeiten bildete. Der Rollenbegriff hat in unseren Theaterstücken und Kurzfilmen keine Bedeutung, genauso wenig wie Kostüme. Umso wesentlicher ist es, seinen Alltag und seine Fantasien in Geschichten und Improvisationen der gemeinsamen Arbeit zur Verfügung zu stellen, in der künstlerischen Arbeit zu leben und dieses Leben zur Kunst werden zu lassen, neugierig zu sein auf Andere und mit dem Leben der Anderen, künstlerisch zu arbeiten. Jedes Jahr laden wir sehr viele Jugendliche zu unseren Workshops ins Theater ein, um ihnen uns und unsere jeweils aktuelle Arbeitsweise vorzustellen, um die Jugendlichen zu testen und um für jedes Projekt und für jedes Thema das beste Team

„S AGT

EINFACH , WAS IHR SEID .

D AS IST

ALLEMAL GUT GENUG .“

| 53

zusammenzustellen, zu dem dann diese Jugendlichen genauso gehören wie die Künstler*innen. Wer einmal bei uns war, kann immer wieder mitmachen. Manch einer hat fünf Jahre in Folge mit uns gearbeitet. Jedes Jahr aber kommt es vor, dass Jugendliche unsere Arbeits-Einladung nach diesen Auswahl-Workshops – wir können sie auch Castings nennen – nicht annehmen, eben weil es sie am Theater besonders reizt, eine Rolle zu spielen, nicht sie selbst zu sein.

2. E S

GIBT KEIN

R ICHTIG

UND KEIN

F ALSCH .

Viele Projekte, die ich seit 2006 mit Kindern und Jugendlichen mache, werden als Kulturelle Bildung gelabelt, die meisten davon sind unmittelbar Kooperationen mit Schulen. Manche wurden sogar in Unterrichtspläne integriert. In der künstlerischen Arbeit gibt es kein Richtig und kein Falsch. Auch dies ist in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen oft ein Lernprozess: dass sie die Maßstäbe für „richtig“ und „falsch“ nicht von uns bekommen, sondern sie selbst entwickeln und in der Gruppe durchsetzen müssen, und dass diese Maßstäbe in der Kunst heute anwendbar sind, aber morgen vielleicht nicht mehr gelten und neue gefunden werden müssen.

3. K ÜNSTLERISCHE P RAXIS GEMACHT .

WIRD VON

K ÜNSTLER * INNEN

Mein Freund und Kollege Christoph Grothaus hat mal gesagt, dass es ihm in der Arbeit mit Jugendlichen darum ginge, sein „Verbohrtsein“ in eine Sache vorzuleben – er zitierte vermutlich einen Satz von Daniil Charms, als er das sagte – und den Jugendlichen in der gemeinsamen Arbeit anzubieten, sich selbst in eine Sache ganz und gar zu „verbohren“. Das Wesentliche dieses Ansatzes scheint mir das Vorleben zu sein. Zwischen der künstlerischen und der bürgerlichen Weltsicht klafft ein Abgrund. Beide Perspektiven brauchen einander und finden in den Institutionen immer wieder Berührungspunkte. Aber im Kern des Lebens, das wir führen und den Jugendlichen vorleben, stellen wir bewusst oder unbewusst Alternativen und Gegenentwürfe in den Raum zum Arbeitsbegriff, der in Schule gelehrt und vorgelebt wird: Wir können meist die Dinge nicht, die wir uns vornehmen und müssen jeweils für uns neue Wege finden, um die Prozesse, die wir initiieren zum Ziel zu führen. Wir leben absichtlich in wirtschaftlicher Unsicherheit, bewegen uns räumlich und ideell mal hierhin, mal dorthin und sind in Institutionen nur zu Gast. Das ist jedes Mal neu für die Jugendlichen, und ich kann spüren, wie ohne jedes konzeptionelle Dazutun unsererseits, allein die Authentizität, dass Kunst nur

54 | I NGO T OBEN

von Künstler*innen gemacht werden kann, eine Öffnung und Neugierde bewirkt, die in die Vertiefung unserer Beziehungen zu den Jugendlichen ein Tempo bringt.

4. R EALITÄT R EALITÄT

KANN SEIN .

F IKTION SEIN . U ND F IKTION

KANN

In dem Storytelling-Projekt, das ich seit fast zehn Jahren an Grundschulen durchführe, gebe ich keinerlei thematische Vorgaben, sondern schlage ich den Kindern immer vor, vor ihrer Erzähl-Performance der zuhörenden Gruppe zu sagen, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist, weil Erfinden und Erinnern zwei unterschiedliche Tätigkeiten des Gehirns sind. Es gibt diesen Unterschied – wenn man will. Ohne das jemals konzeptionell reflektiert zu haben, behaupte ich in den Theaterarbeiten mit Jugendlichen jedoch stets, dass Realität Fiktion sein kann. Und Fiktion Realität. Letzteres ist vielleicht einfacher zu entschlüsseln. Es ist die Realität des Erfindens. Indem ich meinen Erfindungsprozess, ganz gleich ob ich teil dieser Erfindung bin oder nicht, im Arbeitsprozess gleichsam zu Protokoll gebe, dokumentiere ich einen Ausschnitt meines Fantasierens, meiner inneren Beobachtung, einer realen Tätigkeit also. Dass Realität Fiktion sein kann, ist sicherlich schwieriger darzustellen. In „Liberation is a journey“ (2010) erzählt Barry, ein unbegleiteter Flüchtling, vor unserer Kamera von einer Demonstration in der Hauptstadt von Guinea, die von Polizist*innen beschossen wurde. Viele Menschen seien damals gestorben. Er selbst sei nach Hause gerannt. Es würde ihm heute noch schwerfallen, darüber zu sprechen. Ein anderer Junge mit afrikanischem Migrationshintergrund hört diese Geschichte und zeichnet daraus einen kurzen Comic-Film, den wir in diese Erzählung einmontiert haben. Der Comic-Film ist Fiktion und steht für sich, die Gebäude und Gesichter sind völlig frei erfunden. Der Film besitzt keine historische Authentizität. Für das, was wir alle in dieser Filmeinspielung mitteilen wollten, hatte diese Unterscheidung keine Bedeutung. Um an die Lebenswelt von Jugendlichen in der künstlerischen Praxis heranzukommen, um es zu ermöglichen, gesellschaftlich relevante Inhalte in die Performance einzubringen, ist es wichtig, die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion nicht zu genau zu nehmen. Denn meine Realität ist ja nicht nur meine Wirklichkeit, sondern auch meine Möglichkeit. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns fortwährend.

„S AGT

5. W IR ÜBEN

EINFACH , WAS IHR SEID .

D AS IST

ALLEMAL GUT GENUG .“

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NICHT .

Wir sind keine Darsteller*innen. Wir studieren keine Stücke ein. Wir üben nicht. Wir sind Autor*innen. Autor*in zu sein ist eine Weise, sich zur Gesellschaft zu verhalten und sich in einem fortwährenden Prozess nicht nur der Erfindung von Texten und Handlungen, sondern des Suchens zu befinden und auch dem Gegenüber zu vermitteln, dass sich all das jetzt vollzieht. Das ist natürlich ein Ideal. Auch wir treffen Absprachen, aber wir versuchen, das so wenig wie möglich zu tun. Das gilt für unsere Bühnenperformances gleichermaßen wie für unsere Filme. Jugendliche vor unserer Kamera erfinden in dem Moment, den der oder die Zuschauer*in sieht, ihre Texte und Handlungen. Die Montage der Filme dient in erster Linie dazu, aus diesen Momenten eine Geschichte zu erzählen, ohne dass die Autorschaft der Menschen vor der Kamera gestört wird. Musikmachen hat in unseren Aufführungen eine besondere Bedeutung. Das Konzert ist eine Art gemeinschaftlichen Aufführens ohne sich einer zentralen Geschichte zu unterwerfen. Die Autorschaft des Konzerts bedeutet bei uns vor allem, sich der Suche nach dem musikalischen Ausdruck vor Publikum und der Angst vor der eigenen Überforderung öffentlich zu stellen und gemeinsam um eine Lösung zu kämpfen. Ich weiß, dass wir von den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, viel verlangen. Die Künstler definieren Linien, die wiederum Freiräume generieren, in denen die Verantwortung für die Aufführung ganz bei den Jugendlichen liegt. Uns ist es im Probenprozess wichtiger, so lange wie möglich gemeinsam zu suchen, sich an Themen und Fragestellungen zu reiben und sich darin zu verbohren, als diesen kostbaren Prozess für abgeschlossen zu erklären. Manchmal waren Premieren bei uns die ersten Durchläufe. Hier gehen wir alle jeden Abend ein hohes Risiko ein. Immer, wenn es den Jugendlichen gelingt, die von uns entworfenen Freiräume voll auszuschöpfen und sie sogar zu öffnen, entsteht ein anderes, ein neues Stück, und der Zuschauer1 wohnt der Entstehung dieses Stücks bei.

6. D ER Z USCHAUER DARF MIT MACHEN , WAS ER WILL .

DER

AUFFÜHRUNG

Nach einem Gastspiel von Unter der Haut (2009) kam der künstlerische Leiter des Theaters zu mir und sagte: Ich weiß nicht, wo du mit dem Zuschauer hinwillst.

1

Im Folgenden ist mit „der Zuschauer“ immer auch „die Zuschauerin“ mitgemeint.

56 | I NGO T OBEN

Merkwürdigerweise kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was ich darauf geantwortet habe. Eines ist aber sicher: Ich will mit dem Zuschauer nirgendwo hin. Des Öfteren habe ich vorher von verschiedenen Leuten den Satz gehört: Man muss den Zuschauer an die Hand nehmen. Gemeint waren stets Theateraufführungen, die das allein ohne jede Kontextarbeit leisten sollten. Auch das habe ich nie getan, den Zuschauer an die Hand genommen, und werde es auch in Zukunft nicht tun. Ich kenne den Zuschauer nicht, und deshalb kommt er in meinen Fantasien nicht vor. Selbst wenn ich mir während des Arbeitens einen Zuschauer, für den ich arbeite, vorstellen würde, wäre er eine Erfindung, ein Bild, ein Klischee oder die Oberfläche von etwas, das ich ohnehin nicht kennen kann. Ich weiß auch nicht, ob der Zuschauer sich selbst überhaupt kennt. Alles, was ich über einen solchen vorgestellten Zuschauer weiß, kann also nur Selbstbespiegelung sein. Der Zuschauer darf mit dem Stück machen, was er will. Der Zuschauer ist Autor. Er schreibt mit seinen Beobachtungen, Gefühlen, Erkenntnissen, mit seiner ganzen körperlichen Präsenz sein Stück. Er füllt die Leerstellen, die das Stück lässt – oder auch nicht, er beantwortet sich die Fragen, die ihm das Stück stellt – oder auch nicht, er hat eine kooperierende oder eine der Aufführung gegenläufige Fantasie – die wir in jedem Fall nicht kennen. Wir stellen im Moment der Aufführung dem Zuschauer das Stück zur Verfügung. Unsere Stücke mit Jugendlichen sollen so stark, diskutabel und angreifbar sein, dass sie diese Zur-Verfügung-Stellung aushalten können. Wir alle, die Jugendlichen und das künstlerische Team, sollen uns in diesem Moment so aufrichtig und endgültig formuliert haben, wie es uns möglich ist. Es soll in diesem Moment nichts Aktuelleres von uns geben, nichts, was wir noch zu sagen hätten. Wir haben dann jedenfalls möglichst genau gesagt, was wir sind. Das ist allemal gut genug.

Wir wollen mit euch gehen, auch ins Theater No Education und Junge Kollaborationen als programmatische Projekte der Ruhrtriennale1 C ATHRIN R OSE

Auf der Tagung Periphery.Power.Cultural Policy im April 2015 in Wien mit Kulturschaffenden und Kulturpolitiker*innen aus aller Welt sprach auch Mitkas, 17 Jahre alt und Teilnehmer der Free School des Produktionsbüros Krétakör in Budapest, in der der Theatermacher Arpàd Schilling mit Jugendlichen arbeitet. Mitkas begann seinen Vortrag aufgeregt und eindrücklich: Er ist es leid, zu hören, dass sie, die jungen Menschen, die Zukunft seien. Er ist die Gegenwart und er hat etwas zu sagen. Die Ruhrtriennale vertritt die Position, dass Kinder und Jugendliche Rechteinhaber in unserer Gesellschaft sind, die einen Beitrag leisten wollen und können – im privaten und im öffentlichen Raum. Sie sind gleichwertige und gleichberechtigte Mitspieler*innen. Wir glauben, dass gerade die Art der Kommunikation mit den und über die Jugendlichen diese Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung deutlich macht. Deshalb steht bei unserem jetzigen Vermittlungsprojekt Junge Kollaborationen auch die Kommunikation im Mittelpunkt der Arbeit. Die Ruhrtriennale ist ein internationales Festival der Künste. In ehemaligen Industriehallen, auf Halden und Brachen von Bergbau und Stahlindustrie zeigt das Festival jeden Sommer Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Kunst und Konzerte. Über sechs Wochen wird die Einzigartigkeit dieser nachindustriellen Orte mit aktuellen Entwicklungen der internationalen Kulturszene verbunden. Der Intendantenwechsel im Rhythmus von drei Jahren gewährleistet, dass das Festival immer wieder neue künstlerische Impulse erhält. Die Vermittlungsprogrammreihe No

1

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag im Rahmen einer Reflexionsveranstaltung des Programms Wege ins Theater! am 29. Mai 2015 in Düsseldorf.

58 | CATHRIN ROSE

Education wurde unter der künstlerischen Leitung des Komponisten und Theatermachers Heiner Goebbels von 2012 bis 2014 entwickelt und umgesetzt. Der Intendant der Ruhrtriennale von 2015 bis 2017 ist der niederländische Theater- und Opernregisseur Johan Simons. Seiner Ruhrtriennale stehen die Worte „Seid umschlungen“ voran. Die Programmreihe der Vermittlung heißt jetzt Junge Kollaborationen und ist eine programmatische Weiterentwicklung von No Education. Die Ruhrtriennale findet im Ruhrgebiet statt, der am stärksten bevölkerten Region Deutschlands. 5,1 Millionen Einwohner*innen leben auf ca. 4.500 Quadratkilometern. 53 Städte und Gemeinden bilden den drittgrößten Ballungsraum Europas mit den sozialen Realitäten, die dazu gehören: Armut, eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote und eine hohe Anzahl an Menschen mit Migrationsgeschichte. Für die Konzeption des Vermittlungsprogramms haben wir den gesellschaftlichen Raum, in dem das Festival stattfindet, genau untersucht und bei jedem möglichen Projekt die Frage gestellt, ob es egalitär und ohne besondere Vorkenntnisse zugänglich ist und ob es Bezug auf die Frage nimmt, wie wir in unserer aktuellen multikulturellen Gesellschaft miteinander leben wollen. Alle Projekte von No Education und Junge Kollaborationen waren und sind für die Teilnehmer*innen kostenlos.

N O E DUCATION Der Titel No Education war Provokation und Statement – und aus gutem Grund auf Englisch, denn hier wird bei dem Wort „education“ nicht zwischen Bildung und Erziehung unterschieden. „No Education meint nicht die Negation von Erziehung, sondern steht für ein Verständnis von Bildung, das nicht prinzipiell von einer Fallhöhe zwischen Erwachsenen und Kindern ausgeht. Bildung muss sich selbstverantwortlich entwickeln – aus dem freien Willen heraus, sich in Auseinandersetzung mit dem noch nicht gekannten Teil der Welt zu begeben.“ (Goebbels 2014: 1)

No Education basierte auf dem unbedingten Vertrauen darauf, dass jeder, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Bildung, ein direktes und unvoreingenommenes Verhältnis zu Kunst haben kann. Dazu braucht es keine Vermittler*innen und keine Vermittlung. Mit den Children’s Choice Awards, einem Projekt der kanadischen Performancegruppe Mammalian Diving Reflex, haben wir den Beweis dafür angetreten. Mit einem Projekt, das man auch betiteln könnte mit „Wir wollen mit euch ins Theater gehen ...“.

W IR WOLLEN

MIT EUCH GEHEN , AUCH INS

T HEATER

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Von 2012 bis 2014 haben fast 300 Kinder und Jugendliche alle Veranstaltungen der Ruhrtriennale gesehen. Die Teilnehmer*innen waren zwischen elf und 15 Jahren alt und kamen aus Gesamt-, Real- oder Förderschulen aus dem Ruhrgebiet. Ohne die Festivaljury wäre kaum eines dieser Kinder zur Ruhrtriennale oder in ein Theater gegangen. Sie wurden von Limousinen abgeholt, haben die Spielorte über den roten Teppich betreten, haben immer in der ersten Reihe gesessen und im Anschluss an jede Veranstaltung mit den Künstler*innen gesprochen. Am Ende des Festivals hat die Jury bei einer feierlichen Preisverleihung jeder Veranstaltung einen Preis in einer selbstbestimmten Kategorie verliehen. Darren O‘Donnell, künstlerischer Leiter von Mammalian Diving Reflex, hat in seinem Buch Social Acupuncture darauf hingewiesen „dass wir vorsichtig sein müssen, nicht nur Projekte zu kreieren, die das Niedliche, Süße und Leichte glorifizieren – Projekte, die die bestehenden Enklaven von Herkunft, Kultur, Kunst und Gender verstärken. Wir müssen beginnen, uns auf Unbehagen und Unruhe einzulassen.“ (O’Donnell 2006: 23)

Genau das tun die Children’s Choice Awards. Sie sind eine Intervention in das Festival und in die Kunst. Eine Choreografin wollte ihre Aufführung absagen, wenn die Kinder in der ersten Reihe sitzen oder auch nur der rote Teppich für sie ausgelegt wird. Eine Opernsängerin hat gestreikt, bis nach einer kurzen und schwierigen Umsetzungsaktion die Kinder aus der ersten Reihe mit anderen Zuschauer*innen getauscht haben – erst dann konnte die Premiere beginnen. Und nicht zuletzt die Zuschauer*innen, die mit den gelangweilten oder überaktiven, an der „falschen“ Stelle klatschenden Kindern klarkommen mussten. Jede und jeder musste für sich entscheiden, wie er oder sie sich verhält: Verhandeln oder befehlen, auf Privilegien beharren oder doch ein wenig die sicher geglaubte hegemoniale Macht aufgeben. Vor allem hat No Education dazu geführt, dass alle Beteiligten des Festivals – die Macher*innen, die Künstler*innen, das Publikum, die Kinder und Jugendlichen – miteinander ins Gespräch gekommen sind. Gründe dafür waren das Unbehagen und die Unruhe, die die Anwesenheit der Kinder mit sich brachte. Die Erwachsenen mussten sich bemühen, den Kindern einen Platz im Festival einzuräumen. Das Projekt diente nicht nur der Kulturellen Bildung der jungen Jurymitglieder, sondern vielmehr der sozialen Bildung der Erwachsenen. Spielentscheidend war jedoch die Tatsache, dass die Mitarbeiter*innen des Festivals mit den Jugendlichen über die Kunst, aber auch über das Leben ins Gespräch gekommen sind. Es wurde viel über ihre und unsere Themen geredet. Wir haben miteinander Zeit verbracht und uns kennengelernt. Folgende Regeln bildeten die Basis unserer Kommunikation:

60 | CATHRIN ROSE • • • • •

Es wird nichts verboten, niemals. Man bittet die Kinder/Jugendlichen um etwas und erklärt, warum. „Psst!“ ist verboten. Jeder im Projekt wird geduzt. Erwachsene haben nicht Recht, nur weil sie Erwachsene sind.

J UNGE K OLLABORATIONEN Junge Kollaborationen denkt No Education weiter, in dem es die Akteure mitten in die eigene Institution hineinholt – eine Intervention nach innen. Außerdem wird der Kommunikationsaspekt noch stärker in den Fokus gerückt. Junge Kollaborationen ist der Vorschlag für eine kooperative offene Form der kulturellen und künstlerischen Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen der Ruhrtriennale und jungen Menschen aus dem Ruhrgebiet, Künstler*innen, Schulen und anderen Institutionen. Es stellt sich die Frage, wie Teilhabe mit jungen Menschen aussehen und gelingen kann. Voraussetzung ist die Gleichwertigkeit aller Beteiligten in Kommunikation, Planung und Durchführung von Projekten. Alle Kollaborationspartner*innen, ob Ruhrtriennale, Künstler*innen oder Jugendliche, bringen ihre individuelle Geschichte, ihr Wissen und ihr Expertentum ein, ohne dass eine Wertung oder Hierarchisierung stattfindet. Ein Zitat von Mark Terkessidis macht deutlich, warum wir diesen sperrigen Titel gewählt haben: „Kollaboration ist etwas ungleich Schwierigeres als Kooperation. Bei Kooperation treffen verschiedene Akteure aufeinander, die zusammenarbeiten und die sich nach der gemeinsamen Tätigkeit wieder in intakte Einheiten auflösen. Kollaboration meint dagegen eine Zusammenarbeit, bei der die Akteure einsehen, dass sie selbst im Prozess verändert werden, und diesen Wandel sogar begrüßen.“ (Terkessidis 2015: 14)

Die Gruppe Mit ohne Alles repräsentiert das Prinzip am deutlichsten. Gegründet von ehemaligen Teilnehmer*innen der Kinderjury 2012-2014, bilden sie das künstlerische Nachwuchs-Produktionsbüro der Ruhrtriennale. Unter der dreijährigen Intendanz von Johan Simons planen und realisieren sie ihre eigenen künstlerischen Projekte. Dazu haben sie einen Arbeitsplatz im Bürogebäude der Kultur Ruhr GmbH. Von hier aus wird die Ruhrtriennale gesteuert, hier sitzen Intendant, Dramaturgie, das künstlerisches Betriebsbüro und die Verwaltung. Die Jugendlichen reisen, treffen Künstler*innen, geben Interviews, entwickeln Projekte, planen das dazugehörige Marketing und gehen in Schulen, um andere Jugendliche mit ihrer Arbeit anzustecken.

W IR WOLLEN

MIT EUCH GEHEN , AUCH INS

T HEATER

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Im Jahr 2015 hieß das Projekt von Mit ohne Alles „Millionen! Millionen! Millionen!“ und beinhaltete eine Begegnung mit Jugendlichen, die noch nicht lange im Ruhrgebiet leben. Aus diesen Begegnungen entstand eine Aufführung, die an drei Terminen im Festival gezeigt wurde. 2016 haben die Jugendlichen mit dem Projekt „Teentalitarismus“ ihr eigenes Machtgebiet im Festival ausgerufen und gemeinsam mit Mammalian Diving Reflex künstlerische Formate verwirklicht, die sie selbst erfunden haben. So haben sie im Interviewformat „Sexualkunde“ Künstler*innen der Ruhrtriennale zu diesem Thema befragt, haben in „What Teens Found on the Web“ dem erwachsenen Publikum präsentiert, was sie in welchem Alter im Internet an Videos gesehen haben und sind darüber ins Gespräch gekommen. Auch im künstlerischen Bereich steht die Kommunikation im Mittelpunkt, geht es doch um Begegnungen zwischen Gruppen, die sich im alltäglichen Kontext nicht begegnen würden. Die Jugendlichen kommen mit dem Festival, dem Publikum und den Künstler*innen ins Gespräch – auf allen Ebenen der Projektarbeit. Deswegen habe ich mich in Wien so über Mitkas gefreut, den ungarischen Jugendlichen, der sich durch die (vermeintlich positiv gemeinte) Zuweisung auf seinen Platz in der Zukunft diskriminiert fühlt. Er hat Recht: Sprache und Kommunikation sind Mittel der Machtausübung. Schon in der Art, wie wir jemanden ansprechen, weisen wir ihm einen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung zu. Das passiert gerade bei Kindern und Jugendlichen oft. Wir Erwachsene müssen damit beginnen, unsere Kommunikationsbarrieren abzubauen und unsere Kommunikation über und mit Kindern und Jugendlichen zu hinterfragen. Bei der Ruhrtriennale versuchen wir bewusst, auf Zuschreibungen wie zum Beispiel „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „sozialer Brennpunkt“ sowohl in der internen als auch in der externen Kommunikation zu verzichten. Das ist schwierig bis unmöglich, wenn wir Zielgruppen definieren möchten oder über unsere Arbeit sprechen, die sich explizit an Jugendliche richtet, die nicht so einfach ihren Weg in unsere kulturellen Institutionen finden. Das gilt auch im Falle von Antragstellungen bei Stiftungen und Förderstellen, von denen wir wissen, dass auf diese Schlüsselbegriffe Wert gelegt wird. Doch auch wenn die Begriffe nur intern verwendet werden hat dies eine Wirkung nach außen und wirkt vor allem in unseren Köpfen. Wir bezeichnen immer die anderen und tun dies von einer hierarchisch überlegenen Position heraus. Dadurch wird ein Zustand hergestellt, der die Überlegenheit der einen Seite nur noch mehr verfestigt. Ein soziales Gefälle, das man doch eigentlich ändern will, wird beschrieben und festgeschrieben. (Vgl. Mecheril 2001)

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N ACHTRAG Wir gehen immer noch miteinander ins Theater, in Museen und in Konzerte – in ganz Deutschland und manchmal auch im europäischen Ausland. Die Teenager fordern das ein und bewegen sich sicher auf dem kulturellen Parkett. Sie haben immer eine Meinung und scheuen sich nicht, diese zu sagen, beispielsweise bei den Unterhaltungen über das Gesehene im Anschluss an Veranstaltungen. Es ist für sie eine Selbstverständlichkeit ins Theater zu gehen, es gehört für sie zu unserem Projekt. Das dies gelungen ist, liegt weniger an der Kunst selbst, sondern am Umgang miteinander. Sie fühlen sich nicht als „Andere“, sondern als gleichwertige Mitspielende auf dem Spielfeld der Kultur.

L ITERATUR Goebbels, Heiner (2014): „Editorial“. In: No Education. Programm, S. 1. Mecheril, Paul (2001): Anerkennung des Anderen als Leitperspektive Interkultureller Pädagogik? Perspektiven und Paradoxien. Online unter: http://www.i da-nrw.de/projekte-interkulturell-nrw/such_ja/12down_1/pdf/mecheril.pdf [02.04.2017]. O’Donnell, Darren (2006): Social Acupuncture. A Guide to Suicide, Performance and Utopia. Toronto. Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration. Berlin.

Trotzdem Von der Reibung der Welten und dem Ringen um ein gegenseitiges Verstehen1 D AGMAR D OMRÖS

Das Theater o.N. arbeitet seit 2010 mit Kindern und Jugendlichen in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Es probiert unterschiedliche Formate aus und sucht immer wieder neue Kooperationspartner im Bezirk, darunter z. B. ARCHE e. V., die Jugendkunstschule Hellersdorf, die Jugendclubs Betonia und Eastend, das Kinderhaus Berlin-Mark Brandburg oder das Quartiersmanagement Hellersdorfer Promenade. Zuletzt arbeitete das Theater o.N. mit der Wolfgang Amadeus Mozart Schule zusammen. Fragen und Zweifel begleiten die Arbeit des Ensembles, das bislang trotz allem von der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit überzeugt ist. Seit dem Beginn unserer Theaterarbeit in Berlin-Hellersdorf im Jahr 2010 haben sich die Chancen und Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche dort nicht verändert. Nicht durch unsere Projekte und – soweit wir feststellen können – auch nicht durch andere Interventionen der Kulturellen Bildung. Dabei waren wir doch angetreten, die Welt zu verbessern – damals, nachdem wir Wolfgang Büscher, den Pressesprecher der Arche, einem christlichen Kinderund Jugendhilfswerk, beim Festival Spurensuche über Kinderarmut in Deutschland reden hörten. Da fielen Sätze wie: „Der Kulturbegriff in Bezirken wie Berlin-Hellersdorf ist anders gefasst als in besser situierten Teilen der Stadt. Diesen Kindern fehlt es an kulturellen Grundlagen, die lange vor

1

Vortrag im Rahmen der Reflexionsveranstaltung des Programms Wege ins Theater! im Dezember 2013 in Frankfurt am Main, der in gekürzter Fassung in IXYPSILONZETT 02/2014 erschienen ist.

64 | DAGMAR D OMRÖS Theater oder Literatur beginnen. Ein Gespräch ist Kultur. Warmes, frisch gekochtes Essen ist Kultur. Salat ist Kultur. Saubere, der Witterung angemessene Kleidung ist Kultur.“

Hier entstand die Idee, dass wir nicht ausschließlich in unserem Bezirk, im schönen und zufriedenen Prenzlauer Berg von Berlin mit Kindern arbeiten wollten. Es erschien uns sinnvoll, unsere Erfahrungen im Bereich des biografischen Theaters an Kinder und Jugendliche weiterzugeben, die in Stadtbezirken mit einem wesentlich schwächeren kulturellen Angebot aufwachsen. Wir wollten handeln. Gemessen an unserem naiven und wie wir dann auch schmerzlich erfuhren, fehlgeleiteten Anspruch und Ansatz, die Jugendlichen in Hellersdorf zu retten, sind wir gescheitert. Vielleicht scheitern wir mit jedem Projekt aufs Neue. Trotzdem ist etwas passiert. Und davon würde ich gerne berichten. In Marzahn-Hellersdorf ist etwa jede vierte Person unterhalb des Rentenalters auf Hartz IV angewiesen. Im Regionalen Sozialbericht Berlin Brandenburg 2011 befindet sich der Bezirk bei den Nennungen der Haushalte, die besonders von Einkommensarmut und (Langzeit-)Arbeitslosigkeit betroffen sind, im vordersten Drittel. Marzahn-Hellersdorf gehört zu den Bezirken mit dem höchsten Anteil von Kindern und Jugendlichen im Hartz IV-Bezug. 45 Prozent der unter 15-Jährigen, sogar mehr als die Hälfte der Vorschulkinder, also der Untersechsjährigen, leben in Hartz IV-Familien. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen, also der Unterachtzehnjährigen, in von Hartz IV abhängigen Alleinerziehendenhaushalten ist überproportional hoch und das Schulbildungsniveau im Vergleich zu Gesamtberlin niedrig (vgl. Kommunalpolitisches Forum e. V. 2010; Amt für Statistik Berlin Brandenburg 2011). Dies ist die nüchterne Statistik und sie spiegelt die Situation, die wir in Hellersdorf vorgefunden haben und vorfinden.

S TIMMEN ,

DIE GEHÖRT WERDEN SOLLTEN

Die Grundidee unserer Arbeit mit den Jugendlichen ist einfach. Wir gehen davon aus, dass die Jugendlichen sich mit anderen Themen und Lebenssituationen auskennen als wir. Wir interessieren uns für ihre Geschichten, Gedanken, Träume und Ängste und wir wollen ihnen Handwerkszeug zur Verfügung stellen, ihr Wissen, ihre Geschichten und Gefühle künstlerisch zu übersetzen und auf der Bühne darzustellen. Denn wir sind überzeugt, dass das, was die Jugendlichen zu sagen haben – wenn sie sich denn erst einmal trauen – auch für andere relevant ist und dass sie gehört werden und ihre Stimmen Teil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sein sollten. Es war unsere bewusste Entscheidung, unsere Theaterarbeit mit den Jugendlichen nicht an eine Schule anzubinden, sondern eine offene Gruppe Freiwilliger zu

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bilden, die nicht aus schulischem Zwang teilnehmen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, so dachten wir, dass die Jugendlichen zementierte Rollen, die sie zum Beispiel im Klassenverband innehaben, abstreifen können und die Chance erhalten, sich in einer neuen Konstellation frisch zu erfinden und neue Wege zu gehen. Vor dem ersten Projekt haben wir uns viel Zeit genommen, die Umgebung, in der wir arbeiten wollten, kennen zu lernen und den Jugendlichen die Chance zu geben, sich mit uns bekannt zu machen. Ein halbes Jahr hospitierten wir einmal wöchentlich in der Arche, unserer damaligen Kooperationspartnerin, wo wir zum Beispiel an gemeinsamen Bastelaktionen, an den Gesprächsrunden, der feierlichen Weihnachtsfeier oder den Musicalproben teilnahmen. Der Weg nach Hellersdorf ist weit. Und er führt in eine fremde Welt. Der Alltag der Jugendlichen, ihre Lebenswelt, ihre Werte, ihr Umgang, das hat nichts mit dem zu tun, wie wir leben. In ihrem Erfahrungsbericht von 2011 schreibt Cindy Ehrlichmann: „Vorbei an rauchenden Jugendlichen. Sie grüßen nicht. Ich habe sie schon ein paar Mal gesehen. Über der Eingangstür des Hauses hängen Buchstaben. A.R.C.H.E. Bunt auf grauem Beton. Hier kommen mir Kinder und Jugendliche entgegen, die ich schon einmal gesehen habe, wenn nicht sogar schon so etwas wie ein Ein-Wort-Kontakt mit ihnen stattgefunden hat. Sie grüßen mich nicht. Kein Blick, kein schüchternes Hallo oder offensives Hi. Ich kämpfe mich durch einen Teppich von Fremdheit vor zum Nightcafé, dem Bereich der Jugendlichen. Hier, gewohntes Spiel, erst mal zur Theke, einen Kaffee oder Tee ausschenken lassen. Durst habe ich keinen, egal, Hauptsache etwas in der Hand haben, was tun, meinem Dasein hier einen Grund geben, sonst versinke ich im Meer von Ignoranz. [...] Es gibt mehr Jungen als Mädchen. Die Mädchen behaupten sich. Sie sind laut, sehr laut. Sie brüllen eher durch den Raum, als dass sie reden. Sie sind schnell. Und sie können sich wehren. ‚Halt die Fresse‘, ‚Verpiss dich, Alter‘. Ich will sie nicht als Freundinnen haben und schon gar nicht zur Feindin. ‚Mir scheißegal‘, ‚Laber mich nich an, du Wichser‘, ‚Geh Kekse sammeln‘. Die Atmosphäre ist flirrend, nervös, aufgekratzt, unruhig, aggressiv, regellos.“ (Ehrlichmann 2011)

Die Stimmung macht uns Angst. Der Entschluss, die Arbeit nicht an eine Schule zu binden, stellt sich als außerordentlich kompliziert heraus. Die Jugendlichen, mit denen wir es hier zu tun haben, werden nicht in ihrem Freizeitprogramm von ihren Eltern gecoacht: Montag Fußball, Mittwoch Gitarre und Freitag dann Theater. Diese Jugendlichen haben keine Hobbies. Unser Angebot ist kostenlos. Das muss so sein und ist richtig. Aber es gibt keinerlei Verbindlichkeit und niemanden, der sie daran erinnert, hinzugehen. Jeden Freitag sind wir in der Arche, richten den Probenraum her und warten. Manchmal kommen viele, zwölf oder 15, dann wieder mehrere Wochen nur drei oder vier. Wir versuchen mit jungen Menschen

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Bindungen einzugehen, die gelernt haben, keiner Bindung zu trauen. Wörter wie Respekt, Verlässlichkeit und Vertrauen haben für sie keine oder eine ganz andere Bedeutung als für uns. Wir scheuen uns vor Sanktionen, weil wir Angst haben, die Jugendlichen damit zu verlieren. Und wir brauchen sie doch.

W ER WILL

HIER WAS VON WEM ?

An dieser Stelle kommen Fragen auf: Brauchen wir sie? Brauchen sie uns? Wer will hier eigentlich was von wem? Wer hat uns den Auftrag erteilt, um diese Jugendlichen zu werben? Wer sind wir, dass wir in ihre Welt eindringen, ihnen Bildungsferne und andere Defizite attestieren und meinen, wir könnten ihnen mit unserem Glauben an Kunst und Theater ein wertvolles Geschenk bringen? Benahmen wir uns nicht wie Missionare? Kulturimperialismus der anderen Art? Bei Lars H. Beuse finden wir dafür das Wort „Charityrassismus“ (Beuse 2011). Die Pädagogin von der Arche legt uns nahe, am Probentag früher zu kommen. Mit den Jugendlichen Tischfußball zu spielen, ihnen zu vermitteln, dass wir cool sind, dass Theater cool sein kann. Ich fühle mich überfordert und merke einen inneren Widerstand. Ich will mich nicht anbiedern, nicht vortäuschen jemand zu sein, der ich nicht bin. Unser Angebot, davon sind wir nach wie vor überzeugt, ist gut. Wir bewegen uns aber in einer Art Parallelwelt, angetrieben von unserem eigenen Wunsch einzugreifen, stehen wir vor einem gesellschaftlichen Problem, das in seinem Ausmaß unsere Wirkungsmöglichkeiten weit übersteigt. Wir hatten gehofft, dass sich 20 Teilnehmer*innen für dieses erste Projekt melden würden. Am Ende von sechs Monaten wöchentlicher Hospitationen und drei weiteren Monaten Probenzeit, ließen sich fünf Jugendliche auf die Theaterarbeit ein. Wir hatten nun einen Betreuungsschlüssel von eins zu eins: ein Schlagzeuger, ein Hip-Hopper, eine Dramaturgin, eine Theaterpädagogin und eine Regisseurin und für jeden dieser hochqualifizierten Theater-Professionals einen Jugendlichen. War dies zu rechtfertigen? Lohnte es den finanziellen Aufwand und den Kraftakt? Wir beschlossen ja. Es lohnt sich. Und unsere Schockstarre löste sich in dem Moment, als wir diejenigen, die kamen, annahmen. Die, die kommen, sind die Richtigen. Am 15. Juni 2011 feierte was dann passiert – Dasein und Konsequenzen Premiere im Theater o.N.. Das Feedback an die Jugendlichen war überwältigend. Es folgten eine weitere Vorstellung im Theater o.N. und dann die mit Spannung erwartete Präsentation der Inszenierung in der Arche. Zu diesem Termin waren die

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Jugendlichen doppelt nervös, da es nun galt, das Erarbeitete gegenüber der eigenen „peergroup“ zu verteidigen. An dem Tag stand wieder alles auf null: Schlägereien, Scheinaustritte, Beschimpfungen. Und doch war etwas anders: sie waren stolz auf ihre Arbeit, sie verteidigten deren Wert, sie ließen sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Sie standen aufrecht da und sprachen mit eigener Stimme. Und sie wurden belohnt. Gebannt folgten die Arche-Kids und Betreuer*innen und selbst einige ihrer Familienmitglieder dem Bühnengeschehen. In unserer nunmehr fast einjährigen Erfahrung in der Arche hatten wir niemals eine so konzentrierte Veranstaltung dort erlebt.

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SCHWÄNZEN ,

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UND

D EPRESSIONEN

Trotz aller Zweifel setzten wir unsere Arbeit fort, hatte doch auch jeder einzelne Jugendliche eine Fortsetzung gewollt. Wir stellten uns vor, dass unsere Jugendlichen den Kern einer größeren Gruppe bilden, sich neue Jugendliche dazu gesellen würden. So war es nicht. Einer ist dabeigeblieben und wieder kämpften wir von Neuem um jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer, um Regelmäßigkeit und für unsere Werte. Wir dachten, wir hätten durch das erste Projekt dazu gelernt. Nun saßen wir wieder jeden Freitag im Probenraum – diesmal in der Jugendkunstschule Hellersdorf. Wir klapperten die Schulen ab, gaben Probestunden, nahmen Kontakt zu Jugendclubs und anderen Sozialeinrichtungen auf. Wir druckten 2.500 Einladungen zu einem Casting – aber keiner kam. Als fruchtbar erwies sich schließlich der Kontakt zum Kinderhaus BerlinMark Brandenburg. Wir hatten erfahren, dass einige der Kinder und Jugendlichen, die zu uns kamen, in einer Wohngruppe oder in einem Heim dieses Trägers lebten. Daraufhin hielten wir einen Vortrag über unsere Arbeit auf einer Teamsitzung, bei der Mitarbeiter*innen von über 40 Teileinrichtungen anwesend waren. Wir baten sie, Kinder und Jugendliche, die sich möglicherweise für das Projekt interessieren könnten, direkt anzusprechen. Die Tatsache, dass wir in Hellersdorf vor allem Kontakt zu Einrichtungen wie Arche e. V. und dem Kinderhaus Berlin-Mark Brandenburg suchten und aus deren Umfeld unsere Teilnehmer*innen rekrutierten, führte dazu, dass unser Projekt Jugendliche mit einer überproportional großen sozialen Last mit dem Theater in Kontakt brachte. Sieben von neun Teilnehmer*innen des zweiten Projekts hell erzählen lebten zum Zeitpunkt der Proben oder früher einmal in Wohngruppen oder Heimen, weil die Eltern von ihren Erziehungsaufgaben überfordert waren oder mit Alkohol- und Drogensucht zu kämpfen hatten. Vier der Teilnehmer*innen besuchten während der Proben tagesklinische Einrichtungen oder wurden gegen

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Ende des Projekts in solche Programme eingewiesen. Mehrere Jugendliche hatten Probleme mit Aggressionen, Schule schwänzen, Schulwechseln, Mobbing und Depressionen sowie polizeilichen Anzeigen. Obwohl wir auch dieses Mal wieder mit einem hohen Betreuungsschlüssel arbeiteten, kamen die Gruppe und das Team mehrmals an ihre Grenzen. Konflikte und eine äußerst komplizierte Personenkonstellation der Jugendlichen untereinander, drohten das Projekt zu kippen. Um die Fortsetzung der Arbeit an der Stückentwicklung und später das Stattfinden aller zehn geplanten Aufführungen von hell erzählen zu gewährleisten, bedurfte es immer wieder langer Einzelgespräche und Appelle an den Teamgeist. Stunden verbrachte die Theaterpädagogin Cindy Ehrlichmann am Telefon im Gespräch mit den Betreuer*innen aus den Wohngruppen einzelner Teilnehmer*innen und deren Eltern. Dies kostete überproportional viel Kraft und brachte uns in einen Konflikt: Waren wir ein Sozial- oder ein Kunstprojekt? Waren wir überhaupt ausgebildet, die Verantwortung für die Jugendlichen, z. B. auf der Tournee nach Hamburg und Dresden, zu übernehmen? Zufällig besaß Cindy Ehrlichmann auch eine Ausbildung als Therapeutin. Aber wir waren ja mit einem künstlerischen Gestaltungswillen angetreten. Einerseits wollten wir niemanden zurücklassen, nicht eine weitere Institution im Leben der jungen Menschen sein, die ihnen schlussendlich Unvermögen bescheinigte und sie ausschloss. Andererseits wollten wir mit der Gruppe künstlerisch so weit wie möglich kommen. Eine Woche vor der Premiere musste dann doch noch ein Junge das Projekt verlassen. Es war die Entscheidung der Gruppe. Er kam zur Premiere und weinte. Es tat weh. Im Januar 2013 feierte hell erzählen Premiere. Mit dieser Inszenierung spielten wir insgesamt zweimal bei uns im Theater und sechsmal in Kinder- und Jugendfreizeitstätten in Marzahn-Hellersdorf, zusätzlich in Hamburg und Dresden. Unvermutet und glückvoll folgte dann die Einladung zum Theatertreffen der Jugend im Haus der Berliner Festspiele im Mai 2013. Die Inszenierung folgte der klassischen Heldendramaturgie von „gewohnter Welt/Alltag“, „Aufbruch“ und „Rückkehr/neue Welt“. Die jugendlichen Spieler haben Figuren entwickelt und sich zu den Figuren Geschichten ausgedacht. Sie haben dafür eigene Erfahrungen und autobiografisches Material verwendet. Doch wie nah sich die Figuren an ihnen selbst und ihrem wirklichen Leben orientierten, wussten die Zuschauer*innen nicht. Bewusst haben die Jugendlichen mit dieser Spannung gespielt. Die Figuren stellen sich vor: „Ich bin …“ und sie berichten aus ihrer Welt: „Ich kenn …“. Sie erzählen vom immer gleichen Alltag und sie lassen ihre Wut Bahn brechen: „Etwas muss sich ändern!“. Dann erfinden sie Veränderungsgeschichten. Das erste Mal „nein“ zu sagen, wenn man sich in der Schule ausgenutzt fühlt, kann genauso heldenhaft sein, wie der alkoholkranken

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Mutter durch eine List zur Entziehungskur zu verhelfen oder im Shopping-Center von einer Plattenfirma entdeckt zu werden.

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UND

Mit dem Theater eröffnet sich zunächst einmal ein Raum – ein Raum, verschiedene Versionen von Wirklichkeit durchzuspielen und Handlungsalternativen zu testen, aber auch ein Raum für Begegnungen zwischen Welten: unserer scheinbar gebildeten kulturellen Welt voller Sprache, Reflexionen und Möglichkeiten und ihrer Welt zwischen Selbstbehauptung, Sprachlosigkeit, Schule und Familienbesuchen. Wenn die Hellersdorfer Jugendlichen ihr Stück im Prenzlauer Berg oder im Rahmen des Theatertreffens der Jugend am Haus der Berliner Festspiele zeigten, fand Kontakt statt. Das Publikum in diesen Vorstellungen war sichtbar berührt von der Wucht der Geschichten und der Wahrhaftigkeit des Spiels der Jugendlichen. Ihre direkte Art und lakonisch pointierte Sprache drängte dem Publikum keine Betroffenheit auf. Die Zuschauer*innen beschrieben im Anschluss an die Vorstellung ein Gefühl der Überforderung und des Gefordertseins. Die Forderung der Jugendlichen nach einer gewaltfreien Umgebung und der Chance auf Entfaltung ist mehr als legitim. Was tun wir als Gesellschaft, um ihnen Bildungschancen und gesellschaftliche Teilhabe zu eröffnen? Die Frage steht nach der Theatervorstellung im Raum und lässt sich nicht von ästhetischen Erwägungen verdrängen. Dies macht nach unserer Überzeugung die gesellschaftliche Relevanz der Jugendtheaterarbeit in Marzahn-Hellersdorf aus. Doch die gravierenden strukturellen Probleme in Bezirken wie Marzahn-Hellersdorf kann ein Theaterprojekt nicht lösen. Anders als auf großen Werbetafeln gerne suggeriert, führen Blockflöte, Tanz und Theater eben nicht zur gesellschaftlichen Teilhabe. Hier wären der Staat und die Länder gefragt. Eine Schulreform. Ganztagsschulen mit Kunst, Theater, Sport und Musik als festem Teil des Curriculums. Künstler*innen sollten etwas dazu tun dürfen. Der fremde Blick sollte fremd bleiben. Programme wie Wege ins Theater!, außerschulische Bündnisse, wie wir es mit dem Kinderhaus Berlin-Mark Brandenburg und der Jugendkunstschule Hellersdorf eingehen, können und sollten immer nur ein zusätzliches Angebot sein. Und was genau meinen wir, wenn wir von gesellschaftlicher Teilhabe sprechen? Momentan, so scheint es mir, wird sehr viel über die Menschengruppen gesprochen, die man integrieren möchte, aber wenig mit ihnen. Wer von den Entscheider*innen kennt sich an der Basis wirklich aus – z. B. in Hellersdorf?

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Meinen wir es ernst mit der gesellschaftlichen Teilhabe, dann müssten wir auch Plätze für die Menschen aus fremden Welten freimachen, müssten für Begegnung sorgen, aber den Raum lassen, fremd zu bleiben und müssten in letzter Konsequenz in Kauf nehmen, dass andere Menschen auch andere Entscheidungen treffen als die jetzige Elite, und dass Dinge sich tatsächlich ändern. Nach zwei Projekten mit extrem langen Gruppenbildungsphasen, entschieden wir für unseren Antrag bei Wege ins Theater! ein anderes Modell zu versuchen. Statt wöchentlich zwei Stunden boten wir sechs Ganztagsworkshops und vier gemeinsame Theaterbesuche über den Zeitraum von sechs Monaten an. Die Jugendlichen konnten sich anmelden oder einfach vorbeikommen. Sie konnten einen oder alle der Workshops besuchen, da diese sich mit unterschiedlichen Theatermitteln beschäftigten und nicht unmittelbar aufeinander aufbauten. Der Vorteil war, dass wir nun nicht immer wieder, wenn Neue dazu kamen, von vorne beginnen mussten und die, die regelmäßig kamen, sich nach und nach einen Baukasten an Grundlagen aneignen konnten, auf die wir in späteren Inszenierungen aufbauen konnten. Unsere Partner*innen waren wiederum das Kinderhaus und die Jugendkunstschule, die uns Probenräume zur Verfügung stellte. Neu hinzu kam der Jugendclub Betonia. Die Teilnehmerakquise war nach wie vor das große Thema. Unsere FSJMitarbeiterin arbeitete mindestens drei Wochen Vollzeit an der Bewerbung der Workshops. Unzählige Schulen wurden von uns durchtelefoniert, um Termine zu bekommen, an denen wir das Projekt vorstellen durften. Zwei Schulen erklärten sich schließlich bereit. Unzählige Jugendclubs wurden abgeklappert. Auf dem Stadtteilfest in Hellersdorf hatten wir einen Stand. Fünf Jugendliche der hell erzählen-Gruppe kamen regelmäßig auch weiterhin – ein Erfolg. Sie kamen und wollten arbeiten und konzentrierten sich vier Stunden lang sehr gut. Zu Anfang unserer Arbeit brachten wir es maximal auf eine Viertelstunde konzentrierter Arbeit. Als ich mich am letzten Tag des Theatertreffens von einem der Jurymitglieder verabschiedete, sagt dieser: „Ihr macht eine tolle Arbeit“, und mit Blick auf die tanzenden Jugendlichen unserer Gruppe beim Abschlussfest: „Von diesen Jugendlichen wird ab jetzt sicher keiner vor dem Bildschirm versauern“. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Glaubte er dies wirklich? War das Naivität, Hilflosigkeit oder Sozialromantik? Die Realität sah jedenfalls anders aus. Ja, die Arbeit hat Früchte getragen. Ein Mädchen hat ein Berufspraktikum bei uns absolviert, ein anderes hat sich an einem Schreibwettbewerb beteiligt und ein Junge hat an einem Casting für einen Film teilgenommen. Eine Mutter bestätigte uns, dass das Theater das einzige sei, wo

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ihr Sohn überhaupt noch verlässlich hinginge. Doch ein halbes Jahr später relativierte sich die Bilanz auch wieder. Zwei der Teilnehmer*innen hatten die Schule abgebrochen. Eine war in stationärer psychiatrischer Betreuung. Das Leben ging weiter. Unermüdlich lassen wir ziemlich kleine Tropfen Wasser auf sehr heiße Steine tröpfeln. Wirkungsvoll kommt uns das nicht vor. Und dennoch: Der Moment und der Kontakt zählen. Sollen wir aufhören in Hellersdorf zu arbeiten, weil sich die Welt mit unserem Tun einfach nicht verändern lässt? Sollen wir trotzig im eigenen Dunstkreis, unserem kleinen Theaterkosmos verharren? Das fühlt sich auch nicht richtig an. Wir haben gelernt. Wir sind auf junge Menschen aus vollkommen anderen Welten getroffen, auf starke Menschen und Überlebenskämpfer in einer unbehausten Welt. Wir bewundern sie. Sie sind uns nah gekommen, haben unsere Empfindungen hin- und hergerissen. Zwischen „wir wollen Euch alle adoptieren“ und „wir wollen Euch nie wiedersehen“ war die ganze Palette von Emotionen vorhanden. Der Zweifel bleibt. Es gibt keine endgültigen Antworten, aber es gibt ein kontinuierliches Überprüfen der eigenen Überzeugungen und Motive. Und es gibt temporäre Antworten. Meine lauten momentan so: Wer erteilte uns den Auftrag? Niemand. Wir erteilen ihn uns selbst, aber das ist okay. Wir machen Theaterprojekte mit Hellersdorfer Jugendlichen, weil wir es wollen und weil wir trotz aller Aufs und Abs unseren Glauben an die Wirkungsmacht von Theater nicht verloren haben. Künstlerisch reizvoll und gesellschaftlich relevant halten wir diese Art der Theaterarbeit vor allem deshalb, weil man ihr die Reibung der Welten, das Ringen miteinander um ein gegenseitiges Verstehen und einen künstlerischen Ausdruck anmerkt. Es ist den Inszenierungen eingeschrieben. Die Begegnung mit den Jugendlichen bereichert uns, unser Leben und unsere Kunst. Kulturelle Bildung verstehen wir nicht als Einbahnstraße. Wir lernen mindestens genauso viel über die Gesellschaft wie die Jugendlichen, wenn wir uns gemeinsam auf den Prozess einlassen und wenn wir gegenseitig lernen unsere Codes zu lesen. Nur über persönliche Bezüge und Kontakt werden theoretische Überlegungen zu gesellschaftlichen Prozessen konkret. Nur so können wir eine Haltung zu der Gesellschaft, in der wir leben, finden und handlungs- und bewegungsfähig bleiben. Aber – und diese Erkenntnis war befreiend – wir sind frei. Wenn unser Angebot nicht angenommen wird oder wir keine Lust mehr haben, können wir auch wieder gehen. Vorerst machen wir weiter.

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P OSTSKRIPTUM 2017 In den Jahren 2014 und 2015 setzten wir unsere Arbeit im Rahmen des Programms Wege ins Theater! fort und boten unter dem Motto Theater im öffentlichen Raum eine weitere Serie von Workshops und Theaterbesuchen für Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren aus Berlin Marzahn-Hellersdorf an. Das „Schnupperprinzip“ hatte sich insofern bewährt, als dass in der ersten Runde der Workshops tatsächlich Jugendliche teilgenommen hatten, die uns und das Theater noch nicht kannten. Jedoch blieben es nach wie vor wenige. Und die zentrale Frage blieb dieselbe: Wie können wir, ohne eine dauerhafte Präsenz im Bezirk zu haben, die Teilnehmer*innen für unsere Angebote akquirieren? Steht der Aufwand im Verhältnis? Und können wir wirklich auf die Zusammenarbeit mit den Schulen verzichten? Für das Folgeprogramm suchten wir daher nach neuen Kooperationen und fanden mit der Wolfgang Amadeus Mozart Schule und dem Jugendclub Betonia zwei Partner*innen, die selber in kontinuierlichem Kontakt zu unserer Zielgruppe waren und bei denen wir selbst regelmäßig vor Ort sein konnten. Das Quartiersmanagement Hellersdorfer Promenade übernahm als weiterer Kooperationspartner die Funktion eines Informationsträgers und kommunizierte über Netzwerke, Vereine und Institutionen in den Raum Hellersdorf hinein. Mit einem viertägigen öffentlichen Event mit dem Titel „hellersdorf calling“ auf dem Alice-Salomon-Platz im Herzen Hellersdorfs versuchten wir, uns im Sommer 2015 eine zusätzliche Präsenz im Bezirk zu verschaffen. 2014 und 2015 arbeiteten wir auch mit unserer freien Jugendtheatergruppe Hellersdorf weiter und brachten in jedem Jahr eine Inszenierung zur Aufführung: man sollte wissen, wonach man sucht (2014) und RAUS – Ein Roadtrip (2015). Ein kleiner fester Kern, der sowohl an den Workshops als auch an den Stückentwicklungen teilnahm, hatte sich seit hell erzählen gehalten, jedoch wuchs die Gruppe auch nicht weiter und es wurde deutlich, dass der Mittlere Schulabschluss, das Abitur und andere Meilensteine bei den Jugendlichen in den Vordergrund rückten. Wir erinnerten uns an die Erkenntnis, dass wir frei sind, und beschlossen die freie Theaterarbeit in Marzahn-Hellersdorf zu beenden. Für uns war klar, dass wir zukünftig nur noch in Zusammenarbeit mit Kitas oder Schulen arbeiten wollten. Mit Institutionen, die eine Kooperation von der Leitung bis zu den ausführenden Pädagog*innen ihrerseits wollen und unterstützen und die in täglichem Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen stehen. Nur im gemeinsamen Schulterschluss – so sind wir inzwischen überzeugt – kann es gelingen, die Kinder mit dem Theater in Berührung zu bringen, manchmal gerade diejenigen, die es selber nicht

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erwartet hätten, von unentdeckten Talenten und Ausdrucksmöglichkeiten zu überzeugen und festgefahrene Strukturen im Klassenverband neu zu mischen. Die vier freien Produktionen in Marzahn-Hellersdorf zeigten uns, dass wir unser Ziel, die Jugendlichen auf der Bühne zusammenzubringen und ihnen eine Stimme zu geben, nicht in größerem Umfang ohne institutionelle Unterstützung verwirklichen konnten. In unserer Wahrnehmung besteht eine Schwierigkeit darin, dass unsere Teilnehmer*innen Jugendlichen wenig Resonanzerfahrungen in ihrem Leben gemacht hatten. Sie waren nicht gewohnt, nach ihrer Meinung gefragt zu werden, und maßen ihren eigenen Ansichten keine Bedeutung und Relevanz bei. Demnach war auch ihr Erzähl- und Ausdruckswille nur schwach ausgeprägt. Hier machten wir ganz andere Erfahrungen als z. B. Kolleg*innen, die in stärker multikulturell geprägten Stadtteilen arbeiteten. Während dort die Jugendlichen auf eine Kultur erzählter (Familien-)Geschichten, Lieder und Tänze zurückgreifen konnten, die ihnen als Basis dienten, ihren eigenen Ausdruck zu finden, hatten unsere Teilnehmer*innen keine solchen Ressourcen zur Verfügung. Die hier nötige Aufbauarbeit können wir am besten in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen und Erzieher*innen leisten. Eine in dieser Form erfolgreiche Kooperation führten wir 2016 mit der Wolfgang Amadeus Mozart Schule durch. Die damalige Leiterin des Grundschulbereichs, Diana Mihov, hatte sich mit der Idee zur weiteren Zusammenarbeit an Cindy Ehrlichmann gewendet. 2015 war die Gewalt an dieser sogenannten Brennpunktschule in Marzahn-Hellersdorf eskaliert. Polizeieinsätze, schlechte Presse, überforderte Lehrer – die Lage war derart schlimm, dass Eltern einen Brandbrief schrieben. Während der Workshops im Rahmen von Wege ins Theater! bestätigten sich die Vorurteile. Vor den Augen unseres Theaterteams wurde eine Lehrerin von einem Jungen, der ausgerastet war, angegriffen, getreten und geschlagen. Mittels eines Theaterprojekts wollte die Grundschulleiterin auf die Situation aufmerksam machen und die Behörden in die Verantwortung nehmen. Die Lehrerin einer fünften Klasse, ihre Schüler*innen und das Ensemble des Theater o.N. ließen sich auf dieses gesellschaftliche und künstlerische Experiment ein. Erstmals standen in einem unserer Projekte Kinder und Performer*innen gemeinsam auf der Bühne und spielten gegen das Klischee vom Problemkind an. Für die Proben wurden die Kinder vom Unterricht freigestellt: über fünf Monate einen Tag pro Woche und dann für die Endprobenwoche. Auf der Klassenreise wurden die Texte gelernt. Eine solche Bereitschaft von Seiten der Schule, sich auf ein Kunstprojekt einzulassen und die Zeit nicht als „Unterrichtsausfall“ anzusehen, ist nicht selbstverständlich. Das Prinzip der Freiwilligkeit, das uns in der schulunabhängigen Theaterarbeit so wichtig war, konnten wir beibehalten. Bei

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gleichzeitiger Einbettung in den Schulalltag erreichten wir einerseits die Zugangswege zu öffnen und andererseits trotzdem auf die Eigenmotivation der Kinder zu setzen – mit Erfolg. Zunächst war geplant, mit zwölf Schüler*innen der Klasse zu arbeiten. Am Ende waren es aber 21 Kinder, die mitmachen wollten und am Ende auf der Bühne standen. Auf der Grundlage von Interviews mit Lehrer*innen, Schüler*innen und Sozialarbeiter*innen hatte Regisseurin Cindy Ehrlichmann das Stück FEUER! geschrieben. Erwachsene und Kinder durften auf der Bühne gemeinsam fluchen und Spaß haben, Probleme wurden sehr direkt benannt. Den Wunsch nach mehr Ruhe und Gerechtigkeit in ihrem Schulalltag formulierten sowohl die Schüler*innen als auch die Lehrer*innen. Auf der Bühne aufeinander angewiesen zu sein erzeugte zwischen Kindern und Erwachsenen eine gemeinsame Augenhöhe in der Arbeit miteinander, die von unseren Spieler*innen als herausfordernd und zugleich wegweisend erlebt wurde. Die Arbeit ging von den ganz persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen dieses Projekts aus, erlangte jedoch bald eine bezirksübergreifende Bedeutung zum Thema Chaos und Aggressionen an Berliner Schulen. Manche Lehrer*innen verließen die Aufführungen mit den Worten: „Genauso ist es!“, „Ich bin so aufgewühlt.“ oder „Das Stück müsste an jeder Schule gezeigt werden. Alle Politiker müssten dieses Stück sehen!“ Auch das umfangreiche Presseecho hat gezeigt, dass die Thematik und die Form der Arbeit einen wunden Punkt in unserer Gesellschaft getroffen haben. FEUER! wirft Fragen auf: Was sagt die Situation an den Schulen über unsere Gesellschaft aus? Wer trägt die Verantwortung dafür? Was für ein Schulsystem und welche Bedingungen brauchen wir zukünftig, um jedem Menschen Lernen zu ermöglichen? Wir sind derzeit im Gespräch über eine Fortsetzung der Kooperation mit der Schule, die von beiden Seiten als spannend und fruchtbar empfunden wurde. Dabei wollen wir die im Rahmen von FEUER! erprobte Arbeitsweise weiterverfolgen. Wir machen also immer noch weiter, wenn auch anders.

L ITERATUR Amt für Statistik Berlin Brandenburg (2011): Regionaler Sozialbericht Berlin Brandenburg 2011. Potsdam. Beuse, Lars H. (2011): „La Haine“. Inländisch abgeschoben. URL: http://www.swas hmark.com/la-Haine-Inlndisch-abgeschoben.html [aufgerufen am: 24.08.2011]. Ehrlichmann, Cindy (2011): „Was dann passiert – Dasein und Konsequenzen. Persönliche Anmerkungen zum Probenprozess und zu hilfreichen Methoden auf steinigen Wegen“. In: Theater o.N. (Hg.): Was kann und will Theaterarbeit in

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strukturschwachen Stadtteilen leisten? Die Theaterprojekte des Theater o.N. in Berlin-Hellersdorf 2010-2011. Dokumentation. Berlin. Kommunalpolitisches Forum e. V. (2010): Zur sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen in Marzahn-Hellersdorf. Berlin.

Wo geht’s denn hier ins Theater? Forschungsinstrumente zur künstlerischen Beteiligung am FFT Düsseldorf M AXIMILIANE H ORBACH UND L ISA Z EHETNER

Das FFT (Forum Freies Theater) Düsseldorf erforscht seit über zehn Jahren unterschiedliche Möglichkeiten der künstlerischen Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Unser Antrieb ist die Frage danach, wie Theater ein Teil der diversen Gesellschaft sein kann. Wir wollen keine kulturellen Bildungsprojekte neu erfinden, sondern Kulturelle Bildung als Teil künstlerischer Praxis begreifen und Verbindungen zwischen den Lebenswirklichkeiten aufspüren und praktisch herstellen. Mit Wege ins Theater! haben wir versucht, neuen Formaten der Zielgruppenansprache, der freiwilligen künstlerischen Beteiligung und neuen Möglichkeiten des Theaters als Ort für die Freizeitgestaltung Jugendlicher nachzuspüren. Es begann ein Spagat zwischen künstlerischem Anspruch, jugendlicher Partizipation, sozialpädagogischer Partnerschaft, Verwertbarkeit und Nachhaltigkeit. Im Folgenden versuchen wir unsere Arbeit in eine künstlerische Entwicklung einzuordnen und dem scheinbar nicht vorhandenen Verhältnis zwischen Theorie und Praxis nachzugehen.

Z WISCHEN KÜNSTLERISCHER P RAXIS ALLTÄGLICHEN E XPERTISEN

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Deutschlandweit wird immer wieder eine sowohl praxisnahe als auch wissenschaftliche Debatte zu Fragen der künstlerischen Beteiligung, der Lust an der Auseinandersetzung mit der Praxis von Künstler*innen und anderen Menschen und auch pädagogischer Zwänge geführt. Aus den letzten Jahren sind Arbeitstreffen wie Masters of the Universe (Hamburg 2014), das Jahrbuch 2015 für Kinder- und

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Jugendtheater (Schneider 2015) der ASSITEJ Deutschland und die Publikation Stop Teaching! (Primavesi/Deck 2014) zu nennen, die sicherlich überblickender als wir an dieser Stelle den Ist-Stand abbilden und weiterdenken. Das FFT hat sich 2006 und 2009 in zwei Symposien und mit den Publikationen Reality strikes back (Tiedemann/Radatz 2007) und Reality strikes back II (Dies. 2010) mit den Ursprüngen dieser ästhetischen Entwicklungen, nämlich dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und neuen komplexen Repräsentationsverhältnissen, auseinandergesetzt. Die Arbeit mit den Expert*innen des Alltags war ein wichtiger Punkt in der Entwicklung von Wege ins Theater!-Projekten am FFT. Genau diese wollten wir ausbauen, um etwas über das Wesen der Jugend und die Relevanz (oder besser gesagt Irrelevanz) von Kunst im Leben von Jugendlichen zu erfahren. Theatermacher*innen wie Rimini Protokoll, Hoffmann&Lindholm, Victoria Theater und Gob Squad haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten den Begriff „Expert*innen des Alltags“ geprägt. Sie haben auf den Bühnen im ganzen Land Theater mit Menschen gemacht, die keine Bühnen-Profis sind, und es geschafft, den Begriff des Laientheaters aufzulösen. Sie haben die fruchtbaren Wechselwirkungen zwischen künstlerischer Praxis und alltäglichen Expertisen, kulturelle und biografische Prägungen, Erfahrungen und Meinungen betrachtet und nutzbar gemacht. Die Kollaboration von Künstler*innen mit Expert*innen des Alltags hat sich im zeitgenössischen Theater als fester Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt etabliert und ist zu einer spezifischen künstlerischen Praxis geworden. Es wird ein Raum zur Entfaltung von Geschichten, Themen, Erzählformen und Darstellungsweisen geschaffen. Entscheidend sind dabei die Praxen der künstlerischen Teams und die inhaltliche Ausgangsfrage, die gemeinschaftlich mit den Teilnehmer*innen untersucht wird. In der Arbeit mit Expert*innen des Alltags geht es nicht darum, die Beteiligten zu Bühnenschauspieler*innen zu machen oder sie Texte auswendig lernen und vortragen zu lassen, sondern um die Frage, wie sich ihre Fähigkeiten und die der Künstler*innen ergänzen und wie die Beteiligten zu Mitproduzent*innen der Theatererfahrung werden. Wie verändert sich dadurch die Ästhetik und die Wirkung des Theaters? Für unsere Projekte im Rahmen von Wege ins Theater! interessierte uns die Frage: Wie verändert sich durch künstlerische Beteiligung die Wahrnehmung von und Zugänglichkeit zum Theater? Das künstlerische Forschungsinteresse an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen führt in einer logischen Konsequenz zu ihrer künstlerischen Beteili-

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THEATER ?

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gung. Immer mehr wird darüber debattiert, wie der erwachsene Blick die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verstehen kann und wo die Zukunft des Zielgruppentheaters liegt. Weit entfernt von der Debatte um Kulturelle Bildung und die Optimierung von Kompetenzen, in der Künstler*innen oftmals Ausführende politischer Interessen oder pädagogischer Prozesse sind, entfaltet sich in der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Künstler*innen und Alltagsexpert*innen ein Raum, der laborartiges Arbeiten, multiple Perspektiven und gemeinsames Entdecken von Möglichkeiten in einem dargebotenen künstlerischen Rahmen ermöglicht. Walter Benjamin beschreibt in seinem Aufsatz Programm eines proletarischen Kindertheaters (1969) eben diese Qualität künstlerischer Prozesse mit Kindern und kontrastiert sie mit der bürgerlichen Erziehung. Benjamin trifft den Kern des heutigen Missverständnisses der Gleichsetzung von Kultureller Bildung und der Ausführung einer künstlerischen Praxis: „Was zählt, ist einzig und allein die mittelbare Einwirkung des Leiters auf Kinder durch Stoffe, Aufgaben, Veranstaltungen. Die unvermeidlichen moralischen Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der Kinder selbst an sich vor. [...] Das Kaltstellen der ‚moralischen Persönlichkeit‘ im Leiter macht ungeheure Kräfte frei für das eigentliche Genie der Erziehung: die Beobachtung. [...] Der Beobachtung aber – hier fängt Erziehung erst an – wird jede kindliche Aktion und Geste zum Signal. [...] Es ist die Aufgabe des Leiters, die kindlichen Signale aus dem gefährlichen Zauberbereich der bloßen Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stoffen zu bringen.“ (Benjamin 1969: 765f.)

Seit seiner Gründung entwickelt das FFT regelmäßig Projekte mit jungen Darsteller*innen mit dem Anspruch, Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Partner*innen an Stückentwicklungen im Bereich Tanz, Theater und Performance teilhaben zu lassen. Künstler wie Hoffmann&Lindholm, Lukas Matthaei, Monika Gintersdorfer und Gudrun Herbold haben mit ihren unterschiedlichen Arbeitsansätzen diese Projektarbeit geprägt. Die vielleicht wichtigste Inspiration war die spezifische künstlerische Praxis der Kopergietery in Gent (Belgien) und die Zusammenarbeit mit dem ursprünglich dort beheimateten Choreografen Ives Thuwis. Über die Jahre haben sich im FFT zwei programmatische Schwerpunkte entwickelt. Zum einen wird seit 2004 im Rahmen von Take-off: Junger Tanz jährlich eine Tanztheaterproduktion erarbeitet. Zum anderen entwickelt seit 2007 das interdisziplinäre Team des Regisseurs Ingo Toben eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Düsseldorfer Kindern und Jugendlichen in den Bereichen Film, Theater, Musik, bildende Kunst und Installation. 2015 wurde am FFT das Ensemble Only

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ask Valery! gegründet und seit 2016 beschäftigt sich die Künstlergruppe subbotnik in einer Trilogie mit der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Die Arbeit entwickelt sich permanent weiter, neue künstlerische Beteiligungsformate entstehen und Ensembles beginnen sich damit auseinanderzusetzen. So ist im Laufe der Jahre am FFT ein Pool an Jugendlichen und jungen Erwachsenen entstanden, der teilweise über Assistenzen, künstlerische Studiengänge und eigene künstlerische Praxis eine kontinuierliche Anbindung und ein eigenes Interesse am FFT als freies Produktionshaus gefunden hat. Doch daneben gibt es auch eine große Gruppe an jungen Menschen, die ein Interesse an sich selbst als Performer*innen auf der Bühne hat und trotzdem die weiteren künstlerischen Arbeitsweisen am Haus und in der Stadt nicht wahrnimmt. Das wirft viele Fragen nach der Freizeitgestaltung und der Relevanz von Kunst im Alltag der Menschen auf. Denn wenn man sich künstlerisch mit biografischen, politischen und alltäglichen Ergebnissen und Einstellungen beschäftigte, wurde das dezidierte Freizeitverhalten nicht miterforscht und das Theater als potenzieller Ort jugendlicher Freizeitgestaltung nicht mitgedacht. Wir haben uns als Initiator*innen partizipativer Projekte und als Kurator*innen eines Theaters für junges Publikum gefragt, wo sich Schnittstellen zwischen der eigenen künstlerischen Praxis und dem Interesse für das Betrachten von Kunst befinden. Wir begreifen Wege ins Theater! als Forschungsfeld für die Verbindung von Kunstmachen und Kunstsehen – und zwar jenseits des vorgegebenen Bildungskanons der Schule. Das ist für uns entscheidend, um gesellschaftliche und demokratische Prozesse mitdenken und auch mitgestalten zu können – für jede Bildungs- und Altersgruppe.

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Zunächst rufen wir als Antwort auf die Frage, ob künstlerische Praxis eine Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen sein kann: Ja! Denn wenn wir das nicht täten, wäre unser alltägliches Leben und Arbeiten von einer Depression geprägt. Aber in unserem Alltag wird auch deutlich, dass die eigene künstlerische Arbeit einen nicht zwangsläufig zum kulturinteressierten Menschen macht. Oft bewegen sich die Teilnehmer*innen in einem spezifischen Projekt und nehmen andere künstlerische Projekte am Haus nur am Rande wahr. Da unterscheiden sie sich nicht von vielen Theatermacher*innen, die ebenfalls oft in ihrem Forschungsfeld bleiben. Insbesondere in Bezug auf die künstlerische Beteiligung von Jugendlichen können wir aber immer wieder beobachten, dass das eigene künstlerische Produzieren einen anderen Wahrnehmungsraum für fremde künstlerische Arbeiten öffnet: Plötzlich beginnen sie, sich für Kunstwerke, die ihnen in

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den Codes und in ihrem Alltag unbekannt sind, zu interessieren – k oder zumindest beginnt die Akzeptanz des Nichtverstehens. Diese Erlebnisse und Prozesse gilt es zu begleiten und zu moderieren, denn die Überforderung kann schnell in Ablehnung umschlagen. Aber wie gestaltet sich der Dialog über Theater und lädt gleichermaßen zum künstlerischen Produzieren ein? Und wie kann man überhaupt künstlerisch produzieren, wenn man die Kunst der Anderen nicht kennt? Uns treiben die Entdeckung von Kunst jenseits von Belehrung und der freiwillige Konsum jenseits von Schulverpflichtungen an. Hier kommt natürlich die Frage auf, wo und wie junge Menschen ihre Freizeit verbringen. Um dieser Frage genauer auf den Grund zu gehen, eröffnete sich durch das Förderprogramm Wege ins Theater! ein finanzieller und struktureller Rahmen, der praktisches Ausprobieren möglich machte. Ausgehend von aktuellen Diskursen und künstlerischen Arbeitsweisen am Haus wurden gemeinsam mit Künstler*innen unterschiedlichste Formate entwickelt und erprobt. Die individuellen Fragen eigener künstlerischer Betätigung und die Experimentierlust in der Arbeit mit jungen Menschen funktionierten stets als Grundlage der Konzeptarbeit. Außerhalb des Theaters wurden Bündnisse mit weiteren Akteur*innen in der Stadt geschlossen. So wurden bereits bestehende lose Verbindungen mit Partner*innen weiter intensiviert und gefestigt. Das Initiieren neuer Bündnisse fügt sich nahtlos in den sonstigen Arbeitsalltag des FFT ein, denn der Austausch und die Zusammenarbeit mit Partner*innen, Initiativen und Kolleg*innen in der Stadt gehört zu unserer täglichen Praxis. Künstlerische Impulse werden aus dem Theater herausgetragen und neue Diskurse und Denkanstöße ins Theater zurückgespiegelt. Die Bündnisse für Bildung im Rahmen von Wege ins Theater! wurden mit unterschiedlichsten Partner*innen eingegangen und die Verbindung von Kulturpartner*in, Schule und Jugendfreizeiteinrichtung hat sich im Alltag als produktiv herausgestellt. Unsere Weiterentwicklung erster Konzeptideen und künstlerischer Forschungsfragen wurde durch die Expertise der Partner*innen häufig ergänzt und in neue Richtungen gelenkt. Die Mitarbeiter*innen der Jugendfreizeiteinrichtungen als Expert*innen des jugendlichen Alltags mit ihrem Wissen über die notwendigen Strukturen und zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen rund um die praktische Durchführung setzten eigene Impulse und Prioritäten. Dass die praktischen Tipps und notwendigen Rahmenbedingungen der Partner*innen nicht immer mit den ursprünglichen Ideen und dem praktischen Theateralltag übereinstimmten, stellte mitunter die Konzeption auf den Kopf. Doch gerade in diesen Momenten – das können wir aus

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heutiger Sicht sagen – gilt es, die Kernidee und die wichtigsten Ziele immer wieder in den Fokus zu rücken. Die Ansprüche und Anforderungen an künstlerischen Projekten sind je nach Perspektive unterschiedlich: • • • • • •

Möchten wir verbindliche Teilnehmer*innen oder ist ein spontanes Mitmachen jederzeit möglich? Liegt der Fokus auf der Schaffung eines „fertigen“ künstlerischen Projekts oder steht der gemeinsame Prozess im Vordergrund? Beziehen wir die Zielgruppe in die Konzeption mit ein oder stellen wir ein fertiges Projekt vor? Findet das künstlerische Erleben innerhalb des Sozialraums oder außerhalb dessen statt? Fügt sich das Angebot in das Programm der Jugendfreizeiteinrichtung ein oder erfordert es ein gesondertes Erscheinen? Bis zu welchem Punkt möchten wir die Teilnehmer*innen an die Hand nehmen, sie begleiten und wo fordern wir Selbstständigkeit und Eigeninitiative?

Trotz unterschiedlicher Blickwinkel auf die Projekte – oder gerade deshalb – sind aus einigen Bündnissen nachhaltige Partnerschaften entstanden, die jenseits von Wege ins Theater! eigene Anknüpfungspunkte in unserer Theaterarbeit gefunden haben. In unterschiedlichen Zusammenhängen und Konstellationen können mithilfe dieser Partnerschaften immer wieder neue Wege ins FFT eröffnet werden. Ein kleiner Teil der Freizeit spielt sich sicherlich in Jugendzentren ab und somit macht die partnerschaftliche Verbindung durchaus Sinn. Die Mitarbeiter*innen der Jugendzentren sind die Expert*innen der Lebenssituation von Jugendlichen. Sie sind Vertrauenspersonen, Vermittler*innen, Bindeglied. Sie ermöglichen allen interessierten Besucher*innen, auch denen, die in ihrem alltäglichen Leben keinen Zugang zu Kunst und Kultur haben, einen Weg zu Kulturinstitutionen. An dieser Stelle wird es Zeit für Aufrichtigkeit in Bezug auf die Diversität der Interessen von Jugendzentren und Kulturinstitutionen. Aus unserer Perspektive als Kulturinstitution wäre das die künstlerische Mitgestaltung – ohne zu bespaßen. Im Grunde genommen würde man bei kulturellen Kooperationen davon ausgehen, dass alle beteiligten Partner*innen ein Interesse an und einen Zugang zu Kunst und Kultur haben. Aber auch Jugendzentren haben das Interesse, die Jugendlichen an sich zu binden und zu umsorgen. Da kommen performative Konzepte manchmal nicht so gut an wie Popkultur. Wie nähert man sich aneinander an?

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Im Folgenden stellen wir zwei Projekte aus der Arbeit mit jungen Menschen am FFT vor, die wir im Rahmen von Wege ins Theater! realisiert haben. Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die künstlerische Beteiligung und Partnerschaft: Soapboxing und Hinter den Spiegeln.

S OAPBOXING –

ALS NIEDRIGSCHWELLIGE

AKTION

Eine Bühne, ein Mikrofon, ein Verstärker: Soapboxing ist eine mobile Erzählbühne, die Jugendliche dazu einlädt sich selbstbestimmt und ohne Vorgabe zu äußern. Ausgehend von dem Gedanken einer offenen Bühne mit geringem technischen Aufwand, wollten wir gemeinsam mit Ingo Toben der Frage nachgehen, welche Geschichten und Songs Jugendliche teilen wollen, wenn man ihnen eine verstärkte Stimme gibt – sprich das Mikrofon. Dies knüpft an Ingo Tobens eigenes künstlerisches Forschungsfeld an. In den letzten Jahren hat er ein großes Archiv von kleinen und großen Storytelling-Projekten mit Kindern und Jugendlichen erstellt und erforscht die orale Erzähltradition Jugendlicher. Durch die niedrigschwellige Konzeption des Aufbaus hat das FFT versucht, herauszufinden, was Jugendliche bewegt und wie sie das Theater als Ort der Versammlung annimmt und bespielen will. Das Projekt Soapboxing hat im Rahmen von Wege ins Theater! versucht, Jugendliche aus dem Stadtteil Oberbilk in Düsseldorf zum Erzählen zu bringen und über ihre Lebenssituation zu berichten. Über diese Erzählform wurde spürbar, dass ihre Geschichten für das Theater und sein Publikum relevant sind. In einem lokalen Bündnis mit dem Jugendzentrum V24 und Terno Drom e. V., einem gemeinnützigen Verein zur Förderung des kulturellen Austauschs von Roma und Nicht-Roma, wurde das Projekt begründet. Die Verbindung mit Terno Drom e. V. kommt daher, dass die Jugendlichen im V24 eben genau in dem Spannungsfeld von Roma und Nicht-Roma leben. Das Bündnis ging im Vorfeld des Projekts davon aus, dass die Erzählbühne zunächst über einen längeren Zeitraum von rund einem Jahr im V24 in einem wöchentlichen Rhythmus für jeweils zwei Stunden aufgebaut wird und dann ins FFT übersiedelt. Dort sollte diese dann ein konzentrierteres Setting bekommen und in Verknüpfung mit Theaterveranstaltungen bewusst performativ genutzt werden. Konkret hatten wir das Ziel, gemeinsam mit den Jugendlichen aus dem V24 eine Performance auf der Soapboxingbühne zu entwickeln und ihnen den Weg ins Theater zu erleichtern. In der Praxis lief das Projekt sehr erfolgreich an. Die Jugendlichen integrierten die Bühne schnell in ihre alltäglichen Abläufe und bauten sie oft schon vor Ankunft von Ingo Toben selbstständig auf. Der Verstärker wurde immer zum exakt gleichen Zeitpunkt ein- und nach zwei Stunden wieder ausgeschaltet. Soapboxing

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war so beliebt wie die Disko im V24. Die Jugendlichen haben gesungen, getrommelt, Gitarre gespielt, das Geschehen im Jugendzentrum im Duktus von Radiokommentatoren begleitet und um die Aufmerksamkeit der anderen gebuhlt. Sehr schnell wurden Songs und Abläufe automatisch wiederholt und es entstand eine Art Soapboxing-Band. Ingo Toben war dabei stets ein Beobachter und Zuhörer. Es gab keine Zensur, wenn auch auf einen höflichen Umgang miteinander geachtet wurde. An diesem Punkt stieß das Projekt zum ersten Mal an Grenzen, die das Bündnis auf die Probe stellten. Denn die Vorstellungen der Bündnispartner von einem künstlerischen Projekt, der Geschwindigkeit, der Lautstärke und der künstlerischen Schönheit waren sehr unterschiedlich. Während das FFT und Ingo Toben den Prozess mit Ruhe und Ausdauer begleiten wollten, war es für das V24 sehr anstrengend, die Freiheit der Inhalte auszuhalten – sowohl aufgrund der Lautstärke als auch wegen der Tatsache, dass die Leitung nicht in den Händen der Erwachsenen, sondern in denen der Jugendlichen lag. In zahlreichen Gesprächen über unterschiedliche Auffassungen zu Pädagogik, Grenzen und künstlerischen Entwicklungen haben alle Partner trotzdem über ein Jahr lang das Projekt aufrechterhalten. Dann siedelte die Soapboxingbühne ins Theater um. Dieser Übergang gestaltete sich wie erwartet als eher behäbig. Die Mitarbeiter*innen des Jugendzentrums sammelten die Jugendlichen im V24 ein und brachten sie ins FFT. Die Gruppe war zunächst sehr klein, wenn auch lebendig und neugierig. Für uns war es ein voller Erfolg, dass überhaupt Jugendliche mitkamen. Für das Jugendzentrum war es für die wenigen Jugendlichen ein sehr hoher organisatorischer Aufwand, aber es entstanden Motivation, Freude und Ausprobieren. Zu diesem Zeitpunkt brach dem Jugendzentrum plötzlich Personal weg und der offene Jugendbereich musste auf unbestimmte Zeit schließen. Alle Bemühungen, die Aktivitäten auf einen wöchentlichen Termin ins FFT zu verlegen, scheiterten. Die Jugendlichen wendeten sich sehr schnell vom V24 ab und suchten in ihrem Stadtteil andere Orte auf. Nach einigen Monaten Zwangspause öffnete der Jugendbereich wieder und Sopaboxing versuchte es erneut, sich im V24 zu etablieren und ins FFT zu übersiedeln. Auch wenn die Jugendlichen direkt wussten, was Soapboxing ist und Ingo Toben auf Bahnfahrten und in Schulen grüßten und bedauerten, dass Soapboxing eine Pause machen musste, konnte das Projekt nicht wiederbelebt werden. Das Bündnis fand nicht mehr auf einer künstlerischen Forschungsebene zusammen und die Prioritäten verschoben sich. Für uns hat das Projekt gezeigt, dass eine niedrigschwellige und selbstbestimmte Aktion von den Jugendlichen sehr gewollt ist, Partnerschaften klar kommuniziert und auch auf Trägerebene sicher sein müssen und vor allem, dass sich

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der Alltag der Jugendlichen so schnell wandelt, dass die kontinuierliche Begeisterung nicht per se gegeben ist – schon gar nicht, wenn man ihnen Angebote jenseits ihres alltäglichen Umfelds bietet. Die Faszination und Neugier ist da, aber die Projektstruktur muss auch für sie so verlässlich sein, dass sie daran glauben können.

H INTER DEN S PIEGELN –

EINE

Z USCHAUERBETRACHTUNG

„Ich hab das nicht verstanden. – Was genau hast du denn nicht verstanden? – Alles.“ Das Sprechen über Kunst ist kein einfaches Unterfangen – vor allem das Sprechen über das Unverständliche. Um diesen Moment nach dem Kunsterlebnis drehte sich das Projekt Hinter den Spiegeln. Gemeinsam mit der Performerin Alice Ferl und der Theaterpädagogin Birgit Günster kreierten wir ein Programm, das sich in KunstTreffen und KunstStücke gliederte. KunstTreffen hieß: die Stadt entdecken, Kunst erleben, Merkwürdiges benennen und Kreativen begegnen. KunstStücke hieß: selbst kreativ werden und inspiriert durch Gesehenes eigene künstlerische Werke schaffen. Unser Ziel war es, einen selbstbewussten Zugang von Jugendlichen zu Orten der Kunst und Kultur in Düsseldorf zu schaffen sowie ein gemeinsames Wahrnehmen mit der Lust am Decodieren und das Verwandeln von Merkwürdigem in eigene künstlerische Projekte zu initiieren. In der Programmschiene Scouts versuchten wir, den eigenen Antrieb zur Nutzung von Kulturangeboten und das Reden über Kunst in Jugendgruppen in den Mittelpunkt zu stellen. Entscheidend für die Konzeptionierung von Hinter den Spiegeln war der Ansatz, nicht nur das hauseigene Programm des FFT zu besuchen, sondern mit einer möglichst festen Gruppe unterschiedliche künstlerische Strategien und Orte der Kunstrezeption in der gesamten Stadt kennenzulernen. Neben Proben- und Vorstellungsbesuchen im FFT standen unter anderem Besuche im Kino, der Deutschen Oper am Rhein, im tanzhaus nrw, in der Kunstsammlung NRW, im KIT (Kunst im Tunnel), im Museum Kunstpalast, bei der Nacht der Museen oder in der Tonhalle auf dem Programm. Im Rahmen der KunstStücke ging es ebenfalls interdisziplinär zu. Es wurde gespielt, gefilmt, geschrieben, gebaut, gemalt und gekocht. Auf diese Weise konnte der Kerngedanke möglichst umfassend umgesetzt werden: Das umfangreiche Erleben ästhetischer Erfahrungen in einer vertrauten Gruppe schult die individuelle Wahrnehmung. Sowohl das Sprechen über ästhetische Erfahrungen als auch das eigene künstlerische Produzieren führen zu einem selbstbewussten Umgang mit Kunst und einem Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung. Im Bündnis von FFT, einem Berufskolleg und drei wechselnden Jugendzentren bestand Hinter den Spiegeln vom Frühjahr 2015 bis Ende 2016. Die Anspra-

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che der Jugendlichen fand also in der Schule und den Jugendzentren statt – unterschiedliche Umfelder und Sozialräume, die eine diverse Gruppenstruktur mit sich brachten. Während die Schüler*innen des Berufskollegs – auch wegen ihres Alters – sehr selbstständig den Weg in das Projekt fanden, brauchten die Jugendlichen der Jugendfreizeiteinrichtungen intensive und persönliche Begleitung durch die Sozialpädagoginnen vor Ort. Die Arbeit im Bündnis zeigte insbesondere an dieser Stelle ihre Stärke, denn die erste Projektphase begann im Bündnis mit dem Jugendzentrum Eller mit einem hochmotivierten Team von Sozialpädagog*innen, das die Jugendlichen aus dem Jugendzentrum mit eigener Lust in das Projekt brachte und zu allen Ausflügen begleitete. Die Ausflüge in verschiedene Orte der Stadt fanden in Abständen von zwei bis drei Wochen am Nachmittag und Abend statt. Obwohl dies in der Theorie gut geplant war, stellte sich jedoch in den nachfolgenden Projektphasen heraus, dass an dieser Stelle die Partner unterschiedliche Prioritäten in der Ausgestaltung der Projektidee hatten. Aus künstlerischer Perspektive war die Auswahl der Kulturveranstaltungen besonders entscheidend, während die sozialpädagogische Perspektive verstärkt Uhrzeit und Praktikabilität für die Teilnehmer*innen im Blick hatte. Es galt also, für die weitere Planung künstlerisch spannende Besuche zu Zeiten jugendlicher Freizeit zu finden – eine Herausforderung. Der Wunsch nach aufeinander aufbauenden Seherlebnissen und einer stetigen Horizonterweiterung für die ganze Gruppe wurde von der Realität überrollt. Diese Entwicklung setzte natürlich eine regelmäßige Teilnahme voraus, die ebenfalls nur teilweise stattfand, weil die Termine mit anderen Angeboten jugendlicher Freizeitgestaltung oder dem sporadischem Interesse kollidierten – zusätzliche erschwert durch das Verlassen des sicheren Sozialraums in unbekannte Orte künstlerischen Schaffens. Das künstlerische Team versuchte die Projektstruktur der KunstTreffen auch für eine unregelmäßige Teilnahme zu ermöglichen und den jeweiligen Besuch für sich selbst stehen zu lassen. Die KunstTreffen wurden durch kleine Beobachtungsimpulse begleitet, die die Teilnehmer*innen in persönlichen Erlebnistagebüchern festhielten. Besonders merkwürdige Augenblicke konnten immer wieder hervorgeholt und für die KunstStücke als Inspiration genutzt werden. Sie wurden unter dem Titel „Archiv der Merkwürdigkeiten“ gesammelt. Während das Kunsterleben und der Austausch darüber noch keine allzu große Verbindlichkeit einforderte, war es für die KunstTreffen wichtig, eine verlässliche und kontinuierlich arbeitende Gruppe zu formen. Da die Teilnahme unverbindlich war, versuchten wir nach der ersten Projektphase und einer gelungenen Ausstellung im FFT auf die zeitlichen Bedürfnisse der Jugendlichen einzugehen. Workshops am Samstagnachmittag oder doch besser am Donnerstagabend oder auch einmal am Sonntag? Es herrschte Uneinigkeit.

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Außerdem versuchten wir, die KunstTreffen zu ihren eigenen Kunstprojekten werden zu lassen: doch lieber Film, Mode oder ein leerstehendes Ladenlokal? Wir verloren uns in partizipativen Formaten des Projektdesigns. Während in der ersten Projektphase die Terminstruktur und inhaltliche Gestaltung weitestgehend vorgegeben war, wurde in den nachfolgenden Projektphasen immer mehr im gesamten Bündnis darüber diskutiert. Auch die konkrete Einbeziehung unterschiedlicher Teilnehmer*innen stellte sich als kompliziert heraus. Nach und nach nahm der Diskurs über die Anforderungen an das perfekte Konzept in unseren Planungsgesprächen mehr Raum ein als die Inhalte des Projekts selbst. Irgendwo zwischen Experimentierlust, Bündnisstärkung, Beteiligungsdruck und den eigenen wachsenden Ansprüchen an Hinter den Spiegeln gerieten wir aus dem Tritt. Jedes Bündnis, jedes Format und jede Gruppe brauchte mehr Zeit zu wachsen, als wir sie letztendlich geben konnten.

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SOLLEN WIR ?

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KÖNNEN WIR ?

Wir haben keine finale Antwort darauf, wie das perfekte und erfolgreiche partizipative Projekt der Kulturellen Bildung funktioniert. Eigentlich wollen wir den Begriff der Kulturellen Bildung auch gar nicht mehr verwenden. Wir suchen nach gemeinsamer Erfahrung und Erweiterung unseres Wissens in künstlerischen Settings. Wir interessieren uns für die Sozialräume der Jugendlichen, aber wir wollen sie nicht einfach bespaßen. So, wie sich die künstlerische Beteiligung vom Laien- zum Expert*innentheater verwandelt hat, wollen wir ein Dialograum sein, der für alle zugänglich ist. Wir suchen Künstler*innen aus unterschiedlichen Kultur- und Sprachkontexten, Künstler*innen mit interdisziplinären Arbeitsweisen, Künstler*innen, die den öffentlichen Raum irritieren, die begeistern und zuhören – aber allen voran Künstler*innen, die ihren eigenen Fragen nachgehen und nicht den kultur- und bildungspolitischen Rufen folgen. Förderprogramme wie Wege ins Theater! werden dann interessant, wenn man sie mit größtmöglicher Kreativität interpretiert und für seine eigene Fragestellung nutzbar macht. Man kann sich Freiräume zum Forschen und Ausprobieren schaffen. Aber man muss sich bewusst sein, dass man auch an Grenzen stößt, so wie es bei uns der Fall war. Bündnisse bauen, Teilnehmer*innen konstant und auch in der Mindestanzahl halten, Scouts etablieren und erfolgreich die Projekte beschreiben, bevor sie in der Praxis durchgeführt werden. Am Ende geht es unseres Erachtens ums Forschen, aber nicht um Quoten, Stigmata und Abgrenzung, sondern um Offenheit und Vielfalt. Spannend ist das Experimentieren, aber man sollte nicht den Fahrplan im Projekt ändern – auch

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wenn es die Förderbedingungen oder die pädagogischen Partner*innen möchten. Wir wünschen uns, dass das Wagnis auf allen Seiten besteht und nicht nur auf Seiten der Antragstellenden, Projektleiter*innen und Künstler*innen. Unsere Erfahrungen zeigen auf der einen Seite, dass es eine Vielzahl an jungen Menschen gibt, die sich für Kunst und Kultur interessieren und die über die eigene künstlerische Beteiligung damit beginnen, für die Kunst zu brennen. Wir sehen sie in unseren Vorstellungen, aber vor allem auch in den zahlreichen anderen Veranstaltungen der Stadt. Ihr Interesse ist weitreichend und sie sortieren selbstbewusst und eigenständig ihre Möglichkeiten. Sie brauchen uns dann nicht mehr und das ist gut so. Doch auf der anderen Seite gibt es auch eine Vielzahl an jungen (und auch alten) Menschen, für die das Theater keine Rolle spielt. Wir gehen auch höchst selten ins Stadion zum Fußballspiel. Und trotzdem kicken wir gerne am Strand. Wir sind Impulsgeber*innen – für ganz kurze Momente oder für viele Jahre. Die Entscheidung, wie lange, liegt nicht bei uns. Wir eröffnen stetig neue Wege ins Theater. Wir zeigen, dass es uns gibt und dass Theater mitunter viel mehr ist, als es sich die eine oder der andere bis dahin vorstellt. Die überwiegend weiblichen Teilnehmerinnen aus Hinter den Spiegeln kennen jetzt viele Kulturangebote der Stadt. Einige haben im Nachklang noch Praktika bei uns gemacht und an Workshops teilgenommen. Andere haben wir nie wieder gesehen, aber wir wissen von unserer gegenseitigen Existenz. Die Jugendlichen kennen nun etwas Neues, das in ihrem Alltag sonst nicht vorgekommen wäre und für sie erst einmal nicht vorgesehen war. Sie haben Kunst partizipativ hautnah erlebt und bleiben trotzdem dem Theater als Zuschauer*innen fern. Wir bleiben dran!

L ITERATUR Benjamin, Walter (1969): „Programm eines proletarischen Kindertheaters“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Teil 2. Frankfurt am Main, S. 765-766. Primavesi, Patrick/Deck, Jan (Hg.) (2014): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld. Schneider, Wolfgang (Hg.) (2015): „Generation X, Y oder Z? Theater für junges Publikum zwischen Last des Erbes und Lust auf Zukunft“. IXYPSILONZETT. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater. Berlin. Tiedemann, Kathrin/Raddatz, Frank M. (Hg.) (2007): Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm – Eine Debatte zum Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum. Berlin.

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Tiedemann, Kathrin/Raddatz, Frank M. (Hg.) (2010): Reality strikes back. Tod der Repräsentation – Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt. Berlin.

Auch die Kinder haben uns ihre Welten eröffnet Wege ins Moks R EBECCA H OHMANN UND C AROLINE E ISENTRÄGER IM

G ESPRÄCH MIT E CKHARD M ITTELSTÄDT

Das Moks ist die Kinder- und Jugendtheatersparte des Theater Bremen mit eigener Spielstätte. Pro Spielzeit produziert das Moks vier bis fünf neue Inszenierungen für unterschiedliche Altersgruppen. Bundesweit ein Novum ist der freie Eintritt für Bremer Schulklassen in die Vormittagsvorstellungen des Moks. Seit 2005 gibt es zusätzlich den Bereich „Junge Akteure“, in dem pro Spielzeit ca. 200 Kinder und Jugendliche Theater in unterschiedlichen Formaten von Workshops, Jugendclubs oder Inszenierungen praktisch erproben. Im Zeitraum von 2013 bis 2017 hat das Moks mit mehreren Bündnissen unterschiedliche Projekte im Rahmen des Programms Wege ins Theater! der ASSITEJ initiiert und durchgeführt. In sieben Projekten im Format „Besuch“ wurde mit Kindern aus verschiedenen Bremer Stadtteilen in ihrem Sozialraum Stücke begleitend zum Spielplan des Moks entwickelt. In drei Projekten im Format „Gegenbesuch“ besuchten die Kinder viele unterschiedliche Theater- und Tanzproduktionen, Installationen und interaktive Ausstellungen in und rund um Bremen und blickten hinter die Kulissen der Institutionen. In fünf Projekten im Projektformat „Scouts“ begleiteten die Kinder als Expert*innen und Mitspieler*innen Produktionen der Profis, diskutierten als Kinderjury und Kinderdramaturg*innen den Spielplan des Theaters, luden eine mobile Produktion in ihren Sozialraum ein und entwickelten eine Ausstellung und eine Matinee begleitend zum Spielplan des Moks. Dazu kamen zwei Projekte mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Kooperation mit dem Jugendhaus „Die Buchte“, mit einer Notunterkunft des DRK und einem Übergangswohnheim der Caritas Bremen im Projektformat „Besuch“.

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Hier näherten sich die Teilnehmer*innen den Inhalten der Theaterstücke in Form von Maskenbau und -spiel und durch das Gestalten mit Stencils, mit denen ganz wörtlich der Weg ins Theater auf Straßenpflaster gesprüht wurde, an. Rebecca, ich kann mich erinnern, dass wir schon 2012 über Kultur macht stark gesprochen haben. Damals standen die Formate der Programmpartner*innen im Theaterbereich noch gar nicht fest, aber Du warst bereits sicher, dass sich das Moks an dem Programm beteiligen wird. Warum warst Du dir da so sicher?

RH: Ich habe das Programm von Anfang an als Chance gesehen, in die verschiedenen Stadtteile Bremens hineinzuwirken, um dort bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen. Unser Theater befindet sich wie viele Theater im Zentrum der Stadt. Zu uns kommen vor allem Kinder und Jugendliche aus der näheren Umgebung, die man überwiegend als privilegiert bezeichnen kann. Damit meine ich zum Beispiel Elternhäuser, die ihre Kinder auf Angebote des Theaters aufmerksam machen, sei es auf Vorstellungen oder auf Theaterprojekte zum Mitspielen oder Ferienangebote. Viele Kinder haben nicht solche Elternhäuser. Diese müssen wir direkt oder über die Schule erreichen. Dabei waren bei den Projekten im Rahmen von Kultur macht stark unsere Bündnispartner*innen vor Ort eine große Hilfe, sodass wir uns schnell in den jeweiligen Stadtteilen vernetzen konnten. Ohne freiberufliche Mitarbeiter*innen, deren Honorare über das Programm finanziert werden, könnten wir diese Arbeit in dem Ausmaß nicht leisten. Dass wir uns so sehr bei Kultur macht stark engagieren – neben Wege ins Theater! haben wir auch mehrere Projekte über das Projekt Zur Bühne des Bühnenvereins realisiert – hat auch damit zu tun, dass wir in Bremen die höchste Kinderarmutsquote in der Republik haben. Wir haben die Verantwortung gespürt, „unseren“ Bremer Kindern und Jugendlichen ihren Anteil aus dem Fördertopf zukommen zu lassen. Von Anfang an hat mir auch die langfristige Perspektive von Kultur macht stark gefallen. Fünf Jahre Programmlaufzeit bedeutet für uns, dass wir nachhaltig arbeiten können und nicht nach ein oder zwei Projekten die Arbeit wieder einstellen müssen, wenn sich vielleicht gerade einmal schöne und wertvolle Kontakte ergeben haben. Zu Beginn hatte ich das Programm falsch verstanden und dachte, ich könnte gleich für fünf Jahre Gelder beantragen, um eine Verlässlichkeit gewährleisten zu können. Am liebsten wäre mir gewesen, eine Dependance von „Junge Akteure“ in einem Außenbezirk aufzumachen, aber um das zu verwirklichen, hätten wir die Zusage von Geldern für fünf oder zumindest drei Jahre ge-

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braucht. Eine Kontinuität gelingt jetzt auch, ist aber beschwerlicher, da die Anträge immer wieder neu gestellt werden müssen. Wichtig ist uns, den Kindern ein verlässlicher Partner sein zu können. Was bedeutet diese verlässliche Partnerschaft für Dich?

RH: Verlässlichkeit bedeutet für mich in diesem Fall, dass wir den Kindern die Möglichkeit geben, ein eventuell neu entdecktes Hobby weiterführen zu können und es nicht mit Projektende abrupt beenden zu müssen. Und dass es eine Kontinuität in den Personen gibt, die mit ihnen arbeiten, sodass Vertrauen aufgebaut werden kann. CE: Für uns war es schön, auf Erfahrungen mit den Kindern und mit den Bündnispartner*innen aufbauen zu können und nicht bei jedem Projekt wieder bei null starten zu müssen. Ihr habt zwei langfristige Bündnisse initiiert. Habt Ihr in den Projekten dieser Bündnisse immer mit derselben Kindergruppe gearbeitet?

CE: Im Stadtteil Obervieland arbeiten wir jetzt seit vier Jahren kontinuierlich mit einer Gruppe im dortigen Bürgerhaus in einer Kooperation mit der Grundschule Alfred-Faust-Straße. Acht Kinder sind von Anfang an dabei, einige haben aufgehört und es kommen immer wieder neue hinzu. Im Stadtteil Neustadt arbeiten wir mit dem SOS-Kinderdorfzentrum und der Grundschule Oderstraße zusammen. Dort sind sechs Kinder von Beginn an dabei, also jetzt drei Jahre. Die meisten Eurer Projekte im Rahmen von Wege ins Theater! fokussieren Kinder als Zielgruppe. War das eine bewusste Entscheidung?

CE: Ja, wir haben uns bewusst für die Arbeit mit Kindern entschieden. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen wollten wir an der Spielfreude von Kindern anknüpfen, zum anderen sahen wir die Chance, sie über einen längeren Zeitraum zu begleiten und damit nachhaltig wirken zu können. Bei Kindern ist die Möglichkeit der Teilhabe unserer Meinung nach auf andere Weise spannend als bei Jugendlichen, da sie auf mehr Unterstützung von Erwachsenen angewiesen sind. RH: In den Projekten, die wir mit dem Bühnenverein realisiert haben, bestand die Zielgruppe aus Jugendlichen. Mit ihnen haben wir Stadteilinszenierungen realisiert, mit einem Probenaufwand von jeweils drei bis vier Monaten.

94 | REBECCA H OHMANN UND C AROLINE E ISENTRÄGER Wege ins Theater! ist ja ein sehr programmatischer Titel. Welche Wege haben die Kinder ins Theater geführt? Und als sie dann im Theater waren, wie haben sie es sich angeeignet?

CE: Wir haben mit den Projektformaten Besuch und Gegenbesuch angefangen. Im Stadtteil Obervieland hatten wir das Glück, dass wir schnell eine funktionierende Gruppe hatten. Was natürlich nicht heißt, dass immer alle gekommen sind. Gerade bei Ausflügen mussten wir Kinder oft von zuhause abholen und manchmal wurden einige Kinder nicht zum verabredeten Zeitpunkt abgeholt, sodass wir mit ihnen noch lange gemeinsam auf die Eltern gewartet haben. In der praktischen Arbeit im Projektformat Besuch haben die Kinder verschiedene Mittel des Theaters und angrenzender Kunsttechniken kennengelernt und erprobt. Sie haben das Spiel mit der Videokamera kennengelernt, mit Trickfilmelementen gearbeitet und einen Kurzfilm erstellt. Sie haben tänzerisch Bewegungsmaterial erfunden und eigene Theaterstücke und Performances auf die Bühne gebracht. Sie haben ihr Umfeld und die Gesellschaft, in der sie leben, untersucht, Passant*innen befragt, ein interaktives Forschungslabor entwickelt und spielerisch Geschichten und Interventionen in den öffentlichen Raum verlegt. Sie nutzten die Möglichkeiten des Theaters, um die Welt, in der sie leben, zu beobachten und zu reflektieren. Stets war der Ausgangspunkt der künstlerischen Suche ein aktuelles Stück des Spielplans des Moks. Über die Jahre ist es schön zu beobachten, dass die Kinder viel über Theater gelernt haben. Sie entwickeln eigenständig Szenen und spielen souverän mit den Theatermitteln, wie Aufbrechen der vierten Wand, Perspektivwechsel der Figuren oder dem Spiel mit Wiederholungen. Im Gegenbesuch haben die Kinder das Theater Bremen durch Vorstellungen und Probenbesuche kennengelernt. Seid Ihr mit den Teilnehmer*innen auch in andere Städte gefahren?

CE: Ja, wir sind nach Oldenburg, Hildesheim und Hannover gefahren. In Oldenburg haben wir zum Beispiel die Kinderoper „Gold“ gesehen, in Hannover ein begehbares Hörspiel der Gruppe Kassettenkind und in Hildesheim „Die Konferenz der wesentlichen Dinge“, ein interaktives Stück der Gruppe Pulk Fiktion. Schön war, dass uns auch Eltern bei diesen Ausflügen begleitet haben. Was war das Besondere bei den Projekten im Format „Scouts“?

CE: Besonders spannend finde ich beim Scout-Format, dass Kindern Möglichkeiten gegeben werden Einfluss zu nehmen. Sie werden noch einmal ganz anders gefordert und sind noch näher dran an der Institution Theater und den Künstler*innen.

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Welche Scout-Formate habt ihr verwirklicht?

RH: Das erste Scout-Format haben wir mit der Gruppe aus Obervieland durchgeführt. Sie war unsere Kinderjury beim norddeutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival Hart am Wind 2014 hier in Bremen. Für das Festival war es eine neue Errungenschaft, die es vorher noch nicht gab. Für die Theaterensembles war es eine tolle Bereicherung, die Begründungen und Auswahl der Kinderjury zu hören. Das hat nachhaltig gewirkt, sodass es auch zwei Jahre später in Hamburg eine Kinderjury gab. Mir ist in Euren Projektbeschreibungen der Begriff „Kinderdramaturgie“ aufgefallen. Was habt Ihr darunter verstanden und wie seid Ihr das angegangen?

CE: Wir wollten den Kindern die Position von einer Dramaturgin bzw. einem Dramaturgen näherbringen, sodass die Kinder nachvollziehen können, wie die Stücke auf den Spielplan kommen, in welchem Kontext eine Entscheidung für ein Stück fällt und welche Überlegungen noch dazu gehören, wie zum Beispiel: Welche Formen möchten wir gerne im Theater sehen, welche Orte möchten wir bespielen, was wollen wir eigentlich erzählen und was wollen wir einem Publikum vermitteln? Nach diesen Überlegungen und einer Auswahl von Büchern, haben wir die Kinder mit einem Schauspieler arbeiten lassen. Sie konnten bestimmen, welche Rolle sie ihm gerne geben würden. Die Idee dazu war, ihnen spielerisch die Strukturen im Theater begreifbar zu machen. Theater kann ja auch ein ziemlich intellektueller Betrieb sein, gerade in der Dramaturgie. Das scheint mir von der Erfahrungswelt der Kinder weit entfernt zu sein. Wie habt Ihr ihnen das nähergebracht?

CE: Zunächst ging es darum, Ausschnitte aus Büchern zusammenzufassen und nachzuspielen – da waren sie im Thema. Dann haben wir zum Beispiel zum Buch „Der Träumer“ von Pam Muñoz Ryan gemeinsam mit dem Schauspieler Walter Schmuck Improvisationen durchgeführt. Beim „Träumer“ geht es um einen Jungen, der Schwierigkeiten mit dem Lesen hat. Aber wenn er träumt, kann er lesen, dann fliegen die Buchstaben und er kann alles verstehen. Die Kinder haben Zettel mit Begriffen auf Steine geklebt und der Schauspieler ist herumgegangen und hat erst einmal vorgelesen, was auf den Zetteln steht, und dabei gestottert. Dann hat er sich schlafengelegt, ist im Traum herumgegangen und hat die Zettel lesen können. Und was er gelesen hat, haben die Kinder dann gespielt. Wir haben uns also zunächst spielerisch angenähert, aber auch mit dem Schauspieler diskutiert. Als Abschluss des Formats haben wir uns mit dem Intendanten des Theater Bremen, Michael Börgerding, getroffen. Die Gruppe hat ihm ihre Lieblingsbücher

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vorgestellt, die sie gerne einmal auf der Bühne sehen würden, wie zum Beispiel den Comicroman „Gregs Tagebuch“, das oben erwähnte Buch „Der Träumer“, aber auch „Die Minons“. Unser Ziel war es nicht unbedingt, dass die Stücke gespielt werden, sondern dass die Kinder selber spielerisch die Rollen als Dramaturg*innen oder Regisseur*innen einnehmen und ihre Ideen ausprobieren konnten. Das hat sich auch auf unsere weitere Arbeit mit ihnen ausgewirkt. Im Moment wollen zum Beispiel alle ein klassisches Märchen spielen, obwohl wir mit ihnen viel zeitgenössisches Theater und verschiedene Theaterformen angeschaut haben. Ein klassisches Märchen zu spielen finden meine Kollegin Lucie Tempier und ich als Form nicht angemessen, aber wir haben von den Kindern von Anfang an eine eigene Meinung eingefordert und die vertreten sie nun auch. In unserer aktuellen Inszenierung zitieren und bearbeiten wir mit ihnen klassische Märchenstoffe, jedoch eher performativ. Thema dieses Buches ist Teilhabe. Die Kinder durften an eurem Theater teilhaben, etwas ausprobieren, aber es hatte dann doch keine Konsequenzen oder habt ihr jetzt Märchen auf dem Spielplan?

RH: Nein, diese Wünsche haben wir nicht umgesetzt, was jedoch nicht heißt, dass wir grundsätzlich gegen Märchenstoffe sind. Einen Kinderbeirat finde ich ein spannendes Thema, womit ich mich aber viel intensiver beschäftigen müsste, um hier eine fundierte Haltung zu entwickeln. Ich sehe unsere Aufgabe generell auch darin, die Kinder mit etwas Unbekanntem bekanntzumachen, ihren Horizont an Themen und Formen zu erweitern. Aber es gibt genauso Beispiele, bei denen die Kinder durchaus Einfluss genommen haben. Unter Teilhabe verstehe ich auch, wenn Kinder unsere Arbeit begleiten und ihre Gedanken und Erfahrungen in unsere Arbeit zurückfließen. Die Gruppe aus Obervieland hat zum Beispiel sehr intensiv unser interaktives Stück „Alice ein Spiel“ begleitet, was uns in der Entwicklung des Stückes sehr geholfen hat. Ausgehend vom Märchen „Alice im Wunderland“ haben wir einen StationenParcours durch die Hinterräume des Theaters entwickelt. Die Kindergruppe hat zeitgleich mit dem Ensemble des Moks begonnen zu den Themen Spielen und Herausforderungen zu forschen, um die es uns bei dieser Produktion ging. Dann haben wir uns gegenseitig zu den Proben eingeladen und für die jeweils andere Gruppe einen Parcours errichtet, in dem es genau darum ging. Die gemeinsamen Proben habe ich sehr positiv in Erinnerung, weil wir alle sehr viel voneinander gelernt haben. Uns hat zum Beispiel sehr interessiert, was Kinder heute alleine machen dürfen, ob sie unbeobachtete Freiräume haben oder ob sie immer unter

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der Aufsicht von Erwachsenen stehen. Was möchten sie gerne einmal ausprobieren? Was sind spannende Herausforderungen für Kinder oder Erwachsene? Was spielen wir gerne, welche Spiele haben wir verlernt, was sind neue Spiele, die wir Erwachsenen nicht kennen? Letztendlich ist aus diesem Probenprozess ein Stück entstanden, bei dem sich jeweils fünf Kinder ohne Erwachsene durch einen Parcours im Theater bewegen, herausfordernde Aufgaben und Rätsel bewältigen müssen, alleine kochen dürfen und in den Theaterräumen auf die Schauspieler*innen treffen, die mal privat und mal als Figuren in Erscheinung treten – in einem Wechselspiel zwischen Wunderland und realer Welt. Die Kinder haben zu diesem Stück auch einen Trailer erstellt, den man sich auf unserer Homepage anschauen konnte. Also haben die Kinder ihre eigene Perspektive auf das Stück in diesen Trailer verpackt?

RH: Ja, genau. Der Trailer wurde im Anschluss an den Generalprobenbesuch mit unserem Videospezialisten produziert. CE: Ausgehend von den Erfahrungen in der Arbeit mit dem Moks-Ensemble haben sich die Kinder von der Figur des Hutmachers aus „Alice im Wunderland“ verrückte Hutgeschichten überlegt und diese rund um das Bürgerhaus und das Einkaufszentrum herum gespielt. Gab es bei jedem der Projekte eine Präsentation, bei der die Kinder selber auf der Bühne standen?

CE: Ja, die Kinder wollen sich präsentieren. Wie zum Beispiel auch in der Kindermatinee zum Stück „Pünktchen und Anton“. Bei dieser Matinee haben die Kinder gemeinsam mit den Schauspieler*innen das Stück einem externen Publikum vorgestellt. Sie haben moderiert, aber auch mit den Schauspieler*innen zusammengespielt. Sie wollen spielen und Dinge ausprobieren, aber in den verschiedenen Formaten geht es nicht unbedingt immer ums Spielen, sondern auch ums Diskutieren. Wir suchen immer nach Möglichkeiten der Beteiligung. Im nächsten Monat haben wir eine externe Produktion ins Bürgerhaus, in den Stadtteil der Kinder, eingeladen. Es spielen demnächst die Azubis aus Hamburg ihre Produktion „Vom Schatten und vom Licht“. An der Entscheidung, wer eingeladen wird, waren die Kinder maßgeblich beteiligt.

98 | REBECCA H OHMANN UND C AROLINE E ISENTRÄGER Habt Ihr denn bei den Kindern eine Entwicklung gespürt? Schauen sie Stücke jetzt genauer?

CE: Es ist immer anders, wenn sie sich ein Stück angeschaut haben, von dem sie auch die andere Perspektive kennengelernt haben. Es wird uns auch immer gespiegelt, dass Gruppen, die schon vorbereitet waren, anders im Zuschauerraum sind, ein bisschen neugieriger vielleicht. Was hat sich mit dem Projekt Wege ins Theater! für Euch verändert?

RH: Wege ins Theater! als programmatischer Titel verdeutlicht mir noch einmal, dass viele Menschen in dieser Stadt das Stadttheater nicht als Institution wahrnehmen, die auch für sie da ist. Die Kinder, mit denen wir in den Wege ins Theater!Projekten arbeiten, sind sonst eigentlich ausgeschlossen. Obwohl das Moks freien Eintritt für Bremer Schulklassen anbietet und wirklich jede und jeder Euer Theater besuchen kann, sagst Du: Sie sind ausgeschlossen?

RH: Ja. Sie erleben die Theatervorstellungen als Schulveranstaltung. Dass sie auch nachmittags oder in den Ferien kommen können oder selber Theater spielen können, wissen sie nicht. Oder aber die Hürden sind so groß, da sie von zuhause keine Unterstützung erfahren. Für die Kinder ist die Anreise in einen anderen Stadtteil schon ein Hindernis. Wenn man einmal einen Perspektivwechsel vornimmt und sich in ein Kind in Obervieland versetzt, dann lässt sich erahnen, wie weit weg, sowohl im geografischen als auch im inhaltlichen Sinne, das Theater mit seinen vielen Möglichkeiten ist. Wenn sie in ihren Stadtteilen mit uns in Kontakt treten, geht für sie ein ganz anderer Möglichkeitsraum auf – oder wie nimmst du das wahr, Caroline? CE: Es ist auch nicht selbstverständlich, dass sie mit ihren Schulen kommen. Wir haben mit vielen gearbeitet, die wirklich noch nie im Theater waren, weil ihre Schulen den organisatorischen Aufwand scheuen oder andere Schwerpunkte haben. Wenn wir vor Ort sind, erleben sie, dass sie selbstständig nachmittags oder am Wochenende kommen können. RH: Teilhabe beginnt dann, wenn ich überhaupt erst einmal die Möglichkeit habe, etwas kennenzulernen. Das ist der erste Schritt. Doch auch das ist nicht einfach. Wir als Theatermacher*innen haben manchmal keine wirkliche Idee davon, wie schwierig dieser erste Schritt ist. In einem Umfeld, in dem es keinerlei Bezug zum Theater gibt, kann man mit Plakaten oder Werbeflyern nichts erreichen, denn es gibt keine Vorstellung davon, was Theater ist. Deshalb ist es wichtig, vor Ort zu sein, Hemmschwellen und Barrieren so klein wie möglich zu halten und in den direkten Kontakt zu gehen.

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CE: Teilhabe ist für mich auch, den Kindern Mittel an die Hand zu geben, sich durch das Theater der Welt mitzuteilen. Also wenn wir mit ihnen Theater machen, dann will ich ihnen auch ermöglichen, verschiedene Theaterästhetiken und Theatermittel kennenzulernen und ihren Blick auf die Welt nach draußen tragen zu können, dass sie von sich und ihrem Umfeld erzählen können. Das bestärkt sie darin, dass das, was sie zu erzählen haben, für andere interessant und relevant ist. RH: Eine andere Programmpartnerin von Kultur macht stark nennt ihr Programm Künste öffnen Welten. Das stellt sich in vielerlei Hinsicht ein und vollzieht sich auch ganz praktisch und scheinbar profan, wenn die Kinder in andere Städte fahren, wie nach Oldenburg oder Hannover, und dort ins Theater gehen. Manche Kinder verlassen dann zum ersten Mal die Stadtgrenze. Auch wenn sie zu uns hier in Bremen ins Theater kommen, gibt es einige von ihnen, die zum ersten Mal in die Innenstadt kommen. Wie gesagt waren wir von Anfang an sehr aufgeschlossen gegenüber diesem Programm. Abschreckend war zunächst der hohe bürokratische Aufwand. Gut war in diesem Fall für uns, dass Caroline sich zum Ende ihrer Elternzeitvertretung als Theaterpädagogin hier am Theater in die Antragsstellung eingearbeitet hat und uns dann in der Folge als Freiberuflerin bei den jeweiligen Antragstellungen sehr geholfen hat. Manchmal gibt es ja Fördergelder für bestimmte Projekte, bei denen es zu große inhaltliche Vorgaben gibt, sodass man sich in der künstlerischen Arbeit bedrängt fühlt. Das habe ich bei diesem Programm nicht gespürt. Ich habe es als Anstoß gesehen, noch mehr die Komfortzone zu verlassen. Wir haben im Moks mit „Junge Akteure“ eine sehr große theaterpädagogische Abteilung, bei der jede Spielzeit intensiv ca. 200 Kinder und Jugendliche in Projekten und Kursen Theater spielen. Dieser Zulauf ist großartig und ist natürlich auch sehr arbeitsintensiv. Trotzdem fanden wir es sehr wichtig, uns mehr für die benachteiligten Kinder und Jugendlichen zu engagieren, denn die finden wir in unseren Kursen und Projekten nur vereinzelt. Wobei ich sagen muss, dass sich dies in den letzten zwei bis drei Jahren stetig verändert. Gerade aus unseren Jugendprojekten, die wir in unterschiedlichen Stadtteilen realisiert haben, bleiben einige Jugendliche dabei und kommen inzwischen selbstverständlich ins Theater und sind Teilnehmer*innen bei „Junge Akteure“. Da freuen wir uns wirklich immer über jeden, den wir gewinnen können. Durch die Anleitung durch Freiberufler*innen und dem Arbeiten in anderen Stadtteilen sind die Projekte manches Mal etwas aus dem alltäglichen Fokus geraten. Wir haben sie mitinitiiert und dann laufen lassen. Je länger diese Projekte jedoch bestehen, habe ich das Gefühl, es wäre gut, wenn wir als Festangestellte uns noch mehr in diese Arbeit einklinken würden und Kontakte in den jeweiligen

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Stadtteilen intensivieren. Eine Überlegung ist es zum Beispiel, dass wir ab der nächsten Spielzeit die Ergebnisse der Projekte mit in unser Werkstatt-Spektakel integrieren, sodass die Kinder nicht nur vor ihren Eltern und Freunden spielen, sondern mehr mit den anderen Kindern aus unseren Theaterwerkstätten in Kontakt kommen. Das lockt dann auch die Eltern der Kinder, das Theater kennen zu lernen. Wir erleben es doch recht häufig bei unseren „Junge Akteure“-Produktionen, dass Eltern und Freunde, wenn sie zu den Aufführungen ihrer Kinder kommen, sich zum ersten Mal auf dem Gelände des Theaters befinden. Und das sind dann noch einmal ganz praktisch „Wege ins Theater“. Zugleich habt Ihr dann aber auch einen größeren Fokus in die Stadt hinein?

RH: Absolut. Die Verpflichtung, Bündnisse einzugehen, empfinde ich als wertvoll, da man dadurch in die Netzwerke der Stadtteile vor Ort hineinkommt. Schulen waren zu Beginn wesentliche Partnerinnen für uns, da wir mit ihnen in Verbindung waren und wir über sie Kinder und Jugendliche erreichen konnten. Inzwischen arbeiten wir viel mit den Bürgerhäusern zusammen, die es in Bremen in fast jedem Stadtteil gibt. Vorher hattet Ihr keinen Kontakt zu den Bürgerhäusern?

RH: Nein, zu den Bürgerhäusern gar nicht. Sie funktionieren in Bremen als eigene Kulturzentren in den Stadtteilen mit eigenen Angeboten. Also das ist etwas, das sich am Theater durch die Bündnisse verändert hat: Das Theater hat seinen Radius in der Stadt erweitert?

RH: Ja, und das empfinde ich als sehr wertvoll. Bundesmittel sind ja nie für die Ewigkeit gedacht. Kultur macht stark wird es jetzt noch weitere fünf Jahre geben, aber danach wird es zu Ende gehen. Siehst Du da eine Chance, dass sich auch in einer armen Stadt wie Bremen etwas entwickeln kann, das unabhängig von Kultur macht stark solche Projekte ermöglicht?

RH: Das ist natürlich immer eine Frage des Geldes. Ein Plus ist sicher, dass sich in den vergangenen Jahren Strukturen entwickelt haben, auf die man zurückgreifen kann. Aber es stellt sich die Frage, ob wir Schwerpunkte in unserer Arbeit verschieben müssen. Das Problem ist ja immer, dass man, wenn man etwas Neues machen möchte, in der Regel etwas Liebgewonnenes lassen muss. In dem Umfang wie bisher werden wir die Kultur macht stark-Projekte sicher nicht anbieten können. Aber sich ganz aus dieser Arbeit herauszuziehen, kann ich mir im Moment

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auch nicht vorstellen, da wir mit dieser Arbeit so viel bei den Kindern bewirken können und es insofern absolut wert- und sinnvoll ist, diese Arbeit fortzuführen. Auch für uns als Institution ist es bereichernd, mit Kindern und Jugendlichen aus möglichst vielen unterschiedlichen sozialen Kontexten in Kontakt zu sein. Auch sie haben uns ihre Welten eröffnet. Und wenn ich den Gedanken des Stadttheaters konsequent denke, dann sehe ich es als unsere Aufgabe an, Zugang für alle Bremer*innen zu ermöglichen. Caroline, was ist das Besondere an den Wege ins Theater!-Projekten, wenn man sie mit den anderen theaterpädagogischen Projekten des Moks vergleicht?

CE: Für mich persönlich ist es spannend, ein bisschen aufs Theater von außen zu gucken. Es ist für mich eine schöne Arbeit, mit den Kindern gemeinsam die Stücke zu entdecken. Sie kommen aus unterschiedlichen Stadtteilen, sind vielleicht erst einmal nicht befreundet und lernen sich dann kennen. So eine Mischung finde ich einfach schön, sie fördert offenes Denken und das Entdecken neuer Wege. In Euren Projektbeschreibungen habe ich noch einen schönen Satz gefunden: Das Theater soll als Möglichkeit aufgezeigt werden, sich und sein Umfeld als veränderbar zu erleben. Was bedeutet das für Euch?

CE: Ich würde beim Theaterspielen ansetzen. Beim Spielen an sich geht es um ihre Welt. Die Kinder und Jugendlichen können sich ausprobieren, sie werden gesehen und gehört. Sie haben, in welchem Rahmen auch immer, eine Bühne für ihr Anliegen. Sie lernen, dass sie das Recht haben ihre Meinung zu äußern, und vielleicht tun sie das im späteren Leben dann auch häufiger. RH: Zum einen hat, glaube ich, jeder Mensch, der sich im Theaterspielen ausprobiert hat, die Erfahrung gemacht, dass es ihn oder sie verändert, zum Beispiel durch das Erlernen neuer Ausdrucksmittel von Körper und Stimme. Man bemerkt zum anderen aber auch, dass es die Zuschauer*innen verändert, dass diese das Theater anders verlassen, als wie sie hereingekommen sind. Im besten Sinne wirkt das Gesehene auf der Bühne nach und bewirkt einen veränderten Blick auf Gewohntes.

Theater als Begegnungsraum Neugierde wecken, Welt beschreiben und Erfahrungen machen B ASSAM G HAZI I M GESPRÄCH MIT A NNA E ITZEROTH

Über welche Wege bist Du zum Theater gekommen?

Ich bin vor knapp 20 Jahren zum Theater gekommen. Zuerst hatte ich eine Erzieherausbildung gemacht, bin dann aber von der Pädagogik relativ schnell Richtung Theater abgewandert und habe selber in Tanztheatergruppen mitgespielt. Zur Theaterpädagogik kam ich irgendwann über Theaterprojekte mit Straßenkindern in Bolivien, wo ich dachte: Wow, das ist ein Zugang, da passiert etwas mit jungen Menschen! Meine Ausbildung zum Theaterpädagogen habe ich an der Universität der Künste Berlin und am Theaterpädagogischen Zentrum in Köln gemacht. Seit 2003 habe ich freiberuflich als Theaterpädagoge und Theatermacher in allen möglichen Zusammenhängen, mit unterschiedlichen Institutionen und Künstler*innen, gearbeitet. Teilweise habe ich Regie geführt, teilweise Co-Regie, oder ich war als Theaterpädagoge in Projekte eingebunden und habe unterschiedliche Perspektiven in der Arbeit erlebt. Aufgrund meiner eigenen Biografie habe ich gemerkt, dass es einen stärkeren Bedarf für bestimmte Zielgruppen gibt: Das Thema Migration sollte stärker im Theater verortet werden. Es gab in der Zeit nicht so viele Leute, die das gemacht haben. Ich habe dann das Thema Diversität als Arbeitsschwerpunkt entwickelt, weil mir Migration als Thema zu eng gedacht war. In der Zwischenzeit habe ich auch inklusive Theaterprojekte gemacht. Ich habe den Theaterraum immer als Begegnungsraum begriffen und fand es spannend, wenn unterschiedliche Gruppen aufeinandertreffen, weil dieser Raum neue Erfahrungen und neue Perspektiven eröffnen kann. Vor vier Jahren hatte ich dann ein Angebot vom Grips Theater in Berlin und dachte mir, dass es an der Zeit wäre,

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einmal etwas Neues auszuprobieren. Es war eine spannende und erfahrungsreiche Zeit. Wegen meiner Familie bin ich später zurück nach Köln, und hier hat sich relativ schnell eine Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Köln ergeben, die mit jungen Menschen im Stadtteil partizipativ arbeiten wollten. Gemeinsam mit dem leitenden Dramaturgen Thomas Laue und der Mercator Stiftung haben wir ein Projekt entwickelt, das sich Schule des Lebens nennt und jetzt seit knapp eineinhalb Jahren läuft. Was ist der Ansatz der Schule des Lebens und wie hat sich das Projekt seit dem Projektstart entwickelt?

Die Schule des Lebens war zunächst als eine Kooperation mit der Tages- und Abendschule (TAS) in der Nähe vom Theater gedacht, hat sich aber zu einem eigenen Ensemble mit 20 jungen Menschen entwickelt, dem Import Export Kollektiv. Am Anfang habe ich 40 Workshops für die Schulklassen an der Schule gegeben. Das war auch eine Art Akquise fürs Kollektiv. In den ersten vier, fünf Monaten kamen immer wieder Leute dazu und andere gingen. Für die Entstehung der Gruppe haben wir uns ein halbes Jahr Zeit genommen. Das Ensemble entwickelt Theaterproduktionen, die Ensemblemitglieder geben aber auch Workshops in Schulen, wo es um die direkte Auseinandersetzung mit der Lebenswelt geht, z. B.: Wie will ich meine Schule gestalten? Wie stelle ich mir die ideale Schule vor? Hier arbeite ich nach dem „train the trainer“-Prinzip. Ich gebe ihnen Methoden an die Hand und begleite sie in der Reflexion. Wofür ich schon immer gekämpft habe, war die Vision, dass junge Menschen Theater als Berufsperspektive für sich entdecken. Dazu gehört, dass es eine Form von Honorierung für die jungen Menschen gibt. In der Schule des Lebens war es von Anfang an mitgedacht und mitkonzipiert, dass die Jugendlichen Honorare erhalten, wenn sie z. B. Auftritte haben. Letztens war hier ein Tag gegen Rassismus und drei Jugendliche haben mehrere Szenen zum Thema Diskriminierung und Rassismus entwickelt. Das haben sie komplett selbständig gemacht und in der Kölner Innenstadt im Rahmen eines Aktionstages präsentiert. Ich weiß, dass sie das nicht wegen des Geldes machen, sondern weil es ihnen Spaß macht, aber man merkt, dass es noch einmal eine andere Motivation und Perspektive für sie schafft. Parallel dazu entwickelten wir das klassenübergreifende Wahlpflichtfach Schule des Lebens, das ich mit Lehrer*innen zusammen unterrichte. Da experimentieren wir mit: Was braucht Schule? Wie könnte Lernen heute aussehen. Man kommt relativ schnell aufs Thema Macht und Ohnmacht, auf Hierarchien und auf die Schnittstellen zwischen Theater und Leben.

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Wenn du an die Zeit zurückdenkst, als sich das Kollektiv gebildet hat: Wie arbeitest du mit Menschen, die noch überhaupt keine Theatererfahrung haben? Wie findet da die Annäherung statt?

Meine Grundhaltung ist, Theater, die Institution und mich nicht zu wichtig zu nehmen. Du kommst in einen Klassenraum und kündigst an, dass du vom Schauspiel Köln bist und musst erst einmal erklären, dass das ein Stadttheater und das größte Theater in Köln ist. Das ist für viele ein komplett unbekanntes Terrain, die meisten wissen auch nicht, dass das Theater direkt um die Ecke ist. Ich suche Begegnung auf Augenhöhe mit den Menschen. Wir fangen spielerisch an, kommen in Kontakt miteinander und erfahren Dinge über uns und die anderen. Nach und nach probiere ich etwas Theatrales aus und wenn ich merke, da gibt es Zugkraft, gehe ich in die Tiefe. Teilweise erlebe ich auch in einigen Zielgruppen relativ viel Abneigung gegenüber Theater. Wenn Lehrer*innen denken „Wow, super, Theaterworkshop, das machen wir!“ heißt das nicht, dass die Klasse das unbedingt will. Dann gehst du rein und einige sagen: „Theater ist voll schwul, bin ich jetzt Romeo und muss hier irgendwas spielen“. Ich mag es, diese Hürde nehmen zu müssen und dass das nicht junge Menschen sind, die sofort sagen: „Toll, Theater, Schauspiel Köln, wunderbar, ich mach da mit.“ Umso schöner ist es, wenn man Türen öffnet. Der biografische Ansatz ist für meine Arbeit wichtig. Ich hole die Menschen bei sich ab und fang im Jetzt und Hier mit ihren Geschichten an. Ich arbeite gern mit Bastelbiografien: Man nimmt einen Teil aus seiner Biografie und bastelt sich Fiktionsmomente dazu. So wird aus Wirklichkeit Wunsch und aus Wunsch wird Wirklichkeit. Man lässt offen, was was ist. Wo behaupte ich etwas und wo lüge ich? Wir arbeiten bewusst mit Lügen und erproben, wo wir sie charmant platzieren können – und das Spiel beginnt. Wir basteln uns Figuren, die mit unseren hybriden Identitäten, Visionen und Sehnsüchten spielen. Ein performatives Format, mit dem wir am Anfang stark experimentiert haben, nannte sich Mein KültürCafé. In einem klassisch-migrantischen Männercafé auf der Keupstraße in Köln-Mülheim haben wir uns ein „Hinterzimmer“ angemietet und dieses theatral bespielt. Ein Begegnungsraum der anderen Art sollte entstehen. Insgesamt sind es immer acht Spieler*innen. Je vier Spieler*innen sitzen verteilt mit jeweils fünf Zuschauer*innen an einem Tisch. Übers Erzählen kommt man ins Gespräch mit den Leuten und vermittelt ihnen nach und nach eine Biografie, lässt aber offen, ob das jetzt alles wahr ist. Dazwischen werden Choreografien, Gesang, Spielszenen und vieles mehr eingeflochten – und nicht zu vergessen der Chai als einladender Moment. Das Prinzip ging komplett auf, weil es bei den Zuschauer*innen immer Neugier geweckt hat und sie wissen wollten, was wahr ist und was nicht. Wir haben z. B. eine Akteurin – sie ist 22 Jahre alt und eigentlich polnischstämmig – hat aber

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erfahren, dass einer ihrer Ur-Opas aus Italien kommt, was sie selber total spannend fand, weil sie die italienische Sprache liebt. In ihrer Biografie hat sie stark herausgearbeitet, dass ihre Eltern italienisch sind. Dann hat sie aber erzählt, dass sie für Anwälte arbeitet, für die Kanzlei „Heer & Sturm“, die den NSU-Prozess, d. h. Beate Zschäpe, vertreten haben. Das Italienische, das haben alle sofort geglaubt; das mit der NSU, daran haben alle gezweifelt. Rate mal, was stimmt – das mit der Kanzlei. Das KültürCafé war als Format sehr spannend, weil es nicht nur den Spieler*innen Schutzraum geboten hat, über sich selber zu erzählen, sondern man auch immer den Joker hatte, nicht die Wahrheit erzählen zu müssen. Und wer weiß schon, was diese ganze Wahrheit sein soll. Wir haben das innerhalb des ganzen Prozesses in den ersten Produktionen thematisiert: über sich selber erzählen oder nicht erzählen wollen, wo fängt Privatsphäre an, wo ist es Neugier. Wir haben uns stark mit der Fragestellung beschäftigt, die viele aus der Gruppe oft zu hören bekommen, nämlich: Woher kommst du? Und mit ihren Antworten haben sie auch ihre Lebenswelt beschrieben und dass es immer etwas mit ihnen macht, wenn sie sich erklären müssen. Wie unterschiedlich Reaktionen sind, wenn man ganz unpassende Antworten gibt. Das Schöne ist, dass das KültürCafé als Recherche angelegt war, die man mit den Zuschauer*innen teilt und am Tisch gleichzeitig auch Geschichten von Zuschauer*innen erforscht. Wir hatten ganz viel junges, diverses Publikum, da kamen viele neue Geschichten, die uns wiederum für unsere eigenen Geschichten inspiriert haben. Das heißt, wenn ich mir heute bei der Performance die und die Geschichte von jemand anderem angehört habe, dann kann es sein, dass ich die bei der nächsten Aufführung in meine Biografie einbaue und die Erfahrung als meine Erfahrung behaupte. Gerade wenn es Ähnlichkeiten gab, war das immer ein Berührungsmoment, wo sie sich etwas herauspicken konnten. Mir war es wichtig, ein experimentelles Format mit dem Kollektiv zu erproben, dass die Schnittstelle zwischen Figur und Ich auslotet. Gerade die Jugendlichen, die dachten, wow, das ist bestimmt so eine Art Jugendclub und irgendwann dürfen wir auf der großen Bühne spielen, für die war es eher enttäuschend und die haben sich auch dagegen aufgelehnt. Zwei Drittel der Gruppe war voll dabei, ein Drittel hat mit dem ersten Format ein wenig gelitten. Die haben offen gesagt, dass sie lieber etwas Anderes wollen, sind aber inzwischen umso überzeugter und haben eingesehen, warum der erste Teil wichtig war. Das, was wir jetzt auf der Bühne haben – wie sehr sie sich trauen, eigene Geschichten zu erzählen, eine Setzung auf der Bühne zu behaupten und mit welcher Freiheit sie erzählen, weil sie eben diesen Schutz haben – konnte nur dadurch entstehen. Sie sind selber Autor*innen und Biograf*innen der eigenen Geschichte, die auch sagen: Das möchte ich so nicht erzählen. Es gibt Leute, die im ersten Jahr

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nicht dabei waren und bei denen ich jetzt die Erfahrung mache, dass ihnen der Schutzraum teilweise fehlt und wir das im Nachhinein rückwirkend etablieren müssen, da sie das Prinzip nicht kennen und manchmal alles auf einmal erzählen wollen. Dann muss ich die Bremse ziehen. Gerade bei den beiden syrischen Jugendlichen muss ich aufpassen, dass ich sie schütze beziehungsweise eine Form finde, die sie schützt. Damit experimentieren wir viel. Das ist unser bio-fiktionales Basteln. Wie habt ihr die Schüler mit dem Theaterangebot angesprochen und zur Teilnahme eingeladen?

Ich habe knapp nach der Hälfte der Workshops ein Probetraining angeboten. Auf der Liste waren etwa knapp 100 Interessierte, zu den Probetrainings kamen letztendlich 50 Leute. Auf der TAS sind spannende Leute, viele Leute, die etwas älter sind, weil sie im normalen klassischen Schulsystem nicht klarkamen und jetzt ihre Abschlüsse nachholen. Es ist eine migrantisch-diverse Schule. Bei den Tages- und Abendschulen gibt es eine hohe Fluktuation. Am Anfang des Semesters sind in den Kursen 35 Leute, nach knapp acht Wochen sind es nur noch 20. Das hat sich auch ein bisschen in unserem Kollektiv widergespiegelt. Deswegen war von Anfang an der Kerngedanke für das Kollektiv, dass wir das nicht nur für die Schule und mit der Schule zusammen machen, sondern bewusst öffnen. Ich habe hier im Stadtteil schon zehn Jahre lang gearbeitet und dadurch relativ schnell fünf bis zehn Jugendliche aus älteren Projekten gehabt, die Bock hatten und begriffen haben, dass wir etwas am Schauspiel Köln machen können. Das ist ja noch einmal ein Schritt weiter, als wenn wir am kleinen Kulturzentrum um die Ecke Theater spielen. Es gibt einige junge Leute, die seit sechs, sieben Jahren in allen möglichen Theaterprojekten von mir mitgemacht haben und die Teil des Kollektivs sind. Manche studieren schon, andere haben mal ein Jahr auf der Straße gelebt und sind dann auf der TAS gelandet und versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen. Wir haben einige Geflüchtete, denn die TAS hat mehrere internationale Willkommensklassen, mit denen ich auch Workshops gemacht habe. Da war die Nachfrage sehr groß, ich habe das aber bewusst begrenzt. So ist es jetzt eine relativ gemischte Gruppe. Warum ist dir das so wichtig, dass es eine sehr heterogene Gruppe ist, also dass es nicht zu viele Leute mit demselben Hintergrund sind?

Der Hauptfokus des Projekts war immer die Fragestellung, die uns leitet: Wie wollen wir zusammenleben? Der Begegnungsraum in den Proben war Spiegelbild für diese Fragestellung: Was sind unsere Werte? Wo scheitern wir als Gesellschaft? Wovon braucht es mehr? Eine homogene Gruppe erzählt dann doch sehr

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stark über ihre eigene Lebenswelt. Wenn du Erfahrungen teilen willst, dann entsteht ein ganz anderer Kosmos, wenn es nicht nur Fluchterfahrungen sind. Es bewegt total, wenn Fluchterfahrungen auftauchen, es bewegt uns aber auch genauso, wenn wir von der Lebenswelt derjenigen hören, die auf der Straße gelebt haben. Das erzählt uns ganz viel über uns als Gesellschaft. Genauso erzählt es ganz viel über uns, wenn uns das Thema Transgender betrifft, wenn jemand zum Beispiel von Frau zu Mann wird. Wir verarbeiten nicht alles in den Theaterstücken, das sind Sachen, die uns im Projekt begleiten. Diese Unterschiedlichkeit ist eine große und spannende Herausforderung. Was interessiert und motiviert die Mitglieder des Kollektivs an der Theaterarbeit?

Das ist ganz unterschiedlich. Einige wollen schauspielerisch etwas erreichen. Für sie ist es eine Art Chance sich weiterzuentwickeln. Andere haben aus einer politisch-menschlichen Haltung heraus etwas zu erzählen, was mit ihren Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus zu tun hat. Andere wiederum wollen sich mit den Ungerechtigkeiten insgesamt in der Gesellschaft bzw. auf der Welt auseinandersetzen. Ein entscheidender Motor ist letztendlich auch die Gruppe, also wir als Kollektiv. Sie haben ein Gespür dafür bekommen, wie es ist, wenn man einen Beweggrund hat, das Gemeinsame zu teilen und gemeinsam zu erzählen. Es gibt unterschiedliche Beweggründe, warum jeder etwas erzählt bzw. seine Geschichte mit anderen teilt. Es ist auch ein künstlerisches Experimentieren. Es sind einige dabei, die haben den Schritt weiter geschafft, nicht nur Workshops zu geben, sondern gehen auch in die Regie. Drei haben im zweiten Jahr als Regiekollektiv eine Theater-AG an ihrer alten Schule übernommen und dort eine eigene Produktion gemacht. Ich habe sie dabei dramaturgisch begleitet, alles andere haben sie selbstständig gemacht, über ein halbes Jahr mit einer Aufführung vor 200 Zuschauer*innen. Da sind einfach ein paar dabei, die kenne ich seit sie 13, 14 Jahre alt waren und jetzt sind sie 22. Das sind sehr schöne Momente, wo ich merke, da habe ich eine Vision und andere Menschen entdecken sie für sich und experimentieren damit künstlerisch. Es gibt eine große Vielfalt an Beweggründen, die in der Gruppe zusammenkommt. Einige in der Gruppe genießen das Zusammensein und für sie ist Theater vielleicht auch gar nicht so wichtig. Die genießen das Gemeinsame, einmal vor 250 Zuschauer*innen zu spielen und die Aufregung und den Kick danach und sind überraschend, was die Live-Energie und die Interaktion mit dem Publikum macht.

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Welche Rolle spielt das Schauspiel Köln als Institution für die Arbeit und für die Jugendlichen?

Nach und nach eine größere Rolle. Das hat auch etwas mit meinem Weg zu tun: Es ist das erste Mal, dass ich an so einer großen Institution arbeite. Es hat gutgetan, sich damit Zeit zu lassen. So würde ich auch den Prozess der Jugendlichen beschreiben. Wir nähern uns nach und nach dem Haus und werden als drittes Ensemble wahrgenommen. Es gibt eine ganz andere Wertschätzung. Das hat auch damit zu tun, dass wir am Anfang nicht so viel wollten. Wir spielten bewusst außerhalb des Theaters, das KültürCafé – was soll das am Theater, das passt da nicht hin, das muss in die Wirklichkeit rein: ein Männercafé, in dem man den Karten spielenden Männern begegnet und mit denen man Tee trinkt. Der nächste Schritt war eine Performance in unserem CARLsgarten, das ist unser Urban Gardening Projekt am Schauspiel. Wir haben diesen Garten zum Zuckerfest bespielt. Acht in der Gruppe sind muslimisch und haben letztes Jahr gefastet, wir haben eine Performance daraus gemacht. Wir haben an dem Tag behauptet, dass wir kollektiv fasten und kollektiv fastenbrechen und daraus Kunst machen. Wir haben an einer langen Tafel ein Theateressen und eine Performance gehabt und die Zuschauer*innen durch den Garten bespielt. Im November 2016 hatten wir dann unsere erste größere Produktion: „Wir über uns – Geschichten aus dem Kollektiv“. Ein nächster Schritt findet jetzt statt, indem wir aktuell ein Stück entwickeln, das in den nächsten zwei, drei Monaten sechs Mal aufgeführt wird. Wir probieren ins Repertoire zu gehen. Nächste Spielzeit wird das Kollektiv noch weiterentwickelt, indem wir mehr in die Prozesse des Hauses einbezogen werden, d. h. wir bekommen dann mehr Unterstützung von allen Abteilungen. Das wird eine große Entlastung für mich. Das Projekt Schule des Lebens ist auf zwei Jahre angelegt gewesen. Unser Konzept ist aufgegangen und das Kollektiv begreift und erlebt sich als Teil der Institution und das Theater möchte unbedingt eine Fortsetzung des Projektes. Meine Stelle wird zukünftig in die Theaterpädagogik des Schauspiels integriert und ich werde mehr klassisch einsteigen, aber die Arbeit im Kollektiv wird weiterlaufen. Die Vision für die nächsten zwei Jahre ist, dass ich mit einem Drittel des Kollektivs eine Art theaterpädagogisches Begleitprogramm entwickle und dann machen sie Workshops zu den Stücken, die hier im Repertoire laufen. Es fühlt sich stark danach an, dass wir ins Schauspiel hineingesogen werden und das ist ein wichtiger Moment. Ich habe auch immer wieder bewusst Intensivproben auf der künstlerischen Leitungsetage gemacht, damit die Jugendlichen hier zu sehen sind und den anderen, die hier arbeiten, begegnen und sie auch als Menschen im Theater auftauchen. Über Praktika kommen sie ebenfalls stark in Kontakt mit den Gewerken und erleben die Vielfalt der Theaterberufe.

110 | B ASSAM G HAZI Hast du das Gefühl, dass sich auch die öffentliche Wahrnehmung des Theaters durch das Import Export Kollektiv verändert?

Ich glaube, das wird noch dauern. Ein Schritt war jetzt eine Veranstaltung für das Abo-Publikum. Da kommen 500 Leute und das Programm für die kommenden sechs Monate wird vorgestellt. Dieses Mal haben auch wir unser Stück vorgestellt. Man hat schon gemerkt: Wir fallen komplett aus dem Rahmen und das macht neugierig. Da braucht man einen langen Atem, bis wir in der Stadtgesellschaft wahrgenommen werden. Hier im Umfeld bewirkt das auf jeden Fall etwas. Allein dass sie dann zu den Aufführungen kommen, allein die Sache mit dem „Sugarfest“, dass das Theater hier zum Fastenbrechen eine Performance macht – da kamen ganz viele Bekannte und Verwandte von denen. Für die war es total erstaunlich, dass das Theater so etwas macht. Ich würde das, was da in Gang kommt, aber auch nicht zu groß zeichnen wollen. Ist das ein anderes Publikum, das zu euren Aufführungen kommt, als bei den „normalen“, klassischen Schauspielvorstellungen?

Das Publikum ist definitiv viel jünger und viel diverser aufgestellt. Einfach durch die Gruppe selber: Wir haben drei oder vier deutsch-deutsche Mitglieder, ansonsten sind sehr viele deutsch-türkisch, deutsch-polnisch usw., alle komplett hier geboren und aufgewachsen, aber mit einem kleinen migrantischen Hintergrund. Und dann gibt es Leute in der Gruppe, die relativ neu in Deutschland sind. Du hast ganz unterschiedliches Publikum: Einige sind vielleicht zum ersten Mal im Theater. Es sind Eltern mit Babys in den Aufführungen, das siehst du bei uns sonst nicht. Das verändert auch das Theater. Aber es ist klar, dass wir hier ein kleiner Baustein in einem großen Theater sind. Geht ihr auch zusammen ins Theater?

In der ersten Spielzeit haben wir vier Mal etwas zusammen geguckt. Jetzt in der Spielzeit wird das Schauen häufiger. Wir kriegen ganz unterschiedliches Feedback. Im Oktober waren wir in Berlin, haben viel geprobt und abends Theater geguckt. Wie waren in einer Generalprobe im Gorki, haben dort eine Jugendclubproduktion gesehen, waren im Grips Theater und haben „Linie 1“ geguckt, haben eine Aufführung vom Jugendtheaterbüro angeschaut. Es gab Jugendliche in der Gruppe, die konnten mit „Linie 1“ ganz viel anfangen, die hat das total abgeholt in ihrem Verständnis von Theater, während andere in der Gruppe nach der Hälfte rausgegangen sind und gesagt haben: „O mein Gott, das ist so 80er, was hat das mit Theater und mit uns zu tun, warum dauert das vier Stunden?“ Wiederum andere haben sich total im Gorki abgeholt gefühlt mit dem Stil, anderen war das eine

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Nummer zu abstrakt. Die Aufführung vom Jugendtheaterbüro war einigen zu politisch, zu kämpferisch, zu pauschalisierend, während andere gesagt haben, das trifft genau unseren kämpferischen Ton. Bei 20 Menschen schwingen alle Facetten mit. Das ist gut, weil man merkt: Wir sehen uns einmal die Woche für drei Stunden, aber ansonsten sind unsere Lebensrealitäten sehr verschieden. Es geht ganz vielen Theatern darum, ein diverseres Publikum zu erreichen. Niedrigschwelligkeit und Barrierefreiheit werden diskutiert. Welche Barrieren müssen Theater aus Deiner Perspektive als Erstes abbauen?

Das fängt häufig mit den Stücken an, die gezeigt werden. Ich will nicht nur Klassiker sehen. Meine Idealvorstellung von Theater wäre, wenn die Hälfte des Programms klassische Stoffe wären und die andere Hälfte Theaterstücke, Projekte, Prozesse, Performances, aktuellere Stoffe und Stücke, die aus dem Jetzt und Hier entstehen und mehr in die Lebenswirklichkeit hineingreifen. Das ist eine Barriere, die ich persönlich als erstes benenne. Klar, Preise sind auch immer eine Barriere, das kann man nicht abstreiten. Und letztendlich auch das, was im Theater als Programm verhandelt wird. Es geht um Formate, in denen man das Publikum anders einlädt, mitzumachen, Anteil zu nehmen oder sich zu beteiligen. Damit lockt man automatisch andere Leute ins Theater. Meine Vision von Theater wäre eine Vielfalt an Bandbreite, weil ich glaube, dass man damit mehr erreicht. Und wenn du dir anguckst, wer am Theater arbeitet und wer die Entscheidungen trägt, spiegelt das selten die Diversität der Gesellschaft wider. Man redet über die anderen, die man reinholen will. Es geht mir gar nicht um migrantisch oder nichtmigrantisch, sondern auch um sozialen und finanziellen Status. Es wäre ein großer Schritt, wenn man es schafft, mehr und unterschiedlichere Menschen an diesen Prozessen zu beteiligen. Ich habe keine Allround-Lösung dafür, aber die Beteiligung von unterschiedlichen Menschen an Prozessen könnte ein absoluter Türöffner sein. Die Beteiligung von uns als Kollektiv hier am Haus bewirkt auch schon viel. Es kommt zu Begegnung. Wenn man miteinander und übereinander etwas erfährt, löst da etwas aus, dann verändert man automatisch seine Perspektive. Ich glaube, die eine Lösung für alles gibt es nicht, aber das wäre so ein gangbarer Weg. Es geht um eine Öffnung, die letztendlich mit dem Auftrag von Stadttheater einhergeht, dass es für die ganze Stadt da sein soll und dass sich das im Publikum, im Programm und im Personal widerspiegelt – die klassischen drei Ps. Es gibt Programme wie z. B. Kultur macht stark, die sich genau die Zielgruppen vornehmen, die zu Kulturinstitutionen bisher keinen

112 | B ASSAM G HAZI Zugang haben. Ist das für dich ein Schritt in die richtige Richtung oder ist es schon fast kontraproduktiv?

Das hängt davon ab, wie die Zuschreibung passiert. Es gibt Zuschreibungen, die sind gut gemeint, das kann aber nach hinten kippen. Da kommt man mit einer festgezurrten Perspektive auf eine Menschengruppe an, die man unbedingt ins Theater holen muss. Wenn die keinen Bock haben, dann haben die keinen Bock. Es geht auch darum, sich selber zu bewegen. Es ist wichtig, das Thema in den Institutionen selber, letztendlich auch in den Chefetagen, zu verorten. Genauso wie man mit den Zielgruppen Programm hat, sollte genauso ein Programm innerhalb der Institution laufen. Da müssen Prozesse angestoßen werden, damit die Haltung und die Perspektive sensibler dafür werden, damit man vielleicht vorsichtiger wird oder anders guckt: Mit welchen Zuschreibungen arbeiten wir, wenn wir über einen Stadtteil oder über „die“ Türken reden? Dann geht es auch darum, das bewusst zu durchbrechen. Es gibt ja keinen Knopf, auf den man drücken kann und dann ist man auf einmal diversitätsbewusst oder nicht. Die Fragestellung, wie wollen wir zusammenleben, haben wir in der ersten Spielzeit nach wenigen Monaten ergänzt um: Wie wollen wir zusammenleben in Zeiten von Angst und Hass? Die Polarisierung in der Gesellschaft ist ja noch stärker geworden. Beim Thema Geflüchtete merkst du sofort, dass ganz viel über einen Kamm geschert wird. Du musst nur zwei Geflüchtete aus Afghanistan und zwei Geflüchtete aus Syrien zusammensetzen und merkst schon, wie unterschiedlich sie sind, obwohl sie eine ähnliche Erfahrung teilen, was Flucht und Ankommen in Deutschland betrifft. Da treffen riesige Kulturunterschiede aufeinander. Das ist ein Moment der Sensibilisierung: von der Pauschalisierung und Verallgemeinerung wieder zurück in die Differenzierung zu gehen. Das ist total schwierig, kostet Anstrengung und verlangt Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Wenn man z. B. beim Thema Gender ansetzt, merkt man, was da noch an Arbeit in unserer Gesellschaft ansteht. Du hast selbst Migrationshintergrund. Hast du das Gefühl, das ändert die Haltung der Jugendlichen Dir gegenüber? Und hat es Einfluss darauf, wie Institutionen mit Dir umgehen?

Zur ersten Frage: Es spielt auf jeden Fall eine Rolle. Die Frage ist, ob ich an dieser Rolle haften bleibe und ob ich das in der Beziehung in den Vordergrund stelle. Ich könnte mit denen in der Gruppe, die Arabisch sprechen, die ganze Zeit Arabisch sprechen, mache ich aber bewusst nicht. Klar, das holt einige in der Gruppe noch einmal anders ab, weil sie Parallelen entdecken: Guck mal, der hat auch eine ähnliche oder anders ähnliche Fluchtgeschichte aus dem Libanon und hat sich mit

T HEATER

ALS

B EGEGNUNGSRAUM

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gewissen Erfahrungen in dieser Gesellschaft durchgesetzt. Es hat auch eine gewisse Vorbildfunktion. Ich merke, dass es einigen Kraft gibt, zu sehen, da ist einer, der hat es geschafft. Das ist natürlich auch eine Pauschalisierung. Bassam, der vom Theater kommt – das erwartet man nicht automatisch. Das ist einen Moment lang irritierend, dann ein Türöffner, den ich im ersten Moment nutze, dann aber versuche wieder abzuschütteln. Was Institutionen betrifft, habe ich eine erhöhte Achtsamkeit, weil ich mir immer die Frage stelle, ob ich nur für meinen Hintergrund angefragt werde. Aber sowohl am Schauspiel Köln als auch am Grips hat mich keiner in so eine Ecke reingedrängt. Was ist Deine Vision für ein Theater der Zukunft?

Da ist zum einen das Thema Diversität: Ich bin zuversichtlich, denn es ist schon einiges in der Theaterlandschaft passiert. Es drängen eine Menge Akteur*innen, Regisseur*innen und unterschiedliche Leute, in den Theaterbetrieb, die vielfältigere Themensetzungen haben und etwas verändern. Aber der Moment, dass die Entscheidungsträger*innen, Intendant*innen und Dramaturg*innen diverser werden, wird noch dauern. Außerdem wünsche ich mir, wir hätten mehr Menschen mit Handicap am Theater. Meine Erfahrung in den inklusiven Theaterprojekten war, dass es bei mir ganz viele Perspektiven geöffnet hat, noch einmal bewusst zu gucken, wie unterschiedlich wir Menschen auf diese Welt und aufeinander blicken. Auch wenn das sehr herausfordernd ist und bei der räumlichen Barrierefreiheit beginnt, sehe ich es als totale Bereicherung an. Ein diverses Ensemble, Bürgerbühnen, eine Bühnenbildnerin, die blind ist, eine Intendantin im Rollstuhl, ein junges Dramaturg*innenkollektiv, Expert*innen des Alltags … All das könnten Visionen und Signale in die Gesellschaft hinein sein. Diese Künstler*innen und Experten*innen gibt es, es ist allerdings viel mühsamer sie zu finden.

Man muss sie herstellen, aber man darf nicht genau wissen, wie Ein Selbstgespräch über Augenhöhe im Theater mit Jugendlichen T URBO P ASCAL

Eva Plischke: Was bedeutet eigentlich „Augenhöhe“? Frank Oberhäußer: In Bezug auf uns fiel das Wort „Augenhöhe“ in der Beschreibung von Situationen auf der Bühne. Uns wurde gesagt: „Bei den Paten oder in Publikumsbeschwörung hat man den Eindruck, ihr seid mit den Jugendlichen auf Augenhöhe.“ Augenhöhe muss ja vielleicht gar nicht den Prozess bezeichnen, es kann auch eine Darstellungsform als Stilmittel sein. Eva: Stimmt, das Wort wird eher an uns herangetragen. Ich wüsste jetzt nicht, dass wir einmal in den Proben gesagt hätten: „So, jetzt müssen wir heute aber mal wieder auf Augenhöhe.“ Angela Löer: Aber ich weiß, dass du vor Jahren einmal gesagt hast, Eva, dass du gar nicht so Lust hast, ein Dompteur von ganz vielen Jugendlichen zu sein. Wir hatten ja auch schon bei unserem ersten Projekt mit Jugendlichen das Bestreben, nicht mit so einer großen Gruppe zu arbeiten. Ich glaube schon, dass das etwas mit dem Wunsch nach einer Begegnung auf Augenhöhe zu tun hat. Bei einer großen Gruppe kommt man schnell in eine Dompteurrolle. Eva: Aber dann bedeutet Augenhöhe vielleicht wirklich, dass man jemandem in die Augen gucken kann. Und wenn ich eine große Gruppe vor mir hab, kann ich ja nie allen gleichzeitig in die Augen gucken. Frank: Das „Gedankenlesen“-Experiment, das wir in den Proben für Publikumsbeschwörung gemacht haben, war auch räumlich eine Augenhöhesituation. Wir haben uns in zwei Reihen – Turbo Pascal und Schüler*innen – gegenübergesetzt. Dann haben wir versucht, gegenseitig die Gedanken voneinander zu lesen und laut auszusprechen.

116 | TURBO PASCAL

Eva: Genau. In diesem Experiment „Gedankenlesen“ sind wir alle gleich gut oder gleich schlecht. Es war allerdings krass, dass viele Schüler*innen Sachen ausgesprochen haben wie „Ihr denkt, wir sind dumm“. Da hat man gemerkt, dass sie oft eher in Kontexten sind, wo sie nicht wie auf Augenhöhe behandelt werden und den Eindruck haben, dass sie für dumm gehalten werden. Frank: Das Experiment war ein Deal: Wir offenbaren unser Denken und machen uns angreifbar und die Jugendlichen machen das dann auch. Eva: Ja, aber ich finde, das gelingt nicht immer. Das ist eine sehr schwierige Sache. In dem Prozess, in dem wir jetzt gerade stecken, also den Proben für Die Welt in uns am Jungen Deutschen Theater, habe ich noch nicht das Gefühl, dass ich sehr viel von mir preisgegeben habe. Angela: Es hat auch etwas mit dem Thema zu tun. Die Idee für Die Paten, also ein Stück zu der Filmtrilogie Der Pate zu machen, ist ja entstanden, weil Frank und Alper (Franks 17-jähriger Bühnenpartner in dem Zwei-Personen-Stück) bei einem Projekt in Alpers Schule festgestellt haben, dass sich beide für diesen Film begeistern. Beide treffen mit der Begeisterung für den gleichen Film aufeinander. Beide waren Patenexperten. Und bei Publikumsbeschwörung ging es um die Gedanken der Jugendlichen. Da waren sie und ihr Blick auf die Zuschauer*innen das Thema. Jetzt ist es ja das erste Mal, dass wir wirklich mit einem fremden, historisch-politischen Thema gekommen sind, der Geschichte von Garry Davis, der vor 70 Jahren seinen amerikanischen Pass abgegeben hat und sich zum Weltbürger Nummer eins erklärt hat. Und jetzt kommen wir immer wieder in eine Lehrerposition, in der wir den Jugendlichen die UN erklären und mit Jahreszahlen um uns werfen. Da sind wir nicht auf Augenhöhe. Also die Entscheidung für oder gegen einen Stoff ist auch ein wichtiges Element.

W IR ZEIGEN UNSERE M ACHT

UND DASS WIR

M ACHT

ABGEGEBEN Frank: Geht es denn darum, dass man sich immer auf Augenhöhe befinden muss oder darum, Machtverhältnisse sichtbar zu machen? Angela: Also jetzt gerade sieht es ja eher so aus, dass ihr auch auf der Bühne in einer Art Lehrerposition auftaucht und sichtbar macht, dass wir den Stoff und das Wissen mitgebracht haben. Und wäre es nicht auch falsch, zu behaupten, man wäre die ganze Zeit mit 15-jährigen auf Augenhöhe? Frank: Das wäre auch theatral total langweilig. Theater lebt ja eigentlich immer von Statuswechseln und -unterschieden. Eva: Ich finde, der Knackpunkt ist: Wir spielen auf der Bühne auf Augenhöhe und mit wechselnden Machtverhältnissen, wir zeigen unsere Macht und dass wir

M AN

MUSS SIE HERSTELLEN , ABER MAN DARF NICHT GENAU WISSEN , WIE

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Macht abgeben. Aber geben wir wirklich im Prozess Macht ab? Und sind wir im Prozess mit den Jugendlichen wirklich auf Augenhöhe oder machen wir das nur auf der Bühne? Angela: Ist es legitim, auf der Bühne mehr Macht abzugeben als im Prozess? Frank: Die Tatsache, dass wir den Stoff oder die Fragestellung mitbringen, den Rahmen setzen, die Theaterexpert*innen sind und mit den Projekten Geld verdienen, hat nichts mit Augenhöhe zu tun. Eva: Ja, und wir haben eine ganz klare Macht und Entscheidungsmacht, was den künstlerischen Prozess angeht, was wir wollen und was wir in dem sehen, was wir da tun und besprechen. Es gibt viele Bezüge, die sicherlich nicht von allen Mitwirkenden so gesehen werden. Wir beziehen uns auf künstlerische Traditionen, wir beziehen uns auf unsere eigene künstlerische Handschrift und wir wollen ja auch sagen, dass das eine Turbo Pascal-Arbeit ist. Ist der Begriff „Augenhöhe“ also eine Vertuschung, weil wir ja eigentlich doch die Mächtigen sind, oder muss man sagen, Augenhöhe beschreibt etwas ganz anderes? Augenhöhe beschreibt nicht etwas Strukturelles, nicht die politische Struktur, in der man arbeitet, sondern eher die Haltung, dass man respektvoll miteinander umgeht und sich wertschätzt. Ich habe einmal einen Text von einem Erzieher gelesen, der zwischen den Begriffen „gleichwertig“ und „gleichberechtigt“ unterscheidet. Also dass man gleichwertig mit jemandem redet, jemanden wertschätzt und dass das aber nicht das Gleiche ist wie gleichberechtigt. Gleichberechtigt hieße strukturell, politisch und in allen Entscheidungen gleichberechtigt.

W IR VERSTEHEN

AUCH

T RANSPARENZ

ALS

T EILHABE

Angela: Dann finde ich „gleichwertig“ einen treffenden Begriff. Ich finde es in einem Turbo Pascal-Projekt eher abwegig, ästhetische und formale, auch inhaltliche Entscheidungsmacht abzugeben. Das wäre dann eine vollkommen andere Veranstaltung. Es gibt viele Projekte, in denen Jugendliche viel mehr Entscheidungsmacht haben als bei uns. Frank: Also die Regieposition teilen wir nicht, oder? Eva: Nein, aber wir versuchen in allen Bereichen, unsere Entscheidungen transparent zu machen. Das ist zwar keine Machtabgabe, aber es ist zumindest eine Form von Teilhabe an den Entscheidungen. Frank: Ich denke, Augenhöhe im Sinne einer Haltung heißt, dass man prinzipiell die Lebenssituation und die Perspektive der anderen als gleichberechtigt behandelt. Angela: Und dass wir uns selber und unsere Haltung mit einbringen und uns in gewisser Weise in der Begegnung mit den Jugendlichen wichtig nehmen. Sonst

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nimmt man sich ja in der Arbeit mit Jugendlichen oft sehr zurück, es spielt keine Rolle, wer man selber ist, was man denkt. Sie können sich also auch an uns und unserer Haltung reiben, nicht nur untereinander. Eva: Genau! Die reine Neugier auf die Jugendlichen könnte man auch als ein totales Ausnutzungsverhältnis sehen. Da könnte man ja sagen: „Ich habe totales Interesse und erzähl mir einmal deine Biografie“. Andererseits frage ich mich manchmal: Haben die Jugendlichen denn Neugier auf uns? Das wäre eine Augenhöhesituation, wenn wir nicht nur sagen, wir haben Neugier auf die Jugendlichen, sondern auch, die Jugendlichen haben Neugier auf uns. Ich würde sagen, das haben sie eigentlich erst einmal nicht. Diese Neugierde muss man wecken. Angela: Frank und Eva, ihr seid ja mit den Jugendlichen auf der Bühne. Das gemeinsame Proben ist eine besondere Art der Begegnung zwischen Euch und den Jugendlichen. Könnt ihr beschreiben, wie das in einer szenischen Probe ist? Frank: Es gibt bei uns oft Situationen, in denen man gar nicht im klassischen Sinne spielt, sondern auf der Bühne ins Gespräch kommt und dann eine dritte Person, die außen steht, beschreiben kann, was an dem Gespräch spannend ist. Angela: Und dann entsteht die Situation, dass der Außenstehende sagt: „Frank, das war jetzt aber nicht so interessant.“ Dann kommst du in die gleiche Situation wie der Jugendliche, dass du dir etwas sagen lassen musst. Frank: Genau. Angela: Ihr seid dann vor einer anderen Autorität, die beide als Performer auf der Bühne gleich behandelt, auf Augenhöhe. Frank: Ja, in einer bestimmten Phase des Paten habe ich z. B. das Feedback von Euch bekommen: „Also in der Szene, da spielt Alper dich gerade an die Wand, da musst du noch souveräner werden.“ Angela: Und wie ist es in den Szenen, die wirklich spielerisch sind, wo man auch ein bisschen bekloppt wird oder sich aufs Glatteis wagt? Frank: Beim Improvisieren bewegt man sich ja immer irgendwie auf unsicherem Terrain. Da ist es total egal, ob man 38 oder 17 Jahre alt ist. Man wird einfach zusammen in ein Spiel verwickelt.

W IR STELLEN ALS K OLLEKTIV IMMER ZUR D ISPOSITION

DEN EIGENEN

S TANDPUNKT

Eva: Genau! Jeder muss ja auch gucken, was der andere gerade anbietet und wie ich jetzt auf der Bühne darauf reagieren kann. Ich bin durch meinen Spielpartner bzw. meine Spielpartnerin herausgefordert und umgekehrt. Eigentlich wäre es einmal interessant, die Jugendlichen dazu zu befragen, was sie über Augenhöhe den-

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MUSS SIE HERSTELLEN , ABER MAN DARF NICHT GENAU WISSEN , WIE

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ken oder wie sie sich mit uns auf der Bühne fühlen. Wie schaffen die das, in diesem Moment zu sagen: „Jetzt ist Eva meine Spielpartnerin und nicht die Frau, die außen sitzt und mir erklärt, was wir heute machen“? Angela: Ich finde, die schaffen das unglaublich gut. Wenn ich das so beobachte, denke ich mir manchmal: „Wahnsinn, dass sie das jetzt einfach so machen!“ Die nehmen das voll an. Eva: Glaubt ihr, dass es etwas damit zu tun hat, dass wir ein Kollektiv sind und kein einzelner Regisseur? Angela: Wenn man alleine als Regisseur*in ist, ist es vielleicht schwieriger, die Fäden aus der Hand zu geben oder einmal in den totalen Tiefstatus zu gehen, weil einen niemand auffangen kann. Frank: Und die Arbeit im Kollektiv bedeutet auch ein extremes Training, den eigenen Standpunkt immer zur Disposition zu stellen, oder? Sowohl ästhetisch als auch inhaltlich prescht man nicht mit seiner eigenen Fantasie vor. Man ist ja immer in einem Aushandlungs- und Abstimmungsverhältnis. Angela: Aber ich finde, dass man trotzdem immer wieder zu der Frage kommt, mit wie vielen Leuten das möglich ist. Es ist ja auch nicht mit einer unbegrenzten Anzahl von Kollektivteilnehmer*innen möglich. Kann man wirklich einen Gedankenraum mit neun Jugendlichen, die in sich noch einmal total unterschiedlich sind, schaffen? Wie schafft man das, wie weit kommt man da? Wir haben schließlich auch festgestellt, dass wir uns gerne, obwohl wir zurzeit mit einer großen Gruppe arbeiten, zu dritt mit ein oder zwei Jugendlichen treffen. Eva: Und wir suchen auch auf der Bühne Situationen, wo sich zwei begegnen oder wo einer von uns auf einen Jugendlichen bzw. eine Jugendliche trifft. Eins zu eins ist Augenhöhe per se. Da kann man sich in die Augen gucken. Angela: Stimmt. Wenn man eine große Massenactionszene haben will, muss man das dirigieren. Dann muss man das inszenieren, dann wird man wieder zur Dompteurin. Frank: Es ist dann auch ein anderer ästhetischer Stil. Eva: Ich habe immer dieses Bild im Kopf: Ein Erwachsener redet mit einem Kind. Und wenn ein Erwachsener auf Augenhöhe mit einem Kind redet, muss der Erwachsene eben in die Hocke gehen um mit dem Kind auf selber Augenhöhe zu sein. Das heißt, nur der Erwachsene kann die Augenhöhe herstellen. Müssen wir das also aktiv herstellen? Ist es eine Herstellung oder ist es eine Haltung? Gibt es Methoden zur Herstellung von Augenhöhe? Ich hätte, glaube ich, ein Problem damit, zu sagen, es gibt Methoden für die Augenhöhe. Das klingt schon wieder so nach Methodenkatalog.

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W IR ERMÖGLICHEN , DASS F RAGEN STELLEN DARF

MAN SICH GEGENSEITIG

Angela: Ich verstehe deine Aversion gegen einen Methodenkatalog, aber ich finden eine paar Sachen, die Augenhöhe ermöglichen oder begünstigen, haben wir herausgefunden: Es ist sehr schwer, Augenhöhe mit einer großen Gruppe herzustellen, das Ideale ist die Eins-zu-eins- Situation. Und es ist eine besondere Art der Begegnung, sich zusammen in ein Spiel zu verwickeln, auf das Glatteis der Improvisation zu gehen. Eva: Wir stellen eine Situation her, in der man sich gegenseitig Fragen stellen darf und aber darin gleichwertig ist, dass man befragt und antworten muss. Wir stellen Situationen her, in denen man versucht, gegenseitig die Gedanken zu lesen und sich einem Experiment aussetzt. Angela: Aber was wäre, wenn ich wirklich einmal vor den Jugendlichen ehrlich wäre? Wisst ihr was ich meine? Wenn man sich wirklich einmal verletzbar machen würde? Eva: Man trifft ja doch eine Auswahl für das, was man als Theatermaterial zur Verfügung stellt. Angela: Genau. Und darin haben wir eine Professionalität, weil wir seit Langem mit unseren eigenen Gedanken hantieren. Wenn ich ganz ehrlich wäre, hätte ich Sorge, dass es kippt. Wir würden ja auch nicht sagen: Sorry, wir haben in zwei Wochen Premiere, aber wir wissen grad gar nicht weiter, wir haben nächtelang nicht geschlafen. Eva: Das könne wir heute einmal ausprobieren. Frank: Obwohl – damals bei Publikumsbeschwörung gab es Momente, in denen wir unsere Verzweiflung offen gezeigt haben. Das war für die Jugendlichen überraschend. Da war es auch auf der Kippe, wir haben Tränen gezeigt gegenüber den Jugendlichen. Das würde man vermutlich in einer schulischen Situation eher vermeiden. Das war nicht bewusst eingesetzt oder so, das ist einfach passiert. Eva: Das wäre methodisch recht schrecklich. Wenn man sagt, man stellt Augenhöhe methodisch her, ist das Problem, dass man sich eigentlich wieder zu sehr auf die Methode zurückziehen kann und sich doch nicht hineingeben muss. Das Problem mit methodischen Arbeiten ist, dass man sich hinter einer Methode gut verstecken kann, die Methode walten lässt und nicht in eine Beziehung geht. Frank: Man muss Augenhöhe herstellen, aber man darf nicht genau wissen, wie. Das Gespräch führten Eva Plischke, Frank Oberhäußer und Angela Löer.

Perspektiven für eine partizipative Programmatik

Teilhabe künstlerisch denken Fragestellungen und Anregungen für Vermittlungspraktiken in partizipativen Projekten U RSULA J ENNI

Ein Wissens-Archiv zum Begriff der Partizipation anlegen, diese Intention verfolgte Melanie Hinz in ihrem 2015 im Rahmen der Tagung „Anstecken – Das Künstlerische in der Kulturellen Bildung“ durchgeführten Labor zum Thema Partizipation. Ihr Ziel war es, über die Erfahrung der Teilnehmer*innen – allesamt Akteur*innen der Kulturellen Bildung – eine Sammlung von „partizipativen Verfehlungen, konkreten Arbeits- und Spielaufgaben und theoretischen Konkretisierungen“ (so die Ankündigung im Tagungsflyer) anzulegen. So gesehen verfolgt dieser Artikel die Absicht, ein solches Wissens- und Erfahrungsarchiv um weitere Fundstücke zu ergänzen, die sich auf die Fragestellung nach einer spezifisch künstlerischen Perspektive von Partizipation in der Kulturellen Bildung beziehen. Hierfür sollen zunächst einige Parameter von Partizipation im pädagogischen Kontext beleuchtet werden, wie sie Jörg Zirfas in seinem Artikel „Kulturelle Bildung und Partizipation. Semantische Unschärfen, regulative Programme und empirische Löcher“ (2015) vorstellt. Die spezifisch künstlerische Perspektive soll daran anschließend über die Reflexion „Intensivierte Beziehungen“ von Mira Sack (2016) einbezogen werden. Die Autorin untersucht in ihrem Artikel unterschiedliche künstlerisch angelegte Strategien und Spielarten von Partizipation am Beispiel von aktuellen Theater- und Performanceproduktionen. Auf der Basis des so lose verknüpften Begriffsnetzes zur Partizipation am Übergang zwischen Pädagogik und Kunst soll abschließend der Fokus auf ein Praxisbeispiel aus dem Programm Wege ins Theater! der ASSITEJ gelegt werden.

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P ARTIZIPATION IM

PÄDAGOGISCHEN

K ONTEXT

Partizipation hat „im Kern eine politische Grundierung. Denn Partizipation verfolgt generell das Ziel, durch das gemeinsame Mitwirken das Leben einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder zu gestalten“ (Zirfas 2015). Daher soll „Partizipation in der Bildung […] dazu beitragen, das politische Interesse zu erhöhen, Verantwortung für das Gemeinweisen zu übernehmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten“ (ebd.). Um dies zu erreichen, sollen „Kinder und Jugendliche die Möglichkeit bekommen […], selbst ihre Umwelt- und Lernbedingungen mitzugestalten“ und dafür „Bedingungen vorfinden […], in denen sie lernen können, diese Bedingungen mitzugestalten“ (ebd.). Bedeutsam für den pädagogischen Kontext ist weiterhin, dass Partizipation von Kindern und Jugendlichen auch tatsächlich eine Wirksamkeit entfalten kann und nicht lediglich in einer „Alsob-Situation“ durchgespielt wird. In seiner – hier extrem verkürzt aufgegriffenen – Reflexion zur Partizipation in der Kulturellen Bildung spricht Jörg Zirfas verschiedene Ambivalenzen an, die diese kennzeichnen. Drei Aspekte erscheinen mir mit Blick auf die künstlerische Rahmung von Partizipation in der Kulturellen Bildung von besonderer Bedeutung: •





Pädagogische Kontexte sind immer auch „in einem bestimmten Ausmaß nicht demokratisch und partizipativ“ (ebd.) und durchkreuzen damit den Anspruch, dass Kinder und Jugendliche aktive Teilhabe erfahren, bis zu einem gewissen Grad. Für die Schule weist die empirische Bildungsforschung eine „habituelle Passung“ zwischen Lehrerschaft und Schülerschaft aus, die zu einer „spezifische[n] Form der ‚Gleichbehandlung‘, nämlich jene[r], die sich am Habitus der sozialen Mittelschicht orientiert“ (ebd.), führt. Schließlich spielt der Einfluss des informellen kulturellen Lernens, in das Kinder und Jugendliche in ihrem Umfeld alltäglich eingebunden sind und aus dem heraus sie Kompetenzen und Konzepte entwickeln, eine wesentliche Rolle, denn diese Lernmuster passen nicht immer zu denjenigen kultureller Institutionen. Hier kann sich nach Zirfas eine Situation ergeben, in der „man keinen professionellen Einfluss auf diese informellen familiären oder Peergroup bezogenen Prozesse hat, sodass diese einfach hingenommen werden müssen“ (ebd.).

Es wird deutlich, dass im pädagogischen Kontext die Entwicklung der Grundlagen zur Partizipation – Kenntnisse, Fertigkeiten, Erfahrungen, manchmal auch die Fähigkeit, Interesse zu zeigen – in einem partizipativen Projekt immer auch mit aus-

T EILHABE

KÜNSTLERISCH DENKEN

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gebildet werden. Somit ergibt sich aus pädagogischer Perspektive eine Überschneidung von Aneignung und Anwendung, die konzeptionell mitgedacht werden muss. Weiter zeigt sich im zweiten und dritten Punkt, dass Partizipation an einem Prozess oder einer Praxis nicht losgelöst von den Beziehungen zwischen den Beteiligten stattfindet. Partizipation ist so gesehen eine gegenseitige Praxis: Initiator*innen von partizipativen Projekten nehmen immer auch an Erfahrungsmustern und Lebensvorstellungen derjenigen teil, die sie zum Partizipieren einladen. Dadurch sind Reibungsflächen und Spannungsfelder in das partizipative Projekt eingeschrieben, die sich erst in der konkreten Durchführung in ihrem gesamten herausfordernden Potenzial zeigen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wesentlich, wenn Zirfas in seinem Fazit feststellt: Es „fällt auf, dass Partizipation bislang immer noch stark entweder individuell oder strukturell gedacht wird […]. Ein relationistischer Blick auf Partizipation an bzw. in der Kulturellen Bildung könnte etwa verdeutlichen, dass fehlende bzw. gelingende Passungen nicht nur von individuellen oder strukturellen, sondern auch von relationalen Gegebenheiten gedacht werden können“ (ebd.).

Dadurch würde, so Zirfas, beispielsweise der bereits erwähnte Einfluss von Cliquen und Freundschaften von Kindern und Jugendlichen für die Partizipation ins Blickfeld rücken, aber „auch die sozialen Beziehungsstrukturen in der Kulturellen Bildung“ (ebd.) wären stärker zu beleuchten.

P ARTIZIPATION

ALS KÜNSTLERISCHES

P RINZIP

Beziehungsstrukturen in künstlerischen Partizipationsformaten untersucht Mira Sack in ihrer Reflexion „Intensivierte Beziehungen. Spielarten der Partizipation im deutschen Gegenwartstheater“. Am Beispiel von drei aktuellen Theater- und Performanceproduktionen beschreibt sie spezifische Ausprägungen von künstlerisch begründeter Beteiligung und Einbindung von Zuschauer*innen und nichtprofessionellen Spieler*innen. Im Kontext der hier verfolgten Betrachtung sollen diese Muster verknappt vorgestellt werden. Um die jeweiligen Bezüge zur künstlerischen Praxis detailliert nachzuverfolgen, empfiehlt sich die Lektüre des gesamten Artikels von Mira Sack. Kritisch merkt Sack einleitend an, dass partizipative Formate leicht Gefahr laufen, dass

126 | URSULA J ENNI „die gesuchte Teilhabe des Zuschauers für das Gelingen der Vorstellung in ihr Gegenteil umschlagen, so dass die konzeptionelle Idee der Beteiligung Zwangshandlungen konstruiert und statt unmittelbarer Begegnung manipulatives Machtgebaren den Theaterabend prägt“ (Sack 2016: 123).

Der Aspekt der unmittelbaren Begegnung ist zentral für die drei anschließend von der Autorin vorgestellten Projekte, deren konzeptionelle Anlagen durch ein „partizipatives ‚Wir’“ charakterisiert sind. Dieses „bedingt mehr als eine behauptete Gemeinsamkeit oder Gleichheit, bedarf eines über die Theatersituation hinausweisenden Willens, sich mit den anderen auseinanderzusetzen“ (ebd.: 126). Ein solcherart konzeptionell angelegtes „Wir“ erlaubt nach der Einschätzung von Sack auch Dissens, Konfrontation und Widerspruch, die sich im Prozess der Beteiligung ergeben können, im künstlerischen Rahmen des Projekts zu thematisieren und zu veröffentlichen. Damit berühren sie ein Potenzial, das auch Zirfas im künstlerischen Zugang zur Partizipation verortet: „KünstlerInnen […] können in vielfacher Hinsicht zu einem kritisch-konstruktiven Verständigungsprozess (etwa auch über Partizipation) beitragen, indem sie eine ästhetische Kritik der Kunst und Symbolik, des Designs und der Zeichen (von Partizipation) anregen; indem sie eine heuristische Kritik der alltäglichen (partizipativen) Lebensstile und Alltagsroutinen vornehmen [H. i. O.]“ (Zirfas 2015). Dass Künstler*innen in der Beziehungskunst Theater dabei auch sich selbst aufs Spiel setzen, erscheint naheliegend, wie auch die von Mira Sack auf der Grundlage von eingehenden Projektbeschreibungen herausgearbeiteten künstlerischen Rahmungen von Partizipation zeigen. Sie werden in der Folge losgelöst von den Projekten wiedergegeben, um sie so als Folie für denkbare Zugänge in der Kulturellen Bildung frei zu legen. •



Das erste Format basiert auf einem gemeinsamen existenziellen InvolviertSein von Künstler*innen und Partizipierenden in ein Thema oder eine Struktur – im konkreten Beispiel das existenzielle Eingebunden-Sein in den Theaterbetrieb –, das in einer ausführlichen künstlerischen Recherchephase wechselseitig beleuchtet, bearbeitet und verhandelt wird. Die künstlerische Rahmung umfasst hier in besonderem Maße die Recherche und Probenphase, die (im konkreten Beispiel orientiert an der Lehrstück-Theorie) letztlich die Aufführung, nach Einschätzung von Sack, eher in den Hintergrund treten lässt. Mit umgekehrten Vorzeichen funktioniert ein Zugang, der dem „partizipativen Mit- und Gegeneinander“ (Sack 2016: 126) im Rahmen der Aufführung bewusst Raum einräumt. Hier ist „die Bühne als Kommunikationsfläche zu verstehen, die eine undogmatische Form der Auseinandersetzung

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KÜNSTLERISCH DENKEN

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erlaubt, [um] aus dem Nebeneinander verschiedener kultureller Vorlieben ein eigenständiges Werk zu erzeugen“ (ebd.: 127). Gemeinsame Basis bildet im beschriebenen Projekt ein literarischer Stoff der Künstler*innen und Partizipierende gleichermaßen interessiert und auf der Imaginationsebene Zunder für die von Zirfas angesprochenen unterschiedlichen informell erworbenen kulturellen Lernmuster bereithält, die im Probenprozess zu einer jeweils eigenständigen ästhetischen Position verdichtet werden. Das dritte Format basiert auf einer sehr weitreichenden gegenseitigen Beteiligung von Künstler*innen und Partizipierenden am Leben des jeweils anderen. Hier wird die Aufführung zum Dokument und Andenken der partizipierenden Person und zwingt im Gegenzug die Künstler „zur freilich selbstverordneten Teilnahme am Leben“ (ebd.: 129). Hier „bedingen künstlerische und soziale Erfahrungen einander, sie sind zugleich politisch konnotiert und arbeiten gegen das Tabu“ (ebd.: 129). Auch wenn das zu Grunde liegende Projekt wegen seiner radikalen Anlage – die Künstler*innen begleiten eine Frau, die sich mit Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation das Leben nimmt – entschieden jenseits von pädagogischen Konzepten angelegt ist, bleibt der Aspekt der wechselseitigen Partizipation am Leben des anderen als Ausgangspunkt für ein partizipatives Projekt der Kulturellen Bildung interessant.

In ihren abschließenden Betrachtungen formuliert Mira Sack zwei Grundsätze, die als Essenz, der von ihr vorgestellten, künstlerisch initiierten Partizipationsprojekte gelesen werden können: „Partizipativ sind diese Initiativen vor allem, weil sie die aktive Teilhabe an ihren Projekten benötigen, ohne Partizipation zur Schau zu stellen“ (ebd.: 130). Und: „Wo nicht die eigene Stimme der vielen in den Produktionsprozess eingeht, sondern nur Aussagen gesucht, Handlungen provoziert oder Stellvertreterfunktion zelebriert werden sollte man mit dem Modebegriff des Partizipativen vorsichtig argumentieren“ (ebd.: 130).

Sack gibt abschließend zu bedenken, dass Projektformate, deren partizipativer Charakter so offen und kollaborativ angelegt ist, nicht zwangsläufig in eine Aufführung münden müssen. Ein Aspekt, der unter „den Vorzeichen einer produktorientierten Verwertungsgesellschaft“ (ebd.: 131) noch zu wenig Berücksichtigung und Akzeptanz findet und als Gedanke, sicherlich auch bei der Betrachtung künstlerisch angelegter partizipativer Projekte der kulturellen Bildung, miteinfließen sollte.

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P ARTIZIPATION

ALS KULTURELLE

K OLLABORATION

Das Projektformat Wege ins Theater! der ASSITEJ orientiert sich im Rahmen der Bündnisse für Bildung am Ziel, Kindern und Jugendlichen, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind, eine aktive produktive und rezeptive Teilhabe am Theater für Junges Publikum zu eröffnen. Der strukturelle Rahmen der Förderung sieht drei Projektformate vor, die aufeinander aufbauend, Kindern und Jugendlichen eine schrittweise Annäherung vom vertrauten Sozialraum in die oftmals unbekannten Gefilde der Theaterkunst eröffnen sollen. Intendiert ist, • •



mit dem Format Besuch Theaterschaffende sowie Kinder und Jugendliche zur künstlerischen Partizipation im Sozialraum einzuladen, mit dem Format Gegenbesuch das Feld der künstlerischen Kollaboration zwischen Heranwachsenden und Künstler*innen in das Umfeld der Theaterhäuser zu verlagern, mit dem Format Scouts schließlich Raum für Interventionen von Theaterschaffenden, Kindern und Jugendlichen zu schaffen, die sich auch programmatisch und kuratorisch auf Theater und Theaterkunst beziehen.

Nachfolgend sollen am konkreten Beispiel exemplarisch Spuren für ein künstlerisch angelegtes partizipatives „Wir“ in einem Konzept zu einem Projekt im Rahmen des Programms aufgespürt werden. Das Projekt Los.Feiern der Frl. Wunder AG ist ein Vorhaben im Format Besuch, das Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zehn und 15 Jahren ansprechen will. Inhaltlich umkreist es das Thema Erinnerungen, die wach gerüttelt durch Bilder, Gerüche oder persönliche Gegenstände, erzählt und wiedererzählt werden wollen. Konzeptionell knüpfen die Performer*innen an Überlegungen zum größeren und rahmenden Thema der Migration an, mit dem sie sich in vorangehenden Projekten bereits auf verschiedenen Ebenen beschäftigt haben. Unter anderen haben sie sich dafür auf die Suche nach Migrationserfahrungen in den eigenen Familien begeben und sind nach eigener Aussage „bereits in der Großelterngeneration fündig geworden“ (vgl. Antragstext). In dieser thematischen Rahmung wird das Ausloten eines gemeinsamen Involviert-Seins sichtbar: Die Künstler*innen der Frl. Wunder AG sprechen einen Erfahrungsraum an, den sie mit den eingeladenen Kindern und Jugendlichen gemeinsam haben, sei es als Kinder und Enkel*innen von Menschen, die migriert sind, sei es als Menschen, die anderen Menschen mit Migrationserfahrung begegnen. Auf der Ebene der konkreten Projektplanung wird die gemeinsame Suche nach Erinnerungen in einer ersten Phase in Interviews vorangetrieben, die in einem zum

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KÜNSTLERISCH DENKEN

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„Spuren-Suchen-Feiern-Kontakt-Mobil“ umgebauten Wohnanhänger an unterschiedlichen Standorten durchgeführt werden. Die Auseinandersetzung mit Erinnerungen, die Spuren von Migration thematisieren, wird in der zweiten Projektphase in Theaterworkshops verdichtet und auf die Durchführung eines Festes mit „Mini-Erzählungen und Festhandlungen“ hin konkretisiert. „Eingeladen werden alle Beteiligten des gesamten Prozesses und natürlich deren Freunde und Familie“ (vgl. Antragstext). Im Format des gemeinsamen Festes greift das Projekt kulturelle Wissensbestände auf, die typischerweise auf der informellen Bildungsebene weitervermittelt werden. Auch hier ist ein gemeinsames Involviert-Sein erkennbar – Feste zu feiern ist ein universell verbreiteter kultureller Vorgang, zu der Kinder wie Erwachsene, Künstler*innen wie nichtprofessionelle Spieler*innen, häufig über ihre Familien, ein bestimmtes Wissen und Können, ein bestimmtes Vorgehen und Verstehen entwickelt haben. Interessant wäre es, in der konkreten Durchführung des Projekts die Frage zu untersuchen, inwiefern Dissens und Widersprüche, die sich durch das partizipative Wir ergeben, für die künstlerische Entwicklung des Projekts fruchtbar gemacht werden können. Und – daran anknüpfend – wie viel Spannung und Reibung aus Sicht der partizipierenden Kinder und Jugendlichen dann noch als produktiv und interessant eingeschätzt würde. Der Antrag der Frl. Wunder AG beschreibt auf erfrischende Weise ein Vorhaben aus Sicht der Künstler*innen, die sich mit ihrer spezifischen Vorerfahrung in ein gemeinsam gedachtes Unterfangen mit Kindern und Jugendlichen begeben. Die möglichen Begegnungs- und Berührungspunkte zwischen ihnen und den Partizipierenden weisen dabei über die Intention, Teilhabe am Theater für Junges Publikum zu schaffen, hinaus. Damit schaffen sie eine Leerstelle, die Platz für kontingente aus der Gemeinsamkeit des gegenseitigen Partizipierens heraus erwachsende Ereignisse lässt. In einer akribischen Suchbewegung ließen sich eine Reihe weiterer Beispiele eines partizipativ gedachten „Wir“ als konzeptionelle künstlerische Rahmung von Projekten von Wege ins Theater! aufspüren. Häufig zeugen die Konzepte allerdings auch von einem Verständnis von Partizipation, das in individuellen und strukturellen Diskursen verhaftet bleibt und damit das Risiko aber auch das Potenzial eines „Sich-gemeinsam-aufs-Spiel-Setzen“ unberührt lässt. Ein Mitdenken der relationalen Ebene von Partizipation könnte hier „ein unmittelbares, radikales Miteinander theatralen Handelns“ (Sack 2016: 131) befördern, wie es von Mira Sack für die Theaterkunst in der Folge des „participatory turn“ vorgeschlagen wird.

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L ITERATUR Sack, Mira (2016): „Intensivierte Beziehungen. Spielarten der Partizipation im deutschen Gegenwartstheater. Drei paradigmatische Beispiele“. In: Max Glauner (Hg.): Get involved! Partizipation als künstlerische Strategie. Kunstforum International. Bd. 240. Köln, S. 122-131. Zirfas, Jörg (2015): „Kulturelle Bildung und Partizipation. Semantische Unschärfen, regulative Programme und empirische Löcher“. URL: https://www.kubionline.de/artikel/kulturelle-bildung-partizipation-semantische-unschaerfen-re gulative-programme-empirische [aufgerufen am: 17.4.2017].

Antragslyrik Formulierungen theaterpädagogischer Praxis in Projektanträgen T HOMAS L ANG

Vor dem Projekt steht der Antrag. Theaterpädagogische Vorgehensweisen und Ausdrucksformen so in Worte zu fassen, dass dafür dann öffentliche Mittel gewährt werden, ist Mühe und Herausforderung gleichermaßen. Die zahlreichen Antragsformulierungen für das Projekt Wege ins Theater! ermöglichen allerdings zudem so etwas wie einen Überblick über den Stand einer aktuellen theaterpädagogischen Praxis, über deren Standards und über Perspektiven – auf der Suche nach Wegen ins Theater. Erwartet werden von diesen Formulierungen Hinweise auf die Kompetenz, theaterpädagogische Prozesse zu überschauen und zu reflektieren, realisierbare Zeitstrukturen anzubieten, angemessene ästhetische Ausdrucksweisen erfahrbar zu machen sowie kooperative und partizipative Gruppenprozesse anzuleiten. Erstrebenswert dabei ist es stets, einen selbstverständlichen künstlerischen Eigenwert zu erhalten und nicht allein die Entwicklung von Sozialkompetenz o. Ä. in den Fokus zu nehmen. Wenn kunstpädagogische Praxis die Möglichkeit eröffnet, die Probleme des Lebens aus einer anderen und vielleicht neuen Perspektive zu sehen, dann ist Vorsicht geboten: Den „Verheißungen“ des Kunstpädagogischen zur Verbesserung der Welt im Allgemeinen ist zu misstrauen.

B ÜNDNISSE Die Idee hinter diesem – gut ausgestatteten – Förderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Titel Kultur macht stark sieht nicht nur vor, Kindern und Jugendlichen, die „sich mit Bildungsbarrieren konfrontiert“

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sehen, Kurs-, Bildungs- und Freizeitaktivitäten anzubieten, und dabei u. a. die Faszination Theater als Ausdrucksweise und Mitteilungsformat zu nutzen. Auch den Häusern und Gruppen des Kinder- und Jugendtheaters werden so Erprobungsräume eröffnet, sich von der Fokussierung auf eine Schulklassenversorgung zu emanzipieren und breitere gesellschaftliche Bereiche als Zuschauer*innen und Mitwirkende anzusprechen. Zur Unterstützung dieser Vorhaben sieht dieses Programm Bündnispartner*innen vor, zumeist Einrichtungen der Freizeit- und Sozialpädagogik, die bei der Kontaktaufnahme in der sozialräumlichen Nähe unterstützen und die Projekte pädagogisch und organisatorisch begleiten. Derartige Partnerschaften können aber auch eingegangen werden – und das ist das Besondere an diesem „Bündnis für Bildung“ – zu weiteren außerhalb einer Kunstszene angesiedelten zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Das können Medienzentren oder Tanzschulen, Communitys oder Kampfsportvereine, naturwissenschaftliche Institute oder Geschichtsvereine sein, die zum gewählten Inhalt des Projekts ihre Kompetenzen einbringen und auf diese Weise einen enggeführten Kulturbegriff erweitern – und das in konkreter Aktion für die beteiligten Kinder und Jugendlichen ebenso wie für die Theater. So mögen sich erweiterte ästhetische Ausdrucksweisen entfalten, wenn Kooperationen mit neueren oder kunstfernen sozialen Bewegungen wie Urban Gardening, Fahrradwerkstätten oder Hackerclubs auf das Theater und seine Arbeitsweisen treffen. In der Auseinandersetzung der Bündnispartner und der Kinder und Jugendlichen mit Theater als Kunstform verändert sich der pädagogische Prozess: Gemeinsames Tun von Lehrenden und Lernenden rückt in den Mittelpunkt, Eigenermächtigung und optionales Lernen ersetzen herkömmliche Muster kunstpädagogischer Vorgänge und fördern wahre Partizipation und selbstbestimmtes Lernen.

P RÄSENTATION Die vielfach in den Anträgen formulierte Erarbeitung eines „Theaterstücks“ und dessen Aufführung als Ziel – und Wert an sich – wäre um eine genauere Beschreibung dieser sicher stets sinnvollen Abschlusspräsentation zu erweitern. Diese bereits im Antrag andeutungsweise zu umreißen, würde zudem hilfreiche Hinweise auf die beabsichtigten Arbeitsweisen in sich bergen. Bei derartigen Präsentationen handelt es sich in einer zeitgenössischen Theaterpädagogik vermutlich nicht um dramatische Geschichten in Dialogform, sondern zumeist um Szenenabfolgen mit Elementen aus der Choreografie von Alltagsvorgängen oder mit parodistischen Umwandlungen von Spielformen des Populären wie Quiz, Sportspiel oder Ran-

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kingshow. Ebenfalls haben sich, wie in zahlreichen Anträgen erkennbar, Spielformen des Erzählens mit biografischem sowie dokumentarischem Material durchgesetzt. Angedeutete inhaltliche Fragestellungen oder auch bekannte dramatische Muster wie Stationendrama, Fabel oder populärer Mythos des Trivialen bilden dazu szenische Rahmenhandlungen. Das alles findet allerdings meist in einer beliebigen Reihung, die eher selten Elemente der Collage, nämlich die der Überschreibung, Überlappung oder Parallelführung von Materialien, enthalten, statt. Derartige Szenenfolgen bilden mittlerweile Standards zeitgenössischer Theaterpädagogik ab. Die Einbeziehung von Ideen und Interessen der Beteiligten werden so sinnfällig, beschreiben die Komplexität und Widersprüchlichkeit zeitgenössischer Alltagserfahrung und kommunizieren in der Weise mit den Zuschauer*innen, dass diese ihre Eindrücke, Einfälle und Positionen „im eigenem Kopf“ ergänzend und erweiternd einbringen. In den Anträgen finden sich auch immer wieder neuere Präsentationsformate, die eine „Theateraufführung“ neu erfinden. Erwähnt werden so zum Beispiel Ausstellungen, Feste, Messen, auch Installationen, Audio- und Videowalks, „Dauerperformances“, Clips und Handyfilme, Parcours und Hörstationen, dazu partizipative Spielideen und weitere Gesprächs- und Erörterungsformate, allesamt Aufführungsformen, die über ihre eigene Attraktivität hinaus die Mühsal der Wiederholbarkeit reduzieren und die Ergebnisse kurzzeitpädagogischer Vorgehensweisen realisierbarer und wirklichkeitsnäher erscheinen lassen1. In diesen neueren Formaten bleibt die Faszination von Theater und Darstellung nicht nur erhalten, sondern es finden sich immer wieder Kunstformen, die etwas von den Parametern des Lebens der mitwirkenden Kinder und Jugendlichen erzählen und so zum Ausdruck von Gegenwart werden. Diese neueren Kunst- und Spielweisen wollen nicht erklären, sondern beschreiben, berichten und erzählen, wollen nicht beeindrucken, sondern stellen eine besondere Art der Kommunikation mit den Zuschauer*innen dar und lassen in diesem Miteinander Widersprüchliches, Profanes und Eigenes zu, und nehmen so die individuellen Interessen und Neugierigkeiten der Beteiligten auf und machen sie für die Zuschauer*innen erfahrbar.

1

Beschreibungen der Erarbeitung eines bereits verfassten „Theaterstücks“ findet man nur noch selten, wenn, dann da, wo Stadttheaterproduktionen herkömmlicher Art als Vorbild genommen werden, dramatische Literatur des Schulkanons reproduziert werden oder Produktionen des Populären und Trivialen als Folie dienen.

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S TRUKTUREN Die bild- und beispielhafte Ausformulierung eines möglichen Präsentationsformats hat das Potenzial, die theaterästhetischen Verfahrensweisen eines Probenprozesses und dessen methodischen Ablaufs nachvollziehbarer wiederzugeben. Die inflationär beschworene Bedeutung der Initiierung einer „Theatergruppe“ mag – auch auf Zeit – in ihrer sozialen Bedeutung erstrebenswert erscheinen, ist aber in unserer etwas zerfaserten (Schüler-)Alltagswelt doch immer weniger realisierbar. So erobern differenziertere Zeit- und Arbeitsstrukturen die theaterpädagogische Alltagswelt: Wochenendworkshops, Ferienfreizeiten, Klein- und Untergruppenaktivitäten, Drei-Tages-Treffen im Wechsel von regelmäßigen Treffen, auch in wechselnden Zusammensetzungen der Anwesenden, ermöglichen ästhetische Formate des Konzeptionellen, die weitaus pragmatischer Ergebnisse und damit Erfolgserlebnisse bieten und Prozesse ästhetischer Produktion für „Theaterbeginners“ transparenter und spielerischer ergeben.

S TRATEGIEN Deutlich in den Antragstexten wird: Der theaterpädagogischen Praxis fehlt es teilweise an fachspezifischen Terminologien, an einem Mindestmaß präziser Begrifflichkeiten und an Vokabular zur Beschreibung ästhetischer Strategien. Handelt es sich bei einer zeitgenössischen Theaterpädagogik doch nicht mehr um einen selbstverständlichen Kanon, sondern um individuelle Verknüpfungen von Darstellungsweisen (Dialog, Bericht, Erzählung, chorisch präsentierte Reihungen von Materialfragmenten, szenische Anwendungen von Clipkulturen) mit den aus der Versammlung der Anwesenden erarbeiteten erlebten und erdachten Inhalte, als Wort, Bild und Handlung. Bereits der unscharfe Begriff „Schauspielübungen“ verlangt im Umgang mit Nichtprofessionellen eine differenziertere Betrachtung und ist in den theaterpädagogischen Standards bereits weitestgehend ersetzt durch Darstellung oder Mitteilung. Auch der Begriff der „Improvisation“ ist Bestandteil eines spielerischen Probenprozesses, der nicht ohne Mühe in szenische Gestaltung überführt werden kann. Gänzlich unklar bleiben in vielen Fällen auch die Beschreibungen zu Entstehungsweisen von Kostüm und Bühnenbild. Zeitgenössische Gestaltung von Bühnenräumen nutzt heutzutage einfach zugängliche Materialien des Alltags sowie z. B. eine Werkstattbühne des gastgebenden Theaters oder den Charme und die Selbstverständlichkeit der möglichen Versammlungsräume von der Turnhalle über die Schulklasse bis zum Wohnzimmer.

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P ROZESSE Kunstpädagogische Prozesse, wie sie den Anträgen rudimentär zu entnehmen sind, stellen in der Regel eine Gemengelage zwischen bekannten pädagogischen Vorgehensweisen aus Schul- und Freizeitpädagogik dar, mit Formaten zwischen Spiel, Verabredung, Kleingruppenmethoden und Impulsen der Leitungen. Wie differenziert derartige Planungen vorliegen, ist den Anträgen in der Regel nicht zu entnehmen: Welche Impulse gibt die anleitende Honorarkraft in die Gruppe, wo sind spielerische Entwicklungen mit offenem Ausgang geplant und welche Mitgestaltungsmöglichkeiten haben die Teilnehmer*innen? Hier wäre eine stärker inhaltliche Darstellung der Planung hilfreich, die sich nicht lediglich auf Zeitplanungsschritte von Impuls und Recherche über spielerische Erprobung bis zur Vorbereitung und Fertigstellung der Präsentation beschränkt. Durchgängiger Standard ist allerdings die selbstbewusste Betonung des „Gemeinsamen“, des „aus der Gruppe heraus“, das Finden von Strategien und inhaltlichen Äußerungen aus den Mitteilungen der Beteiligten heraus, deren „Einbindung“, des „Umsetzens“ der Ideen und Interessen der Beteiligten. Nun sind diese Ansprüche einer zeitgenössischen kunstpädagogischen Praxis ebenso selbstverständlich wie schwierig zu realisieren. Denn in der kunstpädagogischen Praxis mit Kindern und Jugendlichen wird mehr und mehr eine Antwort auf die Frage gefordert, welchen Anteil die erwachsenen Leitungspersonen mit ihren ästhetischen Vorstellungen und inhaltlichen Positionen haben, und welchen die Teilnehmer*innen des Projekts. Wie werden die Einflussnahme und Impulse der Künstler*innen und Theatervermittler*innen im Ergebnis „sichtbar“ und inwiefern ist es „deren“ Inszenierung? Wie sind pädagogische Strategien und inhaltlich unterschiedliche Positionen in einer Präsentation zu erkennen? Heranzuziehen zu einer differenzierten Einschätzung dieser Projekte zwischen Standard und Perspektive wären als erste Strukturierung folgende Entwicklungsstufen: 1. „Wege ins Theater“ wären demzufolge spielerische Erfahrungen ästhetischer Grundmuster, dann in der nächsten Stufe (2.) die Mitbeteiligung der Projektteilnehmer*innen durch eigene Kombinationen ihrer lebensweltlichen Erfahrungen, Äußerungen und thematischen Interessen, auch ihrer Forschungs- und Rechercheergebnisse mit diesen ästhetischen Mustern und schließlich (3.) eine „konfrontative“ Theaterpädagogik, die Erfahrungen von Alterität zulässt, Auseinandersetzung, Widerspruch und „Fremdes“ zu ertragen hat und dieses szenisch sichtbar werden lässt. Mit der Idee des Förderprogramms Kultur macht stark ist die Absicht verbunden, sich an Kinder und Jugendliche zu wenden, die bisher nicht oder wenig dazu angesprochen wurden, an Prozessen künstlerischer Aktivität aus eigener Initiative

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heraus teilzunehmen und entsprechende Institutionen wahrzunehmen. Überlegungen dazu, auch um andere „Wege ins Theater“ zu suchen, sind – abgesehen von ausschließlich defizitären Beschreibungen der sozialräumlichen Umgebungen – selten Thema in den Anträgen. Künstlerisch herausfordernd wäre es, optional zu denken, besondere Kompetenzen zu sehen und der Faszination des Ungewohnten nachzugehen. Theatrale Erforschungen könnten folgen und Ergebnis wäre ein perspektivisch veränderter Blick auf die eigene Institution und die bisherigen ästhetischen und strukturellen Strategien.

D ER ANTRAG Eloquent und fachlich kompetent formulierte Anträge führen nicht unbedingt zu entsprechenden pädagogischen wie ästhetischen Erfolgen. Und linkische wie wortkarge Formulierungen können dagegen – auf der Bühne und in der Wirklichkeit – gänzlich anders daherkommen, sodass schließlich „Kunst“ stattfindet. Die Formulierung eines „Antrags“, also das verständliche und für andere nachvollziehbare Beschreiben der Ziele und Vorgehensweisen, wird im ersten Angang oft als lästige Pflicht wahrgenommen und fördert Überlegungen zu Formulierungen, die der Geldgeberin bzw. dem Geldgeber vielleicht gefallen könnte, denen eine Jury zustimmen würde und die vielleicht nur einem Mainstream folgen. Vernachlässigt wird dabei die Möglichkeit und die Chance, einen solchen Antrag, der in der Regel weit vor dem eigentlichen Projektbeginn zu erstellen ist, zu nutzen als erstes sorgfältiges Bedenken eigener und eigentlicher, auch noch ungeordneter Ziele, Fragestellungen, Überlegungen, Vorstellungswelten und Planungsschritte. Folge und Gewinn wäre eine größere Sicherheit bei der Durchführung. Auch wenn sich die Wirkungswirklichkeit von Kunst und kunstpädagogischem Handeln nicht immer im gewünschten Maße erklären, beschreiben und erfassen lässt: Nicht ein künstlerisches Ergebnis wird hier als Teil eines gesellschaftlichen Referenzsystems „juriert“, sondern die Absicht, die Formulierung methodischer Schritte und ästhetischer Strategien eines zeitlich begrenzten Projekts als Vorhaben. So kann der Antrag für das eigene Schaffen und für andere als Bestandteil eines künstlerischen Vermittlungsvorgangs Bedeutung erlangen und wird so Kategorie von Qualität und Schönheit – und ästhetisches Ereignis selbst.

Wege zu Kindern und Jugendlichen Empfehlungen für die praktische Projektarbeit A NNA E ITZEROTH

Die Botschaft des Projekts Wege ins Theater! scheint auf den ersten Blick zu sein: Theater sollen Kinder und Jugendliche ansprechen, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind. Aber Theater sind nicht in erster Linie Dienstleister, sie produzieren Kunst: Theater für ein junges oder älteres Publikum, Theater für eine Stadtgesellschaft oder eine Dorfgemeinschaft, in der es immer auch junge Menschen gibt. Das Interesse an den, der Dialog mit den und die Beteiligung der Zuschauer*innen ist dem Theater inhärent – insbesondere, wenn es sich an ein junges Publikum richtet. Das Projekt setzt da an, wo zusätzliche Ressourcen notwendig sind, um jene zu erreichen, die bisher nicht den Weg ins Theater finden.

W EGBEREITER * INNEN

INS

T HEATER

Die Konzentration auf ein junges Publikum bringt Besonderheiten mit sich: Kinder kommen nicht alleine ins Theater, sondern es ist von ihrem (erwachsenen) Umfeld abhängig, ob und wann sie die ersten Erfahrungen mit Theater machen. Die jungen Menschen werden dabei aktuell vor allem durch die Vermittlungsinstanzen Lehrer*innen, Erzieher*innen und Eltern erreicht. Der Einsatz der Theater für die kulturelle Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen – unabhängig vom sozialen, kulturellen und finanziellen Status ihres Elternhauses – wird dabei in erster Linie in der Zusammenarbeit mit Schulen und Kindertageseinrichtungen eingelöst: Im Rahmen von institutionell organisierten Gruppenbesuchen können auch Kinder und Jugendliche erreicht werden, deren Eltern sich vielleicht einen Theaterbesuch nicht leisten können oder selbst keinen Bezug zu Kunst und Kultur haben. Ein Großteil der Theater für junges Publikum zeigt unter der Woche regel-

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mäßig Vorstellungen am Vormittag als Angebot für Kindertagesstätten und Schulen, und am Wochenende und abends Aufführungen, die sich an Eltern und Kinder oder an Jugendliche und Erwachsene richten. Neben Aufführungen gibt es z. B. Kinderclubs, Jugendclubs und Workshops für Kinder, Jugendliche und Familien. Im Jugendkulturbarometer 2014 wird deutlich, dass sich ein Großteil der Angebote kultureller Kinder- und Jugendbildung an Schulen und Kindertageseinrichtungen richtet – also an Einrichtungen, in denen der Theaterbesuch von erwachsenen Multiplikator*innen organisiert und entschieden wird – und nur ein geringer Anteil direkt an Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit. Auch wenn der Anteil an erreichten Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus im Vergleich zu den Ergebnissen aus dem Jahr 2006 gestiegen ist, hat sich daraus kein nachhaltig wachsendes Interesse dieser Zielgruppe an Kulturangeboten entwickelt. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Kulturangebote mit der Schule besucht haben, ist der Anteil derer, die ein starkes Kulturinteresse entwickelt haben, nicht größer, als bei jungen Menschen, die kein Kulturangebot genutzt haben. Von den Jugendlichen, die ein Kulturangebot privat genutzt haben, waren hingegen doppelt so viele an Kultur interessiert. (Vgl. Keuchel 2014) Welche Schlussfolgerungen können Theater für junges Publikum daraus ziehen? Alleine durch Theatererlebnisse im Rahmen der Schulpflicht werden keine oder nur wenige Wege ins Theater eröffnet. Wenn möglichst viele Kinder und Jugendliche die Chance erhalten sollen, Theater für sich zu entdecken, müssen Theater neue Wege zu den Kindern und Jugendlichen finden, die bisher keinen Zugang haben. Die Vorgabe, dass Projekte im Rahmen von Kultur macht stark außerschulisch stattfinden müssen, wurde in vielen Ausführungen zum Programm vor allem mit dem Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern begründet (vgl. Wanka 2014: 6f.). Bezieht man jedoch die Ergebnisse des Jugendkulturbarometers auf diese Programmvorgabe und wirft gleichzeitig einen Blick auf die Angebote der Kinder- und Jugendtheater, lässt sich ein inhaltlicher Impuls daraus ableiten: Durch die Vorgabe der außerschulischen Durchführung der Projekte wird nicht da angesetzt, wo die Kinder- und Jugendtheater (und andere Anbieter Kultureller Bildung) schon sehr präsent und aktiv sind. An vielen Orten in Deutschland gibt es starke Partnerschaften zwischen Theatern und Schulen, wahrscheinlich hat nahezu jedes Theater, das auf ein junges Publikum spezialisiert ist, eine oder mehrere Partnerschulen. Oft werden Kooperationsverträge mit einem großen Anteil der Schulen vor Ort und im Umland geschlossen. Das Programm setzt da an, wo es noch keine etablierten Strategien gibt: Wenige Kinder- und Jugendtheater haben Audience Developement- oder Outreach-Programme für Jugendliche und Familien, um diese gezielt zum eigenständigen Theaterbesuch einzuladen. Die Vorgabe

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der außerschulischen Projekte gibt Theatern die Chance, neue Wege zu Kindern und Jugendlichen zu suchen, und neben der Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen und der Ansprache von Eltern und Familien eine „dritte Schiene“ zu erproben: Die gezielte Ansprache und Einladung von Kindern und Jugendlichen und Familien, die Theaterangebote bisher nicht wahrnehmen, in ihrer Freizeit.

W EN MACHT

DAS

T HEATER STARK ?

Um Theaterangebote zu konzipieren, die insbesondere auf Kinder und Jugendliche aus benachteiligenden Lebenslagen ausgerichtet sind, muss diese Zielgruppe vor Ort konkretisiert werden. Welche konkreten Personengruppen sollen angesprochen und zur Teilnahme eingeladen werden? Welche Bedingungen hindern diese Kinder, Jugendlichen und Eltern daran, Theater kennenzulernen und möglicherweise für sich zu entdecken? Um der Zielgruppe vorurteilsbewusst gegenüberzutreten, ist es sinnvoll, zunächst die Hintergründe derjenigen zu beschreiben, die das Theater mit außerschulischen Angeboten erreicht, also z. B. die Teilnehmer*innen von Kinder- und Jugendclubs: Welche Schulformen besuchen sie, aus welchen Stadtteilen kommen sie, welche Berufe haben ihre Eltern? Haben die Teilnehmer*innen der Angebote einen ähnlichen sozialen Hintergrund oder sind die Gruppen divers aufgestellt? Wie haben sie ihren Weg ins Theater gefunden? Wenn es unter den Teilnehmer*innen viele gibt, die zum Beispiel auf Schulen mit gymnasialer Oberstufe gehen, in zentrumsnahen und gut situierten Stadtteilen wohnen und akademisch gebildete Eltern haben, kann dies im Rückschluss so gewertet werden, dass diese Privilegien aktuell möglicherweise eine indirekte Voraussetzung für die Teilhabe am Theater sind. Relativ homogene privilegierte Gruppen können zudem exkludierend und diskriminierend auf Personen wirken, die weniger privilegiert sind. In einem Text zum Anti-Bias-Ansatz, einem Ansatz der antidiskriminierenden Bildungsarbeit, heißt es dazu: „Diskriminierung geht nicht allein von Vorurteilen Einzelner aus, sondern basiert auf vorherrschenden gesellschaftlich geteilten Bildern, Bewertungen und Diskursen und insbesondere auf der strukturell ungleichen Verteilung von Privilegien und Ressourcen.“ (Anti-BiasWerkstatt 2017)

Auch ein Blick auf das künstlerische Personal des Theaters und dessen Privilegien ist sinnvoll, bevor Menschen adressiert werden, die zu einem großen Teil weniger

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Privilegien haben. Die Fokussierung auf Privilegien und strukturelle Benachteiligung nimmt den Fokus von den einzelnen Personen und hilft, die unterschiedlichen Voraussetzungen verschiedener Personengruppen wahrzunehmen. Wie können Zielgruppen wertschätzend beschrieben und adressiert werden? Muss das Theater, um jemanden „stark“ zu machen, diesen zunächst als „schwach“ markieren? Ein Flyer mit der Aufschrift „Wir suchen Kinder armer, bildungsferner und arbeitsloser Eltern, die Lust auf Theater haben“ wird vermutlich niemanden ansprechen, da die genannten Attribute in unserer Gesellschaft sehr negativ konnotiert sind. Als Schwierigkeit für die Bündnisse des Programms Kultur macht stark wird oft beschrieben, dass die Akteur*innen vor Ort in zwei unterschiedliche Richtungen kommunizieren müssen: Im Antrag müssen sie darstellen, dass sie die Zielgruppenvorgaben des Programms erfüllen, sie müssen also über die Zielgruppe schreiben. Die Zielgruppe selbst möchten sie zur Teilnahme einladen, ohne zu stigmatisieren, sie möchten also mit der Zielgruppe in Kontakt kommen. Viele Theater nennen im Antrag statistische Zahlen und strukturelle Probleme in einem Stadtteil oder einer Einrichtung, die die benachteiligte Situation von Kindern und Jugendlichen, die mit dem Projekt erreicht werden sollen, beschreiben. Es wird aber teilweise auch mit Begriffen wie „sozial schwach“ oder „bildungsferne Schichten“ agiert, die nicht strukturelle Bedingungen, sondern Personen beschreiben – oft, weil die Annahme besteht, dass dies wichtige Schlagwörter wären, um gefördert zu werden. Spätestens bei der Kommunikation mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Multiplikator*innen fällt auf, dass diese Ausdrücke nicht hilfreich sind, wenn man versucht, sich wertschätzend zu begegnen. Auch eine kritische Selbstbefragung kann hilfreich sein, wie u. a. die ZehnPunkte-Liste „Wir sind nicht dein nächstes Kunstprojekt“ zeigt, in der es um Kunstprojekte mit Geflüchteten geht. Dort heißt es z. B.: „Teilhabe ist nicht immer fortschrittlich oder bestärkend. Dein Projekt mag Elemente von Partizipation haben, aber sei dir bewusst, dass dies auch einschränkend, alibi-mäßig und herablassend wirken kann. […] Welche Rahmenbedingungen hast du für unsere Partizipation aufgestellt? Welche Machtverhältnisse verstärkst du mit diesen Bedingungen? Welche Beziehungen stellst Du her?“ (Canas 2016)

Theater sind immer wieder in der Position, sich zu gesellschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen und Diskussionen zu verhalten. Dabei kann zwischen sozialem Engagement und künstlerisch-programmatischer Positionierung unterschieden werden. Programmatisch stellen sich Fragen wie: Welche Akteur*innen gestalten das Programm für welches Publikum? Wer ist auf der Bühne repräsentiert und wer nicht? Soziale Position können Theater auch beziehen, indem sie

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Räume und Ressourcen zur Verfügung stellen, ehrenamtliches Engagement fördern oder Menschen kostenlosen Zugang zu Kunst ermöglichen. Künstlerische Projekte mit Menschen, die von Benachteiligungen betroffen sind, können aus sowohl der sozialen als auch der künstlerischen Perspektive befragt werden: Wird das Projekt vor allem initiiert, um zu helfen, stellt sich die Frage, ob andere Formen der Hilfe vielleicht notwendiger wären. Wird es vor allem in Hinblick auf ein künstlerisches Ergebnis und eine Sichtbarkeit der Künstlerin bzw. des Künstlers oder des Theaters vorangetrieben, besteht die Gefahr, dass die Teilnehmer*innen ausgenutzt werden. Besteht jedoch ein künstlerisch-programmatisches Interesse an einer Zusammenarbeit und dem Dialog mit der Zielgruppe, muss die Konzeption so angelegt sein, dass die Teilnehmer*innen im Projekt in wesentliche Entscheidungen eingebunden sind.

V ERBÜNDETE

FINDEN

Theater haben nicht die Möglichkeiten und Ressourcen, einzelne Kinder oder Jugendliche persönlich anzusprechen und einzuladen, sie benötigen dafür institutionelle und personelle Unterstützung. Dazu können folgende Fragen hilfreich sein: • • • • • • •

Wo und wie verbringen Kinder und Jugendliche ihre Freizeit? Mit welchen Institutionen und Personen haben sie Kontakt? Welche Orte und Räume könnten für die Zielgruppe interessant oder attraktiv sein? Welches Thema ist für die Zielgruppe interessant und wer ist Expert*in für dieses Thema? Welche anderen Institutionen haben ein Interesse daran, die Zielgruppe anzusprechen und einzuladen? Welche Partner*innen sind interessant für das Theater? Für welche Institutionen ist das Theater ein interessanter Partner? Welche Partner*innen verfügen über Ressourcen, mit denen sie das Projekt unterstützen können?

Eine Vorgabe im Programm Kultur macht stark ist es, mit zwei Bündnispartner*innen zusammen zu arbeiten, die jeweils Eigenleistungen wie z. B. Personal, Räume oder Infrastruktur ins Projekt einbringen. Bedingung ist, dass die Partnerschaft über einen Leistungsaustausch hinausgeht. Der Begriff der Partnerschaft ist klar abzugrenzen von Begriffen wie „Anbieter“ und „Leistungsempfänger“. Er macht vielmehr deutlich, dass hier verschiedene Institutionen etwas einbringen. Kooperation ist Arbeit, sie erfordert viel Zeit für den Austausch von Meinungen

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und Perspektiven, für die Verständigung über Arbeitsweisen und Haltungen sowie für organisatorische Absprachen. Insbesondere Zusammenarbeit zwischen Institutionen mit unterschiedlichen Arbeitsbereichen erfordert oft die Klärung grundsätzlicher Fragen, die im Alltag der einzelnen Institution nicht vorkommen, weil sie Selbstverständlichkeiten sind wie z. B.: • • • •

Welche Regeln gelten für Kinder und Jugendliche in den einzelnen Institutionen? Welche Regeln sollen für das Projekt gelten? Was meinen wir mit Begriffen wie „Theater“, „Kulturelle Bildung“ und „Pädagogik“? Welche Rolle spielen diese Begriffe in unserem Alltag? Welche Erfahrungen haben wir mit der Zielgruppe, die angesprochen werden soll? Was verstehen wir unter Kooperation und Partnerschaft? Welche Aufgabenbereiche und Entscheidungen werden gemeinsam diskutiert, welche werden von einzelnen Partnern übernommen?

Verschiedenheiten können für alle beteiligten Institutionen eine Bereicherung sein. Bringt zum Beispiel eine Institution eine pädagogische Expertise ein, eine andere eine soziokulturelle und wieder eine andere eine künstlerische, kann die Planung, Durchführung und Reflexion des Projekts von diesen unterschiedlichen Perspektiven profitieren. Die Bündnispartner*innen haben verschiedene Blickwinkel auf die Zielgruppe, unterschiedliche Ansprüche an künstlerische Inhalte und Arbeitsweisen. Ein großer Vorteil der Bündniskonstellation mit drei Partner*innen ist das gemeinsame Engagement. Projekte Kultureller Bildung lasten oft auf den Schultern einzelner Institutionen oder Personen, die sich um die Finanzierung, Organisation, Teilnehmer*innenakquise und Durchführung kümmern. Bei drei Bündnispartner*innen kann diese Last auf mehrere Schultern verteilt werden. Ein Partner bzw. eine Partnerin hat vielleicht gute Kontakte zu freien Künstler*innen, während eine andere Räume und Ressourcen für Öffentlichkeitsarbeit einbringen kann und der dritte gute Kontakte in eine Community vor Ort hat, die zur Zielgruppe gehört. In Projektkrisen tauschen sich die Partner*innen aus und nutzen ihre Netzwerke, sodass gemeinsam eine Lösung gefunden werden kann. Voraussetzung für ein gelingendes Bündnis ist, dass alle Bündnispartner*innen ein Interesse an der Umsetzung des Projektes haben und bereit sind, dafür Zeit und Ressourcen einzubringen. Auf der Ebene der Bündnispartner*innen gilt ebenso wie im Kontakt mit der Zielgruppe, dass die Beziehungsebene eine wesentliche Rolle spielt: Verstehen sich die beteiligten Personen, arbeiten sie gerne zusammen an dem Projekt, haben sie ähnliche Anliegen und sind sie im gleichen

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Maße von der Idee begeistert? Oder gibt es Bündnispartner*innen, die unter Kooperation hauptsächlich verstehen, dass sie ihr Logo mit auf den Flyer setzen, weil sie weder personelle noch räumliche oder zeitliche Ressourcen haben, die sie einbringen können?

H ÜRDEN ÜBERWINDEN

UND

B EZIEHUNGEN

INITIIEREN

Das Ziel, Menschen zu erreichen, die bisher kein Interesse am Theater zeigen, wird schnell dem Marketing, der Theatervermittlung und der Theaterpädagogik zugeordnet, da es um „Zielgruppenerreichung“ geht, was oft noch immer mit Werbung gleichgesetzt wird. Es kann aber auch konzeptionell und programmatisch begriffen werden: Welche Themen möchten Theatermacher*innen mit diesen neuen Teilnehmer*innen verhandeln, welche Fragen möchten sie ihnen stellen und welche Mitgestaltungsmöglichkeiten möchten sie ihnen eröffnen? Themen und Inhalte von Projekten knüpfen oft an Inszenierungen und Projekte des Theaters an, so kann z. B. parallel zum Thema einer Inszenierung ein Jugendprojekt zum selben Thema initiiert werden, sodass sich die Beteiligten der beiden Produktionen im Probenprozess austauschen und gegenseitig besuchen können. Oder das Theater setzt sich gerade mit dem Stadtteil, in dem es sich befindet, auseinander und macht mit Kindern Erkundungstouren durch den Stadtteil, die in einer Ausstellung im Theater münden und die Perspektive der Kinder auf den Stadtteil zeigen. Fragen und Themen, die im Theater virulent sind, können mit Kindern und Jugendlichen diskutiert, untersucht und spielerisch bearbeitet werden. Sie können zu Theaterpräsentationen, Ausstellungen und Aktionen werden, in denen die Teilnehmer*innen das Theater ein Stück weit mitgestalten, indem sie ihre Perspektive einbringen und öffentlich sichtbar machen, und dadurch auch zu Dialogpartner*innen der Theatermacher*innen werden. Wie weit kann Mitgestaltung gehen? Diese Frage bezieht sich vor allem darauf, wer die Entscheidungen im Projekt trifft und welche Rolle das Projekt im Theater spielt. In fünf Jahren Wege ins Theater! haben Teilnehmer*innen mehrfach das Thema des Projekts geändert, weil sie das ursprünglich gesetzte Thema nicht ausreichend interessiert hat, Kinder und Jugendliche haben in verschiedenen Jurys über die Vergabe von Festivalpreisen entschieden, andere haben Matineen oder Einführungen gestaltet, eine Kinderdramaturgie hat Theatermacher*innen Vorschläge für einen Spielplan gemacht. Damit es dazu kommen kann, müssen die Bündnisse oft zahlreiche Hürden auf dem Weg ins Theater überwinden. Die Gewinnung von Teilnehmer*innen ist oft schon der erste Schritt: Strategien, die sich bei privilegierten Zielgruppen als erfolgreich erwiesen haben, wie z. B. Zeitungsankündigungen, Flyer, Aushänge in Schulen etc., blieben hier oft wirkungslos, weil sie ein vorhandenes Kulturinteresse

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voraussetzen. Persönliche Ansprache durch Bündnispartner*innen und Honorarkräfte, die Möglichkeit eines gegenseitigen persönlichen Kennenlernens und ggf. auch die Gelegenheit, erste Erfahrungen in einem Workshop zu machen, sind sehr viel aufwändigere Strategien, die aber für die in Kultur macht stark angesprochenen Zielgruppen erfolgsversprechender sind. Stimmt die Chemie zwischen Teilnehmer*innen und Honorarkräften? Entsteht hier eine vertrauensvolle Beziehung, in der sich die Akteur*innen öffnen und etwas von sich preisgeben können? Auch organisatorisch kann es Knackpunkte geben: Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien kommen häufiger unpünktlich oder gar nicht zu verabredeten Terminen als Teilnehmer*innen, die neben dem Theaterspiel noch im Chor singen und in den Tennisclub gehen. Honorarkräfte und Betreuer*innen fangen dies auf, indem sie mehrfach (per Messenger-Dienste, Social Media und Telefon) an Probentermine erinnern, manchmal Kinder abholen und nach Hause bringen, Kontakte zu Eltern pflegen und vieles mehr. Während die Rahmenbedingungen von Jugend- und Laienprojekten oft stark auf Verbindlichkeit ausgelegt sind, und das gemeinsame Projekt in den Vordergrund stellen, müssen Projekte im Rahmen von Wege ins Theater! oft stärker auf die Zielgruppen ausgerichtet werden, da nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass die Teilnehmer*innen von einem durchorganisierten Elternhaus unterstützt werden. Zudem muss damit gerechnet werden, dass die Teilnehmer*innen teilweise mit akuten Problemlagen wie Armut, Arbeitslosigkeit, Schulverweis oder Abschiebung konfrontiert sind und dass sie schon im jungen Alter Erfahrungen mit Diskriminierung machen mussten. Diese Problemlagen können manchmal nicht in einem Theaterprojekt aufgefangen werden oder bedürfen zusätzlicher psychosozialer Betreuung. Um eine zu große Verdichtung von Problemlagen zu vermeiden und ein stärkeres Voneinanderlernen zu befördern, werden in vielen Projekten auch einige Kinder und Jugendliche aus privilegierten Lebenslagen einbezogen. Dadurch kann Raum für gegenseitiges Verständnis und Ermutigung entstehen, und Theater wird zu einem Begegnungsraum für Kinder und Jugendliche mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. „Wir möchten einfach nur mit Kindern arbeiten“ wurde auf dem Abschlusspodium der Fachtagung „Kultur mit allen?!“ in Darmstadt1, angesichts der Vielzahl der Förderprogramme, die auf benachteiligte Zielgruppen ausgerichtet sind,

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Zitat aus persönlicher Mitschrift der Tagung „Kultur mit allen?! Kulturelle Bildung in der Migrationsgesellschaft am 24.01.2017 in Darmstadt. Veranstalter: KulturRegion FrankfurtRheinMain. Siehe auch: http://www.krfrm.de/veranstaltungen/fachtag-mit-d em-thema-kultur-mit-allen-kulturelle-bildung-in-der-migrationsgesellschaft [aufgerufen am: 06.06.2017].

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gesagt. Leider bedeutet „einfach nur mit Kindern“ auch heute noch in vielen Fällen, dass vor allem privilegierte Kinder an den Angeboten teilnehmen. Zielgruppenspezifische Programme werden dies nicht innerhalb von wenigen Jahren ändern – aber sie initiieren Beziehungen und Kooperationen, die vielleicht weitergelebt werden und regen zu dem ein oder anderen Projekt an, das die Beteiligten so berührt, irritiert oder begeistert, dass sie es fortführen. Bei Wege ins Theater! geht es letztendlich darum, neue Bezüge und Beziehungen herzustellen, die das Potenzial haben, das Leben von Menschen, die Theater für sich entdecken, zu verändern und auch ein Stück weit das Theater in einen Wandlungsprozess zu versetzen. Und zwar dadurch, dass sich Menschen einbringen, die bisher nicht Teil von Theater waren.

L ITERATUR Anti-Bias-Werkstatt (2017): „Was ist Anti-Bias? Inhalte“. URL: http://www.anti -bias-werkstatt.de/?q=de/content/inhalte [aufgerufen am: 06.06.2017]. Canas, Tania (2016): „Wir sind nicht dein nächstes Kunstprojekt“. URL: http:// www.kultur-oeffnet-welten.de/positionen/position_1536.html (dt. Übersetzung) [aufgerufen am: 06.06.2017]. Keuchel, Susanne (2014): Kulturelle Interessen der 14- bis 24-Jährigen. Quo Vadis nachhaltige Kulturvermittlung? Aktuelle Ergebnisse aus der Reihe „Jugend-KulturBarometer“. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelleinteressen-14-bis-24-jaehrigen-quo-vadis-nachhaltige-kulturvermittlung-aktu elle [aufgerufen am: 06.06.2017]. Wanka, Johanna (2014): „Dicke Bretter bohren“. In: Zimmermann, Olaf/Geisler, Theo (Hg.): Politik und Kultur – Dossier Kultur macht stark „Es geht voran“, S. 6-7. URL: kulturrat.de/wp-content/uploads/altdocs/dossiers/kulturmachtst ark.pdf [aufgerufen am: 06.06.2017].

Beteiligung Partizipationsversprechen und die Schwierigkeit, sie einzulösen C HRISTOPH S CHEURLE

V ORBEMERKUNG Partizipation ist ein Versprechen, das derzeit nicht nur stark en vogue, sondern auf Grund seiner Vielzahl an unterschiedlichen Bedeutungen auch wohlfeil ist. Beteiligung ist nur eine von vielen möglichen Übersetzungen des Begriffs, aber nicht die Einzige. Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe führt beispielsweise „Teilnahme, Teilhabe, Teilhaftmachung“ auf (Regenbogen/Meyer 2005: 484) und verweist zusätzlich auf den griechischen Begriff der „Methexis“, womit bei Plato „das Verhältnis der Einzeldinge zu den Ideen“ gemeint ist (ebd.: 414), worin ein beträchtlicher Unterschied liegen kann. Jörg Zirfas hält lapidar fest, dass unter dem Begriff Partizipation „wie unter seinen teils übereinstimmend, teils aber auch differenzierend gebrauchten Ersatzbegrifflichkeiten wie Anteilnahme, Austausch, Beteiligung, Einbeziehung, Integration, Inklusion, Kooperation, Mitbestimmung, Mitgesamttätigkeit (Schleiermacher), Öffentlichkeit, Selbstverwaltung, Teilhabe, Teilnahme, Zugang, Zugehörigkeit und Zusammenarbeit“ (Zirfas 2015)

häufig etwas sehr Unterschiedliches gemeint ist. Bei aller Begriffsvielfalt ist dabei auffällig, dass der Begriff oftmals in emphatischer, aber unreflektierter Weise mit Demokratievorstellungen in Zusammenhang gebracht wird. Mit dem Partizipationsversprechen geht oftmals die völlig unbegründete Vorstellung einher, dass diese per se demokratische Verfahren absichern und damit auch faktische Gleichheit herzustellen vermag. Gleichzeitig wird mit dem Partizipationsversprechen die

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Fiktion verbreitet, dass Beteiligung notwendigerweise demokratiestärkend und im positiven Sinne weltverändernd wirksam sei. Dementgegen halten Sönke Ahrens und Michael Wimmer fest, dass es ein wesentlicher Unterschied sei, ob „es sich um die Teilhabe im Sinne des Besitzes eines realen Anteils des Reichtums der Gesellschaft“ handele oder „nur um die symbolische Teilnahme an einer Stakeholderversammlung oder nur um das Gefühl und die imaginäre Vorstellung der Dazugehörigkeit [H. i. O.]“ (Ahrens/Wimmer 2014: 178f.). „Wenn man nun noch bedenkt, dass Partizipation auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert wird – also ontologisch, sozialphilosophisch, juristisch oder praktisch – und außerdem noch in sehr verschiedenen Diskursen – philosophischen, politischen, verwaltungstechnischen, soziologischen, pädagogischen etc. – dann dürfte klar sein, dass man eigentlich bei jedem Satz Klarstellungen und Abgrenzungen mit thematisieren müsste, was kaum möglich ist.“ (Ebd.: 179).

Was für den Begriff der Partizipation als Unmöglichkeit dargestellt wird, soll im Folgenden für den Begriff der Beteiligung versucht werden: ein Vorschlag, was unter dem Begriff verstanden werden kann – vor allem auch in Kunst- und Kunstvermittlungskontexten. Dabei beziehe ich mich hier vornehmlich auf die darstellenden Künste, denn im Theater erscheint mir die Frage nach der Beteiligung besonders wesentlich. Als kollektive Kunst (vgl. Kurzenberger 2009) werden hier Fragen der Beteiligung nicht nur im Modus der Präsentation oder der Aufführung virulent, sondern auch im Produktionsprozess. Die Frage nach der Beteiligung würde sich hier also nicht nur auf die Teilnahme beziehen – alle waren da, alle haben zumindest etwas wahrgenommen und erlebt –, sondern auch auf den produktiven Anteil an dem, was – wie auch immer – entstanden ist. Unter dem Schlagwort der Beteiligung sollen hier also einige Überlegungen zum oftmals auch hierarchischen Verhältnis von Teilhabe und Teilnahme angestellt werden. Bevor wir allerdings den Blick auf das Theater wenden, soll zuvor noch auf einen besonderen Umstand hingewiesen werden. Auf den Begriff Partizipation zu verzichten und stattdessen den Begriff der Beteiligung zu wählen, verspricht zunächst Entlastung, insofern er das semantisch unscharfe Feld (vgl. Zirfas 2015) elegant umgeht. Nach den Modi der Beteiligung zu fragen, bedeutet nämlich den Blick auf diejenigen zu fokussieren, die gewissermaßen schon dabei oder drin sind und ignoriert all diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, von vornherein ausgeschlossen bleiben. An dieser Stelle ließe sich freilich einwenden, dass die Frage nach der Beteiligung auch die Frage nach den Zugängen einschließt, also wer kann unter welchen Umständen mitmachen. Das ist einerseits richtig, denn Beteiligung ist in erster Linie eine Frage der Verteilung von Teilhabechancen, andererseits aber immer

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auch eine Frage des Wollens und der inneren Haltung. Sind die Teilhabechancen gegeben, so liegt es immer noch am Einzelnen, diese zu ergreifen. An dieser Stelle könnte und müsste man natürlich nach den strukturellen Bedingungen fragen, also inwiefern sich Chancen auf Beteiligung ergeben. Ich will das aus systematischen Gründen aber nicht tun, sondern an dieser Stelle die Vorbemerkung mit der Annahme schließen, dass unsere Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Systemen, Einrichtungen und Angeboten – Schulen, Theaterhäuser, soziokulturelle Zentren usw. – zumindest potenziell Möglichkeiten der Beteiligung schaffen. Wie die Modi der Beteiligung sich dann im Einzelnen ausbuchstabieren, wer unter welchen Vorbedingungen woran Anteil nimmt oder Anteil hat, soll hier das Thema sein. Meine Überlegungen gliedern sich dabei in vier inhaltliche Punkte: Unter Rückgriff auf eine Aussage Christoph Schlingensiefs, sollen erstens unter dem Motto „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da!“ (1998) einige grundlegende Überlegungen zum Verhältnis und Verständnis der Begrifflichkeiten Beteiligung und Partizipation angestellt werden. Dabei soll vor allem gezeigt werden, dass der Begriff der Demokratie nicht, wie oftmals suggeriert wird, das alleinige Zugriffsrecht auf den Begriff der Partizipation reklamieren kann. Im zweiten Teil soll dann der Blick auf die Produktions- und Präsentationsprozesse im Theater unter der Prämisse der Beteiligung gelenkt werden. Hier soll die Betrachtung vor allem auch unter den Vorzeichen der Einbeziehung von Laien geschehen. Das Schlagwort „Relevanz Now!“, unter dem dieser Abschnitt steht, soll dabei im Besonderen noch einmal auf den Umstand verweisen, dass sich auch im theaterwissenschaftlichen Diskurs eine Trendwende vollzogen hat: Weg von der reinen Betrachtung der Aufführung, hin zu den Arbeits- und Produktionsprozessen im Theater, in deren Zentrum nicht (mehr) nur Fragen der Ästhetik, sondern auch Fragen der gesellschaftlichen Relevanz stehen. Im dritten Abschnitt soll schließlich danach gefragt werden, wer unter welchen Bedingungen, welchen Anteil an der Inszenierung hat. Wenn gefragt wird „Wer war das?“, soll damit noch einmal auf den Umstand hingewiesen werden, dass reale Beteiligung von Laien in künstlerischen Prozessen nicht nur Fragen der Pädagogik und der Vermittlung aufruft, sondern auch, dass der Prozess unter Umständen oftmals von „Partizipationsfiktionen“ begleitet ist, die – fälschlicherweise – von der Gleichheit aller Beteiligten ausgehen. Hier wird dafür plädiert, eine solche Fiktion zu Gunsten einer Transparenz, wie sie die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Melanie Hinz für künstlerische Arbeitsprozesse mit Laien fordert, aufzugeben (Hinz o. J.). In diesem Zusammenhang wird auch dem Vorschlag von Ahrens und Wimmer, den oftmals mit konsensuellen Verfahren belasteten „Partizipationsdiskurses zu unterbrechen und seine problematische demokratietheoretische Funktion durch den Begriff der ‚geteilten Welt‘ zu ersetzen“ (Ahrens/Wimmer 2014: 177), Beachtung

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geschenkt. Am Ende der Überlegungen steht das Plädoyer, dass partizipatives Arbeiten nicht notwendigerweise demokratischer Verfahren, wohl aber einer transparenten Auseinandersetzung über die gewählten Verfahren aller Beteiligter bedarf.

„W IR SIND

ZWAR NICHT GUT , ABER WIR SIND DA !“ – EINIGE KURZE Ü BERLEGUNGEN ZUM V ERHÄLTNIS UND V ERSTÄNDNIS DER B EGRIFFLICHKEITEN B ETEILIGUNG UND P ARTIZIPATION Es gibt im Partizipationsdiskurs die Tendenz, den Partizipationsbegriff mit dem der Demokratie nahezu gleichzusetzen (vgl. Ahrens/Wimmer 2014: 175). In dieser Perspektive sichert Partizipation einerseits den demokratischen Prozess, andererseits sorgt die Demokratie dafür, dass alle Bürger*innen die Möglichkeit haben, am politischen System teilzunehmen. In dem Fall meint Partizipation also „alle Tätigkeiten, die Bürgerinnen und Bürger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen“ (Kaase 1991: 521, zit. in: Ahrens/Wimmer 2014: 175). Beteiligung an den unterschiedlichen Prozessen erscheint so – da auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basierend – als unproblematisch. Wer möchte, kann sich einbringen und baut konstruktiv am Staat mit. Eine solche Vorstellung von Beteiligung macht deutlich, dass „mit dem Gebrauch des Partizipationsbegriffes eine Neigung zum Konsensuellen einhergeht“ (Ahrens/Wimmer 2014: 176). Das auf Freiwilligkeit beruhende Prinzip rechnet dabei nicht nur all diejenigen heraus, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht dabei sind, es invisibilisiert auch das Regelsystem, dem sich die aktiv Beteiligten zu unterwerfen haben. Dass es ein Regelsystem gibt, nach dem sich alle zu richten haben, kann nicht negiert werden, es wird nur häufig übersehen oder ignoriert, da die Beteiligung ja auf „Freiwilligkeit“ basiert. Dass Demokratie und Partizipation also das Gleiche sind, darf bezweifelt werden. Partizipation in demokratischen Prozessen setzt einen Imperativ voraus, dem sich alle, die sich beteiligen wollen, zuvor schon unterworfen haben. Solange das in einem geschlossenen idealen System vor sich geht, in dem alle die gleichen Ansichten haben, stellt dies kein Problem dar. Gehen wir aber davon aus, dass Menschen mit unterschiedlichen Interessen in einer – zunehmend globalisierten – Welt leben, also alle mehr oder weniger beteiligte Akteur*innen sind, so müssen wir konstatieren, dass wir, frei nach Watzlawik, schlichtweg nicht partizipieren können (vgl. Ahrens/Wimmer 2014: 184). Beteiligungen laufen nicht immer nach demokratischen Verfahren ab. Russland, die Türkei oder Syrien, um nur einige Beispiel zu nennen, sind Staaten, die eher von einem demokratischen Verständnis

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entfernt sind und dennoch Anteil an unserem Leben nehmen. Ebenso wenig ist gesichert, dass demokratische Verfahren, aktive Formen der Beteiligung erfordern. Genauso gut können sie sich – man denke an die Nichtwähler*innen – in einem eher teilnahmslosen Mit-Dabei-Sein äußern. Die Haltung und Form der Beteiligung steht also allenfalls mittelbar im Zusammenhang mit der Frage nach den Beteiligungsformen. Die Frage nach der Partizipation ist also immer auch eine politische Frage, nicht aber zwangsläufig eine der Demokratie. Sie kann, wie nicht nur das Beispiel undemokratischer Staaten zeigt, sondern auch die unterschiedlichsten Formen des Terrorismus, sogar in einem konflikthaften Widerspruch zueinander stehen. Demokratie wäre bestenfalls eine mögliche Alternative zu anderen Beteiligungsformen, im schlechtesten Fall führt sie zu einem unreflektierten Partizipationsbegriff, in dessen Konsequenz Konflikte und/oder die Haltungen und Ideen bestimmter Gruppen unterlaufen bzw. marginalisiert werden. Versteht man Partizipation als politischen Imperativ, so dürfen demokratische Verfahren nicht gesetzt sein, sondern müssen zunächst diskursiviert werden: Soll ein bestimmtes Verfahren bzw. ein Prozess nach demokratischen Regeln ablaufen? Und wenn ja, was bedeutet das? Dass alle Fragen von allen gleichberechtigt entschieden werden? Dass Delegationen gewählt und mit einem Mandat ausgestattet werden? Gibt es womöglich noch ganz andere als direkte oder repräsentative Verfahren? Den Begriff der Partizipation und damit die Frage nach Beteiligung im vordemokratischen gleichwohl politischen Raum zu platzieren bedeutet zuallererst ein politisches Bewusstsein für soziale Situationen zu schaffen. Das scheint mir besonders auch für Arbeitsprozesse im Theater von Bedeutung zu sein. Demokratie wird so nicht etwa stillschweigend vorausgesetzt, sondern Beteiligung führt dann dazu, dass die Modi ihrer Funktion in Frage gestellt werden. Der konzedierten Neigung zum Konsensuellen kann so der Dissens als diskursive Figur und Praxis entgegengesetzt werden. Es geht also nicht darum, sich gegenseitig zu versichern, dass alle gute Demokrat*innen sind, sondern um die Frage, was Demokratie eigentlich bedeuten soll. Partizipationsansätze müssen insofern immer auch Rechenschaft darüber ablegen, nach welchen Spielregeln sie funktionieren und welche Gruppen ein- bzw. von vornherein ausgeschlossen sind. Es geht daher nicht darum, festzustellen, ob Partizipation gegeben ist – diese ist Conditio sine qua non –, sondern darum, nach den spezifischen Partizipationsverfahren zu fragen und den jeweiligen Grad an Involviertheit der unterschiedlichen Personen bzw. Personengruppen zu bestimmen.

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„R ELEVANZ N OW !“ E INE KURZE B ETRACHTUNG DES P RODUKTIONSFELDS T HEATER UNTER DER P RÄMISSE DER B ETEILIGUNG Anders als in den bildenden Künsten fand der Partizipationsdiskurs im Theater der 1970er Jahren zunächst eher am Rande statt (vgl. Scheurle 2017). Zwar gab und gibt es mit der Performance Group und dem Living Theatre wichtige künstlerische Impulse in Bezug auf die Beteiligung von Zuschauer*innen innerhalb von Aufführungen. Richard Schechner hat bereits in den 1970er Jahren erste systematische Überlegungen zum Verhältnis von darstellenden Künsten und Publikum vorgelegt und in der Folge immer weiter ausgeführt (Schechner 1971, 1990, 1994) und ebenso rücken mit dem Performative Turn Ende des 20. Jahrhunderts Fragen der leiblichen Ko-Präsenz von Akteur*innen und Publikum in den Fokus (vgl. Fischer-Lichte 2004). Aber erst in den letzten zehn bis 15 Jahren werden Fragen der Sozialität in den Darstellenden Künsten verstärkt akzentuiert: „Der performative turn wird nun begleitet vom social oder practional turn [H. i. O.].“ (Hinz o. J.) Damit gehe einher, so die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Melanie Hinz „ein erweiterter Theaterbegriff, der Theater als eine Kunst des sozialen Handelns in den Fokus rückt – und die Teilnehmer*innen als Akteur*innen unter der Maßgabe des Partizipativen einbinden will“ (ebd.). Damit scheint mir ein entscheidender Unterschied zu den Beteiligungsformen und -möglichkeiten des Theaters des vergangenen Jahrhunderts markiert: War das Publikum zuvor meist Empfänger dezidierter Botschaften oder konnte als Akteur allenfalls in festgelegten Parts der Aufführung mitwirken oder die Aufführung auch ggf. unterbrechen (vgl. Scheurle 2012: 26f.), so geht es in den aktuellen Formen des Theaters nicht nur darum, Zuschauer*innen als Akteur*innen auf die Bühne zu bringen, sondern sie zu Ko-Produzierenden der Aufführung zu machen. Die Idee, dass der oder die Zuschauer*in am Aufführungsereignis sowieso und prinzipiell mitwirke, gab es zwar auch schon davor (vgl. Wartemann 2011), nun aber soll das Theater Laien, Schüler*innen, Alten und sonstigen Gruppen eine Bühne bieten, um dort … Ja, was eigentlich? Etwas zu lernen? Theater zu produzieren? Sich als Künstler auszuprobieren? Gute Demokrat*innen zu werden (was auch immer das heißen mag)? Alle diese Erwartungen gibt es und werden an das Theater herangetragen – und sicherlich noch einige mehr. Unter dem Paradigma der Relevanz profiliert sich

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das Theater als der Ort, dessen künstlerische Praxen nicht nur künstlerisch überzeugen sollen, Theaterpraxis soll zugleich die bessere Pädagogik sein. Die Institution Theater versteht sich gar als die eigentliche Agora des Politischen! Denn unter dem Paradigma der Partizipation wird mit Kunstpraxen oftmals die Hoffnung verknüpft, wenn schon nicht die Welt zu retten, so doch zumindest Gerechtigkeit, Augenhöhe oder Gleichheit herzustellen. Partizipation schaffe hier, so die Vorstellung, nicht nur künstlerische Innovationen, sondern sei gleichermaßen auch Schule der Demokratie und Bildungsinstitution. Gerade das Theater wird hier immer wieder als glänzendes Beispiel hervorgehoben. Ein aktuelles Beispiel aus dem Theaterdiskurs zeigt, welche Erwartungen an ein Theater der Partizipation gestellt werden: „The twenty-first century is a century of spectators. With Jacques Rancière’s The Emancipated Spectator (2009) being the most discussed theatre-related text of the last decade, there is an increase in scholarly and curatorial interest in the most mysterious, potentially dangerous and, in fact, most important participant of the performance, who stays silent, motionless, and hidden in darkness: the audience. And similarly, artists desire to finally ‚meet the spectators‘: to let them speak, get into a dialogue with them, invite them to involve themselves in pursuing the performance. To liberate the audience.“ (Burzyńska 2016: 9)

Gerade der letzte Satz setzt mit seiner Befreiungsrhetorik das Theater unter Druck – zumal es nicht damit genug ist, wenn das Publikum im Theater befreit ist, erhofft wird auch ein Transfer auf andere Bereiche der Gesellschaft. So ist im Weiteren zu lesen: „In the world where democracy, activism, and freedom of speech become more and more important (and more and more endangered) values, theatre shouldn’t be a place where one is supposed to remain passive and silent to accept everything that is said. Just the opposite: theatre has the potential to become a kind of ‚rehearsal space‘ for democracy, a place where one’s encouraged not only to observe, but to be critical, active, and responsible for what is happening.“ (Ebd.: 9)

Neben dem Erwartungsballast wird noch ein anderes Problem deutlich: Es ist der Versuch, sich die Zuschauerin bzw. den Zuschauer nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu formen. Der rhetorische Kniff besteht darin, einen mysteriösen, gefährlichen oder zumindest passiven Zuschauer zu skizzieren, der zudem noch in einer absolut defizitären Welt beheimatet ist. Mit anderen Worten: Um ein Problem überhaupt lösen zu können, wird zunächst einmal eines kreiert. Der bzw. die Zuschauer*in wird als unmündiges Objekt abqualifiziert, das, so die Unterstellung, der edukativen Zurichtung bedarf. Sprich, das Theater soll dazu dienen, die

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Zuschauerin bzw. den Zuschauer aus seiner Unmündigkeit zu befreien, die zwar nicht wie bei Kant selbstverschuldet ist1, aber doch aus berufenem Mund diagnostiziert wird. Partizipation in diesem Sinne unterstellt damit immer unterschiedliche Wissensstände und festigt hierarchische Verhältnisse, in der ein Wissender, dem Unwissenden den Weg weist. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin einverstanden damit, wenn das Theater im Wandel begriffen ist und neue Formen findet. Und ich finde es begrüßenswert, wenn das Theater auch ein Spielplatz für die Erprobung demokratischer Verfahren sein kann. Dennoch wird, wenn Demokratie und Partizipation gleichgesetzt werden, womöglich der zweite Schritt vor dem ersten getan. Wenn Zuschauer*innen als passiv und Passivität als Problem markiert wird, dann wird vor allem ignoriert, dass Partizipation nicht gleichbedeutend mit aktiver Teilnahme sein muss – man kann schließlich auch still teilhaben. Schweigen kann im gleichen Maße Missbilligung ausdrücken, also genau so beredt sein, wie lautstarke Zustimmung oder Ablehnung. Das kann jeder bestätigen, der einmal auf einer Bühne stand. Wenn Demokratie sich die Freiheit und die gleichberechtigte Teilhabe Aller auf die Fahnen schreibt, dann kann Theater als Schule der Demokratie allenfalls als Beispiel ex negativo dienen. Nämlich immer dann, wenn ich mich als ausgeschlossen erlebe: Ich habe keine Karte bekommen, ich habe nicht die finanziellen Mittel, ich habe nicht die notwendigen Informationen und kann daher nicht dabei sein. Ist Theater eine sozial-integrative Veranstaltung? Ja, aber nur für diejenigen, die ein Ticket erhalten haben. Die Exklusivität hat in vielen Dingen seine Berechtigung: Aus Gründen der Sicherheit dürfen nur eine bestimmte Anzahl von Besucher*innen in das Theater. Eine Demokratie, die nicht darauf besteht, eine Gemeinschaft zu sein, die auf bestimmten Werten beruht, allen die gleichen Schutzrechte zugesteht und darauf verzichtet, die Menschen, die sich außerhalb der Gemeinschaft stellen, zu sanktionieren, schafft sich auf lange Sicht ab. Ebenso gibt es weitere Exklusionsmechanismen, die gesellschaftlich akzeptiert sind, wie etwa darauf zu verzichten, „Schulkinder gleichberechtigt an Lehrplanentscheidungen partizipieren“ zu lassen

1

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1784: 481)

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(Ahrens/Wimmer 2014: 183). Es gibt also auf unterschiedlichsten Ebenen durchaus einen Bereich „konsensfähiger Exklusion“ (ebd.: 183), nur wird dieser oftmals zu Gunsten einer zwar fiktionalen, aber dafür auch weniger konflikthaften Partizipationsvorstellung ausgeblendet. Die Idee einer auf Konsens beruhenden Partizipation erweist sich so zwar als Fiktion, ist aber dafür sehr viel bequemer.

W ER WAR DAS ? P ARTIZIPATIONSFIKTIONEN UND FUNKTIONSSPEZIFISCHE P ARTIZIPATION IN ( KÜNSTLERISCHEN ) ARBEITS - UND P RODUKTIONSPROZESSEN Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen darauf verwiesen, dass mir im Theater die Frage nach der Beteiligung besonders wesentlich scheint, da diese nicht nur auf Präsentationen, sondern auch auf die Produktionsprozesse einwirken. Wesentlich sei, so habe ich argumentiert, die Frage nach dem produktiven Anteil an demjenigen, was da – wie auch immer – entstanden ist. Im Gegensatz zum vorherigen Abschnitt wende ich mich mit dieser Frage jedoch nicht der Aufführung, sondern dem Produktionsprozess zu und frage zudem aus theaterpädagogischer Perspektive. Damit ist das nicht weniger spannungsreiche Verhältnis von Pädagogik und Kunst aufgerufen, dass, so wiederum Melanie Hinz, „zu Gunsten einer künstlerischen und ästhetischen Bildung der Teilnehmer*innen und des künstlerischen Projektes entschieden worden“ sei (Hinz o. J.). Was aber bedeutet das konkret? Heißt es, dass sich die Verhältnisse von Lehrenden und Lernenden neu formatieren? Wohl kaum, jedenfalls nicht zwangsläufig, denn auch hier ist davon auszugehen, dass Künstler*innen, als Workshopleiter*innen eine Expertise in den Arbeitsprozess einbringen, die erstens sowohl von einem spezifischen Können als auch von einem spezifischen Wissen geprägt ist2, und zweitens, dass die künstlerische Leitung die Prozesse maßgeblich steuert – das ist schließlich ihre Aufgabe. Zwar mag sich der Künstler bzw. die Künstlerin hier nicht um eine allgemein anerkannte Didaktik scheren, ebenso mag er oder sie sich allgemein verbindlichen oder gar

2

Gilbert Ryle trifft hier die systematische Unterscheidung zwischen Wissen (knowing that) und Können (knowing how) (vgl. Ryle, 1987: 30ff.). Laut Ryle geht jedem Wissen ein Können voraus. Für den Bereich der Theaterpädagogik könnte diese Differenz fruchtbar gemacht werden, um weitere Überlegungen anzustellen, durch welche Praxisformen ein Können vermittelt werden kann, sodass sich ein Wissen einstellt.

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im Vorfeld festgelegten Lernzielen verweigern, dies ist aber nicht gleichbedeutend mit der Annahme, dass es keine Ziele gäbe, auch wenn sich diese noch nicht definieren lassen. An einer solchen Arbeit mit offenem Ergebnis „schließen sich weitere Fragen zum pädagogischen Verhältnis von Künstler*innen als Projektleitung und Teilnehmer*innen an: Wie weit sind wir bereit, als Künstler*innen unsere Führung aus der Hand zu geben, inwieweit sind wir bereit, Wechselverhältnisse von Theaterspielen und Theaterschauen zu schaffen, sodass auch Nicht- Profis in die Position rücken können, den Außenblick einzunehmen oder Arbeitsstrukturen mit zu definieren? Und nicht zuletzt: Wie wichtig ist uns hierbei die künstlerische Autonomie der Beteiligten gegenüber dem künstlerischen Endergebnis?“ (Hinz o. J.)

Auf Grund der Tatsache, dass zwar offen sei, welcher Anteil in der eigenen Arbeit der Künstlerin oder des Künstlers pädagogisch ist, „der eigene Theaterbegriff […] möglicherweise (aber) nicht so leicht verhandelbar“ (ebd.), plädiert Hinz hier für Transparenz. In der Arbeit mit Nicht-Profis haben die Künstler*innen offenzulegen, wie stark künstlerische Formen vorgegeben sind und inwiefern das Projekt womöglich auch erzieherische Ziele verfolge, sodass diese auch im Arbeitsprozess thematisiert werden können. Diese Forderung trifft sich mit dem von Ahrens und Wimmer unterbreiteten Vorschlag, in Bezug auf Fragen der Beteiligung auf den Begriff der Partizipation zu verzichten und stattdessen den Begriff der „geteilten Welt“ zu verwenden: „Während der Begriff der Partizipation in Zusammenhängen, in denen andere zur Partizipation ‚befähigt‘ werden sollen, eine Ungleichheit konstituiert, um sie abschaffen zu können (zwischen denen, die fähig sind und denen, die erst noch befähigt werden müssen; zwischen denen, die entwickelt sind und denen, die erst noch entwickelt werden müssen), geht der Begriff der geteilten Welt von einer Gleichheit aus, die dazu dient, eine Ungleichheit sichtbar werden zu lassen [H. i. O.].“ (Ahrens/Wimmer 2014: 193f.)

Kerngedanke ist, dass die Vorstellung einer Welt durch die paradoxale, gleichwohl reale Vorstellung ergänzt wird, dass diese Welt gleichermaßen eins wie auch geteilt ist, also als ein Raum mit widerstreitenden Interessen existiert. „Wenn es im Politischen also nicht um einen Streit in der Welt und zwischen bestehenden Gruppen geht, sondern um den Streit darum, wer was für eine Welt eigentlich wie mit wem teilt, dann geht es um die Teilung der Welt selbst, als Streit um das Geteilte […] Den Dissens in den Mittelpunkt zu stellen, heißt damit auch die Exklusionsmechanismen aus dem Dunkel des Selbstverständlichen in das Licht des Kontingenten zu rücken [H. i. O.].“ (Ebd.: 195)

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Es geht mit anderen Worten und bezogen auf die Fragen der Beteiligung im Theaterkontext darum, kulturelle, individuelle und weitere Differenzen ins Licht treten zu lassen und zum Gegenstand des ästhetischen, dann aber auch politischen Prozesses zu machen. Melanie Hinz referiert in dem hier schon öfter zitierten Aufsatz eine Episode aus dem eigenen Probenprozess, in dem das Verhandeln bestimmter Formen von Sexualität auf der Bühne von manchen Teilnehmer*innen als Zumutung empfunden und damit zu einem relevanten Thema der Arbeit wurde. Dieses Problem wurde von den Künstler*innen als Spielleitung und anderen Beteiligten nicht einmal in Ansätzen als Problem erkannt, da diese „Befindlichkeiten“ außerhalb ihres theatralen Sichtfeldes lagen. Dies scheint mir ein gutes Beispiel für den Problemhorizont zu sein, den Ahrens und Wimmer aufmachen, wenn sie von den zwei sich entgegenstehenden Welten sprechen, „in der eine Gruppe mit einer anderer streitet, gegen eine, in der man gar nicht auf die Idee käme, sich mit denen da über so etwas zu streiten.“ (Ebd.: 195)

F AZIT An demokratischer Partizipation ist nicht die Partizipation das Problem, sondern ein Demokratieverständnis, welches bestimmte Vorstellungen von Beteiligung voraussetzt, die mit den Begriffen Gemeinschaft, Übereinstimmung oder Identität zwar nur ungenügend beschrieben sind, die aber darauf hinweisen, dass Zugehörigkeit zwar ein notwendiges Merkmal ist, welches sich aber nicht nur über Gemeinsamkeit, sondern auch über Distinktion definiert und damit bestimmte Menschen oder Gruppen von vorneherein ausschließt. Demokratie muss, wie das Theater auch, gelernt und erfahren werden. Demokratie ist also nicht die Voraussetzung für Partizipation oder Beteiligung, sondern kann allenfalls erwünschtes Thema, ggf. auch Ziel von partizipativen Prozessen sein. Theater ist in diesem Sinne kein Seins-Zustand, sondern emergiert aus dem Prozess und findet erst im Werden zu seiner Gestalt. Für Fragen der Beteiligung braucht es daher auch keine Partizipationsfähigkeit, die erlernt werden müsste. Es braucht die Einsicht von jedem und jeder, dass dieses Zusammengeschlossen sein – dieses In-der-Welt-Sein – Transparenz hinsichtlich der Frage erfordert, nach welchen Modi die Beteiligungsformen festgelegt werden. Wenn man sich in einem weiteren Schritt darauf verständigt, dass dieses Regelsystem demokratisch sein soll, so bedeutet dies nicht gleichzeitig, dass es Bedingung dafür ist, dass alle partizipieren können, sondern ist eine normativ ethische Antwort auf Fragen der Organisation, die sich allerdings stets reaktualisieren muss. Denn wenn Beteiligung auf demokratischen Prämissen beruhen soll, dann ist das im Theater wie auch anderswo vor allem eine Verabredung,

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die getroffen wird. Und wer das Theater kennt, der weiß natürlich auch: Verabredungen zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie lose Absichtserklärungen sind, deren Einhaltung eine gleichermaßen nützliche wie notwendige Fiktion ist, die den Betrieb – die Probe, die Aufführung etc. – am Laufen hält. Es gibt also zumindest eine Partizipationsfiktion und ein damit verbundenes Partizipationsparadox. Die Fiktion ist, dass Partizipation mit Demokratie gleichzusetzen ist, das Paradoxon, dass Partizipation „gelernt“ werden muss, um gelingen zu können, obgleich ich doch schon immer und an jeder Situation, in der ich mich befinde partizipiere. Lernen ist dabei als Begriff insofern unpassend, als dass er impliziert, dass es ein im Vorfeld festgelegtes Lernziel gibt, das es zu erreichen gilt. Wäre dies der Fall, so könnte auf den ganzen Diskurs verzichtet werden und Begriffe wie Beteiligung, Partizipation oder Teilhabe ersetzt werden durch „Schule“ oder „Didaktik“3. Es geht also nicht um die Vermittlung einer wie auch immer gearteten Partizipationsfähigkeit, sondern um die Einsicht derjenigen, die partizipativ arbeiten wollen, dass •





ein demokratisches Verständnis keine Vorbedingung, sondern allenfalls ein Verhandlungsgegenstand sein kann, wenn tatsächlich eine Form des partizipativen Arbeitens geschaffen werden soll, in der (zunächst) alle Stimmen gleichberechtigt sind, demokratische Formen von Partizipation sich vielleicht inklusiv denken mögen, letztendlich aber immer auch Ausschlüsse schaffen – also exkludierend sind und dass die Vorstellung eines gleichberechtigten Arbeitens nicht gleichzusetzen ist, mit der Vorstellung, dass alle an allen Prozessen gleichberechtigt mitentscheiden.

L ITERATUR Ahrens, Sönke/Wimmer, Michael (2014): „Das Demokratieversprechen des Partizipationsdiskurses“. In: Schäfer, Alfred (Hg.): Hegemonie und autorisierende Verführung. Zum Verhältnis von Politischem und Pädagogischem, Paderborn, S. 175-199. Burzyńska, Anna R. (2016): „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Joined Forces. Audience Participation In Theatre. Berlin, S. 9-13. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 3

Didaktik meint in diesem Fall die Annahme, dass es so etwas wie objektives Wissen gibt, dass erstens gewusst und zweitens vermittelt werden kann.

B ETEILIGUNG

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Hinz, Melanie (o. J.): Wo ist denn hier eigentlich die Pädagogik? Über die Spezifik sozialkünstlerischen Handelns in Bildungskontexten. Veröffentlichung in Vorbereitung. Kant, Immanuel (1784): „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. In: Berlinische Monatsschrift. 1784/2, S. 481-494. Kurzenberger, Hajo (2009): Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität. Bielefeld. Regenbogen, Armin/Meyer, Uwe (Hg.) (2005): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg. Ryle, Gilbert (1987): Der Begriff des Geistes. Stuttgart. Schechner, Richard (1971): „Audience Participation“. In: The Drama Review: TDR. Vol.15, No. 3 (Summer, 1971), S 72-89. Schechner, Richard (1990): Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg. Schechner, Richard (1994): Environmental Theater. An Expanded New Edition. New York. Scheurle, Christoph (2012): „Partizipation im Theater – zwischen Ritual und Spiel“. In: kunst und kirche, ökumenische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Architektur. Themenheft Partizipation. Heft 1/2012, S. 24-28. Scheurle, Christoph (2017): „Partizipation/Partizipatives Theater“. In: Scheurle/Hinz/Köhler (Hg.): PARTIZIPATION: teilhaben/teilnehmen. Theater als soziale Kunst II. München. Schlingensief, Christoph (1998): „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“. In: Lochte, Julia/Schulz, Wilfried (Hg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland, Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief. Hamburg, S. 12-39. Wartemann, Geesche (2011): „Die Kunst des Zuschauens – ein Baustein zum Wechselspiel zwischen Bühne und Publikum“. In: Wartemann/Hruschka/Post (Hg.): Theater probieren, Politik entdecken. Bonn, S. 203-233. Zirfas, Jörg (2015): „Kulturelle Bildung und Partizipation. Semantische Unschärfen, regulative Programme und empirische Löcher“. URL: https://www. kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-partizipation-semantische-unschaerf en-regulative-programme-empirische [aufgerufen am: 05.04.2017].

Wege zum Tanz Künstlerisches Gestalten mit dem eigenen Körper K ATHARINA S CHNEEWEIS

Was ist ChanceTanz? Wie ermöglicht ChanceTanz Tanzprojekte für bildungsbenachteiligte Zielgruppen?

ChanceTanz ist ein Förderprogramm im Rahmen von Kultur macht stark und beinhaltet demnach die diesem Bundesprogramm zugrundeliegenden Vorgaben der Förderrichtlinie. Es geht vor allem darum, Kinder und Jugendliche zu erreichen, die in bildungsbenachteiligenden Kontexten aufwachsen, und ihnen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Die Teilhabe erfolgt mittels kultureller Bildungsprojekte, die durch ein lokales Bündnis von mindestens drei Partnereinrichtungen durchgeführt werden. Das ist bei ChanceTanz zunächst genauso wie bei allen anderen Konzepten im Rahmen von Kultur macht stark. Bei ChanceTanz geht es darum, den Kindern und Jugendlichen eine Teilhabe an Kunst und Kultur mit und durch Tanz zu ermöglichen und ein aktives künstlerisches Gestalten mit und über den eigenen Körper anzustoßen. Dabei sollen die Projektkonzepte lebensrelevante Themen und Fragestellungen für Kinder und Jugendliche behandeln, die dann gemeinsam mit den Teilnehmer*innen weiterentwickelt, abgeändert und künstlerisch bearbeitet werden. Eine für ChanceTanz wichtige Vorgabe ist zudem der Unterricht im Team. Es muss mindestens aus zwei Dozent*innen bestehen, wovon eine professionelle Tanzkünstlerin bzw. einer professioneller Tanzkünstler sein muss. Die Teamkonstellation ist je nach Projektkonzept und Zielgruppe individuell gestaltbar. Wichtig ist uns, dass die Kinder und Jugendlichen Menschen begegnen, die als Künstler*innen neue und unbekannte Lebensentwürfe repräsentieren. Sie lernen dadurch neue Kontexte und Lebenswelten kennen. In den Projekten geht es vor allem um das aktive Erleben von Tanz, um individuelles und gemeinsames Gestalten, aber auch um die rezeptive Beschäftigung

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mit dieser Kunstform. Das bedeutet letztlich auch, gemeinsam in der Gruppe Tanz anzuschauen, über Gesehenes zu sprechen bzw. sich darin zu üben. Für die Projekte ist es daher wichtig, schon in der Konzeptphase mit dem Künstler*innenteam zu arbeiten, um die jeweiligen Ideen und künstlerischen Arbeitsweisen in die Projektkonzeption einfließen zu lassen. ChanceTanz beinhaltet ein sehr offenes Konzept, das den Bündnispartner*innen und Teams Platz für ihre individuellen Ideen und Konzepte lässt. Es gibt also eine allen Projekten zugrundeliegende Konturierung, die dennoch verschiedene Ansätze und Projektformate ermöglicht. Bei ChanceTanz gibt es drei Projektformate. Im kleineren Format Tanz_Start mit 30 bis 40 Unterrichtsstunden kann eine Präsentation in einem der Teilnehmer*innen Gruppe angepassten Rahmen stattfinden, ist aber nicht verpflichtend. Ebenso kann in diesem Format eine Rezeption eingeplant werden. Das größere Format heißt Tanz_Intensiv und hat einen Unterrichtsumfang von 65 bis 80 Stunden. In diesem Format ist eine Rezeption z. B. in Form eines Theaterbesuches verpflichtend. Ebenso wird eine Präsentation des Erarbeiteten verlangt, die je nach Konzept und Teilnehmer*innen in unterschiedlichsten Kontexten stattfinden kann. Das umfassendste Format ist das Tanz_Sonderprojekt mit einem Zeitumfang von bis zu 100 Tanzstunden. Dieses Format kann nur von Bündnissen beantragt werden, die bereits mindestens ein Start- oder Intensiv-Projekt durchgeführt haben, deren Kooperation dabei gut funktioniert hat und deren Arbeit die Projektleitung von ChanceTanz kennt. Dieses Format ermöglicht den Teilnehmer*innen tiefer in ein Thema einzusteigen und eine Produktion auf die Beine zu stellen, da sie bereits Erfahrungen gesammelt haben und entsprechend wissen, worauf sie sich einlassen. Diese Produktion sollte in einem größeren Rahmen, z. B. auf einer professionellen Bühne mit ein bis zwei Aufführungen, realisiert werden. Welche Vorgaben gibt es für die Bündniskonstellationen?

Mindestens eine Partnereinrichtung initiiert und ermöglicht den Zugang zur Zielgruppe, was sich in der Praxis als sehr wichtig erwiesen hat. Schulen bzw. der offene Ganztagsbetrieb, Schul-Fördervereine, Kitas oder andere Bildungseinrichtungen sind bei etwas mehr als einem Drittel der Projekte beteiligt. Oft ist der zielgruppenrelevante Partner auch eine Freizeiteinrichtung der offenen Kinderund Jugendarbeit. Ein weiterer Partner oder eine weitere Partnerin muss die kulturelle/künstlerische Expertise einbringen. Das sind meistens Bühnen, Tanzhäuser, Tanzkompagnien, künstlerische Vereine/Einrichtungen oder auch soziokulturelle Einrichtungen, die kulturelle Expertise haben. Die tanzkünstlerische Expertise wird von dieser Partnereinrichtung und/oder von den bei Antragstellung bereits festgelegten Tanzdozent*innen eingebracht. Der dritte Partner bzw. die dritte Partnerin ist flexibel wählbar und ergänzt das Projektkonzept.

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Öfter gibt es auch zwei Partner*innen mit Zugang zur Zielgruppe oder auch zu verschiedenen Zielgruppen, wie z. B. Schule und Freizeiteinrichtung. Diese sprechen dann entweder dieselbe Zielgruppe unterschiedlich an oder stellen auch eine Teilnehmer*innengruppe aus unterschiedlichen Zielgruppen zusammen. Wenn ein Projekt ein spezielles Thema verfolgt oder eine zusätzliche Kunstform einbindet, sind z. B. Museen, Kunstvereine, Ausstellungen oder digitale Medieneinrichtungen als Bündnispartner*innen mit im Boot. Wie gehen die Bündnisse vor, die Teilnehmer*innen anzusprechen und zu erreichen?

Hier sind zunächst der Bündnispartner bzw. die Bündnispartnerin mit dem direkten Zugang zur Zielgruppe relevant. Die Teilnehmer*innen werden entweder direkt oder auch über Aushänge, Flyer und Ähnliches angesprochen. Verstärkt werden auch sogenannte „Schnupperstunden“ oder eine persönliche Projektvorstellung mit den Dozent*innen angeboten. Wichtig sind in jedem Fall die Personen, die im direkten Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen stehen – sowohl um diese anzusprechen und für das Projekt zu interessieren als auch sie während der Projektlaufzeit immer wieder zu motivieren und zu begleiten. So sind auch die Sozialpädagog*innen oder Teamer*innen einer Freizeiteinrichtung in den Projekten sehr wichtig, da sie die Kinder kennen. Erfahrungsgemäß lässt die Motivation unter den Teilnehmer*innen Kindern und Jugendlichen immer wieder nach und genau hier ist Begleitung, Erinnerung und Motivation wie „Heute ist ja wieder Probe, bist du auch dabei?“ extrem wichtig. Zudem sollten auch die Künstler*innen in gutem Kontakt mit den Teilnehmer*innen sein und diese immer wieder motivieren. Die Bündnisse haben verschiedene Methoden der Ansprache entwickelt – seien es Elternbriefe, Telefonrunden oder Whats-App-Gruppen. Bei ChanceTanz gibt es die Möglichkeit, Assistenzen und/oder Ehrenamtliche einzubinden. Oft sind es junge Studierende, die diese Aufgabe übernehmen, weil sie aufgrund ihres Alters einen schnellen und guten Draht zu den jugendlichen Teilnehmer*innen entwickeln. In welchem Verhältnis stehen Tanzpraxis und Tanzrezeption in den Projekten?

In den Projekten wird zum größten Teil aktiv getanzt. In spartenübergreifenden Projekten kann es neben dem Tanz auch zu einer intensiven Beschäftigung mit anderen Kunstformen (z. B. Video, Foto, bildende Kunst, Schauspiel, Musik) in Verbindung mit Tanz kommen. Üblicherweise kommen alle Teilnehmer*innen intensiv mit Bewegung und Tanz in Berührung. In vielen Projekten – auch in vielen Tanz_Start-Formaten – wird eine Tanzrezeption eingeplant. Das sind zumeist

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Besuche im (Tanz-)Theater, bei Tanzproben mit anschließenden Künstler*innengesprächen, Peer-Formaten, das gemeinsame Anschauen eines Tanzfilms oder verschiedener Tanzsequenzen und natürlich sich daraus ergebende Gesprächsrunden mit Teilnehmer*innen und Künstler*innen. Manchmal werden auch themenspezifische Rezeptionsbesuche in ein Museum oder andere Einrichtungen unternommen. Ein bis zwei Rezeptionsbesuche pro Projektlaufzeit sind der Normalfall. Manche Projekte thematisieren aber auch verstärkt die Rezeption unterschiedlicher Tanzformen und Kultureinrichtungen und planen entsprechend viele Rezeptionsbesuche ein. Die passende inhaltliche Auswahl für die jeweilige Zielgruppe ist dabei wichtig! Altersangemessenheit, aber auch die Erfahrungshintergründe der Teilnehmer*innen sind einzubeziehen, um positive Assoziationen und Auseinandersetzungen zu ermöglichen. Die Rezeption wird oft als Highlight oder Motivationsschub in den Projekten beschrieben. Der gemeinsame „Ausflug“, das gemeinsame Erlebnis und die individuellen Eindrücke in der Gruppe zu teilen, schweißt die Gruppe zusammen. Das Gesehene wird in Verbindung mit der eigenen Projektarbeit gebracht, gemeinsam übt man sich darin, verschiedene Bewegungsqualitäten zu erkennen und zu beschreiben, was nicht einfach ist. Oft wird berichtet, dass nach dem gemeinsamen Erleben eines Tanzstückes die Teilnehmer*innen motivierter und ehrgeiziger sind, selbst eine tolle Präsentation zu realisieren und aus sich und der Gruppe das „Beste“ für die Bühne herauszuholen. Sich im und mit Tanz zu präsentieren und sich über Gesehenes auszutauschen, es gemeinsam abzuändern oder einzuüben, ist üblicherweise aber auch Bestandteil der einzelnen Unterrichtseinheiten. Erarbeitete Improvisationssequenzen und Bewegungsabfolgen werden einzeln oder in Kleingruppen gezeigt. Dadurch wird gegenseitige Aufmerksamkeit und wertfreies Besprechen von Gesehenem geübt, aber auch das gemeinsam erarbeitete Stück auf diese Weise entwickelt. Gibt es bei den Projektinhalten eine Fokussierung auf zeitgenössischen Tanz oder wird die ganze Bandbreite der Tanzkunst von Ballett bis Volkstanz einbezogen?

Der Bundesverband Tanz in Schulen steht in erster Linie für zeitgenössische Tanzkunst bzw. zeitgenössischen Tanz in der Kulturellen Bildung. Allerdings definieren wir zeitgenössische Tanzkunst nicht als eigenständigen Tanzstil. Vielmehr überschreitet zeitgenössischer Tanz spartenspezifische Grenzen und ist somatisch, prozesshaft und partizipativ. ChanceTanz unterstützt vor allem einen prozessorientierten Ansatz in der Vermittlung, der eine eigene Entwicklung und individuelle Auseinandersetzung des Einzelnen und der Gruppe ermöglicht. Dieser kann sicherlich auch von verschiedenen Tanzstilen ausgehen, das heißt, es ist nicht ein

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Tanzstil, der in allen Projekten umgesetzt wird. Letztlich geht es darum, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind, und sie zu einer eigenständigen Entwicklung ihres tänzerischen Ausdruckes über verschiedene Methoden zu ermutigen. Gibt es viele Projekte, die sich mit Tanz in der Popkultur oder Hip Hop auseinanderzusetzen, weil man das Jugendlichen zuordnet?

Sicherlich gibt es viele Projekte von Tanzkünstler*innen aus der urbanen Tanzszene (Hip Hop, B-boying etc.), die ihren Fokus auf diesen Tanzrichtungen haben. Dann geht es darum, mit den Teilnehmer*innen an ihrer Technik – vor allem aber auch im Bereich des Freestyles – der eigenen Bewegungsentwicklung und dem eigenen Ausdruck zu arbeiten. Bei den meisten Teilnehmer*innen sind diese Tanzstile beliebt und Tanz wird von ihnen vor allem mit diesen Stilen in Verbindung gebracht. Zeitgenössischer Tanz ist für Kinder und Jugendliche nicht unbedingt ein bekannter Begriff. So wird in den Projekten oft zwischen der zweiten und der fünften Stunde die berühmtberüchtigte Frage gestellt: „Wann fangen wir denn jetzt endlich an zu tanzen?“ Wichtig ist uns, die Teilnehmer*innen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst zu nehmen, um sie einzuladen, etwas Neues – also „ihre Bewegung“ – zu entwickeln. Natürlich sind aber auch die Reproduktion und das Einüben von Bewegungsfolgen und bestimmten Bewegungsformen wichtige und spannende Prozesse. Diese Arbeitsweise, das Erlernen von Techniken und Vorgaben von Bewegungssequenzen, ist eine wichtige Grundlage und regelmäßiger Bestandteil von Tanzunterricht im Allgemeinen. Letztlich geht es aber darum, mit den Teilnehmer*innen einen Schritt weiterzugehen und gemeinsam zu entdecken, welches Entwicklungspotenzial in der Bewegung und der Ausdrucksform liegt. Es geht ganz wesentlich um den kreativen Prozess und das gemeinsam erarbeitete Produkt des Prozesses und nicht ums Reproduzieren an sich. Wie partizipativ sind die Projekte angelegt? Wo sind die Punkte, an denen die Teilnehmer*innen mitentscheiden und mitgestalten?

Ein sehr wichtiger Ansatz, damit die Partizipation gelingen kann, ist natürlich das Ausgangsthema und die Fragestellung im Projekt. Die meisten Projekte bzw. Künstler*innen haben ein Thema, mit dem sie starten. Mit prozessorientierten Arbeitsweisen werden die Themenaspekte der Teilnehmer*innen, ihre konkreten Fragestellungen und Sichtweisen herausgearbeitet. Dieser Findungsprozess kann über verschiedene Frageformate, über Schreibwerkstätten, Interviews, über angeleitete Recherchearbeit oder andere Methoden initiiert werden. Manchmal ergeben sich aus diesen Prozessen völlig neue Themen, wie z. B. bei einem Projekt, in dem die Künstler*innen unbedingt zum Thema Papier arbeiten wollten. Es gab schon viele Überlegungen dazu, bis zu Kalkulationen für verschiedenste Papierformen

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und Materialien, die für das Projekt notwendig waren. Die jugendlichen Projektteilnehmer*innen haben dann allerdings total geblockt, wollten aus Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten kein Papier nutzen. Letztlich haben die Teilnehmer*innen selbst Material entwickelt und recycelt. In der Regel geht es dann nach der Themenklärung und Fragenfindung für die Teilnehmer*innen darum, in strukturierten Improvisationen eigenes Bewegungsmaterial zu finden, zu dekonstruieren, neu zusammenzusetzen und gemeinsam zu gestalten. Das ist ein kollektiver Prozess von Teilnehmer*innen und Künstler*innenteam. Andere Partizipationsmöglichkeiten in Tanzprojekten lassen sich in der Entwicklung von z. B. Musik, Kostümen, Videofilmen, Bühnenbild oder Bühnenelementen verorten. Beispielhaft fallen mir zwei Projekte mit ausgeprägt partizipativem Anspruch ein: Ein Projekt der Pina Bausch-Stiftung hat mit der von Pina Bausch geprägten Methode gearbeitet. So haben die Jugendlichen sich selbst und ihrer Umgebung Fragen gestellt und daraus ihr ganz persönliches Stück entwickelt. Ein anderes Projekt in Hamburg hat mit dem Thema digitaler Spielewelten gearbeitet: Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin haben sich selbst ein Spiel ausgedacht, es performativ entwickelt, letztlich als Spielleiter*in im Rahmen der Präsentation agiert und die Zuschauer*innen angeleitet, tänzerisch durch dieses Spiel zu gehen. Diese Art von Partizipation, die Teilnehmer*innen selbst als Vermittler*innen agieren zu lassen – z. B. in Peer-Formaten – ist für ChanceTanz u. a. ein Bereich, den wir sicherlich zukünftig intensiver gestalten bzw. bearbeiten werden. Mit der Frage, was Partizipation bedeutet, sind wir immer wieder konfrontiert. Ismael Ibrahim hat auf dem ersten ChanceTanz-Fachtag Partizipation als „Macht abgeben“ definiert. „Macht abgeben“ bedeutet einen Freiraum zu eröffnen. Bei den Dozent*innen der ChanceTanz-Projekte gibt es natürlich eine große Bandbreite an Sichtweisen und Möglichkeiten, an welcher Stelle Macht abgegeben und wo Freiräume eröffnet werden können. Dafür bedarf es vielfältiger Methoden und Arbeitsweisen, die die Voraussetzung für eine solche Mitbestimmung liefern, und es braucht viel Mut und große Bereitschaft auf Seiten der Dozent*innen, um sich in Prozessen auch von eigenen eingefahrenen Vorstellungen und Zielen zu verabschieden und sich auf neue einzulassen. Diese Fragestellungen und Auseinandersetzungen benötigen Austausch und Coaching, und sie bedeuten auch für erfahrene Kunstvermittler*innen immer wieder Weiterbildungs- und Lernprozesse. Wenn man dieses Thema und seine Entwicklung ernst nimmt, ist es unabdingbar, den Vermittler*innen entsprechende Formate für Weiterbildung und Austausch anzubieten.

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Welche Reibungspunkte oder Konflikte entstehen zwischen Bündnis und Teilnehmer*innen?

Reibungspunkte entstehen am ehesten zwischen Teilnehmer*innen und den Dozent*innen oder Projektbegleiter*innen in Bezug auf Projektinhalte oder unterschiedliche Auffassung von Verbindlichkeit und Kontinuität. Manche Teilnehmer*innen steigen aus, weil sie sich unter Tanz etwas Anderes vorgestellt haben. Verbindlichkeit und regelmäßige Teilnahme ist natürlich besonders kurz vor Präsentationen wichtig. An dieser Stelle kommt es sicher auch zu Reibungspunkten innerhalb der Gruppe oder zwischen Teilnehmer*innen und Dozent*innen. Aber auch die Gruppenzusammensetzung kann manchmal zu Reibungen führen und bedarf entweder im Vorfeld einer genauen Analyse und Planung oder später im Projektverlauf einer flexiblen und lösungsorientierten Handhabung. Hier gilt es, frühzeitig die Bedürfnisse der anvisierten Zielgruppe abzuwägen (z. B. von Mädchenund Jungengruppen) oder eine entsprechend sinnvolle Teamzusammensetzung (männlich/weiblich) zu überlegen. Gibt es Knackpunkte, an denen sich bemerkbar macht, dass es sich um Projekte für Kinder und Jugendliche handelt, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind?

Eine Herausforderung ist immer wieder, die Teilnehmer*innen zu motivieren und im Projekt zu halten. Wichtig ist hierfür, genügend Zeit für eine vertrauensaufbauende Phase im Konzept einzuplanen. Dozent*innen und Teilnehmer*innen müssen sich beschnuppern können, die Kinder und Jugendlichen ausprobieren, ob ihnen diese Arbeit Spaß macht. Besonders in der offenen Jugendarbeit in Verbindung mit einer Mindestteilnehmer*innenzahl ist diese Anlaufzeit wichtig. Diese benannte Herausforderung gilt allerdings nicht nur speziell für die durch das Programm angesprochene Zielgruppe, sondern hat insgesamt Gültigkeit für Tanzprojekte mit Kindern und Jugendlichen. Natürlich gibt es auch schulische Herausforderungen sowie herausfordernde Lebensumstände, die dazu führen, dass die Teilnehmer*innen nicht erscheinen oder aussteigen. Auch dies ist allerdings nicht speziell auf unsere Zielgruppe zu projizieren. In den Projekten wird benannt, dass die Lebensumstände vieler Teilnehmer*innen schwierig sind und damit ist oft ein geringer Rückhalt durch Familie oder Freundeskreis verbunden. Das bedeutet letztlich, dass Kinder in ihrer regelmäßigen Teilnahme im Projekt nicht von zuhause unterstützt werden, dass Eltern nicht zu Projektpräsentationen kommen oder dass es eventuell zu wenig Verständnis für das Interesse des Kindes gibt. In einem unserer Projekte, das speziell für Roma-Kinder durchgeführt wurde, mussten die Dozent*innen mit den Eltern ver-

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handeln, dass Kinder zu Wochenendproben kommen dürfen, da sie dann ihrer eigentlichen Aufgabe – der Unterstützung im Lebensalltag (z. B. beaufsichtigen der Geschwister, einkaufen, Hausarbeit machen etc.) – nicht nachkommen konnten. Habt ihr Erfahrungen mit Projekten, die sich nicht ausschließlich an benachteiligte Kinder und Jugendliche richten, sondern eine diversere Teilnehmer*innenstruktur haben, und seht ihr dies als vorteilhaft?

Viele Projektkonzepte im Rahmen von ChanceTanz arbeiten integrativ oder mit jener Mischung von Kindern aus dem gleichen Sozialraum, in dem viele Kinder in Risikolagen leben, aber eben nicht ausschließlich. Wenn eine Gruppe viele Teilnehmer*innen mit sehr schwierigen Hintergründen hat, kann eine Mischung mit Kindern aus sozial gefestigteren Strukturen für die ganze Gruppe durchaus positive Auswirkungen haben. Wir haben z. B. ein Projekt mit Kindern aus einer Klinik, die alle aus sehr schwierigen sozialen und familiären Verhältnissen kommen und dementsprechend Schwierigkeiten mit Schule und normalen Lebensumständen haben. Diese Gruppe wurde gemischt mit Kindern aus einer benachbarten Schule. So entstand eine sehr heterogene Gruppe, in der alle Teilnehmer*innen voneinander profitieren konnten. Grundsätzlich ist es für ChanceTanz wichtig, jegliche Stigmatisierung zu vermeiden und keine Fokussierung auf die „schwierige“ Zielgruppe zu verstärken. Ziel der Projekte ist Teilhabe – und echte Teilhabe bedeutet nicht, dass nur eine bestimmte Gruppe von Menschen Zugang hat, sondern gleiche Zugänge für alle Kinder und Jugendlichen geschaffen werden. Kinder und Jugendliche, die aus bildungsbenachteiligenden Kontexten kommen, machen oft die Erfahrung des Scheiterns, des Nichtgenügens, also nicht gut genug zu sein, besonders in schulischen Zusammenhängen. Dementsprechend ist es wichtig, dass sich diese Erfahrung in unseren Projekten nicht fortsetzt oder verstärkt wird, sondern dass die beteiligten Kinder und Jugendlichen neue und vielleicht bislang unbekannte Stärken an und in sich entdecken: etwas schaffen, gestalten und umsetzen, zu Ende bringen, gemeinsam mit anderen etwas präsentieren, dabei persönlichen Erfolg erleben und darauf stolz sein dürfen. Wie flächendeckend sind Tanzangebote für Kinder und Jugendliche in Deutschland verteilt? Wie haben sich das Angebot und die Zugänge durch ChanceTanz verändert?

Es gibt keine umfassenden Untersuchungen, wo es welche Tanzangebote bundesweit gibt. Der Bundesverband Tanz in Schulen hat eine Onlinedatenbank erstellt, die Tanzprojekten in formalen und nonformalen Kontexten auf freiwilliger Basis eine Sichtbarmachung sowie eine Reflektion und Evaluierung ermöglicht. Dort bekommen Interessierte einen Eindruck, welche Koordinierungsstellen in den

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Bundesländern Tanzprojekte anbieten. Seitdem es ChanceTanz gibt, ist die Projektanzahl in allen Bundesländern in der Datenbank sprunghaft angestiegen, u. a. weil die ChanceTanz-Projekte ebendort verpflichtend eingetragen werden. Mit fast sechs Millionen Euro, die durch ChanceTanz zur lokalen Ebene geflossen sind, konnten natürlich viele neue Tanzprojekte für Kinder und Jugendliche entstehen. Die Bündnisidee und der Kooperationsgedanke des Konzeptes sind grundsätzlich gut und nachhaltig, weil die Kooperationsfähigkeit der Einrichtungen gestärkt wurde, sie neue Kooperationspartner*innen gefunden oder den Tanz für ihre kulturellen Bildungsangebote neu entdeckt haben. All diese Projekte können ohne ein fortgesetztes Förderprogramm sicherlich nicht bestehen bleiben. Die Projekte funktionieren nur mit professionellen Tanzkünstler*innen und -pädagog*innen als Dozent*innen erfolgreich, und das ist ohne entsprechende Fördermittel nicht realisierbar. Nach fast fünf Jahren ChanceTanz: Welche Herausforderungen seht Ihr für die Zukunft der kulturellen Teilhabe im Tanz?

Der ländliche Raum ist mit Tanzangeboten eindeutig unterversorgt. Wenn ChanceTanz fortgesetzt werden kann, möchten wir einen besonderen Fokus auf den ländlichen Raum legen. Es gibt vor allem kaum Künstler*innen, die im ländlichen Raum vor Ort leben oder für regelmäßigen Unterricht zur Verfügung stehen. Bündnisse und interessierte Einrichtungen gibt es durchaus. Allerdings braucht es Unterstützung bei der Entwicklung von Formaten, in denen professionelle Tanzkünstler*innen projekteweise in den ländlichen Raum geholt werden können und in denen auch ein Austausch mit anderen Regionen, Städten und Kolleg*innen ermöglicht wird. Eine Herausforderung ist und bleibt sicherlich die Finanzierung. Da der Tanz als Kunstsparte insgesamt immer noch über zu wenig gefestigte Strukturen verfügt und die Projekte ohne Honorare für die Dozent*innen nicht durchführbar sind, geht es letztlich immer um Fördermittel, die längerfristig und kontinuierlich zur Verfügung stehen sollten, auch über ChanceTanz hinaus. Ganz allgemein geht es darum, eine echte Teilhabe zu schaffen. Das gilt nicht nur für den Zugang zum Tanz, sondern für den Zugang zu jeglicher Kunst und Kultur. Gesamtgesellschaftlich gesehen geht es um ein gerechteres System, das allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von Zielgruppen und Hintergründen eine niedrigschwellige Teilhabe ermöglicht – eine große Aufgabe für unsere Gesellschaft und die Politik. Wir sehen es für ChanceTanz auch als Herausforderung an, die Akteur*innen in diesem Feld im Blick zu behalten und mit ihnen gemeinsam an Qualitätssicherung und -entwicklung zu arbeiten. Es gilt immer wieder, den Praktiker*innen

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Angebote für „Good Practice“ mit auf den Weg zu geben – Weiterbildung, Austausch, Reflexion – und immer wieder die Frage nach der Haltung zu stellen, mit der man in ein Projekt geht, mit der man mit Kindern und Jugendlichen künstlerisch arbeitet. Die Herausforderungen unserer globalisierten Welt und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gelten für uns alle und erst recht für in der Vermittlung tätige Künstler*innen. Auch gut ausgebildete und erfahrene Künstler*innen im Tanz- oder Theaterbereich unterliegen diesen Herausforderungen. Entsprechend ist fachliche Begleitung, Coaching und Weiterbildung wesentlich, um für diese Herausforderungen gewappnet zu sein und Partizipation noch besser umzusetzen.

Tanz und Theater machen stark Beteiligung in Projekten der freien darstellenden Künste E CKHARD M ITTELSTÄDT

Was ist tanz + theater machen stark?

tanz + theater machen stark ist das Programm des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste (BFDK) im Rahmen von Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung. Entsprechend richtet sich das Programm an freie darstellende Künstler*innen, die mit ihrer Formation ein Bündnis mit einem bzw. einer pädagogischen und einem bzw. einer weiteren Partner*in eingehen. Dieser bzw. diese weitere Partner*in kann eine Spielstätte, ein soziokulturelles Zentrum oder eine andere Institution sein, die zu dem geplanten Projekt passt. Gearbeitet wird in diesen Projekten mit allen Mitteln der darstellenden Kunst. Die Kinder und Jugendlichen erproben gemeinsam mit den Künstler*innen in den Projekten von tanz + theater machen stark Formen und Formate der zeitgenössischen darstellenden Kunst. Die Zusammenarbeit im Bündnis kann sich über bis zu drei Phasen erstrecken. In einer ersten Phase geht es ums Kennenlernen und Ausprobieren. Gemeinsam erkunden Teilnehmer*innen1 Spielformen und Themen im Projekt. In der zweiten Phase wird regelmäßig gemeinsam recherchiert, ausprobiert und entwickelt. Am Ende von Phase zwei steht eine Präsentation des gemeinsamen Arbeitsstandes. Über die Form und das Format der Präsentation entscheiden die Teilnehmer*innen gemeinsam. Von Seiten des Programms gibt es nur die Vorgabe, dass die Präsentation den Abschluss des Projektes bildet. Mit dieser Vorgabe geht es dem BFDK

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Als Teilnehmer*innen sind hier Kinder und Jugendliche sowie die das Projekt mit ihnen gemeinsam durchführenden Erwachsenen, die künstlerische und pädagogische Leitung sowie das Projekt begleitende weitere Akteur*innen der Bündnispartner*innen gemeint.

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nicht um ein einem großen Zuschauerkreis vorzeigbares Ergebnis, sondern um einen klar definierten Abschluss für alle Teilnehmer*innen. Für bis zu zehn Projekte im Jahr kann eine dritte Phase ermöglicht werden. Dabei geht es um die Veröffentlichung des Projektes im Umfeld. Hierfür kann das Projekt noch einmal über einen längeren Zeitraum weiterentwickelt werden und können weitere Künstler*innen mit anderen Schwerpunkten eingebunden werden. Am Ende dieser Phase sind drei Präsentationen vorgesehen, um das Ergebnis einer breiteren Öffentlichkeit im Umfeld der Teilnehmer*innen zu zeigen. Wie werden Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt, Projekt- und Produktionsprozesse mitzugestalten?

Die Gestaltungsmöglichkeiten für den Verband bzw. die Projektleitung eines Programms wie tanz + theater machen stark beschränken sich hier natürlich auf das zum Antrag vorgelegte Konzept und die Expertise der das Projekt durchführenden Künstler*innen. Der Bundesverband Freie Darstellende Künste wünscht sich eine thematische und strukturelle Offenheit der Konzepte, die die Kinder und Jugendlichen zum Mitgestalten und auch zum Setzen eigener Schwerpunkte einladen. Wichtig ist in diesem Programm ein prozessorientierter Arbeitsansatz. Der Erfolg eines Projektes ist von Seiten des BFDK nicht an eine repräsentative Aufführung gebunden. In welcher Form die Teilnehmer*innen Kinder und Jugendlichen den Projektprozess mitgestalten können, hängt natürlich sehr stark vom gewählten Projektformat ab. Unter den inzwischen über 200 Bündnissen von tanz + theater machen stark sind die Gestaltungsprozesse je nach Projektformat und Genre sehr unterschiedlich wie die folgenden Projektbeispiele zeigen werden. Ein Projekt in Marburg hat die Gestaltungsoptionen der Kinder in den Mittelpunkt gestellt. Die Marburger Formation German Stage Service hat mit den Bündnispartnerinnen Freie Schule Marburg und Richtsberg-Gesamtschule gemeinsam eine Stadtführung mit Präsentationen und Audiowalks der Kinder entwickelt. In Phase eins und zwei hatten sie als Konsequenz aus der Betrachtung ihrer Gestaltungsmöglichkeit bereits die Sesselkinderpartei gegründet. In Phase drei wurden die Forderungen nun in den Stadtraum getragen und der Öffentlichkeit präsentiert. Neben globalen Forderungen wie der Abschaffung des Geldes sowie „doofer“ Diktatoren und der Schaffung des Weltfriedens, hatten die Kinder auch ein paar konkrete Forderungen für die Stadt Marburg auf dem Zettel: ein Rauchverbot und einen Schokobrunnen. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte das soziokulturelle Zentrum zeitraumexit im Bündnis mit der Mannheimer Kerschensteiner Gemeinschaftsschule und dem Verein für visuelle Kunst und Jetztkultur. Im Projekt „Oh my god – was glaubst

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du denn“ setzten sie sich mit Teilnehmer*innen aus verschiedensten Kulturkreisen mit dem Thema Religion auseinander. Im offenen Prozess der Entwicklung einer Performance in zuweilen sehr kontroversen Diskussionen gab es für die Künstler*innen „eine Spannweite zwischen Eingreifen, Impulse geben und Zulassen“, wie sie in ihrem Abschlussbericht konstatierten. Eher klassisch verlief der Gestaltungsprozess im Projekt „Alice im Wunderland“ der jugendtheaterwerkstatt spandau. Das Bündnis mit der B-Traven-Oberschule und der Stadtbibliothek Spandau näherte sich dem Stoff durch die Lektüre an. Die Jugendlichen verschriftlichten ihre Szenenideen und entwickelten Figuren. Dabei wurden sie mit dem Aufbau von Handlungsbögen, dem Einsatz von Musik und Körper und anderen Facetten der Probenarbeit vertraut gemacht. Nach dem Projekt nutzten einige Teilnehmer*innen die erworbenen Kenntnisse, um mit jüngeren Teilnehmer*innen eines anderen Projektes weiterzuarbeiten. Thematisch gebunden ist die Teilhabe im Projekt „Warten Warten“, das die beiden Münchner Künstlerinnen Sabine Klötzer und Sarah Israel gemeinsam mit dem aus dem Tschad stammenden Tänzer und Choreografen Taigué Ahmed, der Städtischen Schule für Berufsintegration und dem Veranstaltungsort HochX durchführten. Bei den Teilnehmer*innen handelt es sich um Geflüchtete, die in diesem Tanzprojekt nun kulturell codierte Gesten des Wartens einbringen, die in eine Choreografie mit Elementen des afrikanischen und zeitgenössischen Tanzes münden. Welche Formate eignen sich gut, welche weniger gut, um Teilhabe zu ermöglichen?

Sicher eignen sich performative Formate sehr gut für die Ermöglichung von Teilhabe. Die in diesen Theaterformen vorherrschende Praxis der Kollaboration des künstlerischen Kollektivs bei der Erarbeitung der Aufführung lässt sich auch auf Projekte mit Kindern und Jugendlichen übertragen und erleichtert es, ihnen Räume zur eigenen Gestaltung der künstlerischen Praxis zu eröffnen. In performativen Projekten wird Theater zum sozialen Experiment, „in dem jeder Mensch mit seiner eigenen Geschichte, Erfahrung und Persönlichkeit einen wichtigen Beitrag leisten kann“, schreiben Jan Deck und Patrick Primavesi (2014: 9) in ihrem Vorwort zu Stop Teaching!, in dem sie sich intensiv mit neuen Formen und Formaten der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen und diese gegen klassische Arbeitsformen abgrenzen: „Vielmehr werden Methoden der Recherche, der Dokumentation und der szenischen Montage angewandt und im Moment der Aufführung gemeinsam mit dem Publikum erprobt: ein lebendiges Erforschen gesellschaftlicher Themen statt ihrer psychologisch motivierten Verarbeitung zu gängigen Stereotypen.“ (Ebd.: 9f.)

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Solche Rechercheformate sind bei tanz + theater machen stark sehr häufig anzutreffen und werden auch immer häufiger von Künstler*innen angewandt, deren Arbeiten sonst eher klassischeren Formaten zuzuordnen sind. Schwieriger ist nach meiner Auffassung die Teilhabe in Formaten, die auf theaterpraktischen Fähigkeiten der Teilnehmer*innen basieren und deren Vermittlung vor allem zu Beginn des Projektes die Möglichkeiten der Teilhabe einschränken. In Projekten, die zum Beispiel auf solchen theaterpraktischen Fähigkeiten der Teilnehmer*innen basieren, besteht aber langfristig ebenfalls die Möglichkeit für die Teilnehmer*innen, das Projekt mitzugestalten und eigene Schwerpunkte zu setzen. Dies hängt dann stark von der Haltung der Künstler*innen ab und ob innerhalb einer längeren Projektlaufzeit konzeptionell eine Offenheit für die Perspektiven der Teilnehmer*innen eingeplant ist. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass sich die Teilnehmer*innen grundsätzlich gegen Format, Struktur und Thema eines Projektes aufgelehnt haben und grundsätzliche Veränderungen an der Ausrichtung des Projektes verlangt haben. In solchen Fällen sucht das Projektteam von tanz + theater machen stark im Gespräch mit den Künstler*innen vor Ort nach Lösungen, die auch eine grundsätzliche Neuausrichtung des Projektes zur Folge haben können. Welche Reibungspunkte und Differenzen entstehen zwischen Bündnis/Honorarkräften und Teilnehmer*innen (Kindern und Jugendlichen)?

Es kommt immer wieder vor, dass mich Projektträger*innen bitten, einen Wechsel bei den Honorarkräften zu genehmigen. Als Gründe für den Wechsel wird dann meist ein mangelndes Verständnis für die Teilnehmer*innen und übermäßiger Ehrgeiz der Honorarkräfte genannt. Wenn dann die Gruppe schrumpft, weil den Teilnehmer*innen die in sie gesetzten Erwartungen zu hoch werden, sehen sich die Projektträger*innen dazu gezwungen, einzugreifen. Dies kommt seltener bei Künstler*innen vor als bei Theaterpädagog*innen. Ich kann mir vorstellen, dass gerade bei dieser Berufsgruppe der Druck größer ist, ein repräsentables Ergebnis zu erzielen. Dieser Druck kann natürlich auch von außen in Projekte hereingetragen werden, indem Präsentationen als Materialsammlungen bezeichnet werden und das Herstellen von künstlerischen Produkten angemahnt wird.2 Hier stellt sich die Frage nach dem Fokus solcher Programme wie Kultur macht stark. Steht das Ergebnis im Vordergrund oder sind es die Teilnehmer*innen? Da in tanz + theater

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So Peter Galka in einem Bericht aus der Jury des Kindertheaterfestes in Leipzig 2016 (vgl. IXYPSILONZETT 02/2016: 14).

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machen stark überwiegend prozessorientiert gearbeitet wird, sollte davon auszugehen sein, dass die Kinder und Jugendlichen im Fokus stehen und nicht das Bühnenergebnis. Allerdings erinnere ich mich an eine erfahrene Schauspielerin, die zum ersten Mal in diesem Programm arbeitete und sehr unglücklich war, dass die Gruppe zwar gern zusammen Theater spielte, dies aber niemandem zeigen wollte und sogar den Eltern und Freund*innen den Zutritt zur Abschlusspräsentation verweigerte. Am Ende hat sie sich dem Willen der Gruppe gebeugt. In einem anderen Fall wollte eine Künstlerin mit Jugendlichen Schattentheater spielen und hatte auch schon ein Stück ausgewählt, dass dem Spiel als Grundlage dienen sollte. Nach einigen Terminen verweigerten sich die Jugendlichen dieser Projektidee und schlugen vor, gemeinsam einen Horrorfilm zu machen. Wiewohl sich diese Idee sehr stark von den Inhalten unseres Programms wegbewegt hat, konnte die Idee der Jugendlichen umgesetzt werden. Hier hat mir gefallen, dass die Jugendlichen mit ihrem Unmut über die gewählte Projektidee kreativ umgegangen sind und das Projekt so doch zu einem guten Ende geführt werden konnte. Natürlich handelt es sich hier um Einzelfälle aus viereinhalb Projektjahren. In aller Regel können die Projekte so umgesetzt werden, wie sie von den Bündnispartner*innen geplant waren. Und von Konflikten in den Bündnissen erfährt eine Programmleitung meistens erst, wenn sie um Rat gefragt wird. Gibt es Ideen und Impulse von Teilnehmer*innen, die Dich besonders überrascht oder beeindruckt haben?

Beeindruckt haben mich zum Beispiel die elf- bis zwölfjährigen Jungen und Mädchen aus Berlin-Kreuzberg, die den Kindern aus der Nachbarklasse mit großem Selbstbewusstsein die Philosophie Kants an kleinen Tischen mit jeweils zwei bis drei Besucher*innen erklärten. Beeindruckt hat mich auch die Gruppe afghanischer Jugendlicher, die die Besucher*innen durch eine selbst entwickelte Ausstellung führten, die sowohl die deutsche Perspektive auf Afghanistan wie auch die afghanische Perspektive auf Deutschland beinhaltete, Politiker*innen und Aktivist*innen interviewte und dabei viele Widersprüchlichkeiten aufdeckte, die uns die Politik zumutet. Was tun die Bündnisse, um die Teilnehmer*innen kontinuierlich für das Projekt zu motivieren?

Die Motivation der Teilnehmer*innen zur kontinuierlichen, gestaltenden Arbeit am Projekt ist eigentlich der Kern der Arbeit in den Bündnissen. Gelingt sie nicht, scheitert das Projekt. Ich glaube, dass auf der einen Seite die Begeisterung für das künstlerische Vorhaben und auf der anderen Seite eine funktionierende Gruppe am stärksten zur kontinuierlichen Teilnahme motivieren können. Manchmal gibt es auch Hindernisse von außerhalb des Bündnisses, z. B. Eltern, die der Teilnahme

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ihres Kindes an dem Projekt kritisch gegenüberstehen. In einigen Sachberichten war von solchen Schwierigkeiten zu lesen und auch davon, dass die Projektleitungen sich intensiv um solche und andere Schwierigkeiten kümmern. In jedem Fall geht die Arbeit der Honorarkräfte häufig über die konkrete Arbeit im Projekt weit hinaus. Ich denke, dass solches Engagement auch zur Motivation der Teilnehmer*innen beiträgt. Gibt es typische Bündnispartner*innen? Welche?

Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen sind in den Bündnissen von tanz + theater machen stark typische pädagogische Bündnispartnerinnen. Als dritte Bündnispartner*innen sind Veranstaltungsorte wie Theater und soziokulturelle Zentren typisch. Allerdings ist das Spektrum hier sehr breit: vom kurdischen Elternverein über die örtliche Handwerkskammer bis zur Freiwilligen Feuerwehr. Da auch einige Bündnisse im ländlichen Raum zusammenarbeiten, richtet sich die Wahl des dritten Bündnispartners bzw. der dritten Bündnispartnerin häufig nach den Gegebenheiten vor Ort. Wie tragen die Bündnisse und Bündnispartner*innen zu mehr Teilhabe in den Projekten bei? Braucht es Bündnisse, um mehr Teilhabe zu ermöglichen?

Ich denke, dass die Zusammenarbeit von künstlerischer und pädagogischer Leitung, wie sie im Programm tanz + theater machen stark vorgesehen ist, Teilhabe noch einmal stärker thematisiert. Zudem bringen die Bündnispartner*innen auch ihre Vorstellung von Teilhabe mit in das Projekt ein und diskutieren sie im besten Falle mit den anderen Bündnispartner*innen. Insofern braucht es Bündnisse, um mehr Teilhabe zu ermöglichen. Teilhabe bedeutet aber auch die Ermöglichung von Teilnahme an den Projekten von Zielgruppen, die nicht leicht zu gewinnen sind. Hier liegt sicher ein Erfolgsgeheimnis von Kultur macht stark: Unterschiedliche Partner*innen, die zuvor nicht zusammengearbeitet haben, eröffnen den Teilnehmer*innen neue Teilhabeperspektiven. Nach fast fünf Jahren tanz + theater machen stark: Welche Herausforderungen seht Ihr für die Zukunft der kulturellen Teilhabe (auch von bildungsbenachteiligten Zielgruppen) im Theater?

Das Programm Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung hat ja gezeigt, dass die Teilhabe von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen funktionieren kann. Es gibt die Kulturschaffenden, die sich solche Projekte ausdenken und durchführen. Die Zielgruppe wird erreicht und das Programm funktioniert nahezu flächendeckend in ganz Deutschland. Die Zahlen der Evaluation des Instituts Prognos beeindrucken mich noch immer. Die Fortsetzung des Programms ist also

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UND

T HEATER

MACHEN STARK

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folgerichtig. Für das Theater sehe ich unterschiedliche Herausforderungen. Letztlich hängt die Zukunft kultureller Teilhabe an den finanziellen Voraussetzungen – das gilt für Theater in öffentlicher Trägerschaft ebenso wie für die Formationen der freien darstellenden Künste. Für die freien darstellenden Künstler*innen ist klar: Wenn Projekte mit bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen gefördert werden, werden sie mit freien darstellenden Künstler*innen stattfinden und ich bin zuversichtlich, dass sich diese Projekte dann auch so weiterentwickeln wie die freien darstellende Kunst überhaupt. Im BFDK ist da eine Änderung der Haltung festzustellen. Kulturelle Bildung und auch das Programm Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung sind zu Themen auf der Agenda des Verbandes geworden. Das ist bei einem Verband, der die Verbesserung der sozialen Lage der freien darstellenden Künstler*innen als seine Hauptaufgabe betrachtet, nicht selbstverständlich. Welcher Rahmenbedingungen in Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik bedarf es, um aus dem Projekt ein Programm zu machen und wie passt das mit anderen nationalen, regionalen und kommunalen Förderprogrammen (Tanzfonds etc.) zusammen?

Eigentlich ist das Besondere von tanz + theater machen stark die Verbreitung in allen Bundesländern und damit die Möglichkeit, in die Fläche zu wirken. Es ist ein Programm, und da unterscheidet es sich sicher nicht von anderen Programmen in Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung, in dem es tatsächlich Geld zu verteilen gibt. Im Bundesfachausschuss von tanz + theater machen stark werden die Förderempfehlungen in aller Regel ausschließlich aufgrund inhaltlicher Kriterien gegeben und kaum ein Projekt muss abgelehnt werden, weil kein Geld mehr zur Verfügung steht. Natürlich sind einige Bundesländer stärker vertreten als andere. In Bundesländern mit einer entwickelten Förderlandschaft für freie darstellende Künste werden deutlich mehr Anträge gestellt, als in Bundesländern, deren Kulturförderpolitik noch starkes Entwicklungspotenzial aufweist. Im Moment versucht der BFDK herauszufinden, welche Förderstrukturen für freie darstellende Künstler*innen benötigt werden, um Projekte Kultureller Bildung mit Mitteln der darstellenden Kunst in hoher Qualität durchführen zu können. Die Studie wird zum Jahresende 2017 vorliegen und hoffentlich darüber Aufschluss geben, wie sich Programme wie Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung in die Förderstrukturen einpassen und wo hier vielleicht noch etwas verbessert werden kann. Die Struktur des Programms Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung hat die Zielgruppe der bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen im Fokus.

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Um diese Zielgruppe zu erreichen, bedarf es eben jener Bündnisse mit Akteur*innen aus dem pädagogischen und dem Bildungskontext. Die Zusammenarbeit der Bündnisse auf lokaler Ebene hat sich im Verlauf des Programms eingespielt und bewährt. Um solche Bündnisse vor allem auf Landesebene in die Förderstrukturen zu integrieren, bedarf es natürlich der Zusammenarbeit der entsprechenden Landesministerien und den Willen von Politik und Verwaltung, zugunsten dieser speziellen Zielgruppe auf Ressortegoismen zu verzichten. Die Erreichung der Zielgruppe und damit die Ermöglichung ihrer Teilhabe wäre auf Länderebene vielleicht sogar noch einfacher, da die Zusammenarbeit mit der Institution Schule wesentlich erleichtert würde.

L ITERATUR Galka, Peter (2016) in: Deutsches Kinder-Theater-Fest in Leipzig 2016. Fünf aus Vierzig – Qualität x Subjektivität = Auswahl. IXYPSILONZETT. Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater 2/2016, S. 14-15. Primavesi, Patrick/Deck, Jan (2014): „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld, S. 9-11.

Theater für Alle! Wege ins Amateurtheater I RENE O STERTAG

Wie eröffnet das Programm Theater für Alle! Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, aktiv am Theater teilzuhaben?

Ohne Kinder und Jugendliche entsteht im BDAT-Programm Theater für Alle! gar kein Theater. Sie sind von Produktions- oder Planungsbeginn an die aktiv Mitwirkenden: als Schauspieler*innen, Story-Erfinder*innen, Erzähler*innen, Singende, Tanzende, sie gestalten z. B. auch das Bühnenbild, nähen oder basteln Kostüme. Wir haben den Gestaltungsspielraum für die Theatergruppen und Bündnisaktiven ganz bewusst groß gelassen. Das heißt, alle Bündnisse konnten ihr Theaterprojekt vor Ort relativ individuell konzipieren. Eine außerberuflich arbeitende Theatergruppe auf dem Land, die vielleicht zum ersten Mal ganz gezielt auf „bildungsbenachteiligte“ Kinder und Jugendliche zugeht, hat vielleicht andere Themen und zeitliche Rhythmen als ein von Jugendhilfeträgern initiiertes Projekt mit Schule im „Problembezirk“ in einem großstädtischen Brennpunkt. Beobachten können wir, dass Amateurtheatergruppen in ländlichen Regionen Angebote häufiger als konzentrierte Theaterfreizeiten in den Ferien gestalten. Hier spielen Infrastruktur und fehlende Verkehrsverbindungen eine Rolle. So beispielsweise beim KinderKunstFestival Regelsbach in einer kleinen Gemeinde südlich von Nürnberg. In einer konzentrierten, mehr als eine Woche dauernden Ferienfreizeit konnten die Kinder, die in den Sommerferien einfach nicht aus ihrem Dorf herauskommen und durch die häusliche Situation nicht die Chance dazu haben, sich zum ersten Mal unter künstlerischer Anleitung in verschiedenen Theaterkünsten erproben. Hier gelang es der langjährig ehrenamtlich engagierten, im Nebenort ansässigen Amateur-Theatermacherin, die Pfarrgemeinde und die Feuerwehr als Bündnispartnerinnen mit ins Boot zu holen. Die Pfarrgemeinde stellte den wunderschönen, weitläufigen Pfarrgarten und das alte Pfarrhaus als Durchführungsort

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zur Verfügung, die Feuerwehr half beim Aufbau von Verpflegungszelten und der Bühne, engagierte Einwohner*innen halfen in Pausen mit. Thema war bei der ersten Durchführung, sich überhaupt mit den künstlerischen Disziplinen zu beschäftigen, die im Theater zum Einsatz kommen können – z. B. Musik und Klang, Tanz, Zaubern und Illusionselemente, Bühnenbau, Schauspielen. Ganz anders ist das Beispiel „Hip und Hop im Untergrund“ im großstädtischen Kiez Berlin-Neukölln/Britz. Die Jugendorganisation SJD – die Falken konnte als Bündnispartner*innen die Geschichtswerkstatt e. V. und das Berliner Theatermuseum e. V. gewinnen, um von März bis Oktober 2015 ein geschichtsorientiertes Theaterprojekt für Jugendliche von zwölf bis 18 Jahre anzubieten. Sie erarbeiteten in fortlaufenden Recherchen und im Rhythmus wöchentlicher Werkstätten eine Theateraufführung. Teil des Prozesses bildeten historische Werkstätten im Märkischen Museum, im Museum Neukölln und im Museumsdorf Düppel. Es entstand ein Stück mit lebensweltlichen, historischen und regionalen Bezügen sowie mit Szenen zur Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen: Jobcenter, Schule, Schwimmbad, U-Bahn, Rassismus, Gentrifizierung. Im Jugendbegegnungszentrum der Falken kam das Stück zur Aufführung. Im Verlauf des Projektes passte das Bündnis die Altersgrenze für die Teilnahme allerdings nach unten (ab zehn Jahre) an, da klar wurde, dass jüngere Besucher*innen des Jugendzentrums mitmachen wollten. Gleichzeitig mussten die leitenden Theaterpädagog*innen mit hoher Fluktuation unter den Teilnehmer*innen umgehen. Vor Konzeptionseinreichung beim Ministerium haben wir die Bedürfnisse und Gegebenheiten unserer „Basis“, also eine Auswahl unserer Mitgliedsbühnen befragt, welche Art von Projekt sie denn im Falle einer Förderung verwirklichen würden. Daraus haben wir in den Grenzen der Förderrichtlinie fünf Formate gebaut und gewisse Qualitätsstandards „eingemauert“, so im Hinblick auf die künstlerische und pädagogische Leitung und auch was den Umfang des Kontaktes mit dem „Theatermachen“ angeht. Z. B. schien uns ein reines „Schnupperangebot“ von einem Tag oder Wochenende zu wenig, um nachhaltig Interesse zu wecken und für die Zielgruppe einen wirklichen Zugang zum aktiven Gestalten mit Theater zu ermöglichen. So kamen die Formate zustande: 1) Aufbau einer Theatergruppe, 2) Peer-to-Peer, 3) Theaterfreizeit, 4) Theaterwerkstatt (prozessorientiert), 5) Jahres- und Familienprojekt, meist mit Inszenierung zum Abschluss.

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Was sind beispielhafte und typische Bündnisse?

Die Bündnislandschaft ist sehr gemischt. Eine typische Bündniskonstellation ist ein Amateurtheater, das mit einem Schul-Förderverein oder einer Schule und einem Handwerksbetrieb vor Ort kooperiert. Wir haben aber auch Bündniskonstellationen, bei denen freie Träger der Jugendhilfe (Wohlfahrtsverband) oder auch Theater mit Aktivitäten an beiden Seiten der unscharfen Trennlinie Freies Theater/Amateurtheater, wie Tempus fugit in Lörrach, im Mittelpunkt stehen. Manchmal finden sich auch als Bündnispartnerinnen die Kommunen vor Ort. Interessanterweise hat uns über die fünf Jahre hinweg ganz selten die Nachfrage erreicht, wie Bündnispartner*innen zu finden und zu aktivieren wären. Es scheint, dass viele Akteur*innen vor Ort schon gut vernetzt sind oder zumindest voneinander wussten und nun endlich die Gelegenheit ergriffen haben zusammenzuarbeiten. Typisch sind bei den Formaten die Theaterfreizeiten, die Jahres- und Familienprojekte, aber auch der Versuch, über das Programm tatsächlich eine Theatergruppe aufzubauen. Von Beginn 2013 an initiierte eine Theaterpädagogin z. B. im Fläming in Brandenburg eine Theatergruppe im ländlichen Raum, mit der Möglichkeit auch in den Ferien Theater zu machen – trotz weiter Wege und unabhängig davon, ob die Eltern ein Auto besitzen – denn die meisten besitzen keins. Oder der Arbeiter-Samariter-Bund, der zum Aufbau einer Theatergruppe über mehrere Jahre in der Kleinstadt Prenzlau in der Uckermark mit einem freien Regisseur zusammenarbeitete. Große Theater-Feriencamps mit mehreren Gruppen und 60 oder mehr Teilnehmer*innen in Niedersachsen oder in Franken sind mir in Erinnerung. Wie werden die Kinder und Jugendlichen angesprochen und zur Teilnahme eingeladen?

Die Bündnisse gehen ganz unterschiedlich vor. Ein „klassischer“ Weg ist der, Kinder und Jugendliche in der Schule z. B. persönlich über die Schulsozialarbeiter*innen anzusprechen, oder aber tatsächlich der „Handzettel“, der in der Kommune verteilt wird. Wir haben den Eindruck, dass Peers (vor allem Kinder, die schon einmal bei dem Vorgängerprojekt mitgemacht haben) ganz gut funktionieren, um junge Menschen zu gewinnen. Sehr gut wirkt auch die Faszination und Begeisterung für das Theater, wenn die Künstler*innen persönlich z. B. in Schulen für das Projekt werben, also durch Charisma und Persönlichkeit der „Funke überspringt“. Wenn nur rein inhaltsbezogen über Aushänge und Handzettel informiert wurde, war der Erfolg des Werbens meist geringer. Echte Evaluationen und verlässliche statistische Angaben fehlen uns allerdings. Dies ist im Rahmen des Projektvolumens leider nicht zu leisten, hier bedürfte es zusätzlicher Ressourcen.

182 | I RENE O STERTAG Was tun die Bündnisse, um die Teilnehmer*innen kontinuierlich für das Projekt zu motivieren?

Ein Generalrezept gibt es wohl nicht. Wir bekamen immer wieder Rückmeldungen von Maßnahmen, die über mehrere Monate liefen, dass es nicht einfach ist, die Teilnehmer*innen kontinuierlich zum Kommen zu bewegen. Selbst wenn die Motivation über die Kunst, also der „Theatervirus“ gefangen hat, arbeiten manchmal andere Faktoren des Alltags dagegen. Häufig waren und sind die Persönlichkeit und die Fachlichkeit der Projektleiter*innen, also der Regisseurin, des Theaterpädagogen o. a., ausschlaggebend dafür, dass die Kinder und Jugendlichen regelmäßig wiederkommen. Der Einfluss der Bündnispartner*innen auf die regelmäßige Teilnahme spielte nur eine untergeordnete Rolle. Manchmal funktionierte, so lesen wir aus Rückmeldungen, die direkte Ansprache der Eltern durch die Projektleitenden, welches gute Angebot ihre Kinder bei nicht regelmäßiger Teilnahme verpassen und wie wichtig es ist, diese Kontinuität einzuüben. Dass Eltern die Projekte ehrenamtlich begleiteten, war allerdings nicht allzu häufig möglich. Wahrscheinlich ist die stärkere Einbeziehung und Förderung von Eltern, analog zum Modell der „Stadtteilmütter“, eine Gelingensbedingung, die wir bei der Durchführung und auch schon bei der Planung von Förderkonzepten integrieren sollten. Wie werden Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt, selbständig Projekte zu initiieren und Projekte mitzugestalten?

Das ist tatsächlich die „Gretchenfrage“, die sich viele Projektorganisator*innen stellen und unterschiedlich beantworten. Mitgestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf Thema, Inhalte und theatrale Motive bieten viele künstlerische und theaterpädagogische Leiter*innen, das sehen wir an Berichten und Rückmeldungen. Ein Beispiel, bei dem die Jugendlichen auch bereits die der Antragstellung vorausgehenden Konzeption mitbestimmten, ist „Young Artists for Hellersdorf“ in Berlin. Die Teilnehmer*innen einer Schreibwerkstatt des Freizeitforums Marzahns entwickelten, ausgehend vom kreativen Schreiben, mit ihrer Leiterin den Plan, einen künstlerischen Theaterprozess zu starten, der am Ende in einer Inszenierung zum Thema „Mobbing“ mündete. Tiefergehend, Kindern und Jugendlichen Partizipation schon in der Initiierung der Projekte zu ermöglichen, wird uns in der nächsten Phase von Theater für Alle! ab 2018 beschäftigten, vorausgesetzt, die Jury bewertet das Konzept des BDAT positiv. Mit dem Konzept „Theater spielen alle!“ versuchen wir den partizipativen Charakter zu betonen. Ich bin gespannt, ob dies noch stärker als im laufenden Programm gelingt. Wir wollen die Antragstellenden ausdrücklich in der Ausschreibung ermutigen, Kinder und Jugendliche schon in ihrer Planung zu beteiligen. Das erhöht die Chancen auf kontinuierliche Teilnahme.

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Auch eine Fortbildung für die erwachsenen Theaterschaffenden, wie Partizipation gelingen könnte, gleich zu Beginn der neuen Förderrunde, ist eine Möglichkeit, die wir diskutieren. Dies könnte dann idealerweise zu mehr „partizipativen“ Anträgen für das zweite Förderjahr führen. Welche besonderen Bedingungen gibt es im ländlichen Raum?

In ländlichen Gebieten sind die Amateurtheater ja häufig die erste, manchmal auch die einzige Berührung mit den darstellenden Künsten. Das heißt, sie ermöglichen es, überhaupt Theater zu sehen, ob Klassiker der Theatergeschichte, zeitgenössische Musicals, tradierte oder moderne Mundartstücke oder auch ganz eigens für die konkrete Landschaft kreierte Theaterformen, d. h. Theater im öffentlichen Raum. Die Amateurtheater leben zudem davon, dass ihr Nachwuchs aus den „eigenen Reihen“ kommt, das heißt, dass die Bewohner*innen mitmachen. Die Grundvoraussetzung für die Existenz der Theater ist die aktive kulturelle Partizipation auf und hinter der Bühne. Ganze Familien engagieren sich häufig über Jahrzehnte hinweg künstlerisch. Das Förderprogramm stellt nun Amateurtheater vor die Herausforderung und gleichzeitig die Chance, sich nicht nur um notwendige Nachwuchswerbung zu kümmern, sondern auch ihre Theater „diverser“ aufzustellen. Nicht wenige Projekte im Programm haben mit jungen Menschen gearbeitet, die Fluchterfahrung haben, und dies auch thematisch eingebunden. Auf dem Land spielen meist lange Wege und fehlende öffentliche Verkehrsinfrastruktur eine Rolle. Kultur macht stark bietet zum Glück die Möglichkeit, auch höhere Fahrtkosten z. B. für private Bustransporte zu übernehmen. Die Bündniskonstellationen sind ähnlich divers wie oben beschrieben im nichtländlichen Raum. Antragssteller*innen im ländlichen Raum sind oft die Theater selbst, die sich über die Möglichkeit der Finanzierung von Projekten mit Kindern und Jugendlichen freuen, aber häufig über die enormen administrativen Belastungen von Kultur macht stark klagen. Das ist verständlich, opfern hier doch Engagierte abends oder am Wochenende viel Freizeit, um ein Projekt zu beantragen, den aktuellen Geldbedarf zu ermitteln, Projektbeteiligte und Bündnispartner*innen zu koordinieren oder abzurechnen. Auch manche unserer Mitglieds-Theaterverbände, z. B. in Niedersachsen (Feriencamp im Harz), im Saarland, in Mecklenburg-Vorpommern oder in Franken, sind im ländlichen Raum Bündnisse vor Ort eingegangen. Auffällig war für uns, dass die fachliche „Versorgung“ mit Theaterpädagog*innen z. B. in Mecklenburg-Vorpommern mangelhaft ist und außerhalb der größeren Städte nicht zu leisten war. D. h. der zeitliche mehrstündige Aufwand, den eine Fachkraft allein für die Fahrt an den Projektort leisten musste, und das bei einem Jahresprojekt mit wöchentlichen Treffen, war

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nicht zu stemmen. Leider entfiel dadurch z. B. ein Projekt im Programm bzw. konnte nur reduziert an einem und nicht wie vorgesehen an zwei Standorten im ländlichen Raum stattfinden. Das ist vergleichbar mit der Landarzt-Problematik. Welche Rolle spielen professionelle Theaterkräfte einerseits und ehrenamtliche Akteur*innen andererseits in den Projekten? Wie kommen beide zusammen?

Ehrenamtliche Akteur*innen arbeiten in ihren Theatergruppen manchmal bereits seit längerem mit professioneller Theaterpädagogik oder Regie zusammen und „heuern“ diese dann für die künstlerische Leitung und Konzeption eines Bündnisprojektes an. Manchmal betreten die Theatergruppen allerdings auch „Neuland“ und machen erste Erfahrungen in der Zusammenarbeit. In den meisten Fällen finden beide „vor Ort“ zusammen – man kennt sich. Der BDAT bietet aber natürlich auch Beratung an, z. B. über seine qualifizierte Referent*innenliste. In vielen Bündnissen agieren professionelle Theaterkräfte auf Ebene der Konzeption und der künstlerisch-pädagogischen Leitung und werden in der aktiven Durchführung von Ehrenamtlichen unterstützt. Allerdings sind uns auch Projekte bekannt, in denen ehrenamtlich aktive Spielleiter*innen die künstlerische Leitung übernehmen, die sich z. B. durch das zertifizierte Fortbildungsprogramm des BDAT, das als Abschluss die Grundlagenausbildung nach BUT-Zertifizierung ermöglicht. Ehrenamtlich Aktive sind häufig in der Beantragung, Administration und Organisation der Projekte aktiv. Besonders bei Kultur macht stark halte ich das allerdings für eine gefährliche Überstrapazierung des Ehrenamtes. Der hohe Aufwand schreckt die Engagierten langfristig ab. Hier sollte es für die Ehrenamtlich Aktiven in den Vereinen die Möglichkeit geben, dies zu vergüten und nach Bedarf in hauptamtliche Hände zu geben. Dennoch sind die meist schon langjährig Engagierten mit Begeisterung und Herzblut dabei. Sie organisieren und managen ihre Bühnen häufig hochprofessionell, ohne dass es ihre Profession, also ihr Beruf ist. Ein Beispiel von vielen vorhandenen ist die Studiobühne Essen, die Theater für Alle!-Projekte durchgeführt hat. Diese Menschen treibt ihre Überzeugung, dass das Leben ohne Theater unvorstellbar ist, und sie wollen die Begeisterung für diese Kunst einfach weitergeben. Das Bundesprogramm des BMBF ermöglicht es erstmals, für solche Theaterprojekte auch eine Finanzierung zu erhalten. Denn den meisten Theaterschaffenden im Amateurtheater ist es wichtig, künstlerische Qualität auch über eine qualifizierte Anleitung zu sichern. Dazu gehört, eine ausgebildete Person für Regie oder Theaterpädagogik zu bezahlen und natürlich auch zumindest grundlegende Bühnenausstattung und Technik. Die finanzielle Unterstützung von Theaterprojekten, die Amateurtheater auf die Beine stellen, lässt in vielen Bundesländern,

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Städten und Gemeinden leider immer noch stark zu wünschen übrig oder existiert trotz des kulturellen Engagements der Beteiligten nicht. So investieren viele nicht nur Zeit und Können, das sie auf Fortbildungen vermehren, sondern auch ihr privates, oft hart verdientes Geld. Nach fast fünf Jahren Theater für Alle!: Welche Herausforderungen seht Ihr für die Zukunft der kulturellen Teilhabe (auch von bildungsbenachteiligten Zielgruppen) im Theater?

Besonders dringend scheint uns die tatsächliche „Flächendeckung“ zu sein. Kulturelle Teilhabe ist immer noch exklusiv und hängt von den Voraussetzungen der Eltern ab, auch wenn Kultur macht stark versucht dem entgegenzusteuern. Solange aber die kulturelle und aktive künstlerische Teilhabe von ausgewählten „Füllhorn“-Projekten abhängig ist und nicht strukturell verankert wird, in Kommune, in Schule und ja, für alle Heranwachsenden in kontinuierlichen formalen und außerschulischen Angeboten vor Ort, ob von Amateurtheatergruppen, Angeboten Freier Theater, Soziokulturellen Zentren, solange ist es nur die Sahnetorte und nicht das tägliche Brot. Um im Bild des Marie Antoinette-Zitats zu bleiben: „Sollen sie doch Kuchen essen …“ – davon wird man nicht satt! Kulturelle Teilhabe muss als ein delikates Grundnahrungsmittel begriffen werden. Um spannende, nachhaltige und partizipativ geprägte Angebote zu entwickeln, bedarf es aber der Unterstützung der gerade genannten Orte. Ein (Amateur -) Theater, das um Rahmenbedingungen und ums Überleben kämpft, kann keine qualitativen Angebote entwickeln und damit auch keine Teilhabe ermöglichen. Dazu braucht es Finanzierungsmöglichkeiten auf Landesebene für diese Projekte, aber auch eine grundlegende, minimale Förderung in den Kommunen, um den Amateurtheatern kontinuierliches Arbeiten zu ermöglichen. Hier reicht häufig ein minimaler Betrag, es geht meist um Mieten oder Investitionskosten für Räume, Betriebskosten, Technik oder Material. Die Flut von Verwaltungsvorschriften zu bewältigen, um im rechtlich sicheren Rahmen zu agieren, ist schon für professionelle Theater nicht immer leicht. Administrative Vereinfachungen gepaart mit Möglichkeiten, für aufwändigere Vorhaben professionell Mitarbeiter zu bezahlen, sind notwendig, damit sich Amateurtheater auf ihren Kern besinnen können: Theater machen. Denn das Potenzial das im Amateurtheater für die Zukunft liegt, ist groß und gesellschaftlich gar nicht hoch genug einzuschätzen: die Möglichkeiten zur aktiven kulturellen Partizipation und ästhetischen Gestaltung, die durch das aktive Spiel gebildeten Zuschauer*innen, als Sinngebung und Museort zum „Feierabend“ auch Gegenpol zu einer sich exponentiell beschleunigenden Arbeits- und Kosumwelt, die von Kulturleuchttürmen unabhängige, eigene Suche nach ästhetischem Erleben und die Gestaltung von Utopien durch „Jedermann und Jedefrau“,

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die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die Begegnung mit dem Fremden auf der Bühne und die positive Wahrnehmung von Diversität, nicht zuletzt auch gute Unterhaltung. Aber wir müssen auch mit allen – nicht nur in der Kulturkomfortzone der Verbände oder Institutionen – den Diskurs suchen, was „Kultur“ und „kulturelle Teilhabe“ denn bedeutet und wie sie im Alltag aussehen soll. Hierzu liefern Diskutant*innen wie z. B. Mark Terkessidis Stichworte wie „Kollaboration“ (vgl. Terkessidis 2015). Unter Kultureller Bildung verstehen die jeweiligen Akteure ja meist etwas sehr Unterschiedliches. Kulturelle Bildung kann nach unserem Verständnis nicht rein passiv passieren, sondern ist ein aktiver Gestaltungsprozess; zudem ist das Momentum des Dranbleibens, die Kontinuität des eigenen Schaffens für den Einzelnen und eine Gruppe in ihrer Entwicklung enorm wichtig. Deswegen ist auch das Modell „Bürgerbühne“ an den Stadt- und Staatstheatern mit meist jährlich ausgetauschten Teilnehmer*innen nicht gerade der Gipfel der Partizipation und Kollaboration, sondern eher ein Feigenblatt, zumal die beruflich Theaterschaffenden die wesentlichen Entscheidungen bei der Produktion treffen. Bei „echter“ Kollaboration geschieht ein Prozess der Veränderung. Also genau das, was das Wesen von Theater ausmacht.

L ITERATUR Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration. Frankfurt am Main.

Perspektiven für die Kulturlandschaft

Movies in Motion – mit Film bewegen Teilnahme und Teilhabe im Kultur macht stark-Konzept des Bundesverbandes Jugend und Film e. V. C LAUDIA S CHMIDT UND M AREN R ANZAU

Was ist Movies in Motion – mit Film bewegen? Kinder und Jugendliche gestalten und organisieren mit Hilfe unserer Bündnispartner*innen ihre eigenen Filmveranstaltungen. Wir wollen sie im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung versetzen und ihnen Räume öffnen zum Ausprobieren, Erfahrungen sammeln und Ideen austauschen. Sie erproben Entscheidungsfindung, handeln Regeln aus und setzen ein eigenes Projekt gemeinsam um. Das Endprodukt Film oder Filmveranstaltung steht dabei nicht allein im Vordergrund. Es geht nicht um richtig oder falsch, nicht nur um Kunst oder künstlerischen Anspruch. Im Mittelpunkt steht die Teilhabe und der Prozess, der damit verbunden ist: eine Meinung haben oder sich eine erarbeiten, diese vertreten, einen Kompromiss finden und diesen umsetzen. In diesem Gestaltungsraum geht es um die elementaren Fragen: Wer bin ich, für was stehe ich, wer bist du, für was stehst du und wie finden wir zueinander? Wie gehen wir miteinander um und wie schaffen wir es, gemeinsam unser selbstdefiniertes Ziel zu erreichen? Das Konzept Movies in Motion knüpft an die Ursprünge des Bundesverbandes Jugend und Film e. V. (BJF) an. Er hat seine Wurzeln im Re-Education-Programm der Alliierten, bei dem es um demokratische Bildungsarbeit im Nachkriegsdeutschland, das Erlernen und Schulen von Demokratieverständnis, ging. Zudem sollte das Konzept die beiden aktuellen Standbeine des BJF, die rezeptive Filmbildung und die praktische Filmarbeit, berücksichtigen. Die häufig in Konkurrenz stehenden Ansätze sollten verbunden werden, alle Mitglieder des Verbandes sollten sich darin wiederfinden und Projekte umsetzen können. Also mussten Gemeinsamkeiten gefunden werden. Die erste war und ist natürlich der Film selbst, also

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das Ziel, Film als Kunst und Kulturgut sowie als Ausdrucksmittel zu vermitteln (kulturelle Filmbildung). Die zweite Gemeinsamkeit fand sich in der Durchführung von Filmveranstaltungen. Um beides zusammenzuführen, wird bei Movies in Motion neben dem gestaltenden Element, d. h. selber einen Film zu drehen und selber ein Filmprogramm zusammenzustellen, ein besonderes Augenmerk auf die selbstständige Organisation der Veranstaltung gelegt. Das Ergebnis ist nicht nur ein Kultur- oder Kunstprojekt, sondern vor allem ein Partizipationsprojekt. Wie finden Kinder und Jugendliche im Programm Movies in Motion ihre Wege zum Film?

Bewegte Bilder spielen im Alltag von Kindern und Jugendlichen bereits eine große Rolle. Filme und Serien werden geschaut, soziale Netzwerke und Kommunikation funktionieren über visuelle Nachrichten und Videos, Filmsprache findet sich im Gaming wieder. Filme werden überall konsumiert und produziert. Der Umgang damit ist für „Digital Natives“ mehr als selbstverständlich. Damit ist Film eigentlich ein dankbares Medium, um Kinder und Jugendliche zu erreichen. Unterschiedliche Auffassungen können aber gleichzeitig auch eine Hürde sein: Sehe ich Film als Kulturgut, interessiere ich mich für die künstlerischen Aspekte, begreife ich ihn als Ausdrucksmittel und/oder nehme ich den Unterhaltungswert wahr und konsumiere? Ist das Sehen oder Machen von Filmen alltäglich oder wird es als bewusster Schaffensprozess gesehen? Fehlt Reflexion, Distanz, Kritik oder findet ein bewusster, reflektierter Umgang statt? Diese verschiedenen Seiten müssen irgendwie zueinanderfinden. Im Idealfall treten unsere Bündnispartner*innen den Teilnehmer*innen gegenüber als „Critical Friends“ auf. Sie geben Impulse, stellen Fragen ohne vorgefertigte Antworten zu liefern und machen Angebote. Der Trick ist es, nicht die Debatte über die Definitionshoheit zu führen, sondern die Erfahrungswelten gleichwertig nebeneinanderzustellen und gemeinsam die Stärken der Herangehensweisen zu nutzen. Beispielsweise profitieren junge Geflüchtete in einem dokumentarischen Projekt vom Wissen der Profis, wie man Geschichten inszeniert, entsprechende Bilder auswählt und arrangiert. Im Gegenzug verlassen sich die erwachsenen Filmer*innen auf die authentischen Geschichten der Jugendlichen und deren Auswahl, was erzählt werden soll. Wie ähnlich ist der Filmbegriff von Bündnissen/Fachkräften und Kindern/Jugendlichen?

Beim Filmdreh ist das Selbermachen immer Teil des Konzeptes. Hier hängen die Fragen, wie hoch die künstlerischen Ansprüche sind, welche Ästhetik angestrebt

M OVIES IN M OTION –

MIT

FILM BEWEGEN

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wird und wie eng die Anleitung ist, vor allem von der Persönlichkeit der begleitenden Erwachsenen ab. Bei Filmprofis ist der Anspruch oft deutlicher spürbar, (Medien-)Pädagog*innen tun sich mit verwackelten Bildern häufig leichter. Bei den rezeptiven Projekten scheint es den Fachkräften oft schwerer zu fallen, einen Umgang mit der Deutungshoheit zu finden. Filme, die als pädagogisch wertvoll, altersgerecht und künstlerisch ansprechend beurteilt werden, kommen bei den Teilnehmer*innen nicht automatisch gut an. Häufig haben kulturell hochwertige Filme es eher schwer, weil sie nicht zum bisherigen Erfahrungsschatz gehören und nicht den Sehgewohnheiten entsprechen. Die Frage ist aber auch, ob die authentische Wahl der Kinder und Jugendlichen wirklich schlechter ist oder eben einfach nur anders. Es wird sich häufig gescheut, neue Methoden auszuprobieren und man kämpft damit, den eigenen Schutzraum zu verlassen. Der eigene Anspruch an das Filmprogramm verhindert oder erschwert das Loslassen. Inwiefern findet in den Projekten kuratorische Praxis durch Kinder und Jugendliche statt?

Prinzipiell ist es in den „Filme sehen“-Projekten immer angestrebt, dass die Teilnehmer*innen nicht nur gemeinsam Filme schauen, sondern diese auch selbst auswählen. Bei der Programmgestaltung greifen sie als erstes immer auf ihre Sehgewohnheiten und ihren Erfahrungsraum zurück. Diese Auswahl ist in der Regel nicht deckungsgleich mit der in der sonstigen kulturellen Filmbildung. Als mögliche Herangehensweisen kann man die ungefilterte Filmauswahl durch die Teilnehmer*innen zulassen oder an den „anderen“ Film heranführen. So bestimmen einige Filmclubs im ländlichen Raum ungeachtet vom künstlerischen und pädagogischen Wert ihr Filmprogramm. Hier soll eine Struktur geschaffen werden, damit Filme in der Region überhaupt öffentlich und gemeinsam gesehen werden können. Das Team um Little Big Films – einem Kinderfilmfestival in Nürnberg, welches von Kindern organisiert wird – investiert dagegen viel Zeit in die Suche nach den passenden, kulturell wertvollen Filmen. Nach einer Einführung in die Filmsprache fahren die Kinder zu großen Filmfesten, zum Beispiel nach München oder Berlin, um für ihr eigenes Festival gute Filme zu finden. Den Sichtungen folgen immer ausführliche gemeinsame Besprechungen und dann die Auswahl. In vielen rezeptiven Projekten wird den Teilnehmer*innen eine Vorauswahl von Filmen angeboten, aus denen sie dann auswählen. Dies erleichtert die Umsetzbarkeit. Im Sinne einer größtmöglichen Partizipation scheint es uns aber nicht unbedingt ideal, da es die Wahlmöglichkeit einschränkt, die ungefilterten Interessen der Kinder und Jugendlichen nicht berücksichtigt und auch den direkten Vergleich von „Konsum“ und „Filmkultur“ innerhalb des abgesteckten Gestaltungsraums verhindert. Gefallen hat uns beispielsweise die Herangehensweise eines

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Referenten in unseren sächsischen Projekten. Er agiert auf Augenhöhe mit den Jugendlichen, stellt ihnen ihre Filmauswahl prinzipiell frei, erbittet sich aber, ihnen in regelmäßigen Abständen einen Film präsentieren zu dürfen, den er selbst toll findet. Partizipation findet statt und gleichzeitig werden neue Horizonte eröffnet und neue Erfahrungen ermöglicht. Wie werden Kinder und Jugendliche ansonsten in die Lage versetzt, Projekt- und Produktionsprozesse weitgehend selbständig zu gestalten?

Der Idealfall eines Partizipationsprojektes in der kulturellen Bildung wäre vielleicht, dass ein Budget, Technik, Räume und Expert*innen, die im Bedarfsfall angefragt werden können, zur Verfügung gestellt werden und interessierte Kinder und Jugendliche auf das freie Angebot zurückgreifen und den angebotenen Raum komplett selbständig gestalten können. In der Praxis von Movies in Motion findet das kaum bis gar nicht statt. Um einen Raum selbstständig zu bespielen, braucht es eine Menge Vorkenntnisse und Erfahrungen von Seiten der Teilnehmer*innen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht vorhanden sind. Also erarbeitet das lokale Bündnis zusammen mit der BJF-Geschäftsstelle in der Regel ein konkreteres Angebot wie beispielsweise die Erstellung eines Videowalks im Rahmen der Filmtage Oberhausen. Potenzielle Teilnehmer*innen werden von ihnen bekannten Pädagog*innen angesprochen und zum Mitmachen motiviert. Ein Zeitraster und inhaltliche Vorgaben stecken den Raum ab, den sie gestalten können. Das hilft bei der Orientierung und gibt Sicherheit, was wichtig ist, um sich auf Neues einzulassen, sich und andere in der neuen Rolle kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Der erste Schritt zur Selbstermächtigung ist dann oft die Wahl des (konkreteren) Themas, welches im Konzept noch sehr offen formuliert ist und sich am Sozialraum oder der Erfahrungswelt der Teilnehmer*innen orientiert. Beim Videowalk ist beispielsweise geplant, dass die Jugendlichen Geschichten entwickeln, in denen die Bewegung und Erkundung der Stadt Bestandteil sind. Auch alle weiteren Schritte im Projektverlauf sind ähnlich strukturiert, sowohl bei der Filmproduktion oder der Filmauswahl als auch bei der Veranstaltungsorganisation: Fachkräfte und Bündnispartner*innen geben einen Input und/oder machen ein Angebot, die Kinder und Jugendlichen finden in dem Angebot ihre Rolle und füllen es selbst mit konkreten Inhalten. Die Honorarkräfte und Bündnispartner*innen sollen sich als Mentor*innen verstehen und die Weitergabe ihrer Expertise anbieten. Die Teilnehmer*innen sollen nach Möglichkeit nach und nach alle Bereiche des Projektes erobern.

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Stichwort Veranstaltungsorganisation – inwiefern findet Kulturmanagement durch Kinder und Jugendliche statt?

Auch hier wird mit dem „Loslassen“ unterschiedlich umgegangen. Little Big Films hat sich dafür entschieden, dass alles, was sichtbar ist, von den Kindern gemacht wird, d. h. Pressearbeit und -konferenzen, Filmgespräche, offizielle Einladung der Filmemacher*innen usw. Dinge, die hinter den Kulissen stattfinden, wie Filmbestellung, Hotelbuchungen und Koordinationsaufgaben, werden von den Teamer*innen erledigt. Es zeigt sich auch ein Unterschied zwischen „Filme drehen“ und „Filme sehen“. Während im Bereich der Rezeption die Aufgaben gut auf die Teilnehmer*innen umgelegt werden, tut sich die praktische Filmarbeit mit der Veranstaltungsorganisation häufig schwerer. Der Fokus liegt klassisch auf dem Dreh. Oft werden die Teilnehmer*innen nicht gleichzeitig (oder danach) auch noch mit der Organisation der Premiere betraut. In die Gestaltung der Werbematerialien werden die jungen Filmemacher*innen ggf. noch mit einbezogen, den Rest übernehmen häufig die Teamer*innen, was wir schade finden. Gerade bei der Präsentation erfahren die Teilnehmer*innen Wertschätzung von außen und wir finden es deshalb wichtig, dass auch dieser Projektbaustein weitgehend selbstbestimmt gestaltet wird. Das „Loslassen“ ist also ein wichtiges Element erfolgreicher Partizipation?

Richtig, die vorher erwähnte Debatte zur Definitionshoheit muss unter den Bündnispartner*innen und Fachkräften in dem Moment geführt werden, wenn sie sich zu einem Movies in Motion-Projekt entschließen. Teilhabe bedeutet, einen offenen Raum zu schaffen, um Gestaltungsräume zu ermöglichen. Die Machtfrage entscheidet, wer den angebotenen Raum gestalten darf. Wer Kinder und Jugendliche zur Teilhabe ermutigen will, muss mindestens Teile dieser Macht bewusst abgeben. Auf Kontrolle zu verzichten, ist in der Praxis aber oft schwierig. Man sieht sich im Spannungsverhältnis zwischen „Gestaltungsräume schaffen“ und „Schutzräume aufrechterhalten“. Welches Scheitern ist pädagogisch sinnvoll, welche Erfahrung muss vielleicht erzwungen werden und welche Diskussionsprozesse müssen angeleitet und geführt werden? Wo setzt eventuell die Überforderung der Teilnehmer*innen ein? Und auch nicht unwichtig: Wann spielt vielleicht nur die eigene „Geschmackspolizei“ bei der Filmbetrachtung eine Rolle? Die Herausforderung, Räume noch mehr zu öffnen, ist allerdings eher theoretisch bzw. als Zielformulierung und auf der Ebene des Gesamtkonzeptes von Movies in Motion zu verstehen. Es passiert ja bereits viel in den Movies in MotionProjekten und die Teilnehmer*innen sehen die „Einschränkungen“ sicher nicht so wie wir. Enttäuschungen ergeben sich eher daraus, dass bestimmte Filme noch

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nicht gezeigt werden können, weil sie noch in der Kinoauswertung und für Filmclubs erst später im Jahr verfügbar sind, Publikum ausbleibt, das gedrehte Material nicht dem eigenen Anspruch genügt oder Gestaltungswünsche aufgrund des technischen Knowhows nicht umgesetzt werden können. Macht es sich in den Projekten bemerkbar, dass diese sich an Zielgruppen richten, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind?

Movies in Motion-Projekte sind eher längerfristig angelegt. Wir setzen nicht auf einmalige konzentrierte Veranstaltungen, sondern wollen Prozesse verstetigen. Die Projekttage finden oft nicht am Stück, sondern verteilt über einen längeren Zeitraum statt. So sollen sich die Erfahrungen in den Alltag der Kinder und Jugendlichen integrieren und wir erhoffen uns einen nachhaltigeren Effekt. Sich für ein solches Projekt zu entscheiden und dann vor allem langfristig motiviert dabeizubleiben, ist häufig eine große Hürde. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die Teilnehmer*innen permanent mit Barrieren konfrontiert sind. Es wäre falsch, der Zielgruppe allgemeines Desinteresse zu unterstellen. Vielmehr sind die persönlichen Erfahrungen, aber auch die vererbten, derart von Einschränkungen und Ablehnung geprägt, dass das Wahrnehmen von Angeboten schwerfällt. Wir empfehlen deshalb, potenzielle Interessierte gezielt über Vertrauenspersonen anzusprechen, die auch im weiteren Verlauf des Projektes eine wichtige Rolle spielen. Die Kinder und Jugendlichen müssen immer wieder motiviert und abgeholt werden – im ländlichen Raum ist das auch wörtlich zu nehmen. Viele der Teilnehmer*innen haben es bislang noch nicht gelernt, sich selbst zu motivieren und über Durststrecken hinwegzukommen. Diese Aufgabe fällt den Vertrauenspersonen, Honorarkräften und Bündnispartner*innen zu. Sie helfen den Teilnehmer*innen, den Lohn für ihre Arbeit zu ernten. Ein Erfolgsrezept zur Motivation gibt es nicht: Manchmal ist es die Aussicht, den eigenen Film auf einer großen Kinoleinwand zu sehen oder die Fahrt zur Berlinale, manchmal die Möglichkeit, neben einem Wolfsgehege in einem Tierpark zu schlafen. Werden Teilnehmer*innen in Movies in Motion-Projekten Wegbereiter*innen zum Film für ihr soziales Umfeld?

Ja, in vielen Fällen werden über die Projekte weit mehr Menschen erreicht als nur die eigentlichen Teilnehmer*innen. Wir sind zum Beispiel davon ausgegangen, dass zu den Filmveranstaltungen Familie und Freundeskreis kommen und hatten pauschal mit 30 Besucher*innen pro Projekt gerechnet. Die Reichweite ist aber oft um ein Vielfaches größer, manchmal werden ganze Kinosäle oder Stadthallen gefüllt. In den rezeptiven Projekten – und nicht nur dort – finden zudem häufig mehrere Veranstaltungen pro Projekt statt.

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Allerdings ist die Anwesenheit des engeren Familienkreises, z. B. der Eltern, leider keine Selbstverständlichkeit, auch wenn Bündnispartner*innen und Fachkräfte das Gespräch suchen und sie gezielt einladen. Die Frage, wie man die Zielgruppe erreicht und motiviert, gilt also nicht nur für die Kinder und Jugendlichen selbst. Und das hat unserer Meinung nach nicht unbedingt etwas mit Gleichgültigkeit zu tun. Vielmehr zeigt sich, dass das „Nicht-Teilnehmen“ ein strukturelles Problem ist: Die Familien haben nicht nur mit Bildungsbarrieren, sondern mit allen möglichen Barrieren, Einschränkungen und mit Ablehnung zu kämpfen. Eigenengagement und das Nutzen von freien Angeboten gehören dadurch in der Regel nicht zu ihrer Erfahrungswelt. Desto erfreulicher ist es, zu sehen welche Wirkung die Projekte vor allem auf die Teilnehmer*innen selbst haben. Leider lässt sich das Kollektivgedächtnis nicht innerhalb eines Projektes überschreiben, aber viele Einzelbeispiele zeigen, welchen positiven Einfluss die Projekte hinterlassen. Die Teilnehmer*innen gehen gestärkt aus den Projekten. Welche Ideen und Impulse von Teilnehmer*innen haben euch besonders überrascht oder beeindruckt? Wo ist bereits spürbar, was nachhaltig erreicht wurde?

Zum Beispiel hatte unser erstes Projekt in Weimar mit vielen gruppendynamischen Querelen zu kämpfen, die sich auch nicht durch das Eingreifen des Bündnisses auflösen ließen. Direkt nach der Premiere ihres Films aber kamen die Teilnehmer*innen mit der konkreten Bitte auf das Bündnis zu, einen weiteren Film zu drehen - diesmal zum Thema Mobbing. Die Gruppe hatte verstanden, welches Ausmaß die internen Konflikte hatten. Im zweiten Projekt haben sie dann zudem viel mehr die Initiative ergriffen. Unter anderem haben sie mit dafür gesorgt, dass das Projekt um einen Schauspielworkshop ergänzt wurde. Andere Beispiele: Ein Teilnehmer aus Wismar hat die Moderation für sich entdeckt und moderiert inzwischen wie ein Profi Kinderfilmveranstaltungen in seiner Heimatstadt und darüber hinaus, und in Immenstadt wird ein Teilnehmer als Cutter für andere Filmprojekte angefragt. Inwiefern die Teilnehmer*innen und ihr Umfeld insgesamt über das Projekt hinaus Filme als Kunst und Kulturgut sehen und nachhaltig mehr Teilhabe angestoßen wird, ist allerdings schwer zu sagen. Aber „Bildung (in diesem Fall Erfahrungen) kann man zum Glück nicht rückgängig machen“, um eine Kollegin zu zitieren. Der Stein ist ins Rollen gebracht. Wie tragen die Bündnisse und das bürgerschaftliche Engagement zu mehr Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit bei?

Die Idee der Bündnisse, dass Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt werden, sich Netzwerke bilden und Ressourcen ausgetauscht und gemeinsam genutzt wer-

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den, begrüßen wir. Auf vorhandene lokale Initiativen und Einrichtungen aufzubauen, ist sinnvoll. Die Förderung so eng an Projekte zu binden, leuchtet unter Nachhaltigkeitsaspekten aber nur schwer ein. Reine Projektarbeit schließt leider Beständigkeit aus. Für die Schaffung und Erhaltung von (Infra-)Struktur sowie die notwendigen Verwaltungs- und Koordinierungsarbeiten fehlen oft die Mittel. Struktur und Beständigkeit wären jedoch notwendig, da die Bildungsberichte und die Erfahrungen nach fast fünf Jahren Kultur macht stark zeigen, dass mangelnde Bildungsgerechtigkeit ein strukturelles Problem ist. Um dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen und mehr Teilhabe zu ermöglichen, kann Ehrenamt nicht die einzige Antwort und bürgerschaftliches Engagement nur unterstützend tätig sein. Welches sind die typischen lokalen Bündnispartner*innen des BJF? Welche Erfahrungen habt ihr in der gemeinsamen Bündnisarbeit gemacht?

Vor Ort ist immer ein lokales BJF-Mitglied beteiligt. Da unsere Mitgliederstruktur sehr heterogen ist (z. B. Jugend-, Kultur- und Medienzentren, Schulen, Jugendfilmclubs, Medienwerkstätten, kommunale Kinos, Jugendverbände, Kulturvereine, Volkshochschulen), kommen dann auch die unterschiedlichsten weiteren lokalen Bündnispartner*innen dazu. Es lässt sich also kein typisches Bündnis skizzieren. Wir wissen aber, dass alle Bündnisse mit struktureller Unterfinanzierung zu kämpfen haben. Es ist die Ausnahme, dass Bündnispartner*innen bezahlte Fachkräfte für die Verwaltung, also Koordination und Kommunikation, einsetzen. In der Regel erfolgt diese komplett ehrenamtlich. Im Falle von Kultur macht stark ist dies zwar ausdrücklich erwünscht, zeigt aber auch, mit welchen Hürden lokale Träger zu kämpfen haben. Wenn Eigenleistungen Projekte erst ermöglichen, bleiben weniger Zeit und Ressourcen für die Projekte selbst. Das mag schon bei „regulären“ Angeboten kritikwürdig sein, für die Zielgruppe von Kultur macht stark ist es allerdings verheerend. Wie schon erwähnt, muss man den strukturellen Barrieren auch strukturell begegnen. Die Bündnisse und deren Projekte können hier nur ein erster Anstoß sein. Um es positiv zu formulieren: irgendwo muss man anfangen. In diesem Fall ermöglichen die Projekte den vielleicht ersten Kontakt der Teilnehmer*innen mit Teilhabe. Sie geben ihnen das erste Mal die Möglichkeit, selbstständig etwas zu gestalten und zu verantworten und das im positiven Sinne.

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Nach fast fünf Jahren Movies in Motion: Welche Herausforderungen seht ihr für die Zukunft der kulturellen Teilhabe (auch von bildungsbenachteiligten Zielgruppen) im Film?

Das Spannende an der Partizipation ist, dass ihr Anfang und ihr Ende von den Beteiligten bestimmt wird. Wie die Macht, angebotene Räume zu gestalten, verteilt wird, muss immer wieder von neuem ausgehandelt werden. In den fast fünf Jahren Movies in Motion sind über 180 spannende Projekte umgesetzt worden, die sich alle mit Teilhabe in der Filmarbeit auseinandergesetzt haben und unterschiedliche Wege für sich gefunden haben. Sicherlich sind viele der Projekte noch ausbaufähig, gleichzeitig sind aber viele der Teilnehmer*innen ein Stück weit mehr in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. „Einfach machen lassen“ ist nicht nur unter Partizipationsaspekten wichtig, sondern aus unserer Sicht für die erfolgreiche Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen generell. Ohne ein Gestaltungsangebot an das junge Publikum werden die Angebote nicht mehr wahrgenommen. Die Erfahrungswelt ist zu interaktiv, als dass das bloße Zuschauen spannend wäre.

Land in Sicht mit Soziokultur Theater als Phänomen von partizipativer Soziokultur im ländlichen Raum B EATE K EGLER

Was ich gemacht hab, bevor ich zur Theatergruppe gekommen bin? Tja, was sollt’ ich hier im Dorf groß machen? An der Bushalte rumhängen, rauchen, saufen, kiffen – das ganze Programm eben.1

Im Rahmen der Erhebungen im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Soziokultur in ländlichen Räumen wurden im Jahr 2012 ehemalige Mitglieder einer Jugendtheatergruppe eines soziokulturellen Trägers nach ihren Lebenserfahrungen im ländlichen Raum befragt. Ohne dass aus den dort getroffenen Aussagen ein Anspruch auf Repräsentativität abgeleitet werden könnte, werfen sie ein erhellendes Licht auf die Situation von Jugendlichen und die Bedeutung der Soziokultur in entlegenen ländlichen Räumen. Angesichts der Vielzahl theaterbasierter Projekte soziokultureller Akteure liegt die Vermutung nahe, dass dem Theater als Phänomen partizipativer Soziokultur gerade im ländlichen Raum eine besondere Rolle zukommt.2

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Zitat aus einer Befragung ehemaliger Teilnehmer*innen der Jugendtheatergruppe der Ländlichen Akademie Krummhörn e. V., einer soziokulturellen Einrichtung der 19 Dörfer der ostfriesischen Gemeinde Krummhörn, vom 27.12.2012.

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Der Beirat Soziokultur, der über die Mittel des Landes Niedersachsen zur Vergabe an soziokulturelle Projektträger*innen entscheidet, trägt diesem Phänomen Rechnung, in dem eigens ein Experte der Theaterpädagogik die Mitglieder des Gremiums zu theaterpädagogischen Fragen berät.

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„Theater geht immer“ – so oder ähnlich könnte das Resümee der Tiefenbohrung lauten, die nach gelingenden Formaten teilhabeorientierter Kinder- und Jugendbildung in ländlichen Räumen sucht. Zahlreiche Beispiele verweisen auf die Bandbreite modellhafter Theaterprojekte soziokultureller Prägung: Vom Jugendtheaterprojekt Schaf rechts gegen aufkeimenden Rechtsextremismus auf dem Land (vgl. Oncken/Ewen 2008: 50) bis zum generationsübergreifenden Projekt Leben leben (vgl. Land und Kunst e. V. 2015: 28ff.), in dem sich Kund*innen der örtlichen Tafel trotz benachteiligender Lebensverhältnisse auf die Suche nach Modellen des ländlichen Zusammenlebens machen. Vom dorf- und generationsübergreifenden Landschaftstheater, frei nach dem Motto wer wollen wir gewesen sein (vgl. Forum für Kunst und Kultur e. V. o. J.) bis hin zur performativen Leerstandsbelebung im Jugendtheaterprojekt MEINE IRRE LEERE (vgl. Lehnschulzenhofbühne Viesen e. V. o. J.) ließe sich die Liste unendlich weiter fortsetzen. All diese Projekte sind jeweils einzigartige Ergebnisse einer forschenden Suche nach dem, was es an Herausforderungen in der jeweiligen Region zu bearbeiten gilt. Gemeinsam ist diesen und vielen weiteren Projekten die Ausrichtung auf das gesellschaftsgestaltende Potenzial der darstellenden Künste. Die projektgestaltenden Akteure bauen auf die Tradition der nach wie vor präsenten Amateurtheaterkultur und auf die gesellschaftsgestaltende Kraft der partizipativen Auseinandersetzung mit dem, was regional unter den Nägeln brennt. Sie schaffen den Rahmen für Begegnung und gestaltende Teilhaben von Menschen unterschiedlicher Couleur – meist dorfübergreifende, häufig generationenverbindende Netzwerkprojekte mit Blick über den Dorf- und Tellerrand: Theater als Phänomen gelingender Soziokultur in ländlichen Räumen.

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Glaubt man den anheimelnden Bildwelten der nachgefragten landlustverheißenden Gazetten, die vom glücklichen Leben jenseits der Großstädte künden, ist schwer vorstellbar, dass ein Leben in dieser heilen Welt zu Benachteiligungen führen könnte. Und auch jenseits dieser Presseerzeugnisse scheint die Sehnsucht nach dem Landleben keine dunklen Seiten zu kennen. Als vermeintlicher Inbegriff von Entschleunigung, Idylle und Ursprünglichkeit feiert das Leben auf dem Land seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Vom Do-it-yourself-Trend bis zum Achtsamkeitsseminar, vom Urban Gardening, Urban Farming oder gar Urban Imkering scheinen stressgeplagte Städter*innen nichts unversucht zu lassen, das zu einer Rückbesinnung auf das Können und Wissen der dörflichen Lebenswelt zu führen scheint. Dass das Leben auf dem Land als erstrebenswert gilt, mag auch ein Blick

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auf die Immobilienpreise der die Metropolen umgebenden Speckgürtel zu bestätigen. Das Musicalevent auf der Waldbühne, die Tanzperformance am Deich oder das Orgelkonzert in der romanischen Dorfkirche werden zum Geheimtipp des urban geprägten Bildungsbürgertums, das sich dort jenseits der Metropolen begegnet, die „Kultur auf dem Land“ und ihre vermeintliche Authentizität feiert. Daneben wird nach wie vor in Amateurtheatern und Gesangsvereinen, bei Stubnmusi und im Schützenverein regionales Brauchtum gepflegt und Geselligkeit erlebt. Was hier fehlt oder als benachteiligend empfunden wird, erschließt sich nicht auf den ersten Blick.

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Jenseits der Speckgürtel sieht das Leben auf dem Land anders aus. Dringenden Handlungsbedarf sehen Raumplaner*innen und Demograf*innen vor allem dort, wo die Pendlerentfernungen zum nächsten urbanen Zentrum als Schul- und Arbeitsort eine mehr als einstündige Anfahrt erfordern. Hier gehören die vitalen Dörfer und lebendigen Kulturorte eher zu den Ausnahmeerscheinungen. Älter, ärmer und zunehmend weniger gebildet lautet die Diagnose für die Bevölkerung dieser entlegenen ländlichen Räume. Und Hoffnung auf eine Trendwende ist trotz der Zuwanderung Geflüchteter bislang kaum in Sicht. Die Gemeindekassen verfügen über immer weniger Einnahmen, die sie für immer mehr Erfordernisse an Unterstützung der verbliebenen Bewohner*innen ausgeben müssen. Gespart wird an dem, was nach wie vor als freiwillige Leistung gilt. „So’n kleines Dorf hat dann vielleicht 500 Euro im Jahr. Da kann man dann überlegen: Streichen wir die Bank neu oder lieber nicht?“3 Von einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kann in diesen peripheren Räumen kaum mehr gesprochen werden. Wie die Demografieforschung bestätigt, sind weite Teile dieser ländlichen Räume in den westlichen Bundesländern als strukturschwach zu bezeichnen und von Arbeits- und Bildungswanderung sowie Überalterung betroffen (vgl. Bertelsmann 2016a: 3). Im Osten und in besonderen geografischen Lagen auch im Westen, so konstatiert die Bertelsmann-Stiftung, gelten die „stark schrumpfenden Gemeinden mit erhöhtem Anpassungsdruck“ (Bertelsmann-Stiftung 2016b:3) geradezu als typische Demografietypen kleinerer Gemeinden. „Die demographische Perspektive [dieser] Kommunen“, so die Ber-

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Im Interview mit Stefan Könnecke, Netzwerk Kultur & Heimat Hildesheimer Land e. V., am 17.04.2014.

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telsmann-Studie, „ist besorgniserregend“. (ebd.: 8). Massive Abwanderungen junger Erwachsener führen zu einem Anstieg des Durchschnittsalters. Gepaart mit geringer Wirtschaftskraft führt dies zu immer höher werdenden Armutsquoten und einer desolaten Haushaltslage der Kommunen. Was das für die Kinder und Jugendlichen im Dorf heißt, lässt sich leicht ausmalen. Wo die Infrastruktur auf ein Minimum zurückgeht, es weder Schulen, noch Bäcker oder Dorfladen, geschweige denn eine kulturelle Infrastruktur gibt, bleibt nur noch der Rückzug ins Private oder aber, um auf das Zitat des ostfriesischen Jugendlichen zurückzukommen, der traditionelle Jugendtreff an der Bushaltestelle im Dorf. Die Erwartungen an ein Leben auf dem Land sind für die jungen Menschen vor allem von der Frage nach einer Zukunft an anderen Orten geprägt. Im Grunde genommen wird hier im Dorf nicht einmal mehr der Bus erwartet. Schon längst fährt dieser allenfalls noch zu Schulzeiten zum nächstgelegenen Schulstandort. Abends oder am Wochenende muss Mobilität anders organisiert werden. Der zunehmende Leerstand im Dorfkern zeigt: Hier bleiben diejenigen, die es nicht geschafft haben, das Dorf zu verlassen. Patentrezepte für die Wiederbelebung des ländlichen Raumes gibt es ebenso wenig, wie es „den“ ländlichen Raum gibt. Immerhin ist inzwischen „das Land“ neu in den Fokus von Politik und Forschung gerückt. Die Erkenntnis, dass allein der Wohnort „Dorf“ ein Kriterium benachteiligender Lebensverhältnisse sein kann, hat zu einer zunehmend verstärkten Suche nach Modellen gesellschaftsgestaltender Kulturarbeit in ländlichen Räumen geführt und schlägt sich in Forschung, Publikationen, Modellversuchen und diversen Projektvorhaben nieder. (Vgl. Schneider 2014; Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2015; Stiftung Niedersachsen 2015)

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Konsens besteht weitestgehend darin, dass eine Wiederbelebung der Dörfer in sehr peripheren Lagen nicht im Wettbewerb um eine Attraktivitätssteigerung der Dörfer durch spektakuläre Kunst- und Kulturevents gewonnen werden kann. Schwierig wird es in den sehr peripheren Gebieten auch mit der Forderung an die urbanen und öffentlich geförderten Kultureinrichtungen, eine Umlandversorgung mit zu übernehmen. „Wir können [...] die Theaterpädagogik ja auch nicht in alle Dörfer tragen. Das ist nicht zu leisten. An unserer Jugendbühne können Kinder und Jugendliche aus den weit entfernten Dörfern eigentlich kaum teilnehmen. Selbst wenn sie noch aus der näheren Umgebung kommen und hier zur Schule gehen, müssen sie schon ganz schön was auf sich nehmen, wenn

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sie zu den wöchentlichen Proben, den Zusatzproben und Aufführungen kommen wollen. Die meisten sind ja in der Ganztagsschule, danach zur Probe und dann irgendwie mit dem Bus nach Hause, Hausaufgaben gibt es ja auch noch zu machen. Bei Wochenendproben oder abends fährt oft gar kein Bus mehr, das ist dann noch komplizierter.“4

In entlegenen ländlichen Räumen, so die Erkenntnisse aus Kulturpolitik- und Demografieforschung, muss es vielmehr darum gehen, die Menschen zur Gestaltung des Wandels in den Lebensräumen zu befähigen, für die die Aufrechterhaltung von gleichwertigen Versorgungsleistungen und grundlegender Infrastruktur nicht mehr dauerhaft mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gewährleistet werden kann. Die Demograf*innen empfehlen dazu mit Nachdruck die Stärkung ehrenamtlicher Strukturen, des noch als lebendig identifizierten Vereinslebens und die Reanimation der jahrhundertealten Dorfkultur traditioneller Nachbarschaftshilfe.

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ALS IDENTITÄTS - UND GEMEINSCHAFTSBILDENDER F AKTOR Tatsächlich scheint gerade die Breitenkultur und mit ihr die Amateurtheater, Spöldeels und Theaterstadl Phänomene eines lebendigen Miteinanders im Dorf zu sein. Allein im „Bund Deutscher Amateurtheater, der größten Organisation im Amateurtheaterbereich“ sind bis heute „rund 2.400 Mitglieds-Theatergruppen, in denen geschätzt 100.000 Laien ehrenamtlich Theater spielen und jährlich etwa acht Millionen Zuschauer erreichen“ (Götzky/Renz 2014: III). Seit jeher war die Breitenkultur gemeinwesengestaltendes Element agrarisch geprägter Sozialgemeinschaften und sie ist es bis heute weltweit. Anders als in den urbanen Agglomerationen waren die Menschen der vorindustriellen Zeit auf ein funktionierendes Miteinander aller an den landwirtschaftlichen Arbeitsprozessen des Dorfes Beteiligten angewiesen. Viele Dörfer waren quasi autarke Selbstversorgergemeinschaften, in denen jede und jeder seinen Anteil zum Überleben des Dorfes beizutragen hatte. Sä-, Ernte- und Dreschlieder gaben den Arbeitstakt vor und wirkten gemeinschaftsstiftend, die jahreszeitlichen Feste rhythmisierten das Arbeitsjahr. Die in gegenseitige Befähigung weitergegebenen Fähigkeiten in der Ausgestaltung handwerklicher Erzeugnisse wurde nicht selten zum Markenzeichen der Dorfkulturen. Breitenkultur war so über Jahrhunderte hinweg eine Kultur von und für alle, war Kulturelle Bildung im generationsübergreifenden Miteinander, kam in der Regel ohne eine spezielle Infrastruktur aus, war an die

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Im Gespräch mit Waltraud Bartsch, Uckermärkische Bühnen Schwedt, 2015.

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Bedürfnisse der Sozialgemeinschaft angepasst und veränderlich, generierte die Narrative, aber auch das Regelwerk des Dorfes und hielt sich selbst im Amateurtheater den Spiegel vor. Wenn viele der ländlichen Amateurtheater bis heute die immer gleichen Geschichten vom Hereinbrechen des Unerhörten in die heile Dorfwelt auf die Bühne bringen, der bärbeißige Ortsvorsteher in Frauenkleidern oder die hochdeutsch sprechende Diva als Städterin den Lacherfolg garantieren, werden so gleichsam die dörflichen Regeln und Tabus gespiegelt. Der Schenkelklopfer festigt als Spiegel gesellschaftlicher Verabredungen den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft und stärkt die ungeschriebenen Dorfgesetze. Zu den dörflichen Qualitätsstandards gehört auch, dass die Arbeiten am Bühnenbild und hinter den Kulissen den gleichen Stellenwert haben wie das Spiel auf der Bühne. Die handwerkliche Präzision der aufwendigen Bühnenbilder ist Ehrensache. Dass damit experimentellere Formate des Theaters, eine Ausrichtung an urbanen und zeitgemäßen Theaterformen, der Blick über den Tellerrand oder gar die Kooperation mit Gruppen aus anderen Dörfern eher die Ausnahme sind, mag vor diesem Hintergrund kaum verwundern.

B REITENKULTUR IM W ANDEL Bereits weit vor den aktuellen Auswirkungen des aktuell zitierten demografischen Wandels begannen transformatorische Prozesse die Dorfgemeinschaften und mit ihnen deren kulturelle Verabredungen und Partizipationsformen massiv zu verändern. Schon mit den umwälzenden und globalen Veränderungen durch die Industrialisierung der Landwirtschaft lösten sich in relativ kurzer Zeit die traditionellen ökonomischen Bande der Dorfgemeinschaften, die ihre Festigung durch die Breitenkultur über so viele Jahrhunderte erfuhren. Durch den Einsatz von Maschinen wurden immer weniger Arbeitskräfte in der Landwirtschaft benötigt, der Platz in der Agrargemeinschaft wurde durch die anonyme Arbeit in den Fabriken der Städte ersetzt. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, mussten die verbliebenen Bauern in immer leistungsfähigere Maschinen investieren. Die Einheit von Arbeitsprozess und Dorfleben zerbrach, die Abhängigkeit von der Stadt wuchs. Die Dorfgemeinschaft war nun nicht länger auf das funktionierende Miteinander angewiesen. Wenig später, als mit der festgelegten Arbeitszeit plötzlich auch eine Freizeit fern der Arbeitsprozesse entstand, die es zu füllen galt, entdeckte so mancher Städter den Freizeitwert des Landlebens. Eine Welle der Zuwanderung in die zentrumsnahen Dörfer begann. Die Zusammensetzung der Dorfgemeinschaften veränderte sich rapide. Mit den Zugezogenen kamen neue Impulse ins Dorf, aber auch die Sehnsucht nach einem Bild vom Dorf als Inbegriff der „guten alten Zeit“. Selbst ernannte Dorfchronist*innen und Heimatforscher*innen machten sich auf, das zu

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sammeln und zu präsentieren, was ihnen als bewahrenswert erschien. Sie zeichneten so nach und nach ein Bild des Dorfes, das fortan als kollektive Erinnerung zu gelten hatte. War Breitenkultur bis dahin weitestgehend oral tradiert und damit weitaus veränderlicher als in ihrer festgeschriebenen Variante, so verlor sie nun zunehmend ihre zeitgemäße und lebendige Gestaltungskraft. Mit den Gebietsreformen und Zentralisierungen der Entscheidungskompetenzen setzte sich diese Entwicklung fort, die im Schlagwort von der „Entmachtung der Dörfer“ bereits vor 30 Jahren die Akteure auf den Plan rief. Bereits die ersten soziokulturellen Akteure, die in den 1980er Jahren im Umfeld der Alternativbewegungen den ländlichen Raum als naturnahen Möglichkeitsraum entdeckten, versuchten mit partizipativen Theaterprojekten zu lokalen Themen, Beiträge zur Entwicklung einer zeitgemäßen regionalen Identität zu schaffen. Dort, wo Dörfer trotz allem ihre Lebendigkeit bewahren konnten, lassen und ließen sich immer wieder einzelne Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen identifizieren, die jede und jeden kennen und sich ganz bodenständig mit Menschenkenntnis und großer Nähe zu den unterschiedlichen Dorfbewohner*innen um das Funktionieren des Miteinanders im Dorf kümmern. Wo diese Expert*innen in Sachen Gemeinwesenarbeit allerdings das Dorf verlassen oder aus Altersgründen aufgeben, fehlt vielerorts die impulsgebende Kraft. Nachwuchs zu generieren ist ein schwieriges Unterfangen. Je weiter die Wege zum Arbeits- und Schulstandort, je weiter vorangeschritten die Bildungsabwanderung, desto desolater scheint die Situation zu sein. Wer Zeit hat, ist zu alt oder verfügt nicht über das nötige Expert*innenwissen, und wer die erforderlichen Fähigkeiten besäße, hat ein durch lange Pendlerentfernungen sehr geringes Zeitbudget. Trotz der nach wie vor bemerkenswerten Teilnehmer*innenzahlen und Bühnen im Amateurtheater verweist auch die oben zitierte Amateurtheaterstudie auf unübersehbare Herausforderungen für die Theaterszene der entlegenen ländlichen Räume: „Problematische Tendenzen sind vor allem Nachwuchsprobleme, vorherrschende kleine Einzugsgebiete, welche wenig neue Impulse von außen ankommen lassen, eher die Konzentration auf bewährte Stoffe und Formate begünstigen und dabei neue Ansätze wie beispielsweise dorf- oder generationenübergreifende Theaterarbeit tendenziell verhindern. Eine aktive Kinder- und Jugendarbeit bedarf vieler Ressourcen, welche in den ehrenamtlich geprägten Strukturen kaum vorhanden sind. Auch scheint die Aktivierung von jungen Menschen für Theaterarbeit bisher überwiegend eher in den Städten als in ländlichen Räumen zu funktionieren.“ (Götzky/Renz 2014: 41)

Und so mag es kaum verwundern, dass sich auch die Begeisterung des eingangs zitierten jungen Mannes trotz noch vorhandener breitenkultureller Angebote im

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Dorf in Grenzen hielt. Weder der Männergesangverein mit den schmucken weinroten Jacketts, noch die plattdeutsche Spöldeel mit dem Fokus auf „Schenkelklopfer“ konnten den jungen Mann zur Teilnahme begeistern. Die urbanen Angebote der kulturellen Bildungsträger*innen waren zu weit entfernt und Alternativen unbekannt.

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Der junge Mann hat schließlich doch noch seine kulturgestaltende Heimat gefunden. In Musik- und Theaterprojekten des soziokulturellen Akteurs fand er ein Umfeld, das seine Gestaltungskompetenz erweiterte und den Rahmen bot, sich gestalterisch einzubringen. Das Theater spielte für ihn und andere Jugendliche der weit verstreuten Dörfer der ländlichen Gemeinde Krummhörn dabei eine zentrale Rolle und führte sie zu zeitgemäßer Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt sowie zu prägenden Erlebnissen und Begegnungen auch über die dörfliche Welt hinaus. Um festzustellen, welche Potenziale die partizipative Soziokultur für Kinder und Jugendliche aus ländlichen Räumen aufweist und wo sie der Benachteiligung auch generationsübergreifend entgegenzuwirken versteht, lohnt es sich dort hinzuschauen, wo das Land- und Dorfleben trotz aller Zentrumsferne lebendig erscheint. Es gilt, genauer unter die Lupe zu nehmen, wie „lebendige“ Kulturarbeit jenseits urbaner Räume aussehen könnte und welche Gelingensbedingungen zu identifizieren sind. Da sind zum Beispiel … Vera und Peter Henze auf dem Hof Arbste im norddeutschen Niemandsland irgendwo bei Bremen. Der historische Backsteinhof ist inzwischen nicht nur Wohnort, sondern auch Dorfkulturzentrum. Die Tiere des Hofes sind häufig die ersten „Kontaktvermittler*innen“. Wenn der Alt-Bauer aus dem Nachbardorf am Gatter stehen bleibt, um dem stolzen Wollschweineber das Nackenfell zu kraulen, dann entwickelt sich so ganz nebenbei ein Gespräch über das, was die Qualität eines nachhaltig wirtschaftenden Lebens auf dem Land sein könnte, welche Herausforderungen es gibt und was man tun könnte. Es braucht nicht viel, um die Ideen dann auch ein Stück weit gemeinsam zu erproben. Die Kulturarbeit liefert den spielerischen Rahmen, die Dorfbewohner*innen das Lokalwissen. Der Hof wird zum Zukunftslabor. Mit Kund*innen der örtlichen Tafel, Konfirmand*innen der naheglegenen Kirchengemeinde, Dorfbewohner*innen und den Dorfhonoratior*innen spielt er Theater, ermutigt sie erfolgreich, das, was sie bewegt, auf die Bühne und

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auf die Straße zu bringen und mit ihrem künstlerischen Tun in die Öffentlichkeit hineinzuwirken. Da ist zum Beispiel … Theartic e. V., ein Verein in Emden, einer überschaubaren Stadt an der ostfriesischen Nordseeküste. Seit seiner Gründung widmen sich die engagierten Akteur*innen dort der gleichberechtigten künstlerischen Arbeit mit sogenannten Behinderten und Nichtbehinderten. Rund 120 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne geistige, körperliche und seelische Behinderungen aus verschiedenen Herkunftsländern und Lebenssituationen spielen unter professioneller Leitung Theater, singen im Chor und musizieren bei ThearticStomp, dem Percussionensemble, das mit allerlei Haushaltsobjekten musikalische Experimente wagt. Inklusion ist für Theartic und die Menschen im Umfeld des Vereins inzwischen kaum mehr bemerkenswerte Herausforderung, sondern vor allem selbstverständlich gelebter Alltag. Da ist zum Beispiel … Festland e. V., ein Verein im 70-Seelen-Dorf Klein Leppin. Entgegen aller Prognosen haben es der kleine Verein und seine engagierten Akteur*innen geschafft, ein ganzes Dorf nachhaltig zu mobilisieren, um Jahr für Jahr Opern in einem gemeinsam umgebauten Schweinestall zu inszenieren. Längst sind die Opernprojekte zur festen Dorftradition geworden, an der sich Jung und Alt beteiligen. Das Dorf und seine ungewöhnlich aktiven und experimentierfreudigen Bewohner*innen sind inzwischen längst über die Region hinaus bekannt. So viele Ideen gilt es noch zu verwirklichen – trotz allgegenwärtiger Bildungsabwanderung, steigender Armutsquote und vermeintlich hoffnungsloser Überalterung in der vom demografischen Wandel extrem geprägten Region.

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LÄNDLICHER

S OZIOKULTUR

Diese und viele andere Soziokulturakteur*innen auf dem Land vereint der Wille zu einer permanenten Suche nach einer zeitgemäße Kultur- und Theaterarbeit, die sich wertschätzend, neugierig und mit großem Engagement aufmacht, mit den Menschen vor Ort Gesellschaft immer wieder neu zu gestalten – gemeinsam mit denen, die seit eh und je dort waren, mit denen, die neu dazukommen und mit denen die „eigentlich“ gehen wollen. Als „Hofnarren“ und „Spinner“ verschrien oder als „Raumpioniere“ staunend wahrgenommen, haben sie sich kein leichtes Ziel gesetzt. Der Schlüssel zu erfolgreicher Soziokultur am Land mag dabei darin

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liegen, dass die Kulturarbeiter*innen sich nicht als diejenigen verstehen, die das „Füllhorn der (Hoch-)Kultur“ auf die vermeintlich ungebildeten Dörfler*innen ausschütten und ihnen so „zum Glück“ verhelfen. Es geht der Soziokultur um eine Kulturarbeit auf Augenhöhe, um eine Kulturarbeit, die das Kennen und sich Kümmern hochschätzt und Menschen in immer neuen Konstellationen zu gemeinsamem Kulturschaffen zusammenbringt, dabei mit kritischem Blick und einer guten Prise Humor auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen schaut und die vielfältigen Kompetenzen der Menschen vor Ort schätzt und einbezieht. Die Qualität der Arbeit bemisst sich in der Soziokultur dabei nicht an der künstlerischen Bühnentauglichkeit oder dem internationalen Ranking in künstlerischen Wettbewerben, sondern vielmehr an der – schwerer messbaren – Wirkungskraft für die jeweilige Regionalgesellschaft und deren Entwicklung.

L ITERATUR Bertelsmann-Stiftung (2016a): „Städte und Gemeinden in strukturschwachen ländlichen Räumen“, https://www.wegweiser-kommune.de/documents/10184 /33037/Demographietyp+5.pdf [aufgerufen am: 31.03.2017]. Bertelsmann-Stiftung (2016b): „Städte und Gemeinden in stark schrumpfenden Kommunen mit Anpassungsdruck“. URL: https://www.wegweiser-kommune.d e/documents/10184/33037/Demographietyp+9.pdf [aufgerufen am: 31.03.2017]. Forum für Kunst und Kultur e. V. (o. J.): „Heersumer Landschaftstheater. Mit Pauken und Trompeten in den Beeten…“. URL: http://www.forumheersum.de /Home.html [aufgerufen am: 31.03.2017]. Götzky, Doreen/Renz, Thomas (2014): Amateurtheater in Niedersachsen. Eine Studie zu Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen von Amateurtheatern. Hildesheim. URL: http://www.uni-hildesheim.de/media/presse/Breitenkultur_St udie_Amateurtheater_Uni_Hildesheim.pdf [aufgerufen am: 31.03.2017]. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.) (2015): Förderpotenziale für die kulturelle Infrastruktur sowie für kulturelle Aktivitäten in ländlichen Räumen. Bonn. Land und Kunst e. V. (2015): „Leben leben… mit und ohne… Krankheit, Arbeit, Geld und Handicap“. In: Stiftung Niedersachsen (Hg.): Handbuch Soziokultur. Hannover, S. 27-38. Lehnschulzenhofbühne Viesen e. V. (o. J.): „Deine irre Leere“. URL: http://www. lehnschulzenhofbuehne.de/aktuell.html [aufgerufen am: 31.03.2017]. Oncken, Onno/Ewen, Eske (2008): „Schaf rechts – Kein Spiel“. In: Ländliche Akademie Krummhörn e. V. (Hg.): Kultur auf dem Lande 2008. Krummhörn, S. 50-51.

L AND

IN

S ICHT

MIT

S OZIOKULTUR

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Schneider, Wolfgang (Hg.) (2014): Weißbuch Breitenkultur. Kulturpolitische Kartografie eines gesellschaftlichen Phänomens am Beispiel des Landes Niedersachsen. Hildesheim. Stiftung Niedersachsen (Hg.) (2015): Handbuch Soziokultur – mit Projekten aus Niedersachsen. Hannover.

Unsere Museen Mit Museum macht stark sehen lernen und die Welt entdecken J OHANNA B EATE L OHFF IM

G ESPRÄCH MIT A NNA E ITZEROTH

Sie sind seit 2014 für die Museen der Stadt Recklinghausen im Projekt Museum macht stark aktiv. Wie sind Projekte im Rahmen von Museum macht stark aufgebaut und wie wird das Konzept in Recklinghausen umgesetzt?

Das Programm von Museum macht stark sieht fünf Schritte vor, die allen Projekteinheiten zugrunde liegen. Die Schritte beginnen mit einem museumspädagogischen Outreach, d. h. wir gehen zu den Kooperationspartner*innen in den Sozialraum, um die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten wollen, zu gewinnen. Museum macht stark verfolgt einen Peer-Education Ansatz, d. h. wir bilden in Schritt zwei eine Gruppe von sogenannten Peer-Teamer*innen aus, die im dritten Schritt ihr Wissen und ihre Eindrücke an die Peers weitervermitteln. Die PeerTeamer*innen werden zunächst in musealen und medialen Workshops ausgebildet. Wir arbeiten mit ihnen theoretisch und praktisch im Museum. Anschließend vermitteln sie ihr Wissen und ihren Zugang zum Museum. Schritt vier sieht eine öffentliche Präsentation des Projektes im Museum vor und im fünften Schritt wird das Projekt ausgewertet und veröffentlicht. Den Projekten in Recklinghausen liegt also immer diese Struktur zugrunde, aber die Inhalte sind ganz unterschiedlich. In jeder Maßnahme kommen auch neue Teilnehmer*innen hinzu, das heißt wir sprechen immer wieder neue Peer-Teamer*innen und Peers an und arbeiten mit unterschiedlichen Altersgruppen zusammen. Wir als Team lernen immer neu dazu, aber die Maßnahmen sind voneinander getrennt.

212 | J OHANNA B EATE L OHFF Museum macht stark findet im Rahmen von Kultur macht stark statt und richtet sich an Kinder und Jugendliche, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind – wie nehmen diese Zielgruppen Ihrer Erfahrung nach Museum als Institution wahr, wenn sie noch kein Projekt gemacht haben?

Die meisten Kinder und Jugendlichen waren tatsächlich vorher noch nicht in einem Museum. Diejenigen, die wir mit unseren Projekten erreichen, sind größtenteils unvoreingenommen. Sie schauen sich das Museum an, und fragen sich: „Was erwartet mich da?“ Wir haben natürlich immer den einen oder die andere dabei, der oder die mit dem Vorurteil zu uns kommt, Museum sei langweilig, aber das sind die wenigsten. Wie gehen Sie vor, um Teilnehmer*innen für ein Projekt im Outreach zu gewinnen?

Meine Kollegin, SARIDI./Sabine Riedel-Dieckmann, und ich gehen in die Institutionen zu unseren Kooperationspartner*innen, d. h. wir sind in Schulen und in Jugendzentren unterwegs und nehmen Postkarten, Anmeldungen und Elternbriefe mit, in denen das Projekt beschrieben ist. Wir hatten schon einmal Anschauungsmaterial dabei, z. B. eine Ikone, um zu zeigen, was eine Ikone überhaupt ist. Wir stellen das Projekt vor, sprechen mit den Kindern, Lehrer*innen und Betreuer*innen und fragen die Kinder, ob sie sich vorstellen können mitzumachen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, dass man mit den Menschen, die den direkten Bezug zu den Kindern haben, gut zusammenarbeiten kann. Sie können unterstützen und haben schon vorher im Blick, für wen das Projekt etwas sein könnte und wen man hiermit vielleicht sogar besonders fördern kann. In welchem Verhältnis steht das „Selbermachen“ und die Rezeption im Projekt, wenn Sie in den nächsten Schritt gehen?

Das „Selbermachen“ ist natürlich ganz wichtig. Wenn die Kinder oder die Jugendlichen noch nicht im Museum waren, dann muss man schon zunächst sicherstellen, dass sie wissen, was sie im Museum dürfen und worauf sie achten müssen. Wir beginnen mit einer allgemeinen Einführung in das Museum, damit sie den Ort erfassen, der sie erwartet, und dann schicken wir die Kinder bzw. Jugendlichen los. Sie erkunden das Museum zunächst selbstständig in dem Bereich, in dem sich jede Besucherin und jeder Besucher frei bewegen dürfen. Meist unterstützen wir dies mit einer Rallye oder mit bestimmten Aufgaben, die wir je nach Altersgruppe variieren. Nach und nach lernen sie das Museum „von Kopf bis Fuß“ kennen und schauen hinter die Kulissen. Alle Räumlichkeiten vom Keller bis unter das Dach und alle Mitarbeiter*innen sollten ihnen nach dem Projekt vertraut sein.

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Im musealen Workshop vermitteln wir dann Inhalte zu den einzelnen Werken, zur Sammlung oder Ausstellung, wobei die Peer-Teamer*innen die Inhalte mitbestimmen. Wir stellen uns jeweils darauf ein, was die Peer-Teamer*innen interessiert und sie suchen sich aus dem, was wir ihnen vermitteln, einen eigenen Schwerpunkt aus. Bei dem einen ist es die Künstlerin oder der Künstler, bei der anderen das Sujet. Im Institut für Stadtgeschichte hat sich beispielsweise ein Junge besonders für Technik interessiert. Er hat sich dann die Messgeräte aus dem Bergbau ausgesucht, mit denen man z. B. den Metangehalt im Streb gemessen hat. Außerdem hat er den Peers ein naives Gemälde vorgestellt, das eine Bergarbeiterkapelle zeigt. Auf dem Bild steht „Glück auf“, da kann man es schon erraten, er war Schalke-Fan. Auf Schalke wird ja „Glück auf, Glück auf“ heute noch gesungen, und so sind wir vom Fußball zur Regionalgeschichte gekommen. Wir hatten eine muslimische Teilnehmerin dabei, die sich sehr für Religion und religiöse Inhalte interessiert hat. Im Ikonen-Museum hat sie sich Christusikonen ausgesucht, weil Christus auch im Koran vorkommt, nicht als Sohn Gottes, sondern als Prophet. Welche Rolle spielt das Selbst-künstlerisch-tätig-Werden in den Projekten?

Nach dem Erkunden des Museums gibt es mediale Workshops, in dem die Teamer*innen praktisch arbeiten und ein Museumsporträt entwickeln. Das Museumsporträt variiert bei uns je nach Maßnahme. In Maßnahme eins waren wir im Institut für Stadtgeschichte, das ist ein Zusammenschluss des ehemaligen Vestischen Museums zur Geschichte Recklinghausens mit dem Kommunalarchiv. Das Museum, jetzt Retro-Station genannt, befand sich noch im Umbau. Die Peer-Teamer*innen haben den Raum zum Thema Zuwanderung mitgestaltet, indem sie Interviews mit Zuwanderern geführt haben. Die Tonaufnahmen sind nun in der Dauerausstellung fest verankert. In Maßnahme zwei waren wir im Ikonen-Museum und haben mit den PeerTeamer*innen die Sonderausstellung „Wunder des Lichts“ zu bulgarischen Ikonen erkundet. Entstanden ist daraus ein Dokumentarfilm, an dem die Peer-Teamer*innen mitgewirkt haben. Von dem beteiligten Dokumentarfilmer haben sie die Grundtechniken des Films erlernt. In Maßnahme drei waren wir in der Kunsthalle und haben uns mit einem Teil der Sammlung der Kunsthalle Recklinghausen und des Kunstmuseums Bochums beschäftigt, die in einer Gemeinschaftsausstellung gezeigt wurde. Beide Museen besitzen moderne und zeitgenössische Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Peer-Teamer*innen haben ausgehend von dem, was sie für die Führungen für

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Peers entwickelt haben, Texte geschrieben. Daraus ist ein Katalog zur Ausstellung entstanden. In Maßnahme vier haben wir uns der Kunst im öffentlichen Raum zugewandt und das Museum nach draußen verlagert. Wir haben einen Stadtplan mit QRCodes erstellt, die auf die Homepage der Kunsthalle verweisen. Auch hier haben die Peer-Teamer*innen die Texte zu den Kunstwerken geschrieben. Mit den Peers haben sie dann Stadtführungen mit dem Stadtplan gemacht. In den Maßnahmen fünf und sechs haben wir den Trickfilm für uns entdeckt. Die Peer-Teamer*innen erstellen zu einer von ihnen ausgesuchten Ikone aus dem Ikonen-Museum einen Trickfilm. Das hat tatsächlich sehr gut geklappt. In Maßnahme fünf haben wir uns mit der Sonderausstellung zum Thema „Von Drachenkämpfern und anderen Helden. Kriegerheilige auf Ikonen“ beschäftigt. Jetzt sind wir in der Sammlung unterwegs. Das praktische Umsetzen spielt mindestens die gleiche Rolle wie das Erarbeiten von Museumsinhalten. An welchen Punkten im Projekt können die Teilnehmer*innen ihre Interessen einbringen.

Wie angedeutet, bestimmen die Teilnehmer*innen viele Inhalte selbst, z. B. mit welchen Werken sie sich auseinandersetzen wollen. Auch in der Beantwortung von Fragen sind wir natürlich sehr offen – da kann es schon einmal sein, dass man vor der Ikone des Hl. Georg lange über Drachen diskutiert. Beim ersten Projekt im Ikonen-Museum waren wir überrascht, weil Werke ausgesucht wurden, die sonst weniger im Mittelpunkt der Sammlung stehen. Die Kinder haben teilweise einen ganz eigenen Blick, im Museum sind ja viele Ausstellungsstücke zu sehen. Ganz frei in der Entscheidung sind wir jedoch nicht. Zum einen ist die Struktur durch das Fünf-Schritte-Modell vorgegeben, zum anderen haben wir vorher eine Vorstellung davon, wie das Museumsporträt aussehen soll. Je nachdem, ob wir einen Trickfilm oder einen Ausstellungskatalog, einen Stadtplan mit QR-Codes oder ein Oral History-Projekt umsetzen, müssen Materialien beschafft und Fachreferent*innen eingeladen werden. Dies setzt natürlich Planung voraus. Was begeistert die Kinder und Jugendlichen, die Peer-Teamer*in werden, am Museum?

Zum einen, dass sie etwas Neues lernen und entdecken und dass sie selbst mitbestimmen können. Das ist ein anderes Lernen als in der Schule. Es ist zwar ein Lernen und manchmal auch anstrengend, aber es ist vor allem ein außerschulisches Projekt, dass Spaß machen und Interesse an Kultur wecken soll. Zum anderen gefällt den Teamer*innen, dass sie neue Leute kennen lernen und zum Teil auch Freunde finden. Es ist schön, zu sehen, wie die Gruppe von Kindern und Jugendlichen zusammenwächst.

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Wie werden Peer-Teamer*innen ausgebildet und was sind ihre Tätigkeiten?

Nachdem sie das Museum erkundet haben, geht es in die klassische Inhaltsvermittlung und die Vorbereitung auf die Führungen. In einigen Projekten lag der Schwerpunkt der Teamer*innen eher auf der Führung, in anderen eher auf dem Museumsporträt. Wir können für beide Einheiten – der musealen und der medialen Kompetenzvermittlung – jeweils Fachreferent*innen hinzuziehen. Wir hatten Workshops zum Thema Porträtfotografie, Fotografieren von Kunstwerken, Schreibwerkstätten, Mal- und Bildhauerworkshops, also praktisches Arbeiten, je nachdem welches Thema die Peer-Teamer*innen bearbeitet haben. Im aktuellen Projekt hatten wir eine Trickfilmreferentin dabei, die eine Einführung in den Legetrick gemacht hat. Das, was die Kinder hierbei lernen, vermitteln sie auch an die Peers weiter. Die Führungen werden nun durch einen Trickfilmworkshop von Kindern für Kinder erweitert. Ist das eine der größten Herausforderungen für die Peer-Teamer*innen?

Die Hemmschwelle vor neuen oder bekannten Gesichtern zu sprechen, ist schon groß. Man hat sich im Team eingefunden und etwas zusammen auf die Beine gestellt, dann kommen die Peers dazu. Selbst in der Vermittlerrolle zu sein, ist eine Herausforderung. Wir üben das vorher. Inzwischen arbeiten wir mit dem Schauspieler Christian Bo Salle zusammen, der mit Hilfe von Theatertechniken die Teamer*innen auf die Führungen vorbereitet. Er gibt ihnen auch Strategien an die Hand, Lampenfieber zu bewältigen. Es ist schön zu sehen, wie sie mit jeder Führung sicherer werden und sie zusätzliche Aspekte anbringen können. Bislang hatten wir in den Projekten immer eine große Auswahl an Werken, mit denen wir uns befasst haben, jede und jeder war einmal dran. Jetzt brauchen wir mehr Zeit für den Trickfilm und haben uns in den letzten beiden Maßnahmen ganz intensiv gemeinschaftlich mit nur wenigen Ikonen befasst. Beim Drachenkämpfer-Projekt mussten wir überlegen, wie man ein kleinformatiges Bild vor einer großen Gruppe präsentieren kann. Die Teamer*innen haben die Legende als lebendes Bild nacherzählt und nachgestellt. Das konnten wir auch mit dem Schauspieler üben. Sind die Peers gleichaltrige Kinder und Jugendliche aus dem Umfeld der Peer-Teamer*innen oder kommen sie aus anderen Kontexten?

Die Peers sind aus dem Umfeld unserer Teamer*innen, sie gehen teilweise auf die gleichen Schulen und wohnen in der Nachbarschaft. Einige kennen sich aus den Jugendzentren. Wir sind dazu übergegangen, etwas jüngere Peers einzuladen, weil es doch einfacher ist, an Teilnehmer*innen zu vermitteln, die ein bisschen jünger sind als man selbst.

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Unsere Peer-Teamer*innen haben natürlich einen Wissensvorsprung. Als erstes erklären sie ihren Peers die Museumsregeln und wie man sich im Museum verhält. Dann legen sie mit ihrer Führung los. Wie reagiert das junge Museumspublikum darauf, wenn es von gleichaltrigen oder ein bisschen älteren Peer-Teamer*innen durch das Museum geführt wird?

Die Peers sind meistens auch zum ersten Mal im Museum. Sie tauen dann nach und nach auf und stellen viele Fragen, auch solche, auf die man als Erwachsene bzw. Erwachsener nicht sofort kommt, wie z. B. nach den Rauchmeldern an der Decke und was man im Museum noch alles sieht. Es gibt natürlich den einen oder die andere, der bzw. die sagt, Museum ist trotzdem nichts für mich, aber viele sind wirklich aufgeschlossen und interessiert. Im laufenden Projekt haben wir z. B. eine Peer-Teamerin, die in der letzten Maßnahme Peer war und sagte, das wolle sie unbedingt auch machen. Sie ist jetzt intensiv dabei. Welche Impulse und Ideen werden von den Peer-Teamer*innen ins Museum bzw. in den Museumsbetrieb eingebracht? Wie reagieren Museumsmitarbeiter*innen auf die Peer-Teamer*innen?

Inzwischen kennen die Mitarbeiter*innen die Projekte und sind diesbezüglich sehr aufgeschlossen. Der Direktor der Museen und die leitenden Kustod*innen unterstützen das Projekt, aber auch die nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter*innen helfen in der praktischen Umsetzung mit. Eine Verwaltungsmitarbeiterin aus dem Ikonen-Museum hat letztens eine „Geheimtür-Führung“ für die Teamer*innen gemacht und die Kammern im Museum gezeigt, die man als Besucher*in nicht sieht. Auch das Aufsichtspersonal ist gegenüber der Bande, die sich im Museum frei bewegen darf, sehr offen geworden. Auf der Ebene der leitenden Kustod*innen ist die Frage danach, wie man das pädagogische Angebot erweitern könnte, natürlich auch angekommen. Wenn die erste Förderrunde von Kultur macht stark ausläuft, werden wir hoffentlich Konzepte entwickeln können. Welche Zugangsbarrieren verhindern im Museum kulturelle Teilhabe für Kinder, Jugendliche und Familien?

Bei uns ist es tatsächlich zum einen eine räumliche Entfernung. Die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir zusammenarbeiten, finden wir eher im Süden der Stadt, während die Museen im Zentrum liegen. Zum anderen ist es in den Familien nicht selbstverständlich, mal eben in ein Museum zu gehen und zu gucken, was da los ist. Wir haben im Ikonen-Museum zudem einen relativ hohen Anteil an muslimischen Peer-Teamer*innen. Es ist heute nicht selbstverständlich, dass sie

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sich im Museum mit christlich-orthodoxen Bildinhalten als Teil einer Kulturellen Bildung auseinandersetzen, und es ist toll, dass sie sich darauf einlassen. Haben Sie das Gefühl, dass durch das Museumserlebnis der Peers oder das intensive Museumserlebnis der Peer-Teamer*innen ein nachhaltiger Weg ins Museum geschaffen wird?

Bei den Peer-Teamer*innen denke ich das schon. Vielen von ihnen haben wir eine neue Perspektive eröffnet, ein sicherlich unvergessliches Erlebnis. Bei Kindern und Jugendlichen kann man sagen: Je öfter man sie erreicht, desto besser ist es. Je jünger die Kinder sind, desto einfacher ist es, dass die Eltern auch ins Museum kommen und sich angucken, was ihre Kinder da gemacht haben. Die Jugendlichen sind da autarker und die Ebene der Gleichaltrigen ist oft viel wichtiger. Die Eltern zu erreichen, ist dann eine Arbeitseinheit für sich. Auch an ihnen liegt es, wie nachhaltig sich Museumsbesuche gestalten. Viele Museen möchten gerne ein Publikum erreichen, das die Diversität der Gesellschaft widerspiegelt. Welche Strategien würden Sie dafür empfehlen?

Meines Erachtens ist das Kooperationsmodell von Kultur macht stark unersetzlich für das Erreichen der Zielgruppe. Über die Zusammenarbeit mit anderen Bildungsinstitutionen kann man für die Kinder und Jugendlichen Programme entwerfen, die Museen für sie zu selbstverständlichen Bildungsorten werden lassen. Ein Plakat zu drucken oder ein Angebot anzubieten, ohne sie direkt anzusprechen, wird nicht reichen. Wenn die Kulturinstitutionen Kinder und Jugendliche, die ansonsten keinen Zugang zu Museen haben, dauerhaft erreichen wollen, müssen Strukturen geschaffen werden, in denen persönliche Kontakte aufgebaut und gehalten werden können. Inwieweit die Ergebnisse von Kultur macht stark weiterentwickelt werden können, ist von Museum zu Museum unterschiedlich und hängt stark mit Finanzierungsfragen zusammen. Beispielsweise sind die Erstattung von Fahrtkosten und die Verpflegung für die Kinder auf jeden Fall notwendige Ausgaben, ohne die das Projekt nicht hätte stattfinden können. Ob und wie Personal für diesbezügliche museumspädagogische Angebote dauerhaft finanziert werden kann, ist noch eine ganz andere Frage. Was ist Ihre Vision für mehr kulturelle Teilhabe in einem Museum der Zukunft?

Ein Museum sollte ein ganz selbstverständlicher Ort im kulturellen Leben aller sein. Für die Museen bedeutete dies, sich weiter mit Schulen und anderen Kulturinstitutionen zu vernetzen, noch viel mehr ein Bildungsort für alle Kinder und Ju-

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gendlichen zu werden, in dem außerschulische aber auch schulische Inhalte vermittelt werden können. Dabei dürfen die Museen natürlich alle anderen Zielgruppen und auch das wissenschaftliche Fachpublikum nicht vergessen – es muss ebenso wichtig bleiben, anhand von Ausstellungen Fachfragen zu thematisieren, die möglicherweise nur einen kleinen Expert*innenkreis direkt ansprechen. Umgekehrt sollte jeder wissen, wo sich „sein“ Museum befindet, man kann reingehen und schauen, was gerade los ist oder nur sein Lieblingsbild ansehen. Es sollte zur Selbstverständlichkeit werden, ins Museum genauso wie ins Theater, ins Konzert oder ins Kino zu gehen und zu wissen, was hinter den Türen steckt. Dies dürfte für die Einzelne oder den Einzelnen natürlich nicht jedes Mal mit finanziellen Barrieren oder viel Planung verbunden sein, sondern es sollte für jeden möglich sein, ein Museumsbesuch in sein alltägliches Leben einzubinden, auch wenn er nur ganz kurz ist.

Bündnisse für musikalische Bildung Wege zur Musik im Programm der Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände L ORENZ O VERBECK

Die Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände e. V. (BDO) ist der Dachverband des in der Regel vereinsgetragenen Amateurmusizierens in Deutschland. Die Mitgliedsverbände decken alle Instrumentalsparten von A wie Akkordeon bis Z wie Zither ab und sind jeweils in der Regel über Landes-, Bezirks- und Kreisverbände komplett ehrenamtlich getragen. Die Musikvereine sind übrigens nicht nur als Orte der Musikpflege zu verstehen, sondern auch als Institutionen sozialer und kommunikativer Repräsentanz. Die aus dem Theaterbereich bekannten klassischen Sinfonieorchester machen mit ca. 3% der ca. 35.000 Ensembles einen geringen Teil aus. Die Masse stellen hauptsächlich die Bereiche Blas- und Spielleutemusik (42%) sowie Posaunenchöre (17%). Dabei ist jede Sparte in sich von einer reichen Vielfalt geprägt – nicht nur besetzungstechnisch, sondern auch von der Zielsetzung her, die von traditionsbewusstem Auftreten bis hin zur Avantgarde reicht. Die BDO fühlt sich zudem für die Interessen der Ensembles zuständig, die evtl. außerhalb von vereinsgetragenen Strukturen arbeiten wie z. B. Garagenbands oder Projektorchester für Oratorienchöre. Die BDO sieht das Förderprogramm Kultur macht stark als große Chance, neue Zielgruppen für die Vereine zu öffnen und diesen niedrigschwellige Zugänge zum Musizieren zu eröffnen. Nicht zuletzt ist hierdurch die Durchführung auch an Orten möglich, die eventuell nicht über die eher in verstädterten Gebieten vorhandenen Ressourcen wie Jugendämter, Stadtteiltreffs oder Sozialarbeiter*innen verfügen. Schließlich sind die Musikvereine in Deutschland insbesondere im ländlichen Raum stark vertreten und dort in der Gesellschaft verwurzelt. Sie gestalten nicht nur das Leben vor Ort mit, sondern bieten als Trägerinnen außerschulischer

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Bildung den Kindern und Jugendlichen gleichzeitig Möglichkeiten, abseits des gewohnten Lernortes Schule neue Erfahrungen zu sammeln. Die BDO hat sich daher für ein Konzept aus sieben Maßnahmentypen entschieden, die jeweils klare Vorgaben bzgl. Inhalte, Zahl und Alter der Teilnehmer*innen sowie den zur Verfügung stehenden Mitteln hatten. Auf diese Weise sollte den Ehrenamtlichen die Antragstellung in einem Baukastensystem mit klaren inhaltlichen Vorgaben möglichst einfach gemacht werden. Dabei wurde Wert daraufgelegt, dass sich die Konzepte bereits fachlich bewährt hatten. So baut z. B. das Maßnahmenformat Nr. 1 „Rhythmik“ auf dem pädagogischen Konzept von Rolf Grillos Rhythmusspiele der Welt auf, einem Lehrbuch, welches auf der Musikmesse in Frankfurt mit dem Deutschen Musikeditionspreis „Best Edition“ 2012 ausgezeichnet wurde. Das Buch folgt dem Motto: „Spielen ist eine grundlegende menschliche Aktivität, die Energie freisetzt, in der der Mensch seine Fähigkeiten und sich selbst dabei entdeckt.“1 Fünf Themenschwerpunkte (Bewegungsspiele, Singen und Sprechen, Arbeit mit Materialien, sportliche und tänzerische Bewegung und grundlegende Rhythmusarbeit) werden systematisch abgearbeitet und in sich schlüssig als ein Modul aufgebaut. Dieses Maßnahmenformat bietet damit einen niedrigschwelligen Basiseinstieg: Zum Klatschen und Stampfen wird kein Instrument benötigt und der Einstieg erfolgt spielerisch und dabei immer in der Gruppe. Über die verschiedenen Spielmodelle werden hauptsächlich Rhythmusempfinden und Koordination trainiert, aber auch soziales Erleben von Gemeinschaft spielerisch gefördert. Ebenso niedrigschwellig setzt das Konzept Nr. 2 „Instrumente stellen sich vor“ an: Den Kindern und Jugendlichen soll zunächst einmal erklärt werden, welche Instrumente es überhaupt gibt. Und dann sollen alle die Möglichkeit erhaben, selbst einmal jedes Instrument auszuprobieren. Durch die fachliche Anleitung zum Hervorbringen eines Tones wird ein Erfolgserlebnis erzeugt, welches eventuelle Berührungsängste abbaut und das Selbstwertgefühl stärkt. Oft lernen Kinder unbekannte Instrumente wie eine Mandoline kennen oder finden heraus, dass bei einer Geige sehr viel dazu gehört, einen (schönen) Ton zu erzeugen. Das Konzept Nr. 2 ist vor allem dazu gedacht, dass sich die Zielgruppe über einen längeren Zeitraum mit verschiedenen Instrumenten auseinandersetzen kann, damit für den Fall einer längerfristigen Wahl eines Instruments diese auf einer besseren Basis getroffen und damit für eine höhere Motivation beim späteren Erlernen des Instruments gesorgt werden kann.

1

So eine Aussage Rolf Grillos in einem Ausbildungskurs zum Rhythmus-Spielpädagogen nach Rolf Grillo, während eines Gespräches über seine Arbeit im Februar 2012.

B ÜNDNISSE FÜR

MUSIKALISCHE

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An dieser Stelle setzt dann das Maßnahmenformat Nr. 3 „Gruppenmusizieren“ an, welches mit am häufigsten beantragt und gefördert wurde. Dabei werden Kinder altersgerecht an verschiedene Instrumente herangeführt und erleben gleichzeitig das Orchesterspiel von Anfang an im Verbund. Das ist natürlich ein hochkomplexes didaktisches Unterfangen, aber die unzähligen in Deutschland musizierenden Klassenverbünde bestätigen das Konzept eindrücklich. Dabei werden neben den instrumentenspezifischen Fähigkeiten vor allem soziale Kompetenzen vermittelt, die aus der im Orchester einzigartig erlebbaren Symbiose aus Gemeinschaft und Einzelkönnen hervorgehen. So setzt gemeinsames Musizieren zwangsläufig erfolgreiches Kommunizieren voraus. Kommunikative Prozesse werden beim Musizieren geübt: erst die „Sprache“ Musik (Fertigkeiten), dann der Stil (Lautstärke, Dynamik, auf die Kommunikationspartner*innen hören etc.). Ähnlich wie im Sport erfährt die Zielgruppe dabei, dass eine Gruppe höchstens so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Ohne Rücksichtnahme und gegenseitige Unterstützung kann daher kein gemeinsames Musizieren stattfinden. Jedes Mitglied findet seinen Platz in der Gruppe und entwickelt instinktiv die Fähigkeit, eigene Stärken und die Stärken anderer zu nutzen bzw. deren Schwächen zu kompensieren. Einen anderen gruppenbezogenen Ansatz fährt insbesondere das Konzept Nr. 4 „Musical“. Im Rahmen eines fünftägigen Ferienprojektes studieren Kinder und Jugendliche dabei ein Werk wie z. B. „Ritter Rost“ oder die „Götterolympiade“ ein und führen es zum Abschluss auf. Dabei müssen in fünf Tagen nicht nur die Texte und Songs einstudiert, sondern auch Kostüme und Kulissen angefertigt sowie Regieanweisungen und Choreografien erarbeitet werden. Aufgelockert wird die intensive Arbeit durch gemeinsame Freizeitgestaltungen wie Fackelwanderungen, Schatzsuchen oder Rätselspiele. Die Kinder und Jugendlichen der Zielgruppe sind dabei gemeinsam in z. B. einer Jugendherberge untergebracht und können sich in einer neuen Gruppe in unzähligen spielerischen Situationen ausprobieren und gemeinsam am großen Ziel der Abschlussaufführung arbeiten. Regelmäßig sind insbesondere die Eltern fassungslos, wenn sie erleben, was ihre eigenen Kinder in so wenig Zeit mit so viel Spaß auf die Beine stellen können. In allen diesen Maßnahmen finden die Kinder und Jugendlichen aber nicht nur den Weg zur Musik, sondern auch zu ihrer eigenen Persönlichkeit: Musik selber auszuüben bedeutet beispielsweise auch zu lernen, sich selbst auszudrücken, mit anderen zu kommunizieren oder sein eigenes Handeln selbstkritisch zu hinterfragen. Beim eigenen Musizieren auch anderen zuzuhören, zu erkennen was um einen herum geschieht und erklingt und ggf. darauf zu reagieren, stellt eine wunderbare und absolut niedrigschwellige Übung dafür dar, sich selbst als aktives Element einer Gruppe zu erfahren. Auf diese und viele andere Weisen wird eine ei-

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genständige Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit gefördert, die wiederum neue Wege ermöglicht. Zusätzlich erlebt die Zielgruppe auch das ehrenamtliche Engagement der Organisierenden. In vielen Bündnissen werden die musikalischen Auftritte in Konzerte oder Feste des Gesamtvereins eingebunden. Es gibt Fahrdienste, Spieleabende oder gemeinsame Ausflüge. Mit anderen Worten: Die Zielgruppe erlebt eine soziale Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch das gemeinsame aktive Musizieren verbunden ist. Gibt es typische Bündnispartner*innen?

Die Vorgaben für die Auswahl der Bündnispartner*innen waren relativ weit gefasst. Bei einem Großteil der Bündnisse waren Schulen beteiligt, die in den meisten Fällen auch für den Zielgruppenzugang zuständig waren – oft zur Sicherstellung der pädagogischen Betreuung, aber auch, weil insbesondere in Grundschulen die Zielgruppe leichter identifiziert und angesprochen werden konnte. Ebenso waren überproportional oft Musikschulen beteiligt, welche Instrumentarium, Räumlichkeiten oder inhaltliche Beratung zur Verfügung stellten. Mit etwas Abstand, aber immer noch häufig, waren auch Kommunen selbst an den Bündnissen beteiligt – oft in kleinen Orten, in denen die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister zu den wenigen hauptamtlichen Kräften einer Gemeinde gehört –, aber auch Jugendämter oder Kulturzentren in sozialen Brennpunkten größerer Gemeinden und Städte. Inwiefern spielt auch die Rezeption von Musik eine Rolle in den Bündnissen?

Die geistige Verarbeitung von Musik erfolgt automatisch bei der Herstellung ebenjener Musik, gerade in der Gruppe mit mehreren Stimmen, Melodien und Rhythmen. Hauptsächlich wurde eine performative Rezeption im Sinne des eigenen Musizierens ausgeübt. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Werkgedanke, also die Abschlussaufführung, in den wenigsten Fällen im Vordergrund der Maßnahme stand. Es ging vielmehr um die Vermittlung von instrumentenspezifischen Fähigkeiten und den bereits beschriebenen persönlichkeitsbildenden Aspekten des gemeinsamen Musizierens. In reflexiver Hinsicht erlebten die Kinder und Jugendlichen in vielen Maßnahmen über die Konzerte, in die z. B. ihre eigenen Veranstaltungen eingebunden waren, auch, was Gleichaltrige oder schon länger Musizierende darbieten können. Der Schwerpunkt des BDO-Konzepts lag sehr deutlich auf dem Aspekt des „Musikmachens“ und sich und den anderen dabei gleichzeitig zuzuhören. Musik zu hören – ob bewusst oder unbewusst – ist ein relativ selbstverständlicher Teil der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen und bedurfte aus BDO-Sicht zunächst keiner niedrigschwelligen Zugänge. Dabei

B ÜNDNISSE FÜR

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knüpfen die Maßnahmenformate nicht automatisch an diesen Erfahrungen an. Zunächst ging es darum, den Zugang zum Musizieren niedrigschwellig und nachhaltig anbieten zu können. Viele Formate waren natürlich in der Auswahl der jeweiligen Literatur frei und konnten auch aktuelle Hits oder Medleys interpretieren. Insbesondere beim Maßnahmenformat Nr. 5 „Notenschrift“ sollten bei der Vermittlung zur Motivation sowohl Lieder aus den aktuellen Hitlisten als auch traditionelle Volkslieder dienen. Über die genaue Umsetzung in den Bündnissen liegen aber kaum Erkenntnisse vor. Inwiefern können die Teilnehmer*innen im Projektverlauf mitgestalten und mitbestimmen?

Bei der „Maßnahme 1: Rhythmik“ besteht ein großer Teil der empfohlenen Lehrwerke aus sogenannten Rhythmusspielen, die von den Teilnehmer*innen selbst ausgestaltet werden können. Das heißt, es werden einfach verständliche Spielregeln definiert wie z. B.: Immer wenn die Person links von mir einen bestimmten Rhythmus trommelt, muss ich ihn zunächst wiederholen und dann etwas anderes trommeln. Auch bei der „Maßnahme 2: Instrumente stellen sich vor“ können die Teilnehmer*innen sich selbst aussuchen, welche Instrumente sie ausprobieren und welche Fragen sie ggf. stellen wollen. In Musical-Produktionen (Maßnahme 4) haben sie ihre Dialoge selbst geschrieben oder sich die entsprechenden Regieanweisungen überlegt. Hier hing viel von den vor Ort eingesetzten Pädagog*innen und Betreuer*innen und den jeweiligen Gegebenheiten ab. Eine Mitgestaltung durch die Teilnehmer*innen ist dann umso mehr möglich, desto höher die instrumentenspezifischen Fähigkeiten einzustufen sind. Da aber in erster Linie wirklich absolut niedrigschwellige Zugänge geschaffen werden sollten, wurde zum inhaltlichen Mitgestalten zunächst nicht gesondert angeregt – dies wäre aber eine interessante Aufgabe für Anschlussmaßnahmen. Wo gibt es noch Raum für mehr Partizipation?

Grundsätzlich sollten die Kinder und Jugendlichen bereits in der Phase der Konzept- und Antragsstellung beteiligt werden können. Auf diese Weise würde eine noch größere Identifikation mit den Maßnahmen stattfinden. Allerdings ist eine solche Umsetzung nur realistisch, wenn es sich dabei um Anschlussmaßnahmen handelt. Bei Neu-Anträgen wäre der Prozess – zumindest in der aktuellen Förderphase – hierfür zu komplex. Bereits erfolgreiche partizipative Ansätze finden sich vor allem im Format „Musical“, bei dem die Kinder und Jugendlichen sich jederzeit z. B. bei den Choreografien oder Textänderungen mit eigenen Vorschlägen einbringen können.

224 | L ORENZ O VERBECK Welche Rolle spielen gruppendynamische Prozesse in den Projekten?

Insbesondere bei der Musical-Produktion war die gemeinsame Freizeitgestaltung ein ausdrücklicher Bestandteil der Maßnahmenkonzeption. Hintergrund ist die Überzeugung, dass jede und jeder seine eigenen Stärken und Fähigkeiten in eine Gruppe einbringen kann, wenn dies nur oft genug spielerisch geübt wird. Die gemeinsame Freizeitgestaltung mit z. B. Bootsausflügen, Schnitzeljagden oder Vorleseabenden führt dazu, dass für alle Teilnehmer*innen positive Erfahrungen möglich sind. Da die Teilnehmer*innen sich allerdings vorher untereinander nicht immer kennen und auch den Organisator*innen nicht bekannt sind, ist es eine hohe Anforderung an die Pädagog*innen, die sich in kürzester Zeit in ihre Schützlinge hineinfühlen müssen. Viele durchgeführte Maßnahmen berichten von regelmäßigen Dozent*innenrunden, bei dem auf die Beobachtungen und Gefühlsagen der Teilnehmer*innen eingegangen und steuernd eingegriffen wurde. Beim Maßnahmentyp 3 (Gruppenmusizieren) hingegen konnten gruppendynamische Prozesse aufgrund der komplexen didaktischen Situation nicht gesondert behandelt werden. Welche Reibungspunkte und Differenzen entstehen zwischen Bündnis und Teilnehmer*innen?

Hier sind keine systematischen Probleme bekannt. Natürlich gibt es Spannungsverhältnisse bei heterogenen Gruppen, was die individuellen Fortschritte angeht. Auch gehören bei der gewünschten Zielgruppe die Disziplin in der Gemeinschaft und das regelmäßige Erscheinen oft zu kritischen Aspekten. Allerdings hat sich gezeigt, dass z. B. das Mitgeben der geliehenen Instrumente zum Üben nach Hause überall unproblematisch verlief. Interessanterweise berichtet kein einziges Bündnis, dass die Auswahl der Literatur zu größeren Diskussionen oder Reibungen geführt hat. Die Teilnehmer*innen haben auch mit großer Begeisterung Werke aus Epochen musiziert, die nicht mit der von Ihnen bisher konsumierten Musik übereinstimmen. Da gleichzeitig die stilistische Vielfalt in allen Sparten ungeheuer hoch ist und z. B. in ein und derselben Maßnahme sowohl Alte Musik als auch James-Bond-Medleys und ein Arrangement von Lady Gaga’s Pokerface musiziert wurde, haben die Kinder und Jugendlichen vor allem gelernt, dass das Instrument selber ihnen keine Grenzen bzgl. der Literaturauswahl setzt. Theater und Museum ist für Kinder und Jugendliche oft weit weg – Musik hört eigentlich jeder. Inwiefern setzen die Projekte bei den musikalischen Präferenzen der jungen Menschen an?

Die angesprochenen musikalischen Präferenzen sind so vielfältig wie Stile und Konsummöglichkeiten von Musik. Insofern können die Projekte nicht alle Hörgewohnheiten aufgreifen. Am ehesten ist dies bei Filmmusik möglich, da hier eine

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MUSIKALISCHE

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hohe emotionale Identifikation mit dem Gehörten besteht. Auch ist der Vergleich der selbstgemachten Musik mit der Erinnerung sehr leicht möglich und spornt zur Annäherung an das musikalische Original an. Die tatsächliche Auswahl der verwendeten Literatur oblag allerdings den Bündnissen vor Ort, die hier individuell die jeweiligen Maßnahmenrahmen mit Inhalten gefüllt haben. Macht es sich in den Projekten bemerkbar, dass diese sich an Zielgruppen richten, die mit Bildungsbarrieren konfrontiert sind?

Um auf bzw. mit einem Instrument musizieren zu können, sind erst einmal einige Schritte notwendig. Es gilt z. B. Griffe oder Tasten zu lernen, Atmung, Arm oder Finger zu kontrollieren und dann auch noch ggf. eine eigene „Zeichensprache“ – Noten – zu lernen. Wenn dann gleichzeitig noch auf das Zusammenspiel mit anderen geachtet und die Wünsche und Anforderungen einer dirigierenden Person berücksichtigt werden müssen, ist sehr schnell ein hochkomplexer Prozess entstanden. Was es für das Individuum bedeuten kann, sich dieser Komplexität zu stellen und in ihr aufzugehen, ist mit Worten schwer zu beschreiben. Es lässt sich nur durch Ausprobieren herausfinden. Gleichaltrige motivieren sich da unabhängig von der sozialen Schicht sehr gut, wenn alle gleichzeitig anfangen (siehe Konzept 3: Gruppenmusizieren). Die Eltern der Teilnehmer*innen wurden – abgesehen von der Einladung zu den Abschlusskonzerten – nicht aktiv in die Maßnahmen mit einbezogen. In einigen Sachberichten wird aber erwähnt, dass bei den Kindern, die Instrumente zum Üben mit nach Hause genommen haben, durchaus die Eltern auch die eine oder andere interessierte Frage gestellt haben. Insofern wären die Teilnehmer*innen möglicherweise eine Möglichkeit, die Bildungsbarriere von anderer Seite her anzugehen. Sprechen die Erfahrungen der Bündnisse aus Deiner Sicht eher für heterogene Zielgruppen (Teilnehmer*innen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen) oder für homogene Zielgruppen (z. B. nur Geflüchtete)?

Musik als Sprache ohne Worte eignet sich ideal dafür, auch heterogene Zielgruppen zusammenzubringen. Aus meiner Sicht zeigen sich diese Vorteile des gemeinsamen Musizierens sogar erst in einer heterogenen Gruppe richtig gut. Die Einbeziehung von nicht-benachteiligten Kindern und Jugendlichen in die Fördermaßnahmen muss daher eindeutig auch weiter befürwortet werden. Werden Teilnehmer*innen zu Wegbereitern in die Musik für ihr soziales Umfeld?

Ja, uneingeschränkt, allein durch das Interesse von Gleichaltrigen, die bislang vielleicht gar kein Instrument lernen. Fragen wie „Kannst Du auch xy spielen?“, „Wie lange dauert es, bis man das Instrument spielen kann?“, „Wie viel übst Du

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jeden Tag?“ oder auch „Was hat das gekostet?“ führen dazu, dass sich Teilnehmer*innen wie Externe mit verschiedenen Facetten der Neugierde auseinandersetzen. Es ist ein bisschen so, wie einen Zaubertrick zu beherrschen, von dem alle wissen wollen, wie er funktioniert. Insbesondere bei Gleichaltrigen wirkt es als starke Motivation, wenn sie die Abschlusskonzerte besuchen und sehen, was andere in kürzester Zeit ohne Vorkenntnisse geschafft haben. Der Ansporn, in Kürze ebenso auf der Bühne zu stehen und Applaus und Anerkennung zu erhalten, kann anschließend nicht unterschätzt werden. Großartigerweise können dank des Förderprogramms, die bei den Eltern oft im Weg stehenden Bedenken wegen des hohen finanziellen Aufwands von Anschaffung bzw. Miete der Instrumente und Unterrichtsgebühren vollständig ausgeräumt werden. Wie gehen die Bündnisse auf Kinder und Jugendliche zu, um sie als Teilnehmer*innen zu gewinnen? Was tun die Bündnisse, um die Teilnehmer*innen kontinuierlich für das Projekt zu motivieren?

Es hat sich gezeigt, dass nichts so gut funktioniert wie die persönliche Ansprache in Kombination mit der Möglichkeit, eine Teilnahme unverbindlich ausprobieren zu dürfen. So wurde z. B. vor dem Projekt „Gruppenmusizieren“ sehr häufig zunächst das Projekt „Instrumente stellen sich vor“ durchgeführt. Die Teilnehmer*innen konnten dann schon Instrumente ausprobieren und haben sich ganz bewusst und besonders motiviert mit „ihrem“ Instrument für die folgende Maßnahme angemeldet. Wie tragen die Bündnisse und Bündnispartner*innen zu mehr Teilhabe in den Projekten bei? Braucht es Bündnisse, um mehr Teilhabe zu ermöglichen?

Die Bündnisse sind und waren ein unschätzbar wertvoller Katalysator für Teilhabe. Oft waren die Bündnispartner*innen von den eigenen Erfolgen überrascht und überall wird angegeben, dass die hervorragende Zusammenarbeit auch bei einem Auslaufen der Förderung fortgesetzt werden soll. Nach fast fünf Jahren Projektpraxis: Welche Herausforderungen seht Ihr für die Zukunft der kulturellen Teilhabe (auch von bildungsbenachteiligten Zielgruppen) in der Musik?

Tatsächlich wird dafür gerade erst ein Bewusstsein geschaffen. Vor allem hinsichtlich der Einstiegshürden, die im Bereich des Musikmachens mit Instrumenten vorhanden sind, ist noch viel zu tun. Kinder brauchen schließlich erst einmal ein Instrument und Grundlagenwissen in der Notenschrift oder für die Griffe. Das bedeutet, es braucht eine finanzielle Ausstattung und auch – das betrifft dann das Elternhaus – den Willen oder die Erkenntnis, dass es sinnvoll sein kann, Musik zu

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machen. Beim Fußball, als Vergleich, scheint es mir einfacher: Ich lege den Ball aufs Feld, die Regeln sind relativ schnell erklärt und dann können schon alle anfangen. Das heißt, insgesamt ist auch die Durchlässigkeit in unserem Bereich nicht sehr hoch. Dieses Bewusstsein aufbauend auf den Erfolgen der ersten Förderphase zu schaffen bzw. hierfür zu sensibilisieren, solange zumindest die finanzielle Ausstattung über ein Förderprogramm wie Kultur macht stark II abgewickelt werden kann, ist eine der großen Herausforderungen für die nächsten Jahre.

Bühnen ohne Barrieren Theaterpolitik für kulturelle Teilhabe W OLFGANG S CHNEIDER

Das Projekt Wege ins Theater! der ASSITEJ Deutschland, gefördert im Programm Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung war von Anfang an dem Prinzip der Partizipation verpflichtet. Es versteht sich vor allem als eine kulturpolitische Initiative, Demokratie in den Künsten zu etablieren, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen und in der Theaterlandschaft Barrieren des Zugangs abzubauen. Das Kulturpolitische steckt in der nachhaltigen Strategie, über das befristete Ausprobieren hinaus Strukturen zu schaffen, die langfristig Wirkungen erzielen. Die Implementierung von Rahmenbedingungen für die künstlerische Praxis insbesondere in der Theaterpolitik ist deshalb von höchster Relevanz und vordringlichstes Anliegen aller Bemühungen der Bündnispartner*innen. Das Kinder- und Jugendtheater bietet wegen seiner Kompetenzen in der außerschulischen Bildung beste Gewähr dafür. Kinder- und Jugendtheater ist Bestandteil der außerschulischen kulturellen Bildung. Aus der täglichen Begegnung der Künstler*innen und der Theaterpädagog*innen mit Kindern und Jugendlichen als Zuschauer*innen vor der Bühne und als Akteur*innen auf der Bühne erwachsen immer wieder aktuelle Erkenntnisse über die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen, ihre Träume und Hoffnungen, ihre Ängste und Fragen. Das Theater fordert im Ereignis der Aufführung die Zuschauerin bzw. den Zuschauer durch den gezielten Einsatz künstlerischer Mittel auf, eine Haltung zu dem Gezeigten zu entwickeln. Es zielt auf vielfältige ästhetische Erfahrungen und entfaltet damit die Kraft der Theaterkunst zur Anregung von Selbstbildungsprozessen. Ästhetische Erfahrungen ermöglichen es, die Welt neu zu sehen, sie regen die Fantasie an, sie verweisen auf zukünftige Erfahrungen und öffnen Handlungsspielräume. So werden in der Theaterrezeption und im eigenen darstellerischen Agieren persönliche Erfahrungen ermöglicht, die das Alltagshandeln nicht bietet.

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Im Theater als Laboratorium der sozialen Fantasie wird die Welt kritisch mit anderen Augen gesehen, werden Werte und Ideen zur Diskussion gestellt und Weltentwürfe erprobt. Auf der Bühne wird nicht die größtmögliche (Wieder)Erkennbarkeit der Welt angestrebt, sondern ein Bild von der Welt, das ihr ähnlich und fremd zugleich ist. Gerade diese Erfahrung des Unterschieds und der damit verbundenen Distanz zur Welt ermöglicht dem Menschen einen Blick auf die Welt, auf sich selbst und sein Verhältnis zur Welt. So können Wertvorstellungen ausgebildet und ethische Prinzipien entdeckt werden. Der künstlerische Zugriff kann die bildenden Potenziale der Theaterkunst zugänglich machen. Wenn es in der Theatervorstellung und mit Theaterpädagogik gelingt, den bzw. die Zuschauer*in zur Nutzung dieser Potenziale zu befähigen, können die ästhetischen Erfahrungen auf die soziale Emanzipation wirken. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigen die jährlichen Statistiken. Nach wie vor bleibt die Zielgruppe der 3- bis 18-jährigen größtenteils im Theater außen vor, insbesondere die aus benachteiligten Milieus. Die Gründe dafür können vielfältig sein. „Kinder und Jugendliche nutzen Theaterangebote nicht



weil Theaterbesuche im Elternhaus und im Freundeskreis keine verstärkte Bedeutung haben und so Vorbilder fehlen



weil Theater als Ort und Kunstform nicht bekannt ist bzw. das Image von verstaubten und elitären Kunsttempeln vorherrscht

• •

weil die Eintrittskarten für sie nicht erschwinglich sind weil die Organisation eines Theaterbesuchs (Programmauswahl, Ticketkauf, Anfahrt) als zu kompliziert und aufwändig empfunden wird



weil sie in ländlichen Gegenden leben, in denen qualitativ geeignete Angebote nicht zur Verfügung stehen oder weil sie in einem Umfeld mit geringer kultureller Infrastruktur leben

• •

weil Theater nicht in ihrem Stadtbezirk lokalisiert sind weil Kinder bereits schlechte Erfahrungen mit dem Theater gemacht haben, der Ursache u. a. die mangelnde Qualität der Theateraufführungen kommerzieller Anbieter ist“ (ASSITEJ 2013: 11).

K INDER - UND J UGENDTHEATER ALS E RLEBNIS - UND L ERNORT Kinder- und Jugendtheater ist aber gleichermaßen Erlebnisort sowie Lernort und kann ein Ort der gesellschaftlichen Teilhabe sein, weil die darstellenden Künste im besten Falle die aktive, reflektierte und fantasievolle Auseinandersetzung mit

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Realitäten und Utopien ermöglichen. Die Inszenierungen von Kinder- und Jugendtheater suchen kontinuierlich nach künstlerischen Ausdrucksformen zu Lebenswelt und Lebensfragen eines jungen Publikums. Im Rahmen theaterpädagogischer Vermittlung entwickeln Kinder- und Jugendtheater zudem erfahrungsbasierte Formate einer Kunst des Zuschauens. Die nachhaltige Ansprache von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen erfordert allerdings ein deutliches Mehr an Maßnahmen, um innerhalb des Umfelds vorhandener Unkenntnis und aufgebauter Skepsis gegenüber Kultureinrichtungen entgegenzuwirken. Demokratie fällt nicht vom Himmel – so banal muss es leider immer noch formuliert werden; denn auch Demokratie muss gelernt werden (dürfen!). Aber warum kommt die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen trotz aller rhetorischen Beschwörungen in Sonntagsreden beim Alltagshandeln so wenig voran? Demokratie in der Gesellschaft hat sich ausdifferenziert. Während einige noch immer in kleinen Schritten Beteiligung inszenieren und sich an den traditionellen Vorgaben orientieren, nehmen andere schon an der Entwicklung einer vielfältigen Demokratie im Großen und Ganzen teil. Die einen lassen Kinder wie Erwachsene Parlamentarismus spielen oder versuchen Jugendliche als Abonnent*innen des von Erwachsenen geprägten Repertoires zu gewinnen. Die anderen gehen ganz grundsätzlich mit demokratischer Beteiligung um, die sich wesentlich in anderen Formen vollzieht und die vielleicht besser in die Lebenswirklichkeit von jungen Menschen passt. Fünf Modelle der Demokratieforschung unterscheidet dabei derzeit die Politikwissenschaft. Neben der „Repräsentativen Demokratie“ und der „Direkten Demokratie“ als klassische Erscheinungsformen sind es in jüngster Zeit vor allem aber auch die „Dialogorientierte Beteiligung“, „Initiativen, Protest und soziale Bewegungen“ sowie das „Bürgerschaftliche Engagement“. Die jüngste Willkommenskultur für Geflüchtete, an denen sich auch viele junge Menschen beteiligt haben, bietet dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Die Fixierung der Partizipationsdebatte auf Angebote von oben wird deshalb der vielfältigen Realität der Beteiligungsinitiativen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht und wirft ganz generell eher Fragen auf, als dass sie Antworten generiert. Es bleibt deshalb zu diskutieren, welche Motive einer Etablierung von kultureller Teilhabe im idealtypischen Sinne zugrunde gelegt werden. „Geht es lediglich um die Legitimierung von Demokratie, Prozessen, Institutionen und auch Kultureinrichtungen? Geht es darum, die Kultureinrichtungen in eine Gesellschaft hinüberzuretten, die mit den traditionellen Ausdrucksformen der Kultur oft nicht mehr viel anfangen kann? Oder spielt tatsächlich der Gedanke eine Rolle, dass kulturelle und soziale Transformation von partizipativen Impulsen profitiert? Oft wird in diesem Prozess die These formuliert, Partizipation sei nur zum Preis des Machtverlustes von Positionsinhaber/innen zu

232 | W OLFGANG S CHNEIDER haben. Das ist richtig und falsch. Nach Auffassung der politischen Philosophin Hannah Arendt ist Macht etwas, das Einzelne nicht besitzen können. Ein Einzelner hat bestenfalls das, was Hannah Arendt „Gewalt“ nennt. Macht entsteht dagegen durch das Zusammenwirken der Vielen in der Gesellschaft. Ohne Partizipation gibt es also keine Macht. Abgeben [H. i. O.] müssen wir tatsächlich Autorität, die beispielsweise durch Bildungsabschlüsse oder auf anderen, weniger demokratischen Kanälen erworben wurden. Für viele ist dies eine große Hürde, aber es gibt keinen anderen Weg. Und entgegen aller Befürchtungen ist dieser Weg für diejenigen, die ihn beschreiten, sehr gewinnbringend.“ (Krüger 2016: 51)

V ON DER ANGEBOTSORIENTIERUNG ZUR T EILHABEERMÖGLICHUNG Von solchen Überlegungen zum Umdenken in und Neudenken der Demokratie ist die deutsche Theaterlandschaft noch weit entfernt. Hierarchische Strukturen beherrschen nach wie vor das institutionalisierte Theater, Mitbestimmungsmodelle sind bisher zumeist gescheitert. Allein das Freie Theater pflegt noch hier und da das kollektive Wirken, beschränkt sich aber zu sehr auf die Werke und hat kaum Mittel und Möglichkeiten, die Partizipation des Publikums zum Prinzip zu machen. Theaterpolitik ist zudem vornehmlich Theaterfinanzierung, kulturpolitische Konzepte fehlen. Gefördert wird von Haushalt zu Haushalt, mit Investitionen in die Immobilien und immer wieder einmal Kürzungen im Künstlerischen. Die einen ätzen darüber, indem sie die Theaterförderung als obsolet darstellen, denn die sei so, als wenn man seit 25.000 Jahren die Höhlenmalerei subventionieren würde. Die anderen prophezeien den Kulturinfarkt, weil von allem zu viel und zudem das Gleiche gefördert werde. Hinzu kommt die irrige Auffassung, Theaterförderung sei eine freiwillige Aufgabe, obwohl das Verfassungsgericht schon vor Jahrzehnten klar definiert hat, dass sich auch aus dem Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes eine Verpflichtung des Staates ableiten lasse. Zudem postuliert Artikel 35 des Einigungsvertrages zwischen BRD und DDR Deutschland als Kulturstaat und daraus erfolgt die konsequente Ableitung, auch für die Theater eine finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Und wie steht es um den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang von Theaterpolitik? Dieses Land werde ein anderes werden, hieß es im Jahr der großen Flucht. Wird sich auch das Theaterland verändern? Und was sind überhaupt die Antworten der Kulturpolitik auf die Fragen an die darstellenden Künste: Was soll das Theater? Um was geht es? Für wen? Von der Angebotsorientierung zur Teilhabeermöglichung? Stadt und Land – Hand in Hand? Laboratorium der sozialen

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Fantasie? Top down oder bottom up? Theaterkunst als Kulturelle Bildung? Neue künstlerische Formate, neue kulturpolitische Instrumente? Wenn es um Kriterien zur Förderung von (Freiem) Theater geht, geht es meist um das Künstlerische. Innovativ muss es sein – und so weiter … Aber da Förderung ein öffentlicher Vorgang ist, das heißt mit Steuergeldern finanziert, muss es auch erlaubt sein, die gesellschaftliche Dimension von Theater ins Spiel zu bringen. Wieso muss Theater immer nur Theater im Blick haben? Wesentlicher Partner ist doch das Publikum. Das zeigen zum Beispiel Audiowalks, inszenierte Stadtführungen und interaktive Produktionen der Freien Theater. Aber viele Theaterproduktionen sind schon nach nur wenigen Aufführungen ‚abgespielt‘, oft vor nur wenigen Zuschauer*innen. Quantitäten als Kriterien wären zu diskutieren, Qualitäten neu zu überdenken. Wie steht es um das Audience Development? Wie erfolgreich sind die OutreachProgramme? Wie trägt Theater zu Community Building bei? Ist Kulturelle Bildung ein Kampfbegriff für das Theater oder erschließt sich erst durch die Herausforderung des Publikums die wahre Kunst des Zu-Schauspielers? Und wie gelingt eigentlich interkulturelle Kommunikation? Braucht es im Theater ein Diversity-Management? Die Ensembles im Stadttheater seien noch sehr mono-ethnisch. Haben People of Colour beim Theater endlich eine Chance? Wenn die Gesellschaft bunter wird, wird es nicht ausbleiben, auch im Theater Vielfalt zu verwirklichen. Und auch das darf man nicht dem Zufall überlassen. Gibt es noch so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag? Und wer ist die Gesellschaft? The Happy Few nutzen ihr Theater als Distinktionsmerkmal – und all die anderen müssen draußen bleiben? Da ist das Freie Theater bemühter, näher dran zu sein, bestenfalls mittendrin. Und das wäre auch zu würdigen, als ein Kriterium der Förderung. (Vgl. Schneider 2016: 3)

B ILDUNG MIT

UND DURCH

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Um der Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, bedarf es einer Kulturpolitik, die insbesondere den Prozess der kulturellen Teilhabe vorantreibt. Sie soll die Möglichkeiten persönlicher Freiheit im Sinne von Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung unterstützen. Notwendig ist dafür eine plurale Kulturpolitik, die sich darum bemüht, das soziale und kulturelle Kapital aller Menschen zu stärken und ihm Anerkennung zu verschaffen. Künste und Künstler*innen mit öffentlichen Mitteln zu fördern, hat in Deutschland Tradition und Akzeptanz. Denn wenn die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, eingefordert und mit allen Widersprüchen dargestellt wird, dann geschieht

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dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken sie direkt auf die Gesellschaft und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Kulturpolitik für Kulturelle Bildung will die Rahmenbedingungen dafür schaffen, erhalten und ausbauen, dass Bildung mit und durch Kunst gelingen kann. In den Jahren nach der Wiedervereinigung in Deutschland gab es in der Tat gute Beispiele und noch mehr gute Absichtserklärungen. Kulturelle Bildung ist in aller Munde, doch ein Konzept lebenslangen Lernens, das die bisher stark segmentierten Bildungsbereiche verzahnen und Kindertagesstätten, Schule, Berufs- und Hochschulbildung sowie allgemeine und berufliche Weiterbildung zu einem kohärenten, das heißt aufeinander aufbauenden und vor allem durchlässigen Gesamtsystem zu integrieren versucht, fehlt. Auch deshalb, weil sich die rigide Abgrenzung der verschiedenen Ressorts – Kulturpolitik, Bildungspolitik, Jugendpolitik – auf allen politischen Ebenen als kontraproduktiv darstellt. In der Kultur findet ein ständiges Nachdenken der Gesellschaft über ihre Werte und Normen statt. Deswegen ist es nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Entwicklung der Gesellschaft wichtig, dass möglichst viele Menschen in kulturelle Belange mit einbezogen werden. Das ist der Hintergrund von kulturpolitischen Programmen wie Kultur für alle (1979) des früheren Kulturdezernenten von Frankfurt am Main, Hilmar Hoffmann, oder Bürgerrecht Kultur (1983) des ehemaligen Nürnberger Kulturreferenten Hermann Glaser, aber auch die Legitimation des Programmes Kultur von allen als aktiver Teilnahme möglichst breiter Bevölkerungsgruppen am kulturellen Leben durch eine Konzeption des Deutschen Kulturrates zur kulturellen Daseinsvorsorge (2004). Die heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen unter dem Einfluss des demografischen Wandels und den Auswirkungen der Globalisierung komplexe Anforderungen an jeden Menschen. Insbesondere für junge Menschen hat das zur Folge, sich von früh an immer wieder mit der eigenen Entwicklung und Zukunftsperspektive kritisch auseinanderzusetzen, immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, gegebenenfalls neue Wege zu gehen und selbstorganisiert zu handeln. Für diesen Prozess brauchen junge Menschen eine starke Persönlichkeit. Diese können sie an verschiedenen Orten entwickeln: in der Familie, in der Schule, aber auch bei allen anderen Aktivitäten im Bildungssektor. Die kulturelle Kinder- und Jugendbildung ist ein solcher unverzichtbarer Bildungsort. Sie vermittelt Kunst und Kultur und durch sie werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben: Entwicklung von Lesekompetenz, Kompetenz im Umgang mit Bildsprache, aber auch Disziplin, Flexibilität und Teamfähigkeit. Mit Kultureller Bildung werden Bewertungs- und Beurteilungskriterien

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für das eigene und das Leben anderer sowie für die Relevanz des erworbenen Wissens erlangt. Kulturelle Bildung geht nicht in Wissensvermittlung auf, sondern ist vor allem auch Selbstbildung. Neben diesen Effekten für die Persönlichkeit des Einzelnen hat Kulturelle Bildung auch eine Wirkung für die Kultur selbst: Sie sorgt für die Nachwuchsbildung, sowohl auf der Seite der Kulturschaffenden als auch auf der Seite der Kulturnutzer*innen. Kulturelle Bildung trägt nicht zuletzt zur Wahrung und Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe in Deutschland bei.

D AS R ECHT

DES K INDES AUF VOLLE B ETEILIGUNG AM KULTURELLEN UND KÜNSTLERISCHEN L EBEN Kulturelle Eigenaktivität und Beteiligung sind somit entscheidende sozialisierende Instanzen und bedürfen des Schutzes und der Förderung durch nationale wie internationale Politik. Die UN-Kinderrechtskonvention formuliert zur Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben in Artikel 31 Folgendes: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben. (2) Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung.“ (Deutscher Bundestag 1992)

Deutschland hat diese Konvention ratifiziert und sich aufgrund seines Verständnisses als Kulturstaat zur Aufgabe gemacht, Kulturelle Bildung unter den besonderen Schutz und die kontinuierliche Förderung des Staates sowohl auf Bundeswie Länderebene zu stellen. Die Rahmenbedingungen sind geschaffen, aber die Umsetzung ist problematisch: Kulturelle Partizipation, ob produktiv oder rezeptiv, ist nicht für alle jungen Menschen gleichermaßen zugänglich. Hier gilt es, mehr zu tun! Aber wie kann es gelingen, Chancengerechtigkeit für alle Kinder und Jugendlichen stärker umzusetzen? Die allgemeinbildende Schule (Primarstufe und Sekundarstufe I) ist die einzige Einrichtung im Bildungswesen, die alle jungen Menschen erreichen kann. Sie ist diejenige Institution, die einen für alle verbindlichen und verlässlichen Grundstein Kultureller Bildung für junge Menschen legen kann. Ein Sondervotum zum Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages hat schon 2007 für einen Lernbereich Kulturelle Bildung plädiert:

236 | W OLFGANG S CHNEIDER „Durch den Lernbereich ‚Kulturelle Bildung‘ erhalten alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen einen Zugang zu Kunst und Kultur. Sie bekommen einen spartenübergreifenden Einblick in deren Produktion und Rezeption. Sie lernen das kulturelle Erbe Deutschlands in allen seinen Facetten auch im Zuge der Entwicklungen der Globalisierung kennen und reflektieren. Der Lernbereich ‚Kulturelle Bildung‘ trägt dazu bei, dass die jungen Menschen bereits von früh an eigene künstlerische Interessen und Stärken entdecken und ausbilden können. Die langjährigen Erfahrungen kultureller Bildungsarbeit zeigen, dass sich die Beschäftigung mit Kunst und Kultur auf die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen insgesamt auswirkt: Ihre Eigentätigkeit wird angeregt, ihre Wahrnehmungsfähigkeit geschult und wichtige Schlüsselkompetenzen gefördert. Künstlerische und kulturelle Prozesse reflektieren zu lernen bedeutet auch, sich und seine Umwelt, seine Zukunft und Vergangenheit bewusst und kritisch in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne ist der Lernbereich ‚Kulturelle Bildung‘ ein wichtiger und unverzichtbarer Teil allgemeiner Bildung. […] Der Lernbereich ‚Kulturelle Bildung‘ vermittelt Kunst und Kultur in Produktion, Rezeption und Reflexion. Er gibt den Schülern einen theoretischen Einstieg in die verschiedenen Kunstsparten […], deren Geschichte und ihre Bedeutung für das kulturelle Erbe in Deutschland. Die Fächer Musik und Kunsterziehung bzw. Darstellendes Spiel werden zum integralen Bestandteil des neuen Lernbereichs ‚Kulturelle Bildung‘. Es wird darauf Wert gelegt, die jeweilige Spezifik und Fachlichkeit der einzelnen Kunstsparten ebenso wie ihre Gemeinsamkeiten herauszustellen und zu erhalten. Zugleich qualifizieren sich die Schüler praktisch für eine von ihnen freiwillig ausgewählte Kunstsparte. Für die Einsetzung dieses neuen Lernbereichs wird ein pädagogisch tragfähiges und hinsichtlich der Umsetzung realistisches Konzept zugrunde gelegt. Seine Inhalte werden curricular verankert, eine fachspezifische Methodik und Didaktik erarbeitet und geeignete Lehr- und Lernmittel entwickelt. Der Lernbereich ‚Kulturelle Bildung‘ wird von Fachkräften vermittelt, die für einzelne Kunstsparten qualifiziert sind und sich für die ‚Kulturelle Bildung‘ weitergebildet haben und permanent weiterbilden. Diese ‚Kulturlehrer‘ arbeiten nach den Prinzipien kultureller Bildungsarbeit: Freiwilligkeit, Stärken- und Prozessorientierung, wobei sie eng mit den Fachkräften, Einrichtungen und Trägern außerschulischer kultureller Kinder- und Jugendbildung kooperieren.“ (Schneider 2007: 448f.)

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DER

K OOPERATION

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Wenn auch noch die Realisierung eines schulischen Lernbereichs aussteht, so haben seitdem aber verschiedene Maßnahmen in der Kulturellen Bildung dazu geführt, Kultur und Bildung zusammenzubringen. „In dieser Hinsicht ist das Programm ‚Kulturagenten für kreative Schulen‘ der Bundeskulturstiftung vorbildlich, modellhaft und zukunftsweisend.“ (Schneider 2017: 208) Durch die Kooperation mit fünf Ländern war eine direkte Anbindung an die Kultur- und Bildungspolitik

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gewährleistet. Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Kultureinrichtungen förderte deren Öffnung und Kooperationsbereitschaft gegenüber Schulen und Schüler*innen. Durch die Zusammenarbeit von Kulturagent*innen mit Kulturlehrer*innen sowie mittels Kunstgeld und Kulturfahrplan wurde mit der Veränderung von Bildungspraxis und Schulcurricula ein ambitioniertes Projekt auf den Weg gebracht. Dieses kulturpolitische Instrument galt es wissenschaftlich zu begleiten, Akteur*innen und Aktionen zu beobachten und zu befragen sowie Erkenntnisse hinsichtlich der kulturellen und schulischen Infrastrukturen zu generieren. Für Schulen bot das Programm Kooperationsanreize, die zum Beispiel für die beteiligten Museen und Theater nicht in gleichem Maße wirksam wurden. Zudem stellt der Anspruch, gemeinsame Konzepte zu entwickeln und durchzuführen, die beteiligten Organisationen vor kulturpolitische Herausforderungen, die auch durch kulturmanagerialen Wandel zu bewältigen wären. Auffällig war aber, dass das Programm nicht dazu beitragen konnte, die Kunstbetriebe strukturell zu verändern. In den Projekten wurden größtenteils freie Kulturpädagog*innen beschäftigt, insbesondere die Stadttheater haben offensichtlich nicht die Chance ergriffen, ihre theaterpädagogischen Abteilungen auf- und auszubauen, Personal umzuverteilen oder gar neue Akzente von der Produktion zur Rezeption zu setzen. Theaterpädagogik scheint noch immer ein Stiefkind der Theaterpolitik zu sein. Theaterpädagogik hat sich zwar an Stadttheatern etabliert, aber eher als Appendix oder in der alleinigen Zuständigkeit einer Sparte wie die des Kinder- und Jugendtheaters. Eine Untersuchung im Rahmen der Übung www.theaterpolitik.de am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim im Wintersemester 2014/2015 hat offenbart, dass Theaterpädagog*innen zu 75% nicht im Stellenplan verankert sind. 75% der Häuser setzen zudem merkwürdigerweise mit mindestens einer Stelle pro Spielzeit auf das theaterpädagogische Engagement im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres Kultur. Die Theaterpädagog*innen haben nur zu 20% eine theaterpädagogische Ausbildung. 35% arbeiten mit abgeschlossenem kultur- oder theaterwissenschaftlichem Studium. Die Arbeitsfelder der Theaterpädagogik sind vielfältig, 30% der Theaterpädagog*innen sind schwerpunktmäßig als Multiplikator*innen tätig, d. h. im Kontakt mit Lehrer*innen an Schulen, 25% beschäftigen sich mit der Vor- und Nachbereitung von Inszenierungen, gleich viele mit der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen; nur 10% geben an, an den künstlerischen Produktionen beteiligt zu sein. Die Mehrheit der befragten Theater konstatiert, dass der Stellenwert der Theaterpädagogik an ihrem Haus in den letzten zehn Jahren stark zugenommen hat. Ihnen zufolge lenken die kulturpolitischen Debatten um Kulturelle Bildung ein Augenmerk speziell auf diese Abteilung und es wird stärker über den Bereich

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nachgedacht. Die Theaterpädagogik rückt dadurch extern wie intern in den Fokus und gewinnt an Bedeutung. Besonders die immer stärkere Nachfrage von theaterpädagogischen Angeboten für Schulen positioniert die Theaterpädagogik deutlich und Bestrebungen, den Bereich langfristig auszubauen, schließen daran an. Auffallend ist auch, dass die Stelle der Theaterpädagogik innerhalb eines Hauses stark personenabhängig und häufig mit einem Wechsel der Intendanz und entsprechenden Schwerpunktverschiebungen verbunden ist. Nach außen könne die Theaterpädagogik als Aushängeschild für den Stellenwert des Theaters in der Gesellschaft gesehen werden. Nach innen wiederum müsse sich die theaterpädagogische Arbeit gegenüber künstlerischen Produktionsprozessen nach wie vor stark behaupten, teilweise sogar unterordnen. Die Notwendigkeit theaterpädagogischer Arbeit wird nicht bestritten, allerdings dürfe man selbst nicht zu hohe Anforderungen und Erwartungen an die Theaterleitung bezüglich der Akzeptanz und Förderung des Bereichs innerhalb des Hauses stellen. Theaterpädagogik werde weiterhin zu Werbe- und Förderzwecken missbraucht und diene als Legitimationsgrundlage gegenüber politischen Entscheidungsträgern.

D IE K UNST

DER

T HEATERPÄDAGOGIK

Auch auf inhaltlicher Ebene ist größtenteils eine Variierung der Werte und Schwerpunkte innerhalb der Theaterpädagogik festzustellen: Einige Häuser merkten an, dass der künstlerische Stellenwert mittlerweile deutlich höher als der kulturpädagogische sei und eine Verschiebung von „weniger Pädagogik und mehr Theater stattfinde. Vor allem werde in diesem Zusammenhang auch die Relevanz der partizipatorischen und vermittelnden Arbeit immer mehr wahrgenommen und innerhalb der Abteilungen stärker kommuniziert. Nur ein kleiner Teil der Befragten sieht das skeptisch und bedauert, dass Theaterpädagogik nach wie vor eher zu Vermittlungszwecken dient und weniger mit eigener künstlerischer Qualität in Verbindung gebracht wird. „Zu bedenken bleibt, wie der Stellenwert der Theaterpädagogik überhaupt gemessen wird. Zu häufig ginge es noch um Quantität, sprich wie viele Schulen die Aufführungen besuchen und nicht um die Qualität der Arbeit, das heißt der Wertschätzung von Begleitung, Workshops und der umfangreichen anderen theaterpädagogischen Angebote. Wenn auch eine allgemeingültige Aussage über die Auswirkungen der kulturpolitischen Debatten um Kulturelle Bildung auf den Stellenwert der Theaterpädagogik zu treffen äu-

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ßerst schwerfällt, stimmen die Aussagen über die Auswirkungen auf den Stellenplan in einem Punkt fast all überall: es herrscht Personalmangel! Zwar betonen die Debatten die Wichtigkeit theaterpädagogischer Arbeit, dennoch bedeutet das nicht zwangsläufig, dass auch mehr Arbeitsplätze eingerichtet, Theaterpädagogen in den Personalplan aufgenommen oder eine angemessene Vergütung gewährleistet wird. Einerseits wachse zwar die öffentliche Aufmerksamkeit für Kulturelle Bildung, die finanzielle Lage der Theater bessere sich dahingehend andererseits aber nicht. Ein Problem wird mit der Zunahme von Projektgeldern beschrieben. Ihre Beantragung erfordere einen hohen Arbeitsaufwand, wofür ausreichend Personal aber fehle. Neben dem Management von Förderanträgen benötigt auch die Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Einrichtungen Zeit und Personal, um die Kontakte angemessen pflegen und ausbauen zu können. Zeitverträge bedeuten ständig wechselndes Personal und können nur als Notlösung dienen, da sie eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern verhindern. Auch ein Blick auf das Verhältnis von einer Vollzeitstelle in der Theaterpädagogik zu über zwanzig bis dreißig festangestellten Schauspielern im Ensemble und mehr als ein Dutzend Neuproduktionen pro Spielzeit könne als Maßstab für den Stellenwert theaterpädagogischer Arbeit gesehen werden. Hier wird deutlich, dass es nicht nur finanzielle, sondern auch strukturelle Veränderungen braucht, um Etablierung und Entwicklung der Theaterpädagogik in Zukunft zu ermöglichen. Die Einstellungen von Jahrespraktikanten und Personal, das sich über das Freiwillige Soziale Jahr Kultur rekrutiert, sind vielerorts Wege, zweifelhafte Wege, dem Personalmangel entgegenzuwirken. Nichts desto trotz übersteigen die Anforderungen und Aufgaben von Theaterpädagogen allzu häufig das Maß des Möglichen und ein Ausbau der Stellen ist Grundvoraussetzung für eine qualitative theaterpädagogische Arbeit, da die künstlerischpädagogische Praxis ansonsten allzu häufig unter den organisatorischen Anforderungen leidet.“ (Schneider 2016: 33)

K INDER - UND J UGENDTHEATER BRAUCHT K ULTUR - UND B ILDUNGSPOLITIK An den meisten Kinder- und Jugendtheatern ist das nicht so. Theaterpädagogik gehört da zum Kerngeschäft. Die personelle Lage ist aber nicht viel anders als am Großen Haus – der Stellenwert von Theaterpädagogik vor, während und nach der künstlerischen Produktion ist aber ein gewichtigerer. Und im zunehmenden Maße wird Theaterpädagogik auch Schlüssel zur Partizipation. Das hat seine Gründe,

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die auch im Antrag der ASSITEJ beim Programm Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung Erwähnung fanden. Dort heißt es, Theaterpädagog*innen am Theater • •

„schaffen geschützte Spiel-, Denk- und Erfahrungsräume wenden sich mit Empathie an das Individuum und gehen auf dessen Bedürfnisse ein



entwickeln Formate, Themen und Konzepte zur vertieften Vermittlung von Inszenierungen

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sind mobil und können schnell und flexibel auf Situationen und Gruppen reagieren initiieren und moderieren ästhetische und partizipative Prozesse gewinnen Vertrauen, indem sie Zielgruppen glaubwürdig gegenübertreten können mit künstlerischen Mitteln Widerstände und Störungen produktiv machen können interdisziplinär denken und arbeiten kommunizieren und vermitteln die Fragen, Ansichten und Themen junger Menschen in den Theaterbetrieb



greifen Fragestellungen der Kinder und Jugendlichen auf und beziehen ihre Perspektiven konsequent in die Programmgestaltung der Theater ein“ (ASSITEJ 2013: 22).

Diese Ergebnisse sind auch in die Konzeption des Projektes eingeflossen, mit dem Ziel die Wege ins Theater! verstärkt von den Kindern und Jugendlichen aus zu entwickeln. Durch die ganzheitliche publikumsorientierte Strategie sollen so die Chancen zur kulturellen Teilhabe verbessert werden, um sowohl das Theater als auch seine Zuschauer*innen weiterzuentwickeln. Wenn es also ein Credo geben sollte, dass eine kulturpolitische Perspektive für Bühnen ohne Barrieren konkretisiert, dann muss diese zu einer theaterpädagogischen Schwerpunktsetzung in der Theaterlandschaft führen. Das A und O des Prinzips der Partizipation wird durch Theaterpädagogik innerhalb und außerhalb der darstellenden Künste konstruiert. Es braucht Theater-Scouts und Kulturagent*innen, Theaterlehrer*innen und Theaterpädagog*innen, vor allem braucht es Theatermacher*innen, die als allseits entwickelte künstlerische Persönlichkeiten Kindern und Jugendlichen partnerschaftlich zur Seite stehen, um gemeinsam die Welt des Theaters zu entdecken und zu gestalten. Und das erfordert eine Kulturpolitik, die in besonderer Weise Kinder- und Jugendtheater ermöglicht, in Stadt und Land, im Theaterhaus und in der Schulaula, im geschützten und im öffentlichen Raum.

B ÜHNEN

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B ARRIEREN

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L ITERATUR ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland e. V. (2013): Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung. Richtlinie zur Förderung von außerschulischen Maßnahmen, insbesondere der kulturellen Bildung, für Kinder und Jugendliche im Rahmen von Bündnissen für Bildung. Konzeptvorlage. Frankfurt am Main. Deutscher Bundestag (1992): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UNKinderrechtskonvention im Wortlaut, Bekanntmachung vom 10.07.1992. In: Bundesgesetzblatt 1992 II, S. 990. Krüger, Thomas (2016): „Zum Zusammenhang politischer Bildung und kultureller Bildung“. In: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (Hg.): Kulturelle Bildung. Partizipation. Heft 14. Remscheid. Schneider, Wolfgang (2017): „Kulturagenten für kreative Schulen. Ein kulturpolitisches Instrument zur Implementierung von Kultureller Bildung“. In: Tobias Fink/Doreen Götzky/Thomas Renz (Hg.): Kulturagenten als Kooperationsstifter? Förderprogramme der Kulturellen Bildung zwischen Schule und Kultur. Wiesbaden. Schneider, Wolfgang (2016): „Theaterpädagogik braucht Kulturpolitik. Überlegungen zu einer Reform der darstellenden Künste“. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 68. Berlin. Wolfgang Schneider, Wolfgang (2007): „‚Kulturelle Bildung‘ für alle Kinder und Jugendlichen“. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Schlussbericht der EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“. Drucksache 16/7000. Berlin.

Wege ins Theater führen über die Hauptstraße der Partizipation Jugendpolitik für kulturelle Teilhabe G ERD T AUBE

Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass Projekte und Programme der kulturellen Kinder- und Jugendbildung nicht nur aus einer einzelnen politischen Perspektive bewertet werden können. Denn die politische Verantwortung für dieses außerschulische Praxisfeld sollte im Idealfall eine kulturpolitische, eine bildungspolitische und eine jugendpolitische Dimension haben. Ein erklärtes Ziel einer ressortübergreifenden Politik für kulturelle Kinder- und Jugendbildung sollte es sein, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und zur Teilhabe zu befähigen.

AUF P RINZIPIEN UND Q UALITÄTEN DER KULTURELLEN K INDER - UND J UGENDBILDUNG VERTRAUEN Die bildungspolitische Genese des Programms Kultur macht stark wird in der leistungsbezogenen und auf gesellschaftliche Transfereffekte orientierten Konzeption von Kultureller Bildung deutlich, die in den Programmrichtlinien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) formuliert ist. Demzufolge sollen durch das Programm „bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche“ erreicht werden, „die in mindestens einer der vom nationalen Bildungsbericht 2010 beschriebenen Risikolagen aufwachsen und dadurch in ihren Bildungschancen beeinträchtigt sind. Als Risikolagen nennt der nationale Bildungsbericht: Arbeitslosigkeit eines oder beider Elternteile, geringes Familieneinkommen, bildungsfernes Elternhaus.“ (BMBF 2012: 3)

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Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die mit dem Programm erreicht werden sollen, werden also anhand ihrer Mängel beschrieben, die dem Elternhaus zugeschrieben und nicht mit strukturellen Hindernissen und sozialer Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und im Bildungssystem begründet werden. Angesichts dieser Einschätzung muss der dem Programm zugrundeliegende Begriff von Kultureller Bildung aus jugendpolitischer Perspektive kritisch gesehen werden, denn der Begriff geht nicht von den Stärken der Kinder und Jugendlichen aus, sondern von Defiziten, die als Folgen ihrer sozialen Herkunft gesehen werden. Mit dem Programm, dessen paternalistischen Impetus Benedikt Sturzenhecker (2014) kritisiert, sollen aber nicht die Ursachen dieser sozialen Benachteiligung beseitigt werden, vielmehr sollen kognitive Kompetenzen, soziales Lernen, Persönlichkeitsbildung und Erfahrungswissen bei den beteiligten Kindern und Jugendlichen gefördert werden, „da sie besonders geeignet sind, Selbstmotivation, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft zu stärken“ (BMBF 2012). Damit wird die Wirkung Kultureller Bildung auf Transfereffekte beschränkt. Sturzenhecker zieht daraus folgende kritische Schlussfolgerung: „Die Kinder und Jugendlichen sollen ‚stark‘ gemacht werden, um schwächende Lebenslagen und diskriminierende Ausbildungsverhältnisse zu bewältigen, um trotz alledem individuellen Bildungserfolg zu erbringen.“ (Sturzenhecker 2014) Die Programmpartner*innen haben ihre Praxiskompetenz in der Umsetzung des Programms dadurch unter Beweis gestellt, dass sie in den Konzepten ihrer Förderprogramme mehrheitlich auf Prinzipien und Qualitäten der kulturellen Kinder- und Jugendbildung vertrauen, wie die Förderung des Eigensinns, die Stärkung der Selbstpositionierung und die Orientierung an den individuellen Stärken und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig ist es mit dem Programm Kultur macht stark nicht nur gelungen, Angebote der Kulturellen Bildung an vielen Orten umzusetzen, sondern es hat auch die politische Aufmerksamkeit auf die Kulturelle Bildung und ihre Potenziale für eine bildungsgerechte Gesellschaft gelenkt. Und zwar nicht nur die Aufmerksamkeit der parlamentarischen und staatlichen Politik, sondern auch das politische Interesse von Akteur*innen der außerschulischen kulturellen Kinder- und Jugendbildung, die sich in der Umsetzung des Programms noch konkreter und stärker auf die Teilhabefragen und die Einlösung von Teilhabeversprechen konzentriert haben als vorher. Die Verbände und Initiativen haben es verstanden, die Praxis des Programms auch dazu zu nutzen, um ihre eigenen Kompetenzen in Fragen der Teilhabe und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen, Institutionen und Strukturen der Kultur und der Kulturellen Bildung weiter zu entwickeln. Die Idee der Umsetzung des Programms durch zivilgesellschaftliche Verbände und Initiativen ist vielfach kritisiert worden und in der Tat ist die Gefahr

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einer durch den Staat instrumentalisierten und durch staatliche Vorgaben reglementierten Zivilgesellschaft nicht zu unterschätzen. Aber die beteiligten Organisationen haben bei der Risikobewertung offenkundig die Potenziale des Programms für die Kinder und Jugendlichen und ihre eigene Arbeit stärker gewichtet, als die Risiken für ihre zivilgesellschaftliche Rolle und demokratische Verfasstheit. Dabei sind sich alle bewusst, dass sie einerseits als Programmpartner*innen den Richtlinien entsprechend handeln, aber andererseits die Interessen des Feldes in Hinsicht auf die Weiterentwicklung und die Bewertung des Programms konstruktiv-kritisch vertreten müssen. Die fachliche Stärke, die auf Teilhabegerechtigkeit ausgerichtete gesellschaftspolitische Haltung der Programmakteur*innen, ihre vielfältigen Perspektiven und Interessen und die bei aller Gemeinsamkeit dennoch spartenspezifischen und unterschiedlichen Begriffe und Praxen Kultureller Bildung sind die Grundlage dafür, dass es den Programmpartner*innen gelungen ist, die komplexen Herausforderungen des Programms zu bewältigen.

K EINE T EILHABE

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Z UGÄNGE

ZUR

K ULTUR

Wie viele andere Programmpartner*innen auch, ist die ASSITEJ Deutschland e. V., die Vereinigung der Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland, durch das Programm Kultur macht stark erstmals in die Lage versetzt worden, Projekte der Kulturellen Bildung ihrer Mitglieder und anderer Antragsteller*innen finanziell zu unterstützen und damit überhaupt zu ermöglichen. Dieses Engagement darf auch als eine aktive Anstrengung zur Umsetzung des Verbandszieles verstanden werden, das darin besteht, es jedem Kind und jedem Jugendlichen in Deutschland zu ermöglichen, mindestens zweimal im Jahr ein Kinder- und Jugendtheater zu besuchen. Diesem Ziel ist auch der Vereinszweck verpflichtet, das professionelle Kinder- und Jugendtheater in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, zu fördern und zu entwickeln. Das visionäre Ziel, dass jedes Kind und jeder Jugendliche in Deutschland die Chance haben soll, Theaterkunst zu erleben und selbst Theater zu spielen, kann letztlich auch nicht allein von den Kinder- und Jugendtheatern erreicht werden. Zur Herstellung von Teilhabegerechtigkeit braucht es das Zusammenwirken vieler gesellschaftlicher Akteur*innen. Denn das Teilhabehindernis mangelnder Reichweite wegen fehlender Angebote in der Fläche teilt das Kinder- und Jugendtheater mit den meisten anderen Bereichen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Daraus leitet sich die Notwendigkeit einer infrastrukturellen Stärkung dieser Akteur*innen ab. Doch Infrastrukturentwicklung ist nicht das Ziel des bildungspolitischen Breitenprogramms Kultur macht stark, sondern die Förderung von Maßnahmen der

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Kulturellen Bildung, um im Programmzeitraum mehr Angebote und neue Zugänge für bisher nicht erreichte Zielgruppen zu schaffen. Solange die Angebote nicht für alle reichen und es keine Grundversorgung mit Kultureller Bildung gibt, erscheinen die Zugänge offensichtlich umso wichtiger. „Denn es liegt nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen, Zugang zur Kultur zu finden, sondern es ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, diese Zugänge zur Kultur bereitzustellen.“ (Liebau 2014: 23) Mit ihrem Programm Wege ins Theater! Theaterscouts im Kinder- und Jugendtheater hat sich die ASSITEJ Deutschland e. V. als kultur- und jugendpolitische Akteurin dieser Aufgabe und ihrer Verantwortung gestellt, Kindern und Jugendlichen unabhängig von der sozialen Situation ihres Elternhauses Zugänge zum Theater zu ermöglichen. Das Programm stellt sich dabei der Frage nach den Teilhabehindernissen. Warum haben oder finden Kinder und Jugendliche keine Zugänge zum Theater? Im Konzept des Programms sind einige Zugangsbarrieren benannt. Es fehlt an Vorbildern in Elternhaus und Familie, Theater als Kunstform ist ebenso unbekannt wie es als elitärer und exklusiver Ort begriffen wird. Eintrittspreise sind nicht erschwinglich, die Organisation des Theaterbesuchs erscheint kompliziert und aufwändig und oftmals sind in ländlichen Gegenden, aber auch im eigenen Stadtbezirk überhaupt keine Theaterangebote vorhanden, weswegen mangelnde Mobilität eine weitere Hürde auf dem Weg ins Theater ist. Diese und andere Hindernisse sollen durch Unterstützung des Programms mit den Konzepten aktivierende Kulturvermittlung überwunden werden, die in den Bündnissen der Kinder- und Jugendtheater vor Ort entwickelt und umgesetzt werden. Es geht also anders als in der klassischen theaterpädagogischen Kunstvermittlung weniger um das Vermitteln der Kunst des Theaters, als um die Förderung von Fähigkeiten der jungen Zuschauer*innen, wie Neugier, Entdeckerfreude, Beobachtungsgabe, Lust auf das Unbekannte oder Empathiefähigkeit.

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DURCH

B ETEILIGUNG

Die Bündnispartner*innen sind dazu aufgefordert, eigenständige theaterpädagogische, szenische und performative Formate zu entwickeln, mit denen sie benachteiligte Kinder und Jugendliche in ihren Sozialräumen erreichen, um sie auf ihrem Weg zur Teilhabe an Theater zu unterstützen. Methodische Grundlagen für diese aktivierende Kulturvermittlung sind die Erfahrungen mit einer Methode des Audience Development, die an einigen Theatern in Deutschland erprobt und entwickelt wird. Theaterscouts sind Theaterzuschauer*innen, die als ehrenamtliche Botschafter*innen Verbindungen zwischen dem Theater und einem potenziellen

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Publikum herstellen. Sie agieren aufgrund eigener Erfahrungen und Auseinandersetzung mit der Theaterkunst und der Institution Theater und werden dabei von den Theatern vielfältig unterstützt. Diese Methode ist jedoch nicht einfach auf das Publikum des Kinder- und Jugendtheaters zu übertragen, denn sie setzt Begeisterung für das Theater und auch eine gewisse Selbstlosigkeit voraus. Bei dem Scout-Konzept des Programms Wege ins Theater! geht es nicht darum, diejenigen die bisher nicht erreicht wurden, ins Theater einzuladen, um bei ihnen die Bereitschaft zu wecken, für ein bis dahin unbekanntes Theater Werbung zu machen. Vielmehr geht es bei dem Projektformat Scouts darum, für Kinder und Jugendliche Möglichkeiten zu schaffen, das Theater mitzugestalten. Hinter diesem konzeptionellen Anspruch steht das jugendpolitische Prinzip der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen an der Gestaltung ihres Lebensumfelds durch ihre Beteiligung an und in politischen Entscheidungsprozessen. Das Programm zielt damit in seinem konzeptionellen Kern auf eine zentrale jugendpolitische Absicht. Es geht darum, das Recht auf kulturelle Teilhabe durch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen durchzusetzen. Im Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland hat die Bundesregierung 2010 formuliert: „Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beteiligung. Sie müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Probleme überall dort einzubringen, wo es um ihre Belange geht. Das gilt für den Alltag in der Familie, für die Gestaltung des Wohnumfelds, im Kindergarten und in der Schule. Aber auch in der gesellschaftlichen Debatte um die Zukunft unseres Gemeinwesens braucht die Stimme von Kindern und Jugendlichen einen festen Platz.“ (BMFSFJ 2006: 50)

I N ALLEN K ONZEPTEN UND M ODELLEN LAUERT DAS B ETEILIGUNGSDILEMMA Doch so sinnvoll und einleuchtend das Konzept der Beteiligung auch sein mag, in der Praxis sind für die Beteiligung noch hohe Hürden zu überwinden und Privilegien zu befragen. Aus jugendpolitischer Perspektive wären also auch wegweisende Beteiligungsmodelle zu befragen, ob das gegebene Beteiligungsversprechen ernst gemeint ist. Ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen im Theater Mitwirkung mit Wirkung oder nur symbolisches Ritual? Wie vertrauenswürdig sind die Angebote zur Beteiligung? Der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt klar, dass es angesichts sozialer Ungleichheiten zwischen den jungen Menschen ebenso wie im

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Hinblick auf das Machtgefälle zwischen den Jugendlichen und den erwachsenen Entscheidungsträger*innen eine hohe Anforderung ist, wirksame Jugendbeteiligung zur Aushandlung unterschiedlicher Positionen zu ermöglichen (vgl. Deutscher Bundestag 2017: 12). Diese Einschätzungen beziehen sich vor allem auf die Formen der Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in politische Entscheidungen. Die von den Autor*innen identifizierten Grundprinzipien lassen sich aber auch auf die Entscheidungsebenen und -prozesse im Theaterbetrieb übertragen. Wenn ein Theater sich bereits für die Beteiligung des jungen Publikums engagiert, könnten die im Bericht beschriebenen drei Grundtypen der politischen Beteiligung zur Einschätzung des Grads und der Qualität ihrer eigenen Beteiligungsmodelle herangezogen werden, sozusagen als jugendpolitischer Check der Partizipationsformate. Im Bericht wird zwischen jugendpolitischer Teilhabe ohne Entscheidungseinfluss, partieller Teilhabe mit jugendpolitischer Mitbestimmungsmöglichkeit und der Übertragung von Verantwortung an die junge Generation unterschieden. Im ersten Fall wird zu bestimmten Fragen auch eine „Jugendmeinung“ eingeholt, indem Jugendliche ihre Ansichten zu einem bestimmten Thema oder Projekt artikulieren können. Ob ihre Meinung bei der Entscheidungsfindung beachtet wird, liegt jedoch nicht mehr im Ermessen der beteiligten Jugendlichen. Wenn es um jugendpolitische Themenfelder geht, die ausschließlich die junge Generation betreffen, werden repräsentative Teilentscheidungen von jungen Menschen getroffen, die andere Entscheidungen ergänzen. Die größte Wirksamkeit erleben Jugendliche aber vor allem dann, wenn ihnen, und sei es nur in abgrenzbaren Teilbereichen, die Verantwortung vorbehaltlos übergeben wird und sie selbstständig und eigenmächtig entscheiden können. Doch in allen Konzepten und Modellen lauert das Beteiligungsdilemma, wie es die Autor*innen des 15. Kinder- und Jugendberichts nennen. Es geht um die Frage nach den Interessen, die sich mit der Partizipation verbinden. So sei in der gegenwärtigen Debatte über Partizipation eine Engführung des Begriffs der Partizipation im institutionellen Interesse des Aufwachsens zu beobachten, womit Partizipation ausschließlich als Dimension der Vermittlung von institutionellen mit lebensweltlichen Prozessen im Jugendalter gesehen werde. Partizipation sei in diesem Sinne vor allem ein zentraler Modus politischer und sozialer Integration Jugendlicher. Doch wenn Partizipation und Demokratie tatsächlich „Geschwister der zivilgesellschaftlichen politischen Kultur“ (Deutscher Bundestag 2017: 113) sind, wie es die Autor*innen des 15. Kinder- und Jugendberichts behaupten, dann muss auch nach der Demokratisierung der institutionalisierten politischen Prozesse durch Partizipation gefragt werden.

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ÜBER DIE

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D AS I NTERESSE

DES T HEATERS AN DENJENIGEN , DIE BISHER NICHT DA WAREN In Anwendung der Typologie der Beteiligungsformen, die der Kinder- und Jugendbericht vorschlägt, wären die herkömmlichen Theaterscout-Modelle jugendpolitisch als Formate zu bewerten, die den beteiligten Kindern und Jugendlichen Teilhabe ohne Entscheidungseinfluss ermöglichen. Und man müsste den Theaterscout-Modellen bescheinigen, dass sie aus jugendpolitischer Sicht die Potenziale der Beteiligung nicht ausschöpfen. Denn als Instrument des Audience Developments vermitteln Theaterscouts den Spielplan eines Theaters, über den sie selbst in aller Regel nicht mitentschieden haben. Die direkte Wirkung ihrer Mitwirkung beschränkt sich letztlich auf die Vermittlung des von den Profis gestalteten Theaters. Doch das im angelsächsischen Raum entstandene Konzept des Audience Developments sieht den Entwicklungsbedarf nicht nur beim Publikum, sondern auch und vor allem bei den Kulturinstitutionen, deren Interesse an bisher nicht erreichten Publikumsgruppen nicht durch das Marketingkalkül der Erschließung neuer Kunden motiviert sein sollte, sondern durch die gesellschaftspolitische Erkenntnis, dass das Recht auf kulturelle Teilhabe umgesetzt werden muss. Dass sich dabei die Kulturinstitutionen grundlegend verändern müssen, ist eine der wesentlichen Erkenntnisse bisheriger Evaluationen von Audience Development-Programmen. Scout-Projekte sind dazu geeignet, „Routinen und Regeln der Institutionen infrage zu stellen. Dabei werden Preisstrukturen und Vertriebswege, künstlerische Ansätze, Organisationsformen, interne Hierarchien, thematische Schwerpunkte und Veranstaltungsformate gleichermaßen hinterfragt und gegebenenfalls verändert.“ (Eitzeroth 2016: 29)

M ITWIRKUNG

DURCH

M ITGESTALTUNG

Doch verändert sich der Theaterbetrieb durch die Arbeit der beteiligten Kinder und Jugendlichen tatsächlich grundlegend? Führt Beteiligung und Mitwirkung des jungen Publikums zu jenen strukturellen Veränderungen und demokratischen Öffnungen des Theaters, die angesichts einer sich wandelnden und von zunehmender Diversität geprägten Gesellschaft dringend notwendig sind? Man darf sich wohl nicht der Illusion hingeben, dass sich die Institutionen des Kinder- und Jugendtheaters durch die Mitbestimmung des jungen Publikums im Handumdrehen verändern werden. Doch die Beteiligung des jungen Publikums kann das Theater in Teilbereichen mitgestalten und es so bis zu einem gewissen Grad auch verändern.

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Aber welche Gestaltungsspielräume bietet das Theater den Kindern und Jugendlichen? Das Theater mitzugestalten kann beispielsweise heißen, Räume zu gestalten, in denen sie sich gerne aufhalten, weil sie das Theater dann als einen Ort erfahren, an dem sie sich wohlfühlen und gleichzeitig eine Institution erleben, die es zulässt, dass sie Entscheidungen treffen und umsetzen. Auf diese Weise fühlen sie sich dem Theater zugehörig und die Partizipation kann ihre Identifikation mit der Institution erhöhen, bis dahin, dass sie Freunde aus ihrem sozialen Umfeld ins Theater mitbringen. Hier liegt zudem ein großes Potenzial für die künftige Entwicklung der Kommunikation und Vermittlung der Kinder- und Jugendtheater. Denn es scheint so, dass das Kinder- und Jugendtheater zwar auf die Kommunikation mit Multiplikator*innen, wie Lehrer*innen und Erzieher*innen spezialisiert ist, die in der Regel die Entscheidungen über einen Theaterbesuch treffen und zugleich nur wenige Formate hat, die den direkten Dialog mit dem jungen Publikum ermöglichen. Gestaltungsmacht können Kinder und Jugendliche auch bei der Mitarbeit in Kinder- und Jugendjurys bei Festivals und Wettbewerben erfahren, wenn sie eine Inszenierung für das Festivalprogramm auswählen oder einen Preis an eine eingeladene Inszenierung vergeben. In Anwendung der oben zitierten Typologie der Beteiligungsformen treffen junge Menschen in diesen Mitgestaltungsformaten repräsentative Teilentscheidungen, die andere Entscheidungen ergänzen und im besten Fall als Teil der Gesamtentscheidung sichtbar werden.

M ITWIRKUNG

MIT GESTALTENDER

W IRKUNG

Doch was passiert, wenn solche Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen den erwachsenen und professionellen Vorstellungen von beispielsweise künstlerischer Qualität nicht entsprechen, wenn sie eben im besten Sinne eigensinnig sind? Hat dann die Intendanz das letzte Wort? Diese Fragen zeigen, dass ein weiteres Dilemma der Beteiligung in dem gegebenen Machtgefälle zwischen den erwachsenen Entscheidungsträgern in den Institutionen und den beteiligten Kindern und Jugendlichen liegt. Für dieses Gefälle braucht es einen Ausgleich und es muss von vornherein klar artikuliert werden, wie die Beteiligungsverfahren das gegebene Machtgefälle ausgleichen. Nur so könnte die Nutzerpartizipation Jugendlicher auch der Demokratisierung institutionalisierter Prozesse dienen. Doch „die gegenwärtige Diskussion um Partizipation im Jugendalter im institutionellen Gefüge des Aufwachsens thematisiert Strategien des Machtausgleichs und einer politischen Kultur kommunikativer Konfliktaushandlung nur selten“ (Deutscher Bundestag 2017: 113).

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Ein beteiligungsorientiertes Konzept von Kinder- und Jugendtheater müsste der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen zu gestaltender Wirkung verhelfen. Eine tragfähige und ausbaufähige Idee für Mitbestimmung des jungen Publikums ist das Konzept einer Kinderdramaturgie. In den dramaturgischen Abteilungen der Theater wird die Spielplanpolitik eines Theaters bestimmt. Kindern und Jugendlichen die Mitgestaltung des Spielplans zu ermöglichen, bedeutet, sie in grundlegende künstlerisch-strategische Entscheidungen des Theaters einzubeziehen. Es bedeutet, Kindern und Jugendlichen nicht nur eine Stimme zu geben, sondern auch ihre Entscheidung zu akzeptieren und sie mitzutragen, d. h. mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie die übrigen Entscheidungen umzusetzen. Bezogen auf die oben zitierte Typologie der politischen Beteiligungsformen wäre die Kinderdramaturgie ein Modell, bei dem Kindern und Jugendlichen die Verantwortung vorbehaltlos übergeben wird und sie selbstständig und eigenmächtig entscheiden können und damit die größte Wirksamkeit erleben. Soweit die Theorie. In der Praxis müssen Theaterbetriebe darauf vorbereitet werden, von beteiligten Kindern und Jugendlichen getroffene Entscheidungen anzuerkennen und sie auszuhalten. Zumindest aber müssen Verfahren der Konfliktaushandlung von vornherein vereinbart und von allen akzeptiert werden. Es braucht eine an den Regeln partizipatorischer Demokratie orientierte „Diskussions- und Streitkultur, die nach Begründungsmodi fragt und sowohl Perspektivübernahme als auch die Übernahme von Verantwortung einfordert und dabei – das ist entscheidend – davon ausgeht, dass besonders die Teilhabe an Konflikten entwicklungsförderlich ist“ (Baader 2015, S. 15f.).

Inwieweit sich solche Prozesse und Verfahren in den noch immer streng hierarchisch organisierten Theaterbetrieben etablieren lassen, hängt ganz wesentlich davon ab, ob bisherige Entscheidungsträger*innen Entscheidungsmacht teilen wollen. Doch da trifft es sich gut, dass Theaterleute Expert*innen des spielerischen „So-tun-als-ob“ sind. Es wäre denkbar, dass Theater Formate zur spielerischen Erprobung von strukturellen Veränderungen der Entscheidungsprozesse entwickeln. Denn wenn sich die real handelnden Entscheidungsträger*innen und Entscheidungsumsetzer*innen in den Theaterbetrieben ebenso an einem solchen performativen Probehandeln für die Realität beteiligen würden wie ihr junges Publikum, könnten sie Erfahrungen machen, die eine Institution verändern können – vorausgesetzt die Haltung aller beteiligten Personen ändert sich. Zumindest aber würden einmal die Konsequenzen deutlich, die tatsächliche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen für einen Theaterbetrieb mit sich bringt, und die Konzepte zu strukturellen Veränderungen könnten passgenauer werden.

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L ITERATUR Baader, M. (2015): „Zur Theorie und Praxis des Just Community Ansatzes in der Moralerziehung“. In: Pädagogik Unterricht. 35. Jg. H. 2/3, S. 2-21. Benedikt Sturzenhecker (2014): „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ – Kritik des Bundesprogramms unter sozialräumlicher und zivilgesellschaftlicher Perspektive. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/kultur-macht-star k-buendnisse-bildung-kritik-des-bundesprogramms-unter-sozialraeumlicher [aufgerufen am 03.06.2017]. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2012): Richtlinie zur Förderung von außerschulischen Maßnahmen, insbesondere der kulturellen Bildung, für Kinder und Jugendliche im Rahmen von Bündnissen für Bildung. URL: http://www.buendnisse-fuer-bildung.de/media/content/Foerderrichtlini e.pdf [aufgerufen am 05.06.17]. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2006): Nationaler Aktionsplan. Für ein kindergerechtes Deutschland 20052010. Berlin. Deutscher Bundestag (2017): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 15. Kinderund Jugendbericht. Drucksache 18/11050 vom 01.02.2017. Berlin. Eitzeroth, Anna (2016): „Scouts. Entwicklungshelfer/innen im Theater für junges Publikum“ In: Magazin für Kulturelle Bildung Nr. 14. Partizipation. Remscheid, S. 28-29. Liebau, Eckart (2014): „Vorbemerkung“. In: Rat für Kulturelle Bildung (Hg.): Schön, dass ihr da seid. Kulturelle Bildung: Teilhabe und Zugänge. Essen, S. 7-14.

Eine Frage des politischen Willens Bildungspolitik für kulturelle Teilhabe V ANESSA -I SABELLE R EINWAND -W EISS

Das Credo zur kulturellen Teilhabe ist mittlerweile fast 40 Jahre nach Hilmar Hoffmanns Buch Kultur für alle aus Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik und das heißt aus allen Diskursen um eine qualitätvolle, aktuelle und zukunftsfähige Kulturelle Bildung nicht mehr wegzudenken. Doch wo stehen wir mit der kulturellen Teilhabe wirklich? Was bedeutet umfassende Teilhabe und wie lässt sie sich bildungspolitisch, vor allem für Kinder und Jugendliche, befördern? Diesen Fragestellungen widmet sich der vorliegende Artikel und will damit aufrufen, sich nicht auf dem Erreichten auszuruhen, sondern immer wieder neu Diskurse um eine gesellschaftlich relevante Kulturelle Bildung anzustoßen.

Z UM B EGRIFF DER

KULTURELLEN

T EILHABE

Teilhabe ist mehr als Partizipation. An etwas zu partizipieren heißt, mitzumachen. Teil an etwas zu haben, heißt dagegen, es grundlegend mitzugestalten, vielleicht sogar Teil davon zu sein oder im Prozess zu werden. Teilhabe beschreibt also ein Konzept, in dem der bzw. die Einzelne nicht nur mitmachen darf an einer Sache, sondern ein Teil von ihr wird und das wiederum bedeutet, dass der bzw. die Einzelne das Ganze ausmacht. Teil zu haben und dadurch letztlich auch Verantwortung zu übernehmen, stellt also ein grundlegendes demokratisches Prinzip dar. (Vgl. Liebau 1999) Die kulturelle Teilhabe als politische Forderung erhielt erstmals in den 1970er und 80er Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit. Wohl bekanntester Ausdruck für diese „neue Kulturpolitik“ war das Buch Kultur für alle des damaligen Kulturdezernenten der Stadt Frankfurt am Main Hilmar Hoffmann. Insbesondere staatliche Kultur sollte, da ja auch von allen über Steuergelder finanziert, jedem zugänglich

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sein, aber mehr noch: Kultur und Kunst sollte als Soziokultur Ausdruck einer Kultur von allen werden (vgl. Hoffmann 1979: 11f.). Heute sind wir in den politischen Forderungen und auch in der Realität noch nicht viel weiter. Immer noch sind der Zugang und dadurch die regelmäßige Nutzung insbesondere staatlicher Kultureinrichtungen einer kleinen Bevölkerungsschicht vorbehalten (vgl. Renz 2016) und Förderinstrumente für kulturelle Teilhabe sind bekannt, aber ungenügend entwickelt. Das hat erst kürzlich die genauere Betrachtung des Bildungs- und Teilhabepaketes gezeigt. Ein Großteil der zur Verfügung stehenden Gelder zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für benachteiligte Kinder und Jugendliche wird nicht abgerufen, sei es aus Informationsmangel, aufgrund bürokratischer Hürden oder aus Desinteresse. Nur ca. sieben Prozent der Berechtigten haben 2016 Mittel für „soziokulturelle Teilhabe“ abgerufen. (Vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2017a: 68ff.) Diese exemplarischen Befunde zeigen, dass kulturelle Teilhabe ein altes Thema, aber immer noch hoch aktuell ist. Angesichts einer ökonomisch und sozial auseinanderdriftenden Gesellschaft ist Teilhabe wichtiger denn je. Umfassende gesellschaftliche Teilhabe besteht aber längst nicht nur aus kultureller Teilhabe. Mindestens vier weitere Teilhabeformen lassen sich unterscheiden: Die ökonomische Teilhabe kennzeichnet, inwieweit es einem Individuum aufgrund finanzieller Ressourcen überhaupt möglich ist, selbstbestimmt an Gesellschaft zu partizipieren. Ein wichtiger weiterer Aspekt stellt die soziale Teilhabe dar und beschreibt, inwieweit ein Individuum über die geeigneten sozialen Kontakte oder Gruppenzugehörigkeiten verfügt, um angemessen an Gesellschaft zu partizipieren und die eigenen Interessen zu vertreten. Die politische Teilhabe beschreibt die Möglichkeit, das politische System eines Landes mitzubestimmen. Letztlich verdeutlicht die Bildungsteilhabe den Zugang zu unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Für diese Teilhabeformen können weitere Unterkategorien wie religiöse, ethnische oder Teilhabe am Arbeitsmarkt gefunden werden. Der oft unterschätzten kulturellen Teilhabe kommt jedoch, folgt man der soziologischen Theorie Pierre Bourdieus (vgl. Bourdieu 1999), eine zentrale Bedeutung als Schlüssel für andere Teilhabeformen zu. Durch einen spezifischen Habitus und damit einhergehende Kapitalsorten (soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital) eröffnen sich durch kulturelle Teilhabe wiederum neue Teilhabeformen. Kulturelle Teilhabe also als eine wesentliche Kapitalsorte kann dazu beitragen, den Zugang und die Verwirklichung anderer Teilhabeformen erst zu ermöglichen. Inwieweit wird jedoch durch die aktuelle Bildungspolitik der Einzelne zu kultureller Teilhabe befähigt?

E INE F RAGE DES POLITISCHEN W ILLENS

K ULTURELLE T EILHABEMÖGLICHKEITEN IM UND NON - FORMALEN B ILDUNGSBEREICH

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FORMALEN

Betrachtet man kulturelle Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche im formalen Bildungsbereich, fällt zunächst auf, dass im frühkindlichen Bereich (Krippe und Kindertagesstätte) kein verpflichtendes ästhetisches Angebot bereitgestellt wird, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass gerade frühkindliches Lernen ästhetisches Lernen ist (vgl. Reinwand 2013). In fast allen Bildungsplänen der Bundesländer für den frühkindlichen Bereich hat ästhetische Bildung ihren Platz. Die Umsetzung und Ausbildung der Erzieher*innen wird jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt, sodass man nicht von einem flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Angebot ästhetischer Bildung in Krippen und Kindertagesstätten sprechen kann. Selbst Kooperationen mit non-formalen Anbietern wie Musikschulen nimmt nur ein kleiner Teil der Kindertagesstätten und Krippen in Deutschland wahr (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 176). Zudem gibt es mittlerweile einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung, der jedoch nicht allerorten durchgesetzt werden kann und oftmals gerade von benachteiligten Eltern nicht in Anspruch genommen wird. Schaut man auf die ästhetischen Formen in der frühkindlichen Bildung, trifft man häufig auf die bildenden Künste oder musikalische Früherziehungskonzepte. Theatrale Formen finden im formalen frühkindlichen Bildungsbereich kaum ihren Platz. Ein ähnliches Bild zeichnet sich in der Schule. Als grundständige Fächer werden Musik und Bildende Kunst unterrichtet. In den meisten Bundesländern ist Theater kein grundständiges Schulfach, sondern existiert als Angebot höchstens im Wahl- oder Nachmittagsbereich. Die Einführung der Ganztagesschule fordert allgemeinbildende Schulen zwar zunehmend auf, auch künstlerische oder kulturelle Angebote zu bieten, eine Veränderung der Stundentafeln in Bezug auf eine Stärkung der ästhetischen Fächer ist jedoch nicht in Sicht. Stundenausfälle und fachfremdes Unterrichten in den Künsten sind dagegen an der Tagesordnung (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2015: 24f.). Die zusätzlichen Angebote von Schulen im künstlerischen und kulturellen Bereich sind darüber hinaus auf die Schulformen sehr unterschiedlich verteilt. So bestätigen neueste Studien die bereits bekannten Befunde einer besseren Ausstattung und eines dichteren Angebotes an kulturellen Themen in Gymnasien als in Sekundarschulen (ebd.: 10f.). Das für kulturelle Teilhabe bedeutsame kulturelle Kapital ist damit bereits in den Schulen nicht allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen zugänglich. Daran ändern auch große Modellprogramme des Bundes und der Länder im non-formalen Bereich Kultureller Bildung, die teilweise insbesondere für bil-

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dungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche aufgelegt werden, nichts. Programme wie „Kulturagenten für kreative Schulen“ der Bundeskulturstiftung oder Kultur macht stark des Bundesministeriums für Bildung und Forschung oder auch der Ausbau von Kulturschulen über Programme wie Kreativpotentiale der Stiftung Mercator betonen zwar öffentlichkeitswirksam die großen Potenziale kultureller Teilhabe, verschleiern jedoch den Missstand und Mangel an ästhetischer Bildung im Regelunterricht noch zusätzlich. Bildungspolitische Forderungen der Zivilgesellschaft, beispielsweise der Bundesvereinigung für Kulturelle Kinderund Jugendbildung, der ASSITEJ oder auch des Rates für Kulturelle Bildung, nach einem Ausbau non-formaler wie formaler Kultureller Bildung verhallen scheinbar ungehört. Es existiert auch außerhalb spezifischer Modellprogramme eine Fülle an nonformalen kulturellen Bildungsangeboten. Angefangen bei Musikschulen, Jugendkunstschulen, Theaterpädagogischen Zentren, Volkshochschulen oder soziokulturellen Einrichtungen – das Angebot ist groß. Leider ist es – wie bereits gezeigt werden konnte – nicht von allen abrufbar. Gerade die staatlichen Kultureinrichtungen haben sich in den letzten Jahren, auch auf politischen Druck hin, bemüht, eine Öffnung ihrer Häuser in Hinblick auf neue Zielgruppen zu erweitern. Oftmals steckt die Notwendigkeit zur Gewinnung eines neuen Publikums dahinter, zuweilen aber auch die Erkenntnis in den Chefetagen, dass (Hoch-)Kulturvermittlung neue Formen braucht, um Menschen in ihrer Diversität zu erreichen. So besitzt mittlerweile fast jedes größere Theater eine Education-Abteilung und es existieren Teilhabekonzepte wie Studierendenabos, Theater für die Allerkleinsten, Theatergärten im öffentlichen Stadtraum oder andere mobile und partizipative Theaterformen. Dass gerade der für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen so wichtige non-formale Bereich (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 197f.) in den letzten Jahren seine Angebotspalette überprüft und ausgeweitet hat, ermutigt angesichts der desaströsen Lage im formalen Bildungsbereich und ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch gälte es, verstärkt in den formalen wie non-formalen kulturellen Bildungsbereich zu investieren, um eine Netz an Angeboten zu schaffen, durch das kein Kind oder Erwachsener, egal welcher Herkunft, durchfallen kann. Betrachtet man Bildung in der Lebenslaufperspektive fällt auf, dass bereits Studierende schlecht über das kulturelle Angebot an Hochschulen informiert sind und der Bildungsstand im Erwachsenenalter der zentrale Faktor zur Bestimmung von kulturellen Bildungsaktivitäten bleibt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 171). Wer über eine höhere Bildung verfügt, nutzt auch häufiger kulturelle Angebote. Nach der aktiven Erwerbsphase findet sogar eine deutliche

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Abnahme kultureller Aktivitäten statt, d. h. nur noch ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist künstlerisch-kreativ aktiv und nimmt damit aktiv am kulturellen Leben teil. Auch hier gibt es also viel Luft nach oben. Was müsste bildungspolitisch passieren, damit mehr kulturelle Teilhabe in allen Bevölkerungsschichten und Lebensaltern möglich wird?

B ILDUNGSPOLITIK

FÜR KULTURELLE

T EILHABEVISIONEN

Eine verlässliche kulturelle Bildungspolitik lässt sich nicht über noch so groß angelegte Modellprogramme verlässlich ausgestalten. Modellprogramme sind wichtig und richtig, um neue Formen der Kooperation und organisationale Strukturen, innovative ästhetische und pädagogische Methoden oder spezifische Angebotsformen auszutesten, weiterzuentwickeln oder zunächst Akzeptanz zu schaffen. Auch Programme für besondere Zielgruppen wie Geflüchtete oder inklusive Ansätze fallen in diese Kategorie. Um eine flächendeckende Grundversorgung und belastbare Infrastruktur an kulturellen Angeboten für alle Bevölkerungsschichten aufzubauen, sind diese Programme jedoch ungeeignet, wenn nicht gar kontraproduktiv. Modellprogramme verschlingen immer enorme Ressourcen und sind von einem temporären organisationalen Kraftaufwand begleitet, der institutionelle Strukturen zeitweise stark belasten kann. Inhaltlich zielen sie mitunter auf einen engen Fokus und können daher zunächst sogar zu Stigmatisierung oder gar Exklusion beitragen anstatt zu inkludieren. Worum es aber grundsätzlich gehen muss, um kulturelle Teilhabe aller anzustreben, ist die Entlastung institutioneller Strukturen zugunsten einer nachhaltigen, d. h. zeitlich andauernden, verlässlichen Arbeit und Angebotsvielfalt, die allen zur Verfügung steht. Diese politische Aufgabe kann nur durch eine ressortübergreifende Zusammenarbeit von Kultur-, Bildungs- und Jugend-/Sozialpolitik passieren. Am Beispiel der Theater wäre es wichtig, Vermittlungsarbeit und Kulturelle Bildung als einen wesentlichen Aspekt der Aufgaben vor allem von Stadtund Staatstheatern an Förderprinzipien zu knüpfen. Eine öffentliche Förderung müsste zu diesem Zweck an bestimmte Kennzahlen der Vermittlung gebunden werden. Gleichzeitig wäre jugendpolitisch dafür zu sorgen, dass auch außerschulische Angebote z. B. freier Theater von allen wahrgenommen werden könnten durch eine Überarbeitung des Bildungs- und Teilhabepaketes. Bildungspolitisch schließlich wäre eine Verankerung eines Faches Theater/Darstellendes Spiel in allen Schulen sinnvoll sowie eine Ausgestaltung kommunaler Bildungslandschaften und Kulturschulen. Bei all diesen Forderungen ist zu beachten: Je früher im Lebenslauf ein kulturelles Interesse geweckt wird, desto wahrscheinlicher ist es,

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dass dieses ein Leben lang anhält. Maßnahmen für Kinder und Jugendliche wirken sich in einer Langzeitperspektive also auf die gesamte Bevölkerung aus. Die Hauptlast der Ressourcen für kulturelle Angebote tragen in Deutschland die Kommunen, die gerade zur Stärkung der freiwilligen Aufgaben entlastet werden müssen. Dass Kulturelle Bildung eine deutliche Stärkung erfährt, wo politische Fürsprache und politischer Wille grundsätzlich vorhanden sind, auch unabhängig von finanziellen Ressourcen, zeigte jüngst eine Befragung unter Mitgliedsstädten des Deutschen Städtetages (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2016: 9). Die Studie macht auch deutlich, dass Organisation und Koordinierung wesentliche Parameter sind, um kommunal Kulturelle Bildung zu unterstützen. Auch in diesem Sinne bietet sich eine sinnvolle Liaison von Bildungs-, Kultur- und Jugendbereich an, beispielsweise in Form kommunaler Gesamtkonzepte oder kommunaler Bildungslandschaften. Eine strukturell optimale Verzahnung des formalen Bildungsangebotes mit dem non-formalen Kulturbereich kann zur Entlastung beider Bereiche beitragen, sich gegenseitig befruchten und ergänzen. So haben beispielsweise einige Theater feste Kooperationen mit Schulen, was einerseits die Schulen in der Organisation kultureller Angebote entlastet, andererseits den Theatern den direkten Weg zu einem diversen und sehr jungen Publikum bietet. In diesem Sinne hat sich schon 2013 die Kultusministerkonferenz (KMK) für mehr Kooperation und damit kommunale Bildungslandschaften ausgesprochen. Sie schlägt beispielsweise eine „Entwicklung von Ziel- und Kooperationsvereinbarungen zwischen Kindertagesstätten/Schulen und Trägern außerschulischer Kinder- und Jugendbildung bzw./sowie Kultureinrichtungen“ (Kultusministerkonferenz 2013: 9) vor. Es handelt sich jedoch eher um ein politisches Bekenntnis, das richtungsweisende und empfehlende Kraft, aber kaum Durchsetzungsmacht in den Ländern besitzt. Insofern sind die Maßnahmen, welche die KMK 2013 in Bezug auf die kulturelle Kinder- und Jugendbildung empfiehlt, längst noch nicht deutschlandweit umgesetzt. Diesen Maßnahmenkatalog zu realisieren, wäre bildungspolitisch ein großer Schritt zu mehr kultureller Teilhabe für alle. Gerade allgemeine Bildungseinrichtungen wie Schulen müssen zukünftig stärker als Kulturschulen gedacht werden. Kultur wäre in diesen kein schönes „Addon“ zur Füllung des Ganztages und Musik/Bildenden Kunst eher lästige Zusatzfächer neben relevanteren Kernfächern, sondern Kultur und Ästhetik bildeten den integralen Bestandteil aller Fächer und wären tagtäglich sichtbar im Schulleben. Gerade die performative, leibliche, imaginative und kreative Kraft der Künste könnte dazu beitragen, Lernen moderner und erfolgreicher zu gestalten (vgl. auch Fuchs/Braun 2015).

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P OTENZIALE EINER B ILDUNGSPOLITIK FÜR MEHR T EILHABE Man muss nicht erst auf die Transfereffekte ästhetischer und künstlerischer Bildung schauen, um zu erkennen, dass die Künste Wirkungen beim Einzelnen (Mikroebene) und in einem gesellschaftlichen Subsystem wie der Schule (Mesoebene) oder gesamtgesellschaftlich (Makroebene) entfalten können, die sich eigentlich alle wünschen. So fördert aktives Theaterspiel beispielsweise nachweislich die Perspektivübernahme, gerade bei Menschen, die zuvor noch kein Theater gespielt haben (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2017b: 21 ff., 77ff.). Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass Theaterspiel die sprachliche Ausdrucksfähigkeit stärkt (vgl. Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013: 8) und positive Auswirkungen auf das Schulleben insgesamt haben kann. So schwer wissenschaftlich im Einzelnen jedoch verlässlich Transfereffekte der Künste zu bestimmen sind, so vielfältig sind die kognitiven, ästhetischen, sozialen, emotionalen, moralischen oder psychischen Wirkungen unterschiedlicher Angebote auf ganz unterschiedliche Teilhabende. Immer aber bieten die Künste einen Gegenentwurf zur rein kognitiven Wissensvermittlung, indem sie die eigene Perspektive aktivieren und Selbstwirksamkeit unmittelbar erfahrbar werden lassen; indem sie Irritationen und Perspektivwechsel geradezu herausfordern; indem sie die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft sichtbar werden lassen; indem sie Ambiguität fordern und dadurch wiederum (biografische) Orientierungskompetenz fördern; indem sie zeigen, dass es keine eindeutigen Wahrheiten gibt, aber immer wieder zu individuellen kritischen Interpretationen animieren. Künste können Bildungssysteme in Bewegung halten. Dies scheint notwendiger denn je in einer Zeit, in der unumstößliche Bildungswahrheiten schwer zu finden sind und junge Menschen noch mehr als zuvor auf eine Zukunft hin erzogen werden müssen, die heute niemand erahnen kann. Um solche Wirkungen zu entfalten, dürfen die Künste nicht als Mittel zum Zweck degradiert werden. Sie müssen ihren ästhetischen Eigenwert behalten und ihre Eigenzeit zugestanden bekommen. Bildungspolitisch heißt dies, neben staatlich ausgebildeten Lehrer*innen ebenso Künstler*innen oder Kulturvermittler*innen in Schulen aktiv werden zu lassen. Kooperationen zwischen schulischen und außerschulischen Partner*innen müssen institutionell durch feste Zuständigkeiten, Entlastungsstunden, Qualifizierungen und Zeit für Austausch unterstützt werden. Schulen brauchen Freiräume – und Schulleiter*innen sowie Kollegien müssen ermutigt werden, ihre Rhythmen und Angebote selbst zu bestimmen. Schulen müssen veränderbar bleiben und auf dem Weg der Veränderung von Politik und Zivilgesellschaft, also außerschulischen Partner*innen, Verbänden, Eltern etc.,

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unterstützt werden. Neben Schulen muss die ästhetische Bildung in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung durch eine entsprechende Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte gestärkt werden. Das heißt auch, insgesamt die ästhetische Ausbildung an Hochschulen zu stärken und künstlerisch-kulturelle Angebote für Studierende deutlicher zu bewerben. Kulturelle Bildung und Kulturvermittlung für Erwachsene braucht neue (zeitliche) Formate und vor allem Menschen im dritten und vierten Lebensalter können aufgrund zeitlicher Freiräume das Potenzial eines vielfältigen Angebotes noch einmal intensiver für sich entdecken. Wir benötigen in Deutschland also auf der einen Seite Modellprogramme, um neue Formen zu initiieren und Weiterentwicklung zu ermöglichen, gleichzeitig benötigen wir verlässliche Strukturen und Angebotsnetze. Die Information über Angebote muss leicht und verständlich für alle zugänglich sein und künstlerische Betätigung auf unterschiedlichen Niveaus möglich werden. Hierzu muss vor allem der non-formale Bereich Kultureller Bildung stetig kommunal unterstützt werden, um auf der einen Seite den formalen Bildungsbereich zu entlasten, auf der anderen Seite informelle kulturelle Betätigungsfelder erst zu ermöglichen. Die Diskussion um mehr kulturelle Teilhabe ist – wie gezeigt werden konnte – alt und die Hebel zur Umsetzung eigentlich hinlänglich bekannt und erforscht. Ein deutliches Bekenntnis der Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik für die Förderung Kultureller Bildung und ein fester politischer Wille würden ausreichen, um mehr Menschen strukturell kulturelle Teilhabe zu ermöglichen und damit einen wesentlichen Schritt zu einer höheren Chancengerechtigkeit zu tun.

L ITERATUR Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf. Bielefeld. Bourdieu, Pierre (1999): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. Fuchs, Max/Braun, Tom (Hg.) (2015): Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung. Grundlagen, Analysen, Kritik. Band 1. Schultheorie und Schulentwicklung. Weinheim. Hoffmann, Hilmar (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt am Main. Kultusministerkonferenz (2013): „Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 1.7.2007 i. d. F. vom 10.10.2013“. URL: http://www.kmk.org/filead

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min/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2007/2007_02_01-Empfehlun g-Jugendbildung.pdf [aufgerufen am: 28.06.2017] Liebau, Eckart (1999): Erfahrung und Verantwortung. Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. Weinheim und München. Rat für Kulturelle Bildung (2015): Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015. Essen. Rat für Kulturelle Bildung (2016): Städte/Geld/Kulturelle Bildung. Horizont 2016. Essen. Rat für Kulturelle Bildung (2017a): Mehr als weniger als gleich viel. Zum Verhältnis von Ökonomie und Kultureller Bildung. Essen. Rat für Kulturelle Bildung (2017b): Wenn. Dann. Befunde zu den Wirkungen Kultureller Bildung. Essen. Reinwand, Vanessa-Isabelle (2013): „Ästhetische Bildung – Eine Grundkategorie frühkindlicher Bildung“. In: Margrit Stamm/Doris Edelmann (Hg.): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden, S. 573-585. Renz, Thomas (2016): Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development. Bielefeld. Winner, Ellen/Goldstein, Thalia R./Vincent-Lancrin, Stephan (2013): Art for Art’s Sake. An Overview. Paris.

Autor*innen

Dagmar Domrös studierte Germanistik, Amerikanistik und Politische Wissenschaft. Sie arbeitete als Assistentin des künstlerischen Leiters am American Place Theatre NYC und als Dramaturgin am Stadttheater Heidelberg (2001-2005). In Berlin war sie als Produzentin und Dramaturgin für das GTA German Theater Abroad (2005- 2008) und die spreeagenten Berlin tätig. Seit 2009 gehört sie dem Ensemble des Theater o.N. an. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin leitet sie die partizipativen Projekte. 2012 übernahm sie gemeinsam mit Vera Strobel und Doreen Markert die künstlerische Leitung des Theater o.N. Caroline Eisenträger hat an der Universität der Künste in Berlin Theaterpädagogik studiert und angewandte Theater- und Medienwissenschaften in Bayreuth. Nach festen Engagements am Theater Krefeld und Mönchengladbach sowie am Theater Hagen kam sie als Elternzeitvertretung ans Theater Bremen und arbeitet nun regelmäßig in Projekten des Moks als Honorarkraft. Alle Wege ins Theater!Projekte des Moks hat sie als Theaterpädagogin begleitet. Anna Eitzeroth hat an der Universität Hildesheim Szenische Künste studiert und war von 2008 bis 2013 als Dramaturgin mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater am FFT Düsseldorf tätig. Seit 2013 arbeitet sie im Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Themenschwerpunkt „Theater in der Kulturellen Bildung“. Für die ASSITEJ Deutschland leitet sie seit 2013 das Projekt Wege ins Theater! im Rahmen des Bundesprogramms Kultur macht stark des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Prof. Dr. Viola B. Georgi ist Professorin für Diversity Education und Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration: Diversity und Demokratie in Migrationsgesellschaften an der Stiftung Universität Hildesheim. Zu ihren Arbeits- und For-

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schungsschwerpunkten zählen u. a. Diversity Studies, Holocaust Education, Migrations- und Integrationsforschung, Bildungsmedienforschung, Demokratiepädagogik und Citizenship Education. Bassam Ghazi ist Theaterpädagoge, Regisseur und Diversity Trainer am Schauspiel Köln. Er pendelt zwischen den Kulturen und Perspektiven: biografisch, postmigrantisch, divers und inkludiert. Er ist der künstlerische Leiter des Import Export Kollektivs, Mitglied im „Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen“ und Jurymitglied beim Theatertreffen der Jugend. Rebecca Hohmann hat an der Universität Hildesheim Kulturpädagogik mit dem Schwerpunkt Theater studiert und begann ihre Theaterlaufbahn als Theaterpädagogin am Staatstheater Braunschweig. Seit 1999 ist sie am Moks, zunächst als Dramaturgin. 2004 übernahm sie die künstlerische Leitung des Moks. Im Jahr 2005 entstand unter ihrer Leitung Junge Akteure – die Moks Theaterschule. Als das Programm Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung 2012 aufgelegt wurde, war für sie schnell klar, dass dieses Programm am Moks eine wichtige Rolle spielen würde. Maximiliane Horbach, 1989 geboren und aufgewachsen in Duisburg, studierte Kulturpädagogik und Kulturmanagement in Mönchengladbach. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst für unterschiedliche Festivals der freien Szene in NRW, u. a. tanz nrw 11, altstadtherbst Kulturfestival düsseldorf, FAVORITEN 2012 und dynamo – Junge Tanzplattform Krefeld. Zudem begleitete sie u. a. am tanzhaus nrw partizipative Tanz- und Theaterprojekte mit Jugendlichen organisatorisch. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie am FFT Düsseldorf als Koordinatorin für Kinder- und Jugendprojekte, sowie für das künstlerische Betriebsbüro tätig. Ursula Jenni ist freischaffende Theaterpädagogin und Dozentin für Theaterpädagogik an der UdK Berlin und im Rahmen der berufsbegleitenden Weiterbildung des Bundesverbandes für Theaterpädagogik. Sie hat 2013 und 2015 zwei LaborTagungen für Künstler*innen in der Kulturellen Bildung mit konzipiert und durchgeführt. Von 2008 bis 2012 leitete sie das Programm TUSCH Theater und Schule Berlin. Seit 2013 ist sie in der Jury für das Programm Wege ins Theater!. Beate Kegler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Ihr Schwerpunkt in Lehre und Forschung ist die partizipativer Kulturarbeit in ländlichen Räumen. Praktische Erfahrungen im Feld sam-

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melte sie über viele Jahre als Geschäftsführerin und Projektleiterin soziokultureller Einrichtungen auf dem Land. Sie ist Mitglied im Beirat Soziokultur des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur, in der Jury des Förderprogramms sozioK der Stiftung Niedersachsen sowie Evaluatorin im EU-Förderprogramm Horizon 2020. Thomas Lang, Theaterpädagoge und Dramaturg, lebt in Hannover, zuletzt tätig als Programmleiter Theater an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung in Wolfenbüttel, davor Leiter des Kinder- und Jugendtheaters am Staatstheater Braunschweig. Zurzeit ist er aktiv als Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim und an der Leibniz-Universität Hannover mit den Schwerpunkten Szenische Praxis und Gegenwartstheater. Dr. Johanna Beate Lohff ist selbstständige Kunsthistorikerin in Recklinghausen und im Vest. Sie studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik in Köln – mit Stipendien des DAAD und der Bibliotheca Hertziana in Rom – und promovierte an der Universität Bonn. Sie arbeitet u. a. als freie Mitarbeiterin an den Museen Recklinghausen und koordiniert seit 2014 verschiedene Museumsprojekte im Rahmen von Kultur macht stark. Prof. Dr. Christoph Lutz-Scheurle ist Theater- und Kulturwissenschaftler mit Diplom an der Universität Hildesheim und seit 2013 an der FH Dortmund Professor für Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt „Kunst und Teilhabe“. Am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften verantwortet er gemeinsam mit Norma Köhler und Melanie Hinz das Profilstudium „TaSK – Theater als Soziale Kunst“. Seit seiner Dissertation zu den Darstellungsleistungen der deutschen Kanzler im Fernsehen (Bielefeld 2009) forscht er zu partizipativen Verfahren im Spannungsfeld von Theater, Politik und Medien. Eckhard Mittelstädt ist seit 2013 Projektleiter von tanz + theater machen stark. Bündnisse für Bildung beim Bundesverband Freie Darstellende Künste e. V. und lebt in Berlin. Zuvor war er als Geschäftsführer der ASSITEJ und des Landesverbandes Freier Theater in Niedersachsen tätig. Bis Juli 2013 war er stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes Freie Darstellende Künste e. V. Gemeinsam mit Alexander Pinto gab er den Band Freies Theater in Deutschland. Diskurse, Perspektiven und Entwicklungen heraus. Seit 2005 ist er verantwortlicher Redakteur von IXYPSILONZETT, dem Magazin für Kinder- und Jugendtheater. Irene Ostertag studierte Theaterwissenschaft, Geschichte und Neuere deutsche Literatur in Erlangen und Berlin sowie Kultur- und Medienmanagement an der

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Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. Sie arbeitet als Regieassistentin (Hans-Otto-Theater Potsdam), Projektleiterin (u. a. beim Theaterfestival Unithea, Frankfurt/Oder) und Lehrbeauftrage. Seit 2004 ist sie Dramaturgin und Leiterin Kommunikation am Freien Theaterhaus EUKITEA mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater. Seit 2009 ist sie zudem Geschäftsführerin beim Bund Deutscher Amateurtheater e. V. und Projektleiterin Theater für Alle! im Förderprogramm Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung. Maren Ranzau studierte Politik-, Medienwissenschaften und Soziologie in Marburg. Seit 2000 engagiert sie sich bei unterschiedlichen Träger*innen in den Bereichen Kultur, Bildung und politische Bildung. Von 2007 bis 2011 war sie Geschäftsführerin eines soziokulturellen Zentrums. Seit 2011 ist sie Finanzreferentin beim BJF e. V. und mitverantwortlich für Movies in Motion, dem Projekt des BJF im Rahmen des Bundesprogramms Kultur macht stark. Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss studierte Pädagogik, Theater- und Medienwissenschaften, Italoromanistik und Philosophie in Erlangen und Bologna. Nach ihrer Promotion leitete sie als Postdoktorandin eine Studie zur frühkindlichen Bildung an der Universität Fribourg (Schweiz). Sie forscht und lehrt als Professorin für Kulturelle Bildung am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und ist Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Dr. Thomas Renz war langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Er forscht zum Arbeitsmarkt Kultur, zur Organisation von Theatern und zum Publikum von Kulturveranstaltungen. Seit Sommer 2017 ist er künstlerischer Leiter des Stadttheaters Peiner Festsäle und Geschäftsführer des Kulturrings für Stadt und Landkreis Peine e. V. Cathrin Rose ist Dramaturgin der Ruhrtriennale und leitet seit 2002 die Vermittlungsabteilung. Die Programmreihe Junge Kollaborationen wurde von ihr unter der Intendanz von Johan Simons entwickelt und in der praktischen Umsetzung begleitet. Unter der künstlerischen Leitung von Heiner Goebbels von 2012 bis 2014 war sie Projektleiterin von No Education. Ihre Theaterarbeit als Dramaturgin beginnt sie 1995 am Schauspielhaus Bochum unter der Intendanz von Leander Haussmann. Cathrin Rose ist Mutter von drei Kindern und lebt in Bochum. Claudia Schmidt studierte Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien in Passau mit dem Abschluss Diplom-Kulturwirtin. Als Pfadfinderin hat sie langjährige

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Erfahrung in der Jugendverbandsarbeit. Von 2010 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes. Seit 2013 ist sie beim BJF mitverantwortlich für Movies in Motion. Katharina Schneeweis hat zehn Jahre im Bereich Tourismusmarketing gearbeitet. Jahrelange Beschäftigung mit Tanz führte sie 2001 in die Tanzszene. Bis 2007 war sie für das nrw landesbuero tanz und als freiberufliche Tanzmanagerin tätig. Sie ist Mitbegründerin des Bundesverband Tanz in Schulen e. V. und war bis 2011 die Leiterin der Geschäftsstelle. Sie war federführend an der Entwicklung von ChanceTanz beteiligt und leitet das Programm seit 2013 gemeinsam mit Martina Kessel. Prof. Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Inhaber des UNESCO-Chair Cultural Policy for the Arts in Development. Er ist Vorsitzender des Fonds Darstellende Künste und der ASSITEJ e. V. Deutschland, Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Prof. Dr. Gerd Taube ist Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und künstlerischer Leiter des Festivals des Theaters für junges Publikum Augenblick mal! in Berlin. Er ist Honorarprofessor am Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. Ingo Toben, Regisseur, lebt in Düsseldorf. Seit 2007 erarbeitet er mit Kindern und Jugendlichen experimentelle Live-Formate am FFT Düsseldorf. Gemeinsam mit einem interdisziplinär zusammengesetzten Künstler*innenteam entwickelt er Aufführungen, die zwischen Performance, Konzert, Storytelling, Film und Installation changieren. Ingo Toben dreht Kurzfilme, erforscht das künstlerische Erzählen von Grundschulkindern und lehrt an der Hochschule Niederrhein im Bereich Kulturpädagogik. Das Theater- und Performancekollektiv Turbo Pascal (in diesem Beitrag Angela Löer, Frank Oberhäußer und Eva Plischke) wurde an der Universität in Hildesheim gegründet und arbeitet seit 2008 vor allem in Berlin (Sophiensaele, HAU, DT). 2012 bis 2014 waren sie in Doppelpass-Kooperation mit dem Theater Freiburg. Turbo Pascal ist zudem in Kontexten Kultureller Bildung künstlerisch tätig und bekam Einladungen zu Festivals wie Politik im Freien Theater, Augenblick

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Mal! etc. Das Kollektiv entwickelt interaktive Bühnenstücke und performative Installationen, die das Theater zum öffentlichen Versammlungs- und Verhandlungsraum gesellschaftlicher Prozesse macht. Dr. Aron Weigl studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und promovierte am dortigen Institut für Kulturpolitik zu Auswärtiger Kulturpolitik für Kinder (Wiesbaden 2016). Als Stipendiat des ifaForschungsprogramms 2014/2015 befasste er sich mit „Kultureller Bildung im internationalen Austausch“. Seit 2016 ist Aron Weigl wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Wiener Institut EDUCULT – Denken und Handeln im Kulturbereich. Dort ist er insbesondere in den Bereichen Forschung, Beratung und Evaluation an den Schnittstellen von Kultur, Bildung und Politik tätig. Lisa Zehetner studierte Kultur- und Medienwissenschaften in Düsseldorf und Kulturpädagogik und Kulturmanagement in Mönchengladbach. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater am FFT Düsseldorf. Sie war im Auswahlgremium von Spielarten – Das Kinder und Jugend Theaterfestival in NRW und 2015 im künstlerischen Leitungsteam von westwind – Theatertreffen für junges Publikum NRW. 2016 war sie Mitglied der Jury für den Deutschen Kindertheaterpreis und den Deutschen Jugendtheaterpreis. Seit der Spielzeit 2017/18 arbeitet Lisa Zehetner als Dramaturgin am Jungen Nationaltheater Mannheim.

Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Marion Leuthner

Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1

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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)

Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)

Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer

Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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