Normierte Kinder: Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz [3., unveränderte Auflage 2018] 9783839424179

Geschlechternormen beeinflussen uns von Geburt an - bis ans Ende unseres Lebens. Welche Effekte haben sie auf die Erzieh

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German Pages 402 [400] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1: Thematische Rahmung
Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders
Menschliche Vielfalt — zum Leidwesen der Normen
Geschlechteridentitäten und Menschenrechte
Die Gender-Problematik, eine Frage der Nicht-Diskriminierung
Kapitel 2: Kategorien
Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit in seiner epistemologischen und ethischen Relevanz
Die Kunst, nicht so sehr kategorisiert zu werden
Wer ist krank? Wer entscheidet es?
Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen
Kapitel 3: Biomedizin
Das Geschlecht des Wissens – Sexuierte Anatomie
Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes voraus ...
Kuba: Eine Revolution der Sexualitäten, Geschlechter und Körper
Kapitel 4: Geschlechternormativität und Transidentität
Trans‘-Kinder zwischen Definitionsmacht und Selbstbestimmung
Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher
Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?
Kapitel 5: Geschlechternormativität und intergeschlechtliche Körper
Intergeschlechtlichkeiten - eigene Realitäten, eigene Normen
Intersexualität – Medizinische Maßnahmen auf dem Prüfstand
Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte
Medizinische Widerstände gegenüber der Kritik von intergeschlechtlichen Aktivist_innen: Operationen an der Front der Glaubwürdigkeit
Kapitel 6:Erziehung/ Begleitungspraxis
Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, die sich jenseits der binären Geschlechternorm entwickeln
Vermittlung von Genderkompetenz in der Ausbildung von Biologielehrer_innen
Gefangene der Lexika: Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit und Trans‘-Kinder
Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen
Transidentität und Pubertät
Analyse und Ausblick
Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten von einer Konferenz zu Geschlechternormen
Autor_innen
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Normierte Kinder: Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz [3., unveränderte Auflage 2018]
 9783839424179

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Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Normierte Kinder

Gender Studies

Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.)

Normierte Kinder Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: suze / photocase.de Korrektorat: Anne Müller, Trier; Erik Schneider, Luxemburg; Christel Baltes-Löhr, Luxemburg Lektorat: Erik Schneider, Luxemburg; Christel Baltes-Löhr, Luxemburg Übersetzung: lingua•trans•fair: Netzwerk für Kommunikation; Jacky Robert; Charlotte Wirth Satz: Anne Müller, Trier Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck Print-ISBN 978-3-8376-2417-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2417-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung

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Christel Baltes-Löhr, Erik Schneider

Kapitel 1: Thematische Rahmung Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders Versuch einer Begriffsbestimmung

17

Christel Baltes-Löhr

Menschliche Vielfalt — zum Leidwesen der Normen‌

41

Janik Bastien Charlebois

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

47

Jean-Paul Lehners

Die Gender-Problematik, eine Frage der Nicht-Diskriminierung

6 ‌1

Charles Goerens

Kapitel 2: Kategorien Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit in seiner epistemologischen und ethischen Relevanz

6 ‌7

Michael Groneberg

Die Kunst, nicht so sehr kategorisiert zu werden Eine Kritik des Wissens und der Macht des Geschlechts

87

Éric Fassin

Wer ist krank? Wer entscheidet es?

105

Jörg Woweries

Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen Tanguy Trillet

125

Kapitel 3: Biomedizin Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

135

Sylvie Deplus

Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes voraus …

149

Heinz-Jürgen Voß

Kuba: Eine Revolution der Sexualitäten, Geschlechter und Körper

169

Mariela Castro Espín

Kapitel 4: Geschlechternormativität und Transidentität Trans‘-Kinder zwischen Definitionsmacht und Selbstbestimmung

181

Erik Schneider

Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher

205

Achim Wüsthof

Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?

213

Petra de Sutter

Kapitel 5: Geschlechternormativität und intergeschlechtliche Körper Intergeschlechtlichkeiten — eigene Realitäten, eigene Normen

227

Simon Zobel

Intersexualität — Medizinische Maßnahmen auf dem Prüfstand

249

Jörg Woweries

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte Vincent Guillot

265

Medizinische Widerstände gegenüber der Kritik von intergeschlechtlichen Aktivist_innen: Operationen an der Front der Glaubwürdigkeit

277

Janik Bastien Charlebois, Vincent Guillot

Kapitel 6: Erziehung/Begleitungspraxis Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, die sich jenseits der binären Geschlechternorm entwickeln

295

Karin Weyer

Vermittlung von Genderkompetenz in der Ausbildung von Biologielehrer_innen

307

Isabelle Collet

Gefangene der Lexika: Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit .. und Trans‘-Kinder

319

Natacha Kennedy

Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen

337

Christel Baltes-Löhr

Transidentität und Pubertät

367

Tom Reucher

Analyse und Ausblick Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten von einer Konferenz zu Geschlechternormen

381

Todd Sekuler

Autor_innen

397

Einleitung Christel Baltes-Löhr, Erik Schneider

Die vorliegende Publikation beruht auf ausgewählten Beiträgen des im Jahre 2012 in Kooperation zwischen dem Verein Intersex & Transgender Luxembourg und der Universität Luxemburg durchgeführten Kongresses »Geschlechternormativität und Effekte für Kindheit und Adoleszenz«.1 Mit dem Kongress konnten Synergien freigesetzt werden, was sowohl für Luxemburg, aber auch darüber hinaus noch nicht alltäglich ist: das Zusammenwirken und die gemeinsame Diskussion von Menschen, die sich dem Kongressthema aufgrund ihrer eigenen lebensbiographischen Situation widmen, zusammen mit Aktivist_innen der politischen Bewegung, die auf Enttabuisierung der Lebensformen und Gleichberechtigung von all denjenigen abzielen, die nicht den normativen Vorstellungen einer binären Geschlechterordnung entsprechen, und nicht zuletzt mit Wissenschaftler_innen, die sich diesem Thema in Forschung und Lehre widmen. Bei dem Austausch innovativer Ideen und Konzepte zu den Themen Intergeschlechtlichkeit und Trans‘-Geschlechtlichkeit2 sollte ein hierarchisierendes Sprechen von sogenannten Professionellen über sogenannte Betroffene vermieden und ein gleichberechtigtes Miteinander von allen an der Konferenz Teilnehmenden unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit angestrebt werden. Mit etwa 200 Teilnehmenden aus verschiedenen europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweiz, Vereinigtes Königreich), Kanada und Kuba sowie Referierenden unterschiedlicher Disziplinen von Biologie über Medizin, Recht, Pädagogik, Psychologie bis hin zu Soziologie und Philosophie, wurde eine umfassende und facettenreiche Debatte ermöglicht. Der Kongress traf auf ein erfreulich großes Interesse der Medien, auch weit über die Grenzen Luxemburgs hinaus. Im Anschluss an die Veranstaltung blieb der Wunsch nach einem internationalen Austausch mit Referierenden, Forschenden und Interessierten bestehen. Es entstanden internationale

1 | URL: http://idw-online.de/pages/de/attachmentdata18240.pdf [21.12.2013]. 2 | In dieser Publikation wird die mittlerweile von dem Verein Intersex & Transgender Luxembourg entwickelte Schreibweise Trans‘ anstelle von Trans* verwendet.

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Christel Baltes-Löhr, Erik Schneider

und pluridisziplinäre Vernetzungen, in die auch Elterngruppen von Trans‘-Kindern einbezogen wurden. So kann die vorliegende Veröffentlichung als Meilenstein dienen, Fragen zu Intergeschlechtlichkeit und Transidentität noch stärker in das Bewusstsein der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu rücken. Besonders bemerkenswert ist der Fokus des Kongresses auf Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen, die mit ihrer subjektiven Eigenzuschreibung von Geschlecht nicht der binären normativen Geschlechtermatrix entsprechen, aber von eben dieser Matrix stark begrenzt, oftmals eingeschnürt leben – müssen. Hier deutet sich eine umfassendere Perspektive des Kongresses und der vorliegenden Veröffentlichung an: das Hinterfragen geltender Geschlechternormen. Gehören doch Geschlecht und Geschlechternormen scheinbar zum Leben – wie die Luft zum Atmen. Es scheint normal zu sein, dass wir ein Geschlecht haben – und zwar nur eines. Die Wirkmächtigkeit solcher normativer Vorstellungen wird v.a. in Begegnungen mit jenen Menschen deutlich, die diesen Normvorstellungen nicht zu entsprechen oder sich ihnen gar zu widersetzen scheinen. Ausgehend von dieser Beobachtung resultieren Fragen nach der Notwendigkeit derartiger Normen und den möglichen Folgen aus ihrer blinden, i.S.e. unreflektierten Durchsetzung. Insbesondere mit Blick auf Kinder, Jugendliche und deren Familien erschließen sich aus einer intersektionalen Perspektive schnell Zusammenhänge hinsichtlich der Wirkmächtigkeit normativer Zuschreibungen von Geschlecht mit anderen, wechelseitig relationierten Dimensionen wie beispielsweise ethnische Zugehörigkeit, Alter, körperliche Verfasstheit. Aber auch normative Vorstellungen, Prozesse der Normierung, des Umgangs mit Abweichung und Andersartigkeit, sowie Bestätigung und Zustimmung können mit einem solchen Blick auf Kinder und Jugendliche verdeutlicht werden. Ohne eine neue Klassifikation von Menschen mit Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen von Geschlecht eröffnen zu wollen, werden im Folgenden mit Bezug auf jene, die nicht den bislang vorherrschenden Geschlechternormen entsprechen, zwei Gruppen vorgestellt, um die es in dieser Publikation geht: Menschen, die sich nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen, werden im Folgenden als Trans‘-Personen bezeichnet. Diejenigen, deren körperliche Merkmale sich nicht auf eines der beiden Standardgeschlechter, d.h. weiblich oder männlich reduzieren lassen, werden in der vorliegenden Publikation als Intersex-Personen bezeichnet. Für Kinder und Jugendliche wird entsprechend von Trans‘-Kindern/-Jugendlichen bzw. von Intersex-Kindern/-Jugendlichen

Einleitung

gesprochen. Deren Situation stellt auch im Jahre 2014 ein weitgehend unbekanntes Terrain dar, in das nur wenige Eltern, Familien bzw. Professionelle Einblick erhalten haben, oftmals durch die Präsenz eines Kindes, das den bisher gültigen, binär verfassten Geschlechterordnungen nicht entspricht. Mit dem Kongress und der vorliegenden Publikation wurde die seit 2010 bestehende Kooperation zwischen dem Verein Intersex & Transgender Luxembourg bzw. seinem Vorläufer Transgender Luxembourg und der Universität Luxemburg fortgeführt und ein für die Geschlechterforschung in Luxemburg neues Kapitel aufgeschlagen. Von Beginn an hat sich der Verein Intersex & Transgender Luxembourg neben der Informationsvermittung für und Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und deren Familien, der Weiterbildung Professioneller in allen für Intersex- und Trans‘-Personen relevanten Berufsgruppen, insbesondere aus Medizin, Recht sowie dem Bildungs- und Erziehungsbereich gewidmet und Debatten mit politischen Entscheidungsträger_innen geführt. Außerdem wurde stets der Austausch mit Forschungseinrichtungen gesucht. Mit der seit 2003 existierenden universitären Forschungsgruppe Gender-Studies, mittlerweile Institut für Geschlechterforschung, Diversität und Migration an der Universität Luxemburg, und zusammen mit der universitären Genderbeauftragten konnte eine Einbettung dieser Geschlechterthematiken in einen wissenschaftlich-empirischen Kontext ermöglicht werden. Seitens der Universität stellt die thematische Fokussierung auf Forschungen zu Intersex- und Transgender-Fragen eine konsequente Weiterentwicklung von der Frauenforschung zu einer zunächst an binären, dann jedoch pluralen Geschlechterordnungen ausgerichteten Forschung dar. Dem Kongress im Jahre 2012 ging die gemeinsame Organisation zweier Konferenzen in den Jahren 2010 »Alle Geschlechter sind in der Natur ... aber nicht gleich vor dem Gesetz« und 2011 »Identitäten jenseits von Fakten & Ideologien« voraus. Diese von Öffentlichkeit und Fachwelt kaum wahrgenommenen Veranstaltungen standen von Beginn an im Lichte einer internationalen, interdisziplinären, empirisch begründeten, theoriebildenden und an der Praxis orientierten Ausrichtung. Die Zusammenarbeit erstreckte sich zudem auf die Durchführung gemeinsamer Lehrveranstaltungen, die bei Studierenden auf hoch konzentriertes und nachhaltiges Interesse trafen. Wir danken dem Präsidenten der Universität Luxemburg, Herrn Rolf Tarrach, nicht nur für die Unterstützung des Anliegens aller Veranstaltungen und der vorliegenden Publikation, sondern darüber hinaus für seine langjährige und

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Christel Baltes-Löhr, Erik Schneider

beharrliche Ermutigung, auch Themen außerhalb des Gender-Mainstreams in das Licht wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatten zu rücken. Unser Dank gilt ebenfalls dem damaligen Gesundheitsminister, Herrn Mars Di Bartolomeo, für die Übernahme der Schirmherrschaft dieses Kongresses, wie auch dem Luxemburgischen Fonds National de la Recherche (FNR), der mit einer finanziellen Bezuschussung die Durchführung des dieser Publikation zugrunde liegenden Kongresses ermöglichte. Wir danken allen Autor_innen, Übersetzenden und der Layouterin. Bei der Erledigung der vielfältigen Aufgaben, die zum Gelingen einer derartigen Veröffentlichung erforderlich sind, wurden wir von zahlreichen, an dieser Stelle Ungenannten unterstützt. Wir möchten ihnen herzlich für ihr Engagement danken, ebenso wie dem Verlagsteam für seine stets geduldige, kreative und Freude bereitende Begleitung. Der vorliegende Tagungsband »Normierte Kinder« bietet im ersten von sechs Kapiteln als thematische Rahmung den Versuch einer begrifflichen Fassung von Geschlecht als veränderbar, polypolar und plural an, ohne die Problematik einer vereinfachenden etikettierenden Zuschreibung aus den Augen zu verlieren. Neben der Frage vielschichtiger Existenzformen, die zum Leidwesen normativer Ordnungen durcheinander geraten können, werden Geschlechteridentitäten im Zusammenhang mit Menschenrechten diskutiert. Die thematische Rahmung findet durch die Erörterung von Aspekten der Nicht-Diskriminierung im Kontext von Geschlechter-Debatten ihre Abrundung. Das zweite Kapitel widmet sich vertiefend den Fragen der Kategorienbildung und stellt diese in den Zusammenhang mit Nicht-Erfüllung normativer Vorgaben und den daraus möglicherweise resultierenden Folgen. Der Begriff ›menschlicher Geschlechtlichkeit‹ wird auf seine epistemologische und ethische Relevanz geprüft, um anschließend der Überlegung nachzugehen, ob und wie es gelingen kann, sich Kategorisierungen zu entziehen. Das Kapitel schließt mit Antworten auf Fragen »Wer ist krank? Wer entscheidet es?« ab, um dann in einer künstlerischen Art Geschlecht anzusprechen. Biomedizinische Zugänge stellen den Schwerpunkt des dritten Kapitels dar, das mit Fokus auf eine Vergeschlechtlichung der Anatomie beginnt, anschließend die Voraussagekraft von Genen und DNA auf die Entwicklung eines Genitaltraktes diskutiert und am Beispiel eines staatlich geförderten, kubanischen Projektes im Gesundheitsbereich einen innovativen Umgang mit pluralen Formen von Sexualitäten, Geschlechtern und Körpern vorstellt, indem Verbindungen zwischen vielfach als allgemeingültig wahrgenommenen Geschlechternormen,

Einleitung

der Medizin wie auch Veränderungen im Umgang mit Normvorstellungen hergestellt und hinterfragt werden. Im vierten Kapitel werden Fragestellungen zur Geschlechternormativität in Bezug auf Transidentität aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen, wobei ein besonderer Fokus auf Aspekte der Definitionsmacht und Selbstbestimmung von Trans‘-Kindern gelegt wird, ein anderer auf die Vorstellung und Diskussion innovativer Konzepte im Umgang mit Hormonblockern zu Beginn der Pubertät sowie Fragen der Reproduktionsmedizin im Kontext von genetischer und biologischer Trans‘-Elternschaft. Im fünften Kapitel geht es um eine vielschichtige Diskussion zu Geschlechternormativität und Intergeschlechtlichkeit. Herausgehoben werden hier die Darstellungen eigener Realitäten aus der Perspektive intergeschlechtlicher Menschen, mit den damit einhergehenden Forderungen nach Anerkennung nicht-normativer Vorstellungen, die im Rahmen einer heteronormativen, binären Matrix von Geschlecht nicht abgebildet werden. Vor diesem Hintergrund wird die Legitimierung medizinischer Maßnahmen hinterfragt, um dann die Rechte von intergeschlechtlichen Menschen ebenso zu diskutieren, wie medizinische Widerstände gegenüber der Kritik von Intersex-Aktivist_innen, wenn es ihnen mit ihren Aktionen um Operationen an der Front der Glaubwürdigkeit geht. Das sechste Kapitel ist dem Erziehungsbereich gewidmet und zeigt den Einfluss der Geschlechternormen, insbesondere im schulischen Kontext bzw. während Kindheit und Adoleszenz, auf. Dieses Kapitel geht der Bedeutsamkeit der ElternKind-Bindung für die Entwicklung des Menschen nach, beschreibt an einem konkreten Beispiel die Vermittlung von Geschlechterkompetenz in der Ausbildung von Biologie-Lehrer_innen, um dann den Zusammenhang von kultureller Geschlechtlichkeit und Trans‘-Kindern zu debattieren, geschlechter-plurale pädagogische Angebote jenseits einer binären Geschlechterordnung vorzustellen und den Zusammenhang zwischen Transidentität und Pubertät zu diskutieren. Die Publikation schließt mit einem ungewöhnlichen Rückblick auf den Kongress, wenn über Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten einer Konferenz über Geschlechternormen nachgedacht wird. Als Herausgeberin und Herausgeber dieses Bandes hoffen wir, zum einen die Vielfalt des bis auf den heutigen Tag nachhallenden Kongresses im September 2012 in Luxemburg widerspiegeln zu können und so einen Beitrag zu einer Debatte zu leisten, die gerade in ihren Anfängen steht und eine Chance bietet, der Pluralität von Lebensformen gerechter zu werden.

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Kapitel 1: Thematische Rahmung

Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders Versuch einer Begriffsbestimmung Christel Baltes-Löhr

Zusammenfassung Ausgehend von pluridimensionalen Identitätskonzepten, in denen Geschlecht, Alter, ethnische Orientierung, ökonomischer Status und körperliche Verfasstheit als miteinander verwoben und sich wechselseitig beeinflussend verstanden werden (Baltes-Löhr 2006, 2009) und weiterhin ausgehend von einem Verständnis von identitäts- und differenzenbildenden Subjektkonstitutionen durch Prozesse der Zuschreibung und Aneignung geht es in dem vorliegenden Artikel um den Versuch einer Definition von Geschlecht in seinen körperlich/ physischen, psychischen, sozialen und sexuellen Dimensionen. Geschlecht gilt dabei als auf einem Kontinuum angesiedelt, als veränderbar, polypolar, plural und intersektional verfasst. Es geht nicht um spezifische Definitionen von Weiblichkeit, Männlichkeit, Transgender oder Intersex, sondern darum, einen definitorischen Rahmen zu wagen, der für alle Geschlechter gelten könnte und die diskursiv-performative Perspektive der Konstruktionsprozesse von Geschlecht mit der symbolisch-interaktionistischen, im Sinne von doing gender, miteinander zu verknüpfen sucht.

Begriffsverwirrung – eindeutige Uneindeutigkeiten Vor, während und auch im Anschluss an den dieser Publikation zugrundeliegenden Kongress »Geschlechternormativität und Effekte für Kindheit und Adoleszenz« wurde deutlich, wie sehr im Feld von Transgender und Intersex, aber auch insgesamt im Bereich der Geschlechterforschung, derzeit um Begriffe gerungen wird. Oftmals werden die Bezeichnungen ›Transgender und Intersex‹ im gleichen Atemzug genannt mit Homosexualität, wobei häufig völlig

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Christel Baltes-Löhr

ungeklärt bleibt, dass Transgender- und Intersex-Personen sich nicht auf eine wie auch immer definierte sexuelle Orientierung reduziert sehen möchten. So spricht Helga Bilden von der »Vielzahl der Geschlechter und Sexualitäten« und nennt »Lesben, Schwule, Bisexuelle, Intersex-Personen, Transsexuelle, Transgender-Personen« kommentarlos in einem Atemzug (Bilden 2001: 144). Auch Michael Becker setzt unhinterfragt »A-, Bi-, Homo-, Inter- und Transsexualität« (Becker 2008: 18) in eine Reihe. Wie weitreichend diese Verschränkung von Trans- und Intersexualität mit homoerotischen Orientierungen ist, wird auch mit der Bezeichnung des sogenannten IDAHO-Days deutlich. IDAHO-Day steht für »International Day against Homophobia« und findet ständige, stark diskutierte Erweiterungen bis hin zu IDAHO-TI »International Day against Homo-, Trans*- and Inter*phobia«. Ähnliches gilt für die Selbstbezeichnung nicht heterosexueller Menschen in der sogenannten LGBT-Community, womit die englischsprachigen Begriffe ›Lesbian, Gay, Bisexual and Transsexual‹ gemeint sind. Auch hier findet aktuell die Diskussion um die Erweiterung des Akronyms in LGBT-I statt, um so die Gruppe der intersexuellen Menschen, in all ihrer Vielfalt, mit einzubeziehen. Die Notwendigkeit, Intersexualität und Transsexualität nicht auf den Aspekt der sexuellen Orientierung zu reduzieren, ist hiermit jedoch noch nicht gelöst. Es hilft auch nicht viel weiter, wenn Queertheoretiker_innen betonen, dass queere Ansätze sich bewusst einer Kategorisierung entziehen möchten, da Kategorien immer auch ausschließen müssen. Diese Annahme gilt es im Zusammenhang mit der angestrebten Definition des Begriffs ›Geschlecht‹ zu überprüfen, wenn es um die Diskussion der Durchlässigkeiten kategorialer Abgrenzungen geht. Die von der Queer-Theory teilweise eingeforderte Aufhebung der kategorialen Ordnung (Butler 2009: 18 f.) scheint vor allem angesichts der Resistenz heteronormativer, kategorial gestützter Wirkmächtigkeiten (Baltes-Löhr u.a. 2010) wenig zielführend, wenn eine Enttabuisierung und gleichberechtigte Präsenz möglichst aller Geschlechterformen erreicht werden soll. Wie komplex die Frage der Begrifflichkeit ist, lässt sich auch anhand des 2003 in deutscher Sprache erschienenen Romans von Leslie Feinberg »Träume in den erwachenden Morgen« (2003 in dt. Übersetzung; Original in engl. 1993) zeigen. Vor dem Hintergrund der McCarthy Ära (1947-1956) und den damit verbundenen Verfolgungen von Homosexuellen in den USA wird beschrieben, wie die Protagonist_in, die als lesbische, biomorphologisch weibliche Frau lebt, ihr Geschlecht umwandeln möchte und zu welchen Konflikten dies mit ihrer lesbischen, biomorphologisch weiblichen Freundin führt, die nicht mit einem Mann zusammen leben möchte. Der Roman zeigt äußerst eindrucksvoll, wie

Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders

sehr auch homoerotische Beziehungen in binären Logiken verhaftet bleiben können und wie produktiv es sein könnte, Geschlecht und auch sexuelle Orientierungen aus einem starren heteronormativen Korsett zu lösen. Die Wirkmächtigkeit des heteronormativen Diskurses zeigt sich u.a. auch bei der Suche nach Filmen zum Thema Transsexualität. Im Internet zeigt sich eine Liste mit 43 Titeln, die von 1953 an, oftmals auch in Koproduktion, in Argentinien, Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Iran, Japan, Kanada, Österreich, Schweiz, Spanien, Thailand und den USA produziert wurden.1 Es soll hier nun nicht um eine Filmanalyse gehen, sondern vielmehr darum, dass die Suche nach Filmen zum Thema Intersexualität erstens nicht mit einer solch wohlgeordneten Liste aufscheint, sondern hier im Internet einzelne Filme besprochen werden. Es zeigt sich aber auch, dass etliche der Filme auf der Liste der Transgender-Filme aufgeführt sind.2 Hier deutet sich an, dass alles, was nicht als hetero gilt, leicht unter einer anderen Kategorie subsumiert wird, im angeführten Beispiel unter dem Begriff ›Transgender‹, und zwar unabhängig davon, ob und wie die subsumierten Teile oder Aspekte zusammenpassen oder nicht. Ein weiteres Beispiel für uneindeutige Begrifflichkeiten bietet die Zeitschrift GEO – Die Welt mit anderen Augen sehen. GEO titelt in der Dezemberausgabe 2013: »Persönlichkeitssuche. Das Mädchen im Jungen: Vom Glück und Leid geschlechtsvarianter Kinder« und bringt den dazugehörenden Artikel »Junge? Mädchen? Ich bin ich!«. Das Thema Geschlechtervarianz wird am Beispiel eines Feriencamps in den USA, in dem sich geschlechtervariante Kinder treffen und leben, wie es ihnen passt – ohne allgegenwärtige binäre Geschlechternormen, ohne geschlechterkonnotierte Anfeindungen und ohne gehänselt zu werden. Eltern von Kindern, die nicht in eine der beiden vorherrschenden Geschlechterrollen eingepasst werden wollen, berichten und fragen sich: »Warum bloß wiegt die Frage nach einer eindeutigen Geschlechtsidentiät so unglaublich schwer?« (GEO 2013: 106) Allerdings wird auch diesem Artikel immer noch von dem Kind im falschen Körper gesprochen (GEO 2013: 108), was darauf schließen lässt, dass es das Kind im richtigen Körper gibt und somit all die anderen, die varianten Kinder etwas haben, was nicht richtig ist. Der normativ als richtig gesetzte Körper markiert alle anderen Körper als falsch und damit als nicht der Norm entsprechend. Hier wird augenfällig, dass nicht Normen sozusagen im Dienst stehen, die menschlich gelebten Pluralitäten abzubilden, sondern Menschen an dem Grad der jeweilig von ihnen geleisteten Normerfüllung gemessen werden. Zurück zu dem GEO-Heft 1 | Siehe URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Transgender-Filmen [03.02.2014]. 2 | Z.B. die Filme XXY (2007) und Tintenfischalarm (2006).

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Christel Baltes-Löhr

Dezember 2013: Neben der Berichterstattung zum Feriencamp werden in einem Glossar die Begriffe ›intersexuell‹, ›geschlechtsvariant‹, ›Transvestiten‹ und ›Transsexuelle‹ vorgestellt (GEO 2013: 112). Ausgehend von einer aufklärerischen Absicht der Redaktion zeigt sich jedoch allzu deutlich, wie mit der Benennung intersexueller, geschlechtsvarianter, transsexueller, transidenter Menschen wie auch Transvestiten der normative Standard der Zweigeschlechtlichkeit implizit aufrechterhalten wird, wenn sozusagen ein unhinterfragt eindeutiges biologisches Geschlecht als Ausgangspunkt für Varianzen oder wechselnde Geschlechtsidentitäten genannt wird. Gleiches findet sich bei der Erläuterung zu Transvestiten, die laut GEO dadurch gekennzeichnet sind, dass sie gegengeschlechtliche Kleidung tragen, ohne aber körperlich/physisch dem anderen Geschlecht angehören zu wollen (GEO 2013: 112). Die vorherrschende Binarität der Geschlechterordnung weiblich/männlich wird nicht in Frage gestellt. Dies möge ebenfalls als anschauliches Beispiel dafür gelten, was es heißt, das Eigene zu stabilisieren, in dem das Nicht-Eigene als anders oder auch als variant bezeichnet wird. 2008 fasst Janina Stührmann Transsexualität bzw. Transidentität auch als gefühlte Abweichung von dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht auf (Stührmann 2008: 9). Hier wird der Eintrag in das Personenstandsregister zur normativen Richtschnur, von dem das gefühlte Geschlecht abweicht. Wurden im westeuropäischen und angelsächsischen Raum Kinder mit bei der Geburt uneindeutigen physischen Geschlechtsmerkmalen bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts häufig auf operativem Wege einem Geschlecht zugeordnet, dann heißt dies auch, dass ihnen kein Raum für die Entwicklung zu einem eigenen Geschlecht gegeben wurde und gravierende operative Eingriffe, beispielsweise der Aufbau einer Vaginalstruktur, an ihren gesunden Körpern vorgenommen wurden. Eltern mussten für ihre Kinder entscheiden, meist in einem häufig noch völlig tabuisierten Raum, der vielfach durch Falsch-, Teil- oder fehlende Information gekennzeichnet war und in dem der Macht von Mediziner_innen, denen in der Ausbildung in der Regel auch meist nur der pathologisierende Blick auf uneindeutige physische Geschlechter eröffnet wurde, erst mit dem Entstehen von Selbsthilfegruppen von Eltern und erwachsenen sogenannten Betroffenen ansatzweise etwas entgegengesetzt werden konnte. Vor diesem Hintergrund ist es von überaus weitreichender Bedeutung, dass mit der Änderung des deutschen Personenstandsgesetzes vom 1. November 2013 an mit Paragraf 22, Absatz 3 Folgendes geregelt ist: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne Geburtenregister einzutragen.«3 3 | Bundesgesetzblatt 2013 Teil I, S. 1122.

Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders

Bis hierher konnte deutlich gemacht werden, dass es erstens keine begriffliche Klarheit hinsichtlich der Bezeichnungen ›Transgender‹, ›Transsexualität‹ und ›Intersex‹ gibt und zweitens, dass alles, was nicht in das Raster des immer noch vorherrschenden heteronormativen Diskurses passt, schnell als anders, als variant, als abweichend oder gar falsch gilt. Außerdem wurde deutlich, dass Geschlechter, die nicht als weiblich oder männlich gefasst sind, häufig sexuell konnotiert und oftmals in der Nähe von Homosexualität verortet werden, was jedoch möglicherweise den gelebten Realitäten von Intersex- und Transgender-Personen so nicht gerecht wird. Die starke Wirksamkeit der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Definitionen für die beiden Geschlechter weiblich und männlich ins Wanken geraten sind. So ist das scheinbar eindeutige körperliche/physische Geschlecht in Frage gestellt, da nicht alle Menschen mit einer Vagina als Jugendliche bzw. Erwachsene auch einen erhabenen Busen sowie Eierstöcke, eine ähnliche Östrogenkonzentration und den gleichen XX-Chromosomensatz haben. Auch Menschen mit einem XY-Chromosom gehen nicht immer einher mit Penis, Hoden und einem entsprechenden Testosteronspiegel. Diese Varianz in der Kombination der verschiedenen körperlich biologischen Komponenten führt zu dem Schluss, dass von einem biologisch eindeutigen Geschlecht nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. Henke u.a. 1998: 43-64). All dies begründet die Annahme, dass eine alle möglichen Geschlechter umfassende begriffliche Fassung von Geschlecht von Nöten ist. Ist der Begriff schwierig zu definieren, dann ist zu vermuten, dass sich in dieser Schwierigkeit die Komplexität des Gegenstandes selbst widerspiegelt. Noch ein Grund mehr, eine möglichst umfassende Definition zu wagen.

Geschlecht als Dimension von Identität, Differenz und Subjektivität Es scheint deutlich zu sein, dass Geschlecht für viele Menschen damit zusammenhängt, was der Mensch als sein Selbst, als sein Ich, als seine Identität, als seine eigene Subjektivität, als seine Differenz zu anderen versteht, begreift, empfindet, wahrnimmt, akzeptiert oder ablehnt. Persönlichkeit wie auch Individualität werden bislang als stark mit Geschlecht konnotiert betrachtet. Geschlecht galt lange Zeit als die Strukturkategorie für gesellschaftliche Ordnungen, aber auch für die Persönlichkeit, die Individualität und die Identität eines jeden Menschen. Zusammen mit einer pluridimensionalen und intersektionalen

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Christel Baltes-Löhr

Fassung von Identität spielen neben dem Geschlecht auch Dimensionen bzw. Sektionen wie Alter, ethnische Herkunft, körperliche und psychische Verfasstheit, religiöse und ethisch moralische Orientierungen eine bedeutsame Rolle, wenn es darum geht, sich über das zu verständigen, was den Menschen in seinem Mensch-Sein ausmacht bzw. ausmachen kann. Es geht also darum zu erklären, welche Identitäten bzw. Differenzen dem Menschen zugeschrieben werden und welche er sich aneignet und wie diese Aushandlungsprozesse zu fassen sind.

Und nochmals: Identitäten und Différance Zwar wurden nach Zirfas (2001) mit Konzeptionen von Identität, wie z.B. bei Mollenhauer und Welsch, Vorstellungen von Kernidentitäten und feststehenden Ich-Identitäten aufgegeben. Dennoch bleiben Vorstellungen virulent, dass dem Begriff ›Identität‹ eine »kohärente und kontinuierliche Synthetisierungs- und Integrationsleistung zugrunde liegt, die es dem Individuum erlaubt, zu sich selbst über Raum und Zeiten hinweg ›Ich‹ sagen zu können« (Zirfas 2001: 52). Hingegen sind dekonstruktivistische Konzepte von Identität in Anlehnung an Derrida nicht das Band, welches im Sinne von Welsch über die Differenzen gespannt sein mag. Identität besteht »aus den zerstreuenden Bändern der Differenzen selbst: Identitätssuche ist insofern Spurensuche« (Zirfas 2001: 61). Diese Spur verläuft, so Zirfas, »von der integrierenden Identität zur desintegrierenden Differenz, vom Ich zum anderen«. Es geht also um eine Identität, »die sich durch Differenzen und Differenzierungen des Anderen auszeichnet« (Zirfas 2001: 60). Das Eigene im Anderen und das Andere im Eigenen darstellen und dabei sich und dem anderen gerecht werden zu wollen, kann nach Zirfas in Anlehnung an Derrida gemeint sein, wenn von Identität als einer Erfahrung des Unmöglichen gesprochen wird. Es geht Derrida nicht um die Relationalisierung, wie etwa im Symbolischen Interaktionismus bei Mead (1934) um das Verhältnis zwischen I und Me, wobei das I auf die Haltung anderer reagiert und für den Willen, die Einmaligkeit einer Person, den eigenen Anspruch und die biographische Unverwechselbarkeit steht, wohingegen das Me, der Generalized Other auf Konventionen und Gewohnheiten, soziale Anpassung und Anerkennung, und die Funktionsfähigkeit des Individuums in der Gesellschaft hinweist. Derrida verweist jedoch darauf, dass auch »in der Vorstellung des Ich [...] immer schon eine differente Vorstellung am Werke [ist]« (Derrida nach Zirfas 2001: 53). Bezeichnet Derrida mit dem Begriff ›Différance‹ »dass jeglicher Sinn immer nur in einem Aufschub,

Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders

einer Verzögerung, einem Kalkül oder einer Nachträglichkeit zum Ausdruck kommen kann« (Derrida nach Zirfas 2001: 55), dann bedeutet Différance auch Wiederholung, Intervall und Distanz. Différance fasst ein Ereignis, welches von der Sprache im Sprechen wiederholt, aber niemals ganz abgebildet werden kann, so dass von ständigen Sinnverschiebungen gesprochen werden kann (Zima 1997: 167). Identität, deren Konstruktion auf Ereignisse, Erfahrungen und Sprechen angewiesen ist, scheint somit zu einem flüchtigen Geschehen zu gerinnen. Auch ist mit Deleuze (1968) davon auszugehen, dass Wiederholung niemals Wiederholung des Selben sein kann, weil die wiederholten Elemente von keinem ihnen allen gemeinsamen Begriff als Ursprung oder Sinnpräsenz eingefasst werden. Somit geht es ihm auch um eine Sicht von Wiederholung als Wiederholung des Nicht-Gleichen, des Nicht-Identischen, des Vielfältigen. Dieser Auffassung von Wiederholung entspricht das vielfältige Subjekt. »Das Subjekt der ewigen Wiederkehr ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche, nicht das Eine sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall« (Zima mit Bezug auf Deleuze, Vattimo, Lyotard 1997: 169). Es lässt sich hinzufügen: Das Subjekt ist nicht das begrenzte, sondern das in seinen Grenzen nicht definierte. Performative Wiederholungen bergen hier aber Möglichkeiten, vielfältige neue Aspekte eines Gegenstandes präsent werden zu lassen, so dass dual und dichotom angeordnete Hierarchien sich verändern, verschieben, auflösen, aber auch verstetigen können. Wiederholung kann – so verstanden – enthomogenisierend und heterogenisierend wirken, Vielfalt und Differenzen Raum geben sowie gleichzeitig Ähnlichkeiten erkennbar werden lassen oder verwerfen. Neues entsteht somit immer in Bezug auf etwas, meist das Alte, das Tradierte, das Bekannte. Das Neue entsteht in langsam sich verschiebenden Veränderungen. Das Jetzt ist jetzt vorbei. Das in der Zukunft gedachte, neue Jetzt ist jetzt das schon vergangene Jetzt von vorhin.

Performanz und Wiederholung Sind Ereignisse, Welt, Wirklichkeiten, Repräsentationen von Realitäten in Prozesse sprachlicher Performanzen eingebettet, dann ist hiermit nicht die Leugnung von Materialität gemeint, sondern vielmehr die realitätskonstruierende Wirkung performativer Handlungen. Ist nun eine performative Handlung »eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt« (Butler 1993: 123), dann werden Wiederholungen und mit diesen Wiederholungen möglich werdende subversive Sinnverschiebungen bedeutsam. Es können Vielfältigkeiten abgebildet werden, wohlwissend, dass eine performative Handlung, ein

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performativer Akt und damit einhergehende Bezeichnungen und Benennungen niemals den Anspruch erheben können, den gesamten Gegenstand oder den Gegenstand in seiner vermeintlich richtigen oder gar wahren Bedeutung abbilden zu können. Dem performativen Akt vorläufige, prä-existente Originale werden negiert. Die performative Wiederholung bezieht sich immer auf ein als different betrachtetes Etwas. Mit einem solchen Ansatz könnte zusammen mit den ethnomethodologisch-interaktionistisch ausgerichteten Annahmen das Herstellen und Konstruieren von Realitäten erklärt werden, in dem aufgezeigt wird, wie aus der schier unbegrenzt erscheinenden Palette von Möglichkeiten in der Realität ganz konkret erfassbare Fakten werden können. Geschlecht könnte als sowohl interaktiv als auch diskursiv/performativ hergestellt gefasst werden (Meissner 2008). In Bezug auf die Erklärung der Konstruktionsprozesse von Geschlecht könnten neben ethnomethodologisch-interaktionistischen Ansätzen des doing gender (West/Zimmermann 1991) und diskursanalytisch-performativen Ansätzen auch psychoanalytische Ansätze, die auf das innere Erleben der Individuen rekurrieren, in Betracht gezogen werden (Bilden 2001: 144). Mit Bezug auf Goldner weist Bilden auf die Möglichkeit hin, dass »eine eindeutige Geschlechtsidentität [...] ein Ergebnis von pathologischen Prozesen (sei), in denen alles, was nicht in die jeweilige kulturelle oder Milieu-Vorstellung von Geschlecht passt, verleugnet, abgespalten oder durch andere Abwehrreaktionen in den Untergrund geschickt wird« (Bilden 2001: 142). In Anlehnung an Dimen betont Bilden die Möglichkeit, dass das Festhalten an einem Pol des Geschlechterdualismus auf eine Spaltung im Selbst hindeuten kann (Bilden 2001: 142). Um eine solche vermutete Spaltung aufzuheben, bietet Dimen das Konzept der Übergangsräume an, Räume, die von Differenzen eingenommen werden, also Räume zwischen männlich und weiblich, aktiv und passiv, Subjekt und Objekt (Dimen nach Bilden 2001: 142 f.). Bemerkenswert ist, dass nach Dimen im Übergangsraum ausschließlich Differenzen jedoch keine Ähnlichkeiten wohnen und dass die Differenzen als zwischen den beiden Polen weiblich und männlich angesiedelt betrachtet werden.

Potenzialitäten und Faktizitäten Diese beiden Begriffe sind keineswegs als dualistische Gegenüberstellung zu verstehen, sondern als verwobene Aspekte eines Kontinuums. Menschen können als mit einem weiten Spektrum an Möglichkeiten, Potenzialitäten, ausgestattet betrachtet werden. Dies gilt auch für Geschlecht und Geschlechterverhältnisse.

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Basierend auf der Annahme eines Geschlechterkontinuums werden, unterstützt durch normativ legitimierende und kategorisierende Bündelungen Weiblichkeit und Männlichkeit hergestellt, die dann oftmals den Anschein erwecken, naturgesetzlich gegeben zu sein. Aus Möglichkeiten werden zu einem gewissen Zeitpunkt – je nach sozio-kulturellen Vorstellungen an einem gewissen Ort, je nach dem, was als Normalität gilt und je nach dem, welche Werte und Vorstellungen als Normen anerkannt sind – Eigenschaften und Fähigkeiten bzw. Fakten.

Potenzialitäten werden / zu einem gewissen Zeitpunkt / an einem gewissen Ort / eingeschnürt von / Kultur / Normalität / Normativität / zu



Fakten



Wiederholungen

Wiederholungen

Abb. 1: Von Potenzialitäten zu Fakten (vgl.: Baltes-Löhr 2006: 30).

Relevanz performanztheoretischer Annahmen für Geschlecht Können Benennungen, das Hervorrufen und die Inszenierungen von z.B. Geschlecht als wiederholte performative Akte in Zeit und Raum gelten, dann liegen in potentiell subversiven Wiederholungen aber auch Möglichkeiten, die vorherrschenden Diskurse z.B. hinsichtlich Geschlecht zu durchbrechen und die Bipolarität der Geschlechterordnung zu vervielfältigen, indem andere Facetten von Geschlecht sichtbar gemacht werden können. So können Vielfältigkeiten abgebildet, Differenzen zulässig und nicht zuletzt als normal betrachtet werden. Frauen, Männer, Transgender- und Intersex-Personen müssen nicht als homogene, durch essentielle Merkmale Gekennzeichnete verstanden werden. Auch Geschlechterbilder und Vorstellungen zu einzelnen Geschlechtergruppen sind variabel. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind porös und durchlässig. Qua Benennungen werden Materien z.B. zu Körpern, auch zu Geschlechtskörpern, Körper zu Geschlechtern, aber auch Räume zu Staatsgebieten, Sündige wieder rein durch die drei Worte »Ego te absolvo«. Menschen werden zu Paaren, indem ein Dritter meint: »Ich erkläre Euch hiermit zu Mann und Frau«. Es ist nicht die Reue, die den Sündigen von seiner vermeintlichen Sündenlast befreit, und es ist auch nicht die Liebe, die ein Paar zu einem Paar werden lässt, sondern das gesprochene Wort

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des oder der Standesbeamt_in. Eine besonders bemerkenswert performative Wendung ist allen katholischen Christ_innen geläufig, wenn um die Weihnachtszeit alle Jahre wieder aus dem Johannesevangelium gelesen wird: »Und das Wort ist Fleisch geworden« (Johannesevangelium 1,14) und damit die Geburt Jesu verkündet wird. Zurück zum Thema: In Bezug auf Geschlecht ist mit Jutta Hartmann zu betonen, dass »Performativität das Subjekt zwar erst hervor[bringt], sie determiniert es aber nicht« (Hartmann 2001: 76). Perfomative Konstruktionsprozesse gelten somit immer als unabgeschlossen. Werden durch perfomative Akte aus Potenzialitäten Fakten bzw. Realitäten konstruiert, dann kann das in Bezug auf die Konstruktion von Geschlecht heißen, dass Menschen mit Möglichkeiten geboren werden, ein Geschlecht zu konstruieren. Je nach Zeitpunkt (Geschlechtervariabilität: hier Historizität von Geschlecht), sozio-kulturell vorherrschenden Diskursen und Orientierungen (Geschlechtervariabilität: hier Normativität von Geschlecht), je nach räumlichen Gegebenheiten (eine Dimension des intersektional verfassten Geschlechts), je nach körperlichen Gegebenheiten (körperliche bzw. physische Dimension von Geschlecht), je nach sozialer Zuschreibung und individueller, subjektiver Aneignung (soziale Dimension von Geschlecht; Zuschreibungs- und Aneignungsaspekt von Geschlecht), je nach sexuellem Begehren, sexueller Orientierung und sexuellen Praktiken (sexuelle Dimension von Geschlecht) kann ein Subjekt als einem Geschlecht zugehörend gefasst werden bzw. sich selber fassen. Es sind Kombinationen der verschiedenen Geschlechterdimensionen vorstellbar. So kann ein Mensch mit einem Penis, jedoch ohne Hodensäcke, Röcke tragen, sich schminken, mit tiefer Stimme sprechen, durchsetzungsfähig und konkurrenzbewusst sein, musisch begabt und heterosexuell zusammen leben mit einem Menschen mit Vagina, erhabenem Busen, Gesichtsbart, einer gesellschaftlich besser angesehenen beruflichen Position und die erstgenannte Person um Haupteslänge überragen. Gruppen mit ähnlichen Merkmalen könnten dann eine Geschlechtergruppe bilden bzw. sich einer Gruppe mit ähnlichen Kombinationen der Geschlechterdimensionen zuschreiben. Diese Selbstzuschreibungen könnten je nach Situation unterschiedlich sein und sich im biographischen Lebensverlauf ändern. Zugehörigkeiten können zugeschrieben oder selbst angeeignet werden. Sie können sich ebenso verändern wie das Verständnis bzw. die Vorstellungen davon, was zu einem gewissen Zeitpunkt, je nach sozio-kulturellen Vorstellungen, an einem gewissen Ort als Normalität gilt, je nach dem, welche Werte und Vorstellungen als Normen anerkannt sind, und was an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten

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Zeit unter einem bestimmten Geschlecht zu verstehen ist und wie dann angenommene Geschlechter an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit etc. wiederum auf eben diese Faktoren und Aspekte einwirken können. Das ist mit wechselseitigen Konstruktionsprozessen von Geschlecht, Subjektkonstitutionen und kategorialen Ordnungen gemeint. Das ist gemeint mit Konstruktionsprozessen, in denen Aspekte der Performanz, der Wiederholung sowie der Normierung bemerkenswerte Rollen spielen. Hiermit wird deutlich, welch bedeutsame Rolle der Mensch selbst im Konstruktionsprozess seiner Subjektivität, seiner Individualität spielen kann, wenn Anerkennungsprozesse im Kontext von Zuschreibungen – nach Althusser (1977) Anrufungen – und Aneignungen im Sinne von Umwendungen bzw. Verleugnungen der Anrufung betrachtet werden. Anerkennungsprozesse und damit Konstruktionsprozesse auch von Geschlechtern sind in ihrer Vielstimmigkeit zu verstehen und es gilt im wissenschaftlichen Kontext, diese Polyphonien aufzudecken und nicht zuletzt ihre Veränderbarkeit nachzuzeichnen.

Spannungsfelder einer Begriffsdefinition von Geschlecht Wurde seit Beginn der 1990er Jahre vor allem durch die Arbeiten von Judith Butler (1991, 1995, 1997) mit der Einsicht in die Konstruiertheit von Geschlecht die Differenzierung zwischen Sex, Gender und Desire geläufig, dann meinte Sex oft das sogenannte biologische Geschlecht, Gender stand für das sogenannte soziale Geschlecht und Desire als Ausdruck für sexuelles Begehren bzw. Sexualität. Im Verständnis des doing gender sollte das sogenannte soziale Geschlecht für die Annahme stehen, dass Menschen in bestimmte Geschlechterrollen sozusagen hinein sozialisiert werden. Dass Menschen zu Frauen und zu Männern gemacht werden, wie es für die Frauen schon 1949 Simone de Beauvoir aufwarf, wenn sie sagt: »Wir Frauen werden nicht als Frau geboren, wir werden zu Frauen gemacht« (de Beauvoir 1949). Sex hingegen, also das sogenannte biologische, körperliche, physische Geschlecht, galt lange noch als eindeutig und zwar entweder als eindeutig weiblich oder als eindeutig männlich. Mit der ebenfalls wegweisenden Arbeit Judith Butlers »Körper von Gewicht« (Butler 1995) und mit zunehmender Forschung im Bereich der Biologie (vgl. Streckeisen 1991: 158 und Henke u.a. 1998: 43-64) wurde auch die Konstruiertheit und die vermeintliche Eindeutigkeit des biologischen Geschlechts dekonstruiert. Es wurde augenfällig, dass auch der Körper, das biologische Geschlecht bzw. der Geschlechtskörper, sich nicht mit der bipolaren Ordnung eines biologischen männlichen und weiblichen Geschlechts fassen lassen. Desire, sexuelles Begehren bzw. Sexualität,

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wurde in der oftmals auf Sex-Gender reduzierten Debatte lange Zeit eher vernachlässigt und am ehesten im Kontext der Diskriminierungen von Menschen mit homoerotischen Orientierungen und Lebensweisen thematisiert.

Ausblendung von Transgender- und Intersex-Personen Transgender- und Intersex-Personen sind Gegenstand der seit Ende der 1990er Jahre sich etablierenden Queer-Theory, die jedoch allermeistens kategoriale Ordnungen jedweder Art eher ablehnt und sich »gegen alle richtet, die Identitäten regulieren möchten oder eine epistemologisch begründete Vorrangstellung für diejenigen etbalieren wollen, die bestimmte Arten von Identitäten für sich beanspruchen« (Butler 2012: 19). In entwicklungspsychologischen und pädagogischen Ansätzen bleiben diese Geschlechtergruppen häufig unerwähnt (Abriß 2006; Gesell 2008; Hoffmann 1997; King 2013; Kühn 2006; Sporbert 2009), werden als Störungen (Hartmann/Becker 2002; Vetter 2010) und oftmals im Feld der Behandlungspraxis als zu therapierendes Phänomen betrachtet (Averkamp 2012). Auch werden Transgender- und Intersex-Personen als konkurrierende Gruppen definiert: »Eine Spannung, die zwischen der Queer-Theory und dem Intersex- und Transsexuellen-Aktivismus auftritt, entsteht bei der Frage der anatomischen Geschlechtszuordnung und der Wünschbarkeit von Identitätskategorien. Wenn die Queer-Theory per definitionem so verstanden wird, dass sie jeden Identitätsanspruch einschließlich fester Geschlechtszugehörigkeit ablehnt, dann ist die Spannung tatsächlich stark« (Butler 2012: 18 f.). Wofür Transgender-Personen teilweise streiten, nämlich für ein Leben in einem männlichen oder weiblichen Geschlecht und auch in dem entsprechenden Geschlechtskörper, der gegebenenfalls mittels Hormoneinnahmen und/oder operativer Eingriffe hergestellt werden soll, ist auf den ersten Blick konträr zu Intersex-Personen, die sich oftmals dafür einsetzen, in ihrer bzgl. der vorherrschenden bipolaren Geschlechterordnung uneindeutigen geschlechtlichen Verortung anerkannt zu werden. Es ist zu fragen, wie auch auf theoretischer Ebene zu fassen wäre, dass das jeweilige Begehren nach Eindeutigkeit ebenso seine Berechtigung finden kann, wie das Begehren nach Anerkennung eines im bipolaren Sinne bislang als uneindeutig bezeichneten Geschlechts.

Konnotationen von Transgender- und Intersex-Personen zu Homosexualität Obwohl nach Laura Adamietz durch die Arbeiten von Krafft-Ebing, Hirschfeld und Ellis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Homosexualität und Transsexualität als

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voneinander getrennte Phänomene betrachtet werden sollten (Adamietz 2011: 102), hat mit dem Aufkommen der Psychoanalyse um Sigmund Freud eine Vorstellung von Transsexualität als Flucht vor Homosexualität und im Zusammenhang mit einer von ihm postulierten Kastrationsangst zu einer Erotisierung von Cross-Dressing geführt, die bist weit in die 1970er Jahre reicht und bis heute noch virulent zu sein scheint (Adamietz 2011: 103). Wurde im medizinischen Bereich vor allem durch die Arbeit des US-amerikanischen Arztes Harry Benjamin mit der Weiterentwicklung operativer Möglichkeiten und einer gewissen Desillusionierung bzgl. der Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen (Adamietz 2011: 103) Transsexualität wieder als ein eigenständiges Konzept etabliert, dann ist zu bemerken, dass es Benjamin um Operationen von Mann zu Frau ging und um die Kreierung einer »Klasse von Transsexuellen […], die unbedingt behandlungsbedürftig seien, und diese von anderen weniger schlimmen Fällen abzugrenzen« (Adamietz 2011: 103). Nicht zuletzt bedingt durch die Debatten der Frauenbewegung sind seit den 1970er Jahren Annahmen zu Transsexualität in ein offeneres Konzept übergegangen. Wurde Transsexualität vor allem medizinisch determiniert und als Geschlechtsidentitätsstörung begriffen (Adamietz 2011: 34, 37), dann meint Adamietz, dass mit dem Begriff ›Transgender‹ hier eine Entpathologisierung einhergehen kann und die prominente Unterscheidung zwischen prä- und postoperativen Phasen und damit zwischen sogenannten Transvestiten und Transsexuellen hinfällig werden. Ferner weist sie darauf hin, dass nicht alle der von ihr als transident bezeichneten Personen eine chirugische oder hormonelle Anpassung des Körpers anstreben (Adamietz 2011: 37). Adamietz betont, dass auch der Begriff ›Transgender‹ als nicht abschliesend definiert gilt. Nach Adamietz besteht »unter den Betroffenen kein Konsens über seine Bedeutung« (Adamietz 2011: 38). Dieser Sammelbegriff soll nach Adamietz für eine Bandbreite von Subjektivitäten, die im Konflikt mit traditionellen Geschlechternormen und -stereotypisierungen stehen, gelten und nicht als Instrument für Ausschlüsse (Adamietz 2011: 38) genutzt werden. Intersexualität, als das sich weder dem einem noch einem anderen der beiden vorherrschenden Geschlechter weiblich und männlich zuordnende Geschlecht zu verstehende Phänomen, fasst Adamietz als Beweis der »Fehlerhaftigkeit der Annahme absoluter natürlicher Zweigeschlechtlichkeit« (Adamietz 2011: 105). Intersexuelle Personen stünden oft unter dem Zwang, sich einem der beiden vorherrschenden Geschlechter via operativer Eingriffe anpassen zu müssen, da zumindest bislang »die geltende Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit keine »dritten Geschlechter« anzuerkennen

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vermag« (Adamietz 2011: 105). Somit ist schon an dieser Stelle zu unterscheiden zwischen denjenigen Personen, die sich weder einem Geschlecht weiblich oder männlich zuordnen möchten, und denjenigen, die sich mit dem ihnen, meist aufgrund vorliegender körperlicher Merkmale, zugewiesenen Geschlecht nicht einverstanden fühlen und eine operative oder auch hormonell evozierte Veränderung anstreben oder auch nicht.

Andere Kulturen – andere Geschlechter Vom 25. November 1997 bis zum 8. März 1998 fand im Rautenstrauch-JoestMuseum für Völkerkunde in Köln die Ausstellung »Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich« statt. In der Ausstellung sowie im Begleitband wurde die Thematik «Drittes Geschlecht und wechselnde Identitäten« nachdrücklich aufgeworfen – ein Novum und gleichzeitig auch Ausdruck der sich verändernden Debatten im Rahmen der damals virulenten Frauen- und Genderforschung (Völger 1997). In der Ausstellung konnte man Guevedoce kennenlernen, eine Bezeichnung für eine Personengruppe, die in der dominikanischen Republik lebt. Bei der Geburt sind sie nicht als eindeutig männlich oder weiblich zu erkennen. Häufig setzt mit der Pubertät eine Maskulinisierung ein, die jedoch nichts an dem Status als Guevedoce ändert, ein Status, der einen Spielraum zwischen Frau- und Mann-Sein ermöglicht. Weiterhin waren in der Ausstellung die Gruppe der Kwolu-Aatmwol auf Papua Neuguinea repräsentiert, die in Erwartung der pubertären Maskulinisierung geschlechterübergreifend mit Tendenz zum männlichen Prinzip erzogen werden und so Identitäten jenseits der bekannten Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen entwickeln. Als drittes Geschlecht werden sie weder diskriminiert noch hochgeschätzt. Auch Muxe in Juchatan, Mexiko und Hijra in Indien wurden mit der Ausstellung thematisiert. Auffällig war, dass keine Rede war von dritten oder vierten Geschlechtern im europäischen Raum, mehr als 25 Jahre später so kaum noch denkbar, haben sich doch seit den 1990er Jahren die Debatten innerhalb der Frauen- und Genderforschung verändert und wurden binäre, heteronormative Muster immer mehr in Frage gestellt und auf die Konstruiertheit der Geschlechter verwiesen, wobei der Begriff ›Geschlecht‹ immer noch eindeutig uneindeutig geblieben ist.

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Versuch einer Begriffsdefinition von Geschlecht Geschlecht umfasst • in seinen körperlichen Dimensionen bio-morphologische, genitale, chromosomale, gonodale und hormonelle Merkmale (körperliches oder auch physisches Geschlecht), • in seinen psychischen Dimensionen Emotionen und Kognition; diese psychischen Dimensionen beschreiben das Empfinden sowie die Eigenwahrnehmung des Geschlechts Abb. 2: Geschlecht und Geschlechterdimensionen. und pendeln damit zwischen Zuschreibung und Aneignung, anders gesagt zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung und mündet in Selbstbenennungen, die mit den Benennungen bzw. Bezeichnungen durch andere mehr oder weniger übereinstimmen oder nicht (psychisches Geschlecht), • in seinen sozialen Dimensionen die Geschlechterrollen, die das Verhalten eines Menschen als einem Geschlecht zugehörend beschreiben; zu diesem Rollenverhalten gehören Mimik, Gestik, Lautstärke, Körperhaltungen; hierunter fallen auch gesellschaftliche Präsenz, wie z.B. Geschlechterpräsenz in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, und auch Funktionszuschreibungen wie bestimmte Formen der Arbeitsteilung, aber auch die Zuweisung von Zuständigkeiten hinsichtlich verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, wie Politik/Öffentlichkeit, Privatleben/Familie, Arbeitsmarkt, Bildungsbereich, Wissenschaft/Forschung, Kunst (soziales Geschlecht), • in seinen sexuellen Dimensionen das sexuelle Begehren bzw. die sexuelle Orientierung wie monosexuell, asexuell, bisexuell, heterosexuell, homosexuell, pansexuell, aber auch sexuelle Praktiken wie vis a fronte- und vis a tergo-Formen des Geschlechtsverkehrs, Sado-Masochismus, Exhibitionismus; es geht mit diesen Dimensionen auch um die relationalen Formen von sexuellem Geschlecht wie Monogamie, Polygamie, Polyamorie und entsprechende institutionalisierte Formen des relationalen sexuellen Geschlechts wie Ehe, eingetragene Partnerschaften, nicht registrierte Partnerschaften mit einer/m oder mehreren Partner_innen, Singles (sexuelles Geschlecht).

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Um darauf hinzuweisen, dass diese Geschlechterdefinition als unabgeschlossen gilt, sind in der obigen Abbildung zu Geschlecht und Geschlechterdimensionen zwei Felder unbenannt geblieben. Mit einer so gefassten Definition von Geschlecht lassen sich unterschiedlichste Kombinationen zwischen den Elementen der verschiedenen Dimensionen denken. Dieser definitorische Rahmen soll eine gleichberechtigte Abbildung existierender und gelebter Pluralitäten ermöglichen. Das einem Menschen zugeschriebene und das von ihm angeeignete Geschlecht kann als Teil seiner Identität gefasst werden, ohne dass, wie weiter oben dargelegt, von einer identitären Identität ausgegangen wird. Das Geschlecht eines Menschen kann sich zusammensetzen aus den Dimensionen des körperlichen, psychischen, sozialen und sexuellen Geschlechtes und gilt als veränderbar, polypolar, plural und intersektional verfasst, was im Folgenden kurz erläutert werden soll.

Veränderbares, polypolares, plurales und intersektional verfasstes Geschlechterkontinuum Geschlecht gilt als: •







veränderbar in dem Sinne, dass es je nach historischem, sozio-kulturellem, räumlich-regionalem und normativem Kontext changieren kann und wiederum auf die jeweiligen Kontexte beeinflussend wirken kann. Geschlecht kann sich im Laufe einer Lebensbiographie verändern, wobei zu betonen ist, dass ein in einer Situation, in einer mehr oder weniger lang andauernden Phase des Lebens, angeeignete Geschlecht wiederum die Lebensbiographie verändern kann. Es könnte somit auch von einem punktuellen bzw. situativen Geschlecht gesprochen werden (Geschlechtervariabilität: historisch und normativ; punktuelles/situatives Geschlecht); polypolar in dem Sinne, dass Geschlecht als auf einem Kontinuum verortet, ohne binäre, bipolare Rahmung, ohne binäre Eckmarkierungen wie eindeutig weiblich bzw. eindeutig männlich verstanden wird (polypolares Geschlecht); plural in dem Sinne, dass polypolare Geschlechter als auf einem Kontinuum angesiedelt gedacht werden, wobei sich die einzelnen Geschlechterdimensionen zueinander verschieben können und vielfältige Formen von Geschlecht je nach Zeit, Raum etc. konstruiert werden können (Geschlechterkontinuum); Geschlecht ist außerdem im Kontext einer intersektionalen Betrachtung mit Ordnungskategorien wie Alter, ethnischer Orientierung/kultureller Herkunft,

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sozio-ökonomischem Status, Bildung und allgemeiner körperlicher Verfasstheit zu betrachten, so dass von einem intersektional verfassten Geschlecht zu sprechen wäre. Hierzu gehört auch die räumlich materielle Dimension von Geschlecht (intersektionale Verfasstheit von Geschlecht). Mit der Definition von Geschlecht in seinen physischen, psychischen, sozialen und sexuellen Dimensionen, in seiner Verfasstheit als veränderbar, polypolar, plural und intersektional, sowie in seiner Verortung auf einem Kontinuum, geht die Verabschiedung von der Geschlechterkategorie als binäre, dichotome und heteronormative Strukturkategorie gesellschaftlicher Ordnungen einher.

Geschlecht als Kontinuum Wie bereits mehrfach erwähnt, wird Geschlecht als auf einem Kontinuum situiert betrachtet. Für die Merkmalsbreite der Kategorie Geschlecht ergibt sich hieraus, dass alle auf einem solchen Kontinuum liegenden menschlichen Möglichkeiten/Potenzialitäten in Bezug auf Körper, Psyche, soziales Verhalten, Sexualität in unterschiedlichsten Kombinationen via diskursiv/perfomativer Bezeichnungspraxen und interaktivem doing zu vergeschlechtlichten Merkmalen werden können, die dann ein Geschlecht – für einen unterschiedlich langen Zeitraum, mit mehr oder weniger weitreichendem situationsbezogenem Geltungsbereich, für eine mehr oder weniger zahlreiche Gruppe von Menschen – signifizieren. Bestimmte Aspekte/Merkmale des körperlichen, psychischen, sozialen und/oder sexuellen Geschlechts können gebündelt und zu einer bestimmten Geschlechterkategorie gefasst werden. Aus einem solchen Ausschnitt bzw. aus solchen Merkmalsbündeln von auf dem Kontinuum liegenden Möglichkeiten können auch Stereotypisierungen entstehen, die dann je nach Zeit, Ort und Kultur als bestimmte Eigenschaften einem Geschlecht zugeschrieben werden können. Diese Ausschnitte können sich aus Elementen der verschiedenen Dimensionen von Geschlecht (körperlich, psychisch, sozial und sexuell) zusammensetzen. Solche Merkmalsbündel, wie sie bis in die 1970er Jahre beispielsweise für das weibliche Geschlecht stereotypisierend als sanft, gefühlsbetont, schwach, mütterlich, häuslich, pflegend, einen – und nur einen – Mann begehrend, mit erhabenem Busen, Vagina, Eierstöcken und Gebärmutter ausgestattet gegolten haben, wären gemäss der oben versuchten Definition zukünftig nicht als bipolar oder binär angeordnet zu verstehen, sondern in einer polypolaren Ordnung, was heißt, dass die Gegenüberstellung von weiblich und männlich aufgehoben wird und andere Geschlechterkonfigurationen wie z.B. Transgender

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und/oder Intersex auch als Pol gelten können. Die Merkmalsbündel können sich aus unterschiedlichsten Kombinationen der menschlichen Möglichkeiten zusammensetzen und als ein Geschlecht gelten. Eine Person mit Bart und Busen, die ein Kind stillt, würde nicht mehr als irgendwie komisch oder als Sensation betrachtet werden. Die kategoriale Durchlässigkeit gilt im Gegensatz zu der bislang vorherrschenden Zweigeschlechterordnung nicht mehr als kompakt, sondern als porös und die kategorialen Grenzen möglicher Geschlechter zueinander gelten nicht mehr als abgeschlossen, sondern als offen bzw. fluid. Mit der hier versuchten Definition von Geschlecht gilt Pluralität als Norm, was meint, dass alle möglichen Geschlechter als normal gelten bzw. normativ anerkannt werden und nicht mehr nur Männlichkeit oder Weiblichkeit als Norm Geltung haben. Wird bei der momentan noch geltenden Geschlechterordnung davon ausgegangen, dass das zugeschriebene Geschlecht auch angeeignet und alles andere als gestört, deviant oder pathologisch behandelt wird, dann bietet die vorgeschlagene Geschlechterdefinition die Möglichkeit, eine höhere Varianz bzgl. der Zuschreibungs- und Aneignungsprozesse in dem Sinne abzubilden, dass sogenannte Abweichungen eher als Differenzen gelten können, die möglicherweise als zu einem anderen Geschlecht oder einer anderen Geschlechterkonfiguration zugehörig betrachtet werden können. Auf Anrufungen im Sinne Althussers (Althusser 1977) können Umwendungen, also Akzeptanz, ebenso selbstverständlich folgen wie Nicht-Akzeptanz des via Anrufung zugeschriebenen Geschlechts. Eine Ontologisierung als Festschreibung einer festgelegten Seinsweise bzw. eines unauflöslichen Wesens eines Geschlechts wird negiert, so dass aus der wahren Welt der Gläubigen eine ungewisse Welt für Ungläubige entsteht. Die Bedeutung einer solchen Geschlechterdefinition für das Verhältnis der Geschlechter zueinander soll abschließend nochmals kurz dargestellt werden. Die Positionierung möglicher Geschlechter zueinander gilt als polypolar; alle möglichen Geschlechter als gleichwertig. Einmal kommt dem einen Geschlecht, einmal einem anderen eine grössere Wirkmächtigkeit zu, woraus sich jedoch keine strukturellen Vormachtstellungen ableiten. Die kategoriale Abgrenzung der möglichen Geschlechter zueinander gilt als fließend, durchlässig und anpassungsfähig und somit als flexibel. Die Geschlechterordnug gilt als plural verfasst; es gilt die Logik des Sowohl-als-auch; im Konstruktionsprozess entstehende normative Muster gelten als offen und reversibel und erheben keinen universalistischen Geltungsanspruch.

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Ausblick Mit der vorgeschlagenen Neudefinition von Geschlecht soll versucht werden, der Pluralität von Geschlecht gerecht zu werden, ohne dass ein bestimmtes Geschlecht in Bezug auf ein anderes Geschlecht per se einen Vorrang hätte oder als überlegen gelten könnte. Diese Definition soll dazu beitragen, die vorherrschende heteronormative Geschlechterordnung zu dekonstruieren und damit auch zu einer Geschlechterordnung der Vielfalt zu gelangen. Solchermaßen verfasste Geschlechter und Geschlechterordnungen könnten zu Entpathologisierungen, Enttabuisierungen und zur allgemeinen Anerkennung von all jenen Geschlechtern führen, die bislang nicht in das strenge Korsett der Zweigeschlechtlichkeit gepasst haben; außerdem könnte eben dieses Korsett einer starren bipolaren Weiblichkeit und Männlichkeit aufgelöst werden. Dies könnte sich auch in sprachlichen Symbolisierungen niederschlagen. Waren bis zum Beginn der 1970er Jahre mit den sogenannten männlichen Sprachformen immer alle mitgemeint, dann kam es nicht zuletzt aufgrund der Frauenbewegung zur Nutzung weiblicher Sprachformen, um auf diesem Weg Frauen, damals noch verstanden als kollektives Subjekt, sichtbar zu machen. Aus Lehrern wurden Lehrer(innen), Lehrer/innen, Lehrer und Lehrerinnen, Lehrerinnen und Lehrer und auch LehrerInnen. Die Form ›Lehrende‹ setzte sich durch, um so erstmals auch die Bipolarität der weiblichen und männlichen Begriffsnennung deutlich zu machen und durch eine Form zu ersetzen, die mehr als zwei Geschlechter einzuschließen vermochte. Hierzu sollte auch die Schreibweise Lehrer_innen beitragen, was jedoch letztlich als Beibehaltung der Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte in ihrer vermeintlichen Bedeutung als Eckpfeiler oder gar als Begrenzung der Geschlechter gelesen werden kann. Im Sinne des Versuchs einer Neudefinition von Geschlecht als auf einem Kontinuum angesiedelt, wäre eigentlich zu schreiben von _Lehrer_innen_. Auch könnte der vorliegende Versuch der Definition von Geschlechtern eine Auswirkung auf die Forschung haben, auf die aus Platzgründen im vorliegenden Text nicht explizit eingegangen worden ist. Nur so viel sei bemerkt: solange _Wissenschaftler_innen_ von einer Zweigeschlechtlichkeit ausgehen, konstruieren sie »vor diesem Hintergrund Binarität, wo auch ein Kontinuum gesehen werden könnte« (Meissner 2008: 10). Ein binäres Geschlecht im Auge der Betrachtenden führt zur »Entdeckung einer biologischen, psychologischen und sozialen Binarität« (Meissner 2008: 10). Möge der vorliegende Definitionsversuch dazu beitragen, dass Forschende zukünftig Vielfalt im Auge haben, um vielfältige Geschlechter erkennen zu können. An dieser Stelle sei auch darüber nachgedacht, wie eine Welt aussähe, die ohne die Kategorie Geschlecht auskäme, wenn kein Geschlecht mehr im Auge

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von wem auch immer stünde. Die weiter oben erwähnte Novellierung des deutschen Personenstandsgesetzes vom 1. November 2013 hat vielfältige Debatten nach sich gezogen. So fragt Ralf Schuler in Bild online vom 13. August 20134: »Schafft Deutschland die Geschlechter ab?« und beruhigt mit einem Zitat des CDU-Familienexperten Peter Tauber, der zu Bild gemeint hat: »Die Regelung ermöglicht intersexuellen Menschen, sich später ohne Druck zu entscheiden, wie sie leben wollen. Das Offenhalten der Spalte Geschlecht ist extra gewählt worden, um das Grundprinzip der zwei Geschlechter nicht zu durchbrechen, sondern eben offen zu halten.« Ein anschauliches Beispiel dafür, wie trotz fortschrittlicher Regelungen je nach politischer Couleur an Althergebrachtem festgehalten werden kann – je nachdem, was der Betrachtende im Auge haben mag. Dennoch wird in der Bild-Berichterstattung auf ähnliche Bestimmungen in Indien, Brasilien, Kosovo, Belgien hingewiesen und über Australien gesagt: »Australien ist bislang das einzige Land der Welt, in dem ein drittes Geschlecht staatlich anerkannt ist.« Möge der Hinweis erlaubt sein, dass es sich bei diesem Land immerhin um einen gesamten Kontinent handelt, dann zeigt sich insgesamt eine Tendenz, die z.B. auch in der weiter oben schon erwähnten GEO-Ausgabe vom Dezember 2013 Ausdruck findet, wenn Fred Langer in seinem Beitrag zum Titelthema dem Aspekt der Hormonbehandlung von Kindern hinsichtlich einer Geschlechtsanpassung schreibt: »Die Frage könnte so viel weniger beladen sein, wenn jene nach dem Geschlecht – Mann? Oder Frau? – an Gewicht verlöre« (GEO 2013: 108). Auch in der Regionalpresse hält das Thema Geschlechterordnung mit bemerkenswerten Verkürzungen Einzug. In der Tageszeitung Trierischer Volksfreund vom 30. Dezember 2013 wird Jacqueline Maron als Studentin an der Universität Trier in ihrer Funktion als Koreferentin des feministischen Frauen- und Lesbenreferates des ASTA vorgestellt. Äußert sie im Text: »Ich möchte, dass wir uns vom binären Geschlechtersystem wegbewegen. Ich sehe keinen Mann, ich sehe keine Frau, sondern den Menschen« (Trierischer Volksfreund 2013: 12), dann titelt der Artikel folgendermaßen: »Vom Geschlechtersystem weg bewegen«. Solange diese Utopie einer Welt ohne wirkmächtige Geschlechterkategorien noch Zukunftsmusik ist, bleibt immer wieder zu betonen, dass Geschlecht weder von Gott gegeben ist, noch von der Natur vorbestimmt wird, sondern als sich immer wieder veränderndes Ergebnis von Konstruktionssprozessen zu betrachten ist. Diese Konstruktionsprozesse sind sowohl als doing gender als auch als diskursiv-performativ zu begreifen und können der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten gerecht werden, denn diese Vielfalt ist es, die zusammen

4 | Siehe URL: http://www.bild.de/politik/inland/geschlechtsumwandlung/schafft-deutschland-die-geschle chter-ab-31864862.bild.html [03.02.2014].

Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders

mit Castro Espín als natürlich betrachtet werden kann, wenn sie sagt: »Diversidad es natural« – Diversität ist natürlich.5

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5 | Siehe Beitrag von Mariela Castro Espín in dieser Publikation.

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Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders

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Menschliche Vielfalt — zum Leidwesen der Normen

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Janik Bastien Charlebois

Zusammenfassung Ausgehend von der Einschätzung, dass sich Transgender- und Intersex-Personen z.Zt. häufig immer noch nicht als gleichwertige normale Menschen betrachtet wissen, geht dieser Beitrag der Frage nach, welche bislang noch wirksamen Tabus und stereotype Vorstellungen in familiären, erzieherischen, schulischen, medizinischen, biologischen und auch juristischen Kontexten aufgebrochen werden müssten, damit hier ein gesellschaftlicher Fortschritt in Richtung auf eine zunehmende Demokratisierung für alle Personenengruppen stattfinden könnte. Nicht zuletzt geht der Beitrag der Frage nach, welche Rolle Wissenschaft und Forschung hier spielen bzw. spielen sollten.

Vielfalt und Normativität In den letzten Jahrzehnten sahen sich Geschlechter- und Sexualitätsnormen einem Druck durch das gesellschaftliche und politische Aufkommen sozialer Gruppen ausgesetzt, welche von ihnen abwichen oder sie unmittelbar in Frage stellten, so wie es konstruktivistische Feminist_innen, schwule, lesbische, bisexuelle, transsexuelle, Transgender- und Intersex-Personen getan haben. Erst vor kurzem begannen einige Wirklichkeiten und Probleme, die viele von uns niemals vorhergesehen hätten, nach unserer Aufmerksamkeit zu verlangen. Kinder und Teenager drücken ihr Unbehagen mit dem Geschlecht, welchem sie bei ihrer Geburt zugewiesen wurden, aus und wünschen sich, dass sich ihre Körper anders entwickeln oder dass ihre bevorzugte geschlechtliche Identität anerkannt wird. Menschen, deren Geschlecht von

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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Janik Bastien Charlebois

der Ärzteschaft als ambivalent eingestuft wurde und welche sich Operationen oder einer Hormontherapie unterzogen haben, fordern die Möglichkeit einer Einverständniserklärung vor medizinischen Maßnahmen sowie die Entpathologisierung ihrer Körper. Gleichgeschlechtliche Paare gründen Familien, und einige Eltern lassen ihren Geschlechtseintrag ändern. Hier ergibt sich die Frage, ob jene Menschen ein Selbstbestimmungsrecht erhalten sollen, wie sie sich dieser Welt zeigen und wie sie mit ihr interagieren, z.B. eine Möglichkeit für Kinder, in derjenigen Anrede eines Geschlechts angesprochen zu werden, mit dem sie sich identifizieren, und sich so anzuziehen und so zu spielen, wie sie wollen. Dies gilt auch für die Frage, ob Teenager Hormonblocker erhalten sollen, um ihre Transition zu erleichtern, oder ob Menschen aufwachsen und ein Teil der Gesellschaft werden dürfen, während sie ein ambivalentes Geschlecht aufweisen, einschließlich der Möglichkeit, sich offen als Intersex-Personen zu identifizieren. Viele gesellschaftliche Akteur_innen sind in diese Fragen involviert, wobei die Menschen, die diese Autonomie fordern, im Zentrum stehen, umgeben von Eltern, Erzieher_innen, Lehrer_innen, Psycholog_innen und Ärzt_innen – um nur einige zu nennen. Dem können wir uns nicht unter dem Vorwand entziehen, es gäbe nur wenige Intersex- und Trans‘-Personen, da die Situationen, die diese Fragestellungen fördern, nicht abstrakt sind und alle Menschen konkret zum Nachdenken und zum Antworten auffordern. Eltern und Lehrer_innen sind verpflichtet, einen Weg zu finden, auf ein Kind zu reagieren bzw. sich an ein Kind anzupassen, welches sie z.B. bisher als Jungen behandelt haben, das sich jedoch als Mädchen identifiziert und in der Schule ein Kleid tragen möchte. Und Kindergartenerzieher_innen müssen einen Weg finden, mit der Transition eines Elternteils umzugehen. Eine Antwort erfordert die Überprüfung tief sitzender Annahmen über die Verbindungen zwischen dem individuellen und dem kollektiven Nutzen auf der einen Seite sowie Geschlechter- und Sexualitätsnormen auf der anderen. Mit anderen Worten: Unser Verständnis von Geschlecht und Sexualität steuert unser Verhalten im Alltag sowie unsere umfassenden Beziehungen zu anderen als sexuelle/sexualisierte Wesen, auch in Situationen, die uns anfangs außergewöhnlich scheinen. Wenn wir fruchtbringende und gute Antworten finden wollen, ist es wichtig, dass wir uns des Ausmaßes an Emotionen bewusst werden, welche dieses Thema in uns allen erweckt, von Menschen, welche eine unmittelbare geschlechtliche Autonomie anstreben, bis hin zu Menschen, die ihre institutionalisierte Expertise in diesem Feld einbringen.

Menschliche Vielfalt — zum Leidwesen der Normen

Niemand kann hier behaupten, von einer vollkommen objektiven Warte aus zu sprechen. Fehlte uns als Forscher_innen jegliche emotionale Bindung an diese Frage, stünden wir dem, was wir für konzeptuelle Fehlannahmen über das äußere und innere Geschlecht und Sexualität halten, regungslos gegenüber, und wir würden uns mit einer einmaligen Feststellung zufrieden geben, was diese in unseren Augen bedeuten. Sich um eine objektive Perspektive zu bemühen, bedeutet nicht, eine missliche Situation heraufzubeschwören. Stattdessen gebietet die intellektuelle Integrität und Disziplin Besonnenheit, Demut und ein Bewusstsein über unsere persönlichen Empfindlichkeiten und kulturellen Einbettungen sowie auch eine Linse, durch welche wir diese Fragen betrachten – oder jede andere Frage, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Kuhn2 hat ebenso wie Polanyi 3 die kulturelle Prämisse wissenschaftlicher Paradigmen in seinem klassischen Werk »The Structure of Scientific Revolutions« beleuchtet. Nehmen wir nun an, dass wir uns erfolgreich von kulturell bedingten Perspektiven losgelöst haben. Wie denken wir über unsere Methoden nach, Variablen für eine Studie auszuwählen? Aufgrund welcher Kriterien halten wir sie für relevant, speziell wenn wir das Wohlbefinden von Menschen in Bezug auf ihre geschlechtliche Identität, geschlechtsbasierte Dynamiken und Sexualität untersuchen? Haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die Prämissen gerichtet, auf welchen ein Großteil unserer Forschungsarbeit über äußeres und inneres Geschlecht und Sexualität aufbaut? Auf welcher Grundlage unterscheiden wir gesund von pathologisch, Präsenz von Mangel, Formation von Deformation, Varianz von Zustand, normal von abnormal oder abweichend, Ordnung von Unordnung oder Störung, Korrektheit von Fehler, natürlich von widernatürlich? Aus welchem Grund zeigen wir eine starke Bevorzugung einiger Worte und vernachlässigen andere? Und wo liegt am Ende der Ursprung des Problems oder des Leids? Liegt er an der Verkörperung einer ungewöhnlichen geschlechtlichen oder sexuellen Variation oder in der Schande, die uns von Menschen auferlegt wird, die auf diese Variation negativ reagieren? Blicken wir epistemologisch auf die Art und Weise, in welcher Transgeschlechtlichkeit und Intersex-Themen oft betrachtet werden, können wir die Verbindung eines entwicklungstechnischen und komplementaristischen Verständnisses von Geschlecht identifizieren. Beispielsweise werden Intersex-Personen von der Medizin als Männer und Frauen dargestellt, deren sexuelle Entwicklung unvollständig ist, wohingegen transgeschlechtliche Menschen vermeintlich an einer psychischen Krankheit oder Störung leiden. Mit anderen Worten: Sie weichen von einer Fallkurve ab, auf der sie normalerweise 2 | Kuhn, T. (2012): The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: The University of Chicago Press, 50th Anniversary Edition. 3 | Polanyi, M. (1962): Chicago: The University of Chicago Press, S. 264.

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positioniert zu sein hätten, bevor sie ausgeprägte Männlichkeit oder Weiblichkeit entwickelt hätten und zur Heterosexualität durchgedrungen wären. Die allgemeine Formel der Zweck des Lebens ist die Fortpflanzung verdeutlicht diesen entwicklungstechnischen und komplementaristischen Blick, nach welchem sich Lebewesen gemäß einem Programm entwickeln. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns des teleologischen Charakters dieser Argumentation bewusst sind sowie auch der Tatsache, dass wir Gott unbewusst durch Natur als Leitfigur und Organisationsgewalt des Lebens ersetzt haben. Wenn wir die Dinge aus dem Blickwinkel Zweck, Ziel oder Programm betrachten, nehmen wir einfach so die darunterliegende Existenz eines denkenden Wesens an, das Pläne schmiedet oder Richtungen vorgibt. Dennoch besitzen wir nicht die Werkzeuge, um die Existenz eines solchen Wesens zu beweisen, was nur durch den Glauben möglich zu sein scheint. Vielleicht ist es leichter, die Kritik des Rahmens der theologischen Denkweise zu erfassen, wenn wir sie auf ein Gebiet anwenden, welches zum Großteil von der hier vorhandenen emotionalen Anhaftung beraubt ist, wie zum Beispiel die Astrophysik. Astrophysiker_innen erklären Gravitation nicht durch die Aussage, ihr Zweck sei es, die Ordnung unter den Himmelskörpern zu bewahren. Stattdessen beschreiben sie ihre Mechanik und ihre Auswirkungen. Übertragen wir diese Erkenntnis auf unsere Thematik, so ist es passender zu sagen, dass es einen Vorgang unter den Lebewesen gibt, der neue Generationen hervorbringt. Die Konsequenz daraus ist, dass Annahmen über Unvollständigkeit und Fehlerhaftigkeit durchkreuzt werden und von uns erfordern, dass wir uns mit anderen Begrifflichkeiten darüber Gedanken machen. Hieraus folgt die Überlegung über die traditionelle Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, zwischen dem, was die Biologie beeinflusst, und dem, was durch die Gesellschaft geformt und organisiert wird. Diese Unterscheidung ist oft mit der theologischen Naturbetrachtung verzahnt, bei der ein Lebewesen nicht nur ein Programm etabliert, sondern auch das, was in der Lebensorganisation oder sogar im Sozialleben des Lebewesens wünschenswert ist. Steven Jay Gould wies adäquat darauf hin: »Jedweder Ausdruck menschlichen und gesellschaftlichen Potentials ist natürlich, da die biologische Struktur des Menschen diese große Dehnbarkeit erlaubt.« 4 Hier wird nicht behauptet, dass alles, was ein Mensch sich vorstellen und anwenden kann, wünschenswert und gut für das Ökosystem oder für unser individuelles und gesellschaftliches Leben ist. Dennoch sind alle aufgefordert, sich der Linsen bewusst zu sein, durch welche sie Geschlechts- und

4 | Gould, S. J. (1981): The Mismeasure of Men, New York: W. W. Norton & Company, S. 352.

Menschliche Vielfalt — zum Leidwesen der Normen

Sexualitätsthemen betrachten. Dies gilt besonders für jene, die als Forscher_innen eine ihnen zugeschriebene Autorität für sich in Anspruch nehmen, da unser Blickwinkel mehr Gewicht im Leben und Schicksal von Menschen in marginalisierter Position hat. Der Wille, sich für das eigene Gute einer gegebenen Population einzusetzen, hat mit der Zeit wiederholt zu Ungerechtigkeiten und Traumata geführt, wie man an rassenunterteilten Völkern, Eingeborenenstämmen und Frauen sieht, und drückt eher die sozialen Ideale aus, an welche wir uns klammern oder welche wir verinnerlicht haben, selbst wenn wir von Zeit zu Zeit sanfte Kritik daran wagen. Infolgedessen halten wir es für wichtig, der Stimme von Menschen bedacht zu lauschen, welche genau diese Thematiken durchleben, über die wir uns Gedanken machen, und bereit zu sein, einige unserer am meisten zementierten Gewissheiten erschüttert zu sehen. Durch den Kontakt mit divergierenden Gedanken wachsen unsere eigenen Gedanken und erhalten Nuancen. Die Konferenz »Geschlechternormativität und Effekte für Kindheit und Adoleszenz« zeichnete sich dadurch aus, dass sie Menschen mit unterschiedlichen Horizonten zusammenführte. Trans‘-Personen, Intersex-Personen und Cisgender-Menschen5 waren vor Ort, auch Eltern, Hebammen, Erzieher_innen, Lehrer_innen und institutionelle Expert_innen aus verschiedenen Sphären und Identitäten. Biologie, Psychologie, Sozialarbeit und wissenschaftliche Arbeit waren vereint, da das Geschlecht sie alle betrifft. Diese Konferenz unterstrich gekonnt die Zentralität dieser Fragen in unserer Existenz, da binäre und komplementaristische Repräsentationen von Geschlecht unser aller Leben bestimmen, auch im Falle von Trans‘-, Intersex- und Cisgender-Personen. Eine kulturelle Prämisse im Konferenzprogramm, die hoffentlich zu weiteren Diskussionen beiträgt, zeigte sich in der Aufmerksamkeit, die dem Thema des Wohlbefindens nicht geschlechtskonformer Kinder zukam, ebenso wie in der Erörterung der Frage schlechter Behandlung durch umgebende Personen oder durch das systemische Umfeld, dessen Teil das sogenannte nicht geschlechtskonforme Kind ist. In Anbetracht der Härte, mit welcher die Frage der geschlechtlichen Autonomie geführt wird, ist es zweifelhaft, ob wir von unserem Engagement für das Wohlbefinden und die Erfüllung der Rechte dieser Kinder ablassen können. An den biologischen Determinismus gerichtete Kritik kann die Wichtigkeit nicht ignorieren, die Debatte dort zu starten, wo sie am ehesten stattfinden sollte, und zwar in der Disziplin der Biologie. Und wenn wir bereits existierende Debatten untersuchen, erkennen wir, dass verschiedene Lehrmeinungen miteinander im Wettbewerb stehen und weitere Nuancen hervorbringen werden (z.B.

5 | Siehe Beitrag von Natacha Kennedy in dieser Publikation.

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Bagemihl 1999; Fausto-Sterling 2000; Haraway 1991; Gould 1981; Vidal 2007; Voß 2010).6 Ferner sind wichtige Fragen über die konkrete Beziehung zwischen Eltern und Kind sowie über die Art und Weise, in welcher sich ihr erwachsenes Selbst herausbildet, zu diskutieren. Wer von der Geschlechternorm abweicht, lebt nicht in einem Vakuum, wie die Erfahrungen von Eltern zeigen, die oft mit der Verletzlichkeit ihrer Kinder konfrontiert werden. Zudem wird der Blickwinkel erweitert, wenn es um die gesellschaftliche Behandlung von Intersex- und Trans‘-Personen mit besonderem Augenmerk auf Medizin und Rechtsprechung geht. Es ist zu erwarten, dass diese beiden Bereiche in naher Zukunft sehr in Anspruch genommen werden, da viele Intersex-Gruppen aus verschiedenen Ländern weltweit den gemeinsamen Willen haben, das Menschenrecht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit zu schützen.7 Es erscheint weise, sich im Rahmen von wissenschaftlichen Konferenzen hierüber Gedanken zu machen und nicht unter Wissenschaftler_innen zu bleiben, sondern mit Intersex- und Trans‘-Personen auf Augenhöhe zu agieren und Letzteren Zugang zu Forschung und Lehre zu ermöglichen. In einem Fachgebiet erworbene Perspektiven sind wesentlich für die Herausbildung einer Denkweise, die nicht an Losgelöstheit krankt. Mehr noch: Menschen, die in einem Fachgebiet arbeiten, diesen Themen und Wirklichkeiten jedoch noch nie ernsthaft ausgesetzt waren, profitieren durch Erfahrungen oder Berichte von Intersex- und Trans‘-Personen mehr als durch abgehobene Theorien. Daher sollte der Bezug zur Praxis stets fester Teil solcher Konferenzen sein, um theoretische Ansatzpunkte zu ergänzen. Aus meiner Sicht ist dieses Gleichgewicht für die Konstruktion aufgeklärten und praktischen Wissens notwendig. Zu guter Letzt treibt mich eine Sorge: Ich möchte die Wichtigkeit der Stimmen von Intersex- und Trans‘-Personen betonen und, dass man sie ernst nimmt. Unabhängig von ihrem Entwicklungsstand gibt es Elemente ihrer und unserer Lebenswirklichkeit, die nur wir bzw. sie vermitteln können, da nur wir bzw. sie unser bzw. ihr Leben erleben. Im Sinne intellektueller Transparenz möchte ich betonen, dass ich mit diesem Beitrag aus der Perspektive einer Intersexforscherin spreche.

6 | Bagemihl, B. (1999): Biological Exuberance. Animal Homosexuality and Natural Diversity, New York: St-Martin’s Press; Fausto-Sterling, A. (2000): Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York: Basic Books; Gould, S. J. (1981): The Mismeasure of Men, New York: W. W. Norton & Company; Haraway, D. J. (1991): Simians, Cyborgs, and Women, New York: Routledge; Vidal, C. (2007): Hommes, femmes: avons-nous le même cerveau? Paris: Le Pommier; Voß, H.-J. (2010): Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld: transcript. 7 | Forderungen vom zweiten Intersex Forum ILGA. URL: http://www.ilga-europe.org/home/news/for_media/ media_releases/intersex_forum_2012_media_release [06.09.2013].

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Geschlechteridentitäten und Menschenrechte Jean-Paul Lehners

Zusammenfassung Ausgehend von der Feststellung andauernder Diskriminierungen von Transgender-Personen geht der Artikel der Frage nach, welche Menschenrechte verletzt werden, wenn Transgender-Personen sich immer noch weitreichenden Stigmatisierungen ausgesetzt sehen. Der Beitrag diskutiert den Bericht der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navanethem Pillay, sowie die Yogyakarta-Prinzipien und mündet in elf abschliessende Bemerkungen, die als wegweisender Ausblick auf notwendige Schritte zum Abbau von immer noch vorherrschenden Diskriminierungen gegenüber Transgender- sowie Intersex-Personen betrachtet werden können.

Geschlechter und Menschenrechte Die Gruppe der Transgender ist nicht nur in der luxemburgischen Gesellschaft eine minoritäre Gruppe, die seit Jahrhunderten diskriminiert und stigmatisiert wird. Die Vorurteile halten sich hartnäckig: So werden Transgender-Personen als unentschlossen und exzentrisch dargestellt, als Menschen ohne Kinderwunsch und dadurch als jemand, der die Zukunft unserer Gesellschaft gefährdet. Indem sie alle Normen durchbrechen, bedrohen sie unsere Jugend. Die Restriktionen gegen Transgender-Personen werden unter diesem Blickpunkt nicht als Diskriminierung wahrgenommen, gelten sie doch als krank, unmoralisch und unausgewogen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In diesem Kontext ist auch der

1 | Ich danke Charlotte Wirth und Jacky Robert für die Übersetzung aus dem Französischen.

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Jean-Paul Lehners

Artikel »Transsexualisme et droit européen« zu erwähnen, der mit folgender Definition beginnt: »Ebenfalls bekannt unter dem Begriff Harry Benjamin Syndrom definiert sich Transsexualismus als die unerschütterliche Überzeugung, dem entgegengesetzten Geschlecht anzugehören, und dem entsprechenden Wunsch einer Geschlechtsangleichung. Der Transsexualismus ist daher als Krankheit erfasst, und nicht als Perversion, oder eine Art von Homosexualität.«2

Der vorliegende Artikel untersucht die Problematik vorwiegend aus einer Menschenrechtsperspektive und beschäftigt sich mit der Frage, welche Menschenrechte im Bezug auf Transgender-Personen verletzt werden. Bevor ich mich in diesem Zusammenhang verschiedenen Gesetzestexten widme, möchte ich auf den Bericht der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Navanethem Pillay, zu diskriminierenden Gesetzen, Handlungen und Gewaltpraktiken gegen Einzelpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität (A/HRC/19/41) beziehen.3 In diesem Bericht gibt es ein Kapitel über Gewalt, beginnend mit Morden, Vergewaltigungen und anderen Handlungen diskriminierender Gewalt. Navi Pillay unterscheidet hier zwischen zwei Gewaltaspekten, physische und psychologische Gewalt, und präzisiert: »Diese Angriffe stellen eine Form von geschlechtsbasierter Gewalt dar, getrieben von einem Wunsch, jene zu bestrafen, welche sich scheinbar den geschlechtlichen Normen widersetzen.«4 Sie unterscheidet ebenfalls zwischen Straßengewalt und organisierter Gewalt und unterstreicht in diesem Kontext die von Familien und Gemeinschaften ausgehenden Gewaltakte. Sie schreibt: »Lesben und Trans‘-Frauen sind aufgrund geschlechtlicher Ungleichbehandlung und den Machtverhältnissen in Familie und Gesellschaft besonders gefährdet.«5 Sie betont dabei den besonders barbarischen Charakter dieser Gewalttaten, verglichen mit anderen aufgrund von Vorurteilen begangenen Gewaltakten. Dabei erwähnt sie auch die »Verbrechen im Namen der Ehre«, die gegen jene begangen werden, die laut deren Familienmitglieder oder Gemeinden Scham oder Schande über die Familie gebracht haben. Die Verleumdungskampagnen und Gewaltandrohungen gegen Personen, die die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen

2 | Dubos, O. (Hg.) (2007): Sexe, sexualité et droits européens – Enjeux politiques et scientifiques des libertés individuelles. Paris: Edition A. Pedone, S. 55. 3 | Vereinte Nationen (Hg.) (2011): Diskriminierende Gesetze, Handlungen und Gewaltpraktiken gegen Einzelpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität. URL: http://www.ohchr.org/EN/ HRBodies/HRC/RegularSessions/Session19/Pages/ListReports.aspx [27.11.2013]. 4 | Deutsche Übersetzung auf der Internetseite unter Publikationen/Studien: URL: www.gleichgeschlechtliche-le bensweisen.hessen.de [27.11.2013]. 5 | Ebd.

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

verteidigen, werden nicht außer Acht gelassen. Auch die Hass-Rhetorik von politischen und gesellschaftlichen Verantwortlichen, die zu Hass und Gewalt anstiften soll und die zur Homophobie, zur Bedrängung von Einzelpersonen beiträgt, wird im Dokument erwähnt. In dem Kapitel über Folter und andere Formen grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Gewalt wird vor allem auf die Entmenschlichung des Opfers eingegangen, und die Hochkommissarin insistiert auf dem Aspekt der Gewalt in Haftanstalten. Hier sticht die Anfälligkeit von gefangenen Mann-zu-Frau-Transgendern für körperliche und sexuelle Misshandlungen heraus, wenn sie bei den anderen Gefängnisinsassen untergebracht werden.6 Navi Pillay zitiert Beispiele, die von verschiedenen Sonderberichterstattern angeführt wurden. So wurden zum Beispiel Trans‘-Frauen absichtlich auf die Brüste und Wangenknochen geschlagen, um dort Implantate zum Platzen zu bringen, damit sich deren Giftstoffe im Körper freisetzen. Ein anderes Beispiel aus El Salvador: Hier wurde 2011 eine Trans‘-Frau in einem Männergefängnis untergebracht und zwar in einer Zelle zusammen mit Bandenmitgliedern, von denen sie über hundert Mal vergewaltigt wurde, dies manchmal mit Unterstützung des Gefängnispersonals. In dem Kapitel über Diskriminierung im Gesundheitswesen wird darauf hingewiesen, dass Therapien zur Geschlechtsangleichung – wenn es sie gibt – oft unerschwinglich teuer sind und nur selten durch staatliche Unterstützung oder durch Versicherungen mitgetragen werden. Gesundheitsfachkräfte sind oft wenig sensibilisiert für die Bedürfnisse von Transgender-Personen und es fehlt hierzu die nötige berufliche Weiterbildung. Darüber hinaus werden auch intersexuelle Kinder, die bereits bei ihrer Geburt atypische Geschlechtsmerkmale aufweisen, oft diskriminiert, und an ihnen werden unnötige chirurgische Eingriffe vorgenommen, um ihr Geschlecht eindeutig festzulegen. Letzteres geschieht oft ohne das Einverständnis dieser Kinder oder das ihrer Eltern und – so ließe sich hinzufügen – oftmals ohne Kenntnis darüber, welche Geschlechtsidentität das Kind einmal entwickeln wird. Bezüglich der Diskriminierung im Bildungswesen werden Jungen, die von anderen Kindern als zu weiblich wahrgenommen werden, sowie junge Mädchen, die als zu jungenhaft gelten, oft auf dem Schulhof der Grundschule gehänselt und in einigen Fällen sogar aufgrund ihrer Erscheinung und ihres Verhaltens, welche jeweils als außerhalb der heteronormativen geschlechtlichen Identität befindlich empfunden werden, körperlich angegriffen.7 Weiterführend kann dieser Gedanke dahingehend entwickelt werden, dass auch Kinder 6 | Ebd. 7 | Ebd. S.a. International consultation on homophobic bullying and harassment in educational institutions, UNESCO concept note, July 2011. Vgl. Review of Homophobic Bullying in Educational Institutions. URL: http:// unesdoc.unesco.org/images/0021/002157/215708e.pdf [02.12.2013].

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betroffen sein können, deren Geschlechtsidentität von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht, sowie jene, deren Geschlechtsidentität zwar nicht abweicht, die sich jedoch nicht entsprechend der immer noch geltenden Stereotypsierungen verhalten. Isolation und Stigmatisierung führen indes zu Depressionen und anderen gesundheitlichen Problemen und tragen zu Schulschwänzen bis hin zu Schulentlassungen bei. In extremen Fällen können sie sogar Ursache von Selbstmord oder Selbstmordversuchen sein. Der Bericht der Hohen Kommissarin enthält auch Beispiele von diskriminierenden Praktiken in Familie und Gemeinschaft. Diese Diskriminierungen manifestieren sich auf verschiedene Art und Weise, zum Beispiel durch den Rauswurf von Transgender-Personen aus dem Zuhause, ihre Enterbung, durch Schulverbot, ihre Einweisung in psychiatrische Anstalten, Zwangsheirat, das erzwungene Verlassen der eigenen Kinder 8, durch die Bestrafung von politischer Betätigung oder durch Rufschädigung. Auch hier ist das Risiko für Frauen aufgrund des tief verankerten Ungleichgewichts der Geschlechter umso größer und ihre Selbstbestimmung ist in Entscheidungsfragen über Sexualität, Fortpflanzung und Familienleben besonders gefährdet. Nachdem ich die verschiedenen Diskriminierungen anhand des Berichtes von Navi Pillay beschrieben habe, werde ich die Frage der Verletzung der Menschenrechte von Transgender-Personen nun mittels der verschiedenen Konventionen und internationalen Normen untersuchen. Zuerst möchte ich auf das Themenpapier9 von Thomas Hammarberg, ehemaliger Menschenrechtskommissar beim Europarat, sowie auf das Dokument über »Gute Praktiken«, das basierend auf den Empfehlungen Hammarbergs verfasst wurde, verweisen. Auch die Empfehlungen des Europarats über Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität10 gilt es zu untersuchen, ebenso wie die Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in Wien. Letztere beschäftigte 8 | Trotz tendenzieller Unterschiede in den Übersetzungen des UN-Dokumentes A/HCR/19/41 ist davon auszugehen, dass in dieser Passage das Verlassen vorhandener Kinder gemeint ist und nicht der Verzicht auf diese. Dies würde auch den Erfahrungen einiger Transgender-Personen mit Kindern entsprechen. In der französischen Version heißt es: »obligées d’abandonner leurs enfants«, S. 23. URL: http://www.ohchr.org/Documents/HR Bodies/HRCouncil/RegularSession/Session19/A-HRC-19-41_fr.pdf [15.12.2013], während die englische Version ausführt: »forced to relinquish children«, S. 21. URL: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/ HRCouncil/RegularSession/Session19/A-HRC-19-41_en.pdf [15.12.2013]. To relinquish kann beides bedeuten, d.h. sowohl verlassen als auch verzichten, während der französische Begriff ›abandonner‹ sich eindeutig auf verlassen beziehen lässt. 9 | Hammarberg, T. (2009): Menschenrechte und Geschlechteridentität. URL: http://www.gwi-boell.de/down loads/Transgender_Menschenrechte.pdf [02.12.2013]. 10 | Europarat (2010): Empfehlung CM/Rec(2010)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität URL: https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraSer vlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&Instranet Image=2129047&SecMode=1&DocId=1915570&Usage=2 [02.12.2013].

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

sich 2012 mit einer europäischen LGBT-Studie11, die 2013 veröffentlicht wurde. Auch die Europäische Kommission hat 2012 zu dieser Thematik ein Dokument vorgelegt. Dieses trägt den Titel »Trans and Intersex People. Discrimination on the Grounds of Sex, Gender Identity and Gender Expression«.12 ILGA-Europe (The European Region of the International Lesbian and Gay Association) und TGEU (Transgender Europe) haben 2008 die Studie »Transgender EuroStudy: Legal Survey and Focus on the Transgender Experience of Health Care«13 zur Thematik erstellt. Schließlich hat das belgische Institut für die Gleichstellung von Mann und Frau 2009 die Transgender-Studie »Being Transgender in Belgium. Mapping the Social and Legal Situation of Transgender People«14 durchgeführt. Die oben genannten Texte stützen sich alle auf die Yogyakarta-Prinzipien15, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde. Die Idee dazu entstammt einer Koalition von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die im Bereich der Menschenrechte tätig sind. Die Erarbeitung der Yogyakarta-Prinzipien wurde u.a. durch eine internationale Juristenkommission begleitet. Die Idee wurde 2006 in einer Rede der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, aufgegriffen. Die Yogyakarta-Prinzipien erfüllen drei Funktionen: 1. Das Erfassen (Mapping) der Menschenrechtsverletzungen, die Menschen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen oder Geschlechteridentitäten widerfahren sind. 2. Die präzise und klare Anwendung des internationalen Rechts im Bezug auf diese Erfahrungen. 3. Die detaillierte Beschreibung der Pflichten des Staates für eine effektive Gewährleistung der Menschenrechte. 29 Experten aus 25 Ländern aus allen Weltregionen haben 12 Monate lang, von 2006 bis 2007, an den Prinzipien gearbeitet. Der Austausch ging oft über

11 | Grundrechteagentur (Hg.) (2013): European Union lesbian, gay, bisexual and transgender survey - Results at a glance. URL: http://fra.europa.eu/sites/default/files/eu-lgbt-survey-results-at-a-glance_en.pdf [18.03.2014]. 12 | Agius, S., Tobler, C. (2011): Trans- und intersexuelle Menschen. Diskriminierung von trans- und intersexuellen Menschen aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks. Generaldirektion Justiz dern Europäischen Kommission (Hg.). URL: http://www.non-discrimination.net/content/ media/Trans%20and%20intersex%20people_DE.pdf [18.03.2014]. 13 | Whittle, S., Turner, L., Combs, R., Rhodes, S. (2008): Transgender EuroStudy: Legal Survey and Focus on the Transgender Experience of Health Care. The European Region of the International Lesbian and Gay Association/Transgender Europe (Hg.). URL: http://www.pfc.org.uk/pdf/eurostudy.pdf [18.03.2014]. 14 | Motmans, J. (2009): Être transgenre en Belgique. Un aperçu de la situation sociale et juridique des personnes transgenres. Institut pour l’égalité des femmes et des hommes (Hg.). URL: http://igvm-iefh.belgium.be/ fr/binaries/34%20-%20Transgender_FR_tcm337-81094.pdf [02.12.2013]. 15 | Die Yogyakarta-Prinzipien (2008): Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Deutsche Übersetzung durch die Hirschfeld-Eddy Stiftung (Hg.). URL: http://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/fileadmin/images/schriftenreihe/yogyakarta-principles_de.pdf [27.11.2013].

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elektronische Kommunikation vonstatten und ein letztes Treffen fand vom 6. bis zum 9. November 2006 an der Universität Gadjah Mada in Yogyakarta, Indonesien, statt. Der definitive Text wurde einstimmig angenommen und am 26. März 2007 veröffentlicht. Die Yogyakarta-Prinzipien wurden in die sechs offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen übersetzt. Der Text gliedert sich in 29 Prinzipien und beginnt mit drei Prinzipien zur Universalität der Menschenrechte und deren Anwendung auf alle Menschen ohne jegliche Diskriminierung. Die Prinzipien 4-11 listen die verschiedenen Grundrechte auf, u.a. das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das Verbot von Gewalt, das Recht auf Schutz der Privatsphäre, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung. Die Prinzipien 12-18 unterstreichen die Bedeutung der Nichtdiskriminierung in Bezug auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, darunter das Recht auf angemessenen Wohnraum, das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit und andere soziale Schutzmaßnahmen und das Recht auf das höchstmögliche Maß an Gesundheit. Die Prinzipien 19-21 widmen sich der Meinungsfreiheit, die Prinzipien 22-23 den Asylbewerbern und die Prinzipien 24-26 dem Recht auf Gründung einer Familie, dem Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben sowie dem Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben. Das Prinzip 27 erkennt das Recht auf die Förderung und Verteidigung von Menschenrechten an. Letztendlich bestätigen die Prinzipien 28 und 29 die Wichtigkeit der Verantwortlichkeit derer, die diese Menschenrechte verletzen. All diese Prinzipien beziehen sich natürlich auf jene Personen, die eine andere sexuelle Orientierung oder Geschlechteridentität haben, die nicht der Heteronormativität entspricht. In einem Artikel über die Prinzipien von Yogyakarta setzt sich Michael O’Flaherty16, der Berichterstatter der Expertengruppe, kritisch mit den Prinzipien auseinander und bemerkt, dass manche Prinzipien noch weitreichender hätten sein können. So widmet sich Artikel 18 über die Rolle der Medien nicht allen Medien, sondern nur denen, die vom Staat reglementiert werden. Auch sind manche Prinzipien etwas vage formuliert. So lässt zum Beispiel Artikel 21 B über den Ausdruck sowie die Förderung unterschiedlicher Meinungen die Frage offen, ob und inwiefern eine Glaubensgemeinschaft jemanden aufgrund seiner sexuellen Orientierung ausschließen könnte. Auch werden manche Aspekte außen vor gelassen. Zum Beispiel bleiben häusliche Gewalt in homosexuellen Haushalten oder etwa der Zugang zu medizinischer Versorgung in Entwicklungsländern 16 | O’Flaherty, M., Fisher, J. (2008): Sexual Orientation, Gender Identity and International Human Rights Law: Contextualising the Yogyakarta Principles. In: Human Rights Law Review 8:2. Oxford, S. 207-248.

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

unerwähnt. Auch Aspekte, die während der Ausarbeitung des Textes diskutiert wurden, wie etwa das Recht auf eine Ehe zwischen homosexuellen Partner_innen, wurden nicht festgeschrieben. Die Prinzipien wurden in punkto Gender in neutraler Sprache verfasst, um binäre Genderkonstruktionen zu vermeiden. Dies hat aber zur Folge, dass eine Referenz auf die besondere Situation der Frauen fehlt. Die Verbreitung des Textes war äußerst erfolgreich und die Prinzipien von Yogyakarta werden in fast jedem Dokument über Geschlechteridentitäten aus einer Menschenrechtsperspektive erwähnt. Auch gab es offizielle Reaktionen von vielen Staaten, von den Instanzen der Vereinten Nationen, vom Europarat, von der Europäischen Union und von der Zivilgesellschaft. Es gilt aber zu erwähnen, dass das Echo auf die Prinzipien nicht immer positiv war. Das amerikanische Institut »Catholic Family and Human Rights Institute« zum Beispiel nennt es ein gefährliches Dokument. Andere Pressemitteilungen dieser Organisation gehen in die gleiche Richtung und verurteilen zum Beispiel die Rede zur Verteidigung der LGBT-Rechte des UNO-Generalsekretärs Ban Ki-Moon vor dem Menschenrechtsrat in Genf.17 Gottseidank gibt es auch katholische Organisationen, die sich von den fundamentalistischen Aussagen dieser amerikanischen Institution distanzieren. Ich möchte an dieser Stelle nur kurz auf die Transgender-Definitionen der Europäischen Kommission eingehen. Letztere unterscheidet zwischen: Transsexuell-, Transgender-, Travestie/Cross-dressing-People, Androgyn, Polygender sowie genderqueer, agender people, gender variant und intersex people. Die Prinzipien von Yogyakarta, auf die sich viele andere Texte berufen, arbeiten mit folgender Definition: »Der Begriff ›sexuelle Orientierung‹ bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen desselben oder eines anderen Geschlechts oder mehr als einen Geschlechts hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen. Unter ›geschlechtlicher Identität‹ versteht man das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, das mit dem Geschlecht, das der betroffene Mensch bei seiner Geburt hatte, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt; dies schließt die Wahrnehmung des eigenen Körpers (darunter auch die freiwillige Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes oder der Funktionen des Körpers durch medizinische, chirurgische oder andere Eingriffe) sowie andere Ausdrucksformen des Geschlechts, z.B. durch Kleidung, Sprache und Verhaltensweisen, ein.«18 17 | Gennarini, S. (2012): UN Secretary General Defies UN Member States on LGBT Rights and Reproductive Rights. URL: http://c-fam.org/en/2012/7179-un-secretary-general-defies-un-member-states-on-lgbt-rights -and-reproductive-rights [18.12.2013]. 18 | Die Yogyakarta-Prinzipien (2008): Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Deutsche Übersetzung durch die Hirschfeld-Eddy Stiftung (Hg.). URL: http://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/fileadmin/images/schriftenreihe/yogyakarta-principles_de.pdf [27.11.2013].

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In der legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2012 zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe19 wird der Genderbegriff benutzt, dies, nach meinem Wissen zum ersten Mal, in einem Gesetzestext dieser Wichtigkeit. Es gilt hervorzuheben, dass die verschiedenen Menschenrechtserklärungen und -konventionen universell sind – sie gelten also natürlich auch für Transgender-Personen. Das erste Prinzip von Yogyakarta hebt das Recht auf die universelle Bedeutung der Menschenrechte ganz klar hervor und präzisiert: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten. Menschen aller sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten haben Anspruch auf den uneingeschränkten Genuss aller Menschenrechte.«20 In den verschiedenen internationalen Abkommen wird die Genderidentität, im Gegenteil zur sexuellen Orientierung, selten als Motiv für Diskriminierung genannt. Das Komitee der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte dagegen bestätigt: »Darüber hinaus gehört die Geschlechtsidentität anerkanntermaßen zu den verbotenen Diskriminierungsgründen; so sehen sich beispielsweise Transgender, Transsexuelle oder Intersexuelle oft ernsten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, wie Belästigungen in der Schule oder am Arbeitsplatz.«21 Es ist indes klar, dass die Antidiskriminierungsbestimmungen, insofern sie nicht limitierend sind, auch auf Transgender zutreffen. Neben den Abkommen seien auch noch die Gerichtsurteile erwähnt, insbesondere die des Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg, die sich wiederholt mit Transgender-Fragen beschäftigt haben, zum Beispiel in Bezug auf die Anerkennung von geänderten Geschlechtskennzeichen (oder -merkmalen) in den Identitätsausweisen oder bei der Frage, ob eine komplette geschlechtsangleichende Operation als medizinisch notwendige Behandlung angesehen werden kann und somit von den Versicherungen übernommen werden muss. Hier stellt sich die Frage, ob ein chirurgischer Eingriff erfolgen muss, damit man in den Genuss solcher Maßnahmen kommen kann. 19 | Europäisches Parlament (2012): Legislative Entschließung am 12.09.2012. URL: http://www.europarl. europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2012-0327+0+DOC+XML+V0//DE& language=DE [27.11.2013]. 20 | Die Yogyakarta-Prinzipien (2008): Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Deutsche Übersetzung durch die Hirschfeld-Eddy Stiftung (Hg.). URL: http://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/fileadmin/images/schriftenreihe/yogyakarta-principles_de.pdf [27.11.2013]. 21 | Vereinte Nationen (2009): Nichtdiskriminierung bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Wirtschafts- und Sozialrat. URL: http://www.un.org/depts/german/wiso/e-c12-gc-20.pdf [10.12.2013].

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

Dies wird auch im Prinzip 3, einer der wichtigsten Yogyakarta-Prinzipien, angesprochen: Das Recht auf Anerkennung vor dem Gesetz: »Jeder Mensch hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden. Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität müssen in allen Lebensbereichen in den Genuss der Rechtsfähigkeit kommen. Die selbstbestimmte sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität jedes Menschen ist fester Bestandteil seiner Persönlichkeit und eines der grundlegenden Elemente von Selbstbestimmung, Würde und Freiheit. Niemand darf als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung seiner geschlechtlichen Identität gezwungen werden, sich medizinischen Behandlungen zu unterziehen, darunter geschlechtsangleichende Operationen (sex reassignment surgery), Sterilisationen oder Hormonbehandlungen. Kein rechtlicher Stand, wie beispielsweise die Ehe oder die Elternschaft, darf als Grund angeführt werden, um die rechtliche Anerkennung der geschlechtlichen Identität eines Menschen zu verhindern. Es darf auf keinen Menschen Druck ausgeübt werden, seine sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität zu verbergen, zu unterdrücken oder zu verleugnen.«22

Alle Menschenrechtsaspekte in Bezug auf Transgender zu erwähnen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, deswegen werde ich im Folgenden nur auf die wichtigsten Aspekte eingehen: Ein erstes Beispiel ist das Recht, die Geburtsurkunde sowie den Personalausweis im Bezug auf das Geschlecht zu berichtigen. Die Verweigerung dieses Rechts stellt einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention dar, der besagt: »Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.« Es handelt sich hier um zwei formale Prozeduren, die Änderung des Vornamens und die Änderung des Geschlechtseintrages. In manchen Ländern muss man hierzu verschiedene Anforderungen erfüllen, u.a. muss man sich einer geschlechtsangleichenden Operation unter ärztlicher Kontrolle, einer irreversiblen Sterilisation, unterziehen. Diese Prozeduren sind oft sehr langwierig und so werden diesen Personen ihre Ausweisdokumente lange Zeit vorenthalten. Darüber hinaus müssen sie sich physischen und psychischen Untersuchungen unterziehen, bei denen ihre Integrität nicht immer respektiert wird. Hier greift der Staat stark in das Privatleben der Personen ein. Transgender-Personen dazu zu zwingen, sich einem operativen Eingriff zu unterziehen, um ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen, stellt eine Menschenrechtsverletzung dar. Gleiches gilt für den Fall, dass psychisch gesunde Menschen zur Erlangung einer Personenstands- bzw. 22 | Die Yogyakarta-Prinzipien (2008): Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Deutsche Übersetzung durch die Hirschfeld-Eddy Stiftung (Hg.). URL: http://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/fileadmin/images/schriftenreihe/yogyakarta-principles_de.pdf [27.11.2013].

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Vornamensänderung und des entsprechenden Eintrags im Personenstandsregister gezwungen werden, eine_n Psychiater_in bzw. Psycholog_in aufzusuchen, damit dieser ein Attest über eine wissenschaftlich nicht schlüssig begründete Erkrankung ausstellt.23 Auch die familiären Konsequenzen müssen beachtet werden. Es gibt Länder, in denen eine Transgender-Person, die mit einem Partner des anderen Geschlechts verheiratet ist, dazu gezwungen wird, sich scheiden zu lassen, damit ihr neues Geschlecht anerkannt werden kann.24 Das Problem stellt sich in den Ländern, die gleichgeschlechtliche Ehen nicht oder noch nicht anerkennen. Es versteht sich von selbst, dass eine erzwungene Scheidung auch die Kinder eines solchen Paares betrifft. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die gängigen medizinischen Klassifikationen sehen Transsexualität als psychische Störung an. Hier sind insbesondere zwei internationale Systeme zur Klassifikation von Krankheiten zu erwähnen: Das diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen (DSM) sowie die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der Transsexualität im Kapitel V (psychische und Verhaltensstörungen) in der Kategorie F64 aufgelistet ist.25 Die zuletzt genannte Klassifikation wird voraussichtlich 2015 geändert. Kann man hier von der Stigmatisierung einer Person aufgrund der Diagnose einer psychischen Störung sprechen oder aber erleichtert die Diagnose den Zugang zu medizinischer Versorgung? Die Debatte ist offen.26 Die Festsetzung eines Mindestalters hinsichtlich geschlechtsangleichender Operationen und Hormontherapien ist eine weitere erhebliche Einschränkung, die nicht dem gesundheitlichen Wohlbefinden und der Arbeitsfähigkeit erwachsener Transgender-Personen gerecht wird bzw. dem Wohl eines Transgender-Kindes (im Sinne der Kinderrechtskonvention, Art. 3) dient, da dies oftmals zu einer Erhöhung und Verlängerung des Leidens führt. Auf die Diskriminierungen in Bezug auf den Zugang zu Arbeit, auf Belästigungen und Beleidigungen, auf die bereits an anderer Stelle beschriebenen Gewalttaten, auf Hassreden vor dem Hintergrund der Transphobie, sprich der irrationellen Angst und/oder Feindseligkeit gegenüber Transgender-Personen oder Personen, die auf andere Art und Weise die traditionellen Geschlechternormen durchbrechen, einzugehen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.27 23 | Drescher, J., Cohen-Kettenis, P., Winter, S. (2012): Minding the body: Situating gender identity diagnoses in the ICD-11. In: International Review of Psychiatry, Dezember 2012; 24(6), S. 573. 24 | Hammarberg, T. (2009): Menschenrechte und Geschlechteridentität. S. 25. URL: http://www.gwi-boell.de/ downloads/Transgender_Menschenrechte.pdf [02.12.2013], S. 21. 25 | Ebd., S. 25. 26 | Ebd., S. 25. 27 | Ebd., S. 34.

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Wer Angst sagt, sagt Ignoranz und verweist also auch auf die Rolle von Bildung und Erziehung. Dies führt mich zu einigen abschließenden Bemerkungen. 1.

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In LGBT wird dem ›T‹, welches für Transgender-Personen und deren Anliegen steht, oftmals wenig Raum gegeben oder gar vergessen; Vergleichbares gilt für die Anliegen von Intersex-Personen; das Konzept ›LGBTI‹ hat sich noch nicht umfassend durchsetzen können. Ein wichtiger Begriff ist für mich der Begriff der Würde. TransgenderPersonen verdienen es, ebenso wie es für alle anderen normal sein sollte, dass man sich für sie interessiert, dass man von ihnen spricht, nicht im Sinne eines unangebrachten Mitgefühls, sondern damit sie ihre Rechte wahren können. Das ist der Vorteil einer Rechtsperspektive: Man kann vor Gericht gehen, wenn seine Rechte missbraucht werden. Neben dem Aspekt der Würde gibt es den Aspekt der Nichtdiskriminierung, der physischen und psychischen Integrität. Man muss jedoch über diese Begriffe hinausgehen und den Begriff der sozialen Gerechtigkeit ins Spiel bringen. Die Medikalisierung der Transgender-Frage muss schnellstmöglich überprüft und die Klassifikation der psychischen Störungen revidiert werden. Der Vorteil der Herangehensweise aus einer Menschenrechtsperspektive ist, dass diese sich auf eine ganze Reihe von Deklarationen und Konventionen stützt, die die Rechte aller Personen garantieren und gegen Diskriminierung schützen. Der Nachteil einer solchen Herangehensweise ist, dass diese Texte oft die spezifischen Anliegen der LGBT nicht widerspiegeln und in den meisten Dokumenten der letzten 60 Jahre Aspekte der Sexualität, der Geschlechtsidentität und auch des Intersex-Status nicht explizit erwähnt werden. In letzter Zeit jedoch vermehren sich die Bestrebungen, empirische Studien zu den konkreten Problemen der LGBT durchzuführen, die eine Herangehensweise aus der Sicht der Sozial-und Geisteswissenschaften gestatten und es so erlauben, den strengen Rahmen der internationalen Normen aufzubrechen. Eine solche Studie ist die 2012 von der Grundrechteagentur (FRA) durchgeführte, die sich im Wesentlichen auf die Darstellung der Diskriminierungen vor allem von Schwulen und auch Lesben fokussierte.28 Die Besonderheiten Bisexueller und Transgender blieben weitgehend unberücksichtigt, sofern sie nicht mit den Anliegen schwuler oder lesbischer Menschen übereinstimmten. Daher haben sich viele Transgender-Personen nicht an der Durchführung dieser Studie beteiligt.

28 | Holzhacker, R. (2011): Gay Rights are Human Rights. The Framing of New Interpretations of International Human Rights Norms, S. 3. URL: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1902165 [02.12.2013].

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So lässt sich festhalten, dass die Lebenssituationen von Transgender-Personen nicht bzw. unzureichend abgebildet wurden. Die mit der Studie erhobenen Daten werden seit November 2013 separat ausgewertet. Insgesamt sollte jedoch beachtet werden, dass Gefühle und Emotionen nicht die Missstände in der Welt ändern, auch wenn sie einen wichtigen Kollateraleffekt haben können. Ein Anliegen ist es auch, dass die Forschung sich nicht auf europäische Studien beschränken sollte. Es sollte geprüft werden, ob die LGBT-Kategorien, zu denen man zum Beispiel ein I für Intersex oder ein Q für Queer hinzufügen könnte, nicht zu eurozentrisch sind oder von einer westlichen Herangehensweise dominiert werden. Die Gewährleistung der LGBT-Rechte ergibt sich vorwiegend auf internationaler oder europäischer und weniger auf nationaler Ebene. Die Urteile des Straßburger Gerichtshofes gehen nicht immer in die gleiche Richtung, oder wie Ioanna Mincheva in ihrer Masterarbeit schreibt: »dessen Rechtsprechung noch so oft durch Inkonsequenz abgeschwächt ist«.29 Die LGBT-Kategorien sind soziale Konstrukte und können daher hinterfragt werden. In Bezug auf die lange Dauer der Umsetzung der Yogyakarta-Prinzipien gilt es zu bedenken, wie lange es gedauert hat, die Dispositionen zu den Rechten der Frauen in die Praxis umzusetzen. Hier braucht es Geduld. Eine Top-down-Herangehensweise geht sicher schneller, garantiert aber nicht die Akzeptanz der breiten Bevölkerung, die immer noch sehr skeptisch besonders gegenüber dem T in LGBT bleibt. Auch die Rolle von Artikel 14 der europäischen Menschenrechtskonvention sollte hervorgehoben werden. Der Artikel erwähnt das Geschlecht sowie jeglichen sonstigen Status. Obwohl der Begriff der Genderidentität in verschiedenen Direktiven mit einbezogen werden kann, wird es schwierig sein, diesen in die Charta der Grundrechte selbst einzufügen, insbesondere wenn es die einzige vorgeschlagene Änderung an einem Artikel ist. Man kann die LGBT-Bewegung als eine neue soziale Bewegung mit Forderungen zur sozialen Gerechtigkeit, zur partizipatorischen Parität ansehen, die die Identitätspolitik (identity politics) durchbricht – man beachte auch die Parallelen zur Frauenbewegung (Mincheva 2012: 64).

29 | Minecheva, I. (2012): Beyond equality and non-discrimination: Escaping narrow human rights framings in the context of sexual orientation and gender identity, S.30. URL: http://www.eiuc.org/research/publications/ ema-awarded-theses.html [02.12.2013].

Geschlechteridentitäten und Menschenrechte

Ein kurzer historischer Rückblick30: In vielen Ländern hat sich die LGBT-Bewegung (anfangs LG) am Identitätsbegriff orientiert. Die Aktivisten begriffen ihre Aktionen als Teil der Freiheitsbewegungen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Später ist man über das Konzept der persönlichen Identität hinausgegangen und man hat die Forderungen auf eine andere Ebene gebracht: Die Idee des Schutzes einer öffentlichen Identität durch den Staat wurde aufgegriffen und somit brachte man die Forderungen auf die eine zivilrechtliche Ebene. Heutzutage gilt es, über die Restriktionen auf Gleichstellungs- und Nichtdiskriminierungsaspekte hinauszugehen, auf denen die Forderungen der LGBT und der Gleichberechtigung noch viel zu oft beruhen. Leider setzen sich häufig vage oder allgemeine Empfehlungen durch anstatt dass diese, in der Hoffnung auf besseres Verständnis, umformuliert oder dekonstruiert werden. Über die emotionalen und persönlichen Ansprüche auf Gerechtigkeit, die sich auf ein inneres Gefühl von richtig und falsch berufen, hinaus, sollte die akademische Forschung im Bereich der Sozialtheorien gefördert werden. Die LGBT-Bewegung sollte nicht viktimisiert, sondern als legitimer Teil der neuen Sozialbewegungen in all ihrer Komplexität und mit all ihren Auswirkungen auf das soziale und politische Umfeld betrachtet werden. (Mincheva 2012: 64).

30 | Holzhacker, R. (2011): Gay Rights are Human Rights. The Framing of New Interpretations of International Human Rights Norms, S. 3. URL: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1902165 [02.12.2013].

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Die Gender-Problematik, eine Frage 1 der Nicht-Diskriminierung Charles Goerens

Zusammenfassung Aus der Perspektive eines luxemburgischen Politikers mit einiger Erfahrung auf nationaler und europäischer Ebene, wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, was benötigt wird, um Anders-Sein zu akzeptieren bzw. zu respektieren. Im Beitrag wird betont, dass - wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts nachdrücklich zeigt - rechtliche Bestimmungen trotz ihrer unbestrittenen Notwendigkeit in demokratisch verfassten Staaten alleine nicht ausreichen, Diskriminierungen zu unterbinden, sondern ein humanistisch verfasster demokratischer Bürgersinn vonnöten ist, der widerspricht und sich erhebt, wenn Menschen aufgrund scheinbarer Abweichungen von der Norm sich immer noch Diskriminierungen ausgesetzt sehen.

Gender-Problematik und Nicht-Diskriminierung Zuerst möchte ich anmerken, dass ich mich im Kreise dieser Wissenschaftsgemeinde etwas unsicher fühle. Aufgrund meiner bäuerlichen Herkunft werde ich dem Thema Ihres Kolloquiums eventuell nicht mit dem nötigen Feingefühl begegnen können. Von daher möchte ich mich in meinem Beitrag vielmehr an das bisher Gesagte anschließen. Als Nicht-Mitglied Ihrer Wissenschaftsgemeinde, aber als luxemburgisches Mitglied des Europaparlaments möchte ich meine wenigen und eher allgemein gehaltenen Überzeugungen bezüglich der Thematik mit Ihnen teilen. Ich dachte, dass mir dies mit etwas Verständnis und ein wenig Einfühlungsvermögen gelingen könnte. Zudem habe ich mir angewöhnt, den

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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Umfragen nicht den größten Wert beizumessen. Wenn sich beispielsweise laut einer Umfrage nur eine kleine Minderheit von fünf Prozent der Bevölkerung als offen rassistisch bezeichnet, ist das für mich kein Anlass, dieser Entwicklung sorglos gegenüber zu stehen. In Luxemburg entsprechen fünf Prozent 25.000 Personen. Ganz im Gegenteil zu einer rein quantitativ orientierten statistischen Betrachtungsweise, bedeutet dies für mich, dass wir 25.000 Beweggründe zur Beunruhigung haben. Sicher verhält es sich mit der Trans‘-Problematik ähnlich. Dabei mangelt es nicht an Paragrafen und Gesetzestexten gegen Diskriminierung von Personen mit Rassismus- oder Behinderungserfahrung oder, wie in diesem Fall, gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Was wir brauchen, ist vielmehr eine Akzeptanz des Anders-Seins und den Respekt gegenüber Anderen. Als einer der diesbezüglich bedeutendsten Texte kann die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates von 2010 angeführt werden, die Herr Lehners in seinen Ausführungen bereits erwähnt hat.2 Vergessen wir zudem nicht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie den EU-Vertrag, in dem die Wahrung des Prinzips der Nicht-Diskriminierung festgehalten wird. Nun stellt sich die Frage, mit welchen Werkzeugen wir uns am wirkungsvollsten für eine Akzeptanz des Anders-Seins und gegen Diskriminierung einsetzen können. Meiner Meinung nach existieren hier zwei verschiedene Möglichkeiten: Zunächst muss Diskriminierung mit rechtlichen Schritten bekämpft werden, also auf Grundlage entsprechender Gesetzestexte, die gegebenenfalls Strafmaßnahmen vorsehen müssen. In diesem Sinne trägt sowohl die Arbeit des Europarates wie auch die der Europäischen Union dazu bei, einen sehr wertvollen Rechtsraum für Menschen zu erschaffen, einen Rechtsraum, an dem wir uns nur erfreuen können. Auch wenn Nicht-Diskriminierung heute eine der wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union darstellt, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Homosexualität in einigen Ländern, die mittlerweile der EU beigetreten sind, bis Ende der 1990er Jahre als Straftat angesehen wurde. Diese Absurdität gipfelte teilweise in der medikamentösen Behandlung homosexueller Personen. Seither haben wir hinsichtlich der Achtung der Grundrechte deutliche Fortschritte gemacht. Ich möchte betonen, dass dies ohne den besonderen Einfluss der Kopenhagener Kriterien, die das Prinzip der Nicht-Diskriminierung zur Bedingung für die EU-Mitgliedschaft machen, nicht möglich gewesen wäre. Dabei muss angemerkt werden, dass einige in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehaltenen Grundrechte vor ihrer Aufnahme in die

2 | Siehe Beitrag von Jean-Paul Lehners in dieser Publikation.

Die Gender-Problematik, eine Frage der Nicht-Diskriminierung

Kopenhagener Kriterien lediglich leere Worthülsen waren. Ähnlich verhält es sich mit der Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei. Vor dem Hintergrund der aktuell existierenden Gesetzestexte und Praktiken können Personen, die das Prinzip der Nicht-Diskriminierung verletzen, keine mildernden Umstände mehr geltend machen, obgleich die Gesetzestexte verbesserungsfähig bleiben, wie von Professor Lehners bereits eloquent dargestellt. Wir könnten dennoch zu der Annahme verleitet sein, alles sei in bester Ordnung. Sind wir jedoch tatsächlich vor Rückschritten im Bereich der Nicht-Diskriminierung gefeit? Meiner Ansicht nach dürfen wir in unserer Aufmerksamkeit nicht nachlassen. Das geltende Recht, die geltenden Gesetze bleiben lediglich so lange in Kraft, bis sie geändert werden. Weit entfernt von der Absicht, diese Gedanken zu banalisieren, erinnert uns doch die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts, insbesondere der 1930er Jahre, immer wieder daran, dass die gravierendsten Angriffe auf die bürgerliche Freiheit auch von den gesetzgebenden Organen selbst ausgehen kann. Aus diesem Grund muss jenen Haltungen, die dem Geist und den Inhalten der geltenden Gesetzesbestimmungen zuwider laufen, bereits in ihren Anfängen begegnet werden. Der Entmenschlichungsprozess, in den die autoritären Regime Europas ihre Bevölkerungen nach und nach geleitet haben, sollte uns zu erhöhter Achtsamkeit mahnen. Zahlreiche Stimmen erinnern uns daran, dass diese die 1930er und 1940er Jahre bezeichnende Entmenschlichung nicht von einem Tag auf den anderen, sondern vielmehr durch einen schleichenden Prozess sukzessiver Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte umgesetzt wurde. In Auschwitz wurden bekanntermaßen nicht nur Juden ermordet, sondern auch tausende Personen, die aufgrund ihres Geschlechts Opfer von Diskriminierungen wurden. Mit meinem zweiten Punkt möchte ich mit Nachdruck daran erinnern, dass es nicht ausreicht, einen formalrechtlichen Standpunkt einzunehmen. Wenn ein solcher Standpunkt als gesetzeskonformes Handeln verstanden wird, stellt sich die Frage, ob das Gesetz Werte der Toleranz und des Respektes gegenüber Minderheiten beinhaltet. In einer Gesellschaft, in der die Anzahl der gesetzlichen Vorschriften, Reglementierungen, Regeln und Richtlinien stetig steigt, zählt weniger die Konformität des Regelwerks als dessen Inhalt. Dies bedeutet, dass eine auf solchen Grundwerten basierende Gesellschaft, wie der unsrigen, in der Lage sein müsste, immer dann aufzubehren, wenn diese rechtlichen Fundamente in Frage gestellt werden.

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Charles Goerens

So bedeutet ziviler Ungehorsam, sich dann den Gesetzen zu widersetzen, wenn diese ethischen Grundsätzen widersprechen. Die in der jüngsten Vergangenheit begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaften deutlich gemacht. Dabei ist die Kernfrage, wie sich gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Situationen verhalten. Wenn wir Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen, müssen wir auch erörtern, wodurch ein Klima der Toleranz und der Achtung der menschlichen Würde zerstört werden konnte. Anders ausgedrückt: »Wir müssen den Anfängen wehren«. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist für die Wahrung unserer Grundrechte eine wachsame Zivilgesellschaft von größerer Bedeutung als opportunistische Protestbewegungen. Europa verfügt über Richtlinien zur Achtung der Grundrechte sowie über einen starken Willen, diese als grundlegendes Handlungsprinzip zu nutzen. Weit entfernt davon, perfekt zu sein, macht das europäische System Fortschritte. Lassen Sie uns also fragen, mit welchen Mitteln bereits erzielte Errungenschaften dauerhaft gesichert werden können. Wie beispielsweise der französische Historiker Georges Bensoussan, gehen etliche andere auch davon aus, dass die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und insbesondere die Shoah durch mehrere, miteinander verwobene Faktoren begünstigt wurden; Faktoren, die auch unsere Zeit stark prägen. Ein vollständig durchorganisierter Staat, ein durch die Massenmedien verstärkter kollektiver Konformismus, die Zerstückelung der Verantwortlichkeiten und Zuteilung losgelöster Aufgabenbereiche an Einzelne, die sich der Auswirkungen ihrer jeweils eingeschränkten Perspektive auf den Rest der Gesellschaft nicht bewusst waren, haben zu den schlimmsten Untaten in der Geschichte der Menschheit geführt. Auch die anhaltenden technischen Fortschritte des 21. Jahrhunderts und die besondere Rolle sozialer Netzwerke können keinen absoluten Schutz unserer Rechte und Freiheiten gewähren. Nichts kann einen kritischen Bürgersinn ersetzen. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer Gesamtheit entschieden dem Humanismus verschrieben hat und fähig ist aufzubegehren, wenn eine Gruppe von Bürgern stigmatisiert wird, bleibt das beste Bollwerk gegen Diskriminierung.

Kapitel 2: Kategorien

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit in seiner epistemologischen und ethischen Relevanz Michael Groneberg

Zusammenfassung Der Beitrag präsentiert eine Begrifflichkeit, die erlaubt, die Realitäten inter- und transgeschlechtlicher Menschen adäquat zu beschreiben. Die epistemologische Angemessenheit legt zugleich die Basis dafür, zu einer angemessenen ethischen Einstellung diesen Menschen gegenüber zu gelangen. Dazu ist nötig, die Begriffe ›Sexualität‹ und ›Geschlecht‹ strikt zu unterscheiden und eine dritte, psychische Dimension des Geschlechts neben der physischen und der sozialen anzuerkennen. Es wird argumentiert, dass das psychische Geschlecht eines Menschen als sein Geschlecht akzeptiert werden sollte. Da das psychische Geschlecht häufig als Geschlechtsidentität begriffen wird, was auch Kritik hervorruft, werden im Anschluss Argumente dafür aufgeführt, in der psychischen Geschlechtsdimension eine Identität zu veranschlagen.

Einleitung Philosophie ist nicht zuletzt Begriffsarbeit. Worte sind wichtig, vor allem in der alltäglichen und öffentlichen Kommunikation, aber ebenso entscheidend sind Begriffe in wissenschaftlicher und ethischer Hinsicht. Verschiedene Worte oder Ausdrücke1 wie z.B. Zwitter, Hermaphrodit, Intersexuelle(r) oder Person mit einer Geschlechtsentwicklungsvariation rufen zum selben Gegenstandsbereich verschiedene Bilder und Konnotationen auf und bewirken verschiedene Wertungen. Zwischen den Worten und den von ihnen bezeichneten Gegenständen spiegelt der Begriff 2 unser Verständnis eben dieses Gegenstandes wider. Da ein Begriff nicht für sich allein Bedeutung hat, sondern in Beziehung mit anderen, 1 | Ein Ausdruck ist ein Wort oder eine Kombination mehrerer Worte. 2 | Begriff und Konzept werden synonym gebraucht.

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bezeichnen wir mit Begrifflichkeit das Netz von Begriffen, das einen Gegenstandsbereich strukturiert. Ist die Begrifflichkeit einer Sache nicht angemessen, wird die Sache falsch oder gar nicht verstanden. In der Folge geschieht es, dass wir ihr deshalb nicht gerecht werden oder ihr Gewalt antun, indem wir versuchen, die Sache unserer Begrifflichkeit anzugleichen. Die folgende Begriffsanalyse ist daher nicht nur von epistemologischer, sondern auch von ethischer Relevanz. 3 Sie kann dazu beitragen, auf Unwissen gründende Gewalt zu vermeiden, auch symbolische, und das Leiden von Personen zu reduzieren, die unangemessenen Begrifflichkeiten unterworfen werden. Ein Blick in die zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Gender lässt folgende Problematik erkennen: In vielen Texten unterschiedlichster disziplinärer Provenienz ist die Triade sex/gender/sexuality oder auf Deutsch körperliches Geschlecht/soziales Geschlecht/Sexualität anzutreffen, um die sexuelle und/oder geschlechtliche Konstitution eines Menschen zu beschreiben. Diese Dreiteilung ist irreführend und entspricht keiner wissenschaftlich begründeten und ethisch vertretbaren Terminologie. Die im Folgenden vorgestellte Begrifflichkeit soll diesen Ansprüchen genügen. In einem ersten Schritt ist der Begriff ›Sexualität‹ von dem der ›Geschlechtlichkeit‹ (soziale und körperliche) analytisch klar zu trennen. Es gilt, Vermischungen zu vermeiden, wie sie beispielsweise Hirschfeld (1914: 30) mit seinem Begriff der ›sexuellen Zwischenstufen‹ vorgenommen hat, unter die er zugleich Homosexuelle, Transvestiten und Hermaphroditen subsumierte, als verkörperten sie vergleichbare Phänomene mit gemeinsamer Ätiologie. Damit stellt sich die Frage nach dem Oberbegriff für die beiden Termini ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹. Da in Disziplinen, die sich mit Sexualität befassen, wie in der Medizin oder der Sexualforschung, auch Fragen des Geschlechts, wie der Inter- oder Transgeschlechtlichkeit, unter dem Titel Sexualität mit verhandelt werden, scheint ein weit gefasster Begriff von Sexualität angemessen, um Fragen des Geschlechts einzuschließen. Andererseits wird auch in den Gender Studies nicht nur Geschlecht, sondern Sexualität im engeren Sinne mit analysiert, so dass in diesem Diskurs ›Geschlecht‹ als Oberbegriff angesetzt werden kann.4

3 | Die Analyse wurde, allerdings ohne die Verteidigung des Identitätsaspektes des psychischen Geschlechts, bereits in Groneberg 2003, 2008, 2012a, 2012b und 2013 ausgeführt. 4 |Siehe Beitrag von Christel Baltes-Löhr in dieser Publikation: Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

Der Oberbegriff erweist sich damit als disziplin- und diskursabhängig, enthält aber jeweils den Bezug auf Geschlecht oder Sexualität. Dies führt zu folgendem Begriffsverhältnis:

Abb. 1: Differenzierung von Geschlecht und Sexualität.

Es kommt in der folgenden Analyse jedoch nicht auf den Oberbegriff an, sondern auf die Separation von Fragen des Geschlechts und solchen der Sexualität, und zwar im engeren Sinne. Im Folgenden werden Sexualität und Geschlechtlichkeit immer im engeren Sinne verstanden, soweit nicht anders spezifiziert. Da es in diesem Beitrag um die Diskussion der Begrifflichkeit des Geschlechts geht, sei das Thema Sexualität nur kurz angesprochen, um den Gegenstandsbereich abzugrenzen. In ihrem Bereich kann die Rede sein von sexuellen Orientierungen, sexuellen Identitäten, sexuellen Präferenzen sowie der sozialen Organisation, der kulturellen Normierung und der historischen Entwicklung dessen, was wir heute als Geschlechtsverkehr oder Sex bezeichnen und im Mittelalter unter dem Titel Fleischeslust verstanden wurde sowie in der griechischen Antike unter Angelegenheiten der Aphrodite bzw. der Venus.5 Im zweiten Schritt ist die Begrifflichkeit des Geschlechts, in der weitgehend die Unterscheidung von körperlichem und sozialem Geschlecht (eng. sex und gender) anerkannt ist, um das dritte Element des Psychischen zu ergänzen.6

5 | Vgl. Foucault 1984. 6 | Dies ist auf einem disziplinären Hintergrund formuliert, der die Unterscheidung von körperlichem und sozialem Geschlecht als allgemein anerkannt voraussetzt, was zumindest in den Sozialwissenschaften und den Gender Studies der Fall ist, denen jedoch Vorbehalte gegenüber der Anerkennung der psychischen Dimension bestehen. In der Perspektive von Disziplinen wie der Psychologie und Medizin, aber auch des Rechts, in denen die psychische Geschlechtsidentität eine selbstverständliche Größe ist, muss nur die Distinktion von sozialem und körperlichem Geschlecht sowie die deskriptive Unabhängigkeit des psychischen von den physischen und sozialen Geschlechtsaspekten anerkannt werden, um ebenfalls zu der vorgeschlagenen Triangulation zu gelangen.

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Die Geschlechtlichkeit ist damit wie folgt differenziert:

Abb. 2: Dimensionen von Geschlecht: Physisch: körperliches Geschlecht/sex. Psychisch: Geschlechtsidentität. Sozial: soziales Geschlecht/gender.

Jeder Mensch belegt in jeder der drei Dimensionen einen bestimmten Ort, wobei die Dimensionen verschieden strukturiert sind. In der physischen (Synonym: körperlichen, somatischen) Dimension sind eine Reihe geschlechtlich konnotierter körperlicher Merkmale vereint: Gonaden, Chromosomen, innere und äußere Geschlechtsorgane sowie Körperbau. Das auch biologisch genannte körperliche Geschlecht ist in sich multidimensional. Die soziale Dimension ist dagegen eindimensional und von der Dichotomie männlich/weiblich geprägt, die Entweder-Oder Struktur besitzt und kein Dazwischen zulässt. Dritte Geschlechter sind allerdings von etlichen Kulturen bekannt (Herdt 1996). Aktuelle Gesetzesnovellen, die einen dritten Geschlechtseintrag vorsehen, entfernen sich ebenfalls von der ausschließenden Dichotomie.7 In der psychischen Dimension, die das Selbsterleben des Individuums erfasst, wird einerseits die soziale Dichotomie mit ihrem traditionellen Anspruch reflektiert, entweder männlich oder weiblich zu sein, und anderseits die Entwicklung der körperlichen Geschlechtsmerkmale. Insbesondere das Selbsterleben von intergeschlechtlichen Menschen, die mit körperlichen Entwicklungen konfrontiert sind, die in der sozialen Dimension als widersprüchlich gelten, werfen die Frage auf, welche Selbstverortungen in der psychischen Dimension möglich sind. Studien zeigen, dass die soziale Dichotomie in der psychischen Dimension nicht immer eins zu eins abgebildet wird, sondern in ein bipolares Kontinuum aufgebrochen

7 | Vgl. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats 2012.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

werden kann.8 Einen Schritt weiter gehend stellt sich die Frage, ob der physischen Multidimensionalität entsprechend nicht ebenfalls in der psychischen Dimension eine mehrdimensionale Verortung möglich ist, wobei Männlichkeit und Weiblichkeit verschiedene unabhängige Koordinatenachsen darstellen würden. Die Unabhängigkeit erfordert jedoch, Männlichkeit und Weiblichkeit nicht mehr als konträre Enden eines Spektrums aufzufassen. In dieser Hinsicht ist von der künftigen empirischen Forschung zu Inter- und Transgeschlechtlichkeit Aufschluss zu erwarten.

Die Unterscheidung von Geschlecht und Sexualität Das Verständnis der Situation von inter- oder transgeschlechtlichen Menschen ist unabhängig von der Bezugnahme auf Fragen ihrer Sexualität. Ihre Konstitution ist nicht als sexuelle definiert, sondern als geschlechtliche. Die begriffliche Trennung von Geschlecht und Sexualität hat hier Konsequenzen für die Wortwahl: Anstatt von Intersexualität ist vermehrt von Inter- oder Zwischengeschlechtlichkeit die Rede 9 und anstatt von Transsexualität von Transgeschlechtlichkeit oder Transgender. Die Doppeldeutigkeit der englischen und französischen Begriffe ›sex‹ und ›le sexe‹ für den körperlichen Geschlechtsapparat als Teil des physischen Geschlechts und für Geschlechtsverkehr (dt. Geschlecht und Geschlechtsverkehr) hat zur Reduktion des einen Bereichs auf den anderen beigetragen: der physische Geschlechtsunterschied wurde auf Sex im Sinne von sexuellen Praktiken reduziert, die Frau wurde aus einer männlich-heterosexuellen Perspektive auf Geschlechtsverkehr reduziert und Sexualität wurde phallozentrisch enggeführt. Die bislang gängigen Verwechslungen von sogenannten Transsexuellen bzw. transgeschlechtlichen Menschen mit Homosexuellen, und von sogenannten Intersexuellen bzw. zwischengeschlechtlichen Menschen mit Bisexuellen werden durch derlei Doppeldeutigkeiten und Reduktionen unterstützt. Die Unterscheidung von Geschlecht und Sexualität erlaubt, Relationen zwischen den beiden Bereichen zu formulieren, die seit dem letzten Jahrhundert in Wissenschaft und Philosophie etabliert wurden: Fragen der geschlechtlichen Differenz zwischen Mann und Frau sind nicht nur solche der Sexualität.10 Das Geschlecht eines Individuums determiniert nicht seine sexuelle 8 | Vgl. Quindeau 2012; Giordano 2008. 9 | Die Rede von Intergeschlechtlichkeit hat den Vorzug, mit den englischen und französischen Ausdrücken intergender und intergenre übereinzustimmen. Der Ausdruck Zwischengeschlecht ist u.a. bei Selbsthilfegruppen in Gebrauch (siehe www.zwischengeschlecht.org). Die beiden Ausdrücke werden gegenwärtig synonym verwendet. 10 | Siehe v.a. de Beauvoir, die diesen Aspekt in »Le deuxième sexe« (1949) erstmals in der Phänomenologie entwickelt.

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Orientierung, Identität oder Präferenz.11 Geschlechtszuweisende Operationen bei zwischengeschlechtlichen Kindern können verheerende Folgen für ihre spätere sexuelle Sensibilität haben.12 Der Wunsch von transgeschlechtlichen Personen nach Anpassung ihres somatosozialen Geschlechts ist nicht von ihrer Sexualität motiviert, sondern vom leidvollen Bedürfnis nach Übereinstimmung ihres Selbsterlebens und ihrer somatosozialen Existenz im geschlechtlichen Bereich.13 Die begriffliche Unterscheidung von Geschlecht und Sexualität ist auch deshalb wichtig, weil die begriffliche und imaginäre Verbindung von Trans- und Intergeschlechtlichkeit mit kollektiven erotischen Phantasmen tief in tradierten Diskursen und Praktiken unserer Kultur verankert ist und das Verständnis der realen Situation getrübt hat. Die Ausdrücke ›androgyn‹ und ›Hermaphrodit‹, die seit der klassischen griechischen Antike reale und fiktive zweigeschlechtliche Wesen bezeichnen, haben vorrangig die sexuelle und eheliche Vereinigung von Mann und Frau symbolisiert. Die Reste dieser Konnotation des Hermaphroditen mit sexuellen Fragen haben bis ins 20. Jahrhundert das wissenschaftliche Verständnis der Lebensrealitäten von trans- und intergeschlechtlichen Menschen behindert.14

Die drei Komponenten des Geschlechts Wenn wir aus der Begriffstriade ›physisches Geschlecht/soziales Geschlecht/ Sexualität‹ die Sexualität als eigenen Bereich absondern, bleiben zunächst das physische und das soziale Geschlecht zur Beschreibung der Geschlechtlichkeit eines Menschen übrig. Wie gerade trans- und intergeschlechtliche Menschen zeigen, ist das Geschlecht eines Menschen jedoch nicht vollständig erfasst, indem man nur auf Körperliches und Soziales Bezug nimmt.15 Es bleibt ausgeblendet, in welchem Geschlecht sich eine Person einrichtet, d.h. wie sie sich selbst erlebt und definiert: als Mädchen oder als Junge oder als etwas anderes. Das nach der Geburt zugewiesene, anerzogene und gelebte Geschlecht kann, unabhängig davon, ob es mit dem physischen Geschlecht übereinstimmt oder nicht, von dem abweichen, wie das Kind sich selbst erlebt.

Das psychische Geschlecht Das erlebte subjektive Geschlecht muss als das entscheidende Kriterium für das Geschlecht der Person gelten. Denn die scheiternden alternativen 11 | Wie von Ulrichs (1864) angenommen (siehe dazu Groneberg 2008); Butler 1995, S. 326. 12 | Siehe Deutscher Ethikrat, NEK Stellungnahme, Richter-Appelt 2008, Schweizer/Richter-Appelt 2012. 13 | Siehe die Beiträge in diesem Band mit Verweisen auf neuere Literatur; Groneberg 2003, 2008. 14 | Siehe dazu Groneberg 2008a, 2009, 2013. 15 | Details und Literatur hierzu in Groneberg 2003 und 2008.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

Definitionsversuche des letzten Jahrhunderts haben gezeigt, dass das Geschlecht eines Menschen weder durch die soziale Geschlechtsidentität definiert ist, noch durch körperliche Merkmale wie Chromosomen, Gonaden oder den Körperbau, noch durch deren Kombination.16 Dass das Geschlecht eines Individuums nicht somatosozial (durch seine körperlichen Geschlechtsmerkmale und sein soziales Geschlecht) definierbar ist, schließt nicht aus, dass das psychische Geschlecht mit somatosozialen Komponenten in Wechselwirkungen steht oder gar durch sie verursacht oder determiniert ist. Doch als das Geschlecht eines Menschen ist letztlich anzuerkennen, als was er sich selbst erlebt – und dies ist eine psychische Entität, die sich auf der Basis der individuellen Körperlichkeit und der Interaktionen in den ersten Lebensjahren formiert.17 Daraus folgt auch, dass der Mensch, wenn er zur Welt kommt, sein Geschlecht noch nicht hat.18 Die Anerkennung dieses dritten Bestandteils, des psychischen Geschlechts, ist epistemologisch notwendig, um die gelebten Geschlechterrealitäten von trans- und intergeschlechtlichen Menschen in ihrer Komplexität adäquat zu beschreiben. Sie begründet zugleich eine angemessene ethische Haltung, die dazu führt, die Person in ihrer Geschlechtlichkeit zu respektieren, anstatt ihr Gewalt anzutun oder Hilfe zu versagen. Die Anerkennung des psychischen Geschlechts als das Geschlecht eines Menschen definierend impliziert eine Revision unseres Verständnisses der Geschlechtlichkeit eines jeden Menschen: Frau oder Mann oder etwas anderes zu sein ist weder als eine physiologische Gegebenheit zu verstehen, noch als ein soziales Faktum, noch als eine Kombination beider, sondern letztlich als eine Frage subjektiven Erlebens, in das Körperlichkeit und Sozialität eingehen. Die analytisch so einfach scheinende Anerkennung der Unverzichtbarkeit der psychischen Dimension ist immer noch Gegenstand eines Kampfes um Definitionsmacht, also darum, wer die Macht hat, zu definieren, wann jemand als weiblich oder männlich oder als etwas anderes gilt. Diese Macht, die in der Neuzeit an die Medizin delegiert wurde (Foucault 1978), wurde über das 20. Jahrhundert hinweg von Sozialwissenschaften und Feminismus in Frage gestellt, indem dem biologischen gegenüber das soziale Geschlecht ins Feld geführt wurde. Alle Positionen tun sich jedoch schwer damit, die Definitionsmacht an das Individuum selbst abzugeben. Die psychische Dimension von Geschlecht kann als der Ort betrachtet werden, an dem der Schutz des Individuums vor somatosozialen Ordnungsbestrebungen verankert ist, wie gegenwärtige Rechtsdiskurse veranschaulichen.19 16 | Details dazu in Klöppel 2002; Groneberg 2008. 17 | Erstmals so formuliert in Groneberg 2003. 18 | Inwieweit die künftige Geschlechtsidentität bei der Geburt oder pränatal bereits angelegt oder prädeterminiert ist, ist eine andere Frage, die die empirische Wissenschaft zu beantworten hat. 19 | Details hierzu am Ende des Beitrags unter Abschnitt: Juristischer und Ethischer Ankerpunkt.

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Nur wenn Sexualität und Geschlecht begrifflich entkoppelt sind und das Selbsterleben des Individuums als unverzichtbare deskriptive und damit definitorische Größe anerkannt ist, können Inter- und Transgeschlechtlichkeit angemessen beschrieben und verstanden werden. Dies ist Voraussetzung dafür, die Probleme zu beheben, die mit der bislang geltenden Begrifflichkeit einhergehen.

Intergeschlechtlichkeit Eine Vielzahl körperlicher Merkmale ist geschlechtlich, d.h. als männlich oder weiblich codiert, vor allem Chromosomen, Gonaden, innere und äußere Genitalien und der Körperbau, aber auch die Stimme und Bewegungen. Intergeschlechtlichkeit ist rein unter Bezug auf diese körperliche Ebene definiert als Nichtübereinstimmung, Diskordanz oder Inkongruenz der primären Geschlechtsmerkmale. Dies heißt, dass eine zwischengeschlechtliche Person mit physischen Geschlechtsmerkmalen verschiedener geschlechtlicher Kodierung lebt, also beispielsweise weiblichen Brüsten und intern angelegten Hoden. Die Diskordanz muss nicht für das Individuum oder seine Umgebung manifest sein. Wenn sie es ist oder wird, kann sie auch auf psychischer bzw. sozialer Ebene Probleme für die geschlechtliche Identität zur Folge haben – doch die Folgen definieren nicht die Konstitution (Groneberg 2008; 2009; 2012a; 2012b).

Transgeschlechtlichkeit Transgeschlechtlichkeit kann ebenfalls als Nichtübereinstimmung definiert werden. Oft wird sie als solche zwischen dem subjektiv erlebten Geschlecht und dem körperlichen Geschlecht verstanden, also als Konflikt zwischen der psychischen und der physischen Dimension. Transgeschlechtliche Menschen können hieran leiden, aber der Grund des Leidens kann ebenso in der Diskordanz zwischen ihrer psychischen und der zugewiesenen sozialen Geschlechtsidentität liegen.20 Es kann daher auch von einem Konflikt dieser beiden Identitäten die Rede sein, was in der alternativen Bezeichnung ›Transidentität‹ zum Ausdruck kommt. Die Konstitution von Transgendern oder transidenten Menschen ist nicht innerhalb einer Dimension definiert wie die intergeschlechtlicher Personen, sondern als Nichtübereinstimmung zwischen Psyche einerseits und Leib21 und/ oder Sozialität anderseits.22 Als Gegenpol zur Transidentität benennt der Term 20 | Auch medizinisch bzw. erzieherisch einem Geschlecht zugewiesene (also mit männlicher oder weiblicher sozialer Identität versehene) zwischengeschlechtliche Kinder und Personen, die sich nicht mit ihrem Zuweisungsgeschlecht identifizieren können, fallen nach dieser Definition unter Transgeschlechtlichkeit (sog. Zwangstranssexuelle). 21 | Die Ausdrücke ›Körper‹ und ›Leib‹ werden hier synonym gebraucht, ebenso die von ›Psyche‹ und ›Seele‹, ›psychisch‹ und ›seelisch‹. 22 | Giordano (2008: 269) geht davon aus, dass das Leiden bereits im Alter von vier oder fünf Jahren beginnen kann.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

›Cis-Identität‹ (Sigusch 1991) Menschen, deren psychisches Geschlecht mit ihrem somatosozialen übereinstimmt, ohne dass sie dieses anpassen müssen. Eine weitere Bezeichnung ist ›Mensch mit AGIO‹ – das Akronym steht für ›Atypische Geschlechts-Identitäts-Organisation‹ (Giordano 2008). Das Begriffspaar diskordant-konkordant hat gegenüber atypisch-typisch den Vorteil, nicht nur auf Normalität Bezug zu nehmen, sondern den spezifischen Grund des Leidens bzw. Handlungsdrucks zu benennen, ohne deshalb zu pathologisieren. Die Begriffe ›Transmann‹ und ›Transfrau‹ beschreiben die zwei häufigsten Formen gelebter Transgeschlechtlichkeit. Sie sind zu verstehen als Abkürzungen für Mann bzw. Frau mit einer transgeschlechtlichen Konstitution. Eine Transfrau hat eine weibliche psychische Geschlechtsidentität, die zunächst nicht mit ihrem somatosozialen Geschlecht übereinstimmt, was nach einer gewünschten Transition häufig der Fall ist. Im Gegensatz dazu beziehen sich die Abkürzungen M-zu-F (Mann zu Frau) und F-zu-M (Frau-zu-Mann) nicht auf das psychische, sondern auf das somatosoziale Geschlecht. Diese Ausdrücke sind angemessen, um die rein äußerliche Geschlechtstransition zu beschreiben, wenn diese etwa zwangsweise erfolgt, ohne dass eine erlebte Diskordanz als Motiv zugrunde liegt. Auch die Rede von einer sozialen Geschlechtsidentität ist möglich, wobei bewusst bleiben muss, dass der Begriff ›soziale Identität‹ von dem der ›psychischen Identität‹ verschieden ist. Ihnen gemeinsam ist die unterstellte Stabilität: Die meisten Menschen sind ab einem gewissen Alter ihr Leben lang durchgängig als männlich oder weiblich identifizierbar, haben also insofern eine stabile soziale Geschlechtsidentität, wobei in der Regel (zunächst) das von außen zugewiesene Geschlecht sozial ausagiert wird, auch wenn dies nicht dem psychischen Geschlecht des Individuums entspricht. Im physischen Bereich kann als einzigem der drei nicht von Identität die Rede sein, sondern nur von einer Reihe von Geschlechtsmerkmalen, die untereinander und mit sozialer wie psychischer Geschlechtsidentität mehr oder weniger übereinstimmen. Transgeschlechtlichkeit wird häufig missverstanden: Transgeschlechtliche Personen haben nicht notwendigerweise ihr körperliches Geschlecht gewechselt, d.h. sich chirurgisch-hormonell die körperlichen Merkmale des konträren Geschlechts verschafft. Transgeschlechtlichkeit sollte nicht auf eine vollzogene körperliche Geschlechtsumwandlung reduziert werden, denn nur eine Person, die vorher schon trans‘ ist, wird sich freiwillig dem schwerwiegenden Eingriff unterziehen. Der Begriff ›trans‘‹, bezogen auf eine Person, besagt vielmehr, dass ihr psychisches Geschlecht und ihr somatosoziales Geschlecht erst nach einer

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Transition des Letzteren übereinstimmen. Bevor dieser Übergang vollzogen ist, lebt die transgeschlechtliche Person möglicherweise in leidvollen Konflikten bis hin zur Suizidalität. Vielfach wird auch von Geschlechtswechsel gesprochen. Dieser Begriff ist fragwürdig, da er voraussetzt, dass es zwei Geschlechter gibt und von einem in das jeweils andere gewechselt wird oder werden soll, wobei unterstellt wird, dass das Zielgeschlecht einen Anziehungspunkt darstellt. Andere Identitäten (z.B. androgyne Kombinationen von männlich und weiblich) sind jedoch nicht nur theoretische Möglichkeiten, sondern beobachtbar, und dies nicht nur in Fällen körperlicher Intergeschlechtlichkeit.23 Es ist daher bei jeder Trans‘-Person die Frage zu stellen, ob nicht vielmehr aktuelle physische Geschlechtsmerkmale einen Abstoßungspunkt darstellen, weil sie der erlebten Geschlechtsidentität nicht entsprechen. Anders gesagt muss differenziert werden, ob es der Person darum geht, ins andere Geschlecht zu wechseln oder darum, vom eigenen körperlichen Geschlecht Abstand zu nehmen bzw. in der Pubertät eine weitere Verstärkung der als fremd und abstoßend erlebten körperlichen Geschlechtlichkeit zu verhindern. Wichtig ist schließlich zu prüfen, ob die Trans‘-Person eine Anpassung des physischen Geschlechts benötigt. Dies mag zumeist der Fall sein, aber es kann auch in erster Linie eine Anpassung der sozialen Geschlechtsidentität angestrebt werden.

Gründe für die Deutung des Psychischen Geschlechts als Identität Um das selbsterlebte psychische Geschlecht zu bezeichnen, wird meist der Ausdruck ›Geschlechtsidentität‹ gebraucht, der jedoch auch, v.a. seitens der Sozialwissenschaft, heftiger Kritik ausgesetzt ist.24 Wir sind hier mit einem Problem interdisziplinärer Kommunikation konfrontiert, da Sozialwissenschaften und Psychologie verschiedene Identitätsbegriffe verwenden. Im Sinne der Anregung einer konstruktiven interdisziplinären Diskussion und gegenseitigen Verständnisses werden im Folgenden die wichtigsten Gründe dafür aufgeführt, das psychische Geschlecht als eine Identität aufzufassen.

23 | Siehe Quindeau 2012; Giordano 2008. 24 | Siehe z.B. Klöppel 2002.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

Dauerhaftigkeit Psychologische und philosophische Begriffe der Identität implizieren die Konstanz und Stabilität einer Eigenschaft25, und zwar über verschiedene Momente und Kontexte hinweg. Das Selbsterleben als einem Geschlecht zugehörig ändert sich in der Regel nicht täglich wie die Tagesstimmung und kann insofern als Identität aufgefasst werden. Fröhlich oder traurig zu sein, oder ständig Stimmungsschwankungen zu haben, sind akzidentelle Eigenschaften, d.h. sie kommen und gehen. Sollten sie einem Menschen auch zum Merkmal seiner persönlichen Identität werden, dann nur, wenn die Stimmung bzw. der Wechsel dauerhaft vorhanden ist. Das Selbsterleben als männlich oder weiblich geht mit einem endlosen Komplex von Selbstverortungen, Kleiderwahl, körperlichem Habitus, Verhaltens- und Sprechweisen etc. einher. Diesbezüglich nimmt man in der Regel eine langfristig stabile Position ein.26 Das Geschlecht eines Menschen ist nicht schlicht eine Eigenschaft wie andere, sondern eine dauerhafte und ziemlich stabile Eigenschaft, was die Rede von Identität rechtfertigt. Dieser Terminologie zufolge lässt sich sagen, dass bei Trans‘-Personen, denen es gelingt, ihre soziale Geschlechtsidentität ihrem selbsterlebten, psychischen Geschlecht anzupassen, die psychische Geschlechtsidentität höhere Stabilität besitzt als die soziale. In solchen Fällen kann statt von einem Geachlechtswechsel von einem Identitätswechsel die Rede sein. Transgeschlechtlichkeit und Transidentität können daher als synonyme Ausdrücke gelten, wobei klar sein muss, dass es die soziale Geschlechtsidentität ist, die geändert wird oder eine Transition durchläuft27, wobei die psychische konstant bleibt. In Bezug auf die soziale Dimension werden einerseits Rollenzuschreibungen kritisch thematisiert, aber auch die zum Teil gewaltsame Herstellung sozialer Identität, wie die therapeutischen Richtlinien zur Behandlung zwischengeschlechtlicher Kinder im letzten Jahrhundert veranschaulichen. In Hinblick auf das Geschlecht betrifft dies einerseits die historisch und kulturell variablen Geschlechterrollen, aber auch die soziale Geschlechtsidentität, da Zuweisungen oder Erwartungen bestimmter Rollen an die Adresse einer Person bereits deren Identifikation als männlich oder weiblich voraussetzt. Diese Kritik an Identifikationszwängen betrifft allerdings nur die soziale und nicht die psychische Dimension. Es sollte zudem in Rechnung gestellt werden, dass sich psychologische Identitätsbegriffe generell von sozialwissenschaftlichen unterscheiden. 25 | ›Eigenschaft‹ ist hier im philosophischen (genauer ontologischen) Sinne zu verstehen, also im Unterschied zu Objekten, Ereignissen, Zeitpunkten oder anderen Typen von Entitäten. 26 | Sollte ein Mensch sein (soziales bzw. psychisches) Geschlecht ständig ändern wie manche ihre Stimmung, würde eben diese übergreifende Eigenschaft seine geschlechtliche Identität ausmachen. 27 | Im Rollenjargon ausgedrückt schlüpft die Person aus der männlichen in die weibliche Geschlechtsrolle oder umgekehrt. Die Rollenterminologie wird hier nicht verwendet, da es eine Vielzahl männlicher bzw. weiblicher Rollenerwartungen und zu spielende Rollen gibt (Mutter, Geliebte, Schwester, ...), die jeweils an Personen gerichtet werden, die bereits vorgängig als männlich bzw. weiblich identifiziert sind. Zur Debatte steht diese vorgängige im sozialen Raum vorhandene Geschlechtsidentität, die von der psychischen abweichen kann.

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Das Bestreben, die Wichtigkeit sozialer Geschlechtsidentität zu reduzieren, etwa durch Streichen des Geschlechtseintrags in persönlichen Akten, Versicherungsoder Bewerbungsunterlagen, ist durchaus vereinbar mit der Anerkennung, dass Personen in einem gegebenen Geschlechtersystem ein Problem damit haben können, einen ihrer psychischen Geschlechtsidentität entsprechenden Platz zu finden. Der Ausdruck ›psychosoziale Geschlechtsidentität‹ stellt keinen Kompromiss dar, sondern vermischt analytisch gerade das zu Unterscheidende. Er ist allenfalls dort brauchbar, wo psychische und soziale Identität konkordieren, er ist also gerade nicht geeignet, die Realitäten trans- und intergeschlechtlicher Personen begrifflich adäquat zu fassen. Der Begriff ›sexuelle Identität‹ wird manchmal zur Bezeichnung von Geschlechtsidentität benutzt, aber meist zur Bezeichnung der Identifikation einer Person als homo- oder heterosexuell, der gegenwärtig noch immer dominanten Unterscheidung im Bereich der Sexualität. Der Begriff sollte aus Gründen der Eindeutigkeit für die Diskussion von Sexualität reserviert bleiben. Dies würde zur Beendigung der bereits genannten Konfusionen von Transgeschlechtlichkeit mit Homosexualität und von Intergeschlechtlichkeit mit Bisexualität beitragen. Trans- und intergeschlechtliche Personen haben spezifische Probleme mit den sexuellen Kategorisierungen, ihre Situation ist aber nicht über diese definiert.

Eigenleistung des Subjekts Mehr als die soziale Geschlechtsidentität ist die psychische als Resultat eines Konstruktionsprozesses zu verstehen, an dem das Individuum beteiligt ist. Dies impliziert eine Abkehr von denjenigen Rollentheorien, nach denen soziale Rollenerwartungen schlicht vom Subjekt übernommen werden. Die psychische Geschlechtsidentität ist temporäres Ergebnis eines Prozesses und wird vom Individuum in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt hergestellt.28 Sie ist eine individuelle Leistung29, was keineswegs heißt, dass sie Gegenstand beliebiger Wahl wäre.30

28 | Nach Money/Hampson/Hampson (1957) im Alter von 18 Monaten bis zu 3 Jahren; Kreisler (1973, S. 186) nennt zweieinhalb Jahre; nach Beier/Bosinski/Loewit (2005, S. 99) wissen Kinder mit 18 Monaten zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden und mit dreieinhalb Jahren, dass sie selbst einmal Frau oder Mann sein werden. Money und Ehrhardt (1973) setzten voraus, dass das »Tor zur Geschlechtsidentität« über ein Jahr nach der Geburt offen bleibt, sich aber für immer schließe. Fälle von sich ändernder psychischer Geschlechtsidentität zwischengeschlechtlicher Personen widersprechen dieser Annahme, ebenso wie die Identitätstheorien von Erikson, Habermas oder Kohnstamm (vgl. Rieben 2008, S. 172) oder die Theorie von Stoller (1968). 29 | So Rieben (2008, S. 173). Das Ergebnis beruht auf einer breit angelegten Analyse der verschiedenen psychologischen Identitätskonzepte, ausgehend von Piaget, Kohlberg, Erikson, Habermas bis hin zu Oerter, der Konzepte von Geschlechtsidentität und des Zusammenspiels von sozialer, persönlicher und Ich-Identität. Zur psychoanalytischen Theoriebildung siehe Eckert (2010) oder Quindeau (2012). 30 | Butler 1995, S. 138.

Der Begriff menschlicher Geschlechtlichkeit

Psychische Geschlechtsidentität ist so wenig wie Nationalität etwas Essentielles oder naturgegeben. Wer darauf besteht, Identität essentialistisch verstehen, also als dem Subjekt vorgegeben und unveränderlich, kann den gelebten geschlechtlichen Realitäten nicht gerecht werden. Wir wissen, dass bei intergeschlechtlichen Menschen die Selbstverortung im Geschlechtersystem, d.h. das Ausbilden einer Geschlechtsidentität länger als üblich dauern, sich (vor allem in der Pubertät) ändern sowie von männlich und weiblich abweichen kann.31 Wir wissen außerdem, dass bei transgeschlechtlichen Menschen die Angleichung des somatosozialen Geschlechts an die psychische Geschlechtsidentität sich nicht notwendigerweise in der Geschlechterdichotomie bewegen muss, sondern die Selbstverortung auch bei völliger Konkordanz in der physischen Dimension durchaus Werte auf einem angenommenen Kontinuum zwischen männlich und weiblich annehmen oder auch jenseits dieses Spektrums stattfinden kann (siehe oben).32

Eigenständigkeit gegenüber dem somatosozialen Geschlecht Die Akzeptanz der psychischen Dimension von Geschlecht bringt Respekt vor etwas zum Ausdruck, das Bestandteil des So-Seins unseres konkreten Gegenübers ist, und das sich weder auf seine körperlichen Merkmale noch seine soziale Position, letztlich weder auf Kategorien der Natur- noch der Sozialwissenschaften reduzieren lässt. Diese Akzeptanz ist noch nicht erreicht, wenn man das psychische Geschlecht des Anderen nur als ein Gefühl respektiert. Eine Identität ist mehr als nur ein Gefühl oder ein Eindruck von etwas somatosozial Vorgegebenem. Beschreibt man die Situation eines Trans‘-Jungen als das Gefühl eines somatosozial eindeutig weiblichen Jugendlichen, ein Junge zu sein, kann dies, wie lange Zeit geschehen, als Wahn interpretiert werden.33 Erleben, Eindrücke, Gefühle ändern sich, sie können täuschen und in die Irre führen. Der psychologische Begriff der Identität hingegen benennt eine psychische Realität von hochgradig positiver Bedeutung für das Individuum. Ein solcher Begriff von Geschlechtsidentität bewahrt vor dem Irrtum, Geschlecht als etwas natürlich Vorgegebenes zu verstehen, wovon das erlebte psychische Geschlecht eine rein mentale Repräsentation wäre. Das psychische Geschlecht rein als Propriozeption, d.h. als Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers zu verstehen, ist naheliegend, aber zu hinterfragen, da sie die Komplexität des Menschen ignoriert. Das bewusste Selbsterleben

31 | Siehe Beier/Bosinski/Loewit 2005, S. 62; Quindeau 2012, S. 126 u. 129; Richter-Appelt 2008, S. 59; Schweizer/Richter-Appelt 2012; Stoller 1968; Guhde (2002) beschreibt eine gelebte zwischengeschlechtliche Identität. 32 | Giordano 2008, S. 253. 33 | Jean-Marc Alby, ein mit Lacan arbeitender Psychiater, führte den Begriff der Transsexualität 1956 in die psychiatrische Nosographie ein und behandelte sie als Wahn (Fautrat 2001, S. 25).

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des eigenen Geschlechts wird jedem Kind von Beginn an mit soziokulturellen Deutungsmustern vermittelt, so dass es nie reine Propriozeption des Leibs sein kann. Es ist immer auch eine Situierung im umgebenden Geschlechtersystem mit allen Bedeutungen und Implikationen, die sich daran knüpfen, in eine Kategorie passen zu sollen: Mädchen, Tochter, Frau, potentielle Mutter, rosa Kleidchen tragend, mit Puppen spielen sollend etc., wenn man eine Scheide hat bzw. Junge, Sohn, Mann, Eroberer, potentieller Held, Raufbold sein sollend etc., wenn man ein Pimmelchen hat. Sobald die Propriozeption das eigene körperliche Geschlecht im Bewusstsein repräsentiert, kommen diese im umgebenden Geschlechtersystem vorgefundenen Merkmale und Erwartungen zur Anwendung auf sich selbst. Aber auch die derart immer schon interpretierte Propriozeption ist noch nicht alles, sondern sie wird begleitet von einer als selbstverständlich empfundenen Akzeptanz bis hin zur Liebe der eigenen körperlichen Merkmale oder aber, im Fall von Transgeschlechtlichkeit, von Ablehnung bis hin zum Ekel vor den Geschlechtsmerkmalen und/oder der damit verbundenen Position im gegebenen Geschlechtergefüge. Geschlechtsidentität enthält im Unterschied zur Propriozeption, die den Leib im Bewusstsein repräsentiert, die wertende und emotionale Aneignung bzw. Zurückweisung des eigenen körperlichen Geschlechts. Verändert sich der Körper hormonell, ändert sich auch die individuelle Propriozeption und damit das Wissen, was es heißt, einen weiblichen oder männlichen Körper zu haben, und dies ist möglich ohne Veränderung des Bewusstseins, ein Mädchen zu sein oder ein Junge zu sein.34 Nur aufgrund der Differenzierung des Selbsterlebensaspektes in geschlechtliche Propriozeption und Geschlechtsidentität sind wir in der Lage, die Situation transgeschlechtlicher Menschen adäquat zu verstehen und zu beschreiben, ohne sie als wahnhaft oder anderweitig krankhaft aufzufassen. Bei zwischengeschlechtlichen Jugendlichen ist vor allem in der Pubertät gerade dann, wenn die Propriozeption völlig realistisch ist, aufgrund der widersprüchlichen Signale eine Infragestellung ihrer erlebten Geschlechtsidentität zu erwarten. Intergeschlechtliche Menschen müssen sich dann, wie bereits in früher Kindheit, ihren Ort im vorhandenen Geschlechtersystem erneut erarbeiten.

Juristischer und ethischer Ankerpunkt An die psychische Geschlechtsidentität mit ihrer relativen Stabilität, Individualität und Eigenständigkeit gegenüber den sozialen und physischen Dimensionen knüpft das Menschenrecht an, dem eigenen Geschlecht entsprechend leben zu 34 | Vgl. die Erlebnisbeschreibungen von Transmännern bei Hormongaben zur physischen Geschlechtstransition.

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dürfen. Die Geschlechtsidentität ist dabei definiert als »die tief erlebte intime und persönliche Erfahrung seines Geschlechts, die jedes Individuum hat, ob sie mit dem nach der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt oder nicht [...]«.35 Diese Identität ist, sobald sie sich geformt hat, als das Geschlecht des Individuums zu respektieren und es ist ihm das Recht zuzugestehen, entsprechend seiner Geschlechtsidentität zu leben. Sie muss sich jedoch zunächst entwickeln können, ohne von Eltern oder der Medizin vorweggenommen, aufgezwungen oder behindert zu werden.36 Auch Ethikkommissionen verwenden mittlerweile den Begriff der psychischen Geschlechtsidentität, die rechtlichem Schutz zu unterstellen sei37 und berufen sich dabei auf psychologische Forschungsergebnisse.38

Ausblick Es war im vorgegebenen Umfang leider nicht möglich, die Argumente gegen eine Deutung des psychischen Geschlechts als Identität anzuführen. Die vorgelegte Analyse der Gründe, die dafür sprechen, will daher nur den Anspruch haben, die weitere Auseinandersetzung über diese Frage zu befördern, die mit den Kritiker _innen der Identitätsauffassung stattfinden muss. Die gegenwärtigen Diskussionen in Politik und Gesetzgebung lassen absehen, dass der in juristischen, ethischen und medizinischen Diskursen bereits präsente Begriff der ›psychischen Geschlechtsidentität‹ im Rahmen der Diskussionen des Kindeswohls eine zunehmende Rolle spielen wird, da an ihr der Schutz des Kindeswohls gegenüber gesellschaftlichen, familiären oder sonstigen Interessen angeknüpft und präzisiert werden kann. Mit steigender Anerkennung, dass auf die psychische Geschlechtsdimension weder in den Wissenschaften noch in Ethik und Recht zu verzichten ist, wird auch die Deutung des psychischen Geschlechts in den Vordergrund rücken. Diese Frage ist jedoch eher eine der interdisziplinären Kommunikation und von untergeordneter 35 | Die Prinzipien von Yogyakarta vom März 2007 führen die Menschenrechte in Fragen der Sexualität und der Geschlechtsidentität aus. Nach Prinzip 18F »müssen die Staaten garantieren, dass keine medizinische oder psychologische Behandlung oder Beratung implizit oder explizit [...] die Geschlechtsidentität als Krankheit versteht, die zu behandeln, zu versorgen oder zu unterdrücken ist«. Das dieses Prinzip umsetzende argentinische Geschlechtsidentitätsgesetz von Mai 2012 (am 9. Mai sancionada und am 23. Mai promulgada. URL: http://www.infoleg.gov.ar/infolegInternet/anexos/195000-199999/197860/norma.htm [06.12.2013].) verwendet dieselbe Definition von (psychischer) Geschlechtsidentität. Auch in Deutschland werden die Probleme zwischengeschlechtlicher Menschen als solche des »Rechts auf individuelle Entwicklung einer eigenen Geschlechtsidentität« formuliert (Plett 2012, S. 137). Ein Bundesverfassungsgerichtsentscheid zum Transsexuellengesetz stellt »auch das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität« unter den Schutz des deutschen Grundgesetzes (BVerfG 2011, Rn 51; zitiert in Plett 2012, S. 137). 36 | Siehe Werlen 2008; UN-Zivilpakt, Art. 7, 2. Satz. 37 | Siehe Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats 2012, S. 135ff. oder der Schweizerischen NEK 2012, S. 5. 8, 12 u. 15. 38 | Siehe Richter-Appelt, H. (z.B. 2008) und Schweizer, K. (z.B. 2012, 24 f.).

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Bedeutung für die akuten Probleme trans- und intergeschlechtlicher Menschen. Zur Verbesserung von deren gesetzlicher Lage und gelebter Realität dürfte bereits die zunehmende Anerkennung der psychischen Dimension förderlich sein.

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Die Kunst, nicht so sehr kategorisiert zu werden Eine Kritik des Wissens und der Macht des Geschlechts Éric Fassin

Zusammenfassung In Frankreich hat die Bewegung gegen die Ehe für alle die Gender-Theorien als unwissenschaftliche Ideologie verurteilt. Im vorliegenden Text werden drei Grundannahmen dieser Debatte aufgegriffen: 1. Die Gegenüberstellung von Wissenschaft und Politik als eine Fehlinterpretation Webers: Anstatt die Sozialwissenschaften zu neutralisieren, sollten sie vielmehr als situiertes Wissen verstanden werden (Haraway, Harding). 2. Die epistemologische Frage (von Durkheim bis Bourdieu): Die Kategorien, die Wissen organisieren, basieren auf einem sozialen Prozess der Kategorisierung – sowohl hinsichtlich der Sexualität (Kinsey) als auch des Geschlechts (Fausto-Sterling). 3. Geschlecht ist gesellschaftlich konstruiert: Hier geht es nicht um die Frage nach dem wahren Geschlecht, sondern um die – stets konventionellen – Formen seiner Repräsentation. Wir kategorisieren zwangsläufig, die Kritik jedoch liegt in der Kunst, nicht so sehr kategorisiert zu werden (vgl. Foucault): weder so sehr, noch auf diese Weise.

Der Gender-Streit In Frankreich ist die Bewegung gegen die Ehe für alle gegen das soziale Geschlecht (bzw. vor dem Hintergrund eines allgemein vorherrschenden Antiamerikanismus gegen Gender) auf die Barrikaden gegangen, genauer gesagt gegen das, was die Demo für alle als Gender-Theorie bezeichnet. So konnten auf den Transparenten gegen die rechtliche Gleichstellung Slogans gelesen werden wie »Wir wollen Sex, kein Gender« oder »Ehe für alle = Gender-Theorie für alle«. Diese Offensive begann noch vor der Debatte über das Taubira-Gesetz

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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2012/2013, welches die Ehe in Frankreich nunmehr auch für gleichgeschlechtliche Paare öffnete. Tatsächlich hatte die katholische Rechte bereits vor Beginn der Sommerpause 2011 eine Kampagne gestartet, welcher sich später nicht nur Mitglieder der Droite Populaire, sondern auch der den Präsidenten Nicolas Sarkozy unterstützenden Parlamentsmehrheit anschlossen (80 Abgeordnete gefolgt von 113 Senator_innen!). Die Kampagne zielte gegen die Aufnahme der Lerneinheit Mann oder Frau werden in den Lehrplan des Biologieunterrichts der gymnasialen Oberstufe. Der Titel der Einheit erinnert an den berühmten Ausspruch aus dem feministischen Klassiker »Das andere Geschlecht« von 1949: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«. Simone de Beauvoir verwendete jedoch nicht den Begriff ›Gender‹. Dieses Konzept wird erst ab den 1950er Jahren in den USA an der Schnittstelle von Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie und Medizin von John Money (Johns Hopkins University) und Robert Stoller (University of California, Los Angeles) entwickelt. Ausgehend von Ausnahmen, genauer vom Hermaphroditismus und vom Transsexualismus, also von intergeschlechtlichen und transidenten Personen, welche sie ganz im Geiste ihrer Zeit als pathologisch betrachteten, wollten sie mit diesem Konzept das soziale Geschlecht losgelöst vom biologischen denkbar machen. Erst in den 1970er Jahren eignen sich Feminist_innen das Konzept an und verwandeln den klinischen Begriff, der vorgibt, individuelle, biologische oder psychische Anomalien in Reih‘ und Glied zurückzuführen, in eine Kritik gegen die Ordnung der Dinge, also gegen die Norm und nicht gegen die Anormalen. Das Bemerkenswerte ist, dass diese Kritik heute in erster Linie über die Frage der Transidentität (und der Intergeschlechtlichkeit) artikuliert und somit die Geschichte von Gender von ihren Wurzeln her nutzbar gemacht wird, indem ihre Grundlagen radikal umgekehrt werden, um die Norm ausgehend von den Ausnahmen zu erschüttern. Seit der 1995 in Peking abgehaltenen UN-Weltfrauenkonferenz ist auch dem Vatikan die Bedeutung des Gender-Konzeptes – und die Bedrohung, die es aus seiner Perspektive darstellt – bewusst geworden. So hat sich die katholische Kirche in einen Kreuzzug gegen die Gender-Theorie begeben. Tatsächlich führt die Thematisierung von Gender oder die schlichte Aussage, dass wir nicht als das geboren werden, zu dem wir werden, zu einer Denaturalisierung der Welt oder, anders ausgedrückt, zu einer Infragestellung der vermeintlichen Natürlichkeit der sie beherrschenden Normen und Gesetze. Dieser demokratische Aufruhr ist jedoch

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ein Wesenszug unserer Gesellschaften, von dem auch die Internationalisierung der Frage nach der Homo-Ehe zeugt: Bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare geht es um nicht weniger als die vollwertige Anerkennung anderer Sexualitäten. Anders ausgedrückt erscheint die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr als in der Natur (hier: in der Heterosexualität) begründet, sondern durch die demokratischen Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit definiert, welche gegen die Auferlegung sexistischer oder homophober Normen nutzbar gemacht werden können. Ich habe hier den Begriff ›sexuelle Demokratie‹ vorgeschlagen.2 Zwar herrschen in der demokratischen Gesellschaft nicht Freiheit und Gleichheit, aber durchaus die Bedingungen, sich in politischen Kämpfen legitimerweise auf sie zu beziehen. Dies bedeutet, dass die Ordnung der Welt bei Weitem nicht von der Natur, Gott oder der Tradition vorgegeben ist, sondern dass wir es sind, die sie festlegen. Demokratie bedeutet also, sich bewusst zu werden, dass sich Gesetze und Normen auf immanente und nicht auf transzendente Art durchsetzen. Folglich können sie verändert, verhandelt, diskutiert und angefochten werden: Sie sind historisch, sozial und politisch. Die sexuelle Demokratie ist die Ausweitung des demokratischen Gedankens auf Fragen des Geschlechts und der Sexualität, welche nicht im Entferntesten unpolitisch, natürlich vorgegeben und geschichtslos sind, sondern sich als demokratische Streitfragen herausstellen, die den gleichen Stellenwert einnehmen wie andere Fragen (der Wirtschaft, Schule, Immigration, Demografie, etc.) – wenn nicht gar, in Anbetracht des Streits um die Grenzen dieser Ausweitungen, einen höheren. Kehren wir zur Demo für alle und zu ihrem Kampf gegen das, was sie die Gender-Theorie oder Gender-Ideologie nennt, zurück. Eine_r Spezialist_in in diesem Gebiet wird vor diesem Hintergrund die Ehre zuteil, deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um eine homogene Theorie oder Ideologie handelt. Tatsächlich bietet Gender ein breites Studienfeld, in dem sich unterschiedliche Theorien und Ideologien gegenüberstehen. Welchen Sinn soll die oben genannte Darstellung jedoch jenseits dieser notwendigen Richtigstellung ergeben? Die Haltung der Konservativen lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Der erste bezieht sich auf den Begriff ›Ideologie‹ und verweist auf den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Politik bzw. Wissen und Macht. Der zweite bezieht sich auf den Begriff ›Theorie‹, hier wird die epistemologische Deutungshoheit verhandelt, wie dies auch in den von der US-amerikanischen religiösen Rechten angestoßenen Debatten der Fall ist, die der Evolutionstheorie 2 | Éric Fassin (2005): Démocratie sexuelle. In: Comprendre. Revue de philosophie et de sciences sociales. Sonderaus­g abe: La sexualité, 6, S. 263-276.

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(oder der natürlichen Auslese) die neokreationistische Theorie des Intelligent Design entgegenstellt. Der dritte Punkt ist die gleichzeitige Gegenüberstellung von Sex/Gender, Natur/Kultur und Biologie/Gesellschaft. Kurz gefasst geht es um Dreierlei: Das Wesen der Wahrheit, der Wissenschaft und der Gesellschaft. Diesen Angriffen zumindest intellektuell etwas entgegenzusetzen, scheint nicht sonderlich schwierig. Hinsichtlich des ersten Punktes kann gefragt werden, inwiefern eine politische Bewegung, in der sich Wissenschaftler_innen als solche nicht aktiv beteiligen, vorgeben kann, im Namen der Wissenschaft die Politik anzufechten. Wie könnte die Demo für alle, in der sich die politische Rechte mit der religiösen Rechten vereint, im Namen einer gänzlich ideologiefreien Wahrheit sprechen? Zweitens ist erstaunlich, dass im Namen der Theorie der Begriff ›Gender‹ disqualifiziert und ihm eine epistemologische Schwäche unterstellt werden soll, zumal Wissenschaft immer auf Theorien fußt, die von Newton bis Einstein stets provisorisch, aber deswegen nicht minder haltbar sind – außer wenn man sich einem Skeptizismus hingeben möchte, der aber mit der Anrufung einer wissenschaftlichen Wahrheit gegen die Ideologie nicht vereinbar ist, was uns zum ersten Punkt zurückführt. Drittens kann angemerkt werden, dass es paradox ist, die Biologie zur Verteidigung eines traditionellen Verständnisses der Ehe und eine Gleichsetzung von Abstammung mit Fortpflanzung ins Feld zu führen, nicht nur, weil dies dazu verleitet, unter Missachtung jeglicher Theologie (bzw. zumindest der katholischen) Gott mit der Natur zu verwechseln, sondern auch, weil dies bedeuten würde, von der Existenz einer natürlichen Institution auszugehen – ein wahrhaftes Oxymoron, welches jeglicher Logik entbehrt.

Wissenschaft und Politik Im Folgenden soll genauer auf die Fragen eingegangen werden, die die Demo für alle aufwirft, nicht etwa, um diese zu beantworten, sondern um sie als Ausgangspunkt für allgemeine Überlegungen zu nutzen. Zunächst widmen wir uns dabei dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik. Die Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe erinnert an Max Weber: Wir denken an den Imperativ der ›Wertfreiheit‹, nach dem sozialwissenschaftliche Arbeit nicht auf ideologische Abwege geraten darf. Die Politik habe keinen Platz in der Wissensproduktion, sondern höchstens an vorgelagerter (wissenschaftliche Fragestellungen können aus politischen Gründen interessant sein) oder nachgelagerter Stelle (wissenschaftliche Ergebnisse können im politischen Feld verwendet werden). Die Wissenschaft selbst – und insbesondere der Prozess der

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Wissensproduktion – habe an sich nichts Politisches: Diese Black Box entspräche einem Moment der Neutralisierung. Die Wirksamkeit einer derartigen Anweisung gegenüber der Feministischen Wissenschaft, welche immer schon verdächtig war, da sie bereits in ihrer Betitelung das Wissenschaftliche dem Politischen annäherte, ist unschwer zu erkennen: Das Argument der Neutralität erscheint so heute als Waffe gegen Gender. Aus diesem Grund mag ein kritischer Rückblick auf den Imperativ der ›Wertfreiheit‹ nützlich sein, welches uns einer der Gründerväter – um einmal einen eindeutig gegenderten Ausdruck zu wählen – der Soziologie vermacht hat. Wir stützen uns dabei auf die Arbeiten von Isabelle Kalinowski.3 Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die gängige französische Übersetzung des Begriffs ›Wertfreiheit‹ neutralité axiologique ist, also ›axiologische Neutralität‹. Das Ergebnis dieser Aufnahme in den französischen Kontext ist bedeutsam. Zunächst war die Annäherung der beiden Vorträge »Wissenschaft als Beruf« von 1917 und »Politik als Beruf« von 1919 eine nachträgliche redaktionelle Entscheidung, als deren Ergebnis beide Begriffe einander gegenübergestellt werden. Schließlich verweist die Wahl des Ausdrucks ›neutralité axiologique‹ des ersten französischsprachigen Übersetzers Julien Freund auf das von Raymond Aron verfasste Vorwort des 1959 erschienenen Werkes »Le savant et le politique«, der französischen Übersetzung der beiden Texte »Wissenschaft als Beruf« und »Politik als Beruf«, in dem er die US-amerikanische Lesart von Talcott Parsons aufgreift, der Weber als Kritik auf Marx versteht. Im Kontext des Kalten Krieges trägt Aron so entscheidend zur Gegenüberstellung des Nicht-Engagements (oder der Neutralität, deren politische Bedeutung bekannt ist) und der engagierten Intellektuellen bei: Eine Kriegsmaschinerie gegen den Marxismus. Eine derart widersprüchlich erscheinende Neutralisierung kann durchaus Verwunderung hervorrufen, schließlich war Weber (wie übrigens auch Aron) selbst ein Intellektueller, der sich explizit in öffentliche Diskussionen eingebracht hat. Tatsächlich spielte der deutsche Soziologe nicht auf die ideellen Prinzipien der Wissenschaft, sondern auf die Propaganda an, also die unberechtigte Vereinnahmung der Lehre: Hier handelt es sich um einen »Appell an die Lehrenden, die Machtposition, die ihnen durch ihren Beruf zuteil wird, nicht auszunutzen«. Das von ihm formulierte Problem betrifft also eher 3 | Max Weber, La science, profession & vocation, suivi de Leçons wébériennes sur la science et la propagande, Isabelle Kalinowski, Marseille, Agone, 2005; vgl. Kapitel IV: »Un savant très politique« (Zitat S. 199, Zitat Weber S. 196, Neuauflage der Essais sur la théorie de la science, aus dem Deutschen von Julien Freund, Paris, Presses Pocket 1992 (1965), S. 375-376). Kalinowski selbst bezieht sich in Teilen auf die Arbeiten einer großen Weber-Spezialistin, Catherine Colliot-Thélène, und auf die Studie von Stéphane Baciocchi »Sur la postérité universitaire de Max Weber«.

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die Pädagogik als die Wissenschaft. Aus wissenschaftlicher Perspektive erwiesen sich politische Werte durchaus als fruchtbar, wie ein 1917 publizierter Aufsatz über die Wertfreiheit zeigt: »Einer unserer bekanntesten Juristen erklärte gelegentlich, indem er sich gegen den Ausschluss von Sozialisten von den Kathedern aussprach: Einen »Anarchisten« allerdings würde auch er als Rechtslehrer nicht akzeptieren können, da der ja die Geltung des Rechts als solches überhaupt negiere – und er hielt dieses Argument offenbar für entscheidend. Ich bin der genau gegenteiligen Ansicht. Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein. Und ist er das, dann kann gerade jener sozusagen archimedische Punkt außerhalb der uns so selbstverständlichen Konventionen und Voraussetzungen, auf den ihn seine objektive Überzeugung – wenn sie echt ist – stellt, ihn befähigen, in den Grundanschauungen der üblichen Rechtslehre eine Problematik zu erkennen, die allen denjenigen entgeht, welchen jene allzu selbstverständlich sind.«4

Kurz, eine politische Positionierung stellt kein auszuräumendes Hindernis dar, sondern ein Werkzeug zur Hinterfragung gesellschaftlicher Vorannahmen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Zu behaupten, die Wissenschaft sei nicht neutral, sondern durch politische Werte bestimmt, bedeutet nicht, ihre Unabhängigkeit zu verleugnen, um ihre Heteronomie zu preisen. Tatsächlich muss klar zwischen wissenschaftlichen und politischen Feldern unterschieden werden, um deren jeweilige Besonderheiten zu begreifen: Beide sind durch eigene Regeln bestimmt. Im vorliegenden Fall unterliegt die Produktion wissenschaftlicher Wahrheit sowohl internen Zwängen (empirischer Belegung und theoretischer Kohärenz) als auch externen Zwängen (Kontrolle durch die Wissenschaftsgemeinschaft). Die Kernfrage dreht sich also nicht um Neutralität, sondern um Objektivierung, welche gerade ein Erklären und nicht ein Verbergen der Werte impliziert, welche die Erkenntnis leiten und sie organisieren. Eine solche Perspektive lädt uns dazu ein, die Frage der wissenschaftlichen Unabhängigkeit neu zu denken. In der Welt der Sozialwissenschaften lassen wir uns manchmal dazu hinreißen, uns für umso wissenschaftlicher zu halten, desto unpolitischer wir sind, als handele es sich hierbei um ein Nullsummenspiel. Dies fasst gewöhnlich der Begriff der ›Unabhängigkeit‹ zusammen. Was aber, wenn wir Unabhängigkeit nicht als ein Streben nach der Loslösung des Wissenschaftlichen vom Politischen verstünden, sondern vielmehr als die Forderung, dass der unvermeidbar politische Charakter der Wissenschaft (sowohl in ihrem Engagement als auch in ihren Anwendungen) mit den Regeln 4 | Weber, M. (1917): Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: J.B.C. Mohr, S. 458.

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des wissenschaftlichen Arbeitens in Einklang steht? Dies bedeutet nicht, die Einwürfe der Gesellschaft zu meiden, ganz im Gegenteil, denn es kann wissenschaftlich durchaus produktiv sein, sie als Anstoß zu verstehen. Sicher sollten Forderungen nicht die Antworten der Wissenschaftsgemeinschaft bestimmen, jedoch könnten sie dazu führen, dass wissenschaftliche Kategorien überdacht werden – Eheschließung und Abstammung beispielsweise, aber auch Sex und Gender. Es geht also weniger darum, das wissenschaftliche Feld gegen den Einfluss der Gesellschaft abzuschirmen, als darum, eine Aneignung dieser äußeren Einwände und eine Neuformulierung entsprechend der innerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit erforderlichen Sprache zuzulassen. Sicher ist Aufmerksamkeit geboten gegenüber der missbräuchlichen Verwendungen wissenschaftlicher Fachkenntnis, welche ein X (die Wahrheit) für ein U (die Werte) vormachen möchte und andersherum. Aber es muss auch bedacht werden, dass die hier im Namen der Wertfreiheit, dort im Namen der wissenschaftlichen Unabhängigkeit geforderte wissenschaftliche Neutralität andere Risiken birgt (insbesondere die Vorstellung, die Wissenschaft sei reine, interessenfreie und gesellschaftlich belanglose Spekulation). Bereits 1893, zum Zeitpunkt der Gründung der Soziologie, sagte Durkheim im Vorwort seines Werkes »Die Teilung der sozialen Arbeit«: »Wir sind der Meinung, dass unsere Forschungen nicht eine Stunde Arbeit wert wären, wenn sie nur ein spekulatives Interesse haben sollten.« Die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, die ja von der Gesellschaft sprechen, können es sich am allerwenigsten leisten, nicht auch zur Gesellschaft, nicht auch mit der Gesellschaft zu sprechen. Kehren wir nun zurück zum Thema Gender. Die von Weber entworfene politische Epistemologie ist nicht im Geringsten als eine Waffe im Kampf gegen die Einführung der Gender Studies zu begreifen, vielmehr entspricht sie der zunächst in den USA entwickelten feministische Epistemologie. Um diesen Punkt etwas zu vertiefen, soll hier in einigen Worten an die übereinstimmenden Vorschläge zweier bedeutender Forscherinnen, Sandra Harding und Donna Haraway5, erinnert werden. Erstere spricht von epistemologischen Standpunkten (standpoint epistemology), Zweitere eher von situiertem Wissen (situated knowledges). Ihre Analysen jedoch, welche im Dialog entstanden sind, überschneiden 5 | Harding, S. (1986): The Science Question in Feminism. Cornell University (Hg.). Ithaca/London: Cornell University Press, Kapitel 1 und 6; Harding, S. (1993): Rethinking Standpoint Epistemology: What Is Strong Objectivity? In: Feminist Epistemologies. Alcoff/Potter (Hg.). London/New York: Routledge, Kapitel 3, S. 4982; Haraway, D. (1988): Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies, Bd. 14, Nr. 3 (Herbst 1988), S. 575-599; aus dem Englischen von Denis Petit und Nathalie Magnan; Haraway, D. (2007): Manifeste cyborg et autres essays: Sciences - Fictions - Féminismes. Anthologie von Laurence Allard, Delphine Gardey und Nathalie Magnan (Hg.). Paris: Exils éditeurs, S. 107-142.

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sich in den grundlegenden Aspekten. Auch wenn dies anfangs eine wichtige Rolle gespielt haben mag, so beschränkt sich die feministischen Epistemologie nicht auf die reine Aufdeckung und Anprangerung der das wissenschaftliche Wissen immer noch verformenden androzentristischen Annahmen, vielmehr hinterfragt sie auch die Definition von Objektivität, ohne diese jedoch auf dem Altar der Subjektivität zu opfern. Tatsächlich entsteht Wissen nicht unabhängig von den Perspektiven der Wissenschaftler_innen. Haraways Gegenüberstellung des Privilegs einer partialen Perspektive mit einer Perspektive, die aus einem vermeintlich alles überragenden, standpunktfreien Blick auf die Welt den Gottes-Trick (the God trick) anwenden will, stellt keine Eingrenzung der Wissenschaft dar, ganz im Gegenteil, denn dieses Privileg ist in erster Linie jenes der unterdrückten Perspektiven, welche sichtbar machen können, was aus einem dominanten Standpunkt heraus nicht sichtbar ist. Dies stellt keine Verherrlichung des Relativismus dar, vielmehr ermöglicht die Kritik der sogenannten Objektivität, die üblicherweise dem offen positionierten Wissen wie beispielsweise der Feministischen Wissenschaft entgegengestellt wird, mit Harding eine starke Objektivität (strong objectivity) zu fordern, sowohl aufgrund dessen, was aus der Minderheitsperspektive heraus gesehen werden kann, als auch aufgrund der Erläuterung des eigenen Standpunktes, die die Illusion einer vermeintlich objektiven Neutralität auflöst.

Wissenskategorien Mit Harding und Haraway führt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik schon zur Frage nach der Epistemologie, also zum zweiten eingangs erwähnten Punkt: Wenn der Begriff ›Theorie‹ ernst genommen wird, wie steht es dann eben nicht mehr um die Wahrheit, sondern um Wissen? Wir behandeln diese Frage hier ausgehend von den Kategorien, welche das Verständnis von Wirklichkeit strukturieren. Zunächst werden wir sie so stellen, wie es in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen üblich ist, bevor wir uns den Geschlechterkategorien widmen, die hier im Fokus stehen. Tatsächlich stellen Kategorien eine grundlegende soziologische Herausforderung dar. Bereits 1903 haben Durkheim und Mauss die primitiven Klassifikationsformen analysiert: In den ursprünglichen Gesellschaftsformen verweist jede Kategorisierung auf die gesellschaftliche Organisation, ob es sich dabei nun um die Anordnung des Dorfes, die Kosmologie oder das totemistische System handelt. »Die Gesellschaft war nicht bloß ein Modell, an dem sich das klassifizierende Denken orientiert hätte; vielmehr dient ihr ureigenstes

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Gerüst als Rahmen für das System. Die ersten logischen Kategorien waren soziale Kategorien; die ersten Klassen von Dingen waren Klassen von Menschen, in die diese Dinge integriert worden sind.« 1912 geht Durkheim in »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« allerdings noch weiter: Nicht nur sind die unsere Vorstellung der Welt organisierenden logischen Kategorien immer bereits soziale Kategorien, vielmehr ist auch die Gesellschaft selbst auf diesen Kategorisierungen begründet. Zweifelsohne handelt es sich hier erneut darum, zu erläutern, dass die kantischen Erkenntniskategorien wie Raum und Zeit sehr wohl soziale Kategorien sind – allerdings ist die Soziologie nunmehr ebenfalls versucht, aufzuzeigen, dass eine derartige Kategorisierung auch eine notwendige Bedingung für das Leben in Gesellschaft sei und damit den Übergang vom Individuellen zum Kollektiven ermögliche: »Wenn sich die Menschen zu allen Zeiten nicht über diese wesentlichen Ideen hätten einigen können, wenn sie nicht eine einheitliche Auffassung der Zeit, des Raumes, der Ursache, der Zahl usw. hätten, dann würde jede Übereinkunft unter den Geistern, und folglich jedes gemeinsame Leben unmöglich sein. Die Gesellschaft kann die Kategorien nicht der Willkür der Individuen überlassen, ohne sich selbst aufzugeben. Um leben zu können, braucht sie nicht nur einen genügenden moralischen Konformismus, es muss auch ein Minimum an logischem Konformismus vorhanden sein«.6

Die politische Konsequenz des Durkheim’schen Argumentes ist klar: außerhalb von uns und in uns stellt sich die Gesellschaft gegen revolutionären Aufruhr. Und sie geht nicht weniger brutal vor: »Sollte ein Mensch bewusst von diesen Denknormen abweichen, dann betrachtet sie ihn nicht mehr als menschlichen Geist im vollen Sinn des Wortes und behandelt ihn entsprechend.« Eine Fußnote verweist auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Störungen und psychischen Störungen.7 Für Durkheim sind die Kategorien zwar sozial, nur sind wir deswegen nicht auch frei, diese zu verändern, da dies die Gesellschaft in Gefahr bringen würde. Anders ausgedrückt kann die Soziologie zwar aufzeigen, dass die Konstruktion der Welt nur eine Konvention ist, deswegen lässt sie aber noch nicht zu, dass ihre Kategorien verändert werden. Um den von diesem anderen Gründervater geforderten Konservatismus, welcher moralischen und logischen Konformismus 6 | Durkheim, E. (1960, orig. 1912): Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris: PUF, S. 38. 7 | Durkheim, E., Mauss, M. (1974, orig. 1903): De quelques formes primitives de classification. Contribution à l’étude des représentations collectives. L’année sociologique, 6, 1903, repris in Mauss, Œuvres, tome 2, présentation de Victor Karady, Paris: Minuit, S. 83. Durkheim, E. (1960, Orig. 1912): Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris: PUF, S. 24.

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miteinander verbindet, hinter uns zu lassen, und bevor wir auf die Geschlechterkategorien zurückkommen, sollen hier noch zwei weitere soziologische Modelle der Klassifizierungen dargestellt werden, die sich sowohl darauf berufen als auch davon abwenden. Das erste Modell geht auf Luc Boltanski zurück, der 1982 die soziale Gruppe der Führungskräfte analysierte. Der Autor stellt fest, wie schwierig die Definition der Gruppe ist und dass sich diese definitorische Unschärfe als ein notwendiges und nicht etwa zufälliges Merkmal herausstellt. Deswegen muss »damit begonnen werden, eine vorgefertigte Definition abzulehnen«. »Anstatt zu versuchen festzulegen, nach welchen Kriterien die Gruppe definiert werden muss, und welche Grenzen ihr gesetzt werden müssen, um ein greifbares und klar bestimmtes Objekt zu erhalten«, solle vielmehr »die Form betrachtet werden, die die Gruppe angenommen hat, indem ihre Arbeit der Gruppenbildung, des Einschlusses und des Ausschlusses, derer Ergebnis sie ist, untersucht wird, und indem die soziale Arbeit der Definition und der Abgrenzung, die die Gruppenbildung begleitet hat und durch deren Objektivierung dazu beigetragen hat, dass sie im Das-versteht-sich-von-selbst-Modus 8

ist, analysiert wird«.

Verhält es sich denn nicht für alle sozialen Klassifizierungen gleichermaßen? Die Soziologie beschränkt sich demnach nicht mehr nur darauf, das soziale Wesen der Kategorien zu beschreiben und deren Notwendigkeit zu fordern, vielmehr macht sie sich nun daran, sie zu denaturalisieren, also ihre vermeintliche Vorgegebenheit anzufechten. Dies entspricht der Lehre Pierre Bourdieus, dessen Schüler Boltanski war und der insbesondere in seiner im gleichen Jahr veröffentlichten ersten Vorlesung am Collège de France9 nicht nur die historische, sondern auch die politische Logik dieses Vorgehens aufgezeigt hat: »Die Soziologie muss sich den Kampf um das Monopol der legitimen Darstellung der sozialen Welt zum Ziel machen, diesen Kampf der Klassifizierungen, der alle Arten von Klassenkämpfen betrifft, seien dies Altersklassen, Geschlechterklassen oder soziale Klassen.« Die politische Bedeutung von Wissen wird explizit: »Die anthropologische Klassifizierung unterscheidet sich von zoologischen oder botanischen Taxonomien dadurch, dass die Objekte, denen sie ihren Platz zuweist, selbst klassifizierende Subjekte sind. Es reicht, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn, wie in den Fabeln, Hunde, Füchse und Wölfe das Kapitel über die Familie der Hunde mitschreiben könnten«. Anders ausgedrückt

8 | Boltanski, L. (1982): Les cadres. La formation d’un groupe social. Paris: Minuit, S. 51-52. 9 | Bourdieu, P. (1982): Leçon sur la leçon. Paris: Minuit, S. 13-16.

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können »die Klassifizierten, die schlecht Klassifizierten, das Prinzip der Klassifizierung ablehnen, das sie auf die schlechtesten Plätze verweist«.10

Dass allerdings die Klassifizierung im gleichen Ausmaß wie die Klassen zum Gegenstand der Untersuchung wird, »führt nicht im Geringsten zu einer Auslöschung der Wissenschaft im Relativismus«. Die Soziologen werden zu jenen, die »die Wahrheit über die Kämpfe auszusprechen versuchen, bei denen unter anderem die Wahrheit auf dem Spiel steht«. Der Wert eines derartigen Ansatzes zum gedanklichen Erfassen der Geschlechterkategorien ist offensichtlich. Dies sollte uns also auch bei der heutigen Lektüre der Werke von Alfred Kinsey und insbesondere seiner Kategorisierung der Sexualität bewusst sein. 11 Eine Angabe daraus wird häufig zitiert: Seine Studien über das Sexualverhalten von 1948 sollen offen gelegt haben, dass 10 % der Männer homosexuell seien. Dieser bemerkenswerte Anteil hatte in den USA der Nachkriegsjahre einen Schock ausgelöst, gleichzeitig aber auch eine Gruppe von Aktivist_innen dazu angeregt, sich diese Zahl anzueignen und sie sogar in den Namen von Homosexuellen-Organisationen einfließen zu lassen. Die Zahl wurde eine Waffe zur Anerkennung einer Existenz, sie lastete jedoch auch schwer auf der Gesellschaft. Allerdings hat Kinsey selbst nie von dieser Zahl – geschweige denn von einer solchen Idee – gesprochen. Das Problem liegt darin, dass die Frage falsch formuliert wird: Der Fehler verweist auf ein Missverständnis darüber, was kategorisieren bedeutet. Berufen wir uns auf die Skala, die er vorschlägt, also von 0 bis 6 bzw. von exklusiver Heterosexualität bis zur perfekten (im Sinne einer absoluten) Homosexualität (um eine innerhalb der Schwulen-Kultur verbreitete ironische Formulierung aufzugreifen: a perfect 6!). Tatsächlich finden wir in einer die-ser sechs möglichen Schubladen die berühmten 10 % Männer (weiße Männer, übrigens), »zwischen 16 und 55 Jahren, die über einen Zeitraum von wenigstens drei Jahren mehr oder weniger exklusiv homosexuell sind (Kategorien 5 und 6)«. Hier handelt es sich freilich um eine Konstruktion, die nur für das gilt, was sie zu erklären vermag. Anders formuliert bringt die arbiträre (oder zumindest konventionelle) Diskontinuität der Kategorien im Kontrast ein Kontinuum von 10 | Bourdieu, P. (1982): Leçon sur la leçon. Paris: Minuit, S. 13-16. 11 | Kinsey, A. C., Pomeroy, W. B., Martin, C. E. (1948): Sexual Behavior in the Human Male. Philadelphia/ London: W.B. Saunders Company, S. 651: »10 Prozent der Männer zwischen 16 und 55 Jahren sind über einen Zeitraum von wenigstens drei Jahren mehr oder weniger exklusiv homosexuell (Kategorien 5 und 6)«; und S. 639: »Bezüglich der Kontinuität innerhalb der Abstufungen zwischen exklusiv heterosexuellen und exklusiv homosexuellen Geschichten schien es ratsam, eine Klassifizierung zu entwickeln, welche auf der relativen Anzahl heterosexueller und homosexueller Erfahrungen jeder einzelnen Geschichte oder Beantwortung basiert.« Vgl. gleiche Seite: »Männer bilden nicht zwei klar getrennte Bevölkerungsgruppen, eine heterosexuelle und eine homosexuelle. Die Welt kann nicht in Schafe und Ziegen aufgeteilt werden. Nicht alles ist schwarz oder weiß. Eine der Grundlagen der Taxonomie liegt darin, dass die Natur nur selten mit klar voneinander trennbaren Kategorien zu tun hat. Allein der menschliche Geist erfindet Kategorien und versucht, Tatsachen in säuberlich voneinander getrennte Schubladen zu zwängen. Die lebendige Welt ist in allen ihren einzelnen Teilen ein Kontinuum«.

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Praktiken und Phantasmen zum Vorschein. Sicher schien es »wünschenswert, eine auf der relativen Menge homo- oder heterosexueller Erfahrungen in der Geschichte eines jeden Befragten basierende Klassifikationsform zu entwickeln, wobei der Schwerpunkt bei der Kontinuität in der Abstufung zwischen ausschließlich heterosexuellen und strikt homosexuellen individuellem Erlebtem lag«. Die Quintessenz wird von diesem humorvollen Zoologen wie folgt zusammengefasst: »Die Menschen schließen sich nicht zu zwei verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen, einer heterosexuellen und einer homosexuellen. Die Welt kann nicht in Schafe und Ziegen aufgeteilt werden. Nicht alles ist weiß, nicht alles ist schwarz. Eine der Grundlagen der Taxonomie liegt darin, dass die Natur nur selten mit klar voneinander trennbaren Kategorien zu tun hat. Allein der menschliche Geist erfindet Kategorien und versucht, Tatsachen in säuberlich voneinander getrennte Schubladen zu zwängen«.

Zwar handelt es sich hier um Sexualität, aber auch in Bezug auf Geschlecht wurde die gleiche, Kategorisierung und Kontinuum vereinende Doppellogik formuliert: 1993 publizierte die Biologin Anne Fausto-Sterling in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift einen Artikel mit dem Titel »The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough.«12 Dort ging sie vom Fall intergeschlechtlicher Personen aus, aber anstatt ein drittes Geschlecht vorzuschlagen, unterteilte sie das dritte Geschlecht selbst in drei Kategorien, die Herms (echte Hermaphroditen), die Merms (männliche Pseudo-Hermaphroditen) und die Ferms (weibliche Pseudo-Hermaphroditen). Zusammen mit den beiden üblichen Geschlechtern macht das fünf. Diese These war derart provozierend, dass sie selbst den Vatikan beunruhigt hat, fast so sehr wie das Werk Judith Butlers. Selbst die Biologie, so wie sie gemeinhin definiert wird, stimmt nicht mehr mit der Natur überein. Die Biologin führt das Paradox übrigens weiter aus: »Wenn Staat und Rechtssystem an der Aufrechterhaltung eines Zweigeschlechtersystems festhalten, handeln sie wider die Natur«. Sie erklärt weiter: »Aus 12 | Fausto-Sterling, A. (1993): The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough. In: The Sciences, S. 20-24. Der Artikel von 1993 wurde kürzlich in einem französischen Band veröffentlicht, sowie ein weiterer, der eine Analyse vorschlägt und 2000 in der gleichen Zeitschrift erschienen ist: Anne FaustoSterling, Les cinq sexes. Pourquoi mâle et femme ne sont pas suffisants, aus dem Englischen von Anne-Emmanuelle Boterf, Vorwort von Pascale Molinier, Payot, 2013, Zitate S. 43-44. »Wenn Staat und Rechtssystem aber an der Aufrechterhaltung eines Zweigeschlechtersystems festhalten, handeln sie wider die Natur. Aus biologischer Perspektive gibt es zahlreiche Abstufungen zwischen weiblich und männlich und abhängig davon, wie die Kriterien definiert werden, kann man bestätigen, dass innerhalb dieses Spektrums fünf Geschlechter zu verorten sind, wenn nicht gar noch mehr«; »Geschlecht ist ein enormes, unendlich modulierbares Kontinuum, welches selbst bei der Annahme von fünf Geschlechtern die Grenzen der Kategorien noch herausfordert.« Das klassische Werk der Autorin, »Sexing the Body« (2000), wurde ebenfalls kürzlich ins Französische übersetzt: Corps en tous genres. La dualité des sexes à l’épreuve de la science, aus dem Englischen von Oristelle Bonis und Françoise Bouillot, Nachwort von Evelyne Peyre, Catherine Vidal und Joëlle Wiels, La Découverte/Institut Émilie du Châtelet, 2012; am Anfang des Buches befindet sich der explizite Vergleich mit Kinsey.

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biologischer Perspektive gibt es zahlreiche Abstufungen zwischen weiblich und männlich und die Kriterien sind je nach Person unterschiedlich, aber einige Menschen bestätigen, dassinnerhalb dieses Spektrums fünf Geschlechter zu verorten sind, wenn nicht gar noch mehr«. Tatsächlich »ist Geschlecht für mich ein unendlich modulierbares Kontinuum, welches selbst bei der Annahme von fünf Geschlechtern die Grenzen der Kategorien noch herausfordert«. Der Vergleich zu Kinsey ist augenfällig, darüber ist sich die Biologin bewusst. Es geht darum, aufzuzeigen, dass unsere binären Auffassungen von Geschlecht, wie auch von Sexualität, nichts Natürliches an sich haben, ganz im Gegenteil. Allerdings können die von Fausto-Sterling angeführten Überlegungen zumindest hinsichtlich eines Punktes hinterfragt werden, was sie 2000 in der gleichen Zeitschrift in einer Überarbeitung ihres Artikels »The Five Sexes, Revisited« 13 selbst tut: »Es könnte als etwas Natürliches erscheinen, intergeschlechtliche und transidente Personen als zwischen den Polen des Männlichen und des Weiblichen lebend zu betrachten. Aber Männlichkeiten und Weiblichkeiten, männlich und weiblich dürfen nicht als eine Art Kontinuum verstanden werden. Vielmehr müssen Sex und Gender als Punkte in einem multidimensionalen Raum konzeptualisiert werden«.

Hier stellt sich die Frage nach Repräsentationen bzw. Bildern, die der Wirklichkeit gerecht werden. So wurde in der Bewegung intergeschlechtlicher Menschen, genauer von Vincent Guillot ein anderer Signifikant vorgeschlagen: »Eine gute Möglichkeit, uns auf der Geschlechterkarte zu verorten, uns also zu definieren, ist der Begriff des Archipels. Hierbei handelt es sich um eine Reihe Inseln, die wiederum von kleineren, vorgelagerten Inseln umgeben sind, die aufgrund ihrer Nähe bzw. Entfernung gemeinsame Charakteristika besitzen oder nicht. [...] Wir schlagen also den Begriff des Intergeschlechtlichen Archipels vor, wenn nicht gar des Gender-Archipels, fragen uns dabei aber nicht, wo wohl diese oder jene Art von Mensch positioniert sein wird, sondern interessieren uns nur für die Personen selbst und für das, was ihren gemeinsamen Nenner ausmacht: die Tatsache, jenseits der Binarität männlich-weiblich zu stehen«.

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Wie jedes Bild bietet auch dieses Vor- und Nachteile: Ohne Zweifel vermag es, die Polarisierung der beiden Geschlechter zu überwinden, allerdings schreibt

13 | Fausto-Sterling, A. (2000): The Five Sexes, Revisited. In: The Sciences, S. 18-23, als Übersetzung im gleichen Band: Les cinq sexes, S. 85. 14 | Guillot, V. (2008): Intersexes: ne pas avoir le droit de dire ce que l’on ne nous a pas dit que nous étions. In: À qui appartiennent nos corps? Nouvelles questions féministes, Bd. 27, Nr. 1, koordiniert von Cynthia Kraus, Céline Perrin, Séverine Rey, Lucie Gosselin und Vincent Guillot, S. 37-48.

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es auch die Diskontinuität in die Realität selbst ein. Es verleitet uns also, nicht etwa eine andere Metapher zu verwenden, sondern den Blick zu verlagern: Was, wenn wir uns weniger für die Kategorien, als vielmehr für die Kategorisierungen interessieren würden? Hier steht also weniger das Kontinuum im Zentrum, welches die Wirklichkeit definiert, sondern die Lösung der Kontinuität, welche durch jegliche Repräsentation eingebracht wird. Die Welt wahrzunehmen bedeutet, sie zu kategorisieren. Und die Analyse vollzieht sich dabei immer über den Akt der Kategorisierung, der nicht ohne Gewalt vonstatten gehen kann, denn zu klassifizieren bedeutet immer auch zu katalogisieren, festzustecken, in Schubladen zu zwängen. Es geht weniger darum, sich dem zu entziehen, als vielmehr die Kategorien zu hinterfragen, um so den Fokus auf die Kategorisierung zu richten und diese zu denaturalisieren.

Sex und Gender Vor dem Hintergrund des Gesagten wollen wir nun auf die Gegenüberstellung von Sex und Gender eingehen. Zunächst soll daran erinnert werden, dass Geschlecht eher eine staatliche Kategorie ist, denn eine biologische Angabe. Trans’-Personen wissen um den Beweis dafür, wenn nämlich der Personenstand entsprechend der durch die Gesetzgebung festgelegten Bedingungen geändert werden kann (oder eben nicht). Wenn also auf biologischer Ebene zwischen chromosomalem, gonadalem und phänotypischem Geschlecht unterschieden werden kann, ist die entscheidende Frage, was Staat und Gesellschaft als das wahre Geschlecht betrachten, um eine Formulierung aus Michel Foucaults Vorwort zu Herculine Barbins »Souvenirs« 15 zu verwenden. Dies verlagert den Blick erneut, so wie wir es auch im Falle der Kategorisierungen gesehen haben: Es geht nicht mehr um die Wahrheit des Geschlechts, sondern, auf die Gefahr hin, die Diskurse des Wahrsprechens durch ihre Kritisierung zu stärken, um den sozialen Prozess, der der Wahrheitsproduktion zugrunde liegt. Wir können uns also fragen, ob es tatsächlich um das wahre Geschlecht geht, wie es aus den Reihen der Demo für alle verlautet, oder ob die Problematik nicht vielmehr umformuliert werden muss und es eigentlich um das wahre Gender geht. Fausto-Sterling, die ihre Position überdacht hat, äußert hierzu Folgendes: »Seit 1993 hat die moderne Gesellschaft die Vorstellung von fünf Geschlechtern hinter sich gelassen und geschlechtliche Variationen als normal bzw. teilweise auch als abwechslungsreiches Forschungsfeld anerkannt. In der Diskussion zu meinem Vorschlag in ihrem Buch »Lessons from the Intersexed« ist Suzanne J. Kessler mehr als deutlich: ›Der Vorschlag von Fausto-Sterling hat seine 15 | Foucault, M. (1980): Le vrai sexe. In: Arcadie, 27. Jhg., Nr. 323, S. 617-625, Neuauflage in: Foucault, M.: Dits et écrits, IV, 1980-1988, Defert/Ewald (Hg.), mit Jacques Lagrange, Gallimard, 1994, Text Nr. 287, S. 115-123.

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Grenzen, da er den Geschlechtsorganen immer noch eine entscheidende Bedeutung einräumt und dabei außer Acht lässt, dass geschlechtliche Zuschreibungen im Alltag ohne eine genitale Untersuchung vonstatten gehen. Was im Alltag entscheidend ist, ist die performative Herstellung von Geschlecht, unabhängig der anatomischen Konfigurationen unter der Kleidung.‹ Heute teile ich 16

Kesslers Ansicht«.

Die Arbeit von Fausto-Sterling schreibt sich in einen konstruktivistischen Ansatz ein, in dem die Gender-Studies einen entscheidenden Platz einnehmen. Die Kritik am Konstruktivismus geht heute allerdings nicht mehr alleine von den Essentialist_innen aus, welche eine vermeintlich unberührbare und damit unveränderliche, jenseits von Geschichte und Politik stehende Weltund Geschlechterordnung bewahren wollen. So entwickelt die Anthropologin Priscille Touraille eine Kritik des konstruktivistischen Fehlers aus einer feministischen Perspektive17, welche nichts Naturalistisches an sich hat: »Zwar bekunden die radikalen Konstruktivist_innen nicht, dass die Menschen in einer vollkommen entgenderten Gesellschaft nicht mehr mit Geschlechtsorganen geboren, keine Brüste oder keinen Bartwuchs mehr entwickeln oder in der Pubertät nicht mehr zu menstruieren beginnen würden. Zu behaupten, dass der Zusammenhang zwischen diesen Merkmale lediglich einem sozialen Willen entspringe, ist jedoch nicht die richtige epistemologische Strategie. Schlimmer noch, es ist ein Fehler, und die Sozialwissenschaften laufen Gefahr, ihn im Legitimitätskonflikt, der sie den Naturwissenschaften gegenüberstellt, teuer zu bezahlen. Wenn wir wollen, dass das Konzept ›Gender‹ Gültigkeit erhält, müssen wir die Definition von ›Sex‹ mit den Naturwissenschaften aushandeln«.

Touraille zielt hier auf Butler, aber auch auf Fausto-Sterling: »Eine feministische Biologiekritik, die die wissenschaftliche Legitimität von Sex zu hinterfragen vermag, kann nicht allein Schauplatz einer solchen Aushandlung sein«. Deswegen schlägt sie »einen Standpunkt [vor], der sich zwischen dem gemäßigten Konstruktivismus der anfänglichen Gegenüberstellung von Sex und Gender, der Sex den Naturwissenschaften überlässt, und dem radikalen Konstruktivismus, der ihnen Sex entzieht, verortet«. Es dreht sich nicht darum, dass Sex zum Rest von Gender wird, sondern, zumindest in Teilen, zu dessen Resultat. Sie fragt: »Und wenn es die Gendernormen im Laufe der Zeit vermocht hätten, die Anzahl bestimmter biologischer Geschlechtervariationen zu erhöhen, sie zu selektieren?«.

16 | Fausto-Sterling, »Les cinq sexes revisités«, S. 89. 17 | Touraille, P. (2011): L’indistinction sexe et genre, ou l’erreur constructiviste. Critique, 1, 764-765, S. 8799; Zitate aus S. 87-88. Vgl. auch aus einer anderen Perspektive: Kraus, C. (2005): Avarice épistémique et économie de la connaissance: le pas rien du constructionnisme social. In: Rouch/Dorlin/Fougeyrollas-Schwebel (Hg.) (2005): Le corps, entre sexe et genre, Paris : L’Harmattan, S. 39-59.

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Anders ausgedrückt bedeutet eine Anerkennung von Sex für Touraille nicht die Aberkennung von Gender oder die Reduzierung von Sex auf Gender (wie dies die Radikalkonstruktivist_innen tun) bzw. von Gender auf Sex (wie dies die Konservativen aller Art tun). Vielmehr geht es darum, sich gegen eine disziplinäre Abschottung auszusprechen, die die Naturwissenschaften von den Sozialwissenschaften trennt. Die im vorliegenden Text eingenommene Perspektive ist jedoch eine andere. Die Frage dreht sich weniger darum, wie es sich denn nun wirklich verhält hinsichtlich des biologischen Geschlechts. Es geht auch nicht darum, dessen Wirklichkeit zu negieren oder zu bestätigen. Es geht eben nicht um Wahrheit, sondern um deren Herstellung. Zur Präzision kann die Konstruktivismus-Definition aus Ian Hackings Analyse dieses wissenschaftlichen Diskurses angeführt werden, die zunehmend Anerkennung findet: »Die sozialkonstruktivistische Arbeit verhält sich kritisch gegenüber dem Status Quo. Soziale Konstruktionist_innen neigen dazu, folgendes in Bezug auf X zu behaupten: (1) X hätte nicht existieren müssen oder müsste keineswegs so sein, wie es ist. X – oder X, wie es gegenwärtig ist – ist nicht vom Wesen der Dinge bestimmt; es ist nicht unvermeidlich. Häufig gehen sie weiter und behaupten: (2) X ist, so wie es ist, etwas Schlechtes. (3) Wir wären sehr viel besser dran, wenn X abgeschafft oder 18

zumindest von Grund auf umgestaltet würde«.

Die Frage, die wir im vorliegenden Text jedoch aufwerfen wollten, dreht sich nicht darum, was X wirklich ist (und es springt ins Auge, dass Hacking hier einen Buchstaben verwendet, der an das Geschlechtschromosom erinnert) oder ob es existiert oder nicht. Vielmehr geht es darum, dass wir lediglich über Repräsentationen, die wir vermacht bekommen oder die wir verändern Zugang zur Wirklichkeit, hier zum biologischen Geschlecht, haben. Anders ausgedrückt müssen wir unsere Aufmerksamkeit der Kategorisierung widmen, da die Kategorien selbst nur eine von vielen möglichen Repräsentationen der Wirklichkeit sind. Dabei geht es weniger um die reine Wirklichkeit denn um ihre sehr wirklichen Ergebnisse, also, um mit Foucault zu sprechen, die Artikulation zwischen Wissen und Macht. Ja, diese oder jene Art, die Welt zu kategorisieren könnte aufhören zu existieren, und ja, andere Arten sind möglich. Bis heute wurde die binäre Geschlechtertrennung als dem Denken dienlich erachtet. Heute stellt sich eine buchstäblich politische Frage: Wollen wir immer noch auf diese Art kategorisieren bzw. kategorisiert werden? Nicht, dass es möglich wäre, der machtvollen Handlung zu entkommen, die der 18 | Hacking, I. (1999): The social construction of what? Cambridge, Massachusetts/London: Harvard University Press.

Die Kunst, nicht so sehr kategorisiert zu werden

Kategorisierung innewohnt, aber wenigstens können wir darauf hoffen, dass sich eine andere Aufteilung der Wirklichkeit weniger gewaltvoll durchsetzen würde. Diese würde nicht die ultimative Wahrheit der Dinge für sich beanspruchen wollen und dabei all jene, die in ihr keinen Platz finden, verdrängen, sondern eine ordnende Konvention mit begrenzter Gültigkeit darstellen, nur für das, was sie zu denken ermöglicht. Wenn sich die Ordnung der Dinge nicht mehr aus den Dingen selbst ableitet, dann haben wir einen Einfluss auf sie, dann erhält die Politik Einzug bis in die Sphären der Anatomie bzw. in die Repräsentationen, die wir von ihr haben, und dann wird gleichzeitig jenen, die aus der aktuellen Geschlechterordnung ausgeschlossen werden, ein Platz eingeräumt. Um den Gedanken von Michel Foucault aufzugreifen, handelt es sich vielleicht weniger darum, nicht regiert (oder kategorisiert) zu werden, sondern nicht auf diese Weise und um diesen Preis. Davon leitet sich seine Definition der Kritik ab, die gleichermaßen für Kategorisierungen gilt: »Die Kunst, nicht so sehr regiert zu werden« – weder so sehr, noch auf diese Weise .19

19 | Foucault, M. (1990): Qu’est-ce que la critique? Critique et Aufklärung, in: Bulletin de la société française de philosophie 84, 2, S. 35-64.

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Zusammenfassung Dieser Artikel diskutiert die Definitionshoheit der Medizin bei Fragen der Zuordnung intersexueller Menschen, gefolgt von einem kurzen historischen Überblick zur Bedeutung gesellschaftlicher Normvorstellungen mit Fokus auf dichotom angelegte normative Konzepte für Körper und Kopf. Das Selbstbestimmungsrecht und andere Menschenrechte nehmen in der Diskussion um Krankheitszuschreibung eine Sonderstellung ein, sind doch gerade nicht-einwilligungsfähige Menschen von der Anwendung medizinischer Maßnahmen in besonderer Weise betroffen. Die kritische Diskussion bestimmter, bisher üblicher medizinischer Praktiken beleuchtet nicht nur die Konsequenzen für betroffene Individuen selbst und ihr soziales Umfeld, sondern auch für die medizinische Praxis. Ausblickend diskutiert der Autor darüber hinaus juristische Lösungsmöglichkeiten in ihrer Bedeutung für individuelle und gesellschaftliche Praktiken.

Einleitung Wer sich an eine_n Mediziner_in bzw. an eine_n Psychiater_in wendet, muss damit rechnen, dass erwähnte Probleme unter Krankheit sortiert werden. Diese Berufsgruppen orientieren sich bei ihrer Arbeit an der ICD 10 (International Classification of Diseases, 10. Version).1 Dies wird zudem als derzeit gültige Grundlage des Abrechnungssystems der Ärzt_innen wie auch Psychotherapeut_innen mit den Krankenkassen verwendet. Begriffe wie ›Intersexualität‹, ›Zwitter‹ oder ›Zwischengeschlecht‹ finden in der systematischen Übersicht ICD 10 keine Erwähnung. Es werden einzelne Krankheiten benannt und mit 1 | URL: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2013/index. htm [20.06.2013].

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Ziffern des ICD 10 versehen, z.B. E25 Adrenogenitale Störungen, E29 Testikuläre Dysfunktion, E34.5 Androgen-Resistenz-Syndrom, Q56.0 Hermaphroditismus und andere. Die Nomenklatur der Chicago »Consensus Conference« (Hughes 2006) ersetzte traditionelle Begriffe wie ›Zwitter‹, ›Hermaphroditismus‹, ›Zwischengeschlecht‹, ›Intergeschlechtlichkeit‹ oder ›Intersexualität‹ durch Disorders of Sex Development (DSD)2, was in den deutschen medizinischen Leitlinien3 mit Störung der Geschlechtsentwicklung übersetzt wird. Nach dieser medizinischen Klassifikation liegt ein Fall von DSD vor, wenn chromosomales, gonadales und anatomisches Geschlecht nicht übereinstimmen. Dies betrifft auch Menschen, bei denen weder ein eindeutig männliches, noch ein eindeutig weibliches Genital zugeordnet werden kann. Der Begriff ›Disorder‹ wurde heftig angegriffen, intersexuelle Menschen äußerten sich empört über ihre Zuordnung zu Störung und Krankheit. Selbsthilfegruppen4, aber auch das Netzwerk Intersexualität, angesiedelt an der Universität Lübeck, reden jetzt eher von Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung.5 Die Selbsthilfegruppen möchten die pathologische Bedeutung von Disorder im amerikanischen Sprachgebrauch abmildern. Der Vorschlag der Betroffenen von Variations in Sex Development zu sprechen, wurde in Chicago abgelehnt (Thomas 2006). Der Schweizer Ethikrat unterstützt jedoch diese Forderung und spricht von Varianten der Geschlechtsentwicklung, übersetzt als differences of sex development.6 Disorders of Sex Development wird in der systematischen Sicht ICD 10 ausschließlich unter dem körperlichen Aspekt betrachtet. In diesen Fällen wird im gängigen medizinisch-sexualpsychologischen Vorgehen eine Norm angenommen, es findet also eine Normierung biologischer Phänomene, d.h. eine Normierung der biologischen Vielfalt, statt: diese bezieht sich auf die dichotome oder binäre Vorstellung von Geschlecht. Als nächster Schritt im medizinischen Vorgehen wird eine Abweichung von der Norm als Krankheit bzw. Störung, Disorder gesehen. Alles, was diese normative Ordnung in Frage stellt, wird als abnorm, unnatürlich oder pathologisch dargestellt. Wendet man sich von diesen Vorstellungen der Medizin ab, kann man zu einer anderen Sicht gelangen. 2 | Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) (2010): Leitlinien: »Störungen der Geschlechtsentwicklung«. In: AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/022. URL: http://www.awmf.org/ leitlinien/detail/ll/027-022.html [01.08.2013]. 3 | Ebd. 4 | »Intersexualität, was ist das? Der Begriff bezeichnet biologische Besonderheiten bei der Geschlechtsdifferenzierung.« URL: http://www.intersexuelle-menschen.net/intersexualitaet/ [01.08.2013]. 5 | Intersexuelle Menschen e.V.: Das Netzwerk DSD/Intersexualität befasst sich mit angeborenen Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung; engl.: Disorders of Sex Development (DSD). URL: http://www.uksh.de/kinderhormonzentrum-luebeck/Forschung/Netzwerk+DSD.html [01.08.2013]. 6 | Schweizer Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2012): Zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Ethische Fragen zur »Intersexualität«. URL: http://www.bag.admin.ch/nekcne-/ 04229/04232/index.html?lang=de [01.08.2013].

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Handelt es sich bei Varianten der Geschlechtsentwicklung tatsächlich um Abweichungen von einer Norm? Was ist hier die Norm? Oder geht es um biologische Vielfalt? Milton Diamond spricht von biologische Varianten.7 Gedankenspiele über das sog. dritte Geschlecht helfen auch nicht weiter (Blackless 2000; Fausto-Sterling 1993). Wegen vielfältiger phänotypischer Erscheinungsformen gibt es kein eindeutiges drittes Geschlecht. Die biologische Geschlechtszugehörigkeit ist sehr komplex und nicht immer klar abzugrenzen (Voß 2010). Für intersexuelle Menschen selbst ist jedoch der juristische und kulturelle Aspekt wichtiger, der entscheidend zu ihrer Sichtbarmachung und Akzeptanz ihnen gegenüber beitragen kann. In Anlehnung an Groneberg (2012) wäre es angemessener, von Personen »zwischen den Geschlechtern oder Zwischengeschlechtlichkeit« zu sprechen als von »Intersexualität«. Dieser Begriff hat den Vorzug, »eine klare Absage gegenüber Fragen der Sexualität (wie Hetero-, Homo- und Bisexualität) vorzunehmen« und kann eine »Verwechslung von Intersexualität mit Bisexualität« vermeiden. Wegen der historischen und soziokulturellen Bedingtheiten sowie der unterschiedlichen biologischen Theorien, die den Begriffen zugrunde liegen, erscheint der Begriff ›Inter‹ 8 sehr sinnvoll. In ihren Internet-Foren verlangen viele intersexuelle Menschen, dass im Geburtsregister und in den Personalakten überhaupt kein Geschlechtseintrag vorgenommen werden soll. Es sei eine Entwürdigung dieser Menschen, wenn – womöglich unerfahrene – Hebammen oder Ärzt_innen bei der Geburt das Geschlecht einseitig aufgrund des äußeren Anscheins als ausschließlich männlich oder weiblich festlegen. Deshalb sehen einige intersexuelle Menschen, wenn sie als Jugendliche oder als Erwachsene über ihre eigeneSituation nachdenken, sich selbst als z.B. männlich und weiblich, sowohl-als-auch oder als weder-noch. Nur sehr wenige wollen sich jedoch zu diesem Status öffentlich bekennen. Allerdings wird Intersexualität oft mit Transsexualität 9 verwechselt, meistens aus Unwissenheit. Der Begriff ›Transsexualität‹ wird im ICD 10 unter Störung der Geschlechtsidentität aufgeführt. Auch diese Klassifizierung bleibt dem System

7 | Im Original: ›biological varieties‹, Diamond, M., Sigmundson, H. K. (2009): Management of Intersexuality: Guidelines. In: Arch Ped Adol Med. URL: http://www.hawaii.edu/PCSS/biblio/articles/2010to2014/2010 -intersexuality.html [08.12.2011]. 8 | Siehe Beitrag von Jörg Woweries in dieser Publikation: Intersexualität — Medizinische Massnahmen auf dem Prüfstand. 9 | Zu den Definitionen: Neben Transsexualität werden auch andere Begriffe mit sehr unterschiedlichem Hintergrund und oft kaum zu fixierender Bedeutung gebraucht wie: Transidentität, Transgender, Transgeschlechtlichkeit, Cross-dresser, Drag King, Drag Queen. Auch hier scheint der Begriff ›Trans‘‹ sinnvoll. URL: http:// de.wikipedia.org/wiki/Transsexualit%C3%A4t#Definitionen [01.08.2013].

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der Krankheiten verhaftet.10 Änderungen des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit sind z.B. in Deutschland im Transsexuellengesetz (TSG) geregelt.11 2006 sprach der Psychologe Ahlers über Transsexualität und Transvestitismus.12 Er redete mehrfach über Dichotomie, ein Konzept, das auch in den Lehrbüchern zu finden ist. Im psychoanalytischen Verständnis ist Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit bislang selbstverständlich (Quindeau 2012). Man kann jedoch erkennen, dass Dichotomie eine bewachte Grenze ist. Da gibt es Menschen, die auf die andere Seite der Grenze wollen, Männer oder Frauen, jeder in die jeweils andere Richtung. Das einzige, was sie als Grenzdokument vorweisen können, ist die eigene Überzeugung, dass sie das so wollen: »Ich will rüber!« Ahlers erkannte das Geschlecht am normalen Körperbau, also daran, ob Penis oder Scheide, ob Eierstöcke oder Hoden zu erkennen sind. Menschen, die diesen Grenzübertritt versuchen, werden von der Medizin als pathologisch und wegen der Störung der Geschlechtsidentität13 als geschlechtsdysphorisch14, 15, eingestuft und an die Psychiatrie verwiesen. Den Grenzpass dieser Menschen, den eigenen Willen, kann allerdings weder die Psychologie oder die Psychiatrie noch sonst jemand in der Medizin lesen, d.h. es gibt eigentlich keine einzige psychologische oder medizinische Möglichkeit zur Diagnostik. Also errichtet man Grenzbefestigungen: mehrjährige psychologische Gutachterbeobachtung, zahlreiche bürokratische Schwierigkeiten, einen anderen Vornamen zu wählen. Operationen und daraus resultierende Unfruchtbarkeit wurden zur Pflicht gemacht.16 Doch das deutsche Bundesverfassungsgericht sah das anders und hat nach

10 | In den medizinischen Klassifikationen wird Transsexualität folgendermaßen aufgeführt: in der ICD 10, F64. Für Jugendliche zur Zeit der Pubertät auch F66. Im SOC-Vl der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Associaton (Standards of Care for Gender Identity Disorders. Sixth Version, 2001). Im DSM-lV (Diagnostic and statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association, 1994, ed. 4). Die neue Version DSM-V ist in Vorbereitung für 2013. Möglicherweise erreichen Organisationen von Trans‘-Personen die komplette Streichung der Gender Identity Disorders (GID) aus DSM und ICD. Dabei war der Terminus ›Störung der Geschlechtsidentität‹ erst in der Version DSM-IV eingeführt worden und hatte den Begriff ›Transsexualismus‹ ersetzt. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (veröffentlicht bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften/AWMF) gehen konform mit den Aussagen der ICD 10. Für Erwachsene liegen noch keine deutschen Leitlinien vor. 11 | Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz - TSG). Bundesgesetz, 10.9.1980. Das TSG betrifft nicht intersexuelle Menschen. 12 | Ahlers vertrat am 12.9.2006 im Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen des Senats von Berlin die Ansicht der Charité Berlin, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin. 13 | ICD 10: F64. 14 | Schweizer und Richter-Appelt benutzen diesen Ausdruck auch bei intersexuellen Menschen. Schweizer, K. Identitätsbildung und Varianten der Geschlechtsidentität, S. 459-484. Richter-Appelt. Psychologische und psychotherapeutische Interventionen: S. 357-361. Beide in: Schweizer/Richter-Appelt (Hg.) (2012): Intersexualität kontrovers. Gießen: Psychosozial. 15 | Richter-Appelt (2012b) sieht auch durch ihre Forschungen bei vielen Personen mit Intersexualität eine Unsicherheit bei der Geschlechtsidentität. 16 | Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz, TSG, §8).

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und nach die Grenzöffnung erleichtert.17 »Pädagogische Maßnahmen zur Umerziehung sind unsinnig«, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch (2012), dem es wichtig ist, dass man sich vom Pathologiekonzept distanziert. Es gibt also Menschen, die wollen rüber, ganz rüber. Andere wollen es nur zeitweilig. Eines ist dabei klar geworden: an der Grenze gibt es Leben. Es sind nicht viele, aber es gibt Menschen auf der Grenze. Es ist kein Niemandsland.

Und wo sind denn nun die intersexuellen Menschen? Erfahrungen des Autors Fast drei Jahrzehnte lang war ich als Arzt an einem großen Krankenhaus in Berlin tätig und hauptsächlich mit der Betreuung von Neugeborenen beschäftigt. Im Zuge dieser Arbeit begegnete ich bei Erstuntersuchungen Neugeborenen, deren Genitale nicht der medizinischen Norm entsprachen. Als ich begann, nach dem Schicksal dieser Menschen zu fragen, bekam ich keine Auskunft. Mir wurde erst später klar, dass genau das zum medizinischen System gehört. Diese Menschen – wir haben es uns jetzt angewöhnt von intersexuellen Menschen zu reden – hatten ein Genital, welches als atypisch, als Makel, als ein Gebrechen behandelt wurde. Die Medizin, vor allem die Chirurgie, bot an, diesen sogenannten Makel durch Operationen an ein als normal bestimmtes Genital äußerlich anzugleichen.18, 19 Durch handwerkliches Unvermögen – »es ist einfacher ein Loch zu graben, statt einen Pfahl zu errichten« (Diamond 2008) – wurden zu fast 80-90 % oberflächlich weiblich aussehende Genitalien hergestellt. Die Eltern durften darüber mit niemandem sprechen, keinem etwas erzählen, nicht der Verwandtschaft, nicht mal dem eigenen Kind, der Nachbarschaft erst recht nicht. Die beteiligten Mediziner_innen hatten sich selbst eine Falle gestellt: Durch das Schweige-Tabu haben sich die Endokrinolog_innen und Chirurg_innen eigentlich aus der Wissenschaft verabschiedet. Denn zur Wissenschaft gehört unabdingbar Transparenz und kritische Auswertung der eigenen Ergebnisse. Deshalb besteht bis in die neueste Zeit ein Mangel an kontrollierten

17 | BVerfG: 2 BvR 1833/95 vom 15.08.1996 (Anrede transsexueller Personen nach Namensänderung). 1 BvL 3/03 vom 06.12.2005 (Namensrecht und sexuelle Selbstbestimmung). – 1 BvL 1/04 und 12/04 vom 18.7.2006 (TSG und ausländische Transsexuelle). – 1 BvL 10/05 vom 27.5.2008 (Transsexuelle dürfen nach Geschlechtsumwandlung verheiratet bleiben). – 1 BvR 3295/07 vom 11.01.2011 (Lebenspartnerschaft ohne die äußeren Geschlechtsmerkmale verändernde Operationen). 18 | Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) (2010): Leitlinien: »Störungen der Geschlechtsentwicklung«. In: AWMF online – Leitlinien-Register Nr. 027/022. URL: http://www.awmf.org/ leitlinien/detail/ll/027-022.html [01.08.2013]. 19 | So schreibt Dr. Dagmar l’ Allemand in der Schweizer Zeitschrift »Beobachter« 20, 2012, S. 25, über genitale Operationen bei einem Mädchen: »Warum soll man das Geschlecht nicht sofort festlegen und dieses Kind stattdessen mit einer Uneindeutigkeit aufwachsen lassen? Warum soll man es nicht gleich so machen, dass alle – auch die Eltern – nicht täglich daran erinnert werden, dass es ein Gebrechen hat?«

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evidenzbasierten Ergebnissen20, d.h. bewiesenen Ergebnissen (Clayton u.a. 2002; Creighton/Minto 2001; Creighton 2004; Crouch u.a. 2008; Hughes u.a. 2006; Lee u.a. 2006; Pagon 2010; Speiser u.a. 2010; Stein u.a. 2005). Dies ist auch ein Verstoß gegen die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes. Dort wird verlangt, dass selbst die besten gängigen Maßnahmen fortwährend durch Evidenz geprüft werden müssen.21 In manchen Lehrbüchern der Psychiatrie und der somatischen Medizin kennt man für die Einteilung von Männern und Frauen nur das Prinzip: rechts oder links. Man liest dichotom, das ist griechisch und bedeutet: auseinander, zerschneiden. Dann ist nichts dazwischen. Andere reden von binär, das meint ja oder nein, im Sinne der modernen Wissenschaftssprache: in nur zwei Zuständen auftretend, von lateinisch binarius, zweifach. Auch dann ist nichts dazwischen. Genau das ist den intersexuellen Menschen widerfahren: Dichotomie – sie sind zerschnitten worden. Damit die Kinder sich nicht daran erinnern, führte man die Operationen möglichst im frühen Kindesalter durch (Eckhold 2008). In den Foren der Betroffenen kann man lesen, dass sie sich selbst eher als Monster, als Freaks sehen.22 Diplomatisch verschleiernd spricht man von Makel. Zunächst hat man diesen mit intergeschlechtlichen Kindern in Verbindung gebracht, weil ihr Genital nicht dem sogenannten normalen Aussehen entsprach. Später sahen sie sich selbst als Opfer einer Genitalverstümmelung. Heute schreiben sie über ihre Gefühle, Wut und Hass, noch Jahrzehnte nach den Operationen. Viele leiden unter schweren psychischen Traumata. Schweizer und Richter-Appelt (2009) sprechen von einer hohen psychischen Belastung und fordern, auf die psychologischen Bedürfnisse der von den Operationen Betroffenen einzugehen. Am Beispiel der Intersexualität werden die Konsequenzen, man möchte es Irrsinn nennen, dieser Konstruktion – der Konstruktion von ja oder nein – deutlich. Einerseits wird definiert, dass es nichts zwischen ja oder nein gibt. Andererseits wird Personen, die ihre eigene Geschlechtsidentität, von niemandem angezweifelt, in der Mitte finden, die von ihnen selbst gewünschte Eintragung im Geburtenregister als Zwitter verweigert. Sie werden willkürlich und zwangsweise einer Seite als männlich oder, wegen der einfacheren chirurgischen Technik, meist als

20 | Evidenz bedeutet Hinweis, Indiz. In der Medizin wird es im Sinne von Beweis benutzt. Es gibt im Sinne der Evidenzbasierten Medizin (EbM) verschiedene Beweisstufen: »Level 1: Es gibt ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Überblicksarbeiten über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien. Level 2: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten, kontrollierten Studie. Level 3: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenzuweisung. Level 4a: Es gibt Nachweis für die Wirksamkeit aus klinischen Berichten. Level 4b: Stellt die Meinung respektierter Experten dar, basierend auf klinischen Erfahrungswerten bzw. Berichten von Experten-Komitees«. Text nach Wikipedia, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasierte_Medizin [01.08.2013]. 21 | Weltärztebund (WMA), Version 2008: A7, B 18. URL: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/ DeklHelsinki2008.pdf [01.08.2013]. 22 | Sehr häufige Erwähnung von Betroffenen. URL: http://zwitterforum.ath.cx/index.php [02.10.2011].

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weiblich zugeordnet.23 Das kann dazu führen, dass das Geschlecht im Geburtenregister kontrafaktisch, d.h. falsch, eingetragen wird. In sogenannten westlichen Gesellschaften herrscht ein starker Erwartungsdruck vor, sich entweder für männlich oder für weiblich zu entscheiden. Vermutlich haben die allermeisten Menschen keinen Zweifel an ihrer eigenen Zuordnung. Die Eltern eines intersexuellen Kindes können ein Erziehungsgeschlecht für das Kind wählen, also männlich oder weiblich. Sie können auch das Kinderzimmer rosa oder blau anstreichen. Aber danach sollten sie geduldig abwarten, wie das Kind selbst, später, für sich entscheidet. Aber all das kann nicht als Beweis angesehen werden, dass das dichotome oder binäre Modell sich auch wissenschaftlich/rationell begründen lässt. Dieses dichotome, binäre Gedankenmodell des ja oder nein wird bei einem Blick in die Wissenschaftsgeschichte erklärt und in der soziokulturellen Wissenschaft in unterschiedlicher und zum Teil in widersprüchlicher Weise beschrieben.24, 25 Ich möchte dagegen eine andere Ansicht anbieten. Beim Blick an andere Stellen der biologischen und medizinischen Literatur gibt es Beschreibungen zum Menschen, die zu einem anderen, nicht-binären Geschlechtermodell passen: Es gibt Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus vielen inneren Wesensmerkmalen zusammensetzt, die auf einer Spannbreite zwischen den beiden polaren Idealen männlich und weiblich liegen sollen. Für Fegert u.a. ist das Geschlechtsrollenverhalten statistisch-deskriptiver Natur und ergibt sich nur im Geschlechtergruppenvergleich (Fegert u.a. 2012). An keiner Stelle wird behauptet, dass irgendeine Eigenschaft, z.B. mathematische Qualität, nur bei einem einzigen (männlichen) Geschlecht und nicht auch beim anderen (weiblichen) Geschlecht vorkommt. Medizinische Lehrbücher beschreiben, dass typisch männliche und weibliche Hormone bei beiden Geschlechtern vorkommen sollen (Fine 2010; Hines 2004; Lautenbacher u.a. 2007; Pfaff 2011; Pinker 2008). Jeder Mensch vereinigt in sich Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nach einigen Ansichten möglicherweise männlichem oder weiblichem Wesen entwicklungsgeschichtlich, biologisch zugeschrieben werden oder nach anderen Ansichten nur durch kulturelle Einflüsse in sie hinein interpretiert

23 | Netzwerk Intersexualität: Erste Ergebnisse der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störung der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität. 2008: »bis vor ca. 15-20 Jahren (gab es) sehr viel mehr Kinder mit uneindeutigen äußeren Geschlechtsorganen, (die) ohne weitergehende Diagnostik als Mädchen erzogen worden sind«, S. 13. URL: http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de [03.05.2011]. 24 | Honegger, C. (1991): Die Ordnung der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Campus. Laqueur, T. (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a.M.: Campus. Maihofer, A. (1995): Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt a.M.: Ulrike Helmer. 25 | »Die Trennung zwischen [...] sex und Gender [...] ist in der feministischen Theorie gebräuchlich «. [...] » wird mit der Trennung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht darauf insistiert, dass zwischen beiden kein kausaler Zusammenhang besteht.« Maihofer, A. (1995): Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt a.M.: Ulrike Helmer, S. 19.

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werden. Der jeweiligen Interpretation sollte man mit Skepsis begegnen und weitere wissenschaftliche Ergebnisse abwarten. Dabei würden sogenannte Frauen mehrheitlich zu weiblichen und sogenannte Männer mehr zu männlichen Attributen neigen. So werden belegte geschlechtstypische Unterschiede angegeben.26, 27 Durch die Erziehung in bestimmten Geschlechterrollen kann diese Entwicklung im Sinne von Anlage versus Umwelt28 variiert werden (Fausto-Sterling 2012). Jedoch haben wir es mit Individuen zu tun, sodass Rollenklischees, also dichotomes Denken ihnen bzw. ihrer individuellen Komplexität und interindividuellen Diversität nicht gerecht werden. Wenn man aus Messwerten, z.B. von Testosteron oder Östrogen, sowie von Empathie, Sprachfähigkeit, räumlichem Vorstellungsvermögen und vielen anderen Eigenschaften, Verteilungskurven bei Männern sowie Frauen zeichnet, so erhält man Kurven, die sich mehr oder weniger stark überlappen. Man kann es auch anders formulieren: die Geschlechtsidentität eines jeden Menschen setzt sich aus einer Reihe von Eigenschaften zusammen, die vom Prinzip viel oder wenig bestimmt wird. Zum Beispiel wird eine große Variation in Körperform und -größe, wie sie für Männer und Frauen charakteristisch zu sein scheint, zu denen deutliche Überlappungen gehören, von unserer Kultur anerkannt. Deshalb verweisen einige Autor_innen auf die Entwicklungsbiologie und sehen, dass der Glaube an einen absoluten Dimorphismus falsch ist. Die Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine (2012) betrachtet die zahlreichen Eigenschaften, die in unterschiedlicher Weise Männern und Frauen mehr oder weniger zugeschrieben werden. Sie sieht die Ansichten anderer Autor_innen als Vorurteile und Geschlechtermärchen, in denen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen fantasievoll geschildert werden. Viele Unterschiede, die man früher für unumstößlich hielt, sind heute verschwunden. Im Endeffekt erkennt sie keinen bewiesenen biologisch begründeten Unterschied im Verhalten der beiden Geschlechter. Für die Beschreibung des Dualismus Mann-Frau möchte ich das polare Modell wählen. Dieses Modell beschreibt ein Kontinuum mit zwei Enden, leitet sich aus dem Griechischen polos ab und bedeutet Achse. Gemeint ist das Kontinuum zwischen den beiden Polen. Es ist also immer etwas dazwischen.29 In diesem Modell wird sich, wie bei der Erde mit den beiden Polen, jedes Individuum irgendwo 26 | Räumliche Wahrnehmungsfähigkeit. Aggressivität bei Männern. In Gruppenkoordinationstests unterscheiden sich Männer und Frauen. In Verbalisationstests sind Frauen besser als Männer. Unterschiede werden auch bei der sexuellen Orientierung angegeben. Fegert, J. M. u.a. (2012): Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin/Heidelberg: Springer, S.747. 27 | Lautenbacher, S. u.a. (2007): Gehirn und Geschlecht. Neurowissenschaft des kleinen Unterschieds zwischen Mann und Frau. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 65. 28 | Engl.: Nature versus Nurture. 29 | Anders als in meiner Vorstellung werden in der soziokulturellen Literatur die Begriffe dichotom, binär, polar und bipolar sehr oft synonym verwendet.

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wiederfinden: Jeder Mensch, nicht nur intersexuelle Menschen, irgendwo auf einem Kontinuum, auf einem weit gestreuten Spektrum zwischen den Polen. Dieses Wissen ist für unseren Umgang miteinander wichtig: das Wissen um die Variabilität von Geschlecht. Ich denke hier auch an den Begriff der Inklusion.30 Dieser Begriff zeigt uns, dass Verschiedenheit völlig normal ist. Intersexuelle Menschen sind nicht die einzigen Menschen, die zeigen, dass Verschiedenheit völlig normal ist. Milton Diamond (2008a) spricht von Spielarten des Lebens. Susan Pinker (2008) wendet diese positive Sicht auch auf das Spannungsverhältnis von sogenannten normalen Männern und Frauen an und sagt, dass es doch ein Vorteil sei, wenn es nicht nur Extreme gibt. Eine breite Vielfalt im sozialen Verhalten und in der biologischen Konstitution bei Männern und Frauen sollte mit Optimismus betrachtet werden. Das ist eine Bereicherung der Vielfalt menschlichen Lebens. Warum sich der Dualismus männlich/weiblich in der Evolution in den Betrachtungen der Gegenwart durchgesetzt hat, wird noch lange zu diskutieren sein.31 Ich sehe dabei eine Erklärung im Prinzip viel oder wenig. Auf die soziokulturelle Literatur über Genderidentität und Genderrolle möchte ich hier nicht eingehen. Sie unterscheidet sich durchaus vom medizinisch-psychiatrischen Definitionssystem. Einzig Judith Butler (1995, 2003, 2009) möchte ich erwähnen. Mit der Kritik an der überkommenen dichotomen, binären Sicht erkennt sie Probleme an der Geschlechter-Grenze und den folgenden Gender Trouble. Überläufer_innen und Grenzbewohner_innen, das kennt man aus dem realen Leben vielerorts, brauchen auch Grenzbewachung, Barrieren usw. Ohne Grenze, ohne binäre/dichotome Trennung käme es zu Vermischungen, zu Uneindeutigkeiten und Unbestimmtheiten sowie zu nicht kontrollierbaren Beziehungen in einer Gesellschaft, die den Geschlechtsdimorphismus verteidigen will. Diamond (2008b) fasst diesen Gedanken folgendermaßen: »Die Biologie liebt Variationen, aber die Gesellschaft hasst sie.« Immer ist zu fragen: Wie finden sich Einzelne zurecht im Zwiespalt der eigenen Entscheidung und den sozialen Zwängen einer oftmals intoleranten Umwelt? In diesem Sinn existiert eine psychische und biologische Vielfalt von intersexuellen Menschen und gibt es verschiedene Ausdrucksformen von Darstellungen des Geschlechts, die sich einer strengen, rigiden Kontrolle entziehen und aufgrund des Eingriffes in ihre Menschen- und Kinderrechte durch Dritte, Gegenstand einer Antidiskriminierungsstelle sein sollten, die gegen Phobien und Intoleranz klagen.

30 | Zeitschrift: Frühe Kindheit, Kindheit, 2, 2010: Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung. 31 | EMBL (2010): The Difference between the Sexes: From Biology to Behavior. Conference in Heidelberg. URL: http://www.embl.de/training/events/2010/SNS10-01 [02.08.2012]. EMBL (2012): Biodiversity in the Balance: Causes and Consequences. Conference in Heidelberg. URL: http://www.embl.de/training/events/2010/ SNS10-01 [02.08.2013].

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Beispiele praktischer Auswirkungen eines solchen medizinischen Vorgehens Das langjährige medizinische Vorgehen hat zu zwei Auswirkungen geführt, die die Praxis erheblich beeinflussen und im Alltag zu spüren sind. Das tabuisierende Verschweigen der intersexuellen Menschen, das zum Behandlungs-System der Ärzt_innen gehörte, versteckt in der Öffentlichkeit die Information über dieses Phänomen, sodass in der öffentlichen Wahrnehmung große Wissenslücken zu erkennen sind. Es lässt aber auch die Mediziner_innen selbst häufig in Unkenntnis über das spätere Schicksal dieser Menschen. In zahlreichen Consensus Statements und Reviews wurde deutlich registriert, dass ein ganz klarer Mangel an Nachuntersuchungen besteht (Clayton u.a. 2002; Creighton/Minto 2001; Creighton 2004; Crouch u.a. 2008; Hughes u.a. 2006; Lee u.a. 2006; Pagon 2010; Speiser u.a. 2010; Stein u.a. 2005). Es fehlt an bewiesenen, also evidenzbasierten32 kontrollierten Studien, die auf einer höheren Evidenzstufe basieren. Zurzeit liegen lediglich Ansichten von Expert_innen-Komitees vor, was dem unterstem Evidenz-Niveau entspricht, da es sich um subjektive fallbezogene Einschätzungen handelt. Außerdem gibt es beispielsweise keine Daten, die die sexualpsychologische Gesundheit von Mädchen und Frauen, die einer frühen (im ersten Lebensjahr) oder die einer späten Chirurgie (bei Adoleszenten oder Erwachsenen) unterzogen wurden, vergleichen (Speiser u.a. 2010). Kaum jemand im Alltag kennt intersexuelle Menschen, sie verbergen sich in der Regel, um sich einer pathologischen Bewertung, die von der Medizin ausgeht, zu entziehen. Zehnder und Streuli (2012) gehen vom Begriff ›Stigma‹ aus und beschreiben, dass sich intersexuelle Menschen an die Normalität anpassen und ihr Anderssein kaschieren. Alle Zahlen sind jedoch nur eine grobe Schätzung. Der einzige Versuch zu einer sehr aufwendigen Zählung von 2000 bis 2002 durch die ESPED33 war nicht erfolgreich, nur 21 % der vielen beteiligten Kliniken aus Deutschland haben geantwortet (Thyen u.a. 2006). Eine Angabe (Hughes u.a. 2006), die auf eine ältere Kalkulation einer Selbsthilfegruppe (ISNA)34 zurückgeht, nennt grob geschätzt 1 auf 4.500 Geburten (Kleinemeier/Jürgensen 2008). Bei ca. 680.000 Geburten für 2008 kann man daraus eine Anzahl von ca. 340 intersexuellen Menschen ableiten. Das sind viele Menschen, möglicherweise kommt man sogar auf einen intersexuellen Mensch auf 1.000 Geburten, je nach dem welche Varianten nicht erfasst wurden. Voß (2010) beschreibt eine Vielzahl von genetisch bedingten Änderungen im hormonellen oder anatomischen Bauplan. Hier taucht wieder eine Grenze auf, nämlich die grundsätzliche Frage: 32 | Evidenzbasierte Medizin (EbM): vgl. Fußnote 28. 33 | Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland. 34 | Kalkulation einzelner Varianten bei: Intersex Society of North America. URL: http:// www.isna.org/faq/ frequency [01.08.2013].

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Welche Varianten nimmt man hinzu und welche lässt man aus. Wenn man die Hypospadien35 hinzunimmt, sind es deutlich mehr: grob geschätzt betrifft es einen Jungen auf einige hundert Geburten.36 Eine andere Angabe kalkuliert nach einer ausführlichen Literaturübersicht bei 2 % der Geburten eine Abweichung von den idealtypischen männlichen oder weiblichen körperlichen Geschlechtsmerkmalen und kommt wahrscheinlich auf ein bis zwei Fälle mit genitaler Chirurgie, einschließlich Hypospadie, auf 1.000 Geburten pro Jahr (Blackless u.a. 2000). Anzumerken ist, dass bei ca. der Hälfte aller intersexuellen Neugeborenen das Genital eben nicht auffällig erscheint, die intersexuelle Diagnose noch nicht erkennbar ist (Thyen u.a. 2006), sondern erst Jahre später, z.B. in und nach der Pubertät. Bei der Hälfte der intersexuellen Menschen mit 46,XY-DSD bleibt die biologische und pathophysiologische Ursache offen (Hughes u.a. 2006).

Gibt es Lösungsansätze? Bis vor kurzem lautete eine von verschiedenen Forderungen an die gesetzgebenden Politiker_innen: Möglichst die Streichung des Geschlechtseintrages im Melderegister in jedem Alter. Oder wenigstens: auf jeden Fall die Streichung des Geschlechtseintrages im Geburtenregister für alle Kinder bis zum 18. Lebensjahr (oder bis zur Eheschließung) (Woweries 2011a). Im Geburtenbuch, nicht im Register, ist es seit 2009 möglich, auf den Geschlechtseintrag zu verzichten.37, 38 Erst danach, also nur im Erwachsenenalter, wird die Einführung einer weiteren Bezeichnung neben ›weiblich‹ und ›männlich‹, z.B. ›anderes‹ wie es der Deutsche Ethikrat vorgeschlagen hat (aber nicht: kein Geschlecht, denn jeder intersexuelle Mensch hat ein Geschlecht: sein eigenes) befürwortet, immer ohne jeden Zwang und ohne Gerichtsverfahren. Geschlechtsbestimmungen oder Geschlechtszuweisungen durch medizinische Gutachter_innen sollten auf jeden Fall gesetzlich untersagt werden. Nur die Betroffenen können sich dazu äußern.

35 | Bei der Hypospadie mündet die Harnröhre nicht an der Spitze des Penis, sondern an der Unterseite des Penis, am Hodensack oder im Bereich des Dammes. 36 | Z.B bei 1:125 bis 1:300 lebendgeborene Jungen. URL: http://www.hypospadie.com/index.html?menu=2 [01.08.2013] oder 1 bis 8 auf 1.000 Geburten. URL: http://www.urologielehrbuch.de/hypospadie.html [01.08.2013]. Das Hypospadie Zentrum Wien gibt 0,3 bis 3,8 pro 1.000 Geburten an URL: http://www. hypospadie.info/3.html [01.08.2013], wobei es große regionale Unterschiede gibt, u.a. durch Einwirkungen von Dioxinen, PCP, Furanen, organochlorierten Pestiziden (Pflanzenschutzmittel und Insektenvernichtungsmittel), Phyto-Östrogenen und anderen Substanzen. 37 | § 59 Geburtsurkunde: »(1) In die Geburtsurkunde werden aufgenommen 1. die Vornamen und der Geburtsname des Kindes, 2. das Geschlecht des Kindes, [...]. (2) Auf Verlangen werden in die Geburtsurkunde Angaben nach Absatz 1 Nr. 2, 4 und 5 nicht aufgenommen«. Die Vorlage einer beglaubigten Abschrift aus dem Geburtsregister muss jedoch bei der Eheschließung, zur Einschulung und bei zahlreichen Sozialleistungen vorgelegt werden. 38 | Da die Bezeichnung ›Geschlecht‹ eigentlich falsch ist, müsste es ›eingetragener Personenstand‹ heißen.

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Jörg Woweries

In der Vergangenheit haben sich nur sehr wenige intersexuelle Menschen öffentlich zu einem Leben zwischen den bislang gängigen Geschlechtern bekannt. Sie offenbarten sich, um auf die Situation intersexueller Menschen aufmerksam zu machen. Eltern sind sehr irritiert, oft sogar psychisch schwer belastet, wenn ihnen gesagt wird, dass das Geschlecht ihres Kindes nicht eindeutig zu bestimmen ist (Richter-Appelt/Schimmelmann/Tiefensee 2004). Sie werden sehr leicht von den zur Operation neigenden Ärzt_innen dazu gedrängt oder von anderen überredet, sich für eine Operation des Kindes zu entscheiden. Der Zeitpunkt der Operationen liegt im Regelfall bei zwei bis zwölf Lebensmonaten. Ein neugeborenes Kind sollte aber nicht, provoziert durch die Anwesenheit der Medizin, unter Kategorien wie normal oder nicht normal sowie Glück oder Unglück eingestuft werden (Woweries 2011b). Diamond wies als einer der ersten auf ein anderes Vorgehen hin, nämlich auf den Verzicht von chirurgischen Maßnahmen bei intersexuellen Kindern (Diamond/Sigmundson 2009 [1997]). Am 31.1.2013 hat der Bundestag den §22 (3) des Personenstandsgesetz (PStG) neu beschlossen.39 Jetzt muss bei Kindern mit nicht eindeutigem Genital weder weiblich noch männlich eingetragen werden, sie werden im Geburtsregister als Kinder ohne Eintrag neben den Jungen und Mädchen geführt. Dies ist eine völlig neue Situation. Auf der einen Seite ist anzuerkennen, dass die Existenz intersexueller Menschen auch rechtlich anerkannt wird. Auf der anderen Seite ist zu erwarten, dass Eltern eines neugeborenen intersexuellen Kindes sich möglicherweiser gegen diese Eintragung sträuben werden.40 Die neue Regelung des §22 (3) PStG darf vor allem nicht den Wunsch einer kosmetischen Operation aufkommen lassen (Woweries 2011a). Es bedarf intensiver Aufklärung aller Akteur_innen, damit intersexuelle Menschen weder in der Familie, der Nachbarschaft, im Kindergarten und in der Schule diskriminiert werden, was letztendlich zu psychischen Belastungen führen könnte. Im Netzwerk Intersexualität konnte schon für die Vergangenheit eruiert werden, dass in vielen Fällen Diskriminierung vermieden werden konnte. Darüber hinaus waren die meisten Eltern, die über ihr Kind als intersexuelles Kind mit Freund_innen oder in der Nachbarschaft sprachen, waren, keinen Belastungen ausgesetzt. Nur 6 % der intersexuellen Menschen berichteten als heutige Erwachsene über negative

39 | §22 (3) PStG: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen«. 40 | Deutscher Ethikrat, Intersexualität, Stellungnahme, »Experten berichten aus ihrer Praxis, dass nicht wenige Eltern ihr Kind nicht annehmen können, wenn deren Geschlecht offen bleibt.« S. 89.

Wer ist krank? Wer entscheidet es?

Reaktionen, wenn sie von der eigenen Situation sprachen.41 Allerdings wünschen ¾ der Jugendlichen nicht, dass ihre Eltern über ihre Situation sprechen.42 Die meisten Eltern von intersexuellen Kindern werden sich vermutlich für eine Erziehung in der sogenannten Mädchen- oder Jungenrolle entscheiden. Wichtig ist die Empfehlung von Richter-Appelt, dass die Eltern mit dem Kind offen und sehr zuwendungsorientiert reden: über den Alltag und über die später vom Kind selbst zu entscheidende Geschlechtsidentität – das ist für die sich entwickelnde Geschlechtsidentität sehr wichtig (Richter-Appelt 2012b). Es wäre zu wünschen und zu fordern, dass beim §22 (3) PStG eine Wahlfreiheit durch Ausführungsvorschriften in neuen §§ der PStVerordnung erreicht werden könnte. Es sollte nicht schon nach der Geburt eine bleibende Eintragung werden, denn diese neue Regelung führt zu einem nicht vom Kind ausgehenden Outing (Zwangs-Outing) im Alltag. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass allein die betroffenen Personen selbst über ihre Geschlechtsidentität entscheiden können. Auch ein schwellenarmer Wechsel muss möglich sein, weil sich bei einigen intersexuellen Kindern erst in oder nach der Pubertät eine andere Situation zeigt. Bei etwa der Hälfte aller intersexuellen Neugeborenen (Thyen u.a. 2006) ist erst zur Zeit der Pubertät oder später zu erkennen, dass eine intersexuelle Variation vorliegt. Es ist weiterhin wichtig, dass gesundheitliche Selbsthilfegruppen und unabhängige psychologische Beratungen verbindlich hinzukommen und finanziert werden. In den ethischen Richtlinien und Grundsätzen finden sich mehrere Empfehlungen (Wiesemann 2008), unter anderem: »Eine ausschließlich an biologischen oder morphologischen Fakten orientierte Kategorisierung des Geschlechts wird der Individualität und Subjektivität des Einzelnen sowie der Abhängigkeit der geschlechtlichen Identität von sozialen und psychischen Faktoren nicht gerecht.« Jeder Mensch hat seinen eigenen Körper. Jeder Mensch hat seine eigene Geschlechtsidentität. Jeder Mensch sollte selbst darüber entscheiden dürfen! Aufgezwungene, dichotome Konzepte, Normen für Körper und Kopf, schränken Menschenrechte ein.

41 | Kleinemeier, E., Jürgensen, M. (2008): Erste Ergebnisse der klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklungen. S. 34. URL: http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de. [03.05.2011]. 42 | Ebd, S. 35.

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Wer ist krank? Wer entscheidet es?

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Wer ist krank? Wer entscheidet es?

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Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen Tanguy Trillet

Mit diesem Beitrag wird die Darbietung des Künstlers Tanguy Trillet wiedergegeben und mit ausgewähltem Bildmaterial unterlegt. Die Bilder wurden von Michel Burmat aufgenommen. Guten Tag, ich fühle mich sehr geschmeichelt, an diesem Morgen das Wort ergreifen zu dürfen. Vor Ihnen. Nun ja, ein wenig aufgeregt bin ich schon auch. Aber gut! Ich denke, der Kaffee, den ich heute Morgen getrunken habe, wird mich schon auf Trab bringen. Dazu einen guten Schuss Selbstvertrauen und ich kann meine Sichtweise auf Geschlecht mit Ihnen teilen. Eine sehr bescheidene Sichtweise, wohlgemerkt! Ich habe nicht die Expert_innenperspektive, die einige der hier Anwesenden vertreten. Meine Überlegungen entspringen vielmehr einer experimentellen Suche. Einer persönlichen und empirischen Analyse. Ich hoffe, dass Sie sich daran nicht stören und Nachsicht gegenüber der Spontaneität meiner Überlegungen üben werden ... So! Ich glaube, das Koffein beginnt zu wirken. Los geht’s! Zunächst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Tanguy. Tanguy Trillet. In meinem Leben spiele ich den Schauspieler. Ich bin Komödiant. Ja, das kommt vor! Als Schauspieler arbeite ich mit dem Verein für politische Bildung »Impulsions Femmes« zusammen, der seinen Sitz im französischen

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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Tanguy Trillet

Niort hat. Niort im Land der zwei Sèvres, dem Luxemburg wirklich in nichts nachsteht! Mit unserem Verein möchten wir gesellschaftliche und familiäre Normen sowie Sozialisierungsformen hinterfragen und wir setzen uns mit der Reproduktion von Verhaltensweisen, mit Sexualitäten, der geschlechtlichen Organisation unserer Gesellschaft und entsprechenden Handlungsmustern auseinander. Unser Medium ist die Kultur. Unser Ziel: Dass alle Menschen die Möglichkeit haben, sich in jedem Alter bewusst weiterzuentwickeln.

Vor etwa einem Jahr dann die Begegnung mit Dr. Erik Schneider. Erik Schneider, der heute hier anwesend ist. Erik. Erik. Huhu, Erik! Vor etwa einem Jahr trafen wir also Erik. Dies geschah während einer vom Institut Émilie du Châtelet in Paris organisierten Konferenz. Hallo Émilie, wenn Du gerade zuhörst. Während eines Gesprächs über meine Tätigkeit hatte Erik die Idee, dass ich bei dem heutigen Kolloquium einen Beitrag leisten könnte. Erik wollte einen gänzlich neuen Ansatz des Konzeptes Geschlecht wagen. Die Gäste sollten direkt mit dem »Unbehagen der Geschlechter« konfrontiert werden. Judith, das ging an Dich. Und an all die anderen Denker_innen der Moderne. Ja, Sie. Sie, die Sie an weisen Worten feilen, die uns’re wehen Wunden heilen! Ihre Worte auf unseren Wunden. Welch wohltuende Worte, welch wirksame Weisheit, welch wertvolle Wonne … Wo waren wir? Jedenfalls Sie, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, die Geschlecht aufwirft: Mit wem habe ich zu tun?

Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen

Ist er er? Ist sie sie? Ist er er oder sie? Ist sie sie oder er? Ist sie er oder sie? Wo ist er sie oder er? Ist er oder ist sie sie oder er? Wo ist sie oder er, er oder sie? Wo ist er oder sie er oder sie? Wo ist sie/er er oder sie? Wo ist si_er si_er? Wo ist si*er si*er? Wo ist si_er si*er? Wo ist si*er si_er? Kurz und gut, ich habe also versucht, diese Fragen zu verkörpern. Durch Performance aufzuzeigen, dass Geschlecht immer performt wird. Und ich spreche von Verkörperung im wörtlichen Sinne. Mein Beruf macht’s möglich. Die Werkzeuge der Transformation zu nutzen, ein anderer Mensch sein zu können, in eine andere Rolle zu schlüpfen. So habe ich die Figur der Marion geschaffen. Marion, die Ihnen gestern oder heute Morgen begegnet ist und nun gerade dabei ist, vor Ihrer aller Augen zu verschwinden. Im Theater ist es keine Seltenheit, dass ein Mann eine Frau spielt. In der Antike wurden im Theater immer Masken und Kostüme getragen. Nur Männer durften das Proskenion, die Vorbühne, betreten. Im elisabethanischen Theater des 17. Jahrhundert, zu dem sich z.B. Shakespeare zuordnen lässt, finden wir diese Besonderheit ebenfalls wieder. Unsere Julia war eigentlich ein Julius!

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Tanguy Trillet

Auch heute noch spielen Männer Frauen, so beispielsweise in einigen stark kodifizierten Theaterformen Asiens wie dem Kabuki oder dem Bunraku. Das war Theatergeschichte in 35 Sekunden ... Aber Vorsicht, verstehen Sie mich nicht falsch!

Eine Rolle zu spielen bedeutet nicht, zu lügen. Im Gegensatz zu vielen Figuren Molières wurden Sie von niemandem hinters Licht geführt. Ich versichere Ihnen, performen bedeutet nicht, zu täuschen. Ganz im Gegenteil, performen bedeutet, eine Wahrheit zu schaffen. Und eine neue Wahrheit zu schaffen bedeutet, gegen die Logik einer Mehrheitsgesellschaft anzukämpfen, die uns in ihre vorgefertigten Kategorien pressen will. So wollte ich mit meiner gestrigen Performance deutlich machen, dass die uns auferlegten Kategorien überwunden werden können und dass diese Überwindung nicht weniger eine Wahrheit darstellt. Wahr sein. Ehrlich sein. Das lernen wir im Theater! Ehrlich zu sein in unserer Rolle. Das lernen und verfeinern wir während unseres gesamten Werdegangs. Am Ende wird es zum Kinderspiel. Von einer Rolle in die andere schlüpfen. Mit den Identitäten spielen. Ein Kinderspiel, aber vielleicht kein Jugendspiel. Die Jugend! Diese Casting-Show, bei der diese, sich im Aufbau befindlichen sozialen Wesen

Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen

gegeneinander antreten. Jugendliche! Diese zukünftigen Stars, die die Konditionierung durch die Institutionen, denen sie begegnen, erleiden. Genau wie Schauspieler_innen, die sich den Mächtigen der Filmindustrie in einer Großproduktion beugen. Der Film, der hier gedreht wird, bietet eine wesentlich reichere Inszenierung der Identitäten zugunsten des vereinfachenden Blockbusters. Erfolg ist jenen sicher, und es ist ein Jammer, die die Entsprechung der Geschlechternormen über ein Happy End und die persönliche Emanzipation stellen.

Geschlecht ist also in erster Linie eine Rolle. Eine Rolle, die Sie selbst füllen müssen. Drehbücher oder Bühnenanweisungen können vielleicht Vorlagen bieten, aber letzten Endes entscheiden Sie. Wir sind unsere eigenen Regisseur_innen. Und es gibt nicht nur eine Rolle. Es gibt so viele! Unser Repertoire umfasst mehr als nur einen Hamlet und eine Ophelia! Rollen und Geschlechter übertreten die binäre, zweigeschlechtliche Repräsentation. Sie begrenzen sich nicht auf weiblich und männlich. Sie bieten so viele andere Möglichkeiten. Was hat meine Transformation nun bewirkt? Das ist die Schlüsselfrage! Wohin hat mich die Verkörperung der Marion gebracht? Nun, ich gebe es zu, nicht sonderlich weit! Sicher war der körperliche Lernprozess zur Darstellung einer weiblichen Figur für mich sehr faszinierend. Die konkrete Umsetzung wiederum gestaltete sich komplexer. Nicht, weil ich mich in dieser Rolle unwohl gefühlt hätte. Nein. Selbst dies war für mich ziemlich angenehm. Aber in meinem Kontakt mit Ihnen war das anders. Ich durfte nicht zu viel darüber sprechen. Nicht zu viel darüber sprechen, um meine wahrhaftige Identität nicht zu enthüllen. Der Kontakt mit Ihnen, so aufrichtig er auch war, war er auch eingeschränkt. So, als konnte ich die Begegnungen nicht bis zum Ende führen. Hinsichtlich Ihrer Reaktionen habe ich gewiss weder Unbehagen verspürt

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noch das Gefühl gehabt, argwöhnischen Blicken ausgesetzt zu sein. Aber das war abzusehen. Wir müssen uns eingestehen, dass mein Beitrag hier bezüglich der Thematik der Transidentität auf einen wohlgesonnenen Boden fällt. Hier sind Sie bestens informiert und in einem wohlwollenden Umfeld. Zum Glück! Aber wie es Howard Becker in seinem Buch »Außenseiter« gesagt hat, kann eine Person gleichzeitig die Normen einer Gruppe wahren und gegen die einer anderen verstoßen. Wir wissen, dass die kognitiven Strukturen der Mehrheitsgesellschaft die gesellschaftliche Welt prägen und dass Transidentität im Allgemeinen als abweichendes Verhalten erachtet wird. Lassen Sie mich also erneut Becker zitieren: »[A]bweichendes Verhalten [ist] keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem Missetäter«. Vergessen wir also nicht, dass Geschlecht auch durch den Blick der Anderen definiert wird. Dieser Blick der Anderen ist im weiteren Sinne der unserer Gesellschaft. Dieser Blick, der das Ich einer Klassifizierung unterwirft. Und ich sage Ich, ich sage Ich, aber gut, das Ich, das sind Wir. Entsprechend den Codes, die wir vollkommen verinnerlicht haben, schaffen wir alle eine Rolle. So Bourdieu! Und diese Anderen, die uns mit urteilsvollem Blick betrachten, das sind auch wir! Das Ich sind wir. Die Anderen sind wir und das Wir ist wir. Das Ichwir, das Andere-wir, das Wir-wir! Abschließend will ich Jean de La Fontaine und eine seiner unzähligen Morallehren zitieren: Die Fabel vom Wald und vom Holzfäller. Ein Holzfäller hatte das Holzstück, welches ihm als Griff für seine Axt diente, beschädigt oder verloren.

Eine ungewöhnliche Art, Geschlecht anzusprechen

Also bat er den Wald, sich vorsichtig einen einzigen Zweig nehmen zu dürfen, um sich daraus einen neuen Griff zu machen. Im Gegenzug versprach er, seinen Brotverdienst anderswo zu suchen. Der Wald, der wohlgemerkt etwas naiv war, gewährte dem Holzfäller seine Bitte. Sobald dies geschehen war, brachte der Peiniger den Griff an sein Eisen an und raubte den Wald aus. Deswegen sage ich: Peiniger_in um Peiniger_in, nehmen wir nichts hin! Rüsten wir uns gegen ihre Sanktionen, wie auch immer diese aussehen. Stärken wir unsere Äste und unser prächtiges Laubwerk und lassen wir unseren Wald der Einzigartigkeit nicht von der Kettensäge der Normativität dahinraffen.

Vielen Dank, salut et liberté!

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Kapitel 3: Biomedizin

Das Geschlecht des Wissens – Sexuierte Anatomie

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Sylvie Deplus

Zusammenfassung Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob der Körper, so wie er in der Anatomie zurzeit in Frankreich gelehrt wird, als ein sexuierter zu betrachten ist. Die Autorin arbeitet als Augenärztin und lehrt an der Universität Paris Diderot – Paris VII allgemeine Anatomie und ist somit zuständig für die Lehre vom Körper und zwar von dem Kopf bis zu den Füßen, eine Konstellation, die so in Frankreich nicht sehr geläufig ist. Der Ausgangspunkt des Artikels ist eine US-amerikanische Studie von Lawrence und Bendixen (1992) »His and Hers: Male and Female Anatomy in Anatomy Texts for U.S. Medical Students, 1890-1989«. Mit dieser Studie wird vor allem die Frage aufgeworfen, welcher Körper als Referenz für die Anatomie gilt, die zurzeit in Frankreich gelehrt wird. Diese aktuelle Lehrsituation wird im zweiten Teil des Beitrages erläutert.2

Ergebnisse der Studie von Lawrence & Bendixen (1992) zur weiblichen und männlichen Anatomie Die Schlussfolgerungen dieses Artikels lassen keinen Zweifel offen: Der menschliche Körper ist männlich. Der weibliche Körper wird über eine Gegenüberstellung entdeckt, welche meist zu seinen Ungunsten ausfällt. Im vorliegenden Text werden die im Medizinstudium in Frankreich üblicherweise verwendeten Standard-Anatomiewerke einer kritischen Analyse unterzogen. Wie vielen Kollegen und den wenigen Kolleginnen der Autorin blieb auch ihr keine Wahl: 1 | Originalfassung in französischer Sprache. 2 | Das Bildmaterial des vorliegenden Beitrags wurde aus abbildungstechnischen Gründen teilweise aus deutschsprachigen Anatomiebüchern ausgewählt, da die Originale der Vortragsversion nicht reproduzierbar waren. Die Neuauswahl ist in Absprache mit der Autorin eng an das ursprüngliche Material angelehnt und unterstreicht die Aussagen des Textes. Darüber hinaus gilt es zu bemerken, dass der Beitrag dem von der Autorin im Rahmen des Kongresses »Geschlechternormativität und Effekte für Kindheit und Adoleszenz« am 28. September 2012 in Luxemburg gehaltenen Vortrags »Das Geschlecht des Wissens« folgt und damit ohne detaillierte Quellenangaben auskommt.

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Sylvie Deplus

Abb. 1: Hierarchisierung der Geschlechter aus: Hier freut sich der Tod, dem Leben zu helfen. Anatomie in Heidelberg gestern und heute. In: Schriften der Universitätsbibliothek Heidelberg, Band 13. Effinger/Kirsch (Hg.) (2013), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 139.

Der Referenzkörper, den sie den angehenden Ärzt_innen vorstellen konnte, war zwangsläufig männlich. Auf einen kurzen historischen Abriss der Modalitäten des Anatomiestudiums folgt im vorliegenden Artikel ein Ausschnitt aus dem verwendeten Lehrmaterial, wobei zunächst die Darstellungen nicht-vergeschlechtlichter Körperteile wie Kopf oder Glieder und anschließend eindeutig vergeschlechtlichter Körperteile wie Brustkorb und Damm behandelt werden. Den Schlussteil dieses von einer neugierigen Anatomin verfassten Artikels bilden einige praktische Anwendungen. In der Studie von Lawrence & Bendixen (1992) wurden insgesamt 31 Werke analysiert . Titel

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Auflage

Gray’s Anatomy

1893

Pick

13.

Morris’s Human Anatomy

1907

Morris u.a.

4.

Quain’s Elements of Anatoy

1908

Schäfer u.a.

11.

Human Anatomy

1923

Piersol

8.

Cunningham’s Textbook of Anatomy

1937

Brash u.a.

7.

A Method of Anatomy

1948

Grant

4.

A Method of Anatomy

1952

Grant

5.

Morris’s Human Anatomy

1953

Schaeffer

11.

Gray’s Anatomy

1954

Goss

26.

Concise Anatomy

1956

Edwards

2.

Anatomy of the Human Body

1959

Lockhart u.a.

1.

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Titel

Erscheinungsjahr

Autor_in

Auflage

Anatomy: A regional Study

1960

Gardner u.a.

1.

Essentials of Human Anatomy

1961

Woodburne

2.

Anatomy: A regional Study

1963

Gardner u.a.

2.

Grant’s Method of Anatomy

1965

Grant, Basmajian

7.

A Textbook of Human Anatomy

1966

Crafts

1.

Reconstructive Anatomy

1968

Arnold

1

Essentials of Human Anatomy

1969

Woodburne

4.

Basic Human Anatomy

1972

Tobin

1.

Synopsis of Gross Anatomy

1972

Christiansen

2.

Clinical Anatomy for Medical Students

1973

Snell

1.

Textbook of Anatomy

1974

Hollinshead

3.

A Textbook of Human Anatomy

1979

Crafts

1.

Clinical Anatomy for Medical Students

1981

Snell

2.

An Introduction for Human Anatomy

1981

Green, Silver

1.

Anatomy as a Basis for Clinical Medicine

1985

Hall-Craggs

1.

Clinical orientated Anatomy

1985

Moore

2.

Essential Anatomy

1987

Lumly u.a.

4.

Clinical Anatomy

1989

Lindner

1.

Tab. 1: Übersicht der von Lawrence & Bendixen verwendeten Werke der Anatomie; Angabe zur Auflage bezieht sich auf diejenige, die im Rahmen der Studie analysiert worden ist.

Die in jedem der Werke ausgewählten Kapitel behandeln Körperteile, welche als relevant für eine geschlechtsbezogene Analyse betrachtet werden, wie den Brustkorb, das Becken oder den Damm. Die Analyse zeigt Folgendes: Das in den Abbildungen dargestellte Geschlecht ist doppelt so oft männlich wie weiblich. Es werden auch nicht-vergeschlechtlichte Figuren abgebildet. 2. Ein Vergleich ergibt, dass die Beschreibungen der männlichen Anatomie mehr als zweimal so umfangreich sind wie die der weiblichen. So umfasst die Beschreibung des dorsalen Penisnervs beispielsweise zehn Zeilen, während dem dorsalen Klitorisnerv zwei Zeilen gewidmet werden. 3. Die Gegenüberstellungen werden stets vom Mann zur Frau angestellt oder die Frau wird in Klammern angeführt. So wird beispielsweise bei der Homologie von Penis und Klitoris oder Hodensack und äußerer Labia auf eine detailliertere Beschreibung der äußeren Labia der Frau verzichtet. Die beiden 1.

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Sylvie Deplus

Körperteile werden somit letztlich als das Gleiche betrachtet. In einer anderen Homologie wird die Frau als ein minderwertiger Mann repräsentiert: »Stellen Sie sich das männliche Perineum längs geteilt vor«. So soll von einem männlichen Körper ausgehend mit »leichten Veränderungen«, der weibliche Damm zu entdecken sein. 4. Die verwendeten Begriffe sind ebenfalls nicht neutral: Die Beschreibungen sind generisch maskulin, die weiblichen Begriffe stehen in Klammern. So steht beispielsweise der Begriff ›Hoden‹ im Fließtext und ›Ovarien‹ in Klammern. Die Adjektive, die gegen Ende der Gegenüberstellungen verwendet werden, beschreiben die Teile der weiblichen Anatomie zwar immer als vergleichbar mit jenen der männlichen, dabei jedoch auch stets als weniger: weniger groß, weniger stark ausgebildet etc. 5. Zudem finden sich nahezu absurde Formulierungen mit vermeintlich geschlechtsneutralen Begriffen: Bei Neugeborenen beispielsweise dehne sich das Bauchfell bis zur Prostata. Beim Bauchfell handelt es sich um eine seröse Haut, welche die Organe innerhalb des Abdomens und des Beckens bedeckt. Es ist offensichtlich, dass sich das Bauchfell der Frau nicht bis zur Prostata ausdehnt. Ein weiteres Beispiel ist das des Leistenkanals, welcher zu den äußeren Geschlechtsorganen führt, und der als das Ergebnis des Hodenabstiegs dargestellt wird. Dies ist in 50 % der Fälle falsch. Dennoch ist es die gängige Definition. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass • • • • •

in den Vergleichen das Männliche wesentlich häufiger auftritt als das Weibliche, diese Schlussfolgerung unabhängig von den Epochen gilt, in den Abbildungen das Verhältnis männlich zu weiblich bei 2:1 liegt, im Text männliche Sprachformen vorherrschen, auch die Darstellung geschlechtsunabhängiger Sachverhalte, wie z.B. Muskeln oder Nervenstränge in männliche Silhouetten eingebettet sind oder mit einem Penis versehen werden.

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Abb. 2a)

Abb. 2: Beispiele aus der Oberflächenanatomie Unterbein (2a) Netter (2004: 467) und der Muskulatur, Vorderansicht (2b) Schadé (1973: 54-56).

Abb. 2b)

Konzepte des männlichen und des weiblichen Körpers in Anatomielehrbüchern Zwei Standard-Modelle beherrschen den wissenschaftlichen Kanon. Auf der einen Seite findet sich bis ins 17. Jahrhundert ein hierarchisiertes, sehr klassisches Modell mit einer im Großen und Ganzen gleichartigen anatomischen und physiologischen Struktur. Allerdings ist der menschliche Körper männlich, die Frau wird als ein unvollkommener, verkümmerter Mann dargestellt. Die Referenz ist der männliche Körper, dies steht nicht einmal zur Diskussion. Die Frau erfährt einen Negativvergleich zum Mann. Diese Vorstellung erscheint absolut natürlich. Die Frau als Mann, dessen Organe im Inneren des Körpers lägen: Die Vagina sei der Penis, der Uterus der Hodensack. Die Klitoris findet keine Erwähnung, da sie keine Funktion habe. Als Erklärung kann hier angeführt werden, dass das Studium der Anatomie in erster Linie an männlichen Körpern vorgenommen wurde und ein stark männerdominiertes Fach war und ist. Auf der anderen Seite ist ab Ende des 17. Jahrhunderts ein differenzierteres Modell

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140

Sylvie Deplus

zu verzeichnen, in dem der weibliche Körper erscheint, auch wenn er hier noch als von andersartiger Essenz dargestellt wird. Aus diesen anatomischen Modellen werden andere Funktionen abgeleitet. Dem männlichen Körper, der an das Gesellschaftsleben, die Kunst und die Wissenschaft angepasst ist, steht der weibliche Körper gegenüber, sanft, empfindsam und dem häuslichen Leben und der Familie angepasst. Das einzige Feld, in dem die Frau lange Zeit den ersten Platz belegt hat, ist die Beckengröße, wobei diese Vorstellung mittlerweile von aktuellen Studien widerlegt ist (Peyre 2012). Diese Überlegungen basieren auf einer von der Autorin durchgeführten Sichtung folgender Lehrbücher der Anatomie, die in Frankreich verwendet werden: Titel

Erscheinungsjahr

Autor_in

Anatomie artistique de l’homme

1973

Barcsay, J.

Anatomie

1979

Gardner, E., Gray, D. J., O’Rahilly, R.

An introduction to human anatomy

1981

Green, J. H., Silver, P. H. S.

Anatomie humaine en fiches

1985

Cabrol, C.

Répertoire illustré d’anatomie humaine

1986

Feineis, H.

Traité d’anatomie artistique

1988

Richter, P.

Anatomie parle mouvement

1989

Calais-Germain, B.

Atlas of Human Cross-Sectionnal Anatomy

1990

Cahill, D. R., Orland, M. J., Reading, C. C.

Anatomie topographique, descriptive et fonctionnelle 1991

Bouchet, A., Cuilleret, J.

Anatomie et physiologie humaine

1993

Marieb, E. N.

Human Anatomy

1994

Rohen, J. W., Yokochi, C.

Atlas anatomique Sandoz : tête et cou, tronc, membres 1994

Sandoz

Anatomie générale

1995

Chevrel, J. P.

Gray’s Anatomy

1995

Gray, H. u.a.

Grand cours d’anatomie artistique

1996

Szunyoghy, A., Feher, G.

Photographic atlas of practical anatomy

1997

Thiel, W.

Atlas en couleur d’anatomie humaine

1998

Abrahams, P. H. u.a.

Petit atlas d’anatomie

1999

Kamina, P.

Nomenclature anatomique illustrée

1999

Delmas, V.

Anatomie humaine

2002

Rouvière, H., Delmas, A.

Surface anatomy

2002

Lumley, J. S. P.

Atlas de neuroscience humaines de Netter

2003

Felten, D.

Biomécanique fonctionnelle. Membres – Tête – Tronc 2005

Dufour, M., Pillu, M.

Atlas de poche d’anatomie

2007

Platzer, W.

Atlas of human anatomy and surgery

2007

Bougery, J. M.

Anatomie générale PCEM 1

2008

Delmas, V.

Tab. 2: Übersicht der von der Autorin untersuchten Lehrbücher.

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Im Folgenden werden nun Beispiele genannt, mit denen die unterschiedliche Sichtweise auf als weiblich oder männlich zugeschriebene Körper verdeutlicht werden kann: Das männliche Becken wird gegenüber dem weiblichen in der Regel als kleiner dargestellt und mit der Gebärfunktion des weiblichen Körpers in Verbindung gebracht. Die Vaskularisation der Organe hingegen wird systematisch anhand des männlichen Körpers erläutert. In einem klassischen, amerikanischen Atlas der Neurowissenschaften von Netter (Felten 2003) wird die Innervation des Beckens durch den hypogastrischen Plexus ebenfalls anhand des männlichen Körpers erläutert, das Becken der Frau wird als Abweichung dargestellt. Die Harnröhre wird erst im männlichen und dann im weiblichen Körper dargestellt. Gleiches gilt für die Harnblase. Wie sehr sich diese geschlechterdiskriminierende bildliche Darstellung auch im sprachlichen Bereich widerspiegelt, sei kurz anhand einiger Beispiele erläutert: Die Bauchhöhle gilt als von ihrem äußeren Umfeld vollständig abgeschirmt, außer beim weiblichen Geschlecht. Tatsächlich befinden sich die Eierstöcke zur Hälfte innerhalb der Bauchhöhle, was insbesondere für bestimmte Erkrankungen wie Eierstockkrebs, der in der Bauchhöhle Metastasen bilden kann, von besonderer Bedeutung ist. Dieses außer ist also fehl am Platz. »In Bezug auf die Keimdrüsen zeigt das Bauchfell ein sehr unterschiedliches Verhalten. Während seiner Wanderung durch den Leistenkanal bleibt der Hoden vom Bauchfell umgeben. Der Prozess, der bei den weiblichen Keimdrüsen beobachtet werden kann, ist gänzlich anders.« Hier ist die Referenz also der Hoden, der tatsächlich wandert, während der Eierstock innerhalb des Rumpfes bleibt und als gänzlich anders bewertet wird. »[...] das Becken, aufgrund seiner Fortpflanzungsfunktion, die ihm zugeschrieben wird, [...]« Welcher Determinismus wird hier dem weiblichen Becken zugeschrieben? Wozu dient das weibliche Becken? Die These, nach der es Gebären von Kindern diene, wird von aktuellen Studien über die Größe des weiblichen Beckens widerlegt. In einem Anatomieatlas mit Abbildungen von anatomischen Querschnitten wird bezüglich eines Sagittalschnittes des weiblichen Beckens festgehalten, »das kleine Becken [beinhalte] die anatomischen Symbole des Lebens und des Todes«. Im Kapitel »Der Damm« eines Atlanten der deskriptiven Topografie von Bouchet und Cuilleret (1991) wird ein männlicher Damm mit der Beschreibung »Region, in der sich die Hodensäcke befinden«, aufgeführt, ohne den weiblichen zu benennen bzw. zu beschreiben. An anderen Stellen wird auf der oberen Seitenhälfte ein männlicher Damm, auf der unteren Hälfte ein weiblicher

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Sylvie Deplus

abgebildet. In der Einführung zum Anatomieatlas (Gray’s Anatomy) heißt es: »Der Damm umfasst die äußeren Geschlechtsorgane und die Austrittsöffnungen des Darms und der Harnröhre«. Das weibliche urogenitale Gebiet wird zuerst dargestellt, während im Text der Penis vor der Klitoris angeführt wird. Oftmals wird der männliche Harnapparat vor dem weiblichen dargestellt. Nur wenige Werke wahren die Gleichstellung von Frauen und Männern mithilfe der Darstellung eines zweigeteilten Dammes, wenn eine Seite den männlichen, die andere den weiblichen zeigt. Auch in bilderreichen Werken, die die vollständige männliche und weibliche Anatomie behandeln, finden sich oftmals nur wenige Abbildungen beispielsweise des weiblichen Dammes oder der weiblichen Brust. Bei Kamina (1999) werden lediglich männliche Körperbehaarungen aufgezeigt. Nach einer Definition aus Le Tronc (Der Rumpf) von J. P. Chevrel u.a. (1995) handelt es sich bei der Brustdrüse und Brust um »den am meisten studierten Körperteil der Frau«. Die Beschreibung beginnt jedoch mit dem Mann und dem Kind, begleitet von adjektivischen Konnotationen bzgl. der Beschreibung der weiblichen Brustformen: »die verschiedenen Brustformen bei der Frau: spitz, konisch, birnenförmig, hängend«. Wozu dienen diese Unterschiede in der Betrachtung und der Beschreibung als weiblich oder männlich konnotierter körperlicher Merkmale? Es scheint, als stehe dies nicht zur Diskussion, als sei es normal. Betrachten wir die Embryologie: In der Embryologie der äußeren Geschlechtsorgane vollzieht sich die Herausbildung weiblicher Organe für alle Embryos im Laufe des dritten Monats. Der Genitalhöcker bildet die Klitoris, der Urogenitalkanal bleibt geöffnet, der Genitalwulst bildet die großen Labien. Bei den dann sich möglicherweise entwickelnden männlichen Geschlechtsorganen verlängert sich der Genitalhöcker, der Genitalwulst verdichtet sich, die Strukturen verwachsen zu einer Mittelnaht. Die weibliche Erscheinungsform geht also der männlichen voraus. Der Taillenumfang wird als sekundäres Geschlechtsmerkmal verstanden und auch zur Erkennung von Übergewichtigkeit herangezogen. Der Taillenumfang bzw. die Taille ist in einem Lehrbuch zur funktionellen Biomechanik (Dufour/Pillu 2005) als psychologisierte Trennlinie zwischen oben und unten geworden. Bei Georges Brassens in seinem Lied Venus Callipyge3 wird die Taille gar zum Hals des Beckens, dessen Maße ein Identitätsmerkmal darstellen, über die in Frauenzeitschriften zu Genüge gesprochen wird: »Ihr Rücken verliert so anmutig seinen Namen, dass man ihm Recht geben muss«. Als nicht ausreichend behandelt gilt Fett bzw. Fettgewebe. In der Regel wird lediglich seine hormonelle Bedeutung im Kontext mit einigen Krankheiten wie HIV (Human 3 | Brassens, G. (2012): Venus Callipyge. URL: http://www.youtube.com/watch?v=vZM7WiW9WBo [19.12.2013].

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Immunodeficiency Virus) erwähnt. Wie allgegenwärtig Fett im menschlichen Körper ist, entdecken Studierende der Medizin bei ihren ersten Sezierungen. Bleibt zu fragen, ob es den perfekten Körper gibt? Man meint es zu glauben, wenn wir an die Zeichnungen von Leonardo da Vinci denken. In der Anatomie werden noch immer Orientierungspunkte, die perfekten Proportionen am männlichen Körper untersucht und vermessen.

Abb. 3: Männlicher Torso als Referenz. In: Barcsay, J. (1973): Anatomie artistique de l`homme.

So werden beispielsweise in anatomischen Kunstbänden Schönheitsideale in einen androzentrischen Fokus gestellt. Oft wird der männliche Torso zwischen zwei weiblichen dargestellt, so als ob es sich um den Referenztorso handeln würde, der neben zwei anderen abgebildet wird, die zwar reizvolle, aber scheinbar weniger bedeutsame Merkmale haben (Barcsay 1973).

In einem Lehrbuch zur funktionellen Biomechanik (Dufour/Pillu 2005) wird beispielsweise durch Darstellung und Beschreibung die Körperhaltung vergeschlechtlicht. Die funktionelle Biomechanik verweist auf eine selbstsichere Haltung beim Mann. Auch zur Darstellung der Periduralanästhesie, bei der die Nervenenden des Rückenmarks betäubt werden, wird ein männlicher Rücken gezeigt. Ein Hinweis auf den Einsatz dieser Betäubungsmethode, die zur Schmerzreduzierung bei Entbindungen gängige Praxis ist, findet nicht statt. Steht, wie weiter oben erwähnt, die die Taille im Zusammenhang mit der Messung von Übergewicht, dann kann eine weitere Vergeschlechtlichung der Thematik Übergewicht mit dem Brustumfang einhergehen. »Ein zu großer Brustumfang führt zu einer BrustAbb. 4: Erklärung der Peridualanästhesie anhand eines männlichen Torsos.

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kyphose.«4 »Es gibt zwei Arten von Hernien5, kleine Hernien beim jüngeren Menschen und große Hernien bei älteren, übergewichtigen oder mehrgebärenden Frauen.« Wird die Leistengegend anhand der männlichen Anatomie beschrieben, dann drückt folgender Kommentar die Diskriminierung des weiblichen Körpers aus »[...], bei der Frau ist sie (die Leistengegend) ein Herd für Missbildungen, Hernien etc.« Auch das Altern wir geschlechtsdiskriminierend dargestellt, wenn es heißt: »die erste Phase geht mit dem Hormonsturz einher und verläuft beim Mann ohne gravierende Veränderungen, während die Frau unter Osteoporose, Gewichtszunahme sowie physischer und psychischer Kraftlosigkeit leidet«. Entgegen der Ergebnisse einer Studie aus dem 19. Jahrhundert, nach der das weibliche Gehirn aufgrund seiner schwachen Entwicklung der Frontal-, Parietal- und Okzipitallappen und der Großhirnrinde 150 Gramm weniger wiege als das männliche, existieren keine aktuellen Studien, welche einen geschlechtsspezifischen Unterschied des Gehirns belegen würden, die zweifelsfrei als natürlich vorgegeben gelten können (Vidal/Benoit-Browaeys 2005: 15).

Schlussfolgerungen Hat dieser kurze Einblick gezeigt, wie sehr in der Anatomie Geschlechterstereotype wirken, dann ist ein letztes Beispiel angebracht, um zu illustrieren, wiesehr dieses Fachgebiet, das an sich eher mit deskriptiven Techniken arbeitet, als Projektionsfläche für Geschlechterbilder dient. So findet sich bei Bouchet und Cuilleret (1991) folgende Darstellungen eines »Querschnitts des Beckens und des Damms des Mannes und der Frau während des Geschlechtsverkehrs«. Allerdings werden anatomische Darstellungen in der Regel basierend auf Querschnitten von eingefrorenem und zerschnittenem Gewebe angefertigt. Bei dieser Darstellung handelt es sich somit um die Wiedergabe der Vorstellung eines Querschnitts. Abb. 5: Gezeichneter Querschnitt des Beckens und des Damm des Mannes und der Frau während des Geschlechtsverkehrs (aus Bouchet/Cuilleret 1991).

4 | Nach hinten gerichtete (dorsal konvex verlaufende) Krümmung der Wirbelsäule. URL: http://www.physiowissen.de/lexikon-Verstaerkte_Kyphose_der_Wirbelsaeule-2022.html [19.12.2013]. 5 | ›Bruch‹, d.h. Durchtreten von Geweben oder Eingeweiden durch vorgebildete Lücken in den bedeckenden und benachbarten Geweben. URL: http://www.wissen.de/lexikon/bruch-medizin [19.12.2013].

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Artikel um das Ergebnis einer selbstkritischen Reflexion einer Anatomiedozentin handelt. In der Auseinandersetzung mit der Thematik wurde der Autorin das Problem bewusst und auch die Tatsache lange Zeit im Rahmen der medizinischen Lehrtätigkeit vollkommen unbewusst und unbeabsichtigt stereotype Geschlechterbilder weiterzugeben und damit auch die immer noch vorherrschende Geschlechterhierarchie. Nach ausführlichen Debatten mit Kolleg_innen soll der Beitrag Dozent_innen, Studierende sowie die Herausgebenden medizinischer Lehrbücher sensibilisieren, den naturalisierenden Konformismus dieser stereotypen Darstellung der Anatomie zu erkennen und schlussendlich zu vermeiden.

Literatur Abrahams, P. H. u.a. (1998): Atlas en couleur d’anatomie humaine. Paris : Flammarion. Barcsay, J. (1973): Anatomie artistique de l’homme. Paris: Fréal. Bouchet, A., Cuilleret, J. (1991): Anatomie topographique, descriptive et fonctionnelle. Villeurbanne: Simep. Bougery, J. M. (2007 [1854]): Atlas of human anatomy and surgery. Réédition. Köln: Taschen. Brassens, G. (2012): Venus Callipyge. URL: http://www.youtube. com/watch?v=vZM7WiW9WBo [19.12.2013]. Brassens, G. (2012): Venus Callipyge. watch?v=vZM7WiW9WBo [19.12.2013].

URL:

http://www.youtube.com/

Cabrol, C. (1985): Anatomie humaine en fiches. Paris: Flammarion. Cahill, D. R., Orland, M. J., Reading, C. C. (1990): Atlas of Human Cross- Sectional Anatomy. New York: Wiley-Liss. Calais-Germain, B. (1989): Anatomie par le mouvement. Saint-Étienne: Impressions Dumas. Chevrel, J. P. u.a. (1995): Anatomie générale. Issy Les Moulineaux: Elsevier-Masson.

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Sylvie Deplus

Delmas, V. (1999): Nomenclature anatomique illustrée. Paris: Masson. Delmas, V. (2008): Anatomie générale. Issy Les Moulineaux: Elsevier-Masson. Dufour, M., Pillu, M. (2005): Biomécanique fonctionnelle. Membres – Tête – Tronc. Issy Les Moulineaux: Elsevier-Masson. Effinger, M., Kirsch, J. (2013): Hier freut sich der Tod, dem Leben zu helfen. Anatomie in Heidelberg gestern und heute. Schriften der Universitätsbibliothek Heidel­berg, Band 13. Heidel­berg: Universitätsverlag Winter. Feineis, H. (1986): Répertoire illustré d’anatomie humaine. Rééditions. Bruxelles/Paris: Prodim, Medsi. Felten, D. (2003): Atlas de neurosciences humaines de Netter. Réédition. Edinburgh/London: Churchill Livingstone. Gardner, E., Gray, D. J., O’Rahilly, R. (1979): Anatomie. Philadelphia: Saunders. Gray, H. u.a. (1995): Gray’s anatomy. Edinburgh/London: Churchill Livingstone. Green, J. H., Silver, P. H. S. (1981): An introduction to human anatomy. Oxford: Oxford medical publications. Kamina, P. (1999): Petit atlas d’anatomie. Paris: Malonie. Laboratoires Sandoz (Hg.) (1994): Atlas anatomique Sandoz. Rueil-Malmaison: Laboratoires Sandoz und Paris : Offidoc. Lawrence, S. C., Bendixen, K. (1992): His and Hers: Male and Female Anatomy in Anatomy Texts for U.S. Medical Students, 1890 – 1989. Faculty Publications, Department of History. URL: http://digitalcommons.unl.edu/cgi/viewcontent. cgi?article=1034&context=historyfacpub [26.11.2013]. Lumley, J. S. P. (2002): Surface anatomy. The Anatomical Basis of Clinical Examination. Edinburgh/London: Churchill Livingstone.

Das Geschlecht des Wissens — Sexuierte Anatomie

Marieb, E. N. (1993): Anatomie et physiologie humaine. Canada: Éditions du renouveau pédagogique. Netter, F. (2004): Atlas d’anatomie humaine, Traduction de Pierre Kamina. Philadelphia, Pennsylvania: Elsevier-Masson. Peyre, E. (2012): Anatomisch korrekt? Vortrag, gehalten am 29.09.2012 im Rahmen des Kongresses »Geschlechternormativität und Effekte für Kindheit und Adoleszenz«. Platzer, W. (2007): Atlas de poche d’anatomie. Cachan: Lavoisier. Richer, P. (1988 [1889]): Traité d’anatomie artistique. Rohen, J. W., Yokochi, C. (1994): Human anatomy. Stuttgart: Schattauer. Rouvière, H., Delmas, A. (2002): Anatomie humaine: descriptive, topographique et fonctionnelle. Issy Les Moulineaux: Elsevier-Masson. Schadé, J. P. (1973): Anatomischer Atlas des Menschen. Stuttgart: Gustav Fischer. Szunyoghy, A., Fehér, G. (1996): Grand cours d’anatomie artistique. Köln: Könemann. Thiel, W. (1997): Photographic atlas of practical anatomy. Berlin/Heidelberg/ New York: Springer. Vidal, C., Benoit-Browaeys, D. (2005): Cerveau, sexe & pouvoir. Paris: éditions Belin.

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Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes voraus ... Heinz-Jürgen Voß

Zusammenfassung Biologische Forschung, die in den letzten Jahrzehnten versuchte, Geschlechtsdetermination auf nur wenige Gene zurückzuführen, ist gescheitert. Weder das Gen Sry (geschlechtsdeterminierende Region auf dem Y-Chromosom), noch additiv hinzugefügte Gene führten zu einem einigermaßen konsistenten und überzeugenden Verständnis der Geschlechtsdetermination. Nachdem in den Naturwissenschaften und der Biologie unter den Stichworten ›Systemorganisationstheorien‹ und ›Systembiologie‹ längst über Komplexität verhandelt wird, hält dieses Denken nun zaghaft auch in biologische Geschlechtertheorien Einzug: Es geht um die Untersuchung von Entwicklungen und Prozessen, wobei das Ergebnis nicht bereits durch Forschende vorausgesetzt wird.

Einleitung Ausgehend von historischen Betrachtungen führt dieser Beitrag in Entwicklungsdenken ein und arbeitet anschaulich an aktuellen Theorien der Geschlechtsdetermination das Potenzial solcher Betrachtungen für komplexere und überzeugendere Theorien der Geschlechtsdetermination, als es die bisherigen sind, heraus. Mit der Betonung von Entwicklung, von Entwicklungsprozessen geht man ab von der Vorstellung weniger vorbestimmender Einheiten. Vielmehr wird es notwendig, den gesamten Organismus und dessen Wechselwirkungen mit der Umwelt zu betrachten. Das bedeutet, dass aus Perspektive der heutigen biologischen Wissenschaft die Kommunikation zwischen verschiedenen

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Heinz-Jürgen Voß

Bestandteilen der Zelle sowie die Kommunikation zwischen verschiedenen Zellen, deren Einbindung in den Organismus und die Einflussfaktoren aus der Umgebung, im Blick sein müssen. Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklungen eines Organismus bzw. hier eines Genitaltraktes voraus. Vielmehr stellen sie lediglich einen Faktor im komplexen Zusammenspiel von Faktoren der Zelle dar.

Präformation oder Entwicklung – widerstreitende Konzepte Diskussionen, ob körperliche Merkmale bereits in frühesten Stadien des Embryos vorgebildet vorlägen oder ob sie sich erst mit der Zeit entwickeln würden, so dass eine zunehmende Komplexität des sich entwickelnden Organismus zu beobachten sei, prägen die naturphilosophischen und biologisch-medizinischen Vorstellungen über die Embryonalentwicklung historisch und aktuell. Bereits für die griechische Antike lassen sich hierzu zwei unterschiedliche Modelle herausarbeiten. Insbesondere an die Atomisten Leukippos von Millet (um 460 v.u.Z.) und Demokritos von Abdera (460-371 v.u.Z.) anknüpfend, ging eine der Richtungen davon aus, dass im Samen der Eltern1 Extrakte (Atome) all ihrer Körperteile versammelt wären. Arme, Beine und die anderen Körperteile würden im Samen in äußerst kleinen Einheiten vorliegen und die Grundbestandteile des Embryos bilden. In den Geschlechtsteilen würden sich diese Merkmale zusammenlagern, wobei je Merkmal die entsprechenden Atome des weiblichen und männlichen Samens miteinander konkurrieren und der Samen mit der größeren Quantität und Kraft sich durchsetzen würde. Der Embryo wäre auf diese Weise vorgebildet, präformiert. Diese Richtung wird auch als Pangenesislehre bezeichnet. Sie bildet auch eine bedeutende Grundlage der hippokratischen Schriften2, allerdings sollte sich laut dieser der Samen nicht aus den Atomen der Körperteile, sondern aus den Körpersäften und Körpergeweben herleiten. Ihr gegenüber stand eine Auffassung, die insbesondere mit den Namen Diogenes von Apollonia (499/98-428/27 v.u.Z.) und Aristoteles (384-322 v.u.Z.) verbunden ist – die Hämatogene Samenlehre. In dieser Theorie wurde davon ausgegangen, dass der Samen aus Blut gebildet werde. Der Samen sollte damit nicht den Extrakt der Körperteile der Eltern darstellen – wie es bei der Pangenesislehre vorgesehen war – sondern es sollte ein echter Umwandlungsprozess von Blut zu Samen stattfinden. Nach Aristoteles‘ Vorstellung ist dieser Prozess auf Hitze zurückzuführen. Er nahm an, dass das Blut durch Hitze zu Samen verkocht werde. Und hier sah er einen bedeuteten Geschlechtsunterschied: So

1 | Sowohl Frau als auch Mann sollten nach Leukippos und Demokritos über Samen verfügen. 2 | Das Corpus Hippocraticum vereint Schriften zwischen dem 4. Jh. v.u.Z. und dem 1.Jh. v.u.Z.

Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes ...

sollte lediglich der Mann – und auch hier nur der nicht zu alte, nicht zu junge, nicht zu dicke Mann – über ausreichend Hitze verfügen, um das Blut zu Samen verkochen zu können. Die Frau sei, auf Grund einer größeren Kälte, die Aristoteles ihr zuschrieb, hingegen nur in der Lage, eine unvollendete Vorstufe des Samens zu bilden, so genannte Katamenien. Dass die Frau keinen vollendeten Samen habe, war einer der Gründe für Aristoteles, die Pangenesislehre zu verwerfen, weil sich damit kein Bestandteil für die Gebärmutter finden konnte. Die im 18. Jahrhundert geführte Debatte um die Präformationstheorien der Ovisten und Animalkulisten3 auf der einen Seite und die Epigenese auf der anderen Seite stellt einen weiteren solchen Kristallisationspunkt dar, an dem Theorien der Präformation und der Entwicklung (Umwandlungs- bzw. Entwicklungsprozesse) so plastisch nebeneinander diskutiert wurden. Ende des 17. Jahrhunderts kamen die Präformationstheorien auf. In diesen Theorien wurde davon ausgegangen, dass in entweder dem weiblichen Zeugungsbeitrag – das beschrieben die Ovisten – oder in dem männlichen Zeugungsbeitrag – das führten die Animalkulisten aus – das Individuum bereits in Miniatur vorgebildet wäre oder dass zumindest die Extrakte aller Körperteile bereits vorliegen würden. Die entsprechenden Theorien der Ovisten sind insbesondere mit den Namen Regnier de Graaf und Marcello Malphigi verbunden. Der Animalkulismus ist wesentlich mit der neuen Methode des Mikroskopierens verknüpft. U.a. Antoni van Leeuwenhoek und Nicolas Hartsoeker erblickten beim Mikroskopieren eines männlichen Samentropfens viele sich bewegende animalculi – Tierchen, Samentierchen (vgl. Abb. 1). Die Beschreibung als kleine Tiere ist auch in dem heute noch gebräuchlichen Begriff ›Spermatozoen‹ erhalten. Wichtigster Punkt der Präformationstheorien ist, dass von Anbeginn an in Ei bzw. Samen das vollständige Individuum vorhanden bzw. alle Teile vorgebildet wären, so dass keine wirkliche Entwicklung, sondern ein schlichtes Größenwachstum stattfinde. Abb. 1: Präformation im männlichen Samen, nach Nicolas Hartsoeker. (entnommen aus: URL: http://www.hps.cam.ac.uk/visibleembryos/s1_4.html [04.07.2011]).

3 | Grundlegend gilt in diesem Beitrag: Es wird die männliche Form verwendet, sofern sich ausschließlich sozialisierte Männer in der bezeichneten Gruppe befanden. Dadurch sollen die generellen strukturellen Ausschlüsse von Frauen sichtbar bleiben.

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Diese Präformationstheorien der Ovisten und Animalkulisten passten dabei gut in die Gesellschaftsordnung und zu den gesellschaftlich verbreiteten Deutungen. Es wurde davon ausgegangen, dass eine höhere Macht – ein Gott – zu einem konkreten Zeitpunkt die gesamte Welt geschaffen habe. Alles was existierte, existiert und jemals existieren wird, sei auf diesen Schöpfergott zurückzuführen. Entsprechend verknüpften einige der Gelehrten ihre Theorien der Vorbildung des Individuums im Samen bzw. im Ei mit den christlich-religiösen Vorstellungen der Schöpfung: Adam bzw. Eva sollten alle nachfolgend lebenden Menschen bereits enthalten haben. Die Präformationstheorien waren rasch in der Kritik, war es mit ihnen doch nicht möglich, Ereignisse der Regeneration/Wundheilung zu erklären. Ein vielfach angeführtes Experiment wies darauf hin: Bei der mechanischen Zertrennung von Polypen (einfache vielzellige Organismen, Nesseltiere) zeigte sich, dass über Nacht aus beiden Hälften je ein kleiner vollständiger Polyp entstand. Diese Beobachtung war schwerlich mit der Annahme eines Schöpfergottes vereinbar. Weiterer bedeutsamer Kritikpunkt war, dass Merkmalsgemeinsamkeiten eines Kindes zu beiden Eltern mit den Präformationstheorien nicht bzw. nur über Umwege erklärt werden konnten. Beide Kritikpunkte wurden von Gelehrten der Zeit wiederholt angeführt – und diese Kritiken begünstigten, dass Ende des 18. Jahrhunderts Entwicklungsdenken auch bzgl. der Auffassungen zur Embryonalentwicklung – Epigenese – dominant werden konnte. Epigenese bedeutete, dass nicht mehr davon ausgegangen wurde, dass das Individuum schon in äußerst kleinen Einheiten vollständig vorgebildet wäre und ein einfaches Größenwachstum stattfinde, sondern es wurde beschrieben, dass zunächst ungeformte Materie vorliegen würde, aus der sich erst über Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse zunehmend komplexe, geformte Materie ausbilde. Erst als Resultat dieser Prozesse sollten Körperteile und Organe des Embryos entstehen. Und auch mit der Geburt sollte die Entwicklung nicht aufhören, vielmehr würden Umbildungen stets stattfinden und es wäre auf diese Weise auch Regeneration/Wundheilung möglich. Die detaillierte Theorie der Epigenese geht auf Caspar Friedrich Wolff zurück – er beschrieb Entwicklung und Differenzierung als notwendig für die Embryonalentwicklung. Erntete Wolff zunächst Skepsis, auch weil er die Kraft, die die Entwicklung vorantreiben sollte, zu übrigen mechanisch-physikalischen Kräften analogisierte, konnte sich die epigenetische Auffassung mit Johann Friedrich Blumenbachs Ausführungen durchsetzen. Er hatte als die Entwicklung antreibende Kraft einen Bildungstrieb vorgeschlagen, im Sinne einer Tätigkeit, die allein Lebendem vorbehalten sei.

Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes ...

So wie die Präformationstheorien vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten sind, so gilt das auch für die Epigenese. Es ist auffällig, dass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Entwicklungsdenken in allen gesellschaftlichen Bereichen Verbreitung fand. Das zeigte sich in wissenschaftlichen geographischen und physikalischen Betrachtungen (Entstehung der Erde durch Abkühlung, Elektrizität etc.), in philosophischen Beschreibungen (man folgte nun den Theorien Spinozas, Spinozismus), und selbst in der Theologie (Veränderungen im Gottesverständnis, auch anknüpfend an Spinozismus). Nicht zuletzt machte die Französische Revolution klar, dass auch die Gesellschaftsordnung nicht durch einen Gott festgelegt und damit für die lebenden Menschen unveränderlich ist, sondern dass Gesellschaft durch die vernunftgeleiteten Menschen selbst gestaltet wird. Die Bedeutung des Übergangs zu entwicklungsgeschichtlichen Denkweisen wurde in der Forschung verschiedentlich betont, vgl. etwa Lepenies 1978; Rheinberger 1981 und Engelhardt 1986. Alfred Schmidt (1984: 10) hielt mit Fokus auf die Naturwissenschaften fest: »Der wichtigste, qualitativ neue Aspekt der um 1800 entstehenden Situation auf naturwissenschaftlichem Gebiet ist der endgültige Durchbruch entwicklungsgeschichtlicher Betrachtungsweisen.«

Mit Entwicklungsdenken zu Gemeinsamkeiten der Geschlechter Die Bedeutung entwicklungsgeschichtlicher Denkweisen ist auch für die biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien nicht zu unterschätzen. In den Präformationstheorien war ein zwischen weiblichem und männlichem Geschlecht äußerst unterschiedlicher Zeugungsbeitrag angenommen worden. In dem Zeugungsstoff des einen Geschlechts sollte der Embryo vorgebildet sein, während der Zeugungsstoff des anderen Geschlechts andere Funktionen erfüllen würde. Dabei wurde sowohl bei den Ovisten, als auch bei den Animalkulisten der weibliche Zeugungsbeitrag geschmälert. So sollte selbst bei den Ovisten, die ja die Präformation im weiblichen Ei annahmen, das für die Auswicklung als bedeutsam betrachtete bewegende Prinzip vom männlichem Samen ausgehen. Die Animalkulisten schränkten den weiblichen Zeugungsbeitrag weiter ein – dieser würde ausschließlich darin bestehen, den Embryo zu tragen und zu ernähren. Ausgehend von den Differenzbeschreibungen der Zeugungsstoffe wurden weitere Unterschiede beschrieben. So sollten sich auch die Orte unterscheiden, an denen Eier (weibliche Eierstöcke) und Samen (männliche Hoden) lagerten – bis ins 17. Jahrhundert hinein waren sie dagegen nicht einmal begrifflich unterschieden worden, sondern war bei weiblichem und männlichem

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Geschlecht gleichermaßen von Hoden die Rede gewesen, wenn auch einzelne Differenzen angeführt wurden. Zudem sollten nun Differenzen in den die Eierstöcke und Hoden versorgenden Blutgefäßen und in den die Zeugungsstoffe ableitenden Gefäßen bestehen. Weitere geschlechtliche Unterschiede wurden für den Genitaltrakt, aber insbesondere für Brüste und Becken festgestellt. Mit dem Entwicklungsdenken zeigte sich ein bedeutsamer Wandel: Bei der Epigenese ging man von (weitgehend) gleichwertigen Zeugungsbeiträgen von Frau und Mann aus. Entsprechend wurde oft auf die begriffliche Unterscheidung zwischen Samen und Ei sowie Hoden und Eierstock verzichtet und die Zeugungsstoffe sowohl von der Frau, als auch vom Mann als Samen bezeichnet. Aber selbst wenn die begriffliche Differenzierung von dem einen oder anderen Autor beibehalten wurde, so wurde dennoch angenommen, dass die Zeugungsbeiträge von Frau und Mann gleichermaßen an dem Embryo und dessen Entwicklung beteiligt wären. Ausgehend von den gemischten, mit einander vereinigten Zeugungsbeiträgen sollte sich über Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse die Embryonalentwicklung vollziehen (vgl. Voß 2011a: 85 ff., Voß 2011b). Konnten bei den Präformationstheorien an die Unterschiede der Zeugungsbeiträge Differenzbeschreibungen weiterer Merkmale angeschlossen werden, so wurden diese mit der Annahme (weitgehend) gleicher Zeugungsbeiträge hinfällig. Nun konnten auch bzgl. der Bildungsorte, der zu- und ableitenden Gefäße und weiterer Merkmale des Genitaltraktes Gleichheiten der Geschlechter beschrieben werden. Das zeigt sich bei einer genauen Betrachtung der Arbeiten um 1800. Ein Beispiel: Der Mediziner und Anatomieprofessor Jacob Fidelis Ackermann (Ackermann [1805], Übersetzung aus dem Lat. nach: Voß 2010: 136) schrieb 1805: »In jedem Individuum sind der Möglichkeit nach die Zeugungsteile [Geschlechtsteile] beider Geschlechter vorhanden«; an späterer Stelle schloss er an: »Aus den dargelegten Beschreibungen der Zeugungsteile [Geschlechtsteile] wird offenbar, dass in jedem Individuum beiderlei Geschlechtsorgane [in Anlage] vorhanden sind, dass aber nur ein Geschlecht gänzlich zum Vorschein kommt und dass der Penis der Klitoris, die Prostata dem Uterus, die Harnröhre der Vagina, der Hoden dem Eierstock, Ductus deferens [Ausführungsgang] den Tuben [lat. Tuba Fallopiae: Fallopische Röhren, Eileiter, Anm. HV], der Hodensack den äußeren Schamlippen analog sind.«

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Zwar differenziert hier auch Ackermann zwischen weiblichem und männlichem Genitaltrakt – das wird bereits aus der Verwendung der unterscheidenden Begriffe deutlich –, aber ihm scheint etwas anderes wichtig gewesen zu sein. So betont er gerade die Ähnlichkeiten der Organe weiblichen und männlichen Geschlechts. Er greift die Annahme auf, dass jeder Embryo zunächst, also in den ersten Stadien der Entwicklung, beiderlei Geschlechtsorgane beinhalte und erst mit der Entwicklung und Differenzierung ein Geschlecht mehr oder weniger eindeutig zum Vorschein komme. Diese Aussage ist nicht trivial, sondern sie markiert einen bedeutsamen Wechsel in den Auffassungen: Jeder Embryo würde zunächst das Potenzial haben, sich sowohl in weibliche als auch in männliche Richtung zu entwickeln. Geschlechtliche Unterschiede konnten damit keine grundsätzlichen sein, sondern lediglich relative. Sie wären nicht als radikale Differenz, als Entweder-oder beschreibbar, wie es die neuere Geschlechterforschung für die biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien seit dem 18. Jahrhundert ausgeführt hatte, sondern würden sich im Rahmen eines zeitlich Relativen bzw. einem Mehr-oder-weniger bewegen. Eine solche Sicht war keine Einzelmeinung. Sie findet sich sowohl in den Arbeiten der romantischen Naturforschung und der spekulativen Naturphilosophie, als auch in solchen empirisch arbeitender Autoren, wie bei Ackermann. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde diese Theorie die dominante Perspektive derjenigen, die sich biologisch-medizinisch mit der Ausbildung von Geschlecht in der Embryonalentwicklung befassten. Gestritten wurde auf ganz anderer Ebene. Die Debatte ging darum, ob in dieser geschlechtlichen Anlage, die das Potenzial habe, sich sowohl weiblich als auch männlich zu entwickeln, die Ausgangspunkte für beide Geschlechter nebeneinander vorliegen würden (sie damit als hermaphroditisch anzusehen sei) oder ob dort beide Geschlechter einen gemeinsamen Ausgangspunkt hätten, der sich dann in verschiedene Richtungen (und mehr oder weniger eindeutig) differenzierte. Aus einem Zitat des Mediziners Heinrich Wilhelm Gottfried Waldeyer (später Waldeyer-Hartz; Waldeyer 1870: 152 f.) werden die Selbstverständlichkeit, mit der die Ansicht der anfänglichen sowohl weiblichen als auch männlichen Potenz jedes Embryos vorgebracht wurde, und der benannte Streitpunkt klar: »Aber ein anderer, auch für die Teratologie [Lehre von den Missbildungen, Anm. HV] nicht unwichtiger Punkt folgt aus dem Beobachteten mit Gewissheit, nämlich der, dass die Uranlage der einzelnen Individuen auch bei den höchsten Vertebraten eine hermaphroditische ist. Man hat bis jetzt vielfach das eigentümliche Verhalten der Geschlechtsorgane bei der ersten Entwicklung so zu deuten

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gesucht, dass ein neutraler gemeinsamer, gewissermaaßen indifferenter Urzustand vorhanden sei, aus welchem heraus entweder nach der einen oder der anderen Seite hin die Entwicklung vorschreite, so dass bald ein männliches, bald ein weibliches Individuum entstehe. Aber man hat sich da zu viel auf das Verhalten mehr nebensächlicher Dinge gestützt, z.B. auf das der äusseren Geschlechtsorgane. Hier gibt es in der That einen indifferenten, gewissermaassen neutralen Urzustand, der sich dann entweder nach der männlichen oder der weiblichen Seite hin weiter ausprägt. Das kann aber nicht befremden, da wir ja in den äusseren Genitalien sowohl beim Manne als beim Weibe in der That anatomisch dieselben Gebilde vor uns haben, die nur nach verschiedenen Richtungen hin sich bei den verschiedenen Individuen ausbilden. […] Geht man aber auf die Entwicklung derjenigen Gebilde ein, welche das Wesen der beiden Geschlechter ausmachen, der beiden Keimdrüsen, so ist eine indifferente, gleichsam neutrale Uranlage schwer denkbar.4 […]; mit anderen Worten, jedes Individuum ist auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung wahrer Hermaphrodit.«

Auch heute stellt die Sicht, dass die Genitalfurche bzw. Genitalleiste (die ersten Zellen, aus denen der Genitaltrakt während der Embryonalentwicklung hervorgeht) das Potenzial habe, sich sowohl weiblich als auch männlich zu entwickeln, die dominante Position in der Entwicklungsbiologie dar.

Jeder Mensch ist weiblich und männlich zugleich Andere Autoren gingen indes noch weiter. Sie vertraten die Ansicht, dass dieser Zustand, in dem weiblich und männlich vereint auftreten würden, nicht auf den Embryo oder frühe Stadien des Embryos beschränkt sei, sondern dass jeder Mensch zeitlebens weibliche und männliche Merkmale in sich vereinige. Auch eine solche Sicht war nicht gänzlich neu – eine geistesgeschichtliche Tradition für diese Perspektive erschließt sich bspw. mit Bezug auf die Kugelmenschen in der Aristophanes-Rede in Platons Gastmahl und mit den chinesischen Vorstellungen des Yin und Yang (vgl. Römer 1903; Neuer Berliner Kunstverein 1986). Mit den Beschreibungen, dass jeder Embryo das Potenzial sowohl zu weiblicher als auch männlicher Entwicklung habe und dass die ersten Stadien der Entwicklung geschlechtlich indifferent seien, bot sich naturwissenschaftlich die Möglichkeit, an diese Traditionen anzuknüpfen. Einer der Vertreter für eine solche Perspektive um 1800 ist Wilhelm von Humboldt, der insbesondere für seine sprachtheoretischen Schriften bekannt ist, aber auch naturphilosophisch interessiert war und entsprechende Vorlesungen hörte (vgl. auch: Rosenstrauch 2009: 100, 107 ff). Humboldt schrieb:

4 | Andere Autoren waren nicht dieser Meinung, woraus auch die explizite Thematisierung hier bei Waldeyer resultieren wird. Diesbezüglich interessant sind auch die Arbeiten der medizinisch gebildeten Publizistin Johanna Elberskirchen, die ebenfalls der Auffassung Waldeyers widersprach — vgl. Leidinger 2008, Voß 2011a: 97f., Voß 2011b).

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»Aber die höchste und vollendete Schönheit erfordert nicht bloß Vereinigung, sondern das genaueste Gleichgewicht der Form und des Stoffes, der Kunstmässigkeit und der Freyheit, der geistigen und sinnlichen Einheit, und dieses erhält man nur, wenn man das Charakteristische beyder Geschlechter in Gedanken zusammenschmelzt, und aus dem innigsten Bunde der reinen Männlichkeit und der reinen Weiblichkeit die Menschlichkeit bildet. Aber eine solche reine Männlichkeit und Weiblichkeit auch nur aufzufinden, ist unendlich schwer, und in der Erfahrung schlechterdings unmöglich.« (Humboldt 1959b [1795]: 81)

Etwas später setzt er fort (Humboldt 1959b [1795]: 102): »Von diesen beyden charakteristischen Merkmalen der menschlichen Gestalt, deren eigenthümliche Verschiedenheit in der Einheit des Ideals verschwindet, herrscht in jedem Geschlecht eins vorzugsweise, indes das andere nur nicht vermißt wird«. Manfred Herzer deutete in ersten Überblicksforschungen an, dass sich eine solche Sichtweise ab der Zeit um 1800 etablierte und Ende des 19. Jahrhunderts eine geläufige These im Bildungsbürgertum darstellte (vgl. Herzer 1998). Damit widersprach Herzer der Darstellung, dass erst um 1900 Betrachtungen aufgekommen seien und eine gewisse Verbreitung erlangt hätten, in denen Menschen als Mischungen weiblicher und männlicher Anteile beschrieben wurden. Zu dieser Interpretation hatten die vehementen Auseinandersetzungen um die Publikation von »Geschlecht und Charakter« des jungen, auch medizinisch gebildeten, Wiener Philosophen Otto Weininger Anlass gegeben. In der tief antisemitischen (Weininger war selbst Jude und wechselte 1902 zum Protestantismus) und antifeministischen Schrift hatte Weininger immerhin auch ausgeführt, dass jeder Mensch eine Mischung weiblicher und männlicher Merkmale darstelle. Zwar gab es (auch) gegen die letztere Aussage Weiningers vehemente Einsprüche – so von dem schon zu seiner Zeit umstrittenen frauenfeindlichen Leipziger Nervenarzt Paul Julius Möbius und der in Philosophie, Soziologie und Biologie ausgebildeten Frauenrechtlerin Grete Meisel-Heß (vgl. Voß 2010: 186, 355 f.). Interessanter ist indes, dass sich auf der anderen Seite Auseinandersetzungen darüber entspannen, wer zuerst diese These vorgebracht hatte. In die Prioritätsstreitigkeiten waren Wilhelm Fließ, Otto Weininger, Hermann Swoboda und Sigmund Freud verwickelt. Auch Magnus Hirschfeld mischte sich ein, beanspruchte aber nicht die Priorität. Indes hatte schon Weininger (Weininger 1905 [1903]: 13) gleich zu Beginn seiner Ausführung die Tradition rezipiert und damit die Abwegigkeit einer solchen Debatte um die Priorität vorweggenommen:

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»Die Ahnung dieser Bisexualität alles Lebenden (durch die nie ganz vollständige sexuelle Differenzierung) ist uralt. Vielleicht ist sie chinesischen Mythen nicht fremd gewesen; jedenfalls war sie im Griechentum äußerst lebendig. Hierfür zeugt die Personifikation des Hermaphroditos als einer mythischen Gestalt; die Erzählung des Aristophanes im platonischen Gastmahl; ja noch in später Zeit galt der gnostischen Sekte der Ophiten der Urmensch als mannweiblich.«5

Chromosomen, Hormone, Geschlecht Zeigten die historischen entwicklungsbiologischen Betrachtungen, dass dort keineswegs eine strikte Trennung weiblicher und männlicher geschlechtlicher Entwicklung vorgenommen wurde, sondern vielmehr Gemeinsames und Gleiches in der Debatte zentral war, so irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der heute teilweise mit Verweis auf (vermeintliche) biologische Erkenntnisse von einer strikten zweigeschlechtlichen Differenz ausgegangen wird. Wurden auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Unterschiede in dem Chromosomenbestand zwischen weiblichen und männlichen Individuen beobachtet, so folgerten doch einflussreiche Biologen der Zeit, dass sich auf der Ebene des tatsächlich ausgebildeten Erscheinungsbildes, (bei den so genannten phänotypischen Merkmalen) eine lückenlose Reihe von Übergängen zwischen männlich und weiblich bzgl. aller Geschlechtsmerkmale zeigen würde. Wurden die Chromosomenuntersuchungen zunächst an verschiedenen Insektenarten vorgenommen und zeigte sich bei diesen, dass bei einigen Arten bei einem der Geschlechter ein Chromosom fehlen konnte, das bei dem anderen vorhanden war, und dass bei anderen Arten bei einem der Geschlechter ein Chromosom eine andere Größe und Struktur aufwies, als beim anderen Geschlecht, so wurden entsprechende Beschreibungen für den Menschen 1923 durch Theophilus Shickel Painter vorgenommen. Er folgerte, dass beim Menschen alle männlichen Individuen jeweils ein X- und ein Y-Chromosom, alle weiblichen Individuen zwei X-Chromosomen hätten.6 Diese Beschreibungen taten aber der Annahme einer lückenlose[n] Reihe von Übergängen keinen Abbruch. So beschrieb Richard Goldschmidt, ausgehend von der Annahme, dass chromosomal zwei geschlechtliche Varianten vorlägen, solche Übergänge. Er führte aus, dass die geschlechtliche Entwicklung eines Individuums von der quantitativen und zeitlichen Verteilung von Weiblichkeitsfaktor und Männlichkeitsfaktor abhängig

5 | Weininger selbst hatte die 1903 erschienene 1. Auflage noch gründlich überarbeitet, so dass die 2. Auflage eine veränderte Fassung darstellte. Während somit die zeitgenössische Rezeption fast ausschließlich die überarbeitete Fassung aufnahm, wurde für den Reprint aus dem Jahr 1980 die 1. Auflage genutzt und somit für die neuere Forschung zugänglich. Die Textdifferenzen werden oft nicht beachtet. Vgl. zu den Textdifferenzen: Hirsch 1994. 6 | Die Benennung solchwls X bzw. Y erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts (1905 und 1910) durch Edmund Beecher Wilson und Nettie Maria Stevens.

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sei. Diese Faktoren seien Determinierungsstoffe für Geschlecht, wobei die Genwirkung immer über Determinierungsstoffe erfolge, die in diesem Fall Hormone7 seien. Während oft einer dieser geschlechtlichen Faktoren in einem Individuum dauerhaft überwiege, könnten sich diese auch abwechseln. Die Entwicklung würde dann beispielsweise durch den zunächst überwiegenden Männlichkeitsfaktor geprägt und setze sich später weiblich fort, weil der Weiblichkeitsfaktor dominierend werde. Den Umschlagspunkt bezeichnete Goldschmidt als Drehpunkt. Der Zeitpunkt, zudem der Umschlag erfolge, entscheide über den Grad der Ausprägung von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit in dem jeweiligen Individuum (vgl. etwa Goldschmidt 1927: 10-37; Goldschmidt 1931: 1-16). Eine eindeutige chromosomale Zuordnung war also durchaus mit einem tatsächlich als sehr vielgestaltig wahrgenommenen Erscheinungsbild phänotypischer Merkmale bei den Individuen einer Art – auch dem Menschen – vereinbar. Auch bezüglich der Hormone stellten sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ergebnisse der Forschungen keineswegs eindeutig dar. Experimente zeigten vielmehr, dass eine eindeutige Auftrennung der als geschlechtlich betrachteten Hormone nach weiblichem oder männlichem Herkunftsorganismus nicht möglich war. Zu einem der wichtigen Vertreter der Hormonforschung gehörte Bernhard Zondek. Er konnte im Urin des männlichen Pferdes (Hengst) überraschend viel Östrogen, ein damals als weiblich definiertes Hormon, feststellen. Diese in der Zeitschrift »Nature« publizierten Ergebnisse und auch weitere verunsicherten die Forschenden und stellten die eingeschlechtliche Wirkungsweise von Hormonen grundlegend in Frage (vgl. Oudshoorn 1994: 24 ff.; Sengoopta 2006: 117 ff.; Satzinger 2009: 295, 376 f.). Solche eher auf Vielschichtigkeit und Multikausalität verweisenden Ergebnisse sowohl in der Genforschung, als auch in der Hormonforschung konnten allerdings in der Folge nicht weiterverfolgt werden. Ihre Protagonisten waren mit Goldschmidt und Zondek jüdische Wissenschaftler im Deutschen Reich. Beide mussten in den 1930er Jahren aus Nazi-Deutschland emigrieren – und fanden keine so guten Forschungsbedingungen mehr vor (vgl. Satzinger 2009). Gleichzeitig wurden andere Konzepte verfolgt – einerseits einfachere Konzepte der Genwirkung in den USA, mit denen Goldschmidts Modelle konkurrierten. Die Beschneidung der Forschungsmöglichkeiten wirkte sich in dem Wettstreit nachteilig aus und behinderte auch über Deutschland hinaus die Rezeption Goldschmidts. Andererseits wurden Nazis forschungsleitend, auch bezüglich biologischer Geschlechtertheorien. So wurde Adolf Butenandt 1936 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie. Er war Anhänger der von der NS-Ideologie 7 | Der Begriff ›Hormone‹ wurde 1905 von Ernest Henry Starling für solche Substanzen geprägt, die vom Ort ihrer Bildung zum Ort ihrer Wirkung über das Blut transportiert werden.

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propagierten klaren Rollenverteilung zwischen Frau und Mann und vertrat auch in der Hormonforschung die Theorie der eindeutigen geschlechtlichen Trennung weiblicher und männlicher Hormone (vgl. Satzinger 2009). Obgleich er in seinen Hormonforschungen auf widersprüchliche Ergebnisse stieß, thematisierte er diese nicht und ließ sie einfach in Publikationen weg (Satzinger 2009: 388 f.). Helga Satzinger hielt für seine Arbeiten fest: »sein Geschlechterkonzept verschloss sich wissenschaftlichen Gegenargumenten, die zur fraglichen Zeit vornehmlich von jüdischen Wissenschaftlern formuliert wurden.« (Satzinger 2009: 295 f.) Satzinger hob ebenfalls seinen Antisemitismus hervor, »der bei passender Gelegenheit benutzt wurde, um einen wissenschaftlichen Gegner zu diskreditieren« (Satzinger 2009: 296). Aus einem Brief an seine Mutter geht bereits 1930 Butenandts antisemitische Einstellung, bezogen auf Bernhard Zondek, deutlich hervor: den »einzigen Mißton brachte Zondek hinein – ein sehr widerlicher Jude! – der mit einer gewissen Arroganz und in ironischem Ton die Bedeutung meiner Arbeit und ihre Richtigkeit herabzusetzen versuchte. Ich habe ihm eine Antwort erteilt, dass das Auditorium herzlich gelacht hat und Herrn Zondek die weitere Sprache verging!« (nach Satzinger 2009: 293). Später machte Butenandt in der Bundesrepublik Deutschland Karriere und prägte, u.a. als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, auch weiterhin die Forschung. Helga Satzinger (2009: 399) resümiert die Bedeutung der politischen Ereignisse und ihrer Wirkung auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse, mit Fokus auf biologische Geschlechtertheorien: »In den Jahren zuvor war das Konzept der genetischen und hormonellen Geschlechterwandlung und -mischung sehr breit diskutiert worden, die Dominanz des bipolaren Modells war erst in den 1930er Jahren durch das Fehlen ihrer Vertreter, die emigrieren mussten, zustande gekommen.«

Aktuelle Theorien der Geschlechtsdetermination – hin zu Multikausalität Nun wurde – zunächst weitgehend unwidersprochen – biologisch ein allein bipolares Geschlechtermodell etabliert. Hierbei knüpfte man an die Beschreibungen Painters einer homologen Chromosomenkombinationen aus zwei X-Chromosomen für weibliches Geschlecht, und einer heterologen Kombination von einem X- und einem Y-Chromosom für männliches Geschlecht beim Menschen an. Dass sich die heterologe Chromosomenkombination bei männlichem Geschlecht zeigte, hier also das Y-Chromosom als besonderer Faktor auftrat, führte zur Annahme, dass das Y-Chromosom den entscheidenden Faktor bei der Geschlechtsdetermination darstellen sollte. Während sich ohne Y-Chromosom

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als allgemeine Entwicklung ein weiblicher Genitaltrakt ausbilden würde, sollte für einen männlichen Genitaltrakt ein aktiver Entwicklungsschritt notwendig sein. Diese Orientierung an Chromosomen wurde mit der Ansicht verbunden, dass Hoden besonders bedeutsam für die Ausbildung männlichen Geschlechts – und der Geschlechterdifferenz überhaupt – wären. Hoden waren seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als die vermännlichenden Organe schlechthin besonders im Blick der Forschung gewesen. Sie sollten die männliche Ausprägung physischer, physiologischer Merkmale bewirken, einige Autor_innen betonten auch die Bedeutung bei der Ausprägung psychischer Merkmale und (un-)moralischer Fähigkeiten. Erst etwas später, seit dem beginnenden 19. Jahrhundert, wurden von verschiedenen Autoren mit ähnlicher Reichweite auch Eierstöcke (bzw. weibliche Hoden) als wichtig beschrieben – für die Ausbildung weiblichen Geschlechts. Dass das weibliche Geschlecht zeitlich verzögert betrachtet wird, stellt durchaus eine gängige Überlegung bzgl. der Betrachtungen zu Geschlecht in den biologisch-medizinischen Wissenschaften dar. Man suchte die gesellschaftlich vorgefundene Geschlechterordnung zu erklären – und dort dominierten Männer; ihre überlegene Position galt es wissenschaftlich zu begründen. Gab es im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesbezüglich intensive Diskussionen, so wurde die Annahme einer weitreichenden und gegenüber Eierstöcken exklusiven Bedeutung der Hoden seit der Mitte des 20. Jahrhunderts forschungsleitend. Ursächlich hierfür waren insbesondere Experimente von Alfred Jost Ende der 1940er Jahre und deren Rezeption. Er hatte in frühen Stadien der Embryonalentwicklung bei Kaninchen-Embryonen die Keimdrüsen entfernt und stellte in der Folge eine stets weibliche Entwicklung fest, ganz gleich welche Chromosomenkombination vorlag. So setzte sich die Ansicht durch, dass für die männliche Entwicklung Keimdrüsen (Hoden) als aktiver Entwicklungsschritt notwendig wäre, wogegen weibliche Entwicklung einfach so – passiv – verlaufe (vgl. ausführlich: Voß 2010: 245 ff.). Die Fokussierung auf die Chromosomen X und Y in Verbindung mit der Betonung der Hoden prägte in zweierlei Hinsicht die Forschungen der nächsten Jahrzehnte: Einerseits war nun allein das Y-Chromosom im Blick und wurde nur dort nach dem Faktor gesucht, der die Ausbildung von Hoden anknipsen sollte, andererseits wurde in den folgenden Jahrzehnten allein männliche Entwicklung untersucht. Diese androzentrische Fokussierung bekam erst in den 1980er Jahren durch einen Aufsatz der Genetikerinnen Eva M. Eicher und Linda L. Washburn einen Dämpfer. Sie führten so schlicht wie überzeugend aus, dass es sich auch bei Eierstöcken um sehr komplexe Organe handelte, so dass nicht

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einzusehen wäre, dass diese einfach so, ohne aktive Entwicklungsschritte, entstehen sollten (Eicher u.a. 1986). Nun kam auch weibliche Entwicklung in den Blick der Forschung. Die Suche auf dem Y-Chromosom wurde 1966 auf den kurzen Arm des Y-Chromosoms eingegrenzt. Dort wurde nach dem Gen gesucht, das die Ausbildung von Hoden veranlassen würde, dem so genannten Hoden determinierenden Faktor (engl.: testis determining factor). Hierbei wurden nacheinander und von verschiedenen Autoren unterschiedliche Gene vorgeschlagen. Ihre Bedeutung als Hoden determinierender Faktor musste aber stets wieder verworfen werden, weil sich herausstellte, dass das postulierte Gen entweder in einigen Fällen fehlte und sich dennoch Hoden ausgebildet hatten, dass es vorhanden war und sich dennoch keine Hoden ausgebildet hatten oder dass es in dermaßen vielen Kopien im gesamten Chromosomenbestand des Menschen (bzw. das Homolog des Gens im Chromosomenbestand der Maus) festgestellt wurde, dass eine auf die Ausbildung von Hoden eingeschränkte Bedeutung nicht wahrscheinlich war. Schließlich wurde 1990 das Gen Sry als Hoden determinierender Faktor vorgeschlagen. Es wird noch heute vielfach als bedeutendster Faktor der Geschlechtsdetermination beschrieben, obgleich sich auch hier rasch gegensätzliche Ergebnisse zeigten: So bildeten sich in einigen Fällen auch bei seiner Abwesenheit Hoden aus und blieben sie in anderen Fällen aus, obwohl Sry vorhanden war. Auch für die weibliche Entwicklung wurden seit Ende der 1980er Jahre verschieden Gene vorgeschlagen, die im Sinne eines Eierstock determinierenden Faktors die Entwicklung von Eierstöcken anknipsen sollten. Eines der diesbezüglich in der Diskussion befindlichen Gene ist Dax1, das regelmäßig auf dem X-Chromosom zu verorten ist (engl.: dosage-sensitive sex reversal, adrenal hypoplasia congenita, critical region on the X chromosome). Aber hier zeigten sich rasch gegenteilige Ergebnisse (vgl. ausführlich: Voß 2010: 245 ff.). Die Widersprüche in den Ergebnissen führten in den letzten Jahrzehnten auch in den biologischen Forschungen zur Geschlechtsdetermination dazu, dass zunehmend von einfachen Modellen der Genwirkung abgerückt wird. War lange Zeit ein Verständnis vorherrschend, dass ein einzelnes Gen für die Ausbildung einer komplexen Organstruktur — wie die der Eierstöcke und Hoden – verantwortlich sein sollte, so geht man nun dazu über, dass ein Netzwerk verschiedener Gene und weiterer Faktoren für die Ausbildung von Hoden bzw. Eierstöcken notwendig wären. Mittlerweile werden etwa 1.000 Gene als in den entsprechenden Phasen der Embryonalentwicklung exprimiert (abgelesen) beschrieben. Zu etwa 80 von ihnen liegen wenigstens einige, durchaus widersprüchliche, Erkenntnisse vor.

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An dieser Stelle wird bereits ein Element der Multikausalität deutlich: Viele Gene und ihre Produkte wirken in Netzwerken zusammen. Sie werden zeitlich und räumlich in unterschiedlichem Maße exprimiert. Und die Expression unterscheidet sich dabei keinesfalls geschlechtlich – die populär verbreitete Annahme ist falsch, dass in einem Geschlecht ein Gen abgelesen wird und in dem anderen nicht. Vielmehr ist es so, dass in der Regel alle Gene sowohl in den als weiblich als auch in den als männlich betrachteten Individuen exprimiert werden. Unterschiede sind lediglich in der Quantität und der Zeitlichkeit der Expression festzustellen – und diese Unterschiede sind keineswegs als geschlechtlich zu verstehen. Die Differenzen sind in der Regel innerhalb einer Gruppe – also bspw. zwischen den einzelnen Individuen in der Gruppe männlich – erheblich größer, als die Differenzen, die zwischen den Gruppen weiblich und männlich gemessen werden können. Das ist ein Hinweis darauf, dass Individualität einen bedeutsamen, lange Zeit vernachlässigten, Faktor darstellt. So wirken in jedem Individuum vielfältige Gene, ihre Produkte und weitere Faktoren quantitativ und zeitlich spezifisch zusammen. Auch wenn ein Gen, welches bei anderen Individuen vorhanden ist, nicht da ist, können zu den anderen Individuen ähnliche Strukturen entstehen, indem die Genwirkung durch andere Gene ersetzt wird. Aber es werden so auch die individuellen Unterschiede bzgl. des Erscheinungsbildes zwischen Menschen erklärbar – sie könnten auf individuelle Unterschiede der Expression zurückzuführen sein. Eine letzte Anmerkung soll auf der genetischen Ebene genügen: So wie mittlerweile bekannt ist, dass XX-Chromosomensatz und XY-Chromosomensatz keineswegs die einzigen auftretenden Kombinationsmöglichkeiten der Geschlechtschromosomen X und Y darstellen, sondern dass auch die Kombinationen X0, XXY, XXXY etc. vorkommen und dass auch ein als typisch weiblich betrachteter Chromosomensatz mit einem als typisch männlich betrachteten Erscheinungsbild (sogenannte XX-Männer) und ein als typisch männlich betrachteter Chromosomensatz mit einem als typisch weiblich betrachteten Erscheinungsbild (sogenannte XY-Frauen) einhergehen kann, so ist die Bezeichnung von X und Y als Geschlechtschromosomen und ihre Abgrenzung gegenüber den übrigen Chromosomen generell in Frage zu stellen. Denn die meisten der 1.000 Gene, die als möglicherweise in die Ausbildung des Genitaltraktes involviert beschrieben werden, kommen regelmäßig gerade nicht auf den Chromosomen X oder Y, sondern auf den übrigen Chromosomen – den Autosomen – vor. Tatsächlich sind die wenigsten dieser Gene regelmäßig auf den Chromosomen X oder Y lokalisiert, so dass bereits die Benennung dieser Chromosomen als

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Geschlechtschromosomen irreführend ist (vgl. ausführlich: Voß 2010: 283 ff.). Deutlich wurde bis hierhin, dass man mit den neueren Kenntnissen mittlerweile auch chromosomal und genetisch bei vielfältigen und individuellen Möglichkeiten der Ausprägung von Geschlecht ankommt. Damit befindet man sich jedoch noch allein auf dieser chromosomalen und genetischen Ebene, einer zweidimensionalen Ebene, nach der, wie vielfach ausgeführt wurde, die Gene bereits alle Informationen enthalten würden, die zur Ausbildung eines Organismus notwendig sind. Ein solches Denken, dass Chromosomen und Gene zentral setzt, sie von Zelle, Organismus und umgebenden Faktoren abkoppelt bzw. diese Faktoren lediglich als nachgeordnete Erfüllungsgehilfinnen – als Sklavinnen der Gene – beschreibt, stellte eine zu simple und mittlerweile widerlegte Sichtweise dar. Sie wäre vergleichbar mit den präformistischen Theorien der Ovisten und Animalkulisten und der Pangenesislehre – Entwicklung wäre ein reines Auswickeln bereits vorhandener Information, Prozesshaftigkeit bliebe aus dem Blick, Einflüsse umgebender Faktoren blieben ausgeschlossen. Die Fokussierung auf Gene, bei dem Vergessen der zellulären und organismischen Faktoren, hatte – wie beschrieben – einerseits politisch-gesellschaftliche Hintergründe, andererseits führte die Entschlüsselung der Struktur der Erbsubstanz DNA (engl. deoxyribonucleic acid; dt. Desoxyribonukleinsäure) durch James D. Watson und Francis Crick in den 1950er Jahren, basierend insbesondere auf den Ergebnissen der von Rosalind Franklin durchgeführten Röntgenstrukturanalysen, zu der Annahme, dass man mit der DNA nun den Schlüssel zum Leben gefunden habe. In der Folge durchgeführte Förderprogramme protegierten die Genforschung, während Forschungen, die sich weiteren zellulären und organismischen Faktoren zuwandten, randständig wurden und mit vergleichsweise geringer Förderung auskommen mussten.8 Mittlerweile ist ein Umdenken im Gange. Es wird von in Netzwerken wirkenden Genen und ihren Produkten ausgegangen. Gleichzeitig waren die Ergebnisse des Humangenomprojekts, bei der die Basenabfolge des gesamten menschlichen Chromosomenbestandes bestimmt werden sollte, ernüchternd: Die Zahl der Gene beim Menschen dürfte kaum größer sein, als die des unscheinbar wirkenden Fadenwurms Caenorhabditis elegans. So rücken weitere Faktoren stärker in den Blick – Faktoren der Zelle, die erst dazu führen, dass aus einer DNA-Sequenz (aus einem Gen) ein konkretes Produkt entsteht, das dann in der Zelle Wirkung entfalten kann. Betrachtungen hierzu sind ebenfalls keineswegs neu – jeder Student und jede Studentin der Biologie und Biochemie wie auch der Medizin lernt etwas über solche Prozesse wie Transkription, transkriptionale 8 | Vgl. etwa die epigenetischen Forschungen Conrad Hall Waddingtons, die erfolgreich waren, allerdings nicht so viel Beachtung fanden wie die Ergebnisse der Genetik (Slack 2002, Speybroeck 2002: 61 ff.).

Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes ...

Modifikationen, Transportmechanismen, Translation, translationale Modifikationen. Allerdings werden diese Themen kaum in ihrer Reichweite weitergedacht: Nimmt man diese Prozesshaftigkeit und ihre vielstufige zelluläre Regulation ernst, so relativiert sich zwangsläufig die Bedeutung der DNA, von Genen. Es bedarf offenbar der komplexen zellulären Regulation, dass aus der DNA-Sequenz die etwa 2 % codierenden Bereiche – die also so etwas wie Gene darstellen – ausgewählt werden. Auf dem Weg vom Gen (der DNA-Sequenz) zum dann tatsächlich in der Zelle wirksamen Produkt finden direkt Sequenzveränderungen statt, es werden verschiedene chemische Moleküle angelagert und die räumliche Struktur des entstehenden Moleküls aktiv reguliert hergestellt. Erst so entsteht das Produkt, das dann in der Zelle eine konkrete Wirkung entfaltet. (Vgl. ausführlich: Voß 2010: 283 ff.) Die DNA stellt also keine Information dar, die es nur zu lesen gilt. Vielmehr wird in der Embryonalentwicklung erst durch zelluläre Prozesse, eingebunden in den gesamten Organismus und abhängig von elterlichen Einflüssen und solchen der weiteren Umgebung, unter Verwendung einer DNA-Sequenz eine konkrete Information hergestellt. Welche DNA-Sequenz exprimiert wird und welches Produkt daraus gebildet wird, ist abhängig von zellulären Prozessen – an denen zahlreiche Faktoren beteiligt, die komplex reguliert sind – und offen für umgebende Einflüsse bspw. aus dem elterlichen Organismus und der weiteren Umgebung. In diesem Beitrag wurde deutlich, dass Geschlechtsentwicklung – der Fokus lag auf Geschlechtsdetermination – variabel verläuft. Es sind zahlreiche Faktoren involviert, sie verläuft prozesshaft und das Ergebnis ist zu keinem Zeitpunkt vorgegeben. Die populäre Annahme, dass sich als Ergebnis der Geschlechtsentwicklung lediglich die beiden Ausprägungsformen des Genitaltraktes weiblich bzw. männlich ergeben würden, ist bei Analyse des biologisch-medizinischen Forschungsstandes nicht haltbar.

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Zur Geschlechterdetermination: Gene und DNA sagen eben nicht die Entwicklung eines Genitaltraktes ...

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Kuba: Eine Revolution der Sexualitäten, 1 Geschlechter und Körper Mariela Castro Espín

Zusammenfassung Im folgenden Beitrag geht es um die Darstellung der kubanischen Geschlechterpolitik, wie sie sich im Projekt Centro nacional de educación sexual, kurz CENESEX genannt, seit 1989 niederschlägt. Es wird deutlich, wie in Kuba Transsexuelle ihren Namen ändern konnten, wie mit dem Projekt CENESEX zur Entpathologisierung von transsexuellen Personen beigetragen werden konnte und in welche Perspektiven solche Ansätze münden können.

Einleitung Als ich J. R. kennenlernte, beklagte er, als Mann in einem Frauenkörper gefangen zu sein. Er litt unter familiären und sozialen Konflikten, die aus dem anhaltenden Widerspruch zwischen seinem weiblichen biologischen Geschlecht und seiner männlichen Geschlechtsidentität resultierten. Nachdem er 40 Jahre lang als Fachkraft im Metallsektor gearbeitet hat, ist er nun pensioniert. Sein älterer Bruder schildert, dass er schon seit dem frühsten Kindesalter ein möglichst männliches körperliches Erscheinungsbild angestrebt hat, was in den Geschichten der kubanischen transsexuellen Personen sehr häufig geschildert wird. J. R. wurde 1972 im Alter von 23 Jahren von der Nationalen Arbeitsgruppe für Sexualerziehung als transsexuell anerkannt. Dadurch wurde es ihm möglich, das Foto und den Namenseintrag in seinem Ausweis ändern zu lassen. Er war der erste Kubaner, der bei der rechtlichen Anerkennung seiner männlichen Identität institutionelle Unterstützung erhielt. Durch die Änderungen im Ausweis wurde seine soziale Integration wesentlich erleichtert.

1 | Originalfassung in spanischer Sprache.

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Damals wurden in Kuba noch keine geschlechtsangleichenden Operationen vorgenommen. Seine Arbeitsstätte hat mehrere Zeugnisse erstellt, die seine menschlichen Qualitäten und seine hervorragenden beruflichen Leistungen unterstreichen. Dies war auch sehr hilfreich bei den weiteren Schritten, die wir mit ihm unternommen haben. In einem Schreiben an das Gesundheitsministerium von 1983 schilderte er: »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich leide. [...] Kuba hilft anderen Personen in anderen Ländern, wieso wird dann nicht auch mir geholfen, obwohl ich Kubaner bin? Mein Problem entspringt nicht einer Laune, sondern ist eine humanitäre Frage. Denn ich kann mich nur als vollwertiger Mensch fühlen, wenn ich operiert werde.«

Er wollte sich unbedingt operieren lassen, ich zitiere weiter aus dem Schreiben: »[...] selbst wenn ich schon alt bin und dabei mein Leben verliere«. Er sagte, er wäre bereit, die notwendigen Dokumente zu unterzeichnen, um als Mann beerdigt zu werden, sollte er die Operation nicht überleben. Wie auch andere transsexuelle Personen drückt J. R. das große Leid und Unbehagen aus, das ihm die Nichtkonformität seines Körpers verursacht und das ihn dazu bewegt hat, sich an die Gesundheitsdienste zu wenden. Wir stellen keine Diagnosen, da wir Transsexualität nicht als pathologisch betrachten. Wir begleiten diese Personen, besprechen mit ihnen ihre Situation und bieten als staatliche Einrichtung eine entsprechend ausgerichtete Betreuung. Seit dem Sieg der Revolution im Jahr 1959 zeigte sich der politische Wille von Staat und Regierung, gegen verschiedene Formen von Diskriminierung, die im jeweiligen historischen Moment festgestellt wurden, vorzugehen.

Projektentwicklung CENESEX Die Themen Trans- und Homophobie stehen etwa seit der Jahrtausendwende auf der Agenda. Zuvor wurden diese oft nicht als Diskriminierungsformen wahrgenommen. Seit der Einführung des öffentlichen Gesundheitssystems 1979 bietet die Nationale Arbeitsgruppe für Sexualerziehung mit einer spezialisierten medizinischen und psychologischen Betreuung eine staatliche Anlaufstelle für Trans‘-Personen. 1989 wurde diese Gruppe als »Nationales Zentrum für Sexualerziehung« (CENESEX) an das Gesundheitsministerium angegliedert. Zuvor war sie Teil der »Föderation der kubanischen Frauen« (FMC), einer bedeutenden Nichtregierungsorganisation. Um die politischen Aktivitäten im Bereich der Sexualerziehung budgetieren zu können, schloss sich das Zentrum

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im Zuge der Aufnahme des Themas Sexualerziehung in die staatliche politische Agenda an das Gesundheitsministerium an. Die Anstrengungen dieser Frauenorganisation und des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung bezüglich der praktischen Betreuung transsexueller Personen ermöglichten dem CENESEX eine Neuausrichtung seines Ansatzes, um der Realität transsexueller Personen gerechter zu werden und führten zu der Erkenntnis, dass die Überwindung des international vorherrschenden biomedizinischen Modells notwendig war, um eine sozial und rechtlich begründete Perspektive auf Transsexualität zu entwickeln. Dies verlangte einen Paradigmenwechsel bezüglich unseres Verständnisses von transsexuellen Personen als pathologisierten und manipulierten Menschen sowie eine Fokussierung auf gesellschaftliche Probleme und insbesondere auf die Machtverhältnisse, die transsexuelle Personen ihrer Rechte berauben. Vor diesem Hintergrund ist die heutige Situation transsexueller Personen innerhalb der kubanischen Gesellschaft, ihre soziale Integration und die Möglichkeit der vollen Ausübung ihrer Rechte, nicht mehr nur noch eine persönliche, familiäre und medizinische Fragestellung, vielmehr bedarf sie einer öffentlichen Antwort in Form einer spezifischen Sozialpolitik. 2004 haben wir uns entsprechend der im wissenschaftlichen Diskurs gängigen Kriterien in »Nationale Kommission zur Behandlung von Personen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung« umbenannt. Uns ist allerdings bewusst, dass Transsexualität in der Psychiatrie weiterhin als Störung der Geschlechtsidentität betrachtet wird. Nach einer fundierteren Auseinandersetzung mit Transsexualität als gesellschaftliche Realität in Kuba und anderen Ländern konnten wir jedoch bestätigen, dass transsexuelle Personen fordern, als gesunde Männer und Frauen und als vollwertige soziale Akteur_innen betrachtet zu werden. Sie akzeptieren es nicht, als Kranke behandelt zu werden, geschweige denn als Bedrohung für die öffentliche Ordnung. Aus diesem Grund haben wir uns 2005 in »Nationale Kommission für die umfassende Begleitung transsexueller Personen« umbenannt. Einer der ausschlaggebenden Gründe für diese Entscheidung war eine von mir organisierte Zusammenkunft von mehr als 40 transsexuellen Personen und Transvestit_innen, die sich für die Bewilligung einer operativen Geschlechtsangleichung und die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität die Unterstützung vom CENESEX erbaten, um die unangebrachte Behandlung durch die Polizei in bestimmten öffentlichen Räumen zu beenden. Bei dieser Zusammenkunft schlugen wir ihnen die Schulung zu Sexualberater_innen sowie eine

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Zusammenarbeit im Rahmen des nationalen Programms zur Kontrolle und Vorbeugung sexuell übertragbarer Krankheiten wie HIV (Human Immunodeficiency Virus) und AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome, englisch für erworbenes Immundefektsyndrom) vor. Ziel war die Stärkung ihrer Rolle als soziale Akteur_innen in der Prävention der Aids-Epidemie als Personen, die nicht nur Zugang zu bestimmten Leistungen erhalten, sondern auch einen eigenen Beitrag leisten. Später wurde ihnen auch eine Schulung zur Förderung der von der »World Association For Sexual Health« (WAS) festgehaltenen sexuellen Rechte angeboten. Dank dieser Schulungen beteiligten sich die transsexuellen Personen bei der Umsetzung einer politischen Strategie gegen das soziokulturelle Klima der Ignoranz und der Diskriminierung, welche zur Transphobie und damit zum Unbehagen dieser Personen führen. So entstand auch das Projekt »TransCuba«, ein Projekt von Aktivist_innen, die im Bereich der Förderung der sexuellen Gesundheit tätig sind und unsere Arbeit mit sehr wertvollen Ideen bereichern. Durch ihre aktive Beteiligung leisten transsexuelle Personen einen wichtigen Beitrag zum politischen Wandel in Bezug auf diese Thematiken. Kubanische Spezialist_innen hatten bereits 1988 bei einer weiblichen transsexuellen Person eine erste erfolgreiche operative Geschlechtsangleichung durchgeführt. Über diese Operation wurde auf einer wissenschaftlichen Veranstaltung berichtet und die Nachricht gelangte in eine Zeitung, die nicht angemessen berichtete. Daraufhin gab es Protestschreiben aus der Bevölkerung und das Gesundheitsministerium zog seine Einwilligung zurück, weitere Operationen durchzuführen. Es mussten 20 Jahre vergehen, bevor die kubanische Trans‘-Bevölkerung diese Leistung wieder in Anspruch nehmen konnte. Aufgrund der Widerstände der kubanischen Institutionen gegenüber einer rechtlichen Anerkennung der Geschlechtsidentität transsexueller Personen, konnten erst 1997 einzelne Übereinkommen mit dem Innen- und dem Justizministerium vereinbart werden. Diese Übereinkommen ermöglichten es schließlich 13 transsexuellen Personen, die bereits vor langer Zeit einen derartigen Antrag gestellt hatten, die Namenseinträge und Fotos in ihren Ausweisdokumenten zu ändern. Doch damit wurden die amtlichen Dokumente nicht vollständig modifiziert. Die Einträge im Personenstandsregister waren davon nicht betroffen, weil die Gesetze stets so ausgelegt wurden (und werden), dass die Morphologie der Geschlechtsorgane das rechtliche Geschlecht bestimmt. Aus diesem Grunde kann eine Änderung des Namens- und Geschlechtseintrages im Personenstandsregister nur dann erfolgen, wenn auch eine operative Geschlechtsangleichung durchgeführt wird.

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Aktuelle Situation in Kuba sowie Umsetzung der Projektziele Später erweiterte das CENESEX im Zuge einer Umstrukturierung die Zusammensetzung seines interdisziplinären Teams zur Begleitung von Trans‘-Personen. Damit einher gingen auch Änderungen hinsichtlich seiner Funktionen sowie die Entwicklung einer nationalen Strategie zur umfassenden Begleitung, welche sich nunmehr nicht nur auf rein medizinische Aspekte bezieht. Um deren Einschätzung und Unterstützung für einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu erhalten, wurde diese Strategie der Föderation der kubanischen Frauen, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas und verschiedenen parlamentarischen Kommissionen vorgestellt. Sie beinhaltete folgende Ziele: • Entwicklung von Richtlinien für die umfassende medizinische Begleitung transsexueller Personen gemäß internationaler Standards und der Charakteristika des kubanischen Gesundheitssystems. Da alle gesundheitlichen Leistungen in Kuba kostenlos sind, wurde dieser Punkt von manchen Menschen kritisiert, die die medizinische Begleitung transsexueller Personen als Luxus und nicht als medizinische Notwendigkeit erachten und eine entsprechende Kostenbeteiligung fordern. Die kubanische Regierung erinnerte jedoch daran, dass der kostenlose Zugang zu medizinischen Leistungen ein Menschenrecht darstelle und auch in Zukunft darstellen werde und die jährlich durchgeführten Operationen vom Staatshaushalt finanziert werden. Um Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten, müssen wir uns nicht für krank erklären. Dementsprechend erklären wir auch transsexuelle Personen nicht für krank oder psychisch beeinträchtigt. Sie leiden lediglich unter einem Unbehagen und erhalten die in den entsprechenden Richtlinien festgelegten Leistungen. • Förderung der interdisziplinären Forschung zum Thema Transsexualität. • Entwicklung von Bildungs- und Öffentlichkeitskampagnen zur Förderung des Verständnisses und des Respekts transsexueller Personen seitens der Gemeinschaft und der Gesellschaft. • Umsetzung von Fortbildungs- und Sensibilisierungsprogrammen zu den Realitäten transsexueller Personen und der Notwendigkeit der Förderung ihrer gesellschaftlichen Integration. • Förderung rechtlicher Mechanismen zur Regulierung der umfassenden sozialen Begleitung transsexueller Personen in Kuba. • Einführung von Bildungsprogrammen zur Begleitung transsexueller Personen und ihren Angehörigen. Wie hier deutlich wird, erachten wir Bildung als

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ein wichtiges Werkzeug zur Transformation der Denkweise und der Kultur der heutigen kubanischen Gesellschaft, zum Kampf gegen Diskriminierungen und zur Stärkung der Solidarität sowie der Achtung der Würde und der Rechte von Trans‘-Personen. Die meisten Erfolge dieser Strategie betreffen das Gesundheitsministerium. Im Juni 2008 wurde ein Abkommen verabschiedet, welches die medizinische Betreuung transsexueller Personen, die Zuständigkeiten dieser Kommission und die Schaffung eines Zentrums zur umfassenden Begleitung beinhaltet. Auf Grundlage des ersten von uns vorgeschlagenen Ziels wurde das Zentrum zur umfassenden Begleitung von Trans‘-Personen und ihren Angehörigen ins Leben gerufen, dessen Räumlichkeiten sich im von mir selbst geleiteten Nationalen Zentrum für Sexualerziehung befinden. Die hier angewendeten Standards basieren auf der informierten Einwilligung gemäß den Vorkenntnissen der Person, also der vollständigen Aufklärung der Person über hormonelle und operative Verfahren. Zudem haben wir mit Unterstützung von Expert_innen der Universität Gent, Belgien, Behandlungsstandards für operative Geschlechtsangleichungen entwickelt. Diese Leistung wird vom nationalen Gesundheitssystem übernommen. Seit 1979 haben insgesamt 210 Personen eine Behandlung durch die Spezialist_innen beantragt. Von diesen 210 Personen wurden 37 als transsexuell anerkannt – anerkannt, nicht diagnostiziert – und bei 15 wurde in Zusammenarbeit mit den Ärzt_innen der Universität Gent eine operative Geschlechtsangleichung durchgeführt. 2011 konnte sich J. R., die Person von der ich eingangs sprach, einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen. Er lebt seinen eigenen Angaben zufolge nunmehr als sehr glücklicher Mann. Hinsichtlich des zweiten von uns formulierten Zieles entstanden während der Umsetzung dieser Strategie verschiedene Standards und Forschungsprojekte, so beispielsweise eine Evaluation der Strategie zur umfassenden Begleitung von transsexuellen Personen als sozialpolitisches Programm in Kuba, Studien über gesellschaftliche Repräsentationen von Sexualität, durchgeführt von einer Gruppe von Trans‘-Personen aus der Hauptstadt des Landes, Havanna, sowie eine kleinere Studie über Familie und Transsexualität in Kuba. Die Arbeit mit den Angehörigen war sehr intensiv und besonders bei der Begleitung der transsexuellen Personen während und nach den operativen Eingriffen sehr wichtig. Es entstanden zudem kleinere Studien über nicht-normative Sexualität und Gewalt sowie zu Transsexualität und Beschäftigung usw. Diese Studien

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werden in der wissenschaftlichen Zeitschrift Sexología y Sociedad sowie auf der Homepage des CENESEX veröffentlicht. Um uns dem dritten von uns formulierten Ziel anzunähern, organisiert das CENESEX in Zusammenarbeit mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen seit 2007 am 17. Mai den Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie (IDAHO). Seit 2008 arbeiten wir zudem an einer landesweiten Bildungsstrategie zur Förderung der Achtung des Rechts auf freie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Training für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit – unter aktiver Beteiligung von LGBT-Aktivist_innen sowie intergeschlechtlichen und heterosexuellen Personen. So ist unter der Leitung des CENESEX die kubanische LGBTIH2-Bewegung entstanden. Neben dem IDAHO selbst werden auch zahlreiche weitere Veranstaltungen organisiert. Im Juni sind wir alle immer sehr erschlagen von so viel Arbeit! Die Trans‘-Aktivist_innen bringen zudem ihre Stimmen und Erfahrungen in Expert_innendiskussionen ein, in denen die Strategie vorgestellt wird. Hier zeigen sie Präsenz und treten mit der Gesellschaft ins Gespräch. Wir schulen sie in Methoden partizipativer Weiterbildung, damit sie ihr Erfahrungswissen in den Diskussionen vermitteln und die Gespräche konstruktiv mitgestalten können. So besuchten sie beispielsweise die letzten drei kubanischen Kongresse über Bildung, Orientierung und Sexualtherapie, verschiedene Diskussionsveranstaltungen im Rahmen des Lateinamerikanischen Filmfestivals »Cine Pobre«, die Outgames von Montreal, Dänemark und Belgien, Kongresse über HIV-Prävention (als AIDS-Aktivist_innen), etc. Sie beteiligen sich ebenfalls sehr aktiv an der Organisation der verschiedenen, im ganzen Land stattfindenden Feierlichkeiten zum Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie. Hinsichtlich des vierten Zieles organisierten wir zahlreiche Kurse, Seminare und Workshops zur Sensibilisierung der Mitarbeiter_innen des Gesundheits-, Innen- und Justizministeriums, des Obersten Gerichts, der Generalstaatsanwaltschaft, der Polizeischulen und der Schule zur Ausbildung von Führungskräften der Kommunistischen Partei, der Hochschulen für Medizin und Erziehungswissenschaften sowie der Lateinamerikanischen Schule für Medizin (ELAM). In Havanna initiierten wir Weiterbildungsangebote für Journalist_innen und Korrespondent_innen, Künstler_innen, Schriftsteller_innen, Drehbuchautor_innen für Funk und Fernsehen, Regisseur_innen von Kino- und Zeichentrickfilmen und Beschäftigte in anderen audiovisuellen Medien. Dank dieser Bemühungen verfügen wir heute über die breite Unterstützung sozialer Akteur_innen aus der gesamten kubanischen Bevölkerung. 2 | H für heterosexuelle Personen.

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Bezüglich des fünften Zieles wurden zwei Gesetzesentwürfe erarbeitet, über deren Verabschiedung noch nicht abschließend beraten wurde. Hier handelt es sich zum einen um eine Gesetzesverordnung zur Geschlechtsidentität, welche alle Aspekte umfasst, die als für die Achtung der Würde transsexueller Personen als grundlegend notwendig erachtet werden. In dieser Verordnung wird auch auf die Möglichkeit Bezug genommen, eine Personenstandsänderung vorzunehmen, ohne dass geschlechtsanpassende operative Maßnahmen vollzogen werden, da nicht alle Personen, die eine Personenstandsänderung wünschen, sich diesen Eingriffen unterziehen können oder möchten. Hier warten wir noch auf eine Entscheidung seitens der Gesetzgeber_innen. Ein weiterer Vorschlag zielt auf die Überarbeitung des Familienrechts. Unter Rückgriff auf ihre in der kubanischen Verfassung verankerte rechtlichen Befugnis hat die Föderation kubanischer Frauen in den letzten 20 Jahren einen Prozess der Überarbeitung und Neuaufsetzung des 1975 durch Volksabstimmung verabschiedeten Familienrechtes vorangetrieben. Aufgrund der Bedeutung dieser Überarbeitung für die volle Ausübung unserer Bürger_innenrechte hinsichtlich unseres Schutzes und Wohles sowie ausgehend von den allgemeinen Menschenrechten und unserer sozialen Verantwortung plädieren wir für die Aufnahme eines neuen Artikels über die Rechte bezüglich der Geschlechtsidentität und der sexuellen Orientierung. Dank einer Aufnahme der Kernaspekte dieser neuen Strategie in eine Gesetzesstruktur wie das Familienrecht kann anerkannt werden, dass wir alle die ersten Lern- und Sozialisierungserfahrungen, die uns grundlegend und nachhaltig prägen, innerhalb unserer Familie sammeln. So kann anerkannt werden, dass es der Verantwortung der Familie als Institution unterliegt, alle ihre Mitglieder ohne jegliche Form von Diskriminierung zu.

Perspektiven Auf Vorschlag der Nationalen Kommission für die umfassende Begleitung transsexueller Personen, des CENESEX und der sexualwissenschaftlichen Wissenschaftsgemeinde hat sich Kuba 2010 mittels einer Erklärung der weltweiten Kampagne zur Entpathologisierung der Transsexualität angeschlossen. Dabei wurden unsere Argumente aufgegriffen, welche auf unserer Homepage veröffentlicht sind. Auf der im Januar 2012 abgehaltenen Konferenz der Kommunistischen Partei Kubas wurde eine Richtlinie zur Bekämpfung jeglicher Form von

Kuba: Eine Revolution der Sexualitäten, Geschlechter und Körper

Diskriminierung beschlossen, welche zum ersten Mal in unserer Geschichte auch die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität einschloss. Diese Richtlinie wurde in die politische Agenda der Kommunistischen Partei aufgenommen, allerdings arbeiten wir momentan noch an ihrer tatsächlichen Umsetzung. Die reine Tatsache, dass dieser Aspekt nun auf der politischen Agenda steht, ist nicht ausreichend. Abschließend möchte ich betonen, dass wir aufgrund der besonderen gesellschaftlichen Bedeutung und des hohen humanistischen Gehalts dieser Strategie fordern, dass sie fester Bestandteil der Sozialpolitik wird und sich auch in der nationalen Gesetzgebung widerspiegelt. Ich berufe mich auf José Martí, der festhielt: »Die Justiz duldet kein Zögern. Wer ihre Vollstreckung hinausschiebt, richtet sie gegen sich«.3

3 | Kubanischer Denker, Publizist, Philosoph, Dichter spanischer Herkunft, Symbol der kubanischen Unabhängigkeitsbestrebungen. URL: http://akifrases.com/frase/190649 [26.11.2013].

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Kapitel 4: Geschlechternormativität und Transidentität

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Trans‘-Kinder zwischen Definitionsmacht und Selbstbestimmung Erik Schneider

Zusammenfassung Menschen, die nicht den Geschlechternormen entsprechen, sehen sich oftmals erstaunten und verwirrten Reaktionen ausgesetzt. Dabei scheint es, als konfrontierten Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen von Geschlecht entsprechen, mit ihrem Sein ihr Gegenüber oftmals allein bereits durch ihre Präsenz, welche Abwehrreaktionen eigener Ängste und/oder Unsicherheit bezüglich des eigenen Geschlechtes in Form von Ablehnung, Entwertungen bis hin zur Gewalt hervorruft. Eine solche Reaktionskette kann darauf hindeuten, dass immer noch fest eingeschriebene Vorstellungen von Geschlecht gesellschaftlich virulent sind. In der Medizin, der eine weitreichende Definitionsmacht zugestanden wird, haben solche Festschreibungen dazu geführt, dass Menschen, die bestimmten normativen Vorstellungen von Geschlecht nicht entsprechen, für krank erklärt werden. Mit diesem Prozess der Pathologisierung gehen unterschiedliche Therapieangebote einher, über die innerhalb des ärztlichen Berufsstandes wie auch innerhalb ihrer einzelnen Disziplinen z.Zt. heftig gestritten wird. Außen vor bleiben in beiden Bereichen oft jene, um die es eigentlich geht. Deren Sichtweise und Stimmen, insbesondere jener von Kindern, wird nur wenig Rechnung getragen, wenn sie denn überhaupt gehört werden.

1 | Kinder, deren bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht von der Eigenwahrnehmung und Selbstbestimmung ihres Geschlechtes, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihrem Geschlechtsausdruck abweicht. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Begriff ›Trans‘-Kinder‹ hier deshalb verwendet wird, weil er aus der Perspektive des Autors eine breitmöglichste Varianz ermöglicht. Die Verwendung dieses Begriffes entbindet nicht davon, Kinder selbst zu fragen, wie sie bezeichnet werden wollen, weil nur sie darüber eine verlässliche Auskunft geben können, ob und mit welchem Begriff sie sich am ehestens beschrieben sehen.

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Erfahrungen von Trans‘-Kindern im Gesundheitssystem – ein Ausschnitt Kinder, die sich den geschlechtlichen Normvorstellungen westlicher Kulturen entziehen und die Anerkennung ihrer geschlechtlichen Selbstverortung2 bei ihren Eltern und in ihrem weiteren Umfeld einzufordern versuchen, sind oftmals verschiedenen Problemen ausgesetzt: Fehlende Kenntnisse (RADELUX II 2012: 15, 17, 23) und Verunsicherung im Umgang mit ihnen, insbesondere bei Professionellen wie auch Eltern, Destabilisierung der Vorstellungen menschlicher Zweigeschlechtlichkeit (Voß3), Pathologisieren4 von Menschen, deren Geschlechtsidentität5 von kulturellen Normvorstellungen abweicht (Schneider 2014), Vermischung mit Intersexualität6 (Baltes-Löhr7; Groneberg8) und sexueller Orientierung9 bzw. Homosexualität (Drescher/Cohen-Kettenis/Winter; 2012: 568). So berichten Eltern derartige Erfahrungen, wie nachfolgend die Mutter10 eines 16-jährigen Trans‘-Mädchens gegenüber dem Elternverein TransKinder-Netz (TRAKINE), ein Verein von und für Eltern und Angehörige/n von Trans‘-Kindern: »Dort [Kinder- und Jugendpsychiatrie in Münster, Anm. ES] habe ich dann als erstes angerufen und die Situation geschildert. Es handele sich vielleicht um Geschlechtsidentitätsstörung, ob sie auf diesem Gebiet Erfahrung hätten. Diese Frage wurde bejaht und ich vereinbarte daraufhin einen Termin. […] Dort wurden wir jedoch enttäuscht, denn die Psychologin teilte uns mit, dass man so einen Fall noch nicht gehabt hätte. Nach dem Gespräch mit meinem Kind sagte sie mir, es habe heftige Depressionen und auch Suizidgedanken […]. Panisch vor Angst, er könnesich doch etwas antun, habe ich dann noch Kontakt zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm aufgenommen. In Hamm wurde er dann ambulant einmal in der Woche wegen der Depressionen behandelt. Mit dem anderen Thema konnten sie uns nicht weiterhelfen.«

2 | Der Autor versteht darunter die geschlechtliche Selbstbestimmung (fr.: auto-détermination sexuée, engl.: self-determination of sex), die jedes Geschlecht innerhalb oder außerhalb binärer Geschlechterordnungen umfasst, dem sich ein Menschen selbst abhängig oder unabhängig von den jeweils geltenden Geschlechternormen zuordnet, oder auf eben diese Zuordnung verzichtet. Sie schließt die geschlechtliche Selbstwahrnehmung (fr.: auto-perception sexuée, engl.: self-perception of sex) ein. 3 | Siehe Beitrag von Heinz-Jürgen Voß in dieser Publikation. 4 | Mechanismus, über den Menschen, deren körperliche, psychische und/oder soziale Merkmale nicht der Norm entsprechen, von Mediziner_innen für krank erachtet bzw. erklärt werden. 5 | »Das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, das mit dem Geschlecht, das der betroffene Mensch bei seiner Geburt hatte, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt […]« (Hirschfeld-Eddy-Stiftung 2008: 12). 6 | Biologische Besonderheiten bei der Geschlechtsdifferenzierung, bei der Menschen mit intersexuellen Körpern in unterschiedlicher Weise Ähnlichkeiten mit beiden Standardgeschlechtern, dem weiblichen wie männlichen, aufweisen. Vgl. Beschreibung des Bundesverbandes Intersexuelle Menschen e.V. URL: http://www. intersexuelle-menschen.net/intersexualitaet/ [31.12.2013]. 7 | Siehe Beitrag von Christel Baltes-Löhr in dieser Publikation: Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders. 8 | Siehe Beitrag von Michael Groneberg in dieser Publikation. 9 | »Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen desselben oder eines anderen Geschlechts oder mehr als einem Geschlecht hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen« (Hirschfeld-Eddy-Stiftung 2008: 12). 10 | TRAKINE: Erfahrungsbericht. URL: http://www.trans-kinder-netz.de/pdf/Mutter_eines_16_jaehrigen_ Transmaedchens.pdf [16.08.2013].

Trans‘-Kinder zwischen Definitionsmacht und Selbstbestimmung

Um eine angemessene medizinische Behandlung für ihr Kind zu finden, nehmen einige Familien hohe Belastungen auf sich, wie folgender Bericht11 zeigt: »Für uns bedeutet dies, [vom Bodensee, Anm. ES] nach Hamburg in die Uniklinik fahren zu müssen, was für uns natürlich ein sehr großer Aufwand, körperlich wie auch finanziell darstellt. Im nahen Umfeld gibt es derzeit noch keine vergleichbaren Spezialisten, die die Auffassung vertreten, die Entwicklung offen zu lassen und nicht etwas wegtherapieren wollen, was man nicht wegtherapieren kann. Stellungnahmen, die diese Position befürworten und die wir als richtig für unser Kind halten, bekommen wir nur von den dortigen Spezialisten.«

Eine weitere Art von Belastung stellt die Androhung der Beendigung einer begonnenen Hormonbehandlung zur Unterdrückung der Pubertät12, bedingt durch Personalwechsel: »Die Blocker [pubertätsaufschiebende Hormone, Anm. ES] haben ihm eine Stabilität gegeben, die es ihm ermöglichte, über einen Neuanfang an einer Schule nachzudenken, in der ihn niemand kennt. So hat sich seine soziale Angststörung sehr verringert. Als die/der neue Endokrinolog_in uns anrief, um uns mitzuteilen, dass er/sie vor hat, seine Behandlung zu beenden, war unser Sohn am Boden zerstört, da ihm ohne die Blocker die Sicherheit zu einen Neuanfang entzogen wurde. Das Horrorszenario, eine weibliche Pubertät durchleben zu müssen und somit seine zukünftige körperliche Fähigkeit, in eine männliche Rolle hinein zu wachsen, zu gefährden, hat ihn in eine Situation zurückgeworfen, in der er fühlt, dass er in der ihm vorgeschlagenen neuen Schule keineswegs akzeptiert werden wird, weil sein Unterschied ihn wieder markieren wird und er in der gleichen Weise, wie er in seiner derzeitigen Schule, jenen ausgeliefert war, die ihn seit seiner Kindheit kannten.«

Diese, wie viele andere Beispiele unterschiedlicher Erfahrungen und Lebensrealitäten, zeigen die Notwendigkeit einer Veränderung im Umgang der im Gesundheitssystem Tätigen mit Trans‘-Kindern und deren Familien auf. Ihre Bedürfnisse müssen die Grundlage ärztlichen Handelns darstellen, der gesellschaftliche Auftrag sollte die Verbesserung ihrer Lebenssituationen sein. Bei der Frage, wie dies erreicht werden kann, lohnt sich ein Blick auf die medizinische Sichtweise von Geschlecht.

11 | Trakine: Erfahrungsbericht. URL: http://www.trans-kinder-netz.de/pdf/Lenas_Mutter.pdf [14.02.2014]. 12 | Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l. (ehemals Transgender Luxembourg, 2012): Erfahrungsbericht.

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Medizinischer Blick auf Geschlecht Als scheinbar unumstößliches Paradigma basieren ärztliche Vorstellungen von Geschlecht auf der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, die weder als wissenschaftlich belegt erachtet werden können, noch sich bei näherer Betrachtung unterschiedlicher Menschen widerspiegeln (Voß13). Weder auf biologischer, noch auf psychischer oder sozialer Ebene lassen sich allein zwei strikt voneinander abgrenzbare geschlechtliche Varianten des Menschen unterscheiden. Eher lässt sich eine hohe Variabilität menschlichen Seins auf allen genannten Ebenen nachweisen. Allerdings werden dieser Vielfältigkeit zum Trotz in den meisten Gesellschaften Menschen bei der Geburt aufgrund ihrer Genitalien, entweder zur Gruppe der Mädchen oder der Jungen zugewiesen. Wessen Merkmale sich der vermeintlichen Eindeutigkeit entziehen, läuft Gefahr, durch Mediziner_innen – die Definitionshoheit für die Begriffe ›Krankheit‹ und ›Behandlungsbedürftigkeit‹ für sich beanspruchen – als krank bezeichnet und eindeutig gemacht zu werden (Fausto-Sterling 1993: 23; Woweries14). Wie sich ein Mensch geschlechtlich verortet, d.h. ob und welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlt bzw. identifiziert, d.h. welche Geschlechtsidentität er entwickelt, ist bei der Geburt nicht vorhersehbar, wie anhand der Erfahrungen von Trans‘-Kindern, jedoch auch von Intersex-Kindern verdeutlicht werden kann (vgl. Woweries15). Bekannt sind unterschiedliche kulturelle Vorstellungen von Geschlecht und mehr oder weniger fest gelegte Möglichkeiten des Geschlechtswechsels (vgl. Baltes-Löhr16). Nicht in allen Kulturen greifen Menschen dabei auf das Konzept der geschlechtlichen Binarität und den Mechanismus der Pathologisierung zurück, dessen Funktion darin besteht, die Existenz von Menschen zu erklären, die Merkmale außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit aufweisen, sowie die Vorstellung der Binarität der Geschlechter »zu retten« (vgl. Rauchfleisch 2012: 187; Schneider 2014). Nach Langer/Martin (2004: 4) gibt es keine wissenschaftlich fundierten Kriterien zur Unterscheidung von normaler und pathologischer Geschlechtsidentität bzw. Geschlechtsrollenverhalten. Die vorhandenen wissenschaftlichen Daten können die Frage, ob es sich bei der Diagnose pathologische Geschlechtsidentität um eine psychische Störung handelt, ob eine Störung mit einer anderen physischen Ursache vorliegt oder ob überhaupt eine Störung vorliegt, nicht empirisch beantworten (Cohen-Kettenis/Drescher/Winter 2012: 573). Auch Transsexualismus als eine psychische Störung zu betrachten, wird in zunehmendem Maße in Frage gestellt (Alessandrin 2013: 57; Becker 2012: 26; Rauchfleisch 2012: 23). 13 | Siehe Beitrag von Heinz-Jürgen Voß in dieser Publikation. 14 | Siehe Beitrag von Jörg Woweries in dieser Publikation: Wer ist krank? Wer entscheidet es? 15 | Siehe Beitrag von Jörg Woweries in dieser Publikation: Intersexualität — Medizinische Maßnahmen auf dem Prüfstand. 16 | Siehe Beitrag von Christel Baltes-Löhr in dieser Publikation: Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders.

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Dabei werden teilweise auch innerärztlich bzw. innerhalb des Faches Psychiatrie Entpathologisierung (Sigusch 2011: 286), insbesondere De-Psychiatrisierung (Becker 2012: 26-27), als notwendig erachtet, wobei wiederholt auf Lösungen verwiesen wurde und wird, die den Erhalt der Kostenerstattung für Hormonbehandlung und genitalangleichende Maßnahmen sicherstellen (Becker 2012: 27; Cohen-Kettenis/Drescher/Winter: 573; Rauchfleisch 2012: 35). Ungeachtet dieser Weiterentwicklungen gibt es Rückschritte, die eine Verankerung der Psychiatrie in der Diskussion um die Kostenerstattung erst neu festlegen. So wurde in Luxemburg per ministeriellem Erlass17 zum 01.01.2014 als Bedingung für die Kostenübernahme medizinischer Leistungen das Vorliegen eines wissenschaftlichen nicht belegten »Syndroms der Geschlechtsdysphorie« eingeführt sowie eine mindestens einjährige »psychiatrische Begleitung«. Diese und andere unangemessene Bedingungen führen zu einer erschwerten Transition18 von Trans‘-Personen, insbesondere von Minderjährigen, und können zu Menschen- und Kinderrechtsverletzungen führen. Ein weiterer Aspekt medizinischer Betrachtungen ist die Abgrenzung der Geschlechtsidentität von der sexuellen Orientierung. Obwohl bisher nicht untersucht, zeigt sich empirisch, dass viele Trans‘-Personen jeglichen Alters keinerlei Probleme in der Unterscheidung ihrer geschlechtlichen Selbstverortung und ihrem Begehren haben, wiewohl diese Frage wiederholt von Professionellen fast regelhaft aufgeworfen wird. Dies geschieht u.U. in der Annahme, dass Trans‘-Personen ihre eigene Homosexualität nicht akzeptierten und daher verdrängten (Korte 2008; Rauchfleisch 2012: 22). Becker (2012: 30) schreibt von fließenden Übergängen zwischen Homosexualität und Transsexualität. Das Ausmaß der Problematisierung der sexuellen Orientierung von Trans‘-Personen durch Professionelle (Becker/Möller/Schweizer 2013: 267 ff.) und Forschende (Hill u.a. 2007: 68), das so wenig dem Bedürfnis vieler Betroffener entspricht, erstaunt. Dem gegenüber stehen fehlende Untersuchungen mit belastbaren Daten zur sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität der Gesamtbevölkerung und deren Zusammenhänge, der ungeprüft heterosexuelles Begehren und Cis-Identität19 unterstellt wird. Zu dem Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit gesellt sich das Paradigma der Heteronormativität, demzufolge jeder Mensch eigentlich heterosexuell ausgerichtet sei. Danach wolle eine Trans‘-Person lediglich heterosexuell leben und daher ihr Geschlecht wechseln. Diese Hypothesen blenden jene Personen aus, 17 | Mémorial. Amtsblatt des Großherzogtums Luxemburg. A – N° 232, 30.12.2013. Caisse nationale de santé – Statuts. Rubrik »Chirurgie plastique à visée esthétique et dysphorie de genre«, 1° g), S. 4301 f. URL: http:// www.legilux.public.lu/leg/a/archives/2013/0232/a232.pdf [06.01.2013]. 18 | Wechsel in eine andere Geschlechtsrolle, die auch außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit liegen kann. 19 | Übereinstimmung des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtes mit der geschlechtlichen Selbstverortung.

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nach der Transition in ihrer neuen Geschlechtsrolle homo- oder bisexuelle Beziehungen (Rauchfleisch 2012: 66) führen wie auch jene, sich als a- oder pansexuell20 empfinden, sich vor Umstellung jedoch nicht als heterosexuell empfunden haben. Ferner sei nur kurz auf die Vielfalt von Begriffen und Definitionen sowie die damit einhergehende Vielfalt sprachlicher Übersetzungen und uneinheitliche Verwendungsweisen hingewiesen. So gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Begriffen sowie verschiedene Definitionen von Transsexualismus, Transsexualität, Geschlechtervarianz, sexuelle Identität etc. (vgl. Schneider 2014). Diese Komplexität führt zusätzlich zu den kulturell vielfach eingeengten Vorstellungen von Geschlecht und der häufigen Vermischung mit sexueller Orientierung zu einer weiteren Verwirrung und trägt oftmals zum Nicht- bzw. Falschverstehen von Trans‘-Personen bei.

Kontaktaufnahme von Eltern mit Professionellen des Gesundheitssystems Manche Kinder nehmen sehr früh wahr, dass das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit ihrem selbst empfundenen Geschlecht übereinstimmt. Einige teilen diese Selbstwahrnehmung ihren Eltern mit, wie folgendes Beispiel eines 5-jährigen Kindes zeigt: »Warum hast du mir, als ich geboren wurde, keinen Mädchennamen gegeben?« Die Mutter antwortete: »Du hattest einen Puller.« Daraufhin meinte ihr Kind: »Ja, aber innen drin bin ich ein Mädchen, im Herzen und im Kopf.«, »Als ich geboren wurde, hatte ich auch schon ein Mädchenherz, ich konnte es euch nur nicht sagen.«21 Die Eltern gehen nicht selten in vermeintlich verständnisvoller Weise davon aus, dass es sich um eine übergehende Phase handelt. Z.B. erlauben manche von ihnen einem als Junge zugewiesenen Kind, sich zuhause wunschgemäß als Mädchen zu kleiden, während außerhalb des Hauses Hosenpflicht angesagt ist, da sie davon ausgehen, einen Jungen vor sich zu haben. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Angst der Eltern, dass ihr Kind ausgegrenzt, gemobbt oder geschlagen wird und dass sie deshalb nicht wollen, dass ihr Kind so aus dem Haus geht. Andere Eltern korrigieren, sanktionieren und schlagen ihr Kind in der Hoffnung, das Kind würde sich unter diesen als Erziehungsmaßnahmen empfundenen Handlungsweisen wieder normal verhalten (Brill/Pepper 2011: 88/89; RADELUX II 2012: 13). Jugendliche hören manchmal von ihren Eltern, dass es sich um eine Modeerscheinung handele mit der impliziten Aussage, dass »man nicht alle 20 | Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen unabhängig von deren Geschlecht hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen. Dies schließt Menschen außerhalb der geschlechtlichen Binarität ein (Nieder 2013). 21 | TRAKINE: Erfahrungsbericht. URL: http://www.trans-kinder-netz.de/pdf/Mutter_von_Lispdf[07.01.2014].

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Modeerscheinungen mitmachen müsse«.22 Erscheint diese Phase zu lang und/oder zu intensiv, beginnen die Eltern oft, sich Sorgen zu machen, zumal wenn sie ihr Kind mit anderen in der Altersperiode vergleichen. Der Verdacht der geschlechtlichen Andersartigkeit ihres Kindes stellt für viele Familien das Leben auf den Kopf. Manche suchen ärztliche und/oder anderweitig therapeutische Hilfe auf, um herauszufinden, was mit ihrem Kind passiert (ist) und wie es wieder normal wird. Den wenigsten Eltern ist in dieser Phase deutlich, dass ihr Kind nicht krank ist, sondern lediglich von gesellschaftlichen Geschlechternormen abweicht. Auch Druck aus der Umgebung von der eigenen Familie, den Kindergärtner_innen, dem Schulpersonal können eine Motivation für Korrekturen und Sanktionen darstellen, mindestens jedoch für das Ignorieren sog. geschlechtsnonkonformen Verhaltens. Insbesondere bei Auftreten psychischer Beschwerden wie Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme zu anderen, Essstörungen, Selbstverstümmelung (Carmichael/Parkinson/Skagerberg 2013), Depressivität oder Suizidalität (HES/MAG 2009), auch in der frühen Kindheit (Lüthi/Fuchs 2013), die häufig in Zusammenhang mit Verleugnung der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung, gesellschaftlicher Ablehnung, erfahrenen Korrektionen und Sanktionen auftreten (Ehrensaft 2012; D'Augelli/Grossmann 2007; McBride 2013: 52; RADELUX II 2012: 15), alarmieren Eltern und lassen sie Hilfe aufsuchen. So berichtete eine Mutter: »Eines Abends versuchte Karl sich unter der Dusche den Puller mit einem Plastikmesser aus dem Kaufmannsladen abzuschneiden. Karl: ›Dann wächst mir eine Scheide. Es gibt in echt eine Fee, die mich in ein echtes Mädchen verzaubern kann, ich möchte lange Haare und eine Scheide haben, dann trage ich immer richtige Mädchenkleider.‹, ›Immer wenn ich meinen Puller sehe bin ich traurig, 23

ich möchte den nicht haben, wann geht der weg?‹«

Zudem wird meist ein hoher gesellschaftlicher Druck auf die Eltern ausgeübt, das Kind zu normalisieren, was zumeist mit einer hohen Belastung der Eltern-Kind-Beziehung einhergeht (Hill/Menvielle 2009: 255-256). Ärzt_innen und Psycholog_innen scheinen angesichts eines Trans‘-Kindes häufig überfordert zu sein. So berichten Eltern über mangelndes Wissen vieler Professioneller, die teilweise die Eltern für eine mögliche Transidentität ihres Kindes verantwortlich machten (McBride 2013: 57; Hill/Menvielle 2009; Schneider 2013) und sahen sich u.a. mit Reaktionen und Äußerungen konfrontiert wie »Er [der Arzt, Anm. ES] hat mich angerufen und beschimpft, ich würde das Kind in die

22 | Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l. (2013): Erfahrungsbericht. 23 | TRAKINE (2012): Erfahrungsbericht eines 6-jähigen Transmädchens. URL: http://www.trans-kinder-netz. de/pdf/Mutter_von_Lisa.pdf [27.12.2013].

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Schizophrenie erziehen und wäre eine große Gefahr für das Kind. Man sollte das Jugendamt einschalten«, »Davon habe ich noch nie gehört.«, »So was gibt es nicht!«, »Das Kind braucht eine harte Hand!«. Eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin äußerte: »Das ist nur eine Phase, Ihr Kind ist ja auch ein Trennungskind!«24 Sollte das Argument der Trennung in ursächlichem Zusammenhang mit einer möglichen Transidentität stehen, so müsste von einer weitaus höheren Anzahl von Trans‘-Personen ausgegangen werden.

Phasen professioneller Begleitung von Trans‘-Kindern und -Jugendlichen Generell lassen sich drei, mit spezifischen Lebensabschnitten der Minderjährigen verbundene Phasen erfassen, in denen professionelle Hilfe aus dem Gesundheitssystems gesucht wird: • Unterstützung bei Entscheidungshilfe hinsichtlich einer sozialen Transition in der Kindheit, u.a. in Kindergarten, Schule, außerschulischen Einrichtungen. • Vor dem Start einer pubertätsblockierenden Hormonbehandlung mittels Gonadotropin-Releasinghormon-Agonisten (GnRh-Agonisten) (Wüsthof25) zu Beginn der Pubertät bei Jugendlichen. • Vor irreversiblen medizinischen Maßnahmen für Jugendliche und Erwachsene (sog. gegengeschlechtliche Hormonbehandlung, geschlechtsangleichende Operationen). Professionelle aus dem Gesundheitssystem werden immer wieder vor die Frage gestellt, ob und ggf. in welcher Weise sie eine Familie unterstützen.

Herangehensweisen in der Medizin Ausgehend von der Erfahrungen in den 1950er Jahren, in denen u.a. Christine Jörgensen 1952 und Coccinelle und Bambi 1958-1960 ihre Transition mittels medizinischer Maßnahmen medienwirksam öffentlich machten, stieg die Nachfrage nach Hormonbehandlungen sowie nach geschlechtsangleichenden Operationen. In den 1960er Jahren diskutierten Somatiker_innen, wie Endokrinolog_innen und Chirurg_innen, insbesondere mit Psychiater_innen und Psycholog_innen kontrovers über den angemessenen Umgang mit Transsexualität. Forschende legten ihre Aufmerksamkeit auf sog. feminine Jungen, in der Vorstellung diese frühzeitig i.S.e. Prävention zu behandeln und somit das Problem der Transsexualität im Erwachsenenalter lösen zu können (Bryant 2006: 26). 24 | TRAKINE-Vortrag bei der Infoveranstaltung über Transsexualität vom 04.12.2013 in Magdeburg. URL:https: //www.facebook.com/events/669464496419434/ [05.01.2014]. 25 | Siehe Beitrag von Achim Wüsthof in dieser Publikation.

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Welche Behandlung für ein Kind die Beste sei, darüber wird derzeit innerhalb der Medizin heftig gestritten, auch im Rahmen der Erneuerung des seit Mai 2013 publizierten Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (American Psychiatric Association, APA, 2013), sowie der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (engl. ICD), deren Veröffentlichung für 2015 erwartet wird. Der APA (2011) zufolge, besteht lediglich Konsens in der Auffassung, dass das übergeordnete Ziel der Psychotherapie in der Optimierung der psychischen Funktionsfähigkeit, des Wohlbefindens und Selbstwertgefühls der Kinder mit der Diagnose einer Störung der Geschlechtsidentität [seit Mai 2013 ersetzt durch Geschlechtsdysphorie] liegt. Kein Konsens ließe sich bezüglich folgender Kernfragen finden: • Reduzierung atypischer Verhaltensweisen in Bezug auf die Geschlechternormen, • Vermeiden von Transsexualität, insbesondere hormon-chirurgischer Behandlungen (Meyer-Bahlburg 2002; Zucker 1990). Können diese als akzeptable Behandlungsziele einer Psychotherapie betrachtet werden, die durch das ärztliche Berufsethos abgedeckt sind? Weitere Fragen sind durch die Gesellschaft zu beantworten: Handelt es sich bei der Normalisierung von Empfinden und Verhalten, das nicht kulturellen Geschlechterstereotypien und -normen entspricht, um ein ethisch vertretbares Vorgehen als Ziel medizinischer Maßnahmen? Ist die Klärung dieser Fragen überhaupt der Medizin oder anderen Disziplinen zu überlassen? Die von kulturellen Geschlechtervorstellungen abweichende geschlechtliche Selbstverortung und Geschlechter-non-konformes Verhalten werden von vielen Professionellen als behandlungs-, mindestens jedoch veränderungsbedürftig betrachtet. Zunehmend setzen jedoch anders denkende Fachleute die von Kindern wie Erwachsenen geäußerten Bedürfnisse nach bedingungsloser Anerkennung ihrer geschlechtlichen Selbstverortung (Riley u.a. 2013), die häufig in einem selbst gewählten Vornamen zum Ausdruck kommt, zentral in ihrem Begleitungsansatz. Generell lassen sich im Umgang mit Trans‘-Kindern in der Medizin diverse Ansätze beschreiben, von denen einige im Folgenden in normalisierende, vermeidende und affirmative Herangehensweisen unterteilt werden. Aufgrund eingeschränkten Platzes seien jene Ansätze herausgegriffen und hinsichtlich der Zielsetzungen, Methoden und Evaluation skizziert, die einen erheblichen Einfluss auf das Leben von Kindern und ihren Familien ausüben.

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Normalisierende Herangehensweisen Bei normalisierenden Herangehensweisen handelt es sich um Vorgehen, die die geschlechtliche Selbstverortung bzw. Identität eines Menschen gemäß der kulturell verankerten Geschlechterordnung zu verändern suchen und den Verbleib desselben der bei der Geburt zugewiesenen Geschlechtsrolle anstreben. Basis ist die Vorstellung, dass eine in Bezug auf Geschlechternormen behandlungsbedürftige Abweichung vorliegt, die jedoch nach Zeit und Kultur variiert. Dabei spielen vom Individuum geäußerte Bedürfnisse eine untergeordnete Rolle (Lev 2004: 331; Raj 2002: 3.1.2.). Methodologisch lassen sich unterschiedliche Vorgehensweisen26 erfassen, wie verschiedene Formen von Psychotherapie, wie z.B. Verhaltenstherapien und Psychoanalyse, aber auch andere in der Psychiatrie eingesetzte Techniken, wie Elektrokrampftherapie27 (EKT) und Pharmakotherapie (Lev 2004: 321), die dem gleichen Ziel dienen. Manche Therapeuten empfehlen mehrmonatige stationäre Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Mutter eines Trans‘-Mädchens28 berichtete von einem Vorgespräch mit einem Chefarzt einer bekannten Universitätsklinik: »Er versuchte mich davon zu überzeugen, dass Dominique nur dadurch zu retten sei, dass sie für eine lange Zeit von den Eltern entfernt stationär untergebracht würde. Er sagte u.a. ›Was sind 1,5 Jahre gegen den Rest des Lebens Ihres Kindes, des Lebens des Jungens‹ und ergänzte: ›Der Kontakt zwischen Eltern und Kind muss für einen langen Zeitraum unterbrochen werden, damit es an fachkundiger Stelle gebrochen und wieder neu aufgebaut wird‹.«

Es gilt zu ergänzen, dass sich der Begriff ›brechen‹ auf die Geschlechtsidentität des Kindes bezog. Durch die Abwesenheit jeglicher wissenschaftlicher Basis erstaunt der Vorschlag dieses korrektiven Verfahrens ebenso, wie jener, ein Kind für 1,5 Jahre vollständig von den Eltern zu trennen und einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen. Andere Autor_innen empfehlen Eltern, Geschlechternormen-non-konformes Verhalten des Kindes zu ignorieren und es dazu zu bringen, geschlechterstereotype Verhaltensweisen zu entwickeln, die scheinbar zu dem zugewiesenen Geschlecht gehören. Insbesondere MeyerBahlburg (2002) rät u.a. Eltern, das Kind mehr in Kontakt mit Kindern des vermeintlich gleichen Geschlechtes zu bringen. Auch sollten die Eltern Treffen mit Freund_innen der Familie, die Kinder vom Gegengeschlecht haben, minimieren und neue Kontakte zu Kindern des gleichen Geschlechtes kreieren. In diesem 26 | Auch rehabilitative, Konversions-, korrektive, reparative oder Aversions-Therapien genannt. 27 | Aussage über die Anwendung von EKT im Jahre 2009 bei einer minderjährigen Person, die der Autor im Dezember 2013 aus Frankreich erhalten hat. 28 | Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l. (2013): Er fahrungsbericht.

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Kontext sollen vor allem Väter mehr in Kontakt mit ihren vermeintlichen Söhnen treten – ohne dass ein positiver Effekt einer derartigen Maßnahme bezüglich der geschlechtlichen Selbstverortung des Kindes belegt wurde. Dieser Empfehlung liegt die Annahme zugrunde, dass ein Kind, je mehr es von gleichgeschlechtlichen Kindern umgeben ist, desto eher sein Verhalten typisch für dieses Geschlecht ändern wird (vgl. Bosinski 2013). Steensma (Becker/ Möller/Schweizer 2013) zufolge haben jedoch psychosoziale Aspekte (u.a. Qualität von Peerbeziehungen) keinen Einfluss auf die Dauerhaftigkeit einer Geschlechtsdysphorie. Andere Maßnahmen liegen im systematischen Widersprechen, wenn ein Kind sein Empfinden ausdrückt oder ein Verhalten zeigt, das nicht den Geschlechternormen entspricht. So berichtete ein ehemaliges Trans‘-Mädchen von ihren Gesprächen29 mit einem Arzt: »Alles, was ich gesagt habe, wurde gegen gedrückt; z.B. habe ich meine Ängste geäußert, dass sich der Haarwuchs verschlimmert, dass ich so viel Pickel bzw. Akne habe. Daraufhin äußerte er wortwörtlich: ›Andere Jungs haben doch auch Pickel.‹ […] Ich habe Angst vor Vermännlichung, dass sich der Körper weiter entwickelt, denn das kann man nicht mehr rückgängig machen. Daraufhin sagte er: ›Ja, das stimmt.‹ Meine Angst war auch, auszusehen wie Arnold Schwarzenegger im Kleid. Er meinte auch: ›Mit 16 ist die Pubertät abgeschlossen, mehr zum Mann kannst Du nicht mehr werden.‹ Wenn ich etwa gesagt habe, dass sich ein Junge in der Schule in mich verliebt hat, weil er dachte, dass ich ein Mädchen sei; daraufhin sagte er: ›Der ist schwul.‹ Es war widerlich. Es war wie Beine abschneiden; kein Widerspruch möglich, keine Akzeptanz meiner Sichtweise. Er versuchte, mir das Gegenteil von dem einzureden, was ich empfunden und gesagt habe. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie mich von meinem Weg abbringen wollten. Meine Sichtweisen wurden wie im Keim erstickt, die Saat kaputt gemacht.«

Dieses Vorgehen erscheint kaum vereinbar mit einer respektvollen Arzt-Patientin-Beziehung und nicht getragen vom ärztlichen Berufsethos. Parallel zu den bereits genannten Herangehensweisen werden mitunter bei Kindern von ausgangsoffenen und unterstützenden Vorgehensweisen (Becker/ Möller/Schweizer 2013: 273; Meyenburg/Richter-Unruh 2012) gesprochen. Meyenburg führt dazu aus: »Sinn der Psychotherapie ist es nicht, geschlechtsatypisches Verhalten und entsprechende Wünsche beseitigen zu wollen, aber doch die Möglichkeit offen zu halten, zu explorieren, ob ein Leben im biologischen Geschlechtskörper nicht doch möglich ist.« Steensma (2011: 16) empfiehlt, die zugewiesene Geschlechtsrolle nicht lange vor der Pubertät umzustellen mit

29 | Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l. (2013): Erfahrungsbericht als 16-Jährige.

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Hinweis auf manche Mädchen, die Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die weibliche Geschlechtsrolle hatten. Worin diese bestanden, wurde nicht erläutert, insbesondere nicht, ob und in welcher Weise z.B. Misogynie30 eine Rolle gespielt hat. Das Ziel medizinischer Techniken zur Aufrechterhaltung von Geschlechternormen wie auch die fehlende Unterstützung für eine frühzeitige soziale Transition, ggf. auch im Vorschul- oder Grundschulalter, bzw. deren Verhindern können gegenwärtigen Erkenntnissen zufolge dem Spektrum normalisierender Techniken zugerechnet werden und sind bei unzureichender Evidenz ebenfalls als kritisch zu betrachten. Allen normalisierenden Verfahren fehlen der wissenschaftliche Nachweis signifikant positiver Ergebnisse für die aktuelle Lebenssituation der betreffenden Menschen wie auch Langzeituntersuchungen. Es gibt keine Beweise dafür, dass nicht Geschlechternormen entsprechende Verhaltensweisen bzw. Identitäten als Krankheiten zu heilen oder reparieren sind. Bisher deuten alle Hinweise31 darauf hin, dass ein Mensch bezüglich seiner Geschlechtsidentität nicht umerzogen werden kann. Sogar Zucker und Bradley (1995), die eher normalisierende Herangehensweisen favorisieren, schlussfolgerten aus zwei Studien mit Behandlungen, die dem Ziel der Änderung der Geschlechtsidentität (wie auch sexuellen Orientierung) dienten, dass es eine geringe Evidenz für dessen Erreichen gab. Hingegen würden Geschlechterstereotypen gefördert (Langer/Martin 2004). Mehrere Autor_innen betrachten normalisierende Herangehensweisen als psychisch schädigend für die Kinder durch Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, Erhöhung oder Auftreten von Angst, Depression, Suizidgefahr (Ehrensaft 2012; Hill u.a. 2007; Mallon/DeCrescenzo 2006; Raj 2002; Rauchfleisch 2012). Zudem verweisen Langer/Martin (2004) auf Burke (1996), die Beispiele von Kindern beschrieben hat, die wegen einer Geschlechtsidentitätsstörung (engl. Gender Identity Disorder of Childhood, GIDC) behandelt und geschädigt wurden. In der Elternarbeit Tätige32 berichteten von Müttern, die sich bei ihnen gemeldet haben, um von dem Suizid ihres Kindes nach einer derartigen Behandlung zu berichten. Auch werden die korrektiven Verfahren als »brutal« (Mallon/DeCrescenzo 2006: 221) und »unethisch« (APA 2011; Nieder 2012: 16) eingeschätzt. Aufgrund der Hinweise auf schädigende Effekte von Normalisierungsversuchen besteht ein hoher Bedarf an klinischen Studien, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Erwachsene als Kinder derartige Verfahren geschlechtlicher Normalisierung empfunden haben, aber auch über deren potentiell schädliche

30 | Frauenfeindlichkeit. 31 | Vgl. Erfahrungen von Psychotherapeuten, z.B. Peter Keins, wie auch der Elterngruppe TRAKINE. 32 | Intersex & Transgender Luxembourg a.s.b.l. (28.09.2013): Erfahrungsbericht.

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Folgen (Lev 2004: 329). Entgegen der o.g. Beobachtungen von Steensma verursacht eine Re-Transition gemäß klinischer Beobachtungen von Ehrensaft (2012: 354) keinen Schaden, wenn das Umfeld eine akzeptierende Haltung einnimmt. Auffallend erscheint bei Steensmas und Meyenburgs Ansatz, dass erneut das Einhalten der Geschlechternormen vor den aktuell geäußerten Bedürfnissen von Kindern als vorrangig erachtet wird, und ihnen nicht alle Explorations- und Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, die sie für ihre persönliche Reifung benötigen und beanspruchen wollen, was eine Umstellung der Geschlechtsrolle in der frühen Kindheit einschließen kann.

Vermeidende Herangehensweisen Dieses Vorgehen ist gekennzeichnet durch ein Nicht-Reagieren auf eine oft elterliche Anfrage, was mit ihrem Kind aufgrund seines als geschlechtsabweichend interpretierten Verhalten zu tun sei. Eltern erhalten keine Antwort auf ihr Anliegen, bestenfalls ein Bekenntnis der Unwissenheit von Ärzt_innen und Psycholog_innen. Dies ist oft mit der Vorstellung verbunden, dass durch ein Nicht-Reagieren kein Schaden entstehen kann, das Leben nehme schließlich seinen als natürlich erachteten Verlauf. Es fehlt eine Diskussion über die möglichen negativen Folgen dieses Nicht-Reagierens, da die Familien weiterhin ungeschützt der Gefahr gesellschaftlicher Ablehnung, Korrektionen, Sanktionen, Diskriminierung und – die Kinder sogar – verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt sein können. Die Herangehensweise ist nicht als neutral zu erachten. Die fehlende Akzeptanz der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung bzw. Selbstverortung oder Geschlechtsidentität des Kindes, kann schwerwiegende Folgen auf sein seelisches Gleichgewicht und die Fähigkeit haben, in Beziehung mit anderen zu treten. Jede Entscheidung seitens der Professionellen wie auch jede Empfehlung an eine Familie, ist daher zu keinem Zeitpunkt neutral. Ebenfalls kann es nicht als neutrale Entscheidung betrachtet werden, Jugendliche in der Adoleszenz die körperliche Entwicklung einer Pubertät durchleben zu lassen (Giordano 2008), weil: • dies das Leiden der Trans‘-Minderjährigen durch körperliche Veränderungen erhöht, die zu Entwicklung psychischer Beschwerden bis einschließlich zu Suizidalität führen kann, • dies das Risiko verbaler und körperlicher Gewalt gegen sie erhöht, wenn sie nicht den Geschlechternormen entsprechen, • weil die verhassten körperlichen Veränderungen irreversibel, d.h. unumkehrbar sind.

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Affirmative Herangehensweisen Bei affirmativen Herangehensweisen werden die geschlechtliche Selbstwahrnehmung und Selbstverortung eines Kindes bedingungslos anerkannt, das Kind in seinen aktuell ausgedrückten Bedürfnissen wie auch in der Erforschung seiner geschlechtlichen Identität unterstützt und im Ausdruck seiner Geschlechtsidentität explizit bestätigt. Dies kann eine soziale Transition in der frühen Kindheit einschließen, was Kindern vermehrt ermöglicht wird (Ehrensaft 2012; Hill u.a. 2010; Lev 2004; Menvielle 2012; Möller u.a. 2009; Torres Bernal/Coolhart 2012). Eine solche führt oft zu einer Verminderung psychischer Beschwerden wie Angst, Depression und Suizidalität (Ehrensaft 2012; Rauchfleisch 2013). Leitend bei dieser Herangehensweise ist die Idee, dass in die feindselige, ablehnende [transphobe, Anm. ES] Umgebung einzugreifen ist, anstatt das Problem [kulturell bedingter Geschlechternormen, Anm. ES] zu individualisieren (Ehrensaft 2012; Hill u.a. 2010; Lev 2004: 332, 346; Mallon/ DeCrescenzo 2006; Menvielle 2012; Pirelli Benestad 2012; Raj 2002). Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Herangehensweisen, wird ausdrücklich formuliert, dass eine von kulturellen Normen abweichende Geschlechtsidentität nicht krankhaft ist (Menvielle 2012: 363). Ebenfalls lassen sich Hormonbehandlungen (pubertätsunterdrückende und sog. gegengeschlechtliche Hormonbehandlung) als Teil der affirmativen Herangehensweisen verstehen. Zur Methodik sei auf Wüsthof33 und Spack u.a. (2012) verwiesen. Auf positive Effekte hat Giordano (2008) hingewiesen. Für viele Minderjährige bedeutet diese Form der Therapie eine deutliche Verbesserung ihrer psychischen Beschwerden (vgl. Wüsthof34) wie auch ihrer Lebensqualität. Abgesehen von diesen Überlegungen stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen dem Wunsch des Kindes nach hormoneller Behandlung (Gn-Rh-Inhibitoren oder sogenannte gegengeschlechtliche Hormone) entsprochen werden kann/sollte, d.h. welche Kriterien zugrunde gelegt werden sollten. Unstrittig scheinen Aspekte wie hoher Leidensdruck, Suizidalität, lang andauernde Differenz zwischen empfundem und zugewiesenem Geschlecht zu sein. Einige Therapeut_innen fordern gescheiterte Behandlungen vor Therapiebeginn (Becker 2012: 31) und wollen Hormonbehandlungen als Ultima Ratio betrachtet wissen, die erst nach Abschluss der psychosexuellen Entwicklung (auch als somato-sexuelle Pubertätsentwicklung bezeichnet), verordnet werden sollten (Korte u.a. 2008), da Letztere gehemmt werden könnte, z.B. bezüglich der Entwicklung einer sexuellen Orientierung. Kritiker_innen zufolge fehle eine belastbare wissenschaftliche Datenlage, die derzeit für keines der diskutierten Verfahren existiert – d.h. wie für die normalisierenden oder vermeidende Herangehensweisen. 33 | Siehe Beitrag von Achim Wüsthof in dieser Publikation. 34 | Ebd.

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Die Bedingung einer abgeschlossenen psychosexuellen Pubertätsentwicklung erscheint einerseits aufgrund fehlender wissenschaftlicher Beweise hormoneller Wirkungen auf verschiedene Aspekte der Sexualität und andererseits angesichts lebenslangen Lernens und stetem Erfahrungszuwachs wenig überzeugend; gleichzeitig werden mit diesem Ansatz asexuell lebende Jugendliche ignoriert und diskriminiert. Ob und inwiefern welche sexuellen Orientierungen unterdrückt und es zum einem Verlust an Entwicklungsmöglichkeiten kommt, scheint eher auf motivationsgeleiteten Spekulationen zu basieren, als auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Der hohe psychische Belastungsgrad pubertärer Jugendlicher scheint für die Verfechter_innen vermeidender und normalisierender Herangehensweisen kein Argument für einen frühzeitigen Einsatz von Gn-Rh-Agonisten darzustellen. Nicht alle Professionellen teilen die genannten wissenschaftlich unbewiesenen Hypothesen. Bei der Diskussion erstaunt die einseitige Warnung vor den Gefahren einer nicht vorhandenen Transidentität, jedoch nicht vor den Gefahren der Ablehnung einer hilfreichen, nebenwirkungsarmen Behandlung. Die Unausgewogenheit der Diskussion wird den Bedürfnissen jener nicht gerecht, um die es geht, den Jugendlichen, die erheblich unter den Folgen der Pubertät leiden. Welche Entscheidung bezüglich der Herangehensweise getroffen wird, sie muss auf transparenter und nachvollziehbarer Grundlage entstanden sein, d.h. im Wesentlichen an den artikulierten (und nicht unterstellten Bedürfnissen) der betroffenen Kinder und Jugendlichen orientiert sein, und auf dem wissenschaftlichen Nachweis positiver Effekte der angewandten Methode für die Kinder bzw. Jugendlichen basieren.

Die Angst vor einer medizinischen Fehlentscheidung Vielfach wird die Frage diskutiert, welchen Jugendlichen eine Transition mit welchen Mitteln ermöglicht werden darf. Jurist_innen beziehen ihre Rückversicherung für Änderung von Namen und Personenstand aus ärztlichen Attesten, die etwas bescheinigen, das wissenschaftlich nicht als erwiesen gelten kann. Mediziner_innen und Psycholog_innen haben Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, wenn es darum geht, therapeutischen Maßnahmen zuzustimmen, insbesondere in einem als früh erachteten Lebensalter (Preuss 2013 in Becker/ Möller/Schweizer). Bis auf Ausnahmen (Schneider 2013) bleibt die Angst hinsichtlich der Folgen eines abgelehnten Transitionswunsches unthematisiert. Ethische, kinder- und andere menschenrechtsrelevante Aspekte werden allenfalls

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außerhalb des Gesundheitssystems diskutiert, scheinbar ohne in die ärztliche Entscheidungsfindung einzugehen. Die Auflösung dieser verengten Diskussionen ist notwendig, um den Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden, wie auch eine Entlassung der Medizin aus der fragwürdigen Wächterfunktion über kulturell basierte Geschlechternormen zur Aufrechterhaltung der Geschlechterstereotypien. Ansätze der bedingungslosen Anerkennung und des Respekts gegenüber der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung wie auch -verortung sind als unverzichtbarer Bestandteil ärztlicher Herangehensweisen zu betrachten in einer Medizin, die sich an den Bedürfnissen des Menschen ausrichtet.

Schlussfolgerungen Wie vor hundert Jahren (Becker 2004), ist die Forderung, Kleidung und Vornamen des sogenannten anderen Geschlechts zu tragen, als Teil der Selbstbestimmung zu verstehen und trifft damals wie heute nur selten auf Akzeptanz, insbesondere bei Kindern, wenngleich inzwischen aufgrund entwickelter hormoneller und chirurgischer Behandlungsmöglichkeiten inzwischen andere Aspekte hinzugetreten sind. Zusammen mit der Selbstrepräsentation stellt diese Forderung einerseits jedoch ein wesentliches Element in der sozialen Interaktion dar und ist andererseits bedeutsam für das eigene Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Daher erscheint es unabdingbar, sowohl Selbstbestimmung als auch geschlechtliche Selbstverortung – frei von jeglicher Pathologisierung – zu respektieren. Das Selbstbestimmungsrecht von Trans‘-Kindern und -Jugendlichen sollte seitens der Mediziner_innen ernst genommen werden und einschließen, dass Menschen gehört und entsprechend der Äußerungen ihrer Bedürfnisse ohne Aufbau von Hürden in der Art und Weise ihres Seins anerkannt werden. In der Praxis bedeutet dies, eine Person auf Anfrage bzw. Bitte ohne Vorliegen eines Gerichtsbeschlusses bzw. einer ärztlichen oder anderen professionellen Expertise mit dem von ihr gewünschten Vornamen anzusprechen sowie im Schriftverkehr das entsprechende Pronomen zu verwenden. Dies sollte ohne Vorliegen eines Gerichtsbeschlusses auf Anfrage, unabhängig von ärztlicher oder anderer professioneller Expertise ermöglicht werden. Eine ohne Entwertung und andere Formen der Diskriminierung einhergehende, von Respekt getragene fachliche Begleitung durch Professionelle, sofern eine Begleitung von Trans‘-Personen und/oder ihren Familien gewünscht und erbeten wird, scheint nicht nur ethisch geboten, sondern auch

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notwendig, um die häufig vorhandene, durch Transphobie35 bedingte Spirale von Selbstentwertung, psychosomatischen Beschwerden und sozialem Ausschluss von Trans‘-Personen zu durchbrechen. Ein wichtiger Punkt stellt eine Anerkennung der geschlechtlichen Selbstverortung in Gesetzen und Rechtsprechung, Medizin sowie Erziehungssystem dar. Dies könnte z.B. durch Ausbleiben jeglichen oder Einfügen eines fakultativen Geschlechtseintrages für alle Kinder in das Geburtenregister erreicht werden, in letzterem Fall mit einfacher Änderungsmöglichkeit auf Antrag bei einer Behörde. Ebenso könnte ein vorübergehender Eintrag eines Vornamens Gegestand gesellschaftspolitischer Diskussionen sein, der auf Antrag schwellenarm geändert werden kann. Somit müssten Gesetze nicht mehr auf empirisch ungesicherte Vorstellungen von Geschlecht zurückgreifen, sondern könnten sich allein an Kinder- und anderen Menschenrechten orientieren. Zudem sollten die Konsequenzen der Ablehnung eines Transitionswunsches als fester Bestandteil in die Folgenabschätzung nicht nur innerhalb der Gesetzgebung, sondern auch innerhalb der Medizin integriert werden. Ein gerade für Kinder wichtiger juristischer Rahmen stellt das argentinische Gesetz zur Geschlechtsidentität36 dar, und hier vor allem der Artikel 12, der es Kindern ermöglicht, mit dem von ihnen gewünschten Vornamen sowie dem entsprechenden Pronomen angesprochen zu werden. Diskussionen um den Wegfall der Kategorie Geschlecht in Gesetzen und Rechtsprechung, wie in Deutschland, aber auch in anderen soziokulturellen Bereichen, muss weitergeführt werden. Innerhalb der Medizin sollte die Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen handlungsleitend sein und nicht mehr das Aufrechterhalten einer binären Geschlechternorm. Die Politik sollte Mediziner_innen aus einer Verantwortung entlassen, da bezüglich der geschlechtlichen Selbstzuordnung, der Stabilität dieser Zuordnung wie auch der Seriosität des Anliegens stets die Eigenaussage der jeweils Betroffenen relevant ist. Der Versuch, eine objektive Expertise zu erstellen sowie Forderung einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit stabilen Geschlechtsidentität als Bedingung für Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag im Geburtenregister oder für medizinische Maßnahmen wie Hormonbehandlung und Operationen zu attestieren, muss scheitern und riskiert zudem, weitere Menschenrechtsverletzungen aufrecht zu erhalten.

35 | Hierunter kann die Diskriminierung von Menschen verstanden werden, die nicht den kulturellen Geschlechternormen entsprechen. 36 | Loi n° 26.743, du 23 mai 2012, établissant le droit à l’identité de genre (Argentine). URL: http://www. sara.lu/wp-content/uploads/2012/10/Argentine_Loi-26.743-établissant-le-droit-à-lidentité-de-genre-FR -final.pdf [16.10.2013].

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Daher erscheint eine von Professionellen aus dem Gesundheitssystem unabhängige und schwellenarme Änderung des Geschlechtseintrages sowie des gewünschten Vornamens vor dem Gesetz und administrativen Institutionen unabdingbar. Gefragt sind pragmatische Lösungen, die niemandem schaden, internationalen Kinder- wie auch anderen Menschenrechtskonventionen und nicht zuletzt auch den Kindern selbst gerecht werden.

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Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher Achim Wüsthof

Zusammenfassung Bei einer Geschlechtsidentitätsstörung im Kindes- und Jugendalter lassen sich in der Regel keine anatomischen, chromosomalen oder endokrinologischen Abweichungen feststellen: Der Körper wird als unstimmig mit dem gefühlten Geschlecht empfunden, was meist zu erheblichem Leidensdruck führt. Durch eine Hormonbehandlung der Betroffenen werden die als extrem belastend empfundenen pubertären Veränderungen aufgehalten und es kommt nicht zu irreversiblen Veränderungen, wie z.B. dem Stimmbruch bei biologischen Jungen oder einer Brustentwicklung bei biologischen Mädchen. Die Voraussetzung für eine solche Therapie ist eine ausführliche psychologische Beurteilung durch zwei unabhängige Gender-Spezialisten aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie; das Endokrinologikum Hamburg, in dem der Autor tätig ist, steht in enger Kooperation mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Außerdem müssen die Eltern einem hormonellen Eingriff zustimmen. Zur Pubertätsunterdrückung kommen vorwiegend Spritzen (GnRH-Analoga) zum Einsatz; auch Tabletten (Cyproteronacetat) können die Vermännlichung aufhalten und gelegentlich werden andere Tabletten (Gestagene) zur Unterdrückung der Regelblutung verwendet. Wenn der oder die Jugendliche dann über einen längeren Zeitraum den Alltag im Zielgeschlecht lebt, führt der Einsatz gegengeschlechtlicher Hormone (mit Estrogenen bzw. Testosteron) dazu, dass sich der Körper dem gefühlten Geschlecht angleicht. Viele gesellschaftliche Akteur_innen sind an diese Fragen gebunden, wobei die Menschen, die diese Autonomie fordern, im Zentrum stehen.

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Einleitung Kinder, die sich in ihrem zugewiesenen Geschlecht nicht zu Hause fühlen, äußern oft den Wunsch nach Brüsten, wenn sie einen Penis haben oder umgekehrt. Solche Äußerungen sorgen nicht nur bei ihren Familien für Verwirrung, sondern überfordern auch oftmals die behandelnden Ärzt_innen. Die Betroffenen finden oft lange Zeit niemanden, der bereit ist, ihnen weiterzuhelfen. Und eine Behandlung transsexueller Kinder und Jugendlicher mit Hormonen wird in Fachkreisen durchaus kontrovers diskutiert. Es geht immer wieder um die Frage, ob und wann medikamentös in die Pubertätsentwicklung eingegriffen werden darf. Ich möchte in diesem Artikel von unserer Erfahrung im Endokrinologikum Hamburg berichten, wo wir mittlerweile über 100 junge Menschen mit einer Geschlechtsdysphorie bzw. einer transsexuellen Entwicklung beraten und teilweise über Jahre begleitet haben.

Definition und Häufigkeit Die Ratsuchenden haben fast alle eine sehr ähnliche Vorgeschichte: Schon seit frühester Kindheit fühlen sie sich dem anderen Geschlecht zugehörig. Sie lehnen ihre Genitalien ab und möchten ihren Körper so verändern, dass er sich dem des gefühlten Geschlechts angleicht. Wie häufig sind solche Geschlechtsidentitätsstörungen? In der medizinischen Literatur, gibt es sehr unterschiedliche Inzidenzangaben – von 1:3.000 bis 1:100.000 (Möller u.a. 2009).

Ursachen Auf der Suche nach biologischen Ursachen stellten australische Forschende aus Melbourne fest, dass die CAG-repeats des Androgen-Rezeptors bei transsexuellen Frauen länger sind als bei Kontrollpersonen. Somit könnte die Transsexualität mit einem atypischen Zusammenspiel zwischen Hormonen und den entsprechenden Rezeptoren zusammenhängen (Hare u.a. 2008). Auch ähneln gewisse Hirnstrukturen Transsexueller denen des Zielgeschlechts (Zhou u.a. 1995). Bislang gibt es jedoch keine eindeutigen biologischen Erklärungen, wieso es zu einer transsexuellen Entwicklung kommt.

Kontroversen der Hormonbehandlung Die Diskussion über das Alter der Jugendlichen, in dem eine Therapie beginnen soll, wird in Fachkreisen durchaus sehr kontrovers geführt. Eine eher zurückhaltende Position in Bezug auf eine Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher wird vom Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte von der Universität München vertreten. Er argumentiert, dass »angesichts der geringen Rate

Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher

dauerhaft transsexueller Entwicklungen geschlechtsidentitätsgestörter Kinder irreversible körperverändernde Maßnahmen frühestens nach Abschluss der psychosexuellen Entwicklung indiziert sind«. Die durch körpereigene Hormone identitätsstiftenden Erfahrungen sollten nicht durch pubertätsblockierende LHRH- Analoga eingeschränkt werden (Korte u.a. 2008). Im VU (Vrije Universiteit) University Medical Center Amsterdam hingegen wird die Pubertät ab einem Tanner-Stadium 2-3 unterdrückt (Tannerstadium 2 bei biologischen Jungen bedeutet ein Hodenvolumen von > 3 ml und bei biologischen Mädchen eine beginnende Brustentwicklung). Letzterer Position, die auch von erfahrenen Kolleg_innen aus Amsterdam wie Peggy Cohen-Kettenis und Henriette Delamarre-van de Waal vertreten wird, schließen wir uns in Hamburg an. Natürlich ist die Voraussetzung für den Therapiebeginn, dass die Kinder-und Jugendpsychiater_innen bzw. Psycholog_innen durch eine sorgfältige Evaluation zu der Erkenntnis gekommen sind, dass eine solche Behandlung indiziert ist. Dann beginnen wir zunächst mit einer GnRH-Analogon-Behandlung, also mit Medikamenten, die die Pubertät in eine Art Winterschlaf versetzen. Die Befürworter_innen einer späten Pubertätsunterdrückung wie der Kinder- und Jugendpsychiater Korte befürchten, dass eine medikamentöse Therapie iatrogen, d.h. durch ärztliche Maßnahme verursacht, die weitere Entwicklung beeinflussen könnte. Daran ereifern sich auch Psychiater_innen wie der Sexualmediziner Hartmut Bosinski von der Universitätsklinik Kiel, indem sie behaupten, man würde durch die Hormonbehandlung eine homosexuelle Orientierung wegtherapieren. Die Frage der Homosexualität muss also sorgfältig mit den betroffenen Jugendlichen herausgearbeitet werden, denn eine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung ist aus ärztlicher Sicht ein wesentlich einfacherer Verlauf: Die ganze Medikalisierung oder auch operative Eingriffe fallen weg und der Mensch wird mit seinem biologischen Körper sexuell aktiv. Allerdings legen die meisten transsexuellen Jugendlichen sehr überzeugend dar, dass eine homosexuelle Orientierung bei ihnen nicht besteht. Was sind aber Argumente für eine frühe Pubertätsunterdrückung? Um es gleich vorweg zu sagen: Aus unserer Sicht überwiegen die Vorteile einer frühen Behandlung. Das Hauptargument: Irreversible Veränderungen des Körpers, wie beispielsweise Stimmbruch und Brustwachstum, können verhindert werden. Außerdem sind die Jugendlichen entlastet, die depressiven Symptome nehmen meist deutlich ab, und sollte dies nicht der Fall sein, kann das wiederum ein Hinweis sein, dass an der Diagnose der Transsexualität gezweifelt werden sollte.

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Es gibt eine sehr interessante Untersuchung von Steensma u.a. (2011) über Desister und Persister1, die in den Niederlanden duchgeführt wurde: Welche Patient_innen bleiben dauerhaft bei einer transsexuellen Entwicklung, und welche nicht? Da scheint das Alter von 10 bis 13 Jahren sehr entscheidend zu sein. Wenn die Pubertät beginnt, findet entweder eine Versöhnung mit dem biologischen Geschlecht statt oder die Ablehnung nimmt dramatisch zu. Und wenn letzteres der Fall ist, sollte eine Behandlung nicht weiter herausgezögert werden. In Amsterdam wurde eine gegengeschlechtliche Hormontherapie bislang ab einem Alter von 16 Jahren empfohlen, was uns jedoch in vielen Fällen als recht spät erscheint, weil sich die Jugendlichen so vom Erscheinungsbild her deutlich von ihren Altersgenossen unterscheiden. Sie leben dann im Status eines Neutrums, was für sie durchaus belastend sein kann. In den Niederlanden scheint allerdings diese Altersgrenze von 16 Jahren auch gelegentlich flexibler gehandhabt zu werden, wie aus informellen Gesprächen am Rande von Konferenzen herauszuhören ist. Eine gegengeschlechtliche Hormon-Behandlung kann durchaus dann schon indiziert sein, wenn die transsexuelle Entwicklung seit vielen Jahren sehr eindeutig und stabil ist und sich die Betroffenen stark nach einer Pubertätsentwicklung sehnen, die ihrem gefühlten Geschlecht entspricht. Für transsexuelle Jugendliche ist es wichtig, sich körperlich in einer ähnlichen Weise zu entwickeln wie ihre Altersgenossen – also durchaus schon mit 13 oder 14 Jahren. Denn entsteht eine ungleiche Situation der Entwicklung; das Risiko des sozialen Ausschlusses steigt. Die weiteren operativen Maßnahmen werden in der Regel nach dem 18. Lebensjahr empfohlen. Allerdings gibt es vereinzelt Personen, die schon im Alter von 16 Jahren operiert wurden, es wurden sowohl Mastektomien als auch feminisierende Operationen durchgeführt.

Durchführung der Hormonbehandlung An welchen Kriterien orientieren wir uns in unserem Zentrum hinsichtlich des Beginns einer pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung? • Ein Gender-Spezialist befürwortet eine solche Behandlung. • Die Pubertät hat begonnen, und irreversible Körperveränderungen sind zu erwarten. • Die Patienten leben schon seit längerer Zeit im gewünschten Geschlecht und befinden sich in einer psychotherapeutischen Begleitung. • Die Eltern stimmen der Behandlung zu.

1| Aufhörende und Bleibende.

Hormonbehandlung transsexueller Jugendlicher

Wie führen wir dann konkret eine solche Therapie durch? Die Jugendlichen erhalten GnRH-Analoga. Das sind eigentlich körpereigene Hormone (des Hypothalamus), die von Pharma-Firmen nachgebaut werden. Sie blockieren die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) und verhindern die Ausschüttung der Gonadotropinen, just jener Hormone, die wiederum die Hoden und Eierstöcke zur Produktion der Sexualhormone anregen. Man kann durch diese Behandlung die Pubertät somit sehr effektiv unterdrücken. In der Regel benutzen wir das Präparat Trenantone® (mit dem Wirkstoff Leuprorelinacetat), das nur alle drei Monate unter die Haut gespritzt werden muss. Die Behandlung ist recht teuer; eine einzige Spritze kostet ungefähr 450 Euro. Die Kosten werden erfreulicherweise, zumindest in Deutschland, von den Krankenkassen getragen. Bei transsexuellen Mädchen, die mit ihrer Pubertätsentwicklung schon recht weit fortgeschritten sind, setzen wir meist Cyproteronacetat (Androcur®) ein; erstaunlicherweise reichen sehr niedrige Dosierungen von 5 bis 15 mg am Tag aus, um der Vermännlichung entgegenzuwirken. Bei biologischen Frauen, die als Jungen leben, kann man auch die Regel sehr effektiv mit einem Gestagen (Oragametil®) unterdrücken. Wann ist der Zeitpunkt für eine gegengeschlechtliche Hormontherapie gekommen? Die Jugendlichen leben bereits seit längerer Zeit in dem gewünschten Geschlecht. Meist kann es ihnen mit einer gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung nicht schnell genug gehen. Bei meiner ersten Patientin hatten wir noch die Ethikkommission der Universitäts-Klinik Hamburg eingeschaltet, die dann nach einer Anhörung ein befürwortendes Votum abgegeben hat. Eine Einwilligung der Eltern ist natürlich ebenfalls erforderlich, da es sich um Minderjährige handelt. Für den Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung verlangen wir Stellungnahmen von zwei unterschiedlichen Gender-Spezialist_innen, wobei fast alle unsere Patient_innen in Kooperation mit der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vorgestellt werden. In der Regel ist der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung die Pubertätsunterdrückung für ein halbes oder ein ganzes Jahr vorausgegangen. Je nach Alter der Jugendlichen beginnen wir manchmal auch mit beiden Behandlungsoptionen gleichzeitig. Die Jugendlichen leben zu diesem Zeitpunkt auch schon im Zielgeschlecht, haben das Umfeld informiert und werden so angenommen. Erfreulicherweise berichten sie größtenteils von einer guten Akzeptanz nach dem Coming-out, Lehrer_innen und Mitschüler_innen reagieren also meist verständnisvoll. Die Schulen bemühen sich teilweise, auf dem Zeugnis den

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gewünschten Namen in Klammern dazuzusetzen, und auch auf der Klassenliste erscheint bereits der neue Name. Umkleidekabinen, Sportunterricht und Toilettenbenutzung werden meist nicht mehr zu einem Problem. Natürlich gibt es auch immer wieder Schulen, an denen der Umgang mit transsexuellen Schüler_innen nicht so erfreulich verläuft. Wie führen wir dann konkret eine solche gegengeschlechtliche Hormonbehandlung durch? Bei transsexuellen Jungen fängt man mit der Gabe von Testosteron an, wobei sich die Dosierung etwas nach Knochenalter und Körpergröße richtet. Wenn ich bei jemandem, der eher klein ist, mit viel Testosteron beginnen würde, reduziere ich die Endgröße. Genau das Gegenteil gilt für transsexuelle Mädchen: Wenn ich lange mit einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie warte, werden diese transsexuellen Frauen eher größer. Deswegen steigere ich auch die Estrogen-Dosis häufig schneller, um eine mit dem Zielgeschlecht stimmige Endgröße zu erreichen. Bei transsexuellen Mädchen wird Estradiolvalerat eingesetzt. Bei den Jungen kann man sehr gut das Testosteron Undecanoat (Nebido®) intramuskulär mit dem Trenantone subkutan (alle drei Monate) kombinieren, sodass die Jugendlichen dann zeitgleich die Spritzen erhalten.

Entscheidungsschwierigkeiten Viele Eltern haben Angst, einen Fehler zu machen, wenn sie einer Hormonbehandlung zustimmen und denken, dass es besser sei, der Natur einfach freien Lauf zu lassen. Das ist eben keine Alternative, weil die Nicht-Intervention durchaus dazu führen kann, dass diese Jugendlichen, vor allem psychologisch gesehen, in einen negativen Strudel hinein geraten. Die bereits erwähnte Kollegin Cohen-Kettenis (2008) hat das gut auf den Punkt gebracht: »Eine Nicht-Intervention ist keine neutrale Option.« Ich selbst habe an vielen Beispielen sehr eindrucksvoll erleben können, wie eine entsprechende Hormontherapie diese Menschen stabilisiert hat, sich ihre schulischen Leistungen gebessert haben und sie wieder positive Sozialkontakte aufgebaut haben. Die körperlichen Veränderungen finden durch die Hormonbehandlung in einem ähnlichen Zeitrahmen wie bei die Peer-Group statt, und man zwingt die Jugendlichen nicht in einer Extrakategorie Neutrum zu warten, bis alle anderen schon Männer oder Frauen sind. Sich körperlich der Gruppe Gleichaltriger anzugleichen ist aus meiner Sicht sehr wichtig, denn sonst stehen transsexuelle Jugendliche häufig in der Ecke, werden zwar teilweise akzeptiert oder toleriert, sind dabei aber unglücklich. Die Hormonbehandlung stärkt nicht nur ihr Selbstvertrauen und fördert ihre

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allgemeine psychosoziale Entwicklung, sondern begünstigt auch die Aufnahme romantischer Beziehungen. Was sind Langzeitnebenwirkungen einer solchen Hormonbehandlung? Es existieren noch nicht viele Langzeituntersuchungen, jedoch scheinen die Risiken überschaubar zu sein. Beispielsweise gleicht sich das Brustkrebsrisiko transsexueller Frauen dem biologischer Frauen an und ist somit im Vergleich zum Brustkrebsrisiko biologischer Männer gesteigert. Wir sprechen mit den Jugendlichen im Zusammenhang mit der Hormonbehandlung auch über die zu erwartende Unfruchtbarkeit. Und an dieser Stelle möchte ich von einem 17-jährigen transsexuellen Mädchen berichten, das sich ein Jahr nach Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung dazu entschloss, sechs Monate lang alles abzusetzen, nur um Spermien einfrieren zu können, für einen potenziellen späteren Kinderwunsch. Es hat mich sehr beeindruckt, dass jemand, der schon kurz vor einer geschlechtsangleichenden Operation, die mittlerweile auch stattgefunden hat, steht, sich diese Option noch offen halten möchte. Sie hat auch recht konkrete Vorstellungen, eines Tages entweder mithilfe eines lesbischen Paares, bei dem ihre Samenzellen zum Einsatz kommen könnten, oder durch eine Leihmutter, ein eigenes Kind zu haben.

Fazit Durch eine frühzeitige Hormonbehandlung ist das Ergebnis der Anpassung des Körpers an das gefühlte Geschlecht meist deutlich besser, als wenn man lange wartet, und der Körper sich in die falsche Richtung entwickelt. Aus meiner Sicht ist es für viele Betroffene geradezu eine Quälerei, wenn ihnen diese als schrecklich empfundene Pubertätsentwicklung zugemutet wird. Deswegen kann ich die Kritiker_innen schwer verstehen, die fordern, dass die Pubertätsentwicklung abgeschlossen sein sollte, bevor mit einer hormonellen Therapie begonnen werden darf. Natürlich ist es für junge Menschen, die am Anfang der Pubertät stehen, fast unmöglich abzuschätzen, wie das Leben als Erwachsener sein wird. Auch die Sexualität ist für sie meist noch recht abstrakt. Wir können diese Menschen zwar körperlich in die gewünschte Richtung verändern, aber dabei lernen sie nicht automatisch alles, was zum Frau-Sein oder Mann-Sein dazu gehört. Ich sehe mich als ein Begleiter dieser Jugendlichen, der auch die Sexualität immer wieder thematisiert und sie im Umgang mit ihrem Körper und ihren Gefühlen unterstützt.

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Weiterhin wird kontrovers diskutiert, ob eine frühzeitige Hormonbehandlung iatrogen eine gewisse Entwicklung zementiert, festlegt und dadurch eventuell eine homosexuelle Entwicklung verhindert wird. Vor einigen Jahren, als es hormonelle Behandlungsoptionen noch nicht gab, wäre ein Mensch mit Geschlechtsidentitätsstörung fast zwangsläufig eher homosexuell orientiert gewesen – als femininer homosexueller Mann oder als maskuline lesbische Frau. Deshalb bleibt uns Behandler_innen immer eine gewisse Sorge, dass ein Irrtum in der Beurteilung vorliegen könnte und wir durch unsere Therapie ein menschliches Schicksal verändern. Dieser großen Verantwortung bin ich mir bewusst und gleichzeitig bereit, das Risiko dieses Eingriffs in die Natur zu tragen, weil ich fast täglich erleben kann, dass durch meine Behandlung die meisten betroffenen jungen Menschen ganz offensichtlich mit sich und ihrem Leben glücklicher werden.

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Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: 1 Traum oder Wirklichkeit? Petra de Sutter

Zusammenfassung Alle wissenschaftlichen Studien zum Thema Trans‘-Elternschaft belegen, dass der Transsexualismus einer der Elternteile keinen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern hat. Es gibt zahlreiche Argumente dafür, dass auch Trans‘-Personen das Recht auf Fortpflanzung haben. Viele der Argumente gegen die Fortpflanzung von Trans‘-Personen sind auf die Angst der Gesellschaft vor Transsexualismus, auf Heteronormativität und Unwissen über aktuelle technische Möglichkeiten zurückzuführen. Die immer noch in vielen Ländern gängige Forderung der Sterilisierung von Trans‘-Personen als Bedingung für eine Personenstandsänderung ist diskriminierend und eugenisch. Die heutige medizinische Praxis beschränkt sich auf das Einfrieren von Spermien bei Trans‘-Frauen vor Beginn der Hormontherapie für eine eventuelle spätere Verwendung im Kontext einer homosexuellen Beziehung, sowie die Insemination von Spendersamen bei Partnerinnen von Trans‘-Männern. Die Verwendung von eingefrorenem Eierstockgewebe bei Trans‘-Männern ist technisch noch nicht umsetzbar. Hier besteht einzig die Möglichkeit der hormonellen Stimulation und der Vitrifizierung von Eizellen.

Einleitung Bereits seit einigen Jahren gilt als gesichert, dass Transsexualismus keine psychische Krankheit ist, sondern einer korrekten hormonellen und chirurgischen Behandlung bedarf, um eine Kongruenz zwischen dem phänotypischen und dem gelebten Geschlecht zu erreichen (T’Sjoen u.a. (2004);

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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vgl. die Standards of Care in Levine u.a. (1998) und Meyer u.a. (2001), kürzlich nachbearbeitet (De Sutter 2009; WPATH 2011)). Aufgrund der Wirkungen von Fruchtbarkeitsbehandlungen schienen sich die Transition zum gewünschten Geschlecht und die Fortpflanzung bei Trans‘-Frauen und -Männern immer gegenseitig auszuschließen. Daher wurde der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit als Preis betrachtet, der für die Transition gezahlt werden müsse. Obwohl das Fortpflanzungsbedürfnis und -recht von Trans‘-Personen seit 15 Jahren anerkannt wird (Lawrence u.a. 1996), haben auch heute noch viele Mediziner_innen – unter ihnen auch solche, die Trans‘-Personen behandeln – große Vorbehalte gegenüber einer eventuellen Fortpflanzung nach der Geschlechtsumwandlung. Die Standards of Care empfehlen erst seit 2001 die Erörterung reproduktionsmedizinischer Maßnahmen mit Trans‘-Personen, die eine Hormonbehandlung wünschen (Meyer u.a. 2001). Daraufhin entstand auch unter Fertilitätsspezialist_innen die Debatte, ob Trans‘-Personen, die nach ihrer Transition innerhalb ihrer Beziehungen Kinder zeugen möchten, unterstützt werden sollen. Die zentrale Frage ist hier, ob Trans‘-Personen gute Eltern sein können oder nicht, und ob ein negativer Einfluss auf die sexuelle Entwicklung oder Geschlechtsidentität der Kinder zu befürchten sei (Baetens u.a. 2003; De Sutter 2003a). Die gleiche Debatte wurde bereits vor Jahren über homosexuelle Personen geführt (Hanscombe 1983) und diese Frage war damals für homosexuelle Personen gleichermaßen beleidigend, wie sie es heute für Trans‘-Personen ist. Die Debatte sollte sich nicht um die Frage drehen, ob Trans‘-Personen Kinder haben dürfen oder nicht, sondern vielmehr um die Möglichkeiten, sie in ihrem Kinderwunsch zu unterstützen (De Sutter 2001). Zahlreiche Studien haben sich dem Wohlbefinden von Trans‘-Personen nach ihrer geschlechtsangleichenden Behandlung gewidmet (Cohen-Kettenis/ Gooren 1999) und viele Trans‘-Personen führen vollkommen zufriedenstellende Beziehungen mit Kindern aus ihren vorherigen Beziehungen oder mit Kindern ihrer aktuellen Partner_innen.

Trans‘-Personen und ihre Kinder Bevor wir die praktischen Schwierigkeiten diskutieren, die sich nach der Transition ergeben, widmen wir uns zunächst einer Analyse der Untersuchungen zu Familien von Trans‘-Personen, in denen es bereits vor der Transition Kinder gab. Auch wenn die diesbezüglichen Daten nicht sehr umfangreich sind, hat Green eine Studie über 34 Kinder von Trans‘-Personen durchgeführt, die mit ihren Eltern in Kontakt geblieben sind, und kam zu dem Schluss, dass deren

Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?

Transsexualismus für diese Kinder kein Problem darstellt (Green 1978, 1998). Der elterliche Transsexualismus hat weder einen negativen Einfluss auf die psychosexuelle Entwicklung der Kinder, noch auf ihre Geschlechtsidentität. Manchmal werden die Kinder von ihren Klassenkamerad_innen gehänselt, allerdings nur vorübergehend und ohne direkt erkennbare weitere Folgen. Alle Kinder verstanden, was mit ihrem Elternteil geschehen war. Sicherlich können die Kinder unter der Trennung oder Scheidung leiden, die häufig auf die Transition einer Trans‘-Person folgt, aber dieses Leid resultiert in erster Linie aus der Reaktion des anderen Elternteiles, der den Kontakt mit der Trans‘-Person ablehnt und manchmal sogar gerichtliche Schritte diesbezüglich unternimmt. Green schlussfolgert, dass der Trans‘-Elternteil unter keinen Umständen von seinen Kindern getrennt werden sollte. Auch Studien über Kinder lesbischer Paare gelangen zu diesem Ergebnis (Brewaeys u.a. 1997). Diese Kinder weichen in ihrer Entwicklung kaum von anderen ab, weder hinsichtlich ihrer psychosexuellen Entwicklung, noch hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität. Die Probleme, die sich hier manchmal stellen, stehen eher im Zusammenhang mit Diskriminierungen und Ablehnung der elterlichen Homosexualität durch Dritte. Hier muss also eher gegen die Engstirnigkeit der Gesellschaft als gegen den Kinderwunsch der betroffenen Personen vorgegangen werden. White und Ettner (2007) haben die Ergebnisse von Green kürzlich bestätigt und festgehalten, dass Kinder mit dem Transsexualismus eines der Elternteile gut zurechtkommen (vor allem, wenn sie noch jung sind), indes unter einer Trennung oder Scheidung der Eltern sehr leiden.

Argumente für die Bewahrung der Fortpflanzungsfähigkeit von Trans‘-Personen Das Recht auf Fortpflanzung In der modernen Reproduktionsmedizin wird das Recht auf Fortpflanzung einer jeden Person anerkannt (Robertson 1987; Schenker/Eisenberg 1997). Für Trans‘-Personen ist dies allerdings nicht ganz so einfach, denn durch die hormonellen und chirurgischen Behandlungen wird eine natürliche Fortpflanzung unmöglich. In den Fertilitätszentren erleben wir auch andere Situationen, in denen eine natürliche Fortpflanzung aus offensichtlichen Gründen unmöglich ist: bei Paaren lesbischer Frauen. Lesbische Mutterschaften werden heute weitestgehend akzeptiert und dementsprechend sind Inseminationen von Spendersamen

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ebenso wie In-Vitro-Fertilisationen (IVF), bei denen eine der Frauen die Eizellen liefert und der Embryo nach der IVF in den Uterus ihrer Partnerin transferiert wird, inzwischen Routineverfahren. Die Annahme, Trans‘-Personen könnten sich ihre Geschlechtsidentität nach Gutdünken aussuchen, ist vergleichbar mit der These, lesbische Frauen würden sich für ihr Lesbisch-Sein entscheiden. Wenn wir also Homosexualität nicht als eine Frage der persönlichen Entscheidung betrachten und homosexuelle Personen in ihrem Kinderwunsch unterstützen, wieso sollten wir das bei Trans‘-Personen dann nicht ebenso halten? Selbst wenn die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität eine Frage der freien Wahl wäre, würde dies nichts an dem Argument ändern, dass jede Person ein Recht auf reproduktionsmedizinische Unterstützung hat. Auch in konventionelleren Lebensrealitäten haben Menschen die freie Wahl, ihre Fruchtbarkeit durch eine Sterilisierung zu kontrollieren und im Falle eines späteren Sinneswandels durch operative Wiederherstellung oder künstliche Befruchtung eine Schwangerschaft zu erzielen.

Das rechtliche Argument Transsexualismus ist der einzige medizinische Fall, in dem in den meisten Ländern als Bedingung für eine Personenstandsänderung die Sterilisierung gefordert wird. Dies impliziert, dass nach der Transition geborene Kinder aus rechtlicher Perspektive nicht von der Trans‘-Person gezeugt worden sein können. In der Vergangenheit mögen für diese Forderung nach Unfruchtbarkeit technische Gründe angeführt worden sein, heute jedoch sind die technischen Möglichkeiten deutlich fortgeschritten und dank der Konservierung von Gameten kann eine Person sehr wohl auch nach ihrer Transition noch Kinder zeugen. Das Gesetz muss sich den technischen Gegebenheiten anpassen, nicht andersherum. Selbst wenn ein Kind nicht rechtlich anerkannt werden kann, liegt es wohl auf der Hand, im Falle eines lesbischen Paares bevorzugt die eingefrorenen Spermien der Trans‘-Partnerin zu verwenden als die eines Spenders.

Das Argument, dass Trans‘-Personen nicht an ihre Fortpflanzung denken Viele Trans‘-Personen, vor allem Jugendliche, machen sich tatsächlich wenig Gedanken über Fortpflanzung. Dies ist jedoch kein Argument dafür, das Thema nicht anzusprechen. So wie jungen Menschen, die wegen einer Krebserkrankung eine Chemotherapie machen, systematisch zur vorherigen Spermienkonservierung geraten wird, sollte dies auch bei Trans‘-Personen geschehen.

Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?

Sind die Fragen bezüglich ihrer Geschlechtsidentität geklärt und hat das Leben wieder seinen Lauf genommen, können sie Partner_innen finden, mit denen sie Kinder zeugen möchten. Verfügen sie dann über eingefrorene Gameten, bleibt ihnen die Möglichkeit erhalten, Kinder zu zeugen, die genetisch von ihnen abstammen. Es fällt in die Verantwortung der betreuenden Psychiater_innen oder Psycholog_innen, das Thema vor Beginn der Behandlung einzubringen.

Das Argument der Übertragung des Transsexualismus Ein gelegentlich angeführtes Argument gegen die Fortpflanzung von Trans‘-Personen basiert auf der Annahme, Transsexualismus sei genetisch veranlagt und damit potenziell auf die Kinder von Trans‘-Personen vererbbar. Nach heutigem Wissensstand ist Transsexualismus eine sogenannte multifaktorielle Erscheinung und sicher nicht direkt übertragbar. Sollte in den kommenden Jahren ein entsprechendes genetisches Merkmal identifiziert werden, läge es immer noch an der Trans‘-Person zu entscheiden, ob sie Kinder zeugen möchte oder nicht, so wie dies auch für andere Krankheiten oder genetischen Merkmale gilt. Glücklicherweise leben wir nicht mehr in einer Welt, in der es Ärzt_innen vorbehalten ist, zu entscheiden, was das Beste für ihre Patient_innen ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Argumente gegen die Fortpflanzung von Trans‘-Personen der Angst der Gesellschaft vor Transsexualismus der Heteronormativität und dem Unwissen über aktuelle technische Möglichkeiten entspringen. Das Beispiel lesbischer Frauen hat gezeigt, dass der Zugang zu neuen Verfahren auch zur Entwicklung und Nutzung neuer Behandlungsmöglichkeiten führt (Hodgen 1988) und es gibt nicht den geringsten Grund, warum dies nicht auch für Trans‘-Personen gelten sollte.

Die Kyrokonservierung von Spermien für Trans‘-Frauen Im Folgenden werde ich hier die möglichen theoretischen Optionen darstellen. Auch wenn viele Trans‘-Personen nach ihrer Transition heterosexuelle Beziehungen eingehen, identifiziert sich eine nicht unwesentliche Anzahl von Trans‘-Personen als homosexuell. Dies macht deutlich, dass Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung als voneinander losgelöst betrachtet werden müssen (Leavitt/Berger 1990; Main 1993). Insofern besitzen auch nicht alle hier angeführten Optionen gleichermaßen Gültigkeit für alle Trans‘-Personen. Die feminisierende Hormontherapie führt bei Trans‘-Frauen zu einer Einstellung der Spermatogenese (Spermienbildung) und schließlich zu einer

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Azoospermie (Fehlen von Spermien in einer Ejakulatprobe). Diese wird nach einer bestimmten Zeit irreversibel und natürlich führt auch die operative Entfernung der Hoden zu einer definitiven Fortpflanzungsunfähigkeit. In diesem Fall besteht also die einzige Möglichkeit zur Bewahrung der Fortpflanzungsfähigkeit im Einfrieren von Spermien im Idealfall vor Beginn der Hormontherapie. Sofern deren Qualität ausreichend ist, könnten sie zu einem späteren Zeitpunkt von einer Partnerin für eine Insemination genutzt werden, andernfalls kann eine In-Vitro-Fertilisation (IVF) oder gar eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion (IZSI) durchgeführt werden. Im Prinzip kann auch eine Hodenbiopsie eingefroren werden, da für das IZSI-Verfahren nur sehr wenige Spermatozoiden benötigt werden. In jedem Fall würde ein durch diese Verfahren gezeugtes Kind genetisch von beiden Partnerinnen abstammen. Im Falle einer Trans‘-Frau mit männlichem Partner verhält es sich wie mit einem Paar zweier Männer, die heute auf die Dienste einer Leihmutter angewiesen sind, die auch die Eizelle zur Verfügung stellt. 2003 haben wir eine Studie zu den Meinungen von Trans‘-Frauen über das Einfrieren von Spermien publiziert (De Sutter u.a. 2003a). Der Großteil der befragten Frauen (77 %) gab an, dass das Einfrieren von Spermien vor Beginn der Hormontherapie besprochen und angeboten werden sollte. 51 % hätten dies auch in Anspruch genommen, sofern es angeboten worden wäre. Am stärksten war dieser Wunsch bei jungen Frauen (unter 40 Jahren), die sich als lesbisch oder bisexuell identifizierten, für die eine Einfrierung von Spermien also von besonders großem Interesse wäre. Trans‘-Frauen haben heute kaum Möglichkeiten, schwanger zu werden und selbst ein Kind auszutragen. Uterustransplantationen sind zwar technisch umsetzbar, doch die Erfolgsquoten sind niedrig. Zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen bedürfte es zudem zweifelsohne einer Behandlung mit Immunosuppressiva, welche jedoch aufgrund ihrer Toxizität für den Fötus nicht mit einer Schwangerschaft zu vereinbaren sind.

Inseminationen von Spendersamen für Partnerinnen von Trans‘-Männern Viele Trans‘-Männer gehen nach ihrer Transition dauerhafte Beziehungen mit einer Partnerin ein, mit der sie möglicherweise auch Kinder zeugen möchten. Auch wenn in Zukunft eventuell weitere Verfahren möglich sein werden (siehe unten), kann die Mehrheit dieser Paare bereits eine Insemination von Spendersamen durchführen. Im Prinzip unterscheidet sich dieses Verfahren nicht von

Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?

der Insemination von Spendersamen bei anderen heterosexuellen Paaren. Die Literatur verzeichnet eine Debatte über die Akzeptabilität eines solchen Verfahrens (Baetens u.a. 2003; De Sutter 2003b). Aus diesem Grund haben wir eine Langzeitstudie initiiert, um die Entwicklung der Kinder dieser Paare zu beobachten.

Das Einfrieren von Eizellen, Embryonen oder Eierstockgewebe bei Trans‘-Männern Bei Trans‘-Männern ist die Situation anders gelagert als bei Trans‘-Frauen. Die virilisierende Hormontherapie führt zu einer reversiblen Amenorrhoe, die Ovarialfollikel bleiben intakt. Obgleich die Histologie der Eierstöcke nach einer Androgentherapie denen von Frauen mit polyzystischem Ovarialsyndrom gleicht (Pache u.a. 1991), enthalten diese Follikel immer noch nutzbare Eizellen. Natürlich führt auch hier der chirurgische Eingriff zu einer definitiven Unfruchtbarkeit. Es bestehen drei Möglichkeiten zur Bewahrung der Fortpflanzungsfähigkeit: das Einfrieren der Eizellen, das Einfrieren von Embryonen und das Einfrieren des Eierstockgewebes. Diese Möglichkeiten gleichen im Prinzip denen von Frauen, die aufgrund einer Krebserkrankung eine Chemo- oder Strahlentherapie auf sich nehmen müssen.

Das Einfrieren von Eizellen Dieses Verfahren erfordert wie im Falle der IVF eine hormonelle Stimulation und eine Eierstockpunktion mit anschließendem Einfrieren der Eizellen. Auch wenn diese Strategie durchaus interessant und effektiv sein könnte, ist es unwahrscheinlich, dass viele Trans‘-Männer bereit wären, sich einer mehrfachen hormonellen Stimulation zu unterziehen, um eine ausreichende Anzahl von Eizellen zu erhalten. Sind eingefrorene Eizellen vorhanden, bedürfte es im Falle einer Partnerin zudem einer IVF mit Spendersamen. Im Falle eines Partners würde eine Leihmutter benötigt. Hier würde das Kind genetisch von beiden Partner_innen abstammen.

Das Einfrieren von Embryonen Das Einfrieren von Embryonen verläuft nach dem gleichen Verfahren wie das Einfrieren von Eizellen, hier werden jedoch auch Spermien eines Partners oder Spenders benötigt. Das Einfrieren von Embryonen stellt einen Routinevorgang dar, bei dem die Chancen einer Schwangerschaft wesentlich höher liegen als bei der Einfrierung von Eizellen. Anschließend würde auch hier eine Leihmutter oder eine Partnerin benötigt. Damit das Verfahren effektiv ist, müssten mehrere

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IVF-Zyklen durchgeführt werden. Es ist fraglich, ob es für viele Trans‘-Männer annehmbar wäre, sich dieser Prozedur zu unterziehen.

Das Einfrieren von Eierstockgewebe Dieses Verfahren ist zweifelsohne das realistischste und wird bereits von Frauen genutzt, die aufgrund einer Krebserkrankung eine Chemo- oder Strahlentherapie auf sich nehmen müssen. Hier werden ohne vorherige Stimulation oder IVF lediglich die Eierstöcke entnommen und einzelne Teile eingefroren. Bei Trans‘-Männern kann dies im Zuge der Ovariektomie geschehen (Van den Broecke u.a. 2001). Wie auch beim Einfrieren von Eizellen oder Embryonen wird hier eine Samenspende und eine Partnerin bzw. im Falle eines Partners eine Leihmutter benötigt. Die Schwierigkeit beim Einfrieren von Eierstockgewebe besteht nicht im Einfrieren selbst, sondern in der Frage, was nach dem Auftauen mit dem Gewebe geschehen soll. Es kann den Patient_innen zurücktransplantiert werden (Shaw u.a. 2000; kürzlich wurde eine erste mit diesem Verfahren erfolgte Schwangerschaft gemeldet: Donnez u.a. 2004) (dies ist für Trans‘-Männer sicherlich keine Option), es kann einer anderen Person transplantiert werden, was allerdings zu Abstoßungsreaktionen führen kann, oder es kann einem Tier transplantiert werden (z.B. einer Maus, aber hier dürfte es ethische Vorbehalte geben). In allen drei Fällen bedürfte es einer Follikelstimulation mit anschließender IVF. Eine andere Möglichkeit besteht in der In-Vitro-Kultur mit Follikel- und Eizellreifung, aber hier sind die Ergebnisse bislang nicht sehr vielversprechend. Selbst wenn also das Einfrieren von Eierstockgewebe am vorteilhaftesten erscheint, wird noch viel Forschung betrieben werden müssen, bevor dieses Verfahren auch im Falle von Trans‘-Männern zur Zeugung von Kindern führen könnte.

Ausblick Auch wenn dies heute noch nach Science-Fiction klingen mag, ist die Stammzellenforschung bereits ausreichend fortgeschritten, um davon ausgehen zu können, dass wir in fünf bis zehn Jahren in der Lage sein werden, aus einer beliebigen somatischen Zelle in vitro Gameten herzustellen und somit alle hier beschriebenen Möglichkeiten hinfällig werden. Auch im Bereich der Uterustransplantationen sind neue Entwicklungen zu verzeichnen: In Schweden

Genetische oder biologische Trans‘-Elternschaft: Traum oder Wirklichkeit?

wurden 2012 einige Transplantationen vorgenommen, Abstoßungsreaktionen sind bislang nicht zu verzeichnen. Zudem werden Immunsuppresiva verträglicher, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Es kann also davon ausgegangen werden, dass in fünf bis zehn Jahren erfolgreiche Uterustransplantationen durchgeführt werden können.

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Kapitel 5: Geschlechternormativität und intergeschlechtliche Körper

Intergeschlechtlichkeiten — eigene Realitäten, eigene Normen Simon Zobel

Zusammenfassung Leben liebt Vielfalt und ist auf Variation hin ausgerichtet. Variabilität und komplexe, systemische Strategien sind eine Grundvoraussetzung für Leben. Schon körperbiologisch können alle Menschen als geschlechtlich variabel oder als mehrwertig betrachtet werden. Die Geschlecht konstituierenden Elemente kommen in allen Körpern gleichermaßen vor. Variable Faktoren auf den genetischen, zellulären sowie organischen Ebenen und unterschiedliche hormonelle Mengenverhältnisse im Lebenszyklus aller Menschen bedingen mehr oder weniger starke geschlechtliche Spezialisierung. Manche sind dabei mehrwertiger als der Durchschnitt. Diese werden heute im Allgemeinen als intersexuell bezeichnet. Nach althergebrachten wissenschaftlichen Standards und Kategorien auf der Basis klassischer Dichotomien wird bei diesen großen Minderheiten Krankheit zugeschrieben und das Körperbild somit behandelbar gemacht. Körperliche und psychische Integrität wird verletzt. Von Normalität zunächst ausgeschlossen, werden die Menschen über Sonderregelungen später wieder inkludiert, womit bestehende wissenschaftliche und kulturelle Annahmen reproduzierbar bleiben.

Einleitung Es existieren neue Sichtweisen und Weltbilder in Natur- wie Ingenieurwissenschaften, die von vielschichtig-komplexen, systemischen Ansätzen ausgehen und auch eine Bereicherung im gesellschaftlichen Diskurs um Geschlechtliches und (Inter-) Geschlechtlichkeit darstellen können (Goode/Machol 1957; Ramo/St.Clair 1998).

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Was abendländisches naturwissenschaftliches Denken seit dem 18. Jahrhundert gelehrt hat, ist auch im Bereich des Geschlechtlichen vielfach zu reflektieren. Aus menschenrechtlicher und politischer Sicht werden immer mehr Zugeständnisse in Bezug auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung gemacht, aber derzeit wird das letzte Wort in der Praxis bei renommierten Vertreter_innen von Medizin und medizinischer Forschung verbleiben. (Inter-) Geschlechtlichkeit sollte als gesellschaftliches Querschnittsthema betrachtet werden, hat es doch thematisch Verbindungen zu Normierungen von Körpern entsprechend überkommenen kulturellen, geschlechtlichen oder religiösen Vorstellungen und Kategorien.1 Gesellschaften können auch mehr als 200 Jahre nach der Aufklärung durchaus noch von Mythen und Ritualen geprägt sein (Levi-Strauss 2013). Dies betrifft auch das Geschlechtliche. Der Medizin – vornehmlich als Wissenschaft der Pathologien (krankhafter und abnormer Vorgänge und Zustände im Körper sowie deren Ursachen) und der Vorsorge – sollte auch aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht die alleinige Expertise zugestanden werden. Hier setzt der folgende Beitrag an und will ferner zeigen, wie mit einschränkenden Paradigmen in der Praxis Krankheit konstruiert und behandelbar gemacht wird. Auch Geschlechtliches ist wie vieles nicht monokausal oder eindimensional. Es existieren Variablen und Fließgleichgewichte sowie vielfache Möglichkeiten und Strategien nebeneinander. Der mehrdimensionale Blick über den Zaun der Medizin auf lebendige, komplexe Systeme jenseits der alten Paradigmen lohnt sich auch in Bezug auf Geschlechtlichkeit und auf das evolutionäre Abenteuer Mensch. Naturwissenschaften können durchaus neue, fachlich grenzüberschreitende Antworten bieten. Ein immer noch aktueller Vertreter neuerer Sichtweisen ist der vielzitierte Evolutionsbiologe Haldane. Leben ist nicht nur komplexer, als wir annehmen, sondern komplexer, als wir überhaupt annehmen können (Haldane 1928).

Die Krux mit den Kategorien und ihren Anwendungen Ein Team von Forscher_innen um Veyrunes (Veyrunes u.a. 2010) am Institut des sciences de l'évolution/CNRS, Montpellier, stellte bei den fruchtbaren weiblichen Mäusen der afrikanischen, frei lebenden Mäusepopulation Mus minutoides zu 75 bis 100 % einen XY-Karyotyp fest. Mäuse sind dem Menschen genetisch nahe, weshalb sie auch in der transgenetischen Forschung gern eingesetzt werden. Erwähnenswert ist dieses Beispiel, weil es sich aus derzeitiger Sicht der Medizin um eine 46,XY-Geschlechtsumkehr handelt. Die weiblichen Mäuse sind genetisch 1 | Vgl.: Aktuelle Debatte zur Vorhautbeschneidung bei Jungen und zur weiblichen Genitalverstümmelung (female genital mutilation) in Deutschland. Rupprecht, Marlene (Germany , SOC), Children’s right to physical integrity, Report Doc: 13297, 06/09/2013. Reference: 3912, Motion: 13042 (MRS). Resolution 1952. Recommendation 2023, Eurovoc Council of Europe.

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männlich. Wenig thematisiert wird, dass Ähnliches auch beim Menschen existiert. Auf dem 8. Berliner Symposium für Kinder- und Jugendgynäkologie wurde am 19. April 2013 eine Fallbeschreibung mit sogenannter kompletter Androgenresistenz (CAIS) mit Persistenz (dauerhafter Beschaffenheit) von Müller-Strukturen wie Uterus und Eierstöcken sowie Regelblutung (Lehmann-Kannt 2013) auf der Basis von 46,XY und SRY-positiv (chromosomal männlich)2 vorgestellt. Wenn es um Zuschreibung von Krankheit geht, werden auch vereinfachte genetische Kurzschreibweisen wie 46,XY verwendet und pathologisierende Schlussfolgerungen abgeleitet. Deshalb soll näher darauf eingegangen werden. Auf dem lichtmikroskopisch im Standardverfahren festgestellten Genbild, das dem Karyogramm mit einem der beiden sogenannten Geschlechtschromosomen (Gonosomen) entspricht, basieren mehrheitlich weitere Geschlechtszuschreibungen sowie auch Diagnosen. Als Karyotyp wird die Gesamtheit aller zytologisch erkennbaren chromosomalen Eigenschaften eines Individuums bezeichnet. Das Karyogramm ist die schematische Darstellung der Chromosomenpaare nach Größe und Gestalt zur Ermittelung des solchen. Dabei werden die Chromosomen paarweise der Größe nach abfallend angeordnet. Anschließend folgt die Angabe der Gonosomen. Die sogenannte Kurzschreibweise wird folgendermaßen gebildet: Anzahl der Chromosomen und abschließend die Angabe der Gonosomen, z.B. 46,XY (männlich systematisiert) oder 46,XX (weiblich systematisiert). Das genetische Untersuchungsmaterial wird meistens aus Fruchtwasser oder heparinisiertem Blut gewonnen. Die Zuordnung erfolgt über das für jedes Chromosom charakteristische Streifen-Muster, auch Banden genannt. Viele genetische Informationen oder relevante strukturelle Variablen sind dabei jedoch nicht sichtbar bzw. entziehen sich dieser Standarderfassung. Dafür wären feinstrukturelle und aufwendigere molekulare Untersuchungen wie DNA-Sequenz- und Mikrosatellitenanalysen nötig wie auch die Untersuchung anhand von Gewebe (wie z.B. Hautbiopsie, Gewebebiopsie ohne Entfernung der Keimdrüsen). Mittels Karyotyp- und Geschlechtszuweisungen in Verbindung mit den Keimdrüsen (Testis/Hoden, Ovarien/Eierstöcke bzw. Ovotestis) wird auch in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation WHO maßgeblich nach Fehlbildungen des Weiblichen oder Männlichen systematisiert. Was allgemein als Intersexualität bezeichnet wird, ist als Aberration oder Störung der Geschlechtsentwicklung im ICD 10 der

2 | Von der positiven Sequenzierung von 46,XY und SRY-Gen abgesehen wird schon die Diagnose ›Komplette Androgenresistenz‹ (CAIS) heute vielfach als fragwürdig angesehen bzw. muss in diesem Fall als Arbeitsdiagnose bzw. Verlegenheitsdiagnose reflektiert werden.

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WHO3 nach Krankheitsbildern bzw. Diagnoseschlüsseln geordnet. Anhand des ICD könnten entsprechende Behandlungen abgerechnet werden: ICD 10, Kapitel XVII Angeborene Fehlbildungen Deformitäten und Chromosomenanomalien (Q00-Q99); Q56.- Unbestimmtes Geschlecht und Pseudohermaphroditismus; Q56.0 Hermaphroditismus, anderenorts nicht klassifiziert. Intersexuell und krank wären somit gleichgesetzt.

Zu den Begriffen und deren Etymologie Werden zwei klar voneinander abgegrenzte Geschlechter typisiert, so erscheinen jene Menschen als atypisch oder intergeschlechtlich (allg. intersexuell), die genetisch (geschlechtschromosomales Bild nach Nomenklatur), anatomisch (innere und äußere Geschlechtsorgane, gonadal und auch gonoduktal4), hormonell/endokrinologisch (Mengenverhältnisse der Geschlechtshormone, enzymatische Verstoffwechselung, usw.) sowie vom phänotypischen Zusammenspiel all dieser Faktoren her nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Um über Geschlechtlichkeiten sprechen zu können, müssen Begriffe für Geschlechterbiologien verwendet werden, deren Etymologie, vertikale Geschichtlichkeit und deren räumlicher Gebrauch auch in Europa unterschiedlich sind. Geht es in der deutschen Sprache um Menschen, die nicht einem Geschlecht zugeordnet werden können, wird meistens der Begriff ›Intersexualität‹ benutzt. Man spricht auch von den Intersexuellen. Richard Goldschmidt, Zoologe und Genetiker am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem, erforschte ab 1911 geschlechtliche Erscheinungsformen, die er als Mischungen zwischen einem idealtypischen männlichen und weiblichen Erscheinungsbild betrachtete. Goldschmidt schuf den Begriff Intersexualität (Dietrich 2003). Da er ab 1935 in den Vereinigten Staaten forschend wirkte, etablierte sich der Begriff letztlich international. Im anglophonen Sprachraum bezeichnet der Begriff ›sex‹ das (Körper-) Geschlecht und verliert den zwangsläufigen Bezug zu Sexualität. Bei Goldschmidt kommt es jedoch zu begrifflichen Vermengungen von Intersexualität mit Transvestismus, Transidentität, Transgender sowie sexueller Orientierung (vgl. Dietrich 2003). Im Französischen wird anstelle von Intersexualität auch der Begriff ›Intersexuation‹ (von Sexuation) benutzt. Sexuation bezeichnet dabei sowohl den Prozess der biologischen Geschlechtsdifferenzierung so wie auch Prozesse der Geschlechtszuschreibung (Ragland-Sullivan 2004). Zur sensiblen und eingängigen Unterscheidung von Intergeschlechtlichkeit und manchen 3 | Vgl. ICD-10-GM Version (2013). Copyright WHO, DIMDI 1994 – 2013. URL: http://www.dimdi.de/static/de/ klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/index.htm [21.09.2012]. 4 | Gonadal: Keimdrüsen (Gonaden; Eierstöcke, Hoden oder z.B. Ovotestis); gonoduktal: Gonodukte, Geschlechtsausführgänge; Samenleiter (Vas deferens, Spermiodukt), Eileiter (Ovidukt).

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transgeschlechtlichen Identitäten wird im Folgenden stellenweise der Begriff ›transident‹ oder ›Transidentität‹ verwendet. In dem vorliegenden Beitrag soll aufgezeigt werden, warum die Begriffe ›atypisch‹ und ›mehrwertige‹ Geschlechtsmerkmale bevorzugt werden. ›Atypisch‹ oder ›mehrwertig‹ muss sich dabei nicht auf das äußere Erscheinungsbild oder die äußeren Geschlechtsmerkmale beziehen. Es bezieht sich hier vor allem auf die Systematisierung respektive auf die Kategorisierung selbst. Die angeborene körpergeschlechtliche Konstitution auf genetischer, organischer, anatomischer oder hormoneller Basis, welche als atypisch systematisiert wird, ist inert, also stabil und angeboren. Sie existiert unabhängig von natur- und geisteswissenschaftlichen Auffassungen von Geschlecht und unabhängig von zeitlichen Epochen. Die Präfix inter als Synonym für dazwischen ist zu reflektieren. Alle Menschen haben Mehrwerte, weil Elemente, die Geschlechtliches konstituieren von der Anlage bipotent sind oder bilateral angelegt.5 Hormone (Androgene wie Östrogene)6 sind keine getrennten, völlig unterschiedlichen Baustoffe und ihre enzymatischen Andockstellen sind in graduellen Stufen bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden (Fausto-Sterling u.a. 2000). Die Biologie der Geschlechtlichkeit wird meist im Licht der Zweigestaltigkeit interpretiert, die als evolutionär geschaffene Bedingung und Optimierung der menschlichen Geschlechtlichkeit angenommen wird (Cuozzo/Bratman 2005). Auch das Gehirn als Geschlechtsorgan oder als Transmitter bzw. die Hirnorganisation wird in diesem Sinn oft untersucht (Güntürkün/Hausmann 2007). Auf dieser Basis wird Atypisches dann als Fehlbildung der Zweigeschlechtlichkeit oder als weniger effektive sowie weniger effiziente Geschlechtlichkeit gelesen. Gesellschaftlich-kulturelle Geschlechterverhältnisse bilden häufig die Grundlage für die Wissenschaft oder bestimmen doch mit, wie Studien angelegt sind oder Ergebnisse gelesen werden, da auch naturwissenschaftliche Forschung meist nicht im luftleeren Raum jenseits gesellschaftlich-kultureller Bedingungen stattfindet und Forschende selbst keine völlig objektive Bedingung als Voraussetzung mitbringen (Schmitz 2009). Atypische geschlechtliche Entwicklung wird deshalb kaum als eigene Realität mit eigenen Normen untersucht. Gesehen wird

5 | Als bipotent bezeichnet man Zellen, die die Fähigkeit haben, sich in genau zwei verschiedene Zelltypen innerhalb eines Gewebetyps differenzieren zu können. Bipotent sind auch Organe wie die Gonaden, die sich zu Hoden, Eierstöcken oder zu Mischformen entwickeln können. Bilateral bedeutet auf beiden Seiten oder zweiseitig. Einige Organe wie z.B. die Gonaden oder die Lungen sind bilateral oder zweiflügelig angelegt. 6 | Im Allgemeinen werden die Geschlechtshormone oft in weibliche (Gestagene, Östrogene) und in männliche (Androgene) nach ihrer Funktion für Zielorgane wie die inneren Geschlechtsorgane unterteilt. Grundsätzlich produzieren jedoch alle menschlichen Organismen diese Hormone. Dies geschieht allerdings in unterschiedlichen Mengenverhältnissen.

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vielfach nur, was erkannt werden kann oder will. Für Überraschungen hat im Hinblick auf Homosexualität bei Tieren daher oft auch die Evaluation von Feldforschungsbeobachtungen gesorgt. Vermeintlich heterosexuelle Paarungen haben sich als gleichgeschlechtlich erwiesen (Bailey/Zuk 2009). Die Beobachtung von homosexuellem Verhalten bei Tieren wird jedoch sowohl als Argument für Homosexualität oder als Sünde wider die Natur (peccatum contra naturam) gegen die Akzeptanz menschlicher Homosexualität verwendet. Hier wird deutlich, dass der Naturbegriff oder das Natürliche je nach Bedarf von progressiven oder konservativen Argumentationslagern gleichermaßen bemüht wird.

Schaffung von Minderheiten und nachträgliche Inklusionsphänomene Atypische oder mehrwertige körperliche Geschlechtlichkeit als Kriterium hängt zunächst von den Zuschreibungsparametern selbst ab. So kann der Eindruck entstehen, es handele sich um eine verschwindend geringe Anzahl von Individuen oder doch zumindest um Besonderheiten. Die geschlechtlichen Standardisierungen und die Zuschreibung von Zwischengeschlechtern und von Abweichung von der Norm erschafft dabei erst die große Schnittmenge der Minderheiten mit jeweils eigenen Subidentitäten. Das hat unter anderem zur Folge, dass Intergeschlechtlichkeit oft mit Gleichstellungsfragen dritte Geschlechter betreffend diskutiert wird. Es geht dann um die Gleichstellung von der Norm abweichender, andersartiger Identitäten wie LSBTTIQ7. Die Andersartigkeit der geschlechtlichen Identität, des geschlechtlichen Ausdrucks oder der sexuellen Orientierung wird als gemeinsamer konstituierender Nenner angenommen. Es entsteht eine exkludierte Schnittmenge, die als anders oder dazwischen subsumierbar wird und die juristisch wie medizinisch besonderer Behandlung bedarf. Ohne den vorherigen Ausschluss von Normalität würde die spätere Anerkennung oder Gleichstellung nicht benötigt werden. Bi, schwul oder lesbisch bezeichnet die von der Norm abweichende sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität. Intergeschlechtliche Menschen werden in diesem Zuweisungsprozess zur Gruppe der abweichenden Körpergeschlechtlichkeiten oder körpergeschlechtlichen Identitäten gezählt. Intergeschlechtlichkeit ist allerdings eine körperliche Konstitution und weder eine sexuelle Identität oder Orientierung noch mit Transidentität beziehungsweise Transgeschlechtlichkeit gleichzusetzen. Eine solche begriffliche Unschärfe und die Subsumierung unter anders sowie sexuelle Orientierung bewirken für intergeschlechtliche Menschen, dass wichtige Fragen wie z.B. die Pränataldiagnostik, Schadensersatz bei unfreiwillig vorgenommenen operativen und hormonellen Angleichungsmaßnahmen, Off-Label-Use von

7 | LSBTTIQ = Abkürzung für Lesbisch Schwul Bi Transident-Transgeschlechtlich Transgender Intersexuell Queer.

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Medikamenten8 sowie die Aufarbeitung der medizinischen Praxis nicht aufgeworfen werden. In gemischten Darstellungen zusammen mit Transidentität bzw. Transgeschlechtlichkeit finden diese wichtigen Fragen daher in der Regel wenig oder keine für intergeschlechtliche Menschen zufriedenstellende Berücksichtigung. Bei intergeschlechtlichen Menschen handelt es sich um eine wenig homogene Gruppe, die ihre Interessen in LSBTTIQ-Zusammenhängen quantitativ kaum adäquat vertreten kann, wie insbesondere bei der Betrachtung von Kindern und ihren Eltern deutlich wird. Eltern würden sich auf der Suche nach Beratungsangeboten zunächst kaum an eine Organisation für queere Lebensweisen wenden. In der Regel ist es für Eltern neben grundsätzlichen und auch vom medizinischen Betrieb unabhängigen Informationen zunächst am wichtigsten, überhaupt Zugang zu ihrem Kind zu finden und seine Körperlichkeit anzunehmen (Schweizer/Richter-Appelt 2012). Zu diesem Zeitpunkt der Eltern-KindBindung mag die Frage nach queeren Lebensentwürfen kaum eine wichtige Rolle spielen oder eine positiv besetzte Bedeutung haben. Im Gegenteil, die Verbindung zu unterschiedlichen Formen von Andersartigkeit, die mit dem Begriff ›Queer‹ einher gehen können, könnte gerade junge, unerfahrene Eltern zusätzlich verunsichern und Entscheidungen für geschlechtsvereindeutigende Maßnahmen begünstigen. Nur eine Minderheit jugendlicher, intergeschlechtlicher Menschen scheint LSBTTIQ-Veranstaltungsangebote regelmäßig wahrzunehmen. Dies mag unter anderem daran liegen, dass Intergeschlechtlichkeit bisher generell verheimlicht wurde und den Menschen selbst nicht bekannt war. Das Finden und Ausleben der eigenen geschlechtlichen oder auch sexuellen Identität mag sich auch als besonders intensiv, konfliktbeladen und als langfristiger Prozess darstellen. Viele Menschen müssen erst einmal die Kette der aufoktroyierten Krankengeschichten für sich persönlich und in Bezug auf z.B. den Zugang zu Dokumenten aufarbeiten; oftmals sind auch legale Schritte, zum Beispiel den Personenstand betreffend, einzuleiten. Sich selbst zu finden, stellt sich oft als intensiver, langwieriger Prozess dar. Dieser Coming of Age-Prozess9 mag noch intensiver sein, als er für Jugendliche sowieso ist. Er mag auch noch prekärer sein als der oft schwierige Coming of Age-Prozess von homosexuellen Jugendlichen. Die meisten der sogenannten intergeschlechtlichen Menschen verorten sich auch im Erwachsenenalter nicht unbedingt im Rahmen von

8 | Einsatz von Medikamenten außerhalb ihrer Zulassung. 9 | Coming of Age (engl.: Heranwachsen oder Erwachsenwerden) bezeichnet den Übergang eines jugendlichen Menschen von der Kindheit in das Erwachsenenalter. Dies kann einen psychoemotionalen Reifeprozess, den identitären Werdeprozess sowie das körperliche und psychische Durchlaufen der Pubertät beinhalten (Konrad/ Firk/Uhlhaas 2013).

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LSBTTIQ.10 Es ist darauf zu achten, dass Beratung und Fördermittel für als intergeschlechtlich systematisierte Menschen nicht pauschal im Rahmen sogenannter Geschlechtervielfalt mittlerweile großen und mächtigen LSBTTIQ-Organisationen zugewiesen werden. In der Regel sind dort kaum komplexe Kenntnisse und Erfahrungen zu medizinischen Konflikten sowie legalen oder versorgungsrechtlichen Fragestellungen von intergeschlechtlichen Menschen vorhanden. Ein adäquater Peer-to-Peer-Support ist kaum gewährleistet. Bündnisse und Kooperationen wären auf gegenseitigem Respekt und kompetenter Ressortverteilung zu gründen. Das Hinterfragen der gängigen Geschlechtlichkeitsmodelle und der produzierten legalen, sozialen und ökonomischen Ausschlüsse ist jedoch für alle Menschen grundsätzlich positiv. Erst die Ausschlüsse produzieren die daraufhin später notwendig werdende Inklusion, die dann wiederum den gesellschaftlichen Dynamiken folgt.

Geschlechterbiologien, der Begriff Geschlechtsidentität und die Folgen für intergeschlechtliche Menschen Zwei-Geschlechtlichkeit gilt als effektiver Reproduktionsmodus. Soziale Vergeschlechtlichungen können jedoch als ein kulturelles Produkt bezeichnet werden. Frauen und Männer als voneinander sich fundamental unterscheidende Wesen zu betrachten, ist ein vergleichsweise junges Phänomen im europäischen Raum – es hat sich im 18. Jahrhundert entwickelt (Laqueur 1990). Zusammenhänge zwischen Biologie und (geschlechtlicher) Identität so wie sexueller Orientierung werden oft gesucht. Der Begriff ›Geschlechtsidentität‹ hingegen stammt aus der Psychoanalyse und bezieht sich auf die mit Geschlecht assoziierte soziale Rolle. Zur Entwicklung einer gefestigten männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität galt ein damit konform gehendes oder doch zumindest nach außen hin konform wirkendes Körperbild vielfach als Bedingung (Money 1955). Dem konformen weiblichen oder männlichen Körperbild wurde für die Sexualentwicklung ebenfalls große Bedeutung beigemessen (Heigl-Ever/ Weidenhammer 1988). Von zentraler Bedeutung ist und war dies auch bei geschlechtszuweisenden oder jüngst geschlechtsvereindeutigenden Maßnahmen an körperlich atypischen Menschen. Bei intergeschlechtlichen Kindern wird daher zu möglichst frühzeitigen oder pränatalen Eingriffen geraten. Kaum jemand der heute erwachsenen intergeschlechtlichen Menschen in Europa ist unbeschadet durch das engmaschige Netz von Geschlechterbildern, gesetzlichem Versicherungsschutz plus elterlicher Fürsorge/Vormundschaft in

10 | Der Autor nimmt regelmäßig an deutschen und internationalen Veranstaltungen zum Thema Intergeschlechtlichkeit teil, besucht Selbsthilfetreffen von Organisationen wie z.B. dem deutschen Verband Intersexuelle Menschen e.V. und führt viele persönliche Gespräche, auch europaweit.

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Verbindung mit medizinischen Empfehlungen geschlüpft. Daher gibt es auch wenige Daten von unbehandelten Personen, die manche der prophylaktischen (Be-)Handlungsmethoden und Eingriffe in Frage stellen könnten. Namhafte Vertreter_innen der Sexualforschung wie Richter-Appelt und Schweizer (2009) räumen jedoch heute ein, dass Sinn und Ergebnis der bis dato gängigen Zuweisungs- und Handlungspraktiken zumindest aus ihrer Sicht in Frage zu stellen sind. Auch können verlässliche Prognosen über die Entwicklung der geschlechtlichen Identität im Erwachsenenalter nicht erfolgen (Schweizer/Richter-Appelt 2009). Der Charakter der hormonellen und operativen Eingriffe ist jedoch irreversibel. Maßnahmen an den äußeren Geschlechtsmerkmalen und am urogenitalen Trakt, teilweise auch an den Geschlechtsausführgängen (Gonodukten) sind sehr schmerzhaft. Das Entzündungsrisiko ist ebenfalls erhöht. Folgeoperationen sind oft indiziert. Ergebnisse sind zu oft ein entfremdeter Körper, entfremdete bzw. schmerzende Organe, die auch im subjektiven Erleben nicht mehr der Person angehören (Brinkmann u.a. 2007, Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. (2008), Schweizer/Richter-Appelt 2009). Den spezifischen Problemen, Ängsten und Konflikten von Jugendlichen wurde bisher noch wenig Beachtung geschenkt. Die Hoffnung, ihre Ängste und Konflikte durch medizinische Maßnahmen beseitigen zu können, wird wie in der 2007 veröffentlichten Hamburger Intersex Studie eher als gescheitert angesehen (Schützmann u.a. 2009). Wenn über atypische Körpergeschlechtlichkeit gesprochen wird, dann wird dies sehr gern getan, um die Verbindung von Geschlechterbiologien und sozialen Geschlechterrollen überhaupt in Frage zu stellen. Das Hinterfragen von Gender als Konzept der sozialen oder psychologischen Seite von Geschlecht und der sozialen Geschlechterrollen erscheint nützlich. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass Genderdiskurse im Allgemeinen keine Erleichterungen für intergeschlechtliche Kinder bedeuten. Relativierung von Gender und sozialen Rollen schützt nicht vor operativen Maßnahmen wie der Entfernung der Keimdrüsen (Gonadektomie) und von ovariellem bzw. testikulärem Gewebe oder vor vereindeutigenden Genitaloperationen. Intergeschlechtlichkeit wird vielfach als Störung der körpergeschlechtlichen Entwicklung begriffen und die Maßnahmen werden als medizinische Heilmaßnahmen (Therapien) oder auch als Prophylaxe ausgewiesen.11, 12 11 | Vgl. Leitlinien der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ). Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Endokrinologie (APE) als Sektion der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) sowie der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Arbeitsgruppe Disorders of Sex Development (DSD) der APE. Störungen der Geschlechtsentwicklung. Autorisiert für elektronische Publikation: AWMF online. URL: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027-022l_S1_Stoerungen_der_Geschlechtsentwicklung _2010-10.pdf [10.10.2010]. 12 | Vgl. Universitätsklinikum Heidelberg. Urologie. Störung der Geschlechtsdifferenzierung III. Chirurgische Therapie des Intersex. URL: http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Stoerung-der-Geschlechtsdifferenzierung -III.108328.0.html [10.06.2013].

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Eine Mehrzahl von intergeschlechtlichen Kindern darf heute durchaus einen offeneren, spielerischeren Umgang mit Geschlechterrollen erfahren. 90 % der Kleinkinder aber, deren Eltern im Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. organisiert sind, wurden nach meiner persönlichen Kenntnis jedoch trotzdem gonadektomiert.13

Klassen von Intergeschlechtlichkeiten? Im Oktober 2005 fand in Chicago, USA, die Konsensuskonferenz der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society (LWPES) und der European Society for Paediatric Endocrinology (ESPE) statt. Ergebnis war das sogenannte Consensus Statement on management of intersex disorders (Hughes u.a. (2006). Anstelle der bisherigen Begriffe ›Intersexualität‹ oder ›Hermaphroditismus‹ wurde die Bezeichnung Störung der Geschlechtsentwicklung (engl.: Disorders of sex development, DSD) eingeführt. Darunter werden nun alle körpergeschlechtlich atypischen Formen gefasst und als Störung respektive Fehlbildung betrachtet. Geschlechtsangleichende Operationen werden weiterhin vorgeschlagen, wenngleich Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten eingeräumt werden: no one technique has been universally successful. Voraussetzung für medizinische Eingriffe seien eine genaue Diagnostik und Prognose der späteren Geschlechtsentwicklung. Betont wird allerdings die Funktionsfähigkeit vor kosmetischen Aspekten (engl.: functional outcome rather than a strictly cosmetic appearance) (Hughes u.a. 2006). Die Frage, ob die Behandlungsmöglichkeiten tatsächlich eingeschränkt wurden, kann derzeit nicht beantwortet werden. Fraglich ist jedoch, ob Intersexualität überhaupt im Rahmen zweigeschlechtlicher Parameter optimiert werden kann. Zusammen mit der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation stellt das Consensus-Papier ein wirksames Instrument dar, um Intergeschlechtlichkeiten aufzuteilen und manche Körperlichkeiten behandelbar zu machen. Im ICD existieren die Kategorien Hermaphroditismus (echte Zwitter) sowie weiblicher und männlicher Pseudohermaphroditismus (Scheinzwitter). Andere körperliche Bedingungen sind in dieser Form nicht klassifiziert, sondern z.B. unter endokrinologischen Störungen erfasst. Der ICD dient der Verschlüsselung von Diagnosen und wird auch zur Abrechnung stationärer Leistungen benutzt. Im Fall von atypischer Körpergeschlechtlichkeit kann somit erst die Diagnose gefunden und die Abrechnung von Diagnostik und Behandlung erleichtert werden. Diese Aufteilung bewirkt zudem, dass operative oder hormonelle Behandlungen unabhängig vom sonstigen Körperbild, der Identität oder dem persönlichen geschlechtlichen Erleben

13 | Siehe Fußnote 10.

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als geschlechtsvereindeutigende Maßnahmen deklariert werden können. Nach diesem Schema müssen sich auch diejenigen körpergeschlechtlich atypischen Menschen nach dem Transsexuellengesetz (TSG) begutachten lassen, die z.B. einen Geschlechtseintrag unabhängig vom besagten Karyotyp erwirken wollen oder die nicht als echte Zwitter gelten. Es ergeben sich in der Praxis Härten für intergeschlechtliche Menschen, wenngleich das Gesetz mit dem Namen nur nur »Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen« heißt und das Leben im empfundenen Geschlecht ermöglichen soll. Zum einen kann der Geschlechtseintrag nur in das jeweils andere traditionelle Geschlecht geändert werden, zum anderen müssen das Verfahren und zwei Gutachten, die nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft das dauerhafte Zugehörigkeitsempfinden zu dem Geschlecht feststellen, teuer bezahlt werden.14 Festgestellt wird dann eine Störung der Geschlechtsidentität.15 Aufgrund der sog. Schattenberichte von Nicht-Re gierungsorganisationen wie Intersexuelle Menschen e.V., die im Rahmen unterschiedlicher, von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Konventionen den Vereinten Nationen vorgelegt wurden, beauftragte die Bundesregierung den Deutschen Ethikrat, zur Situation intersexueller Menschen in Deutschland Stellung zu nehmen. Genitaloperationen, das Entfernen innerer Geschlechtsorgane und Hormontherapien an atypischen Menschen wurden zum gesellschaftlichen Thema mit Breitenwirkung und rückte zeitweise in das Zentrum der Öffentlichkeit. Zwar rügt der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme 2011 (Deutscher Ethikrat 2012) geschlechtszuweisende Maßnahmen und erkennt somit die Situation intergeschlechtlicher Menschen basal an. Es wird allerdings der klinischen Praxis gefolgt, in dem zwischen geschlechtszuordnenden und den geschlechtsvereindeutigenden Maßnahmen (z.B. nach Karyotyp und Syndromen) unterschieden wird. Die wichtige Auseinandersetzung mit Schwangerschaftsabbruch und mit Pränataldiagnostik16 erfolgt immer noch lediglich am Rande der Debatten. Durch die stetige Fortentwicklung der molekular-genetischen Erfassungstechniken sowie durch die elektronische Erfassung von Krankenakten (Familienanamnese17) nimmt das Thema Abtreibung z.B. bei unerwünschten Chromosomenkonstellationen an Brisanz zu. 14 | Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) vom 10. September 1980 (BGBl. I S. 1654). Zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 17. Juli 2009 (BGBl. I S. 1978) geändert. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/tsg/ BJNR016540980.html [10.06.2013]. 15 | Vgl. Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10 F64.-). ICD-10-GM Version 2013. WHO (Hg.), DIMDI 1994 – 2013. URL:http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/ block-f60-f69.htm [21.09.2012]. 16 | Pränataldiagnostik (Abkürzung PND; zusammengesetzt aus lat. prae/vor und natal/geburtlich) bezeichnet Untersuchungen an ungeborenen Kindern (Föten) und schwangeren Frauen zur Früherkennung von Krankheiten. BJNR016540980.html [10.06.2013]. 17 | Intergeschlechtlichkeit hat oft eine genetische Grundlage und existiert familiär dann gehäufter.

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Einen Versuch, einen Zuweisungsaufschub, Erleichterung für Eltern und Kind sowie Raum für die Entwicklung des Kindes zu schaffen, stellt in der Folge dieser jüngsten Entwicklungen die Personenstandsgesetzänderung in Deutschland dar. Den Zwang zur Festlegung des Geschlechts auf männlich oder weiblich wertete der Deutsche Ethikrat als einen »nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung« (Deutscher Ethikrat 2012). Nach einem entsprechenden Beschluss des Bundestages vom Januar 2013 wurde § 22 Abs. 3 neu in das Personenstandsgesetz (PStG) eingefügt, welcher zum 1.11.2013 in Kraft getreten ist. Der neu gefasste Paragraph lautet: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen«.18 Die recht kurzfristig verabschiedete Regelung deutet einerseits in eine positive Richtung, bietet aber auch Grund für Bedenken. Zum einen gilt, dass es de facto keine Kann-Option, sondern eine Muss-Regelung ist. Zum anderen berührt die Änderung die im Text erwähnten Kriterien und Standards nicht, nach denen in der Regel entschieden wird. Nach welchen Kriterien das Kind weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugeordnet werden kann und welche Gruppen hiervon ausgeschlossen sind, bleibt Sache der Medizin.

Blicke über den Zaun Körpergeschlecht ist nicht immer so starr, eingeschränkt und zweigeteilt, wie allgemein angenommen wird, wobei es eher nach den gängigen Kriterien erfasst wird (Kuiper 2001). So soll in Devon im Südwesten Englands eine Henne das körperliche Geschlecht spontan variiert haben und wurde sprichwörtlich zum Hahn im Korb (The Telegraph 2008). Die Zoolog_innen und Agrarwissenschaftler_innen Jacob und Mather (2000) gehen in ihrem Fachartikel davon aus, dass in solchen Fällen die körpergeschlechtliche Veränderung durchaus mit Erreichen von Spermatogenese, d.h. der Bildung von befruchtungsfähigen Spermien, einhergeht. Zitieren von Beispielen aus dem Pflanzen- und Tierreich – wie es in Diskursen um Intergeschlechtlichen oft geschieht – sollte immer mit Vorsicht und ein wenig Besorgnis erfolgen. Auch sind Rückschlüsse auf andere Spezies, wie z.B. auf Menschen, auch im Hinblick auf die Komplexität der Vorgänge nur bedingt möglich. Interessant ist an dem Fachartikel von Jacob und Mather jedoch, dass sie den beschriebenen körperlichen Veränderungsvorgang selbst in Bezug auf das Tier als Pathologie rezipieren.

18 | Bundesministerium der Justiz: Personenstandsgesetz (PStG), »Personenstandsgesetz vom 19. Februar 2007 (BGBl. I S. 122), das durch Artikel 3 des Gesetzes vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3458) geändert worden ist«. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/pstg/BJNR012210007.html [25.11.2013].

Intergeschlechtlichkeiten — eigene Realitäten, eigene Normen

Es ist weitgehend bekannt, dass im Pflanzenreich Einhäusigkeit und Zwittrigkeit neben Zweihäusigkeit existiert.19 Die meisten Blüten sind zwittrig. Auch zur Zwittrigkeit im Tierreich wird seit Jahrzehnten bis auf den heutigen Tag publiziert. So kann eine geschlechtskörperliche Determinierung bzw. Änderung nach überlebenssichernden artlichen Erfordernissen erfolgen (Crews 2003), oder die Determinierung der Keimdrüsen (Gonaden) erfolgt nach ökologischen Faktoren zum Beispiel temperaturabhängig (Avise/Nicholson 2011, Reinboth 1975). Zudem fällt auf, dass für die geschlechtliche Disposition nur in einigen Fällen direkt eine gonosomal-genetische Basis z.B. auch in Form von Mosaiken20 oder Chimärismus21 sowie Translokationen22 vorzuliegen scheint. Die Ausbildung von inneren wie äußeren Geschlechtsorganen und deren Veränderlichkeit unterliegt in vielen Fällen weiteren geschlechtsdeterminierenden Faktoren unabhängig von den Geschlechtschromosomen. Für solche Faktoren ist DMRT1, beziehungsweise die DMRT1-Expression, neben anderen ein wahrscheinlicher Kandidat, welche zur Ausbildung männlicher oder aber weiblicher Geschlechtsorgane führt. DMRT1 spielt auch bei der temperaturabhängigen männlichen Geschlechtsentwicklung in den Keimdrüsen mancher Spezies eine Rolle. Bei der Geschlechtsdifferenzierung von Wirbeltieren wie auch beim Menschen sollen DMRT1-homologe Gene ebenfalls wichtige Funktionen haben (Charlesworth 1996, Manolakou/Lavranos/Angelopoulou 2006). Die Architektur von geschlechtskörperlichen Strukturen ist vielzähligen Variablen unterworfen, die besonders das Gewebe von Eierstock und Hoden betreffen. Erwähnt seien die SOX Genfamilie (Prior/Walter 1996) oder die Aromatase-Gen-Transkription (Ghosh u.a. 2009, Pannetier u.a. 2006). Bei Säugetieren ist der vom Y-Chromosom kodierte Transkriptionsfaktor SRY in der Regel verantwortlich für die Ausbildung der indifferenten, bipotenten Gonaden zu Hoden statt zu Eierstöcken. Allerdings kann Hodendifferenzierung in seiner Abwesenheit stattfinden. Ein einzelner Faktor, der Transkriptionsregulator FOXL2 ist erforderlich, um die Transdifferenzierung eines ausgebildeten Eierstocks zum Hoden zu verhindern. Induktion von FOXL2 kann anscheinend zur

19 | Einhäusig = männliche und weibliche Merkmale sind getrennt voneinander an einem Individuum vorhanden. Zweihäusig = jedes Individuum hat entweder nur männliche oder nur weibliche Merkmale. 20 | Als Mosaik bezeichnet man in der Genetik ein Individuum, in dessen Körper Zellen mit unterschiedlichen Karyotypen und/oder Genotypen vorkommen, wobei sämtliche Körperzellen von derselben befruchteten Eizelle abstammen. Ein Mosaik muss von einer Chimäre abgegrenzt werden, in der Zellen aus mehreren individuellen befruchteten Eizellen in einem Individuum vereinigt sind. 21 | Chimäre wird ein Organismus genannt, der aus genetisch unterschiedlichen Zellen bzw. Geweben aufgebaut ist und dennoch ein einheitliches Individuum darstellt. 22 | Unter einer Translokation oder Translozierung (Ortsveränderung, Versetzung, von lateinisch locus: Ort) versteht man in der Genetik eine Chromosomenmutation, bei der Chromosomenabschnitte an eine andere Position innerhalb des Chromosomenbestandes verlagert wurden. Im Extremfall kann sich ein ganzes Chromosom an ein anderes anlagern.

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sofortigen Hochregulation von hodenspezifischen Genen einschließlich des SRY-kritischen Zielgens SOX9 führen. Übereinstimmend erfolgte die Umprogrammierung der Granulosa- und Thekazelllinien in Sertoli-Zell- und Leydig-Zell-ähnliche23 Linien vergleichbar denen von männlichen Geschwistern. Die Zellen veränderten sich also aus sich heraus von einer weiblichen in eine männliche Funktionsweise. Die Ergebnisse zeigten auch, dass die Erhaltung des ovariellen Typus (der Eierstöcke) ein lebenslanger, aktiver Prozess ist (Uhlenhaut, u.a. 2009). Als Ovotestis nun wird das gleichzeitige Auftreten von Eierstock-(Ovarial-)gewebe oder Hoden-(Testikular-)gewebe in einer der beiden Keimdrüsen oder seltener als Mischform bei beiden Keimdrüsen bezeichnet. Interessanterweise scheint das Hodengewebe eher auf der rechten Körperseite der (zunächst bipotenten) Keimdrüsen vorzukommen. Die Organe sind immer zweiflügelig oder bilateral angelegt. Es wird angenommen, dass eine Genmutation auf dem X-Chromosom oder alternativ an einem Autosom die Hodendeterminierung ermöglicht. Als Autosomen wird in der Genetik die Teilmenge der Chromosomen bezeichnet, die nicht zu den Geschlechtschromosomen gehören. Hier wird ersichtlich, wie sehr schon die genetische Forschung selbst vergeschlechtlicht sein kann. Darüber hinaus wurde bei einigen, genetisch weiblichen systematisierten 46,XX-Menschen mit Hodendeterminierung eine SRY-Translokation auf das X-Chromosom beobachtet. Allerdings sind nach Untersuchungen die meisten Individuen mit dem weiblichen Karyotyp 46,XX als SRY-negativ befunden worden. Dies ist besonders interessant, weil somit kein bekanntes Hodendifferenzierendes, als männlich systematisiertes Gen vorhanden ist. In den meisten Fällen wird zudem eine typische ovarielle Funktion (auch Menstruation) beobachtet. Der 46,XX-Karyotyp soll bei 60 % bis 70 % von Ovotestis – den sogenannten echten Zwittern – auftreten (Guerra u.a. 1998, Güitrón u.a. 1998, University of Babylon).

(Inter-)Geschlechtlichkeiten – eigene Realitäten, eigene Normen Studien zur Erforschung des Y-Chromosomes bzw. der geschlechtsdeterminierenden Region SRY legen eine Entwicklungsgeschichte nahe, welche bereits seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erforscht wurde (Ohno 1967, 1969; Watson/Riggs/Grave 1992). Die geschlechtlichen sowie allgemeinen Verhältnisse 23 | Granulosazellen und Thekazellen sind für Reifung und Funktion des Follikels (Eizelle) ein wichtiger Zelltyp. In ihnen entstehen durch die Einwirkung der Aromatase aus einem androgenen Vorläufer die Östrogene, die die Eierstöcke ausschütten. Die Leydig-Zellen sind die wichtigsten interstitiellen Zellen des Hodens. Sie machen 10-20 % der Organmasse des Hodens aus. Die wichtigste Funktion der Leydig-Zellen ist die Testosteronsynthese. Sertoli-Zellen schützen und nähren die Spermien. In der Embryonalentwicklung wird in den Sertoli-Zellen das Anti-Müller-Hormon (AMH) gebildet, welches für die Rückbildung der bipotenten Müller-Gänge verantwortlich ist.

Intergeschlechtlichkeiten — eigene Realitäten, eigene Normen

im Bereich des Lebendigen scheinen eher variablen und bipotenten Parametern zu unterliegen, die in interaktiven, komplexen Systemen miteinander verschachtelt sind. Die Bedingungen sind dabei weder beliebig noch monokausal. Sexualhormone z.B. werden aufgrund ihrer Wirkungsweise als solche klassifiziert. Biochemische Bausteine, Hormone setzen aneinander an und sind umbaubar. Androgene werden ab einem bestimmten Mengenverhältnis in allen Körpern per Aromatase in Östrogene umgewandelt. Die Aromatase spielt auch eine Rolle bei der Differenzierung der Eierstöcke (Duffy u.a. 2010). Bei zusätzlicher Testosteronzufuhr, z.B. im Kraftsport, drosselt das Mehr an Testosteron die eigene Ausschüttung von Androgenen in den Hoden. Die Hoden erhalten das Signal weniger arbeiten, was auch die Spermatogenese d.h. die Bildung von Samenzellen drosselt. Ab einem gewissen Grad an Mehr bewirkt die genannte Aromatase die Bildung von Brüsten. Sexualhormone stellen keine einheitliche Stoffklasse dar. Sie umfassen Steroide, die als Hormone wirken, und bestimmte Proteine. Geschlechtlich unterschiedliche Differenzierungen bestehen in der Menge an produzierten und freien Sexualhormonen sowie der Reaktivität des Körpers auf die Sexualhormone, die abhängig von sonstigen Bedingungen wie der Genexpression variiert. Sexualhormone sind nicht männliche oder weibliche Stoffe. Mit Sexualhormon wird vielmehr die spezifische Wirkung oder Regulationsfunktion dieser Botenstoffe an den Zellen der Zielorgane gemeint (Berliner u.a. 1996). Auch genetische Faktoren sind nicht monokausal oder eindimensional. Wer heute weiterhin mit Genetik argumentieren will, darf unter anderem die Epigenetik nicht vergessen – eines der zentralen Themen der Genetik Anfang des 21. Jahrhunderts. Epigenetik umschreibt Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Modifikationen der Genaktivität. Vererbbare Modifikationen der Genaktivität als Ausdruck ist wichtig – es sind eben keine Chromosomenmodifikationen. Es können umweltbedingte, aber eben auch sozialökologische Adaptationen sein. Epigenetik beruht nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz (engl.: deoxyribonucleic acid, DNA; dt.: Desoxyribonukleinsäure, DNS) oder DNA-Replikation. Es handelt sich vielmehr um nachträgliche Modifikationen bestimmter DNA-Bestandteile wie DNA-Basen (DNA-Methylierung), Veränderungen des Chromatins (Histon-Modifikationen) und RNAi vermittelter Mechanismen. RNAi (RNA-Interferenz) ist ein Mechanismus in den Zellen von Lebewesen, welcher der zielgerichteten Abschaltung von Genen dient. Vereinfachend wird insgesamt von epigenetischen Markierungen gesprochen, welche die Chromsomen strukturieren.

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Sie steuern Genaktivität auf zell- und gewebespezifischer Ebene und spielen eine essentielle Rolle für die Steuerung von Entwicklungsprozessen bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Die Prozesse sind jedoch potentiell reversibel und daher im Verlauf eines Lebens umweltbedingter und entwicklungsabhängiger Variabilität ausgesetzt. Epigenetische Adaptationen sind nicht dauerhaft, im Gegensatz zu Mutationen (Morgan u.a. 2005). Abschließend soll auf die molekulargenetische und endokrinologische Forschung von Holterhus auf zellulärer Ebene hingewiesen werden. Er forscht zu (sexual-)hormoneller Signatur, welche biologische Geschlechtsmerkmale vielleicht genauer abbilden kann, als chromosomale DNA allein. Die Funktion eines Gens oder einer Gen-Familie ist am zellulären Prozess beteiligt. Holterhus nimmt an, dass Androgene nicht nur dauerhafte Effekte während sensibler Phasen unserer genitalen Entwicklung haben, sondern auch dauerhaft auf Organe. Zunehmend wird sichtbar, dass das Gehirn auch eine Geschlechtsentwicklung abbilden kann, die sich in Relation zur Bindung oder Abwesenheit von Testosteron zeigt. Dies beeinflusst Verhalten und kann zudem Identität modulieren. Laut Holterhus (2009) betreffen diese Prozesse nicht nur das Gehirn, sondern alle Organe. Es wird angenommen, dass bereits auf zellulärem Niveau unterschiedliche Signaturen – z.B. vier Geschlechtssignaturen – existieren. Dies könnte sowohl ein Nachweis dafür sein, dass sich bei manchen Menschen unabhängig von der Androgenrezeption zur Ausprägung des männlichen Erscheinungsbilds trotzdem eine hirnanhängige, geschlechtliche Identität und spezifische Verstoffwechselung zeigen kann, wie auch dafür, dass bei anderen Menschen nur teilabhängig von Chromosomen, Gonaden und äußeren Geschlechtsmerkmalen trotzdem eine hirnanhängige geschlechtliche Identität und zelluläre Intergeschlechtlichkeit vorliegen kann. Zudem könnte es die Annahme stützen, dass Intergeschlechtlichkeit bereits auf zellulärem Niveau gegeben ist und eigenen Realitäten wie Normen unterliegt.

Schlussfolgerung In den Schaltplänen von Geschlecht scheint es intrasystemisch verschiedene Organisationsstufen zu geben, die wiederum eigenen Subdynamiken unterliegen. Subdynamiken sind nicht direkt hierarischer Natur oder voneinander ableitbar. Vielmehr scheint die Organisationsstruktur teils funktional zielgerichtet, teils mittels zellulären Portalsystemen komplex durchlässig zu sein. Interaktive

Intergeschlechtlichkeiten — eigene Realitäten, eigene Normen

Wechselwirkungen bestehen auf allen Ebenen und bestehen sowohl mit dem Umfeld wie auch im Hinblick auf ökologische Faktoren. Geschlechtlichkeit kann also weder als radikal unabhängig noch als radikal abhängig von biologischen, insbesondere hormonellen Faktoren gesehen werden. Vielmehr ist der mehrdimensionale Charakter von Geschlechtlichkeit hervorzuheben und zu beleuchten. Das heißt auch: alternierende Permutation (engl.: alternating permutation) und facettenreiches Spiel (engl.: multifaceted play). Alle Menschen sind körperlich mehrwertig; manche sind mehrwertiger als der Durchschnitt.

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Intersexualität – Medizinische Maßnahmen auf dem Prüfstand Jörg Woweries

Zusammenfassung Intersexuelle Menschen werden, weil sie ein Genital haben, das nicht der Norm entspricht, als Störung der Geschlechtsordnung betrachtet. In der Vergangenheit, und bis heute fortdauernd, wurden sie als Behandlungsbedürftige bezeichnet und in Konsequenz vor allem genitalen Anpassungsoperationen unterzogen, um eine vorgetäuschte äußerliche Normierung des Geschlechts zu erreichen. Entscheidend war und ist, dass es sich um Säuglinge und Kinder handelt, die den Eingriffen, altersentsprechend, nicht zustimmen konnten und können. Die chirurgischen Eingriffe sind jedoch mit hohem Risiko und Schäden verbunden. Auf die besondere Problematik der Mädchen mit 46,XX-DSD wird in dem vorliegenden Beitrag eingegangen, weil sich gezeigt hat, dass bei einer größeren Minderheit durch chirurgische Operationen im Kindesalter die spätere selbstbehauptete Geschlechtsidentität nicht beachtet werden kann.

Einleitung Intersexuelle Menschen werden von der Medizin seit der Chicago Consensus Conference (Hughes 2006) und in den medizinischen Leitlinien1 unter Disorder of Sex Development (DSD) katalogisiert, übersetzt mit Störung der sexuellen Entwicklung (vgl. Woweries2). Damit wird die Medizin zentral gesetzt. Hiermit verbunden ist die Annahme einer heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit als fundamentale Regel und die lebenslang geltende Zuweisung zu einem 1 | Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) (2010): Leitlinien: Störungen der Geschlechtsentwicklung. In: AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/022. URL: http://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/027-022.html [01.08.2013]. Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) (2010): Leitlinien: Adrenogenitales Syndrom. In: AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/047. URL: http:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-047.html [01.08.2013]. 2 | Siehe Beitrag von Jörg Woweries in dieser Publikation: Wer ist krank? Wer entscheidet es?

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der beiden Geschlechter, deren körperliche Basis bei intersexuellen Menschen erst hergestellt werden müsse (Götze 2011). Dass es aus einer ganz anderen Sicht betrachtet, bedeuten könnte, Intersex nicht als medizinisches behandlungsbedürftiges Problem, sondern als individuelles wertzuschätzendes Merkmal anzusehen, bleibt damit ausgeblendet (Voß 2012). Einer solchen soziokulturellen Fragestellung sucht der Schweizer Ethikrat (2012) Rechnung zu tragen, wenn er von Varianten der Geschlechtsentwicklung bzw. Geschlechtsvarianten oder von differences of sex development3 spricht, um so einen pathologischen Aspekt zu vermeiden. In diesem Sinne schreibt er von »Säuglingen und Kindern, die an sich gesund sind«, bei denen jedoch »unter Berufung auf das Kindeswohl […] daher bis in die jüngste Vergangenheit geschlechtsbestimmende Operationen […] durchgeführt [wurden]«.4

Was wird gemacht? Das Ziel aller medizinischen chirurgischen Maßnahmen ist es, das äußere Genital, das nicht der Norm entspricht, entweder dem männlichen oder dem weiblichen Genital äußerlich anzugleichen. Es werden in der Regel mehrfache chirurgische Anpassungsoperationen des Genitales vorgenommen, um eine vorgetäuschte äußerliche Normierung des Geschlechts zu erreichen. Diese Operationen sind irreversibel, sie können nicht wieder rückgängig gemacht werden. In erster Linie werden folgende Operationen durchgeführt: 1. Bei zahlreichen intersexuellen Menschen mit weiblichem Erscheinungsbild, dem sog. Phänotyp, die jedoch einen männlichen 46,XY-Chromosomensatz aufweisen, werden die Hoden entfernt. Es handelt sich um eine Kastration, für die in Deutschland ein eigenes Strafrecht gilt.5 Dies wird jedoch durch die Behauptung eines Heileingriffs ausgehebelt, indem auf eine fragliche, spätere Möglichkeit einer bösartigen Entartung hingewiesen wird. Zwar muss man in seltenen Fällen, d.h. in Einzelfällen, viele Jahre später, mit der Entartung zu Krebs rechnen6, 7, 8,

3 | Stellungnahme der Schweizer Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2012): Zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Ethische Fragen zur ›Intersexualität‹. S. 7. URL: http://www.bag. admin.ch/nek-cne/04229/04232/index.html?lang=de [01.08.2013]. 4 | Ebd., S. 5. 5 | Bei Kindern § 1631c BGB: »Die Eltern können nicht in eine Sterilisation des Kindes einwilligen. Auch das Kind selbst kann nicht in die Sterilisation einwilligen.« 6 | »Angaben zum Risiko maligner Entartungen fehlen hier vollständig. [...] Die Literaturangaben zum definitiven Risiko einer Entwicklung gonadaler Tumore sind dürftig. [...] Bei Gonadendysgenesie und weiblicher Zuordnung sollte daher eine frühzeitige Gonadektomie erfolgen (ca. mit 1 Jahr oder gemeinsam mit anderer Operation)« AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/022, S. 5. 7 | Für das komplette Amnion Insensivity Syndrom (PAIS) beträgt das Risiko einer malignen Entartung 0,8 %, für ovotesticulare DSD 2,6 %, für das partielle AIS ca. 15 %. Bei gonadaler Dysgenesie kann das Risiko über 30 % betragen. (Pleskacova, J. u.a. 2010). Das lebenslange Risiko für Brustkrebs liegt bei 12,2 % (nach US National Cancer Institute). Kein Arzt käme auf die Idee, bei allen Mädchen die Brust wegen dieses Risikos zu entfernen. 8 | Das Risiko für die Bildung eines Gonadoblastoms wird bei XY-Frauen mit dysgenetischen Gonaden in der Literatur mit über ca. 30 % angegeben. Cools, Martine u.a.: Germ Cell Tumors in the Intersex Gonads. In: Endocrin Rev 27, 5, S. 468-484. Pleskacova, J. u.a. (2010), S. 7.

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2. 3. 4. 5. 6.

jedoch könnte durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen dieses Risiko vertretbar gering gehalten werden. Allerdings werden die Hoden ohne erkennbare Kalkulation eines Entartungsrisikos tatsächlich fast immer entnommen, weil sie nicht zu dem durch die Operation angestrebten äußeren weiblich aussehenden Genitalbild passen. Verkürzung einer verlängerten Klitoris (Klitorektomie, Klitorisreduktion). Erweiterung und Verlängerung einer als rudimentär betrachteten Scheide, wobei dann von Neo-Vagina gesprochen wird. Operative Veränderungen innerer Geschlechtsorgane. Ein weiterer Komplex intersexueller Phänomene, die Hypospadien9, wird in diesem Artikel aus Platzgründen nicht besprochen. Nicht in dieses System der hier besprochenen genitalen Operationen gehören einseitig dystope Hoden, weil sie intersexuelle Menschen nicht betreffen.10

Wer ist krank? Wer wird krank gemacht? Eine lebensnotwendige Hormonsubstitution beim Salzverlust ist bei einer bestimmten Form von Intersexualität, dem Adreno-Genitalen Syndrom (AGS) erforderlich.11 Medizinische, d.h. lebensnotwendige, Eingriffe sind nur bei Behinderung des Urinabflusses als gegeben zu betrachten. In diesen Fällen müssen die Eltern zur Erhaltung des Lebens stellvertretend die Einwilligung geben. Bei allen anderen Operationen handelt es um kosmetische oder ästhetische Eingriffe, da ihnen die medizinische Indikation im Sinne der Abwendung eines lebensbedrohlichen Zustandes fehlt. Es geht lediglich um das äußere Bild. Zu den Schäden und Risiken der chirurgischen Eingriffe an den Genitalien lässt sich festhalten, dass die chirurgischen Eingriffe an den Genitalien mit hohen Schadensraten und einem insgesamt hohen Risiko verbunden sind. Das Risiko, sensible Nerven zu verletzen, ist als deutlich erhöht einzuschätzen und wie bei allen operativen Eingriffen in der Praxis nicht zu vermeiden (Bosinski 2005; Diamond/Sigmundson 1997; Meyer-Bahlburg 2008). »Auch heute noch laufen Patientinnen und Patienten mit DSD Gefahr, traumatisierende Erfahrungen durch medizinische und psychologische Behandlungen zu machen« (Birnbaum u.a. 2013). Kessler (1998: 105) fragt: »Warum liegt die Lösung für uneindeutige Genitalien nur im Chirurgenmesser?« Aussagen zu postoperativen Ergebnissen wurden erst in den letzten Jahren vorgelegt. Durch das 9 | Bei der Hypospadie mündet die Harnröhre nicht an der Spitze des Penis, sondern an der Unterseite des Penis, am Hodensack oder im Bereich des Dammes. 10 | Rudimentäre, funktionslose Hoden, die nicht im Skrotum liegen, ohne dass Zeichen einer intersexuellen Entwicklung vorliegen. 11 | AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/047.

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Schweige-Tabu, das zum Behandlungssystem der Mediziner_innen gehörte, behinderten die Endokrinolog_innen und Chirurg_innen sich selbst durch den Verzicht auf rückschauende Kontrollen ihrer Eingriffe (vgl. Woweries12). Eine erste aussagekräftige Evaluation nach mehr als 40 Jahren Operations-Praxis betraf Aussagen von 439 intersexuellen Menschen in einer retrospektiven nichtrepräsentativen Studie.13 Operationen wurden fast ausschließlich an nicht einwilligungsfähigen Menschen vorgenommen.14 Von den Kindern im Alter von sieben bzw. zwölf Jahren waren 86 % bzw. 87 % operiert15, bei den heutigen Erwachsenen waren es in drei von vier Diagnosegruppen sogar 93,6 % bis 100 %. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass viele mehrfach operiert wurden (Götz 2011; Kleinemeier/Jürgensen 2008). In vielen Fällen mussten weitere Operationen in späteren Jahren, in der Pubertät oder danach, vorgenommen werden.16 In der Netzwerk-Studie17 klagten von den operierten Teilnehmenden 25 % über Komplikationen: am häufigsten über Fistelbildung in 40,5 %, über Verengungen der ableitenden Harnwege in 27 %, über Harnwegsinfekte in 32 % und über Probleme beim Wasserlassen in 21,4 %. In einer katamnestischen Studie haben 78 intersexuelle Erwachsene die medizinische Behandlung als negativ erlebt (Brinckmann/Schweizer/Richter-Appelt 2007; Schweizer 2012). 62 % zeigten einen klinisch relevanten psychischen Leidensdruck und 47 % hatten Suizidgedanken. Diese Reaktionen sind häufig als Folge der zahlreichen operativen Eingriffe zu betrachten, zusammen mit Zurschaustellung bei den Ärzt_innen im Rahmen der studentischen und fachärztlichen Aus- und Weiterbildungen und damit verbundenen Erfahrungen von Hilflosigkeit und Sich-ausgeliefert-Fühlen. Die dabei ständig wiederkehrenden Inspektionen der Genitalien beschreibt Kessler als sexuellen Missbrauch: »that excess genital exams is a form of abuse« (Kessler 1998: 59). Gehört zur sozialen Teilhabe aller Menschen Anerkennung, dann reichen die »negativen Erfahrungen der Tabuisierung des Themas« (Deutscher Ethikrat 2012) und die bloße statistische Seltenheit in der öffentlichen Wahrnehmung zur Stigmatisierung aus. Deshalb kaschieren intersexuelle Menschen häufig ihr Anderssein (Zehnder/Streuli 2012). 13,5 % berichteten über zurückliegende Selbstverletzungen – auch aus den soeben weiter oben aufgeführten Gründen. Ebenfalls ist die Eltern-Kind-Beziehung hohen Bindungs-Belastungen ausgesetzt (Richter-Appelt/Schimmelmann/ 12 | Siehe Beitrag von Jörg Woweries in dieser Publikation: Wer ist krank? Wer entscheidet es? 13 | Kleinemeier, E., Jürgensen, M. (2008): Netzwerk Intersexualität: Erste Ergebnisse der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität in Deutschland, Österreich und Schweiz. Januar 2005 bis Dezember 2007. URL: http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de/fileadmin/documents/ netzwerk/evalstudie/Bericht_Klinische_Evaluationsstudie.pdf [03.09.2013]. 14 | Ebd. S. 16. 15 | Ebd. S. 16. 16 | Ebd. S. 16. 17 | Ebd. S. 17.

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Tiefensee 2004). Im Netzwerk Intersexualität wird zudem über psychische Belastungen berichtet, und zwar bei 45 % der heute erwachsenen Intersexuellen (Kleinemeier/Jürgensen 2008). Das Ziel einer normalen psychosozialen Entwicklung nach genitalen Anpassungsoperationen wurde nicht erreicht, so die Ergebnisse einer Meta-Studie.18 In einer retrospektiven, nicht-repräsentativen Nachuntersuchung von 57 Menschen mit dem männlichen Chromosomensatz XY, aber einem auf den ersten Blick weiblichem Erscheinungsbild (Komplette oder Partielle Androgenresistenz/Androgen Insensitivity Syndrome – CAIS oder PAIS) (Köhler u.a. 2012) wurde Folgendes festgestellt: die Betroffenen wurden in der Kindheit operiert, damit ihr Genital äußerlich besser an das ärztlicherseits zugewiesene weibliche Geschlecht angepasst wurde.19 Im Rahmen der Nachuntersuchung zeigten sich 47,1 % Mißempfindungen bei der Scheidenfunktion, d.h. dass die Scheide zu klein für Tampons ist, 47,4 % erhebliche Sensibilitätsverluste der Klitoris. Über Dauerschmerzen beim Sexualverkehr klagten 56,3 % bis 70 % je nach Untergruppe (CAIS oder PAIS). Die Autor_innen der Studie kamen in Anbetracht dieser sehr häufig aufgetretenen Schäden nicht umhin, zu empfehlen, dass diese Operationen nicht mehr im Kindesalter vorgenommen werden. Sie fordern die Einwilligung der erwachsenen Patient_innen selbst, nicht die ihrer Eltern. Auch der Deutsche Ethikrat empfiehlt, dass die Entscheidung grundsätzlich von den einwilligungsfähigen Betroffenen selbst vorgenommen wird (Deutscher Ethikrat 2012: 174).

Zusätzliche Diskussionen über Mädchen mit 46,XX-DSD und Adreno-Genitalen Syndrom (AGS) Als geschlechtsvereindeutigende Operationen bezeichnet der Deutsche Ethikrat (2012: 108) die Eingriffe an den Genitalien bei Mädchen mit 46,XX-DSD und AGS-Syndrom. Es sollte jedoch nachvollzogen werden, welche Gründe den Deutschen Ethikrat zu der Unterscheidung zwischen geschlechtszuweisenden und geschlechtsvereindeutigenden Operationen geführt haben könnten. Aus der in der Stellungnahme des Ethikrates veröffentlichten Literatur ist Folgendes zu entnehmen: Bei Befragungen durch das Netzwerk Intersexualität und durch die Hamburger Studie von Richter-Appelt konnte festgestellt werden, dass eine große Zahl von Frauen mit AGS auch im Nachhinein zufrieden mit Operationen 18 | Betr. 21 internationale Studien aus den Jahren 1974-2007. Schönbucher u.a.: Sexuelle Lebensqualität von Personen mit Intersexualität und 46,XY-Kariotyp, ZfS 2008, S. 26 ff. 19 | Nach Angaben des Consensus statements wurden DSD-Betroffene mit 46,XY CAIS und die meisten der Menschen mit PAIS als Frauen ausgewiesen. Hughes, I A. u.a. (2006): Consensus statement on management of intersex disorders. In: Arch Dis Child 91, S. 556.

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in der Kindheit sind. Viele sehen sich nicht als intersexuelle Menschen. Diese Menschen leben als Erwachsene in einer weiblichen Rolle. Diese Tatsache muss anerkannt werden. Deshalb befürwortet die Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und Diabetologie operative Eingriffe bei AGS auch im frühen Kindesalter (Birnbaum u.a. 2013: 161, 150). Es erstaunt jedoch, wenn in dieser Situation der Schluss gezogen wird, dieses chirurgische Vorgehen auf alle Kinder (empfohlen sind Operationen im Alter von zwei bis zwölf Monaten) mit AGS auszudehnen.20 Dies trägt nicht jenen intersexuellen Menschen Rechnung, die später, als Jugendliche oder Erwachsene, nicht in der weiblichen Rolle leben wollen. Diese Stimmen bleiben somit unberücksichtigt. Ein großer Anteil lebt jedoch entweder in männlicher Rolle oder fühlt sich keinem Geschlecht zugehörig. Der Deutsche Ethikrat (2012: 86) nennt 31 % der AGS-Betroffenen, die für ein Offenlassen der Geschlechtszuweisung plädieren. Für Nieder und Richter-Appelt »ist aus der Forschung bekannt, dass die Mehrheit der Personen mit AGS, […] trotz 46,XX-Karyotyp in der männlichen Geschlechtsrolle lebt«.21 Die eingangs erwähnten Leitlinien berichten von 17 %, hiervon 5 % der 46,XX-Frauen und bis zu 12 % der 46,XX-Männer mit klassischem 21-Hydroxylasemangel, die über Probleme mit der zugewiesenen Geschlechtsrolle klagen.22 Von heute erwachsenen Frauen hatten 10 % einen ungewöhnlichen hohen Wert auf der Transgenderskala, weitere 3 % sind sich hinsichtlich ihrer Geschlechtszugehörigkeit sehr unsicher (Kleinemeier/Jürgensen 2008). Bei diesen Studien gibt es methodische Bewertungsunterschiede, je nachdem ob die sog. AGS-Mädchen gefragt wurden, ob sie eher ein Mädchen sein wollten bzw. lieber ein Junge oder ob sie in Konfusion über ihre eigene Geschlechtsidentität sind. Die Zahlen stammen aus unterschiedlichen Quellen und differieren demnach, aber sie betreffen eine größere Minderheit, für die es sich bei solchen Operationen um geschlechtszuordnende chirurgische Eingriffe handelt. Diese Menschen kennen nur die erlebte bzw. aufgezwungene, scharfe dichotome Trennung der Geschlechter und sie befinden sich meist im Zustand nach genitalen Operationen. Durch derartige chirurgische Maßnahmen wird ein späterer Wechsel in das andere Geschlecht sehr erschwert (Meyer-Bahlburg 2008). Das verhindert in unbekanntem Ausmaß eine freiwillige andere Zuordnung. Es könnte sein, dass sich 20 | »[...] ist es unbestritten, das bei pränatal virilisierten Mädchen eine korrigierende, feminisierende Operation des äußeren Genitale durchgeführt werden muss« [JW]. Riepe, F. G., Sippel, W. (2008): Das Adrenogenitale Syndrom. In: Kinder- und Jugendarzt 39: 112. 21 | Nieder, T. O., Richter-Appelt, H. (2009): Neurobiologische Korrelate bei Geschlechtsidentitätsstörungen. In: Psychiatrie im Dialog 10: 60. Zitieren auch: Richter-Appelt, H., Discher, C., Gedrose, B. (2005): Gender identity and recalled gender related childhood play-behaviour in adult individuals with different forms of intersexuality. In: Anthropologischer Anzeiger 63: 241-256; Jorge, J. C. u.a. (2008): Male gender identity in an XX individual with congenital adrenal hyperplasia. In: The journal of sexual medicine, 5: 122-131; Meyer-Bahlburg, H. F. L. u.a. (2006): Gender development in women with congenital adrenal hyperplasia as a function of disorder severity. In: Archives of sexual behavior 35: 667-684. 22 | AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/047.

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weitere, als weiblich zugewiesene Menschen dazu bekennen, in der männlichen oder in einer anderen Geschlechtsrolle leben zu wollen. Dieser Aspekt spricht gegen die Aussage des Deutschen Ethikrates, bei den an Kindern mit 46,XX-DSD und AGS vorgenommenen Maßnahmen handele es sich nur um geschlechtsvereindeutigende Operationen. Zum Begriff ›Geschlechtsidentität‹ gehört neben den körperlichen Merkmalen auch immer die eigene Bestimmung des eigenen Geschlechts dazu, welche die Selbstwahrnehmung als Mann oder Frau oder etwas anderes einschließt, z.B. ob sich dieser Mensch einem der beiden, keinem oder beiden Geschlechtern zuordnet. Je nachdem, welche Untergruppe der intersexuellen Menschen befragt wurde, haben 15-30 % oder mehr eine hohe Verunsicherung gespürt, in welche Geschlechtskategorie sie sich einordnen sollen (Schweizer/ Richter-Appelt 2012: 187 f., 207 f., 225 f., 433 f.). Eine Mehrheit (58 %) der intersexuellen Menschen bzw. 31 % der AGS-Betroffenen plädieren für ein Offenlassen des Erziehungsgeschlechtes; diese Entscheidung soll flexibel gehandhabt werden und Kinder nicht in ein bestimmtes Geschlechtsverhalten zwängen (Deutscher Ethikrat 2012: 86 f.). Die Geschlechtsrolle ist zwar oftmals schon in der frühen Kindheit zu erahnen, aber erst später, etwa um die Zeit der Pubertät, wird das Selbstbewusstsein und die eigenen Äußerungen der Kinder besser wahrgenommen (Diamond 2008). Es gibt Hinweise aus der Medizin und Neuro-Physiologie, dass bei sog. AGS-Mädchen durch Testosteron und testosteronähnliche Substanzen, wie Androgene, schon vor der Geburt die eigene weitere Ausrichtung bestimmt wird. Sie sehen sich selbst später – im Laufe ihrer Entwicklung – in einer weiblichen23, einer männlichen oder in einer davon abweichenden Rolle.24, 25 »Dabei scheint es jedoch keine Korrelation zwischen dem Schweregrad des genitalen Phänotyps und dem Vorhandensein von Problemen zu geben«.26 Hierzu sagen Diamond und Richter-Appelt (2008): »Das wichtigste Sexualorgan sitzt zwischen den Ohren.« Als unbestrittene Tatsache kann Folgendes gelten: • Die Geschlechtsidentität ist nicht bei der Geburt zu erkennen.

23 | Mädchen mit 46,XX DSD werden mitunter als Tomboys beschrieben. Dies wird aber in der Regel nicht als intersexuelle Variante angesehen. 24 | U.a. Berenbaum, S. A., Hines, M. (2003): Effects on gender identity of prenatal androgens and genital appearence: evidence from girls with congential adrenal hyperplasia. In: J Clin Endocin Metab 88, 3, S. 1102-1106. 25 | Holterhus, P. M. (2012): Prägung des menschlichen Genoms durch Androgene. Molekulares Gedächtnis der Androgenwirkung. In: Intersexualität kontrovers. Schweizer/Richter-Appelt (Hg.). Psychosozial. 26 | AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/022.

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Weder die äußeren oder inneren Genitalien noch die Geschlechtschromosomen (XX-bzw. XY-Chromosomen) bestimmen die Geschlechtsidentität. Es besteht keine zwingende Kausalität zwischen Genitalaussehen und Geschlechtsidentität. Die Geschlechtsidentität ist durch keine medizinische oder psychologische Maßnahme diagnostisch zu erkennen. Das kann nur das Individuum selbst. Das Bewusstsein des eigenen Geschlechts entsteht in einem Entwicklungsprozess, der sich über viele Jahre hinzieht und über die Zeit der Pubertät hinausgehen kann. Ob sich jemand als Mann, Frau oder anders fühlt, kann durch keine Operation zugewiesen oder hergestellt werden. »Eine Assimilation Intersexueller in eines der beiden Geschlechter funktioniert nicht« betont Reiter (2000).

Diese Aspekte sollten bei der Beurteilung von Operationen an Säuglingen, Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden. Die Beurteilung, zu welchem Geschlecht jemand gehört, kann aber nur der Betroffene selbst abgeben, also sind auch geschlechtsvereindeutigende Operationen an Kindern auf keinen Fall statthaft. Schon vor längerem forderten Diamond und Sigmundson (1997), dass chirurgische Eingriffe, die nicht lebensnotwendig sind, aufgeschoben werden, bis die Person es selbst für sich fordert. Aufgrund vielfältiger Kritik hat eine Ethikgruppe in Deutschland gefordert (Wiesemann/Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität 2008), dass Maßnahmen, die ohne zufriedenstellende Evidenz praktiziert werden, irreversibel sind und ohne zwingende medizinische Indikation vorgenommen werden, solange aufgeschoben werden sollten, bis der betroffene Mensch selbst darüber entscheiden will und altersentsprechend entscheiden darf. Auch für den Deutschen Ethikrat (2012: 112) ist es ein vorrangiges Ziel, »dass die Selbstbestimmung des Kindes [durch] nicht unbedingt notwendige Eingriffe nicht unzulässig eingeschränkt wird«. »Auch aus der Literatur ist bekannt, dass sich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Menschen mit verschiedenen Formen von Disorder of Sex Development im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter entschließt, das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln« (Jürgensen/Hiort/Thyen 2008). Der Deutsche Ethikrat befragte Mädchen und Frauen mit dem Adreno-Genitalen Syndrom: etwa 50 % der Fragen wurden von den Eltern beantwortet. Das wirft die Frage auf, wie oft der Zweifel der Eltern über die in der Vergangenheit befürwortenden Operationen die Antworten beeinflusst haben, um die eigene Entscheidung zu

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rechtfertigen, um sich zu entschuldigen oder um mit der gefallenen Entscheidung leben zu können. Ferner soll auf das Drängen der Eltern zu medizinischem Handeln (Kleinemeier/Jürgensen 2008: 17) einerseits hingewiesen werden und andererseits auf Untersuchungen von Dayner (2004). Letztere zeigt, dass für 95 % der Eltern die genitale Erscheinung, also das äußere Bild wichtig ist, wichtiger als erotische Empfindung (engl.: responsiveness). Dann sollten sich Studentinnen im 2. Teil der Studie vorstellen, dass sie mit einer über 1 cm langen Klitoris geboren wären und somit gängigen Vorstellungen aufgrund der vermeintlichen Übergröße nicht entsprechen würden. Eine überragende Mehrheit von 93 % der Studentinnen antwortete, dass sie es nicht gewollt hätten, dass ihre Eltern einer Operation zugestimmt hätten, um das genitale Aussehen zu verändern, wenn damit der Verlust der Orgasmusfähigkeit oder der sexuellen Empfindung verbunden wäre. Über 50 % der Studentinnen hätten keine Operation gewollt, sogar wenn das äußere Erscheinungsbild als unattraktiv oder als unangenehm empfunden worden wäre. Diese Studentinnen hätten eher andere Operationen gewollt, um beispielsweise zu lange Nasen, Ohren oder Brüste zu reduzieren, anstatt eine vermeintlich zu lange Klitoris operativ zu verkürzen. Die Argumente von Lembke (2011) in ihrem Schreiben an den Deutschen Ethikrat gehören ebenfalls in diese Diskussion: Die Durchsetzung von Vorstellungen über richtige Genitalien, eindeutige Geschlechtlichkeit, die zulässige Größe einer Klitoris oder richtige Sexualität verletzen fundamentale Menschenrechte und haben überdies gravierende negative Auswirkungen auf die angestrebte Geschlechtergerechtigkeit, indem sie Stereotypien über Frauen reproduzieren. Genau das will die UN-Frauenrechtskonvention explizit unterbunden wissen. Kessler (1998: 56 f., 107 f.) kritisiert, dass eine Neovagina (engl.: vaginoplasty) nur aus dem einzigen Grund bei einem Mädchen konstruiert wird, nämlich deshalb, um den Geschlechtsverkehr mit einem Mann zu ermöglichen. Die Vorstellung, dass alle Frauen heterosexuellen Verkehr wünschen, verstetigt die Vorstellung von Frauen als passive Empfängerinnen von männlichem Begehren. 1961 hat ein damals hochangesehener Pädiater, Professor Bierich (1961: 387), einen Beitrag in einem Standard-Lehrbuch zur Intersexualität geschrieben, das bis weit in die 1970er Jahre gelesen wurde. Bis heute wird über eine Reduktion einer zu großen Klitoris gesprochen. Er hat damals sogar die Extirpation der Klitoris verlangt, also das vollständige Herausschälen, weil die vergrößerte Klitoris beim Geschlechtsverkehr den Mann störe. Deshalb hat Bierich diese Opeeration bei Kindern vor dem 4. Lebensjahr empfohlen. Die mit einem solchen Vorgehen verbundene ungeheure Brutalität drängt den Vergleich mit den bis

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auf den heutigen Tag in Teilen Afrikas praktizierten Genitalverstümmelungen bei Mädchen auf, den Female Genital Mutilations (FMG). Diese sind seit 1995 von den Vereinten Nationen als Menschenrechtsverletzung verurteilt. Der Deutsche Bundestag diskutiert 2013 über ein Strafrechtsänderungsgesetz zur Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien.27 Bierich hatte mit seinem Aufruf zu Genitalverstümmelungen Mittäter und Vorläufer. In medizinischen Zeitschriften ist nachzulesen, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und anderen Ländern Europas die Klitorektomie aus diversen Gründen hundertfach durchgeführt wurde, z.B. um gegen geistige Störungen und Epilepsie, gegen Masturbation und gegen die Wollust der Frauen anzugehen.28 Noch 1938 wurde im Zentralblatt der Gynäkologie die Klitorektomie zur Behandlung der Masturbation beschrieben.29 Es ist sehr irritierend, dass Anklänge an die Vergangenheit bis heute noch nicht völlig ausgelöscht sind, mag dies vielleicht unbewusst oder verdrängt sein. In einigen medizinischen Zentren in Europa ist die vollständige Entfernung der Klitoris (Klitorektomie) bis heute die Methode der Wahl bei einer vergrößerten Klitoris (Riepe u.a. 2002). In mehreren Consensus Statements und Reviews kann man die nachfolgenden Aussagen30 über Kinder mit 46,XX und AGS31 nachlesen: In den Consensus Statements von 2002 und 2006 (Clayton u.a. 2002 und Hughes u.a. 2006) wird vorgeschlagen, dass 46,XX DSD-Kinder mit einer signifikanten Virilisation, d.h. einer vermehrten Vermännlichung, frühestens als Adoleszente vorgestellt werden sollen. Die Operationen, wie die Vaginoplastik, sollten bis zur Adoleszenz oder bis zur Erwachsenenzeit verschoben werden, da es keine kontrollierten klinischen Versuche über den Effekt einer frühen Operation (unter 12 Lebensmonaten) im Vergleich zu einer späten Operation (bei Erwachsenen oder älteren Jugendlichen) gibt. Einige Studienergebnisse sollen hier ergänzt werden: Nach einer Klitorisoperation hatten 78 % eine hohe Rate an Nicht-Empfindung und Verlust von Orgasmusfähigkeit im Vergleich mit 20 % bei nichtoperierten Frauen in einer Vergleichsstudie.32 Nach einer Vaginoplastik kann das Aussehen befriedigen, aber die Vagina ist zu eng für einen Sexualverkehr und

27 | Rechtsausschuss, 24. April 2013, StrÄndG. URL: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/ a06/anhoerungen/archiv/46____Str__ndG/index.html [03.08.2013]. 28 | Hulverscheidt, M. (2011): Weibliche Genitalverstümmelung. Mabuse-Verlag. 29 | Ebd. S. 19, zit. Zentralbl Gynäkol 11: 584-85. 30 | Clayton u.a. (2002); Creighton (2004); Creighton/Minto (2001); Creighton/Minto/Steele (2001); Crouch u.a. (2008); Hughes u.a. (2006); Lee u.a. (2006); Pagon u.a. (2010); Speiser u.a. (2010); Stein u.a. in colaboration with the Canadian Pediatric Endocrine Group (2005). 31 | Über die ältere Literatur wird von Kessler (1998: 52-76) eingehend berichtet. 32 | Mouriquand, P., Chirurg, (Text aus dem ARTE-Film vom 04.10.2010 (in Übersetzung) »es wäre Augenwischerei, den Eltern zu versichern, dass sich bei einer Klitorisreduktion die Empfindsamkeit nicht verändern würde. Das kann keiner«.

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kommt bei über 80 % der Befragten vor (Creighton 2004). Wenn eine kosmetische Operation gewünscht wird, muss man damit rechnen, dass die künstlich angelegte Öffnung wieder zuwächst und anschließend eine vaginale Dilatation durchgeführt werden muss. In mehreren Artikeln findet man die Warnung, dass jede Nachoperation und jede Bougierungsbehandlung, also das Offenhalten in vielen Visiten über sehr viele Monate durch mechanische Instrumente, bei Kindern unterlassen werden soll. Diese Maßnahmen können zu sehr starken und lang anhaltenden psychischen Traumatisierungen führen.33, 34, 35 Für Kessler (1998: 63) sind diese vielfach wiederholten Prozeduren als sexueller Missbrauch anzusehen (engl.: sexual abuse). »Alle Untersuchungen hierzu berichten durchgehend über […] geringere sexuelle Erlebnisfähigkeit bei AGS-Patientinnen, wobei dies mit dem Umfang der […] genitalkorrigierenden Eingriffe […] zusammenzuhängen scheint« (Wünsch/Wessel 2008: 41). »Eine Vaginoplastik [wird] eigentlich nur für die Penetration benötigt, könnte also in die Adoleszenz verschoben werden« (Bosinski 2005: 40). Als Chirurgin bevorzugt Krege (2011) aus diesen Gründen den späteren Lebensabschnitt für operative Eingriffe, weil sie diese dann mit den Mädchen selbst besprechen kann. Man sollte also solange warten, bis die Adoleszenten oder Erwachsenen den Eingriff selbst wollen. Wer Klitoris-Reduktionen befürwortet, orientiert sich an willkürlich gesetzten kulturellen Normen. Die Erhaltung der Sensibilität nach Klitoris-Verkürzung kann nicht garantiert werden. Deshalb ist eine Klitorisreduktion im Kindesalter nicht zumutbar, sie kann allein von einwilligungsfähigen Personen – als kosmetische Operation – gewünscht werden, wenn sie es denn überhaupt wollen. »Leider liegen nur wenig gute Langzeituntersuchungen nach solchen Operationen vor, und die vorliegenden Studienergebnisse resultieren aus Operationen, die bereits lange nicht mehr praktiziert werden, da sie heute als nicht mehr akzeptabel gelten« (Grüters 2008: 34). Deshalb sind alle genitalen Operationen Einzelexperimente, weil die Schädigung der Sensibilität oder eine zu kleine Neovagina erst nach vielen Jahren, in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter, von den Betroffenen erkannt werden kann.

Forderungen an die Politik Menschenrechtsorganisationen, Selbstvertretungs- und Selbsthilfegruppen intersexueller Menschen und andere fordern den sofortigen Stopp jeder kosmetischen

33 | Hoepffner, W. nach Finke/Höhne (2008) (Hg.): Intersexualität bei Kindern. S. 133; Riepe F. G., Sippel, W. (2008) In: Kinder- und Jugendarzt 2, 39, S. 112; Bosinski, H. A. G. (2006): Sexualmedizinische Aspekte bei Intersex-Syndromen. In: Urologe 45, S. 981-991. 34 | AWMF online - Leitlinien-Register Nr. 027/022. 35 | Wünsch, L., Wessel L. (2008): Chirurgische Strategien bei Störungen der Geschlechtsentwicklung. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 156, S. 234-240.

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Operation an den Genitalien von Säuglingen oder anderen nicht einwilligungsfähigen Kindern. Dies muss auch für Menschen mit dem Adreno-Genitalen Syndrom (AGS) gelten. Jegliche medizinische Eingriffe, die die Fortpflanzungsfähigkeit oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigen können, müssen umgehend eingestellt werden.36 Es handelt sich um gravierende Eingriffe in die Rechte des Kindes. Dies entspricht auch der Ansicht der Bundesregierung.37 Die Berichte bei der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen haben die Politiker_innen im deutschen Bundestag zum Nachdenken über die Sichtweise und Handlungspraxis vieler Mediziner_innen gebracht.38 Haben die Mediziner_innen nach den Vorwürfen der UN-Menschenrechtskommission und den Diskussionen des Deutschen Ethikrats und des deutschen Parlaments ihre Einstellung geändert? Bisher gibt es keine gemeinsamen kritischen Erklärungen zum bisherigen Vorgehen und die Leitlinien gelten unverändert fort.

Literatur Berenbaum, S. A., Hines, M. (2003): Effects on gender identity of prenatal androgens and genital appearence: evidence from girls with congential adrenal hyperplasia. In: J Clin Endocin Metab 88, 3, S. 1102-1106. Bierich, J. W. (1961): Operative Korrektur beim AGS. In: Die Intersexualität. Overzier (Hg.). Stuttgart: Thieme. Birnbaum, W. u.a.(2013): Zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Besonderheit der Geschlechtsentwicklung (Interssexualität). Positionspapier im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Monatsschr Kinderheilkd 161, S. 148. Bosinski, H. A. G. (2005): Psychosexuelle Probleme bei Intersex-Syndromen. In: Sexuologie 12, S. 31-59. 36 | Deutscher Bundestag Drucksache 17/ 13253, 24. 04. 2013: Die SPD fordert den Deutschen Bundestag/die Bundesregierung auf, »sicherzustellen, dass geschlechtszuweisende und -anpassende Operationen an minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit verboten werden. Dabei muss gewährleistet sein, dass eine alleinige stellvertretende Einwilligung der Eltern in irreversible geschlechtszuweisende Operationen ihres minderjährigen Kindes - außer in lebensbedrohlichen Notfällen oder bei Vorliegen einer medizinischen Indikation - nicht zulässig ist«. Daneben auch weitere Anträge anderer Fraktionen: Deutscher Bundestag Drucksache 17/12859, 20.03.2013; Deutscher Bundestag Drucksache 17/12851, 20.3.2013). 37 | Deutscher Bundestag Drucksache 17/11855, 12.12.2012, S. 5. 38 | Deutscher Bundestag Drucksache 17/14014, 14.06.2013: Beschlussempfehlung und Bericht. URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/140/1714014.pdf [02.12.2013].

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Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte Vincent Guillot

Zusammenfassung Laut Aussagen der politischen Parteien Luxemburgs im September 2012 soll es in Luxemburg keine intergeschlechtlichen Menschen geben. Diese Einschätzung erstaunt, da überall auf der Welt intergeschlechtliche Menschen leben. Ein Grund für diese Nicht-Sichtbarkeit von intergeschlechtlichen Menschen ist die Tatsache, dass auch im 21. Jahrhundert die Gesellschaft immer noch von Geschlechterbinarität und Heterosexualität geprägt ist. Jeder Mensch, der sich diesen Paradigmen nicht zuordnen kann oder will, wird als unnormal betrachtet und muss angepasst werden. Immer noch werden Kinder operiert, um sie einem der beiden Standardgeschlechter anzugleichen, einige werden sogar noch vor der Geburt abgetrieben. Dabei zeigt sich, dass es Länder ohne diese Verstümmelungstradition gibt, wie z.B. Nepal, Pakistan oder einige indische Bundesstaaten. In neuerer Zeit werden in immer mehr Ländern weitere Geschlechtskategorien in die offiziellen Dokumente aufgenommen. Zudem werden zunehmend internationale Erklärungen und Empfehlungen ausgesprochen, die sich klar gegen geschlechtsanpassende Operationen an nicht-einwilligungsfähigen Menschen positionieren.

Einleitung Als Teilnehmer_in eines Rundtischgesprächs mit den politischen Parteien Luxemburgs zum Thema Intergeschlechtlichkeit im Rahmen des Kongresses »Geschlechternormativität und ihre Effekte für Kindheit und Adoleszenz« wurde, so unglaublich es klingen mag, behauptet: In Luxemburg gibt es keine intergeschlechtlichen Menschen, während in Frankreich laut Ärzt_innen

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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jährlich 8.000 intergeschlechtliche Kinder zur Welt kommen2 und Intergeschlechtlichkeit in den westlichen Ländern mit jeder 2.000sten Geburt und einem bei Eintritt in die Pubertät zu verzeichnendem Bevölkerungsanteil von 1,728 % wesentlich weiter verbreitet ist, als allgemein angenommen (Fausto-Sterling 2000: 53). Es stellt sich also die Frage, wie in einem kleinen, wohlhabenden und sehr modernen Land wie Luxemburg das benannt werden kann, was nicht existiert (Guillot 2008) und vor allem, warum es nicht existiert? Die von den Teilnehmer_innen des Rundtischgesprächs angeführten Gründe waren die, dass es in Luxemburg erst seit sehr Kurzem ein Register über Krebserkrankungen gebe, bislang allerdings noch keine vergleichbare Datenbank über andere Krankheiten – und damit auch nicht über Intergeschlechtlichkeit, dass die geschlechtszuweisenden Operationen, die ich als Verstümmelungen bezeichnen möchte, in Nachbarländer ausgelagert würden und dass intergeschlechtliche Personen in der luxemburgischen Gesetzgebung nicht erwähnt würden. Für mich liegen die wesentlichen Ursachen dieser Abwesenheit jedoch woanders und es spräche nichts gegen eine entsprechende Befragung der Praktiker_innen, die intergeschlechtliche Menschen potenziell begleiten (Gynäkolog_innen, Endokrinolog_innen, Urolog_innen etc.). Dazu kommt die Beobachtung, dass geschlechtlich untypische Personen gesellschaftlich undenkbar zu sein scheinen und Geschlechterbinarität und Heterosexualität die westlichen Gesellschaften prägen. Der Koitus ist zwangsläufig heterosexuell, penetrierend oder penetriert. Ein Mann muss im Stehen urinieren, alles wird am Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Penis gemessen und der Rest gilt als unerwünschtes, auszumerzendes Fragment. Zudem ist die konsequente Unsichtbarmachung dieser nicht-normkonformen Menschen das Ergebnis einer Biopolitik (Foucault 1976) und wurde von dem Psychologen Money Mitte des 20. Jahrhunderts in Form des Hopkins-Protokolls systematisiert. Kindern, die nicht einem der beiden Standardgeschlechter (weiblich/männlich) zugeordnet werden können, wird seitdem direkt nach der Geburt in einer Notoperation ein Geschlecht – in der Regel das weibliche – zugewiesen und damit jegliche Spur der Singularität, die sie aufweisen, ausgelöscht. Von Eltern und Angehörigen wird verlangt, dass sie das von den Ärzt_innen gewählte Geschlecht, welches als das wahre Geschlecht angesehen wird, immer wieder diskursiv verfestigen und der betroffenen Person ihre ursprüngliche Verschiedenartigkeit vorenthalten. Dies führt zum Intersex-Paradigma: »Wir dürfen das, was uns über uns nicht gesagt wurde, nicht sagen« (Guillot 2008). Diese traditionellen medizinischen Eingriffe stellen m.E. im Prinzip nichts anderes als Genitalverstümmelungen und körperliche 2 | Interview von René Frydman mit der Kinderchirurgin Professorin Claire Fékété am 22. Januar 2013 auf France Culture. URL: http://www.franceculture.fr/player/reecouter?play=4566631 [02.09.2013].

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

Folter dar. Bestenfalls schädigen sie die sexuelle Erregungsfähigkeit, schlimmstenfalls und sehr häufig führen sie zu gravierenden Beeinträchtigungen wie Inkontinenz, Fistelbildung oder chronischen Schmerzen, die oftmals wiederum zahlreiche chirurgische Korrekturen erfordern. Zudem werden diese Kinder in der Regel kastriert und künstlich zu lebenslangen Hormonkranken gemacht – und all dies nur, weil sie gegen die Geschlechternormen verstoßen. Die Eingriffe stellen aber auch psychische Folter dar, denn das institutionalisierte Schweigen verursacht Scham und Unverständnis bezüglich des eigenen Körpers, welche bei jeder Begegnung mit der Ärzt_innenschaft die gesamte Jugend hindurch immer wieder neu aufflammen, zudem die wiederholten Behandlungen nie offen begründet werden – da sie medizinisch nicht zu begründen sind. Diese psychische Folter kann ein Leben lang bei jedem Kontakt mit der medizinischen Welt reaktiviert werden, da die Intergeschlechtlichkeit der betroffenen Personen systematisch negiert wird, wenn sie von Ärzt_ innen Erklärungen fordern. Diese Eingriffe werden von der Biopolitik als medizinische und psychosoziale Notfallmaßnahmen betrachtet, mit denen nicht etwa die betroffene Person selbst entlastet, sondern das vermeintliche psychische Leiden Dritter, der Eltern, gemindert werden soll (American Academy of Pediatrics 2000; Fausto-Sterling 2000; Gueniche u.a. 2008; Lee u.a. 2006; Meyer-Bahlburg 2008). Anders ausgedrückt ist Intergeschlechtlichkeit der einzige Fall in der modernen Medizin, in dem die Einen (die Kinder) körperlich verstümmelt werden, um die Anderen (die Eltern) psychologisch zu entlasten (Aaronson 2004; Holmes 2008, 2011; Karkazis 2008). Diese Rechnung geht allerdings nicht auf, weder für die Kinder, die sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen und lebenslang krank sein werden, obwohl sie ursprünglich bester Gesundheit waren, noch für die Eltern, deren anfängliche Bestürzung über die Geburt eines geschlechtlich untypischen Kindes einem anhaltenden Schmerz weicht, der in seiner Mischung aus Tabu, Geheimnissen und Zweifel über die Wahl des richtigen oder falschen Geschlechts die gesamte Familie über Generationen hinweg belastet. Diese Verstümmelungen sind durch nichts zu rechtfertigen, denn auch wenn die äußeren Geschlechtsorgane intergeschlechtlicher Personen nicht konventionell sind, so sind sie doch gesund und im Sinne sexueller Erregungsfähigkeit funktionell. Erwachsene intergeschlechtliche Personen beschreiben ihre Verstümmelungserfahrungen als stark belastend und traumatisierend (Guillot 2008; Karkazis 2008; Kessler 1998; Picquart 2009). Seit einiger Zeit befürwortet ein Teil der Ärzt_innenschaft eine In-Utero-Geschlechternormalisierung durch Dexamethason-Gabe an schwangere Frauen, deren Föten potenziell Träger_innen

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des Adrenogenitalen Syndroms (AGS) sind. Diese Praxis steht im Zentrum aktueller bioethischer Debatten und veranschaulicht deutlich das Bestreben der Biopolitik, nicht nur geschlechtlich nicht-konventionelle Körper auszulöschen, sondern auch Homosexualität und Transidentität (Dreger/Feder/Tamar-Mattis 2012). Wenn in den diversen pränatalen Untersuchungen der Verdacht auf Intergeschlechtlichkeit entsteht, werden im Westen Abtreibungen in der Regel weitgehend empfohlen oder gar auferlegt. Die Kritik an diesen in der westlichen Welt gängigen Verstümmelungspraktiken ist nicht neu: Die ersten intergeschlechtlichen Personen, die diese anprangerten, ergriffen 1993 mit der Gründung der US-amerikanischen Gesellschaft für Intergeschlechtliche Personen (Intersex Society of North America, ISNA) das Wort. In den folgenden Jahren sollten weitere Vereinigungen entstehen, deren bedeutendste die 2002 gegründete Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (Organisation Intersex International, OII) ist (Bastien Charlebois/Guillot 2013). Unterdessen beharrte die Biopolitik auf ihrer Gelehrt_innenpositionierung und begnügte sich in Anbetracht der wachsenden Kritik mit einer Revision der Peripherie ihres Diskurses, während sie jene der betroffenen Personen systematisch delegitimierte (Bastien Charlebois3).

Änderungen in Sicht? Dennoch haben erfolgreiche Gerichtsverfahren gegen Ärzt_innen und die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen intergeschlechtlichen Menschen heute zu mehr Sichtbarkeit verholfen. Im Dialog mit bestimmten Ärzt_innen konnten zudem mancherorts die Beendigung hormonell-chirurgischer Verstümmelungen intergeschlechtlicher Kinder sowie deren Begleitung zur Selbstbestimmung erreicht werden, wie beispielsweise im Schweizer Kanton Waadt. Dank dieser Grundlagenarbeit durch Vereinigungen intergeschlechtlicher Menschen aus allen Teilen der Welt – teilweise auch in Zusammenarbeit mit Organisationen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans‘-Personen (LGBT) – konnte somit eine Debatte um das Thema Intergeschlechtlichkeit angestoßen werden, mit der sich auch die Gesetzgeber_innen diverser Staaten auseinandergesetzt haben. Manche Staaten haben sich für die Aufnahme einer weiteren Geschlechtskategorie in die offiziellen Dokumente entschieden, welche allerdings nicht zwingend als ein drittes Geschlecht verstanden werden muss. Die Einen trafen diese Wahl, da sie keine Verstümmelungstradition haben, wie dies beispielsweise in Nepal, Pakistan und einigen indischen Bundesstaaten der Fall ist. Hier wurde lediglich die traditionelle Anerkennung der Existenz von Personen jenseits der

3 | Siehe Beitrag von Janik Bastien Charlebois in dieser Publikation.

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

Geschlechternorm in die Gesetzestexte übertragen. Andere Staaten wiederum konnten nur unter dem Druck sogenannter sexueller Minderheiten und der Bewegung intergeschlechtlicher Menschen zu diesem Schritt bewegt werden, so wie in Neuseeland und Australien. Die Praxis der Genitalverstümmelungen wurde hier jedoch zunächst nicht verurteilt. In manchen Staaten wird sowohl die Beendigung hormonell-chirurgischer Verstümmelungen als auch die rechtliche Anerkennung eines Geschlechtes jenseits der Binarität (einschließlich eines entsprechenden Eintrags im Personenstandsregister) empfohlen, wie beispielsweise in Deutschland.4 In der Schweiz wird lediglich die Beendigung hormonell-chirurgischer Verstümmelungen diskutiert5, die Einführung einer dritten Geschlechtskategorie wird hingegen zum jetzigen Zeitpunkt abgelehnt.6 Wir erleben also sowohl in den sogenannten armen Ländern als auch in den sogenannten reichen verschiedene Neukonzeptualisierungen von Geschlecht und beobachten gleichzeitig in modernen Demokratien wie dem Großherzogtum Luxemburg eine lähmende Untätigkeit. Dabei liegt die enorme Herausforderung der Intergeschlechtlichkeit weniger in der Existenz intergeschlechtlicher Körper als in der seit gut 60 Jahren anhaltenden biopolitischen Vereinnahmung des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Thema. Die meisten intergeschlechtlichen Körper weichen äußerlich nicht von den gesellschaftlichen Geschlechternormen ab und, wo es doch der Fall ist, ist dies in der Regel nur in der Intimität sichtbar. Die zahlreichen uns vorliegenden Erfahrungsberichte nicht verstümmelter intergeschlechtlicher Personen machen deutlich, dass sie mit ihrer Situation gut zurechtkommen, ihre besonderen Körper und Identitäten schätzen und mithin auch Zuneigung erfahren und ein erfülltes privates und berufliches Leben führen. Tatsächlich gibt es auch im sogenannten Westen Menschen, die der ärztlichen Verstümmelungspraxis entkommen, und in Ländern ohne traditionelle Verstümmelungspraxis zeugen erwachsene intergeschlechtliche Personen ebenfalls von dieser Tatsache. Die Mediziner_innen hingegen schenken in ihren Studien dieser Kategorie von Personen keine Aufmerksamkeit, da sie sie überhaupt nicht wahrnehmen. Meistens sehen diese Menschen sich selbst als eines der beiden aktuell gesellschaftlich zugelassenen Geschlechter. Ein Teil von ihnen sind Frauen oder Männer, nur eine Minderheit fordert eine alternative Identität. Im Erwachsenenalter wollen manche dieser Personen ihren Körper mittels hormonell-chirurgischer

4 | Deutscher Ethikrat (Hg.) (2012): Intersexualität. Stellungnahme. URL: http://www.ethikrat.org/dateien/ pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf [25.07.2013]. 5 | Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, NEK-CNE (Hg.) (2012): Zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Ethische Fragen zur Intersexualität. Stellungnahme Nr. 20/2012, S.19. Bern. 6 | Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, NEK-CNE (Hg.) (2012): Medienmitteilung. »Intersexualität«: Das Wohl des Kindes steht an oberster Stelle.

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Maßnahmen an ihre Geschlechtsidentität angleichen und müssen sich im Zuge dessen sehr häufig durch eine offizielle Transsexualismus-Diagnose, die für den Zugang zu den entsprechenden Behandlungen und die Änderung des Geschlechtseintrages im Personenstandsregister vorausgesetzt wird, die Bürde der Psychiatrisierung auf sich nehmen. In Anbetracht der Anzahl intergeschlechtlicher Menschen kennt jede_r zwangsläufig eine betroffene Person, ohne jedoch automatisch über deren Intergeschlechtlichkeit im Bilde zu sein. Um ein weiteres Beispiel zu geben: Rein statistisch sitzt in jeder Straßenbahn zur Hauptverkehrszeit mindestens eine intergeschlechtliche Person! Während die luxemburgische Gesetzgebung die Existenz intergeschlechtlicher Personen vollständig ausblendet, binden andere Staaten oder überstaatliche Instanzen diese in ihre Gesetzgebung oder Empfehlungen ein. Ohne erneut auf die Länder zurückzukommen, in denen Menschen mit Körpern jenseits der Geschlechternorm traditionell anerkannt werden, widmen wir uns im Folgenden den mittlerweile erzielten Fortschritten.

Internationale Erklärungen und Empfehlungen In den Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung internationaler Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität7 wird geschlechtliche Identität definiert. Damit stellt dieser Text ein Meilenstein für den rechtlichen Schutz der Geschlechtsidentität dar. Wenngleich nicht explizit von intergeschlechtlichen Personen die Rede ist, so liegt seine Bedeutung in der Tatsache, dass »niemand als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung seiner geschlechtlichen Identität gezwungen werden [darf ], sich medizinischen Behandlungen zu unterziehen, darunter operativen Geschlechtsanpassungen (sex reassignment surgery), Sterilisierungen oder Hormonbehandlungen«. Ferner wird in Kapitel 18 das Recht auf Schutz vor medizinischer Misshandlung festgeschrieben. In der Erklärung von Montreal8 wird 2006 erstmalig die Frage der Intergeschlechtlichkeit explizit aufgegriffen. Sie hält fest, dass »Intersexuelle Einzelpersonen einer besonderen Form der Gewalt ausgesetzt [sind], der Form der genitalen Verstümmelung als Ergebnis eines unnötigen operativen Eingriffs nach der Geburt, um sie an ein rigides binäres Modell physischer Sexualmerkmale anzupassen.« und fordert »ein Verbot für Genitalchirurgie bei Intersexuellen,

7 | Eddy-Hirschfeld-Stiftung (Hg.) (2008): Yogyakarta-Prinzipien. Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Band 1. Schriftenreihe der Hirschfeld-Eddy-Stiftung. Berlin. URL: http://www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/fileadmin/images/schriftenreihe/ yogyakarta-principles_de.pdf [25.07.2013]. 8 | Lesbian & Gay Liberation Front e.V.: Die 1. Internationale LGBT-Menschenrechtskonferenz im Rahmen der 1. World Outgames vom 25.07.- 05.08.2004 in Montreal. URL: http://www.csgkoeln.de/Texte/website/ilga-welt/ information/montreal.htm [25.07.2013].

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

wenn sie nicht alt genug sind, um die Maßnahme zu verstehen und damit einverstanden zu sein.«. In der Erklärung von Stockholm9 fordert 2012 das zweite Internationale Forum Intergeschlechtlicher Menschen: 1. Beendigung der verstümmelnden und normalisierenden Eingriffe wie Genitaloperationen, Hormonersatztherapie, psychologischer und weiterer medizinischer Behandlungen sowie der Praxis der Kindstötung und selektiven Abtreibung (aufgrund von angenommener Intergeschlechtlichkeit des Fötus). 2. Gewährleistung der persönlichen, freien und vollständig informierten Einwilligung intergeschlechtlicher Personen als verpflichtende Voraussetzung für alle medizinischen Verfahren und Behandlungsrichtlinien unter Achtung der Gesetze zur informierten Einwilligung der Patient_innen. 3. Schaffung und Förderung von unterstützenden, sicheren und wertschätzenden Orten für intergeschlechtliche Menschen, ihre Familien und ihr Umfeld. 4. Bereitstellung psychosozialer Unterstützung und nicht-pathologisierender Peer-Beratung für Eltern und/oder Erziehungsberechtigte und die engsten Angehörigen hinsichtlich der Gewährleistung der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit des intergeschlechtlichen Kindes. Abgesehen von lebensrettenden Maßnahmen muss dieser Ansatz alle operativen und sonstigen medizinischen Behandlungen ersetzen. 5. Anerkennung aller Menschen- und Bürger_innenrechte für intergeschlechtliche Menschen. 6. Gewährleistung des Zugangs allen intergeschlechtlichen Menschen zu den eigenen medizinischen und allen weiteren sie betreffenden Unterlagen sowie Zuerkennung des Rechts intergeschlechtlicher Menschen auf Wahrheit. 7. Anerkennung und Entschädigung für in der Vergangenheit zugefügtes Leid und Ungerechtigkeit. Das Forum appelliert an die Vereinten Nationen, die Einbeziehung der Rechte intergeschlechtlicher Personen in ihre Aktivitäten im Bereich der Menschenrechte zu gewährleisten. Andere regionale und nationale Menschenrechtsinstitutionen werden aufgefordert, sich für die Menschenrechte intergeschlechtlicher Personen zu engagieren und entsprechende Empfehlungen an Regierungen und Institutionen zur Anerkennung dieser Rechte abzugeben.Von den Menschenrechts- und LGBTI-Organisationen wird die Einbeziehung intergeschlechtlicher Personen und derer Menschenrechtsanliegen erwartet sowie ein Engagement

9 | TransInterQueer e.V.: URL: http://www.transinterqueer.org/aktuell/zweites-internationales-intersex-forum -hat-in-stockholm-stattgefunden/ [25.07.2013].

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für mehr Sichtbarkeit und Teilhabe dieses Personenkreises. OII Francophonie, die Französisch sprechende Sektion der Internationalen Organisation intergeschlechtlicher Menschen, hat diese Erklärung unterstützt, weist aber darauf hin, dass die auf normalisierende Modifikationen des Körpers zielende Hormonersatztherapien in die Kategorie der problematischen weiteren medizinischen Behandlungen eingestuft werden sollten.10 Darüber hinaus werden die zunehmenden Abtreibungen von Föten mit Intergeschlechtlichkeitsdiagnose mit großer Besorgnis betrachtet, da hier eugenische gesellschaftliche Auswirkungen befürchtet werden. Weiterhin wird gefordert, dass die betroffenen Personen einen Einblick in die Standpunkte pathologisierungskritischer Gruppen erhalten und mit ihnen Kontakt aufnehmen können und außerdem zu jedem Zeitpunkt den vollständigen Zugriff auf ihre medizinische Geschichte haben, also auf die Maßnahmen, denen sie unterzogen wurde, sowie die ärztlichen Gutachten über ihren als uneindeutig qualifizierten Körper. Der Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafe des UN-Menschenrechtsrates, Juan E. Mendez, bezieht sich in seinem Bericht von Feburar 201311 erstmalig auf körperliche Modifikationen, die ohne die Zustimmung der betroffenen Personen durchgeführt werden, und qualifiziert diese als Folter. 2012 hat sich die Schweizer Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) gegen Genitalverstümmelungen positioniert und empfiehlt als Grundsatz für den Umgang mit Geschlechtsvarianten, alle nicht bagatellhaften, geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide, die irreversible Folgen haben, aber aufschiebbar sind, erst dann zu treffen, wenn die zu behandelnde Person selbst darüber entscheiden kann. Eine psychosoziale Indikation allein reicht nach Meinung der NEK-CNE zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffes nicht aus.12 In Australien hat im Bundesstaat Victoria im Februar 2013 eine beratende Expert_innengruppe von Mediziner_innen und Interessenvertreter_innen intergeschlechtlicher Menschen befürwortete die Verwendung des Begriffes ›Intergeschlechtlichkeit‹. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass sich nicht alle Menschen mit einer intergeschlechtlichen Kondition/Verfasstheit als intergeschlechtlich identifizieren, nur weil Einzelne dies tun, und dass nicht jede_r seine_ihre Verfasstheit als

10 | OII Francophonie (2013): Second forum intersexe international de l’ILGA 2012. Communiqué de presse. URL: http://oiifrancophonie.org/156/second-forum-intersexe-international-de-lilga-2012/ [25.07.2013]. 11 | Mendez, J. (2013): Report of the Special Rapporteur on torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment. Vereinte Nationen. Generalversammlung (Hg.). URL: http://www.ohchr.org/ Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session22/A.HRC.22.53_English.pdf [25.07.2013]. 12 | Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK)(2013): ›Intersexualität‹: Das Wohl des Kindes steht an oberster Stelle. Medienmitteilung. URL: http://www.bag.admin.ch/nek-cne/04230/index. html?lang=de [25.07.2013].

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

intergeschlechtlich oder überhaupt als eine Verfasstheit erachtet.13 In Folge des Consensus Statement on Management of Intersex Disorders (Lee u.a. 2006) verzeichnet die internationale Ärzt_innenschaft einen wachsen-den Konsens bezüglich der kritischen Verwendung des Begriffes ›Störungen der Geschlechtsentwicklung‹ oder DSD (disorders of sex development). Intergeschlechtlichkeit soll nicht weiterhin als Störung oder Kondition/Verfasstheit bezeichnet werden, da es sich hierbei vielmehr um eine genetisch, chromosomal oder hormonell bedingte menschliche Variation handle. Vor dem Hintergrund dieser terminologischen Uneinigkeit wird zunehmend der Begriff ›intergeschlechtliche Kondition/Verfasstheit‹ verwendet.

Schlussfolgerungen Seit intergeschlechtliche Menschen in den 1990er Jahren das Wort ergriffen haben, konnten sie dank der Verbreitung postmoderner Gender-Theorien und ihrer Integration in feministische Bewegungen sowie LGB- und schließlich LGBT-Bewegungen eine gewisse Sichtbarkeit erringen. Einige haben sich in Patient_innenvereinigungen organisiert, andere in verschiedenen Protestbewegungen, mehrheitlich innerhalb von Organisationen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten oder für feministische Ziele einsetzen. Anfangs wurde ihr Diskurs systematisch unter dem Vorwand mangelnder Objektivität von Seiten der Biopolitik delegitimiert, die sich wiederum als alleinige objektive Instanz positionierte. Sie wurden ebenfalls beschuldigt, nur persönliche (und damit unbedeutende) Erfahrungen zu schildern, die lediglich Ausdruck einer psychischen Störung seien, unter der sie im Gegensatz zu einer vermeintlich schweigenden und mit ihrem Schicksal zufriedenen Mehrheit litten, die bislang von keiner wissenschaftlichen Studie erfasst werden konnte. In Anbetracht der Verrechtlichung des Themas der Intergeschlechtlichkeit sowie der Erfahrungsberichte, situierten Gutachten und wissenschaftliche Veröffentlichungen aus Betroffenenperspektive haben sich die Grenzen jedoch von einer oft fälschlicherweise als kommunitaristisch aufgefassten Forderung hin zu einem wahrhaften Menschenrechtsanliegen bewegt, welches sich vor dem Hintergrund der hormonell-chirurgischen Verstümmelungen in den Kampf gegen Folter und religiöse Beschneidung einreiht. Der einzige Unterschied zwischen einer religiösen Beschneidung und einer hormonell-chirurgischen Geschlechtszuweisung — sei diese eine nicht-konsensuelle medizinische 13 | State of Victoria, Department of Health (Hg.) (2013): Decision-making principles for the care of infants, children and adolescents with intersex conditions. URL: http://docs.health.vic.gov.au/docs/doc/0D331CCCA7 5EE85AC257B1800707957/$FILE/PDF%20Final%20Intersex%20Conditions%20Resource.pdf [25.07.2013].

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Verstümmelung oder eine andere körperliche Modifikation intergeschlechtlicher Körper — liegt in den Beweggründen der Tat. Im ersten Fall sind die Beweggründe vermeintlich animistischer und mittelalterlicher Natur, im zweiten szientistischer. In beiden Fällen aber handelt es sich um Folter, um Verstümmelung und um traditionelle, kulturelle Praktiken im Namen Dritter (Gött_in oder der Gesellschaft). Das Erstaunlichste jedoch ist die Tatsache, dass rituelle Beschneidungen im Westen, wo diese Praktiken eine Randerscheinung zugezogener Bevölkerungsgruppen darstellen, als Verstümmelungen und Folter betrachtet werden, die vor das französische Geschworenengericht gebracht werden können (vgl. § 222-9 und 222-10 des französischen Strafrechts), die Gesetzgeber_innen jedoch gleichzeitig in der systematischen Verstümmelung und Folter intergeschlechtlicher Kinder keine Verstümmelung oder Folter zu erkennen scheinen. Das exotische Objekt wird bestraft, der medizinische Fakt ist unantastbar: Hierbei handelt es sich unbestreitbar um Ethnozentrismus, um das rassistische, sexistische und homophobe Ergebnis einer Biopolitik, die aufgrund des potenziellen Verlustes ihrer Vormachtstellung im Bereich der Wissensproduktion, der Machtausübung, und nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht in der Lage ist, sich selbst zu hinterfragen, und der eine Zivilgesellschaft gegenübersteht, die über ihre gängigen Praktiken im Unwissen gehalten wird. Die Ursache dieses Unwissens liegt in dem von der Biopolitik institutionalisierten Schweigen über Folter und Genitalverstümmelung, gleichzeitig findet die Frage der Intergeschlechtlichkeit aufgrund der permanenten diskursiven Verfestigung der Heteronormativität in den westlichen Gesellschaften kaum Gehör. In diesem Sinne geht es bei der Frage der Intergeschlechtlichkeit nicht um ein kommunitaristisches Anliegen, sondern um ein Werkzeug zur Emanzipation der Massen. Die vermehrte Sichtbarkeit von intergeschlechtlichen Menschen, von sowohl hinsichtlich ihrer Körperlichkeit als auch ihrer Identitäten vorstellbaren geschlechtlich Anderen, ist eine der unerlässlichen Grundbedingungen für die Emanzipation all jener, die nicht männlich/Mann/heterosexuell sind. Intergeschlechtlichkeit bedeutet nicht das Aus für Männer, Frauen oder Heterosexualität, sondern bietet vielmehr die Grundlage eines neuen Bewusstseins über Geschlechtlichkeit. Anders ausgedrückt bieten gesellschaftliche Alternativen zur Heteronormativität allen Menschen eine Grundlage des Bewusstseins über ihre eigene geschlechtliche Zugehörigkeit und damit neue Möglichkeiten der Akzeptanz ihrer Körper, ihrer Geschlechter, ihrer Sexualitäten. Es geht also darum, beispielsweise die Aussage »Ich bin weiblich/Frau/heterosexuell« (die nur selten ausgesprochen wird, da sie vermeintlich selbstverständlich ist) in vollem

Intergeschlechtlichkeit und Menschenrechte

Bewusstsein und nicht aus reiner Routine zu tätigen. Nicht ein einziges Element in der Debatte um Intergeschlechtlichkeit spricht die Existenz von männlichenheterosexuellen-Männern oder sonstigen gesellschaftlich zugelassenen Kategorien ab. Es existiert schlicht noch etwas anderes, etwas gleichermaßen normales, und in diesem Bereich des Möglichen können sich alle Menschen entfalten. Intergeschlechtlichkeit sollte auch in Staaten wie dem Großherzogtum Luxemburg dringend und unumgänglich auf die politische Agenda gesetzt werden. Dabei darf sich diese Auseinandersetzung nicht auf eine rein rechtliche Ebene begrenzen, sondern muss in alle Bereiche der Gesellschaft und an erster Stelle auch in das Bildungssystem einfließen, indem Intergeschlechtlichkeit in Zusammenarbeit mit betroffenen Personen und aus einer affirmativen Perspektive in das entsprechende Lehrmaterial der Schulen und die Ausbildung des medizinischen Personals aufgenommen wird.

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Vincent Guillot

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Medizinische Widerstände gegenüber der Kritik von intergeschlechtlichen Aktivist_innen: 1 Operationen an der Front der Glaubwürdigkeit Janik Bastien Charlebois, Vincent Guillot

Zusammenfassung Seit ihrer Entstehung in den frühen 1990er Jahren, versucht die Intersex-Bewegung, das Respektieren von Kinder- und anderen Menschenrechten, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit wie auch die Nicht-Pathologisierung von Intersexualität, durchzusetzen. Allerdings ist die medizinische Gemeinschaft besonders hartnäckig, zieht es vor, Kritik als subjektiv und unbegründet (de-)qualifiziert abzulehnen. Glaubwürdigkeit ist ein zentrales Thema in dieser Debatte, aber sie wird selten offen angesprochen. Wenn die medizinische Fachwelt das günstige Vorurteil der Qualität ihrer Analyse genießt, was passiert, wenn ein genauer Blick darauf erfolgt?

Einleitung »Die Geburt eines Kindes mit uneindeutigen Genitalien stellt eine gesellschaftliche Notsituation dar.« Dieser Satz ist den Empfehlungen der American Academy of Pediatrics zum Umgang mit Kindern mit atypischem Geschlecht aus dem Jahre 2000 (S. 138) entnommen. Sie stellt eine voreingenommene Perspektive gegenüber unserem gesellschaftlichen System dar – freilich einem Bereich, für den die Medizin nur wenige Analyseinstrumente entwickelt hat, da sie die subjektiven sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf Abstand hielt. Als Reaktion auf die Kritik erwachsener intergeschlechtlicher Menschen, die inzwischen aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung in der Lage sind, die ihnen verordneten

1 | Originalfassung in französischer Sprache.

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Behandlungen zu beurteilen, entwickeln einige Mediziner_innen, Psychiater_innen oder Psychoanalytiker_innen eine Gegenargumentation, die die Glaubwürdigkeit der intergeschlechtlichen Aktivist_innen unterlaufen und ihren eigenen Standpunkt als Träger_innen eines unparteiischen und objektiven Expert_innenwissens verfestigen soll (vgl. Aaronson 2004; Chiland 2008; Meyer-Bahlburg 2004). Als Sozialwissenschaftler_innen wollen wir die Kernargumente untersuchen, anhand derer die Ärzt_innenschaft an der Pathologisierung von Personen mit einem als uneindeutig eingeschätzten Geschlecht festhält und die Kritik mehrerer intergeschlechtlichen Aktivist_innen zu entkräften versucht. Da wissenschaftliche Sorgfalt unseres Erachtens ein Sichtbarmachen situierter Positionen erfordert, aus denen wir unsere Überlegungen entwickeln, möchten wir an die-ser Stelle anmerken, dass die erste Autorin dieses Beitrags soziologisches Fachwissen mit einer situierten Erfahrung als politisierte intergeschlechtliche 2 Person vereint, die den medizinischen Normalisierungsprozess durchlaufen hat. Die zweite AutorIn ist ebenfalls eine politisierte intergeschlechtliche Person, die sich in mehr als einem Jahrzehnt fundiertes Fachwissen angeeignet hat, das sie zu eigenem Erfahrungswissen in dezidierter Weise in Beziehung setzt, nuanciert 3 in Veröffentlichungen diskutiert, und die sich einem sozialwissenschaftlichen Studium widmet. Wir möchten jedoch ebenfalls betonen, dass die Position einer intergeschlechtlichen Person aus unserer Sicht nicht per se stärker subjektiv gefärbt ist als die einer nicht-intergeschlechtlichen Person. Letztere kann durchaus bestrebt sein, ihre eigenen Interessen zu verteidigen und die Konsequenzen unseres politischen Aufkommens befürchten. So wurden beispielsweise die finanziellen Interessen der Urolog_innen und Endokrinolog_innen herausgear4 beitet (Davis 2011). Darüber hinaus können nicht-intergeschlechtliche Personen die Realitäten von intergeschlechtlichen Menschen nicht vollständig erfassen, da sie in ihrem Alltag nicht mit den unterschiedlichen, diesen Realitäten zugrunde liegenden Elementen konfrontiert sind. Der Anspruch an eine vermeintliche Objektivität ist nichts weiter als eine leere Selbstzuschreibung von Glaubwür5 digkeit, die einzig auf ihrer performativen Erklärung fußt. Diesem Anspruch 2 | ‌‌S ituierte Position ist hier verwendet als Ausdruck für ein theoretisches Konzept. Vgl. Harding, S. (Hg.) (2004): The Feminist Standpoint Theory Reader. New York/London: Routledge. 3 | Observatoire Des Transidentités, ODT: Unabhängige Informations- und Analyse-Webseite über Fragen zu Trans’, Intersex und Fragen des Geschlechtes. Neben dem Stammpersonal (das Team von ODT) stützt sie sich auf ein Netz von Akteur_innen der Fachgebiete, Partner_innen-Vereine und Wissenschaftler_innen. Jeden Monat wird ein Artikel von einer/m Schriftsteller_in veröffentlicht. URL: http://www.observatoire-des-trans identites.com/ [05.09.2013]. 4 | Diese Aussage mag schockierend klingen, jedoch haben wir sie von drei verschiedenen, im Kontakt zu Ärzt_innen stehenden Quellen übermittelt bekommen, die derartige Befürchtungen von Praktiker_innen aus Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten vernommen haben. Davis (2011) dokumentiert derartige Aussagen in Interviews mit Mediziner_innen, die Intersex-Kinder behandeln. 5 | Zu diesem Thema wurden bereits viele wissenschaftliche Überlegungen ausgearbeitet. Aus Platzgründen können wir diese hier nicht wiedergeben.

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ist das Prinzip der wissenschaftlichen Sorgfalt vorzuziehen, welche unter anderem die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Reflexivität wie auch eine Ergebnisoffenheit gegenüber Untersuchungsergebnissen erfordert.

Paradigmatische Ausradierung der Intergeschlechtlichkeit in der Medizin und Protestbewegungen Auch wenn die medizinischen Ansätze in Bezug auf intergeschlechtliche Menschen je nach Land und Institution unterschiedlich ausfallen, sind gewisse Vorannahmen und Praktiken allgemein vorherrschend. Das ab 1957 maßgeblich von John Money formulierte Hopkins-Paradigma genoss im sog. Westen bis ca. Ende der neunziger Jahre große Anerkennung. Nach diesem Paradigma seien sowohl das biologische Geschlecht (sex) als auch das soziale Geschlecht (engl.: gender) formbar, wobei ein eindeutig männliches bzw. weibliches biologisches Geschlecht sowie eine entsprechende Anpassung des sozialen Geschlechts für die psychosexuelle Entwicklung der Kinder unabdingbar sei und sie vor Ablehnung durch Gleichaltrige bewahren könne. Allerdings sei diese geschlechtliche Formbarkeit nur in den ersten zwei Lebensjahren gegeben, wodurch frühzeitige chirurgische Eingriffe notwendig seien. In der Annahme, jede bezüglich des zugewiesenen Geschlechts verunsichernde Information schränke die Eltern in ihrer Fähigkeit zur Erziehung des Kindes im entsprechenden sozialen Geschlecht ein und verursache Verwirrung beim Kind, wird empfohlen, den Eltern nur partielle Informationen zuteilwerden zu lassen und das Kind im völligen Unwissen zu lassen (Money 1994 [1968]). Die frühzeitigen chirurgischen Eingriffe werden auch – und manchmal vor allem – empfohlen, um den Leidensdruck der Eltern zu lindern, die ihrem ungewöhnlichen Kind hilflos gegenüber stünden und den Wunsch hegten, dass si_er sich als normaler Junge oder normales Mädchen entwickelt (Aaronson 2004; Holmes 2008, 2011; Karkazis 2008). In den neunziger Jahren erreicht die erste Welle der nach dem Hopkins-Paradigma medikalisierten Personen das Erwachsenenalter. Damit sind sie nun eher in der Lage, ihren Eindrücken und Erfahrungen Gehör zu verschaffen. Entgegen des Wunsches der nach dem Hopkins-Paradigma agierenden Praktiker_ innen gelingt es mehreren von ihnen, Informationen über die durchgeführten Eingriffe zu erhalten, das Geschehene zu beurteilen und in einigen Fällen in Kontakt zu anderen Personen mit ähnlichen Erfahrungen zu treten (Gosselin 2011; Holmes 2008; Kessler 1998; Still 2008). In den Sozialwissenschaften gilt diese Kontaktaufnahme als zentrales Moment für die Herausbildung einer sozialen Gruppe. Die Kontaktaufnahme ermöglicht es, von sich zu erzählen, die

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eigenen Worte zu erfinden, geteilte oder ähnliche Erfahrungen zu analysieren sowie manchmal Alternativen zu entwerfen und in einem nächsten Schritt Forderungen zu formulieren. In den Analysen intergeschlechtlicher Menschen, welche das Ermöglichen einer vollen Zustimmung zu den jeweiligen Behandlungen oder die Entmedikalisierung der Vielfalt geschlechtlicher Körper aktiv fordern, finden sich einige theoretische Grundlagen von feministischen Forscher_innen, Aktivist_innen der Frauengesundheitsbewegung, schwulen, lesbischen, queeren und Trans‘-Forscher_innen und Aktivist_innen wieder. Ohne die durch diese Gruppen initiierten gesellschaftlichen Veränderungen sowie die zunehmende Hinterfragung der medizinischen Autorität und Thematisierung der kulturellen Grundlagen ihrer Praxis wäre die neuere Intersex-Bewegung weniger kraftvoll (Karkazis 2008). Darüber hinaus waren intergeschlechtliche Menschen selbst in der Erarbeitung ihrer Kritiken sehr kreativ: Sie vereinen künstlerische Produktionen mit Veröffentlichungen von Essays und theoretischen Überlegungen, sind in allen gesellschaftlichen Sphären vertreten und auf allen Kontinenten aktiv. Durch ihren Einsatz sowie die Verbreitung ihrer Perspektiven gewinnen sie immer mehr strategische Unterstützer_innen wie Eltern, sympathisierende Klinikärzt_innen, Ethiker_innen, Jurist_innen, Forscher_innen, Student_innen und Künstler_innen. In den letzten zwei Jahren sind auch die Schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sowie der Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe Juan E. Méndez für die Forderungen der Intersex-Per6 sonen eingetreten.

Medizinische Widerstände Der Austausch mit der Ärzt_innenschaft wiederum ist weniger fruchtbar. Seit Beginn der Auseinandersetzung geht die Mehrheit der Ärzt_innen nicht auf die Forderungen intergeschlechtlicher Personen ein. Die zwei Hauptargumentationen für diese Nicht-Berücksichtigung sind erstens die Emotionalität bzw. mangelnde Rationalität und Wissenschaftlichkeit des Diskurses der intergeschlechtlichen Aktivist_innen und zweitens die seitens der vermeintlich kleinen Minderheit der intergeschlechtlichen Aktivist_innen zu verzeichnende Außerachtlassung der Interessen einer großen Mehrheit von Personen, die zwar ohne ihre Zustimmung normalisierenden chirurgischen Eingriffen und Hormontherapien ausgesetzt waren, mit deren Ergebnissen jedoch sehr zufrieden seien.

6 | Die entsprechenden Stellungnahmen stehen in französischer Sprache auf der Webseite der OII-Frankophonie zur Verfügung: URL: www.oiifrancophonie.org [15.08.2013]. Siehe Beitrag von Vincent Guillot in dieser Publikation.

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Vorwürfe wie mangelnde Rationalität und Wissenschaftlichkeit der Intersex-Aktivist_innen sowie von mehreren Ärzt_innen verwendete Bezeichnungen für intergeschlechtliche Aktivist_innen und ihre Positionen sind wenig schmeichelhaft. Manche bezeichnen sie zum Beispiel als Fanatiker (engl.: zealots), so John Gearhart in einem Interview mit N. Angier für die New York Times aus dem 7 Jahr 1996, als launische Hippies (engl.: green-wellied loonies ) (Toomey 2001: 39, zit. nach Karkazis 2008) oder als gequälte Seelen (Chiland 2008). Ihnen wird vorgehalten, sie stützten sich nur auf ihre Leidenschaften, verfügten über keine stichhaltigen Daten und könnten keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Entkräftung der These präsentieren, dass sie innerhalb der Masse mit ihrem Schicksal zufriedener Personen nur eine Ausnahme darstellen. Ebenso behaupten manche dieser Ärzt_innen Folgendes (wir zitieren hier Auszüge aus Interviews von Karkazis (2008) mit verschiedenen Chirurg_innen: »Die ISNA vertritt nur die wenigen Unzufriedenen. Es gibt aber auch all die glücklichen Frauen, die Babys bekommen haben. Sie sind die schweigende Mehrheit. (Dr. S.).« (Karkazis 2008: 266). »Diese Leute sind voller Wut. Die zufriedenen Patienten wollen nicht, dass man mit ihnen redet, die Eltern auch nicht. Sie sagen: ›Das gehört zur Vergangenheit, wir wollen nicht darüber sprechen. Mein Kind ist ausgeglichen, alles ist in Ordnung.‹ (Dr. O.).« (Karkazis 2008: 266).

2004 veröffentlichten Meyer-Bahlburg u.a. die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, im Rahmen dessen anhand von Fragebögen ermittelt wurde, inwiefern Patient_innen mit dem medizinischen Ansatz zufrieden waren, der ihrer Behandlung zugrunde lag. Obwohl die problematische Formulierung der Fragen zu einer Befürwortung der medizinischen Perspektiven führt (Holmes 2008), bekräftigen zwei Mitglieder der Zeitschriftenredaktion ausdrücklich den Inhalt des Artikels in einem in der gleichen Ausgabe abgedruckten Kommentar. Einer von ihnen, Aaronson (2004: 1619), hält fest: »Im letzten Jahrzehnt wurden die Personen, welche für die Behandlung von mit uneindeutigen Genitalien geborenen Kindern zu Rate gezogen werden, von Patientenrechtlern angegriffen, die lautstark behaupten, dass das Verfahren der feminisierenden Genitoplastie einer Verstümmelung gleichkommt. […] Infolgedessen sehen wir uns heute faktisch mit einer therapeutischen Ohnmacht konfrontiert, die nicht im Geringsten im Interesse der zahlreichen Eltern liegt, welche sich wünschen, dass etwas zur Normalisierung des Erscheinungsbildes der Genitalien ihres Kindes unternommen wird.«

7 | Green-wellied bezieht sich auf die grünen Gummistiefel, die von Personen getragen werden, welche als Hippies oder Ökos betrachtet werden.

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Die Kommentare erstaunen: Wieso bringt die Ärzt_innenschaft bezüglich der Frage um die Behandlung von intergeschlechtlichen Personen derart hitzige Aussagen ein, wenn sie ihre Praktiken und Behandlungsstandards doch anhand vermeintlich bedächtiger, objektiver, rational geführter Forschungen entwickelt, wie sie stets betont? Dies ist freilich eine rein rhetorische Frage, denn diese Beurteilung der intergeschlechtlichen Aktivist_innen nimmt ohnehin keinen Einfluss auf die Be- oder Entkräftung des Hopkins-Paradigmas, sei es, um sie als argumentum ad hominem zu ihrer Diskreditierung anzuführen. Durch die Darstellung der Aktivist_innen als angriffslustig und impulsiv – oder gar als Fanatiker_innen, gequälte Seelen etc. ziehen sich die Mediziner_innen elegant aus der Pflicht, deren Diskurs, Erfahrungen und Argumente zu berücksichtigen und bleiben Antworten schuldig, wenn es z.B. um die kritische Bewertung der Konsequenzen ihres Handelns geht. Eine derartige Verweigerung alternativer Standpunkte – die schlimmstenfalls in einer Nicht-Vertretung dieses Standpunktes, bestenfalls in einer sophistischen Über-Vereinfachung im Sinne eines Strohmann-Argumentes begründet liegt – entkräftigt de facto den Objektivitätsanspruch der Mediziner_innen, sofern es denn so etwas wie Objektivität überhaupt geben kann. Hier könnte argumentiert werden, dass es sich lediglich um vereinzelte Aussagen handelt, die nicht die offizielle Position widerspiegeln. Derartige Aussagen finden sich jedoch auch in wissenschaftlichen Zeitschriften wieder, in denen emotionale Ausbrüche verpönt sind. So veröffentlichte beispielsweise Aaronson (2004) seinen Kommentar als Redakteur der offiziellen Zeitschrift der American Urological Association.

Außerachtlassung der Interessen einer breiten, zufrieden schweigenden Mehrheit? Den wutentbrannten Positionen der intergeschlechtlichen Aktivist_innen wird eine schweigende Masse von intergeschlechtlichen Personen gegenüber gestellt, die an dem Hopkins-Paradigma nichts auszusetzen hätten. Den Aktivist_innen wird vorgehalten, dass sie nur ihre eigene Position, und damit die einer Minderheit vertreten würden und dabei keinerlei stichhaltige Daten, sondern lediglich persönliche Eindrücke und Anekdoten anböten. Tatsächlich ergreift nur eine kleine Minderheit der Personen, deren Geschlecht von der Medizin als atypisch bezeichnet wurde, öffentlich das Wort – dies ist allerdings in jeder sozialer Bewegung der Fall. Auch gibt es unter den Intersex‘-/intergeschlechtlichen Personen Uneinigkeiten in Bezug auf die Paradigmen, die zum Begreifen unserer Leben zu verwenden sind. Unter denjenigen, welche die Etappe der

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Sozialisierung mit Peers erlebt haben, kann eine allgemeine Trennung zwischen politisierten Aktivist_innen und Mitgliedern von Patient_innengruppen beobachtet werden (Karkazis 2008; Spurgas 2009; Still 2008). Auch wenn sich die Standpunkte dieser beiden Gruppen bezüglich der Ablehnung bzw. Anerkennung einer Intersex-Identität und der Pathologisierung scheiden, so sind sie sich doch in ihrer Kritik an der Medikalisierung ohne vorherige Zustimmung einig. Zudem legen einige intergeschlechtlichen Aktivist_innen besonderen Wert darauf, andere intergeschlechtlichen Personen durch ihre Positionierungen nicht zu benachteiligen und im Austausch mit Patient_innengruppen zu bleiben. Wir erwarten nicht von jeder von Medikalisierung betroffenen Per­son, dass sie sich als Intersex-Person oder als Person jenseits der Geschlechter definiert – was im Übrigen für viele von uns weit von unsererm Verständnis von intersexueller Identität entfernt ist - entgegen aller diesbezüglichen Vorurteile. Ebenso wenig möchten wir intergeschlechtlichen Kindern eine Identität jenseits der Geschlechter auferlegen, sondern lediglich gewährleisten, dass sie die Möglichkeit haben, ihre identitäre Zuordnung selbst zu bestimmen. Wir fordern nicht, dass alle intergeschlechtlichen Personen gänzlich auf Körpermodifikationen verzichten, sondern dass sie ggf. die Modalitäten eines solchen Eingriffs selbst bestimmen können. Allerdings könnte in Bezug auf die Politik des Schweigens und der ohne die Zustimmung der Kinder durchgeführten chirurgischen Eingriffe Folgendes festgehalten werden: Wenn die betroffenen Intersex-Personen tatsächlich der Meinung wären, dies stelle den besseren Ansatz dar, und sich somit besser hätten entfalten können und weniger verletzlich oder verletzt wären als wir, dann würde ihnen eine Mobilisierung auch leichter fallen als uns und dann wären ihre kritischen Stimmen gegenüber den Forderungen, die sie als für die Mehrheit von uns schädlich betrachten, auch zahlreicher. Im Dezember 2012 brachte das von der International Lesbian, Gay, Bisexual and Trans Association (ILGA) organisierte Zweite Internationale Intersex-Forum 37 Vertreter_innen von 33 Organisationen von Intersex-Personen oder ihrenVerbündeten zusammen. Obwohl ihre Zielsetzungen und Perspektiven auseinandergehen, formulierten sie eine gemeinsame Erklärung, in der die Pathologisierung 8 von Intersex-Personen angeprangert wurde. Wenn es die glückselige, zufriedene Mehrheit wirklich gäbe, wäre sie in einer größeren Anzahl sichtbar gewesen. Tamar-Mattis (2012), die regelmäßig für an der Behandlung von Intersex-Personen beteiligten Ärzt_innen, Psychiater_innen und Anwält_innen Sensibilisierungsarbeit leistet, hält ihrerseits fest:

8 | URL: http://www.ilga-europe.org/home/news/for_media/media_releases/intersex_forum_2012_media _release [15.08.2013].

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»In der Medizin kursiert die folgende These: Obwohl allgemein bekannt ist, dass Patient_innen mit Sexualdifferenzierungsstörung (DSD) mit ihrer Behandlung unzufrieden sind – wobei die kosmetische Genitalchirurgie, unerwünschte Hormontherapien und demütigende Genitaluntersuchungen ganz oben auf der Liste stehen –, könnten diese in aller Ruhe ignoriert werden, da es neben ihnen eine schweigende Mehrheit von lebensfrohen Patient_innen gäbe, denen es prima ginge. Dies ist ein beruhigender Gedanke, denn er legitimiert die Fehler der Vergangenheit und ermöglicht die Aufrechterhaltung der aktuellen Praxis ohne unbequeme Veränderungen.«

Diejenigen unter uns, die für Personen mit DSD-Diagnose eintreten, begegnen dieser These der schweigenden Mehrheit der Zufriedenen immer wieder. Aber keine_r kann diese Mehrheit ausfindig machen. Nach fast zwei Jahrzehnten des Einsatzes für Patient_innenrechte und der andauernden Debatten, fast zwei Jahrzehnte, während derer sich Hunderte von betroffenen Personen gegen die gängige Behandlungspraxis ausgesprochen haben, hat nicht eine einzige Person mit DSD öffentlich erklärt, diese normalisierende Behandlungspraxis sei doch ganz wunderbar. Nicht eine einzige. Dank einer breiten Vernetzung im Internet konnten Intersex-Personen und sich als DSD-Patient_innen identifizierende Personen wertvolles Wissen über die Erfahrungen Anderer sammeln. So konnten sie auch die Nicht-Existenz dieser »schweigenden Mehrheit« fassen und den an diesem Mythos festhaltenden Ärzt_innen antworten (Karkazis 2008: 266): »Sollen sie doch ihre eigenen Studien führen und all die glücklichen Intersex-Personen interviewen, die sie mit einer Kampagne erreichen können, welche unter dem Zeichen der Glückseligkeit steht, damit deutlich wird, dass sie nur Personen suchen, die nicht aufmüpfig werden, nörgeln oder sich über die monströsen Ärzt_innen und ihr elendes Leben beschweren.«

Erstaunlich ist das in mehreren wissenschaftlichen Artikeln und gemeinsamen Stellungnahmen zu verzeichnende Eingeständnis der Ärzt_innen, dass über die Ergebnisse der unter dem Hopkins-Paradigma wie auch später durchgeführten Eingriffe keine Daten vorliegen. So heißt es beispielsweise im Artikel, welcher von einer Gruppe von Sachkundigen und Ärzt_innen verfasst wurde, die sich als Intersex-Expert_innen betrachten (2006: 496): »Hinsichtlich der psychosozialen Betreuung werden Studien benötigt, um die Effizienz des zeitlichen und inhaltlichen Informationsmanagements auszuwerten. […] Die Effekte früher und später chirurgischer Eingriffe müssen Gegenstand einer holistischen Auswertung sein, welche auch die Herausforderungen, die mit einer sich ständig verändernden klinischen Praxis einhergehen, berücksichtigt.

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Der Consensus hat deutlich einen gravierenden Informationsmangel hinsichtlich der langfristigen Effekte festgestellt.«

Es gibt keinerlei Nachweis dafür, dass nicht operierte Jugendliche stärker Beläs9 tigungen ausgesetzt sind als operierte. Es existieren keine Untersuchungen, die eine Verbesserung oder Verschlechterung des Eltern-Kind-Verhältnisses durch chirurgische Eingriffe belegen würden. Die Befürwortung der Geheimhaltung ist ebenso wenig fundiert. Die Tabuisierung, das Schweigen und die Halbwahrheiten können als solche erkannt werden. Die Eltern können sich nicht über die körperliche Unversehrtheit des Kindes und seinen Zustand bei der Geburt hinwegsetzen. Trotz der Aufforderung zu frühzeitigen chirurgischen Eingriffen, müssen diese oft im Laufe der Kindheit wiederholt werden, sodass sie sich in die Erinnerungen des Kindes einprägen. Tatsächlich sind es diese chirurgischen Eingriffe, welche das Trauma auslösen, denn sie vermitteln dem Kind, dass seine Genitalien zwar nicht bei ihm selbst, aber doch bei den Eltern ein solches Unbehagen auslösen, dass unbedingt und noch bevor es sich selbst dazu äußern kann, Korrekturen vorgenommen werden müssen (ISNA-Dokument, zitiert nach Holmes 2008: 56; Roen 2009). Das Kind merkt, dass es etwas Unsagbares an ihm gibt, was seine Neugierde weckt und es dazu bewegt, die notwendigen Informationen einzuholen, um das Geschehene verstehen zu können, aber gleichzeitig auch ein tiefes Gefühl des Verrates durch Ärzt_innenschaft und Eltern verursacht (Karkazis 2008; Intersex-Erfahrungswissen). Die den pathologisierenden Ansätzen zugrunde liegende Ethik selbst kann in Frage gestellt werden. Holmes (2008) argumentiert, dass die Eltern den chirurgischen Eingriffen an ihren Kindern vor allem deswegen zustimmen, weil Intersexualität von der Ärzt_innenschaft generell als medizinische Störung oder Krankheit dargestellt wird – auch wenn keine Gefahr für die Gesundheit des Kindes besteht, wie dies beispielsweise beim Salzverlust des Adrenogenitalen Syndroms (AGS) der Fall wäre. In dieser Hinsicht kann festgehalten werden, dass die Eltern in die Irre geführt werden (Holmes 2008: 54; 10 Kessler 1990). Nicht nur machen es die Ärzt_innen den Eltern unmöglich, ihr Kind als gesund wahrzunehmen, auch stützen sie sich in ihren Erklärungen auf die Annahme, dass das Kind ein er oder eine sie sein muss, ohne einer Entwicklung als si_er oder weder-noch Raum zu lassen (Holmes 2011). Um einen Ansatz der freiwilligen Zustimmung zu etablieren, müssen Ärzt_innen die Erwartungs- und Glaubenshaltungen der Eltern hinsichtlich der 9 | Hierzu bieten die Erfahrungsberichte von Hida Viloria und Nthabiseng Mokoena als unversehrten IntersexPersonen kraftvolle Beispiele für die Möglichkeit einer Selbstentfaltung ohne Chirurgie und Hormontherapie. 10 | Ferner: »Es stellt sich die Frage, ob durch diese Darstellungsweise von Intersexualität nicht zu wenig Informationen geliefert wird, als dass eine wahrhaft aufgeklärten Zustimmung möglich wäre.« (S. 55).

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Geschlechtervielfalt korrigieren. Zudem muss überlegt werden, inwiefern insbesondere Kinder in der Lage sind, unter einem Paradigma, welches seine Geschlechtlichkeit als Fehler (der Natur), Störung oder Syndrom darstellt, eine wahrhaft freiwillige Zustimmung zu geben. Diese Kritik an der Pathologisierung mag bei manchen Verunsicherung auslösen. Allerdings beruht die Annahme, Intersex-Personen hätten ein unvollständiges, unter- oder überentwickeltes, mangelhaftes, fehlerhaftes, gestörtes oder anormales Geschlecht, auf einer teleologischen Perspektive, die Gott durch die Natur ersetzt hat – mit dem Glauben an eine Intention, die von vermeintlichen Zwecken, Zielen und Funktionen abgelesen wird (Bastien Charlebois 2011). Außerdem verhindert diese Einstellung eine gründliche Analyse der Geschlechtsentwicklungen (Voß 2010). 1999 gründete sich eine Gruppe, die der American Urologist Association entsprang und Fachärzt_innen und Patient_innenvertreter_innen vereinte. Unter dem Namen NAFTI (North American Task Force on Intersexuality) hat sie sich insbesondere zum Ziel gesetzt, Studien über die langfristigen Effekte chirurgischer Eingriffe auf den psychosexuellen Zustand der Patient_innen 11 durchzuführen, um den diesbezüglichen Informationsmangel zu beheben. Einige Jahre später musste diese Gruppe ihre Tätigkeit jedoch aus den fünf folgenden Hauptgründen wieder einstellen: Hürden bei der Mittelbeschaffung, Unmöglichkeit einer Definition vertretbarer ethischer Parameter für solche Forschungsaktivitäten, Schwierigkeiten, die Patient_innen zu erreichen, Probleme bei der Datenrepräsentativität und Angst, in die Kritik der Intersex-Personen zu geraten und verklagt zu werden. Bevor stichhaltige, repräsentative Daten erhoben werden können, müsste zunächst das Schweigen um die Situation vieler Intersex-Patient_innen gebrochen werden. Wie soll das Wohlbefinden von Personen bemessen werden, die noch nicht wissen, dass sie sich chirurgischen Eingriffen unterzogen haben, ohne sie darüber zu informieren? Ohne Geheimnisbruch können sie einer solchen Studie nicht völlig zustimmen, da sie nicht ausführlich über die Vergangenheit informiert sind. Zudem scheint es unmöglich oder zu schwierig zu bewerkstelligen, erwachsene Patient_innen ausfindig zu machen. Viele sind umgezogen und haben keinen Kontakt mehr zu den Klinikärzt_innen. Zu dieser erschwerten Erreichbarkeit kommt die Schwierigkeit, Personen zu gewinnen, die schlechte Erfahrungen mit chirurgischen Eingriffen gemacht haben und Ärzt_innen kaum Vertrauen schenken. Allein der Titel des Forschungsprojekts könnte bestimmte Menschen von der Teilnahme abschrecken, je nachdem ob die Begriffe ›Intersex‹ oder ›DSD‹ verwendet werden. Schließlich haben mehrere Oberärzt_innen Vorbehalte gegen 11 | Weitere Ziele waren: Festlegung von Regeln für die Betreuung von Intersex-Kindern, Überlegungen zu den ethischen Dimensionen der aktuellen Behandlungsstandards und Entwicklung neuer Grundsätze für medizinisches Handeln.

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eine Öffnung der medizinischen Akten ihrer Patient_innen formuliert, da sie befürchten, einer ganzen Gruppe von Personen gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen oder von diesen verklagt zu werden (Karkazis 2008). Durch die Politik des Schweigens werden die medizinischen Praktiken unwiderlegbar. Die Positionen des Hopkins-Paradigmas aufrechtzuerhalten und die von Intersex-Personen verbreiteten Erfahrungen und Analysen abzulehnen, obwohl es einen gravierenden Mangel an Beweisen für die Erwünschtheit dieses Paradigmas gibt und es unmöglich ist, seine Positionen formell zu widerlegen, wäre nicht nur bös- sondern auch gutgläubig. Ferner berichtet Karkazis (2008), dass die von ihr interviewten Ärzt_innen selbst auf anekdotische Informationen zurückgreifen. Sie stützen sich entweder auf ihre eigenen klinischen Erfahrungen oder auf die ihrer Kolleg_innen. Dabei wird Letzteren mehr Glaubwürdigkeit geschenkt als jenen Personen, welche unmittelbar von der Medikalisierung betroffen sind. In dieser Hinsicht ist der Fall John/Joan besonders bedeutsam, da er – auch als Einzelfall – stark zur Infragestellung der These einer Formbarkeit des sozialenGeschlechts beigetragen hat. Folgendes Zitat veranschaulicht, wie ein Arzt legitimieren kann, wissenschaftlich nicht korrekt zu arbeiten und sich auf seinen allgemeinen Eindruck einer Patientin zu stützen (Karkazis 2008: 278): »Ich brauche keine Studie. Meine Erfahrung als Kliniker erlaubt mir, die langfristigen Ergebnisse zu beobachten, wenn Personen wiederkommen und mit mir darüber reden. Ein Mädchen, bei der ich eine Vaginoplastie durchgeführt habe, war erst heute in meiner Praxis. Sie war ein Intersex-Baby und es geht ihr sehr gut – sie gehört zu den Personen, deren Geschlecht umgewandelt wurde und [es geht ihr] wunderbar.«

Nach welchen Kriterien beurteilt er, dass es ihr sehr gut/wunderbar geht? Nach seinen oder nach ihren? Heißt, dass es ihr sehr gut geht, dass es keine chirurgischen Komplikationen gab? Dass sie glücklich ist? Dass sie eine weibliche Identität hat? Dass sie ein Sexualleben hat? Dass sie mit den Ergebnissen der chirurgischen Eingriffe zufrieden ist? Wie wird also es geht ihr gut definiert? Könnte es zudem sein, dass Ärzt_innen aus Angst, gescheitert zu sein oder einer Person Schaden zugefügt zu haben, Informationen filtern (Karkazis 2008)? Zudem dürfte es in Anbetracht der Autoritätsposition von Ärzt_innen vielen Intersex-Personen schwerfallen, Unbehagen, Zweifel oder Kritik bezüglich seines Handelns zu formulieren. Hier kann angemerkt werden, dass dies auch den Erfahrungen der Hauptautorin entspricht.

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Verletztes Ego versus gebrochene Unversehrtheit – ein Ausblick Eine gründliche Analyse der medizinischen Positionierung in Bezug auf Kinder mit atypischem Geschlecht muss eine Auseinandersetzung mit der ihr oft zugrunde liegenden Annahme beinhalten, dass es möglich sei, ohne die Zustimmung einer Person zu ihrem Besten zu handeln. De facto impliziert hier dieses Beste ein Nicht-Zuhören und eine Nicht-Anerkennung der Anderen als Personen, die für sich selbst Entscheidungen treffen können. Wer kann bestimmen, ob eine Operation oder ein Eingriff erfolgreich war oder nicht, wenn nicht die betroffene Person? Für die medizinischen Autoritäten kann Erfolg in der Entsprechung mit der ästhetischen Norm liegen. Für Intersex-Personen bedeutet Erfolg nicht unbedingt, dass sie einem Geschlecht zugewiesen werden, in dem sie sich wohl fühlen, sondern eher, dass sie ihre körperliche Selbstbestimmung sowie ihre sexuelle und orgastische Erlebnisfähigkeit bewahren und sich begehrt und begehrenswert wissen. Manche Ärzt_innen und Eltern mögen in der Medikalisierung ohne Zustimmung des Kindes den besten Weg gesehen und das Bedauern und die starke Missbilligung der Intersex-Personen mit Verwunderung wahrgenommen haben. Für sie ist es zweifellos leichter zu denken, diese negativen Ergebnisse spiegelten lediglich schlechte Behandlungspraktiken ihrer Kolleg_innen wider und nicht einen grundlegend fehlerhaften Ansatz. Die Vorstellung, gute Absichten führten zu guten Ergebnissen oder schützten vor Kritik und In-Fragestellung des eigenen Handelns, ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Tatsächlich wurden vielen Handlungen mit negativen Konsequenzen eine gute Absicht zugesprochen. Wir sind der Auffassung, dass gute Absichten dann zu guten Ergebnissen führen, wenn sie einer vollen Anerkennung der Fähigkeit der Anderen zur Definition ihrer eigenen Bestrebungen entspringen. Dies setzt allerdings voraus, dass den Anderen zugehört wird, sie als glaubwürdig erachtet werden und nicht gegen sie agiert wird. Von uns als Professor_innen, Forscher_innen oder Fachpersonal verlangt dieses Zuhören die Fähigkeit zum Zweifeln, die Bereitschaft zur Selbstkritik und eine bescheidene Haltung. Als Wissensproduzent_innen verfügen wir über eine gewaltige Machtposition. Kritik kann verletzen – allerdings ist es wichtig, den Kontext, in dem sie formuliert wurde, nicht aus dem Blick zu verlieren. Wer befindet sich innerhalb dieser Dynamik in der Machtposition? Welchen Risiken sind die Ärzt_innen ausgesetzt? Sind diese Risiken gravierender als jene, die die Intersex-Personen betreffen, d.h. die Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit, die Herabwürdigung ihres Seins, die Entstehung schwerer Schamgefühle, der Verlust ihrer Orgasmusfähigkeit oder die Verringerung ihres Sexualempfindens, der Vertrauensverlust ihren Eltern gegenüber, die Isolation, die Nicht-Anerkennung ihrer

Operationen an der Front der Glaubwürdigkeit

Verletzungen oder das Absprechen ihrer Existenz? Die Ärzt_innenschaft wird nicht mehr lange die Illusion aufrechterhalten können, dass wir uns nicht als soziale Akteur_innen informieren und die uns betreffenden medizinischen Diskurse überprüfen und analysieren würden, dass wir keine eigenen Überlegungen und kritischen Analysen entwickelten und in den institutionellen Räumen, in denen Expert_innenwissen entsteht, vertreten seien. Und vielleicht werden wir die Lage verbessern, da die Sichtbarkeit von Intersex-Personen dazu beitragen wird, unsere Existenz zu entdramatisieren und deren Schönheit aufzuzeigen.

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Kapitel 6: Erziehung/Begleitungspraxis

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, die sich jenseits der binären Geschlechternorm entwickeln Karin Weyer

Zusammenfassung Zu Beginn dieses Beitrags werden zwei Ausgangshypothesen dargelegt, daraufhin werden einige fundamentale Annahmen der Bindungstheorie dargelegt. Es folgt je ein Exkurs über Normalisierung und über die Rhetorik der Differenz. Der Beitrag diskutiert abschließend die Frage, was ein Kind benötigt, um seine Eigenheiten und Differenzen positiv zu leben.

Einleitung Von der Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung für die Entwicklung eines Menschen zu sprechen ist leicht. Die Datenlage hierzu ist äußerst gut. Die Studien sind seit Jahrzehnten in den Ergebnissen konsistent (Grossmann 1988; Grossmann u.a. 1997; Grossmann/Grossmann 2009; Laucht 2003). Es gibt kaum ernstzunehmende Kritik an den Ergebnissen der Bindungstheorie, wie sie sich seit Bowlby (1955) und Ainsworth (1985) entwickelt hat. So war Bowlby noch sehr auf die Mutter als einzig mögliche Bindungsperson fixiert. Heute weiß man, dass die Bindungsfunktion weder an das Geschlecht noch an die biologische Elternschaft gebunden ist (Grossmann/Grossmann 2009). Die extrem hohe Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung für die Entwicklung eines Menschen ist zudem unbestritten (Grossmann/Grossmann 2009; Strauss 2008). Hier könnte der Artikel mit dem Verweis auf die entsprechenden Studien beendet sein.

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Was jedoch bedeuten die wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse der Bindungsforschung auf die Entwicklung von sog. LGT 1-Kindern und -Jugendlichen, d.h. für homosexuelle Jugendliche bzw. Kinder und Jugendliche, deren geschlechtliche Selbstverortung nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde?2 Die Fragestellung wird immer wieder sein: Welche Erkenntnisse liefert die Bindungstheorie? Und daraus extrapoliert: Was bedeutet das für Kinder, die sich anders entwickeln, jenseits der dualistischen Gendernorm und der Zwangsheterosexualität. Es geht um begründete Hypothesen, deren wissenschaftliche Prüfung noch aussteht.

Ausgangshypothesen Die erste Ausgangshypothese geht von der Seite der Eltern aus. Eine sichere ElternKind-Bindung ist seitens der Eltern eine sehr gute Voraussetzung, um ein Kind auf seinem eigenen (im doppeldeutigen Sinn des Wortes) Weg zu unterstützen. Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind. Was das ist, meinen sowohl sie als auch wichtige Andere (Großeltern, Lehrer_innen, Nachbar_innen, die Arbeitskolleg_innen etc.) schon zu wissen, bevor das Kind auf der Welt ist. In dem realen Zusammensein mit ihrem Kind lernen die Eltern dann, welcher kleine Mensch ihnen anvertraut wurde und, sofern die Eltern feinfühlig genug sind, werden sie auch merken, was das Beste im Sinne des Kindes ist. Es gab eine Zeit, da meinten Eltern, Großeltern, Lehrer_innen, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_innen und Ärzt_innen, das Beste sei, das Kind nicht zu stillen.3 In meiner Praxis als Psychologin erlebe ich immer wieder Mütter, die auch heute noch mit fast schlechtem Gewissen sagen: »Aber mir war es wichtig, mein Kind zu stillen, und ich habe es getan«. Diese Mütter haben sich durchgesetzt, sich für ihr Kind eingesetzt gegen den damals herrschenden Zeitgeist. Woher haben sie die Kraft genommen? Die Mütter antworten mir auf die Frage oft: »Die Liebe zu meinem Kind hat mich stark gemacht«. Fachleute nennen diese Liebe auch Feinfühligkeit den Signalen des Kindes gegenüber und daraus resultierende Bindung. Eine vergleichbare Kraft brauchen Eltern, wenn sie sich für ihr homosexuelles Kind bzw. für ihr Kind, wenn dies nicht den Geschlechternormen entspricht, einsetzen. Der Zeitgeist, die Gesellschaft, Großeltern, Lehrer_innen, Nachbar_innen, die Arbeitskolleg_innen haben ihre Vorstellungen. Das vermeintlich Beste fürs Kind sei Anpassung, so sein wie alle Anderen, so die oft vertretene Meinung.4 1 | Lesbisch, Gay, Trans. 2 | Die im Konzept LGBT eingeschlossenen bisexuellen Jungendlichen, sind hier ausgelassen. 3 | Persönliche Berichte von Müttern in der Therapie. Die WHO empfiehlt Kinder bis zum Alter von zwei Jahren zu stillen. Aber auch das ist in Luxemburg eher selten und erfordert viel Selbstbewusstsein der Mütter. 4 | In Supervisionen in Luxemburg habe ich öfters gehört, dass es die Aufgabe der Erzieher_in ist, dem Kind beizubringen, zu funktionieren und sich anzupassen. Diese Aussagen stammen sowohl von Erzieher_innen, die schon länger im Beruf sind, als auch von Erzieher_innen, die erst vor ein zwei Jahren ihren Abschluss gemacht haben.

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern

Die Eltern benötigen auch hier die Feinfühligkeit, um die Signale des Kindes zu verstehen, und die Bindung gibt ihnen die Kraft, auf der Seite des Kindes zu bleiben oder immer wieder dahin zurückzukehren. Soweit die erste Hypothese: Eine sichere Eltern-Kind-Bindung ist eine sehr gute Voraussetzung auf Seiten der Eltern, um ein Kind auf seinem eigenen (im doppeldeutigen Sinn des Wortes) Weg zu unterstützen. Die zweite Ausgangshypothese geht von der Seite des Kindes aus. Sichere Bindung ist auf Seiten der Kinder sowohl die beste Voraussetzung, ihre eigenen Potentiale zu entfalten als auch der beste Schutz gegen destruktive Effekte von Anpassungsdruck und eventuellen Anfeindungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Um ein stabiles Haus zu bauen, bedarf es eines guten Fundamentes. Das Fundament für die Entwicklung des Menschen ist eine sichere Bindung. Wenn das gegeben ist, kann das Kind sich spannenderen Dingen, nämlich dem Leben, zuwenden, sich ausprobieren, seine Potentiale entdecken und entwickeln. Hierbei braucht das Kind Begleitung und Unterstützung. Jedoch ist die Voraussetzung dafür, dass das Entdecken und Entwickeln der Potentiale eines Kindes überhaupt geschehen kann, die sichere Bindung. Andernfalls ist das Kind zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, ob die Beziehung zu den Eltern stabil ist, ob es wirklich geliebt wird oder ob es sich vor Verletzungen schützen muss. Die sichere Bindung bildet ein Sicherheitsnetz, welches die kleinen und großen Unwägbarkeiten des Lebens abfedert. Ob es der Hund ist, der stirbt, oder die Eltern, die sich trennen, oder andere kleine und große Dramen des Kinderlebens – eine sichere Bindung bietet einen Schutz. Dieser Schutz hilft dann vermutlich auch, wenn es um Anpassungsdruck, Anfeindungen und Ausgrenzungen geht. An dieser Stelle soll verdeutlicht werden, dass ich mit den beiden Hypothesen davon ausgehe, dass der sicheren Bindung eine zentrale Stelle für die psychisch gesunde Entwicklung eines Kindes zukommt. Ist diese Bindung jedoch instabil, kann die weiterhin notwendige Begleitung und Unterstützung des Kindes weniger fruchtbar und hilfreich sein, wie sie es im Fall einer sicheren Bindung sein könnte und sollte.

Definitionen und wissenschaftliche Basis Zunächst folgt ein kurzer Überblick über das, was als sichere Bindung gilt und welche Effekte sie auf die spätere Lebensgestaltung hat. Sichere Bindung: Die gesamte Forschung zur Bindung geht auf John Bowlby (1955) zurück und wurde

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von Mary Ainthworth (1985) weitergeführt. Im deutschsprachigen Raum sind zentrale Vertreter_innen dieser Forschung Klaus und Karin Grossmann (2009) sowie Karl Heinz Brisch (2009). Bindung ist das emotionale Band, das sich zwischen einem Erwachsenen, in der Regel einem Elternteil, und einem Säugling bzw. Kleinkind entwickelt. Die Qualität dieses Bandes kann sehr unterschiedlich sein. Die sichere Bindung ist die Qualität, die am besten trägt, im wahrsten Sinn des Wortes einen Menschen durch sein Leben trägt. Der Aufbau einer sicheren Bindung in der frühen Kindheit führt später z.B. dazu, dass ein Kind eine höhere soziale Kompetenz entwickelt, weniger Auffälligkeiten, eine bessere kognitive Fähigkeit entfaltet und seine Potentiale ausleben kann. Man kann also sagen, dass eine sichere Bindung der beste Schutz für die Unwägbarkeiten eines Kinderlebens bietet und darüber hinaus eine protektive, also schützende Wirkung im Erwachsenenleben hat. Es ist die Sicherheit, bei Bedarf auf Hilfe und Unterstützung zurückgreifen zu können. Das Kleinkind, das auf dem Spielplatz von der Mutter wegkrabbelt, innehält, zurückschaut und nach einem aufmunternden Zunicken der Mutter weiterkrabbelt. Oder das Kleinkind, das zur Mutter auf den Schoß kommt, nachdem es gefallen ist und sich wehgetan hat. Dabei ist Bindung weder mit Liebe noch mit eine Beziehung zum Kind haben gleichzusetzen. Liebe gehört sicher dazu und eine Beziehung zu haben, ist eine Voraussetzung für Bindung. Bindung zeichnet sich jedoch durch die Kontinuität, Intensität, Tiefe und Intimität der Beziehung aus. Wenn Eltern – wie ich es erlebt habe – ihr ein Monate altes Baby drei Wochen bei den Großeltern lassen, um in Urlaub zu fahren, stimmt etwas nicht. Auch frage ich mich oft, wie sich eine Bindungsbeziehung entwickeln soll, wenn das Kind, wie in Luxemburg des Öfteren der Fall, ab dem zweiten Lebensmonat wochentags 8-12 Stunden täglich in der Krippe verbringt. In solchen Situationen erhöht sich das Risiko für eine Bindungsstörung.5

Wodurch wird die Entstehung einer sicheren Bindung verhindert? Keine sichere Bindung bedeutet unter anderem mangelnde Unterstützung des Kindes, wenn es sich jenseits der sogenannten Norm entwickelt. Im Folgenden werden einige Gespenster benannt, die sich des Öfteren in Kinderzimmern aufhalten und verhindern, dass sich eine sichere Bindung entwickeln kann. Es wird hier der Begriff ›Gespenster‹ verwendet, weil es sich um unsichtbare Phänomene handelt, deren Wirkung als gefährlich einzuschätzen ist, wobei zwischen den Gespenstern I und II unterschieden werden kann.

5 | Bertelsmann-Stiftung (2007); Brisch, K. H., Hellbrügge, T. (2003); Stroppel, S., Weyer, K. (2007).

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern

Mit Gespenstern I sind diejenigen gemeint, die aus der frühen Kindheit der Mutter hervorgegangen sind und die eine sichere Bindungsentwicklung verhindern können. Bei diesen Gespenstern I im Kinderzimmer handelt es sich u.a. um eigene schlechte Erfahrungen der Mütter, bzw. derjenigen Person, die die meiste Zeit mit dem Kind verbringt und den Hauptanteil an der Pflege übernimmt. Wenn diese Person als Kleinkind selber nicht genügend feinfühlige Pflege erfahren hat und vielleicht noch unter Vernachlässigung gelitten hat, ist die Gefahr groß, dass sie nicht fähig ist, feinfühlig genug auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Ferner handelt es sich um traumatische frühkindliche Erfahrungen und Vernachlässigung der Mütter, die zu Neuinszenierungen im Kinderzimmer führen. Mit den Gespenstern II sind diejenigen gemeint, die sich nicht so einfach auf einzelne konkrete Erfahrungen der Mütter zurückführen lassen. Es handelt sich dabei eher um allgemeine, meist übernommene Richtlinien des Verhaltens und Seins, welche auf die Kinder übertragen werden. Nicht so sein dürfen, wie ich bin. Unterordnung, Funktionieren, Angst vor Ausgrenzung und damit einhergehender Anpassungsdruck, Ideologien und Religionen sowie gesellschaftlicher Druck spielen hier u.a. eine bedeutsame Rolle. Je mehr sich von diesen Gespenstern im Kinderzimmer tummeln, umso mehr werden sie die Entwicklung einer sicheren Bindung zu verhindern wissen. Der gesellschaftliche Druck ist die eine Seite, die andere sollte die wahre Wertschätzung von Unterschieden sein, was leider oft nicht der Fall ist. Politisch korrekt wird die Vielfalt zwar beschworen, aber leider handelt es sich oftmals um reine Rhetorik.

Rhetorik der Differenz Von Diversity Management ist immer häufiger die Rede, auch Gendermainstreaming und Genderpädagogik6 wird zunehmend thematisiert. Allerdings gilt es, bei diesen Initiativen nachzufragen, wie viel Vielfalt wirklich erwünscht ist. Wie viel Differenz wollen wir ertragen, leben, fördern? Erinnern Sie sich an die Werbung vor Jahren, in der eine Reihe von Männern in der immer gleichen Uniform, genannt Anzug, saß und einer hatte es gewagt, farbige Socken anzuziehen? Hierbei handelte es sich um eine Werbung für Vielfalt. Und genau das ist mein Eindruck von jener Vielfalt, die von weiten Teilen der Gesellschaft gerade mal so toleriert wird. Angepasste Vielfalt als Differenz, die sich vielleicht in der Hautfarbe oder bei der sexuellen Orientierung zeigt. Aber beim uniformen Kleidungsstil – zumindest für Männer – ist

6 | Ministère de l´égalites des chances (2012).

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Schluss mit der Akzeptanz oder gar Toleranz, gar nicht zu reden vom Habitus, wenn es z.B. um sogenanntes feminisiertes Verhalten von Männern geht. Näher an den aufgeworfenen Themen gelagert ist folgendes Beispiel aus der Genderpädagogik: Vor einigen Jahren hat das damalige luxemburgische Frauenministerium einen Vortrag zur geschlechtergerechten Pädagogik organisiert. Als Mitarbeiterin in dem Ministerium hatte ich damals den Titel »Anna baut einen Turm und Paul färbt sich die Fingernägel« vorgeschlagen. Dieser wurde abgelehnt und letztendlich hieß der Vortrag: »Anna baut Türme und Paul strickt einen Schal«. Die Homophobie und Transphobie hinter der Entscheidung ist nicht zu verheimlichen. Ein Junge darf stricken, aber bei den Fingernägeln hört der Spaß der Genderpädagogik dann doch auf. Bei der vielbeschworenen Multikulti-Gesellschaft geht es mir oft ähnlich. Da schreibt sich eine Kinderbetreuungseinrichtung Multikulti auf die Fahnen und die Kinder dürfen ihre Muttersprache nicht sprechen. Sprechen sie diese dennoch, werden sie bestraft. Welche Wertschätzung für die anderen Kulturen wird dadurch vermittelt? Eine andere pädagogische Einrichtung hat im Konzept festgeschrieben, dass sie auch offen für Menschen mit Behinderungen seien. Auf meine Frage als Supervisorin, wie denn ein Rollstuhlfahrer in die Einrichtung kommt, entwickelte sich eine Diskussion, deren Ergebnis war, dass es relativ problemlos möglich wäre, einen solchen Zugang zu schaffen. Allerdings waren Mitarbeiter_innen aber nicht bereit, auf ihren Parkplatz zu verzichten, der dafür hätte geopfert werden müssen. Einerseits die Offenheit gegenüber Behinderten schriftlich niederzulegen und dann aber andererseits im Alltag nicht umzusetzen, erstaunt. Durch meine Rückfrage wurde eine Diskussion angeregt und schlussendlich der Passus der Zugänglichkeit ehrlichkeitshalber aus dem Konzept entfernt. Vielfalt erfordert viel mehr als Rhetorik, es handelt sich um einen Prozess, der spannend sein kann, sofern man sich auf ihn einlässt. Es handelt sich jedoch auch um einen Prozess, der Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten und Sicherheiten in Frage stellt und einem immer wieder die Grenzen der eigenen Toleranz aufzeigt. Sich darauf einzulassen, ist manchmal anstrengend und erfordert eine Wachsamkeit, um das eigene ausgrenzende und normierende Verhalten zu erkennen, zu reflektieren und zu verändern. In einem letzten Beispiel wird aufgezeigt, wie wenig Differenz wir eigentlich erlauben und zulassen. Kinder, die spielen, springen, toben, die nicht fähig und willens sind, sich im Alter von 3, 4 und 5 Jahren einem überwiegend sitzenden Alltag anzupassen, werden medikalisiert. ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit- und

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern

Hyperaktivitäts-Syndrom) ist die Diagnose, Methylphenidat die Droge der Wahl. In der Schule und den Betreuungseinrichtungen soll das Kind funktionieren, sitzen, am besten still sitzen, und schön spielen, am besten am Tisch, eventuell noch in der Spielecke. Wir wollen ja die Fähigkeiten und Potentiale der Kinder fördern, sofern sie den strikten Ablauf nicht stören. Mehr Differenz wird wegmedikalisiert, dann geht es im Gleichschritt zum Händewaschen. Ach so, ja bei den Kleinen nennen wir das pädagogischer einen Zug zum Händewaschen machen. Die Quintessenz aus meinen Beobachtungen könnte lauten: Wenn Differenz auf der Verpackung steht oder in einem Konzept, sollte sie auch verwirklicht sein. Diesen Exkurs möchte ich schließen, indem ich die Freuden und den Erkenntnisgewinn hervorhebe, den es bringt, sich tatsächlich auf Vielfalt einzulassen. Heute freue ich mich immer, wenn mir nochmal ein altes Vorurteil bewusst wird, wenn ich über meine eigenen Grenzen stolpere und diese wieder ein Stück weiter in Richtung auf Mehr-Verstehen, Mehr-Sehen und Mehr-Einschließen verschieben kann. Denn nur die Selbstverständlichkeiten, Verallgemeinerungen und Vorurteile, die mir bekannt sind, die mir auffallen, kann ich verändern.

Was braucht ein Kind, um ein erfülltes Leben in Differenz führen zu können? Wissen beim Kind Die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten können einem Kind von Geburt an deutlich gemacht werden. Eine sehr religiöse Freundin fragte einmal: »Muss man nicht zuerst die Biologie, d.h. das Normale erklären?« So eine Frage unterstellt Abweichung, Anomalität etc. Das habe ich auch gesagt – früher. Aber als unser Sohn im Alter von drei Jahren fragte, ob er später eine Frau werde, war ich doch in der ersten Reaktion ganz bei der Freundin und sagte: »Du bist ein Junge und wirst später ein Mann«. Da ich zu jener Zeit schon an diesem Vortrag arbeitete, war ich nicht ganz glücklich über meine Antwort. Hätte ich nicht sagen sollen, dass sich das später herausstellen wird, oder gar: »Das kannst Du später entscheiden«. Auch das wäre nicht ganz befriedigend gewesen. Die ganze Komplexität der korrekten Antwort ad hoc kindgerecht zu formulieren und in die Aufmerksamkeitsspanne von zwei bis drei kurzen Sätzen zu packen, war mir schlicht nicht möglich. Und vielleicht ist es auch nicht möglich. Aber was dann? Meine vorläufige Lösung, sollte er nochmals fragen, werde ich keine

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Antwort geben, sondern nachfragen: »Was ist denn deiner Ansicht nach eine Frau, ein Mann?« oder »Wieso fragst du, ob du eine Frau wirst?«

Offenheit der Eltern und ein Klima der tatsächlichen Wertschätzung von Unterschieden Obwohl es vielleicht gut, richtig und einfach klingt, ist es das jedoch nicht. Wir sind alle aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der es Vorurteile gab und gibt. Bewusst können wir uns entscheiden, diese beiseite zu legen. Denn noch zeigen viele Untersuchungen (Stapel/Koomen 1998), dass Vorurteile (auch solche, die wir bewusst zurückweisen – und manch' andere sind uns vielleicht einfach nicht ganz bewusst), wirken. Das zeigt z.B. der Implicit Association Test zu allen möglichen Vorurteilen. Der Test ist im Internet zu finden7; es geht um Themenbereiche wie Gender, sexuelle Orientierung, Religionen, Hautfarbe, Behinderung. Mit dem Test werden implizite Assoziationen zu Begriffen erfasst. In der Regel sind die Reaktionen der Menschen signifikant schneller, wenn die vorgeschlagenen Assoziationen den gängigen Klischees entsprechen, wie z.B. Mann und Erfolg. Wenn wir Vorurteile explizit bearbeitet haben, heißt das eben noch lange nicht, dass wir völlig frei davon sind. Hier hilft meiner Ansicht nur, auftauchende Vorurteile wahrzunehmen und als eine Gelegenheit zu nutzen, uns wieder einmal besser kennen zu lernen. Ein »Ich bin tolerant und habe keine Vorurteile« ist in der Regel eine maßlose Selbstüberschätzung und ein Selbstbetrug, der darüber hinaus niemandem dienlich ist.

Unterstützung des eigenen Weges des Kindes Erkennen, wertschätzen und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bieten meint nicht den Ballettunterricht für Zwei-Jährige oder den Musikförderkreis für Krabbelkinder. Den Weg des Kindes zu unterstützen, erfordert auch Mut von Seiten der Eltern. In vielen Situationen müssen die Eltern entscheiden, ob sie das Kind unterstützen oder versuchen, eine eventuell auftretende Schwierigkeit zu vermeiden. Ein anschauliches Beispiel habe ich in meinem privaten Umfeld vor kurzem selbst erlebt. Als unser Sohn beim Spielzeugtag im Kindergarten, an dem die Kinder ein Spielzeug von Zuhause mitbringen können, seinen Puppenwagen engagiert mit Windel, Nuckelflasche und Wechselkleidung bestückte, gab es bei uns einen kurzen Moment der Irritation und die Frage, ob wir nicht versuchen sollten, umzulenken und ein anderes Spielzeug mitzunehmen. Die Fragen und Gedanken waren in etwa: »Er ist so stolz und so engagiert beim Vorbereiten seines Puppenwagens, hoffentlich wird das nicht kaputt gemacht«.

7 | Implicit Association Test (IAT). URL: https://implicit.harvard.edu/implicit/demo/ [14.07.2013].

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern

»Wird er ausgelacht werden?« »Oh je, der Sohn eines lesbischen Paares bringt einen rosa Puppenwagen mit … mit allen Vorurteilen, die es so geben mag …«. Er durfte unsererseits den Puppenwagen dennoch mitnehmen und wir bereiteten uns darauf vor, unseren möglicherweise gekränkten und/oder verletzten Sohn nach dem Kindergartenaufenthalt seelisch wieder aufzubauen. Es kam jedoch anders. Die Erzieherin berichtete uns, dass der Puppenwagen sehr beliebt war, vor allen bei den Jungs. Sie sagte, dass es vielleicht gut war, dass ein Junge den Puppenwagen mitbrachte, dann konnten die anderen Jungs sich auch mal gefahrlos dafür interessieren. Das Kind unterstützen wollen alle Eltern, jedoch den kritischen Blicken der Schwiegermütter und Väter sowie der Nachbar_innen und wem auch immer zu begegnen, ist nicht immer so leicht. Eltern müssen das Wissen, die Offenheit und Wertschätzung nicht mitbringen, aber eine sichere Eltern-Kind-Bindung ist die beste Voraussetzung dafür, dass Eltern bereit sind, sich das anzueignen oder zu entwickeln. Ein weiteres Beispiel aus meiner eigenen Biografie mag diesen Entwicklungsprozess auf Seiten der Eltern deutlich machen. Als kleines Mädchen wollte ich partout keine Kleidchen anziehen. Jeder Versuch meiner Mutter endete in einem Kampf mit Tränen und schlechter Laune auf allen Seiten. Als ich etwa drei Jahre alt war, hatten die Kämpfe aufgehört. Meine Mutter wollte vor allem, dass ihr Kind glücklich ist und hat das mit den Kleidchen weitgehend gelassen. Bei der ersten Kommunion gab es einen Kompromiss zwischen Anpassung und Eigenständigkeit. Für den Kirchgang wurde das Kleid angezogen und sofort danach gab es eine schicke Hose. Aus heutiger Sicht ist das keine ideale Unterstützung des Kindes. Aber vor knapp 40 Jahren war es ein guter Kompromiss, der die Wünsche des Kindes zu achten suchte. »Ich weiß, dass du das Kleid nicht magst und das ist in Ordnung«, dies war die eine Botschaft und die andere lautete: »Mir ist es wichtig, ich will nicht mit den Lehrern, der Oma und dem Pfarrer Stress haben, es soll für alle ein schöner Tag werden«. Es sind jetzt einige Dinge benannt, die Erwachsene tun können, um ihr Kind zu unterstützen. Aus einer sicheren Eltern-Kind-Bindung erwächst somit die Kraft, die Eltern benötigen, um für ihr Kind zu kämpfen und weitgehend Einfluss zu nehmen auf die Institutionen, denen das Kind ausgesetzt ist, damit es auch dort einen Rahmen vorfindet, der es in seinem Sein und in seiner Entwicklung unterstützt. Die Gespenster, die sich aufgrund eigener schlimmer frühkindlichen

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Erfahrungen der Eltern entwickelt haben, werden am besten innerhalb einer Psychotherapie gejagt und unschädlich gemacht. Die Psychotherapie sollte günstigstenfalls vor dem Zeitpunkt liegen, an dem diese Personen Eltern werden. Die sich aus Glaubenssätzen ergebenden und die gesellschaftlich bedingten Gespenster können durch Selbstreflektion, Selbsterfahrung, Austausch mit anderen, Offenheit und Neugierde beeinflusst und unschädlich gemacht werden. Sich für sein Kind einzusetzen, es zu begleiten, die nötigen Kämpfe mit dem Kind und je nach Situation und Alter auch für das Kind führen, erfordert einiges an Kraft von den Eltern. Diese Kämpfe beinhalten Gespräche mit den Erzieher_innen im Kindergarten, den Lehrer_innen in der Schule ggf. auch mit Ärzt_innen und anderen, beispielsweise darüber, ob nicht andere Bilderbücher im Kindergarten angeschafft werden sollen, z.B. »Zwei Papas für Tango«, oder Gespräche darüber, dass der Sohn sich rosafarbenen Plüschschlappen ausgesucht hat und man erwartet, dass die Erzieher_innen diese Wahl positiv unterstützen, sollten andere Kinder das belächeln. Die Lehrer_innen sollten darauf aufmerksam gemacht und aufgefordert werden, dass sie Ausdrücke und Begriffe wie ›Igitt, der ist schwul‹, ›Schwuchtel/Lesbe‹ oder ›Transe‹ nicht tolerieren und ggf. höhere Instanzen einschalten, um die solchen Entwertungen ausgesetzten Kinder zu schützen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich innerhalb der Elternschaft, an dem eigenen Arbeitsplatz und in der Gesellschaft insgesamt für tatsächliche Toleranz und Akzeptanz einzusetzen.

Schlussfolgerung Dieser Beitrag sollte verdeutlichen, dass die beiden Ausgangshypothesen wohlbegründet sind. Sie seien hier noch einmal genannt: Eine sichere Eltern-Kind-Bindung ist eine sehr gute Voraussetzung auf Seiten der Eltern, um ein Kind auf seinem eigenen (im doppeldeutigen Sinn des Wortes) Weg zu unterstützen. Sichere Bindung ist auf Seiten der Kinder sowohl die beste Voraussetzung dafür, eigene Potentiale zu entfalten, als auch gegen destruktive Effekte von Anpassungsdruck und eventuellen Anfeindungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen geschützt zu sein. Um diese Hypothesen wissenschaftlich abzusichern, bedarf es der Forschung. Diskurse können um Vielfalt und Toleranz dadurch vertieft werden, dass sie in ihrer Bedeutung und Anwendung auf einzelne erzieherische und pädagogische Situationen konkretisiert werden. Wenn also die Theorien praxisrelevante

Die Eltern-Kind-Bindung und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Kindern

Anwendung finden und durch diese Anwendung ein Impuls zurückgegeben wird in die Theorienbildung, dann besteht eine Chance auf gesellschaftliche Veränderungen im Sinne aller Menschen.

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IAT: Implicit Association Test. URL: https://implicit.harvard.edu/implicit/ demo/ [14.07.2013]. Laucht, M. (2003): Vulnerabilität und Resilienz in der Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie. In: Brisch/Hellbrügge: Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 53-71. Ministère de l´éaglité des chances (2012): Rapport d´activités 2000-2012. Luxembourg. Stapel, D. A., Koomen, W. (1998): When stereotype activation results in (counter) stereotypical judgments: Priming stereotype-relevant traits and exemplars. In: Journal of Experimental Social Psychology 34, 2, S. 136-163. Strauss, B. (Hg.) (2008): Bindung und Psychopathologie. Stuttgart: Klett-Cotta. Stroppel, S., Weyer K. (2007): Qualität in der Kinderbetreuung bedeutet Beziehung. URL: www.Kasu.lu [10.02.2013].

Vermittlung von Genderkompetenz in der Ausbildung 1 von Biologielehrer_innen Isabelle Collet

Zusammenfassung In diesem Artikel wird auf die neuesten Entwicklungen der Lehrer_innenausbildung für die Sekundarstufe im Fachbereich Biologie an dem Hochschulinstitut für die Lehrer_innenausbildung in Genf eingegangen. Im Fokus steht die Frage, wie dem Genderaspekt als transversalem Studieninhalt angemessen Rechnung getragen werden kann und wie sowohl Studierende als auch Lehrende mit diesem Studienangebot umgehen.

Gender-Aspekte in der Bildung in Genf Seit 1981 empfiehlt die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektor_innen (EDK) der 26 Schweizer Kantone eine einheitliche Bildung für Mädchen und Jungen. Dieses Bestreben wird vom Bundesgesetz vom 24. März 1995 zur Gleichstellung von Frauen und Männern gestützt, welches die Forderung nach gezielten politischen Maßnahmen zur Gleichstellung von Mädchen und Jungen in der Bildung beinhaltet. 2005 wird die Frage nach der Integration von Gender-Aspekten in die Bildung zu einem deutlichen politischen Ziel im Kanton Genf, nachdem der Regierungsrat und der Bildungsdirektor sie zu einer seiner Prioritäten gemacht hat.2 Die Genfer Hochschullehrer_innen nahmen den Magistrat beim Wort und forderten gemeinsam mit feministischen Vereinen und dem Gleichstellungsbüro die Einführung obligatorischer genderrelevanter Lehrveranstaltungen in die Ausbildung aller Lehrer_innen im Zuge der Verlagerung der neuen Sekundarstufen-Lehrer_ innenbildung an die Hochschulen im Jahre 2007. So wurde das Thema Gender 1 | Originalfassung in französischer Sprache. 2 | République et canton de Genève: Instruction publique, culture et sport. 13 priorités pour l'instruction publique URL: http://www.ge.ch/dip/priorite12.asp [15.12.2013].

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in die Ausbildung der Lehrer_innen der Primar- und Sekundarstufen integriert. Insbesondere in der Ausbildung der Sekundarstufen-Lehrer_innen soll keine genderrelevante Lehrveranstaltung außerhalb des weiteren Lehrspektrums angeboten werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, das Thema Gender sei ein isoliertes Element innerhalb des Bildungswesens. Gender muss von den Student_innen als eine Kernkompetenz ihrer beruflichen Praxis erkannt werden, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit jederzeit mobilisieren können müssen, und nicht lediglich als ein weiterer Schwerpunkt auf dem Lehrplan (so wie spezifischer Unterricht zur nachhaltigen Entwicklung, Religion, Bürger_innenschaft etc.). So begegnet den Student_innen am Institut universitaire de formation des enseignants de Genève (Hochschulinstitut für die Lehrer_innenbildung Genf) das Thema Gender im ersten Studienjahr in übergreifenden Fächern, in denen verschiedene Aspekte des Lehrer_innenberufes angesprochen werden. Im zweiten Studienjahr findet sich das Thema in einem Didaktik-Seminar wieder, welches den Referendar_innen erlauben soll, ihre Fachrichtung aus einer Gender-Perspektive zu analysieren. Der vorliegende Text bietet einen Überblick über unser Vorgehen, um die angehenden Lehrer_innen im Didaktik-Seminar zum Fach Biologie dazu anzuhalten, Genderkompetenz zu entwickeln. Dabei werden wir feststellen, dass die Student_innen trotz ihres Masters in Biologie nur selten über die Geschichte der Geschlechterbiologie informiert sind und nicht wissen, dass es sich bei der Repräsentation des binären Geschlechtersystems um eine historische Konstruktion handelt. Die Dekonstruktion dieser Repräsentation anhand von Abbildungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert dient als Einstieg in die Thematik und ermöglicht eine kritische Analyse der in Biologie-Lehrbüchern verwendeten Illustrationen. So kann herausgearbeitet werden, welche impliziten Aussagen diese Illustrationen vermitteln.

Mangelnde Genderkompetenz der Lehrer_innen Auch wenn die Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen in den Schulen der französischsprachigen Schweiz ein vergleichsweise junges Thema ist, scheint sie nach Meinung der angehenden Lehrer_innen des Institut universitaire de formation des enseignants de Genève heute bereits gänzlich gewährleistet. Baurens und Schreiber (2010) kommen ebenfalls zu dieser Schlussfolgerung. Den Student_innen erscheint das Thema Gender in den Lehrveranstaltungen oft sehr abstrakt, zumal sie mehrheitlich davon überzeugt sind, dass sie sich unabhängigvom Geschlecht der Schüler_innen absolut identisch verhalten (Mosconi 1994).

Vermittlung von Genderkompetenz in der Ausbildung von Biologielehrer_innen

Die Studie von Collet & Grin (2011) macht deutlich, dass die Student_innen zwar anerkennen, dass es in der Gesellschaft nach wie vor zu Ungleichbehandlungen von Frauen und Männern kommt, allerdings erkennen sie nicht die Schule als deren Ursache. Vielmehr übertragen sie die Verantwortung auf eine bestimmte Anzahl immaterieller, vermeintlich übermächtiger Einheiten wie beispielsweise der Staat, die Arbeitswelt, die Gesellschaft im Allgemeinen, Mentalitäten, Traditionen etc. Die Studie zeigt ebenfalls, dass die Student_innen die Inhalte der verfügbaren Lehrbücher oder anderen Lehrmaterialien tendenziell unhinterfragt annehmen und denken, die Sexismus-Frage sei hier bereits geklärt. Wir wissen jedoch, dass das Problem trotz der in diesem Bereich bereits erzielten Fortschritte alles andere als gelöst ist (Détrez 2006; Sinigaglia-Amadio 2010; Tisserant/ Wagner 2008). Es kann festgehalten werden, dass die angehenden Biologielehrer_innen ihrer Disziplin sehr unkritisch gegenüber stehen, deren Geschichte kaum kennen und nicht über die nötigen Werkzeuge verfügen, um sie aus Gender-Perspektive zu hinterfragen.

Eine französische Debatte als didaktisches Beispiel Diese Entwicklung steht im Kontext einer kontroversen Debatte, die in Frankreich durch die Einführung von Gender-Aspekten in den Biologieunterricht ausgelöst wurde. Im Amtsblatt vom 30. September 2010 fügt das Bildungsministerium dem Lehrplan ein Kapitel mit dem Titel Mann oder Frau werden hinzu, in dem es darum geht, »unter Einbeziehung biologischer Gegebenheiten und gesellschaftlicher Repräsentationen zwischen gesellschaftlich bedingten sexuellen Identitäten, Geschlechterrollen und Stereotypen sowie der intimen sexuellen Orientierung zu unterscheiden«.3 Die auf dieses Ereignis folgenden massiven Proteste aus den Reihen der katholischen Rechten münden in ein Schreiben an den Bildungsminister, in dem 80 UMP-Abgeordnete die Streichung der Theorie der sexuellen Geschlechtsidentität fordern, die wie folgt definiert wird: »Laut dieser Theorie werden Menschen nicht mehr als Männer oder Frauen definiert, sondern als Praktizierende bestimmter Formen von Sexualität: Homosexuelle, Bisexuelle, Transsexuelle. Mit diesen Schulbüchern wird also eine unwissenschaftliche philosophische und soziologische Theorie aufoktroyiert, nach der die sexuelle Identität eine kulturelle Konstruktion sei, die vom Umfeld der Menschen abhinge.«4

3 | Amtsblatt des französischen Bildungsministeriums Nr. 9 vom 30. September 2010. 4 | Brief vom 30. August 2011 von 80 UMP-Abgeordneten der Nationalversammlung an den Minister für Bildung, Jugend und Vereinswesen Luc Chatel.

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Diese Proteste werfen die interessante Frage auf, wem es zusteht, wissenschaftliche Kriterien zu definieren. Dieser Aspekt steht auch im Zentrum der Petition »Enseigner le genre: contre une censure archaïque« (Geschlecht lehren – gegen gegen eine archaische Zensur), in der verschiedene französische Akademiker_ innen daran erinnern, dass »es nicht im Geringsten die Aufgabe der Politik ist, die Wissenschaftlichkeit von Forschungsobjekten, -methoden oder -theorien zu beurteilen. Allein die Wissenschaftsgemeinde kann die Arbeiten ihrer Mitglieder bewerten. […] ›Vorurteile‹ und ›Stereotype‹ zu analysieren, um sie in Frage stellen zu können, stellt den Kern jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit dar. Dies ist um so notwendiger, wenn es sich um Geschlechterunterschiede handelt, die auch heute noch als natürlich dargestellt werden, um Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen […].«5

Anhand dieser Debatte können wir durchaus das Studienziel im Kompetenzbereich 1 der angehenden Genfer Lehrer_innen illustrieren, nämlich »sich als Expert_innen ihres Unterrichtsfaches zu situieren, ihm gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen, sowie seine Geschichte, Methoden und Unterrichtsmaterialien zu kennen«. Zudem dient uns die Debatte als Einstieg in das Thema, wie im Folgenden am Beispiel einer Lehrveranstaltung erläutert wird.

Methode Um die Student_innen für den Einfluss genderspezifischer Elemente auf das Lehrmaterial zu sensibilisieren, wurde mit den Hochschullehrer_innen für Didaktik im Fach Biologie ein zweistündiges Studienmodul entwickelt.6 Dieses Modul ist Teil einer Reihe von Didaktik-Lehrveranstaltungen über anatomische Abbildungen und deren möglichen Interpretationsformen. Im Laufe dieser Reihe weisen die Hochschullehrer_innen die Student_innen darauf hin, dass Schüler_innen ihre Zeit am Mikroskop damit verbringen können, in aller Gründlichkeit Luftblasen nachzuzeichnen, obwohl sie eigentlich eine Zelle untersuchen sollen. Wenn diese Schüler_innen jedoch noch nicht wissen, wie eine Zelle aussieht, können sie tatsächlich Luftblasen für das eigentliche Untersuchungsobjekt halten. Di_er Lehrer_in hingegen sieht die Luftblasen eventuell gar nicht mehr, da si_er sie leicht erkennt und systematisch aussondert. Hier werden wir mit den angehenden Lehrer_innen eine Parallele zu den Darstellungen des Genitaltraktes ziehen, um ihnen aufzuzeigen, wie vorgefertigte stereotypisierte Theorien über das Geschlecht zu verzerrten anatomischen 5 | Institut Emilie du Chatelet (2011): Enseigner le genre. URL: http://www.institutemilieduchatelet.org/ Enseigner_le_genre.html [15.07.2011]. 6 | Herzlichen Dank an Rémy Kopp und François Lombard, wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut universitaire de formation des enseignants de Genève (IUFE), für ihre Unterstützung bei der Einführung dieses Moduls.

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Abbildungen führen können. Zu Beginn zeigen wir den Student_innen eine anatomische Tafel aus dem Werk von Thomas Laqueur (1992), auf der der weibliche Genitaltrakt abgebildet ist. In dieser Abbildung erkennt André Dulaurens Samenleiter (PP), die zum Teil in weibliche Hoden übergehen (OO) sowie Ejakulationsgefäße (QQ), die in die Gebärmutter (M) münden. Laqueur (1992) erklärt, dass Dulaurens den weiblichen Genitaltrakt derart dargestellt hat, da er – wie auch andere Anatom_innen seiner Epoche wie z.B. Vésale – davon Abb. 1: Weiblicher Genitaltrakt, André Dulaurens, De dissectione, Paris, 1600. überzeugt war, dass der weibliche Genitaltrakt die innere Version des männlichen Genitaltraktes sei, ähnlich eines nach innen umgestülpten Handschuhs. Es sind also sehr wohl die damals gängigen Überzeugungen, die zu androzentristischen anatomischen Abbildungen und Fachbegriffen geführt haben, obwohl durch Sezierungen bereits festgestellt werden konnte, dass diese von der Realität abweichen. Es kann also festgehalten werden, dass die Wissenschaftsgemeinde des 17. Jahrhunderts aufgrund der damaligen Geschlechtertheorie, die ein Kontinuum zwischen Männlichem und Weiblichem implizierte, nicht von einer spezifischen Anatomie der Frauen ausgegangen ist, die sich von der der Männer unterscheiden würde. Aus der Perspektive unserer heutigen, binären Geschlechtertheorie sind diese Verzerrungen in den Darstellungen der Wirklichkeit offensichtlich. Allerdings bietet die Vorstellung eines Kontinuums7 zwischen den Geschlechtern den Vorteil, auch Intergeschlechtlichkeit erfassen zu können, welche in der strikt binären Geschlechtertheorie keinen Raum mehr hat.

Wo ist die Gebärmutter? Zu Beginn analysieren wir medizinhistorische Texte über die vom Alten Ägypten bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitete Annahme eines wandernden oder zumindest beweglichen weiblichen Genitaltraktes. Hippokrates erklärte

7 | Heute sprechen die Biolog_innen eher von einem Archipel der Geschlechter als von einem Kontinuum, um die vielseitigen Möglichkeiten der Geschlechterbiologie zu umschreiben.

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Geisteskrankheiten bei Frauen mit mangelnder sexueller Betätigung, infolge derer die Gebärmutter austrockne, wodurch sie sich auf die Suche nach Feuchtigkeit begeben müsse. Sie wandere also durch den Körper und dabei verursache sie Quetschungen des Hypochondriums (was zu Atemnot und krampfhaften Anfällen führe), des Herzens (was Unruhe- oder Beklemmungszustände verursache), der Leber (die für hysterische Krämpfe verantwortlich sei) und des Kopfes (was Zuckungen auslöse). In der gleichen Epoche beschreibt Platon im Timaios die Gebärmutter als »ein Lebewesen innen drin, das danach giert, Kinder zu gebären, [es erträgt] nur mühsam und unwillig, wenn es regelwidrig über eine längere Periode hinweg unfruchtbar bleibt; und es wandert überall im Leib umher, verstopft die Luftkanäle, verhindert die Atmung und versetzt dadurch in höchste Not und führt allerlei Beschwerden herbei.«8

Diese Krankheiten werden Hysterie genannt, vom Griechischen hystera (Gebärmutter). Es ist offensichtlich, dass das gesellschaftliche Interesse derartiger Thesen in der Kontrolle über den Körper der Frauen liegt. Die Ärzte konnten sie zu ihrem eigenen Wohl zu häufigem Geschlechtsverkehr und zahlreichen Schwangerschaften drängen. Diese Annahmen überdauerten die Jahrhunderte, denn selbst Charcot, obgleich er der These wandernder Gebärmütter kaum mehr Glauben schenkte, verordnete seinen Patientinnen Eierstockkompressionsbinden, um sie vor schweren hysterischen Anfällen zu bewahren. Die Vorstellungen, die Gebärmutter bestimme die Gemütsstimmung der Frauen oder eine nicht-schwangere Frau verhalte sich wider die Natur, sind auch heute noch weit verbreitet. Was die Gebärmutter betrifft, so wissen zwar Biolog_ innen und Ärzt_innen mittlerweile sehr genau, wo sie sich befindet, wie aber steht es um die Schüler_innen? Tatsächlich ist Wissen über Geschlechtsorgane nichts Selbstverständliches, weder für die Jungen, noch für die Mädchen, vor allem, weil dieses Wissen oft stark tabuisiert wird. Zudem liegt ein Großteil des weiblichen Fortpflanzungsapparates im Inneren des Körpers. Im Gegensatz zum Penis werden die äußeren Geschlechtsorgane (Labien, Vulva, Klitoris) nur selten erwähnt, zur Geltung gebracht oder abgebildet. Manchmal kennen die Schüler_innen nicht einmal die entsprechenden Begriffe. Außerdem muss festgestellt werden, dass sich viele junge Eltern ab der Geburt ihres kleinen Sohnes über dessen Schniedel auslassen (seine Größe, seine Beweglichkeit, …), während sie zur Mumu (oder 8 | Platon (360 v.u.Z.): Timaios 91c-d. In: Schubert/Huttner (Hg.) (1999): Frauenmedizin in der Antike. Griechisch – latein­i sch – deutsch, Düsseldorf: Artemis und Winkler, S. 279.

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anderen möglichen Benennungen) ihrer kleinen Tochter nichts zu sagen haben. Wenn mit den kleinen Mädchen später über ihre Geschlechtsteile gesprochen wird, dann geschieht das häufig durch die Aufforderung sich dort zu waschen, was impliziert, dass sie schmutzig seien (Détrez 2006). Im Biologieunterricht können die Schüler_innen ihren Körper besser verstehen lernen – vorausgesetzt, ihnen werden adäquate Abbildungen zur Verfügung gestellt, die nicht der Binarität verhaftet bleiben und so wenige implizite Zuschreibungen wie möglich enthalten. Betrachten wir nun die beiden folgenden Abbildungen, die aus einem naturwissenschaftlichen Arbeitsheft der Sekundarstufe I (8. Klasse, Alter 13-14 Jahre) stammen:

Abb. 2: Weiblicher Genitaltrakt, aus den Mitschriften eines Schülers.

Abb. 3: Männlicher Genitaltrakt, aus den Mitschriften eines Schülers.

Diese beiden Abbildungen des weiblichen und des männlichen Genitaltraktes werden von den Lehrer_innen häufig verwendet; sie erkennen darin jene Art von Bildmaterial, das sie ihren Schüler_innen gerne zum Beschriften aushändigen. Es ist allerdings offensichtlich, dass die Abbildung des männlichen Genitaltraktes nicht nur von besserer Bildqualität ist (detaillierter, mit Graustufen), sondern dass sie auch Teile des Körpers miteinbezieht. Hier können die Schüler_innen den Penis, die Hoden und die Gesäßmuskulatur erkennen. Bei der Abbildung des weiblichen Fortpflanzungsapparates hingegen handelt es sich um eine schlichte Skizze ohne Angabe zum Größenverhältnis oder ein Indiz, in welchem Teil des Körpers sich die Organe befinden. Die Tatsache, dass der weibliche Genitaltrakt im Körperinneren liegt, rechtfertigt nicht, dass der Körper nicht abgebildet wird – die genaue Verortung würde dadurch nur erleichtert.

Die Pubertät Die Behandlung des Themas Pubertät im Biologieunterricht der Sekundarstufe ist etwas heikel, da die Schüler_innen ungefähr zu diesem Zeitpunkt selbst

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in die Pubertät eintreten. Hier werden also nicht nur allgemeine Kenntnisse über den menschlichen Körper vermittelt, so wie dies bei den Lehreinheiten zu den Muskeln oder der Verdauung geschieht, sondern auch die im Körper der Schüler_innen stattfindenden Veränderungen erläutert. Wie bereits zuvor im Fall der Abbildungen des Genitaltraktes haben wir beschlossen, uns der Disziplin über ihre Geschichte anzunähern, um die Tendenz der Biologisierung sozialer Rollen und moralischer Codes sichtbar zu machen, die diese als unumgänglich darstellt und gesellschaftliche Machtverhältnisse als natürlich situiert. So können wir beispielsweise in Antoine Marros Abhandlung über »Die Pubertät der Männer und der Frauen« aus dem Jahre 1902 lesen: »Neben körperlichen Mängeln konnten wir sehen, dass aus frühreifen Vereinigungen auch vermehrt Kriminelle, Diebe, gar Gewalttäter hervorgehen«. Er schlussfolgert, dass der Zeitpunkt der Eheschließung so weit wie möglich hinausgezögert werden solle. Dennoch blieben frühreife Vereinigungen »für den Körper und die Moral wesentlich weniger gefährlich als die [männliche] Onanie«. Bezüglich der jungen Frauen schreibt Bureaud-Riofrey in seinem 1835 erschienenen Werk »Körperliche Erziehung junger Mädchen oder Hygiene der Frau vor der Ehe«, dass es während der Pubertät »so etwas wie Bewegungen der Nervenflüssigkeiten [gibt], die das System im Bestreben, sich festzusetzen, durchlaufen; jene körperlichen Phänomene erklären vorzüglich die Schwankungen im Wesen der jungen Mädchen, ihre ständigen und dennoch flüchtigen Leiden, die sich stets im Körper verlagern wie Flüssigkeiten in einem umher getragenen Behältnis«.

Darauf folgt eine Aufzählung der verschiedenen Leiden der jungen Mädchen, die sie manchmal gar in den Selbstmord treiben. Die Liste nimmt eine ganze Seite ein. In dieser Beschreibung stoßen wir erneut auf das Bild des Wanderns im Körper der Frauen – dieses Mal nicht der Gebärmutter, sondern der Flüssigkeiten – das uns an die hippokratische Theorie der Gemütsstimmungen aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erinnert, die noch bis ins 18. Jahrhundert weit verbreitet war. Diese Theorie stellte Frauen als kalt und feucht dar, was sie zerbrechlicher mache, anfälliger für allerlei Krankheiten, schwächer. Sie hätten aufgrund dieser ständig wogenden Flüssigkeiten Dämpfe und Stimmungsschwankungen, und seien dadurch wankelmütig. Auch hier scheint die Frage durchaus angebracht, ob wir an den der hippokratischen Theorie innewohnenden Konzepten weiterhin festhalten, obwohl wir die Theorie selbst längst verworfen haben.

Vermittlung von Genderkompetenz in der Ausbildung von Biologielehrer_innen

Widmen wir uns nun erneut den Mitschriften der Schüler_innen während einer Lerneinheit über die Pubertät. Der Lehrer bittet seine Klasse, verschiedene Veränderungen aufzuzählen, die während dieser Lebensphase eintreten. Er bietet der Klasse die folgende Tabelle an: Merkmale

Frau

Mann

Regelblutung

Ejakulation

Primäre Geschlechtsmerkmale Erste Pubertätsanzeichen Sekundäre Geschlechtsmerkmale (Körper) Brustkorb

Busen

Kehlkopf

Adamsapfel

Muskulatur

Stärkere Entwicklung

Haut

Cellulite

Behaarung

Knochengerüst

Verbreiterung des Beckens

Verbreiterung der Schultern

Auftreten

Feminin

Mannhaft

Gebräuche

Schminke, Frisur

Bart

Sekundäre Geschlechtsmerkmale (Verhalten)

Abb. 4: Die Veränderungen in der Pubertät, aus den Mitschriften eines Schülers der 8. Klasse.

Bei der Betrachtung dieser Tabelle stoßen wir auf zahlreiche Irreführungen und Ungenauigkeiten. Zunächst können wir die streng binäre Kategorisierung kritisieren, die unmarkiert als Standard gesetzt wird. So bedeutet beispielsweise die Tatsache, dass nur Männer einen Adamsapfel haben können, nicht automatisch, dass alle Männer einen Adamsapfel hätten. Ähnlich verhält es sich mit den anderen angeführten Elementen (nicht jeder Mann hat automatisch eine ausgeprägtere Muskulatur als jede Frau). Auch sehen wir die Verknüpfung der ersten Regelblutung mit Cellulite (welche keinesfalls systematisch während der Pubertät auftritt) mit Besorgnis, zumal sich einige junge Frauen in diesem Alter durch normative Körperschemata zu extremer Magerkeit gedrängt fühlen können, wohl wissend, dass durch Anorexie u.a. die Regelblutungen unterdrückt werden. Die Einteilung der Tabelle in zwei Spalten erweckt den Eindruck, dass sich alle Personen in die eine oder die andere einordnen könnten. Dabei leben laut Statistik allein im Kanton Genf ca. 300 intergeschlechtliche Personen. Ebenfalls problematisch ist die logische Verknüpfung zwischen den ersten Pubertätsanzeichen (Regelblutung und Ejakulation) und der Bedeutung, die der Lehrer der Pubertät beimisst: sie sei der Lebensabschnitt, in dem der Mensch

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fortpflanzungsfähig wird. Eine derartige Darstellung reduziert Sexualität auf Fortpflanzung und die Pubertät auf die Entwicklung von Fortpflanzungsorganen. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Begriff ›Pubertät‹ vom lateinischen pubertas abstammt, was so viel bedeutet wie mit Haaren bedeckt. Die weiteren Tabelleninhalte sind noch fragwürdiger: In der Rubrik der verhaltensbedingten sekundären Geschlechtsmerkmale wird der Bartwuchs (der im Übrigen nicht auf der genetischen Karte aller Männer auftaucht) mit dem (rein kulturellen) Schminken der Frauen auf eine Stufe gestellt. Die Tabelle impliziert also, dass kulturelle Verhaltensweisen biologisch bedingt seien und schreibt beiden Geschlechtskategorisierungen das jeweils entsprechende Auftreten zu – von echten Männern werde nun einmal Männlichkeit erwartet, von echten Frauen Weiblichkeit. Diejenigen Personen, die sich in diese binäre Kategorisierung nicht einordnen lassen, werden demnach als biologisch abnorm angesehen.

Schlussfolgerungen Mit der Analyse dieser Themenfelder sollte einerseits den angehenden Lehrer_innen aufgezeigt werden, dass das ihnen vermittelte Wissen in Bezug auf Gender-Aspekte nicht neutral ist und die ideologischen Einflüsse in den Darstellungen oft unsichtbar sind, da sie unseren Überzeugungen des einen Geschlechterunterschiedes (Marro 2012) und der unsere Gesellschaft durchziehenden Geschlechterstereotypisierung entsprechen. Zudem müssen die angehenden Lehrer_innen erkennen, dass die Schüler_innen dieses Wissen auch durch den Filter ihrer jeweiligen Jugend- oder Familienkultur aufnehmen, die ebenfalls stark von Geschlechterstereotypisierungen geprägt ist. So beinhaltet der heimliche Lehrplan (Forquin 1985) des Biologieunterrichts unwissenschaftliche Elemente, die den von der Schule geförderten Werten entgegenstehen, die aber dennoch in die Wissensvermittlung einfließen. Dementsprechend wichtig erscheint es uns, den Fachbereich zu entgendern. Die angehenden Lehrer_innen zeigten sich zwar durchaus an dem Thema interessiert, es hat sich allerdings gezeigt, dass ihre Kenntnisse kaum über die Entdeckungsstufe hinausgehen. Einige Gruppen brauchten unsere Unterstützung, um die gegenderten Repräsentationen ihres Lehrmaterials sichtbar zu machen. Es schien uns offensichtlich, dass die Mehrheit von ihnen nie zuvor daran gedacht hatte, eine gendersensible, kritische Haltung gegenüber den ihnen

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vermittelten Lehrinhalten einzunehmen (vgl. Studienziele Kompetenzbereich 1). Viele der angehenden Lehrer_innen zeigten sich ob der neu gewonnenen Einsichten verblüfft. Einige Student_innen sind allerdings auch über eine reine Sensibilisierung hinausgegangen, indem sie allgemeinere Wissensgrundlagen über Gender-Aspekte mobilisiert haben, die ihnen zu einem früheren Zeitpunkt vermittelt wurden (z.B. im ersten Studienjahr). Eine Gruppe hat im Rahmen einer gründlichen komparativen Analyse verschiedener, den Schüler_innen vorgelegter Abbildungen festgestellt, dass die Art und Weise der Darstellung der weiblichen und männlichen Körper zu partiellen bzw. irregeleiteten Repräsentationen der Wirklichkeit führen können. Diese Lehrer_innen wählen ihr Lehrmaterial nunmehr aus einem neuen Blickwinkel und verwenden beispielsweise Abbildungen des Genitaltraktes aus unterschiedlichen Perspektiven oder dreidimensionale Darstellungen, welche die Realität besser widerspiegeln. Es scheint uns offensichtlich, dass für die Mehrheit dieser Lehrer_innen eine Eingewöhnungsphase nötig ist, bevor sie ihr neu errungenes Wissen in den Unterricht einbringen können. Zwar konnten wir eine gewisse allgemeine Sensibilisierung verzeichnen, eine genaue Erhebung der tatsächlichen Lerneffekte auf die Lehrer_innen sowie ihrer Fähigkeit zur Verinnerlichung der neu gewonnenen Kompetenz gestaltet sich jedoch schwierig (Boutin 2004). Dennoch können wir uns Progin und Müller (2012) anschließen und festhalten, dass wir den Grundstein einer Genderkompetenz gelegt haben, die es ermöglichen könnte, die Geschlechtervielfalt zu berücksichtigen und die Schüler_innen in einem diskriminierungsfreien Raum zu betreuen.

Literatur Baurens, M., Schreiber, C. (2010): Comment troubler les jeunes enseignant-e-s sur la question du genre à l´école. In: Nouvelles Questions Féministes 2, 19, S. 72-87. Boutin, G. (2004): L’approche par compétences en éducation. Un amalgame paradigmatique. In: Connexions 1, 81, S. 25-41. URL: http://www.cairn.info/revueconnexions-2004-1-page-25.htm [15.12.2013]. Collet, I., Grin, I. (2011): En formation initiale des enseignants. In: Les Cahiers pédagogiques 487, S. 29-30.

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Gefangene der Lexika: 1 Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit und Trans‘-Kinder Natacha Kennedy »Ich bin nicht in meinem Körper gefangen. Ich bin in deinen Überzeugungen gefangen.« S ass R ogando S asot

Zusammenfassung Thema dieses Artikels ist die kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit sowie deren Auswirkungen auf Trans‘-Personen und insbesondere auf Trans‘-Kinder. Basierend auf einer soziologischen Analyse der grundlegenden Annahmen des Konstrukts von Cis-Geschlechtlichkeit untersucht der Artikel, wie sich kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit auf die Entwicklung der Selbst-Wahrnehmung bei Trans‘-Personen und dabei insbesondere bei Trans‘-Kindern auswirkt, und zeigt die verschiedenen Effekte des Systems von Cis-Geschlechtlichkeit detailliert auf. In der Hoffnung, zu einem besseren Verständnis der Probleme beizutragen, die die Cis-Geschlechtlichkeit für Trans‘-Personen mit sich bringt, wird Cis-Geschlechtlichkeit hierbei in erster Linie der Transphobie gegenübergestellt.

Einleitung Trans‘-Personen und insbesondere Trans‘-Kinder leiden vielfach unter Transphobie, also unter direkter Diskriminierung und Vorurteilen.2 Die negativen Auswirkungen auf Trans‘-Personen sind allerdings häufig nicht (nur) auf die individuellen Ansichten einer besonders transphoben Person oder Gruppe zurückzuführen. In vielen Fällen sind sie vielmehr systemisch, ideologisch und 1 | Originalfassung in englischer Sprache. 2 | Z.B. Mcdonough, K. (2013): Colorado school bans 6-year-old transgender child from girls‘ bathroom. In: Salon. URL: http://www.salon.com/2013/02/27/colorado_school_bans_6_year_old_transgender_child_from_girls_ bathroom/ [28.11.2013].

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und kulturell bedingt. Ist man sich hierüber im Klaren und benennt man dieses Gefüge mit dem Begriff der ›kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit‹, so lassen sich seine Effekte besser bestimmen und konstruktiv abbauen. In dem folgenden Beitrag nehme ich eben diese kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit und ihre Auswirkungen auf Trans‘-Kinder und -Jugendliche in den Blick.

Hintergrund Es finden sich immer mehr Belege dafür, dass viele Trans‘-Personen bereits in ihrer frühen Kindheit ein Gefühl des Unglücklich- bzw. Unwohlseins mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht verspürt haben (vgl. z.B. Kennedy 2008; Kennedy/Hellen 2010; Riley u.a. 2012; Wyss 2004). Zudem scheint sich ein erheblicher Anteil von Trans‘-Personen bereits als Teenager über ihre Transidentität bewusst geworden zu sein. Diese Erfahrungsberichte stehen im Widerspruch zu der weit verbreiteten Annahme, Transgender-Identitäten kämen nur bei Erwachsenen vor. Die Zahl erkannter Trans‘-Kinder (Kennedy 2008) nimmt sich gegenüber der geschätzten Anzahl erwachsener Trans‘-Personen allerdings gering aus. Es liegen auch zahlreiche, hauptsächlich von Psycholog_innen veröffentlichte Forschungsarbeiten vor (Drescher/Byne 2012; Green 1987; Money/Russo 1979; Zuger 1984; Zucker/Bradley 1995), in denen die Hypothese aufgestellt wird, dass 70-98 % aller Trans‘-Kinder bzw. nicht geschlechtskonformer Kinder, die bereits vor der Pubertät als solche erkannt werden, im Erwachsenenalter nicht mehr transgender sind. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie die mittlerweile zahlreichen transgender, transsexuellen und nicht geschlechtskonformen Erwachsenen als Kinder gelebt haben. Kennedy und Hellen (2010: 2) vermuten, dass 90-95 % aller Trans‘-Kinder unerkannt bleiben. Unerkannt ist ein Trans‘-Kind dann, wenn seine Transidentität keiner_m Erwachsenen bekannt ist. Warum also bleibt die nicht konforme Geschlechtsidentität dieser Kinder unsichtbar? Finden seitens der Kinder ein Verstecken oder Unterdrücken statt?

Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit Ansara und Hegarty (2011: 5) stellen in ihren Forschungsarbeiten die Hypothese auf, dass es innerhalb der Psychologie eine Kultur gibt, die sie als Cis-Geschlechtlichkeit beschreiben und wie folgt definieren: »[Es handelt sich] weniger um eine individuelle Einstellung als vielmehr um eine destruktive Ideologie, die systemisch bedingt ist, auf mehreren Ebenen zum Tragen kommt und sich in den dominanten kulturellen Diskursen widerspiegelt. […] In unserer Analyse der Cis-Geschlechtlichkeit

Gefangene der Lexika: Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit und Trans‘-Kinder

problematisieren wir die kategoriale Unterscheidung zwischen Gruppen von Personen als entweder transgender oder cisgender (oder als abweichende Geschlechtsidentität versus unmarkierte Geschlechtsidentität). […] Wir verstehen Cis-Geschlechtlichkeit als eine Form des Andersmachens, des Otherings, in dem als ›transgender‹ kategorisierte Personen zu einem erklärungsbedürftigen Phänomen gemacht werden.«

Die Unterscheidung, die die Autor_innen zwischen Cis-Geschlechtlichkeit und Transphobie treffen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Cis-Geschlechtlichkeit wird eindeutig als eine Ideologie und nicht als eine individuelle Einstellung gefasst. Mit Saussures Begriffen ließe sich sagen, dass Transphobie die Parole in der Sprache der Cis-Geschlechtlichkeit ist.3 Innerhalb des esoterischen4 Felds der Psychologie kann man Cis-Geschlechtlichkeit auch als einen integralen Bestandteil von Diskursen über Trans‘-Personen definieren. Es lässt sich allerdings nicht einfach behaupten, dass die gesamtgesellschaftliche Cis-Geschlechtlichkeit (also das, was ich hier als kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit beschreibe) sich in den dominanten kulturellen Diskursen genau so widerspiegelt wie in der Psychologie (und in angrenzenden, gleichermaßen esoterischen Feldern wie z.B. in der Neurologie). Möchte man den Unterschied zwischen Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie und kultureller Cis-Geschlechtlichkeit verstehen und eine brauchbare Definition der kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit erarbeiten, so muss man analysieren, wie Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie zum Tragen kommt und wie sie sich von der Funktion der Cis-Geschlechtlichkeit in der Gesamtgesellschaft abhebt. Ich greife im Folgenden auf die Social Activity Method zurück (Dowling 1998, 2009), um diese Frage aus einer soziologischen Perspektive zu analysieren und so den Grad der Institutionalisierung und der diskursiven Sättigung zu bestimmen. Der Begriff der Institutionalisierung beschreibt das Ausmaß, in dem sich eine Praxis regelmäßig in autopoietischen Handlungen entfaltet. Eine stark institutionalisierte Praxis (I+) tritt sehr regelmäßig und konsistent auf, während eine schwach institutionalisierte Praxis (I-) unregelmäßig und inkonsistent vorkommt. Mit dem 3 | grammar.about.com (2013): In linguistics, language as an abstract system of signs (the underlying structure of a language), in contrast to parole, the individual expressions of language (speech acts that are the products of langue). URL: http://grammar.about.com/od/il/g/langueterm.htm [15.12.2013]. Saussure, F. de (1916): Course in General Linguistics. In das Englische übersetzt durch Wade Baskin, 1959. Bally/Sechehaye (Hg.), New York: Pholosophical Library. Interdependency of Langue and Parole »Saussure's Cours«: Der Grund für die Aufnahme dieses Aspektes ist eine metaphorische Darstellung bei der Verwendung von Konzepten, die Soziolog_innen und anderen vertrauter sind. Obwohl die Begriffe ›langue/parole‹ nicht mehr in der Linguistik verwendet werden, wurden sie von Soziologen rekrutiert und stellen ein regelmäßig genutztes Konzept dar. 4 | Esoterisch bezeichnet in der Soziologie ein hochspezialisiertes Feld, das nur mit einem hohen Grad an Expertise zu durchdringen ist; Dowling, P. (1998): The Sociology of Mathematics Education. London: Routledge Falmer.

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Konzept der diskursiven Sättigung (engl.: discursive saturation) lassen sich unterschiedliche Praxen differenzieren, die unter Rückgriff auf bestimmte Strategien die im Diskurs verfügbaren Prinzipien begründen (Dowling 2009). Eine stark gesättigte diskursive Praxis (DS+) stützt sich zu einem relativ hohen Ausmaß auf Sprache. Eine schwach gesättigte diskursive Praxis (DS-) baut dagegen zu einem wesentlich geringeren Grad auf Sprache auf. Abbildung 1 illustriert, wie sich die Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie unter Zuhilfenahme dieser Begriffe zur gesamtgesellschaftlichen Cis-Geschlechtlichkeit in Beziehung setzen lässt. Grad der Institutionalisierung Grad der diskursiven Sättigung

I+

I-

DS+

Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie

Organisierte Transphobie

DS-

Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit

Reaktive Transphobie

Abb. 1: Cis-Geschlechtlichkeit; DS = Diskursive Sättigung; I = Institutionalisierte Praxis.

In diesem Beziehungsgefüge wird ersichtlich, dass die Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie und die kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit gleichermaßen stark institutionalisierte Praxen sind. Während sich Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie als relativ stark diskursiv gesättigt beschreiben lässt, ist kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit dagegen relativ schwach diskursiv gesättigt. Unter Rückgriff auf Ansaras und Hegartys Definition von Cis-Geschlechtlichkeit in der Psychologie können wir nun eine Definition der kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit erarbeiten. Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit ist kein individuelles Verhalten, sondern eine destruktive und vorwiegend implizit kommunizierte Ideologie, die mit der systematischen Ausradierung und Problematisierung von Trans‘-Personen einhergeht und deutlich zwischen Cis- und Transgender‘-Personen unterscheidet. Sie essentialisiert Geschlecht als biologisch determiniert, von Geburt an feststehend, natürlich und unveränderlich, und sie zwingt dem Individuum dieses essentialisierte Geschlecht von außen auf. So lässt sie sich in mehrfacher Hinsicht als Beispiel dessen lesen, was Bourdieu (1977: 164) als doxa bezeichnet: »[…] die kosmologisch wie politisch institutionalisierte Ordnung [wird] nicht als

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eine willkürliche [wahrgenommen], d.h. als eine unter anderen möglichen, sondern vielmehr als fraglos und selbstverständlich vorgegebene, als nicht anders funktionierende, also als evidente natürliche Ordnung.« Die beiden rechten Blöcke des Diagramms zeigen Transphobie als schwach institutionalisierte Praxis, denn sie ist hier mehr eine individuelle Einstellung und keine Ideologie. Transphobie beruht wohl zu einem überwiegenden Teil auf kultureller Cis-Geschlechtlichkeit und ist damit diskursiv schwach gesättigt. Ihre Ursache hat sie vor allem in individuellen negativen emotionalen Reaktionen in Situationen, an denen eine Trans‘-Person beteiligt ist. Dies ist im unteren rechten Feld als Reaktive Transphobie bezeichnet. Organisierte Transphobie (oberes rechtes Feld) als diskursiv relativ stark gesättigte, gleichzeitig jedoch schwach institutionalisierte Transphobie, mag von der Begrifflichkeit her zunächst wie ein Widerspruch erscheinen, wird aber z.B. von politisch rechtsextremen christlichen Gruppen und Trans‘ ausschließenden radikalen Feministinnen (Trans Exclusionary Radical Feminists, TERFs) vertreten. Bei diesen Gruppen, insbesondere den letztgenannten, handelt es sich um Gruppen transphober Individuen, die sich um die ihnen gemeinsamen Nenner Hass und Phobie sammeln, und aus denen sich eine Gruppenidentität bzw. eine Kultur entwickeln kann. Da der Diskurs solcher Gruppierungen allerdings höchst inkonsequent, ja sogar widersprüchlich ist, und weil sie extremistische Minderheitenmeinungen darstellen und Trans‘-Personen von ihnen gegängelt und misshandelt werden, und wir durch sie verletzt werden (Stryker 2008: 110), wäre ihre Betrachtung als Formen von Cis-Geschlechtlichkeit nicht angebracht. Der Unterschied zwischen der Transphobie von TERFs und der DS-Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit ist, dass erstere eine vorsätzliche Praxis ist und sich rationalen Argumenten verschließt. Cis-Geschlechtlichkeit jedoch ist eine Kultur bzw. eine Ideologie, deren Bekämpfung anhand durchdachter Argumente daher wesentlich einfacher erscheint. Kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit ist also eine stillschweigende Ideologie, die zudem auch als Element der Kultur in Erscheinung tritt (Geertz 1973). Sie scheint in westeuropäischen Kulturen so stark verankert zu sein, dass sie gänzlich implizit artikuliert und fortgeschrieben werden kann. So handelt es sich um eine unausgesprochene Diskriminierung gegen Personen, deren Geschlechtsausdruck oder -identität nicht dem kulturellen Ideal entspricht, das verlangt, dass Personen das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht verkörpern.

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Elemente der Cis-Geschlechtlichkeit In diesem Abschnitt möchte ich die oben vorgenommene Skizzierung der kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit vertiefen.

Systematische Ausradierung Als stillschweigende Ideologie führt die kulturelle Cis-Geschlechtlichkeit zu einer Marginalisierung von Trans‘-Personen und anderen nicht geschlechtskonformen Menschen, da deren Existenz sowohl im kulturellen Diskurs als auch in den gesellschaftlichen Strukturen keine Anerkennung findet. Verklammert man Paechters Analyse der Zweigeschlechterordnung (2007) mit Laves & Wengers Modell der praxisbezogenen Gemeinschaften (CoP, Communities of Practice, 1991), so wird ersichtlich, wie es insbesondere Kindern nicht möglich ist, Geschlecht jenseits von Männlichkeit und Weiblichkeit zu denken oder sich eine Bewegung zwischen den Geschlechtern vorzustellen. Solche vergeschlechtlichten Communities of Practice begünstigen und belohnen zudem die Aneignung einer sehr stereotypen Geschlechtsdarstellung, die wiederum durch externen kulturellen Input via Kernfamilie, Medien etc. weiter verfestigt wird. Trans‘-Personen werden also durch ihre scheinbare Nichtexistenz in der Kultur ausgelöscht. Und tatsächlich erleben zwar viele Trans‘-Personen bereits in ihrer frühen Kindheit das Gefühl, nicht dazuzugehören, berichten aber, es sei ihnen unmöglich gewesen, dieses Gefühl mit den Mitteln der Sprache auszudrücken (Kennedy/ Hellen 2010), da sie nicht über entsprechende Worte und Wörter wie transgender, transsexuell etc. verfügt hätten. Damit ist eine der zentralen Wirkungsweisen beschrieben, mit denen sich Cis-Geschlechtlichkeit als Ideologie durchsetzt. Ich möchte weiter unten außerdem zeigen, dass diese Wirkungsweise eine der entscheidenden Hürden darstellt, die Trans‘-Kinder und -Jugendliche überwinden müssen. Cis-Geschlechtlichkeit macht Trans‘-Personen systematisch unsichtbar und dies ist gerade für die Identifizierung und Zählung von Trans‘-Personen im Allgemeinen und Trans‘-Kindern und -Jugendlichen im Besonderen problematisch. Die meisten Schätzungen über den Prozentsatz von Trans‘-Personen an einer gegebenen Gesamtbevölkerung gehen von etwa einem Prozent aus, obwohl diese Zahl in verschiedenen kulturellen Umfeldern variieren wird. Allerdings liegt das Problem der Zählung eines zu einem überwiegenden Teil unsichtbaren Bevölkerungsanteils darin, dass das Ergebnis die vorherrschende Sichtweise, nämlich dass es nur sehr wenige Trans‘-Kinder gibt, aller Voraussicht nach einfach bestätigt. Hiervon ausgehend, leben in einem kleinen Land wie Luxemburg vermutlich mindestens 550 Trans‘-Kinder, eine Zahl, die nur wenig geringer

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ist, als die Anzahl der derzeit am Tavistock Institut in Großbritannien behandelten Trans‘-Kinder. Sollte die Anzahl der am Institut behandelten Kinder eine Aussage entsprechend den üblichen Schätzungen über den Prozentsatz von Trans‘-Personen an der Bevölkerung erlauben, dann müsste es in Großbritannien in der Tat fast 70.000 Trans‘-Personen geben.

Problematisierung von Trans‘-Personen Die Etikettierung von Trans‘-Personen als problembehaftet lässt sich als ein weiteres Merkmal der cis-geschlechtlichen Ideologie beschreiben. Seit ihren frühesten Anfängen stellt die Transgender-Forschung Trans‘-Personen als inhärent problematisch dar (vgl. z.B. Hirschfeld 1910). Die vermeintlichen Ursachen für die unterschiedlichsten Formen nicht konformer Geschlechtsidentitäten wurden insbesondere in neurologischen Besonderheiten verortet (Kruijver u.a. 2000; Rametti u.a. 2010). So wird Trans‘-Personen ein Intersex-Gehirn zugeschrieben, obwohl solche Behauptungen vom Großteil der neurologischen Forschungen entschieden widerlegt werden (Fine 2011; Jordan-Young 2011). Eine solche Problematisierung wirkt sich vermutlich trotzdem nachteilig auf jugendliche Trans‘-Personen und Trans‘-Kinder bzw. nicht geschlechtskonforme Kinder aus. Werden Kinder zu Psycholog_innen oder Psychiater_innen geschickt, so kann man davon ausgehen, dass sie sich als krank wahrnehmen und denken, sie müssten behandelt bzw. geheilt werden. Dies dürfte einer der Gründe für die hohe Zahl der so genannten Unterlasser_innen sein, also für diejenigen, die lieber unsichtbar bleiben als sich Stigmatisierungen auszusetzen. Viele Psycholog_innen konzentrieren sich allerdings auf andere Erklärungen für die Tatsache, dass die meisten Trans‘-Kinder im Alter von bis zu 12 Jahren scheinbar aufhören, trans‘ zu sein. So rücken gesellschaftliche und insbesondere soziale Gründe für dieses Phänomen in den Hintergrund.5 Als mögliche Gründe können genannt werden: familiärer Druck via Zurückweisung, schlechtes Passing im Sinn der fehlenden Anerkennung in der angestrebten Geschlechterrolle, Stigmatisierung, Unverständnis, mangelnde Akzeptanz.

Problematisierung des Unterschieds zwischen Cisgenderund Transgender-Personen Cis-Geschlechtlichkeit betrifft nicht nur Trans‘-Personen, sondern alle Menschen. Sie stellt einen der wesentlichen Mechanismen dar, mittels dessen sich die 5 | So wurde beispielsweise Ria Cooper faktisch zu einer Rück-Transition gezwungen. Das lag nicht daran, dass sie sich nicht mehr als transsexuell identifizierte, sondern war eine Folge des gesellschaftlichen Drucks. Vgl. Macaskill, G. (2012): »I was a boy ... then a girl ... now I want to be a boy again«: Agony of of teen who is Britain's youngest sex-swap patient. URL:http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/britains-youngest-sex-swap -patient-wants-1403321 [29.11.2013].

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Zweigeschlechterordnung und potenziell alles, was aus ihr folgt, wie beispielsweise männliche Hegemonie, Misogynie etc. durchsetzt. Abgesehen davon, dass derartige Mechanismen sich auf Trans‘-Personen in spezifischer Weise auswirken, hindern sie darüber hinaus auch cis-geschlechtliche Menschen und insbesondere bei der Geburt als Männer identifizierte Personen daran, Interesse für Tätigkeiten und Objekte zu äußern, die dem anderen Geschlecht zugerechnet werden. Allerdings muss auch deutlich gesagt werden, dass Cis-Geschlechtlichkeit sich unterschiedlich auf Männer und Frauen und ebenso unterschiedlich auf Männer und Frauen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten auswirkt. Es ist auch wichtig zu betonen, dass Trans‘-Personen sich zu spezifischen Sachverhalten politisch organisieren, um Menschen- und Bürger_innenrechte zu verteidigen oder zu erkämpfen; so kann Trans‘ zu einer sehr produktiven Kategorie avancieren. In einem anderen Kontext, in dem der Bezug zu den Menschenrechten nicht gegeben ist, wäre eine solche Kategorisierung möglicherweise weniger produktiv und würde problematische Unterscheidungen evozieren.

Die Essentialisierung von Geschlecht als biologisch determiniert, von Geburt an feststehend und unveränderlich In der gegenwärtig immer noch vorherrschenden Geschlechterideologie wird Geschlecht als essentialistisch verstanden. Sogar in der Trans‘-Community lässt sich dieser kulturelle Einfluss feststellen6; hier wird er zu Legitimierungszwecken verwendet, deren Effektivität jedoch dahingestellt sein mag. Messner (2000) zeigt, wie Erwachsene das Geschlecht von jüngeren Kindern selbst dann tendenziell essentialisieren, wenn nur wenige oder gar keine von Geburt an bestehenden, vermeintlich geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen zu erkennen waren. Erwachsene scheinen sich auf kleine Elemente vergeschlechtlichter Verhaltensweisen zu konzentrieren, die zumeist kulturell bedingt sind, und interpretieren sie dann als angeboren. Wenn Geschlecht in der Mehrheitsgesellschaft essentialisiert wird, dann gelten Personen, die sich den Vorgaben für ihr Geschlecht nicht anpassen, mit hoher Wahrscheinlichkeit als irgendwie problembehaftet. Kane (2006) zeigt allerdings, wie Eltern und insbesondere Väter, deren Kinder sich als Trans‘ oder nicht geschlechtskonform identifizieren, vor allem im Fall von dem männlichen Geschlecht zugewiesenen Kindern plötzlich eine sozialkonstruktivistische Ideologie vertraten: Sie beschuldigten sich selber dafür, ihr Kind nicht in einer ausreichend vergeschlechtlichten Weise aufgezogen zu haben. Wie auch immer begründet, dürfte es für Trans‘ und nicht geschlechtskonforme Kinder angesichts

6 | Z.B.: Blog: Women born transsexual. URL: http://www.womenborntranssexual.com/about/ [29.11.2013].

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dieser Delegitimierung schwierig sein, ihre erwünschten oder angestrebten Geschlechter anzunehmen.

Zuweisung und Zuschreibung von Geschlecht Dem Verständnis vieler Trans‘-Personen zufolge wird das Geschlecht einer Person bei der Geburt zugewiesen. Der Begriff der ›Geschlechtszuschreibung‹ umfasst zudem, wie Personen ihrem Gegenüber ein bestimmtes Geschlecht zuordnen. In beiden Fällen ist die andere Person die aktiv handelnde: Die Person, die die Geschlechtszuschreibung vornimmt, ist nicht die Person, die gegendert wird. In dieser Situation ist die vergeschlechtlichte Person kulturell als das passive Individuum positioniert. Geschlechtszuschreibung ist etwas, das andere mit uns tun. Für Menschen, deren Geschlecht nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, stellt dies ein erhebliches Problem dar. Zudem ist davon auszugehen, dass es für Trans‘ bzw. nicht geschlechtskonforme Kinder enorm schwierig sein kann, sich selbst zu verstehen. Wenn eine Person seit ihrer frühesten Kindheit permanent hört, sie sei ein Junge, sich aber gar nicht als Junge wahrnimmt, führt das aller Wahrscheinlichkeit nach zu Orientierungslosigkeit und potenziellen psychologischen bzw. emotionalen Problemen, bis hin zur vermeintlichen Nicht-Existenz. Die kulturell erzwungene Geschlechtszuschreibung stellt im Zusammenspiel mit den anderen Elementen der Cis-Geschlechtlichkeit – also mit der systemischen Auslöschung von Trans‘-Menschen und der Essentialisierung von Geschlecht – eine massive epistemologische, kulturelle und soziale Hürde für Trans‘-Kinder dar. Die von außen erzwungene Geschlechtszuschreibung ist allerdings nicht das einzige Problem, mit dem Trans‘-Personen sich auseinanderzusetzen haben, wobei eine erzwungene Geschlechtszuschreibung noch nicht einmal als problematisch wahrgenommen wird. Es ist nicht leicht, zahlreiche Beispiele dafür anzuführen, da es sich bei der kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit um eine weitgehend implizite, diskursiv schwach gesättigte Ideologie handelt. Der folgende Auszug aus einem Artikel in der Daily Mail über ein Trans‘-Kind möge als Beispiel genügen, zeigt sich hier anschaulich, wie die Kultur bzw. Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit in der Stimme einer individuellen Person zum Ausdruck kommt: »Die Großmutter eines fünfjährigen Jungen, der mittlerweile als Mädchen lebt, hat zugegeben, ihr sei es lieber, wenn er wieder zu seinem früheren Selbst zurückkehren würde, statt in pinken Kleidern

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herumzulaufen. Seit über einem Jahr trägt Zach Avery aus Purfleet, Essex, sein helles langes Haar in Zöpfen und besteht darauf, als ein Mitglied des anderen Geschlechts zu leben. Aber Jill Recknell, eine Mittfünfzigerin aus Alderney auf den Kanalinseln, sagt ganz offen, sie könne nicht akzeptieren, dass ihr Enkel plötzlich zu einer Enkelin geworden ist. Mrs. Recknell fügt hinzu, dass sie über die Entscheidung von Zachs Eltern, an die Öffentlichkeit zu gehen, verärgert ist. Gegenüber The People sagte sie: ›Ich würde ihn lieber Fußball spielen statt in einem pinken Kleid herumstolzieren sehen.‹ Mrs. Recknell meinte, sie liebe ihre Enkelkinder zwar bedingungslos, Zach würde für sie allerdings immer ein Junge bleiben – ›mit diesem Geschlecht ist er zur Welt gekommen, und so steht es auf seiner Geburtsurkunde.‹ « (Daily Mail vom 01.03.2012.)

In diesem Beispiel wird die cis-geschlechtliche Ideologie, in der sich Personen gegenseitig von außen ein Geschlecht zuweisen, auf zwei Ebenen sichtbar. Erstens verwendet die Daily Mail in ihrer Berichterstattung – anscheinend entsprechend ihrer üblichen Redaktionspolitik – dasjenige Geschlecht, das der Person bei der Geburt zugewiesen wurde. Das steht in direktem Widerspruch zum Trans Media Watch Style Guide7 und stellt damit, so ließe sich sagen, ein Beispiel für vorsätzliche Transphobie dar. Gerade weil dieses Misgendering, also die falsche Geschlechtszuschreibung nicht nur bei der Daily Mail, sondern bei vielen ähnlichen Zeitungen zur Redaktionspolitik gehört, ist es wichtig, diesen Punkt deutlich zu benennen. Und doch ist zweitens die vorsätzlich falsche Geschlechtszuschreibung, mit der Zachs Großmutter über sie spricht, kaum anders zu beschreiben denn als eine Erscheinungsweise der Cis-Geschlechtlichkeit. Es scheint auf beiden Ebenen kein Problem darzustellen, dass eine andere Person einer Trans‘-Person von außen eine Geschlechtsidentität zuschreibt. Möglicherweise wurde Mrs. Recknell auch falsch zitiert oder dazu ermutigt, Zach vorsätzlich das nicht von ihm gewünschte, das falsche Geschlecht zuzuschreiben. Allerdings ist die selbstverständliche Art, mit der die Daily Mail-Journalist_ in Zach bewusst das falsche Geschlecht zuschreibt, und die Tatsache, dass Mrs. Recknell beschlossen hat, Zachs Geschlecht nach eigenem Belieben zu definieren, bezeichnend für die Art und Weise, in der Personen in unserer Gesellschaft ein Geschlecht zugeschrieben wird. Sowohl Recknell als auch die Redakteur_in der Daily Mail sind offensichtlich davon überzeugt, dass es legitim ist, einem Kind ein bestimmtes Geschlecht aufzuzwingen; sie scheinen nicht der Ansicht zu sein, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Eine solche Zuschreibung führt im Zusammenspiel mit weiteren Elementen der Cis-Geschlechtlichkeit zu einer 7 | Trans Media Watch: MEDIA STYLE GUIDE. URL: http://www.transmediawatch.org/Documents/Media%20 Style%20Guide.pdf [29.11.2013].

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Delegitimierung von Trans‘-Personen und dazu, dass sie für sich selbst und für andere Personen nicht intelligibel sind. Im nun folgenden Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie das Konzept der Cis-Geschlechtlichkeit sich auf die autobiographischen Narrative junger Trans‘-Personen auswirkt.

Geschlecht als Narrativ Mit seinem Chronotopos-Konzept theoretisiert Bachtin (1981: 84-258) das Wesen des Narrativs. Ein Narrativ entfaltet sich über Zeit (chronos) und Raum (topos). Vice (1997) legt unter Bezugnahme auf den Film »Thelma & Louise« (Scott 1991) dar, dass Narrative zudem vergeschlechtlicht sind. Statt Narrative wie Bachtin als Raum x Zeit zu konzeptualisieren, schlägt sie vor, Narrative zukünftig zu denken als Raum x Zeit x Geschlecht. Vice zeigt, dass »Thelma & Louise« sich aufgrund der weiblichen Protagonistinnen qualitativ von früheren Roadmovies unterscheidet. Warum Bachtin diesen Faktor nie bedacht hat, ist leicht zu erklären: Als Mann, also als Angehöriger des vermeintlichen Normalgeschlechts, konnte er kaum auf die Idee kommen, ein Narrativ könne anders aussehen als das Narrativ, das er aus seiner vergeschlechtlichten Perspektive kannte. Erwachsene Trans‘-Personen mögen auf unterschiedliche Narrative zurückgreifen können; sie können einen alternativen Lebensstil wählen oder ein männliches Narrativ in ein weibliches umformen und umgekehrt. Das ist sogar ein verbreitetes Konzept: Wer bis dato eine geschlechtsangleichende Operation haben will, der_dem wird nahegelegt, eben diese Strategie der narrativen Anpassung anzuwenden. Post-operativen Transsexuellen wurde früher häufig empfohlen, nicht nur in einen anderen Landesteil umzuziehen (was in kleinen Staaten wie z.B. Luxemburg schwierig sein kann), sondern retrospektiv ein neues biographisches Narrativ zu erfinden, das vorgibt, sie seien schon immer cis-geschlechtlich gewesen. Das wurde von Stone (1991) hinterfragt, als sie eine Politik der Post-Transsexualität ausrief und forderte, Transsexuelle sollten ihr Leben offen als Transsexuelle leben können. Für Trans‘-Personen im Kindes- und Jugendalter ist es demgegenüber ein großes Problem, dass ihnen aufgrund der Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit keine unmittelbaren autobiographischen Narrative

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zur Verfügung stehen. Es gibt keine Narrative darüber, wie Kinder ihr Geschlecht ändern und dann ein glückliches und erfülltes Leben mit einem anderen Geschlecht als demjenigen leben, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Erwachsene Trans‘-Personen können auf biographische Narrative zurückgreifen (z.B. Davidson 2012; Drummond 2012; Morris 1974), aber für Kinder sind solche Narrative kaum zu finden – außer, sie wissen, wo sie im Internet danach suchen müssen.8

Cis-Geschlechtlichkeiten als Kultur Biographische Narrative sind kulturell determiniert, und in einer Kultur, die von der Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit geprägt ist, gestalten sich die verfügbaren biographischen Narrative ebenfalls cisgeschlechtlich, während Trans‘-Narrative nicht vorkommen. Das macht sich darin bemerkbar, dass Trans‘-Personen nicht nur für andere Personen als nicht intelligibel aufscheinen, sondern auch für sich selbst. Stryker (2006) stellt die Hypothese auf, dass der Ausschluss von Trans‘-Personen aus der europäischen Kultur mit kulturellen Entwicklungen erklärt werden kann, die vor etwa 500 Jahren in die Vorherrschaft des Materiellen über das Spirituelle bzw. Seelische mündeten. Diese Annahme wird durch einen kürzlich gemachten archäologischen Fund gestützt, bei dem eine 5.000 Jahre alte Transsexuelle in einem Grab in Prag entdeckt wurde.9 Der Körper wies eine männliche DNA auf, war aber so begraben, wie Frauen begraben wurden. So ist zu vermuten, dass Trans‘-Personen in frühen europäischen Kulturen auf Akzeptanz gestoßen sind. Die Tendenz, Trans‘-Personen aus der hegemonialen Kultur auszuschließen, lässt sich möglicherweise aber auch aus dem so genannten Begehren der Kultur nach Reinheit (Douglas 1966: 24) erklären: »Wir können schließen, dass Vollkommenheit ein Ausdruck von Heiligkeit ist. Heiligkeit erfordert, dass die einzelnen Dinge der Klasse entsprechen, zu der sie gehören. Sie erfordert außerdem, dass verschiedene Klassen von Dingen nicht vermischt werden dürfen.«Hier wird eine gesellschaftliche Tendenz zur eindimensionalen Kategorisierung erkennbar. Für Personen, die nicht einfach in eine Kategorie passen oder sich zwischen mehreren Kategorien bewegen, bringt das Bedürfnis nach eindimensionaler Kategorisierung massive Probleme mit sich. Strykers und Douglas’ Theorien leisten einen wichtigen Beitrag zu der Beantwortung der Frage, wie Trans‘-Personen ihre kulturelle Auslöschung als eine Folge der Cis-Geschlechtlichkeit erleben. In einer medial gesättigten Welt, die 8 | Das elfjährige Trans‘-Mädchen Jazz, Nachricht für Obama. URL: http://www.youtube.com/watch?v=AelO2L4H neE [29.11.2013]. 9 | The Telegraph (2011): URL: http://www.telegraph.co.uk/news/newstopics/howaboutthat/8433527/First-homo sexual-caveman-found.html [29.11.2013].

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Dinge verzerrt und übertrieben darstellt, wird es noch wahrscheinlicher als bisher, dass Trans‘-Kinder als Problem gelten, sobald sie erkennbar werden.

Schlussfolgerungen Kennedy und Hellen (2010) benennen das fehlende Vokabular als einen ganz wesentlichen Faktor, der jugendliche Trans‘-Personen daran hindert, sich über ihr Geschlecht klarzuwerden bzw. ein Coming-Out zu wagen. Durchschnittlich kommen Trans‘-Personen erstmalig im Alter von 15 Jahren und sechs Monaten mit Trans‘-Vokabular (trans‘, transgender, transsexuell) in Berührung. Dabei geht es eindeutig nicht einfach um das Erlernen neuer Worte, sondern um den terminologischen Schlüssel zu einer völlig neuen Welt. Dieser Lernprozess ermöglicht es Kindern nicht nur, sich selbst zu kategorisieren und mit einer bestimmten sozialen Gruppe zu identifizieren; vielmehr findet hier eine Art Offenbarungserlebnis in ihrer Selbstwahrnehmung statt. Trans‘-Personen berichten häufig von diesen Momenten: »Ich hatte das Trans‘-Wort nie zu meiner Verfügung«. »Ich hatte nie ein Wort dafür und kannte nicht einmal die Worte Transvestit, Transsexuelle und so weiter«. »Mit 12 habe ich in einer Zeitschrift über so jemanden gelesen und war überrascht, dass ich nicht allein damit bin«. »Ich glaube, ich habe mich damals wie ein Freak gefühlt, weil ich niemanden kannte, der so war wie ich«. Der versperrte Zugang zu trans‘-spezifischen Begriffen ist ein unmittelbares Resultat der kulturellen Auslöschung von Trans‘-Personen und damit ein Element der cis-geschlechtlichen Ideologie. Für viele oder sogar für die meisten jungen Trans‘ stellt das eines der massivsten Hindernisse auf ihrem Weg dar. Da Cis-Geschlechtlichkeit als eine diskursiv schwach gesättigte Ideologie funktioniert, ist es für die Auslöschung von Trans‘-Personen völlig ausreichend, sie einfach nicht beim Namen zu nennen. Die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle und die eigene Identität sprachlich zum Ausdruck zu bringen, macht es für viele Trans‘ enorm schwierig, für sich selbst intelligibel zu sein. Manche Kinder mögen in der Lage dazu sein, ihr nicht konformes Geschlecht mit Sätzen wie »Ich bin ein Mädchen« oder »Ich bin kein Mädchen« zu beschreiben; schwieriger vorstellbar

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ist es allerdings, dass die Eltern ihre Kinder tatsächlich verstehen, statt diese Äußerung einer Phase oder einer gedanklichen Verirrung zuzuschreiben. Allerdings schließen sich einige Eltern von Trans‘-Kindern seit einiger Zeit via Internet zu Gruppen zusammen. So erfahren sowohl die Kinder als auch die Eltern eine Unterstützung, die bis vor kurzer Zeit nicht denkbar gewesen wäre. Das Problem ist damit allerdings noch lange nicht gelöst. Viele Eltern von Trans‘- und nicht geschlechtskonformen Kindern stoßen nie auf hilfreiche Internetseiten wie Mermaids10 oder – das ist häufiger der Fall – akzeptieren schlicht nicht, dass ihr Kind transgender ist. Diese Kinder bleiben, wie so viele andere Personen, in der Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit gefangen, bis sie es schaffen, sich trans‘-spezifische Worte anzueignen. Für diese Kinder bleiben die Online-Communities von Trans‘-Personen und alle dort angebotenen Informationen, Unterstützungsangebote und Verweise auf die zuständigen Stellen hinter einer dichten Nebelwand verborgen, bis eines der Schlüsselworte ihnen Zugang zu diesen Communities verschafft. Informationen und soziale Netzwerke im Internet kann man nur finden, wenn man die Sprache kennt, die es dazu braucht. Sobald junge Trans‘-Personen ein trans‘-spezifisches Wort gelernt haben, kann sich ihr Leben rasant ändern. Sie verstehen beispielsweise plötzlich, warum sie sich früher nicht dazugehörig gefühlt haben; sie sehen, dass sie nicht allein sind, sondern dass es andere Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie ihnen. Die Aneignung des entsprechenden Vokabulars ist allerdings stark vom Zufall bestimmt und hängt häufig davon ab, ob jemand Zugriff auf die zumeist sehr schlecht beleumundeten Massenmedien hat. Die lexikalischen Schlüsselelemente bestimmen nach wie vor ganz maßgeblich, in welchem Alter und wie Trans‘-Kinder und nicht geschlechtskonforme Kinder anfangen können, sich selbst zu begreifen und ein in die Zukunft weisendes biographisches Narrativ für sich zu entwerfen, das für sie geeignet ist. Dass die cis-geschlechtliche Kultur Kinder daran hindert, solche Schlüsselwörter zu erlernen, ist eines der destruktivsten Elemente der epistemologischen sanften Gewalt, die Trans‘-Personen erfahren, und zudem ein Faktor, der sich potenziell negativ auf ihre psychische Gesundheit, ihr Selbstvertrauen, ihre schulischen Leistungen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft auswirkt. Dass Trans‘-Personen mittlerweile eine soziale Gruppe mit einer eigenen Gruppenidentität darstellen, dass die Angehörigen dieser Gruppe sich gegenseitig unterstützen und informieren, Druck auf die Politik ausüben und gemeinsam für Menschen- und Bürgerrechte kämpfen, ist ganz maßgeblich auf die Entwicklung und Verbreitung des Internets zurückzuführen (Whittle 1998). 10 | Englische Elterngruppe Mermaids: Familien- und individuelle Unterstützung für Teenager und Kinder mit Themen der Geschlechtsidentität. URL: http://www.mermaidsuk.org.uk/ [15.12.2013].

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Vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist das Internet das zentrale Medium, mit dessen Hilfe sich eine soziale Gruppe als solche formiert und vernetzt hat. Hier wird aber auch deutlich, dass die User_innen über das notwenige Vokabular verfügen müssen. Trans‘-Kinder müssen Zugang zu diesem Vokabular haben, damit sie verstehen, dass sie nicht allein sind und online Unterstützung von anderen jugendlichen Trans‘-Personen bekommen können – und zwar auch bzw. gerade dann, wenn ein Coming-Out zu Hause oder in der Schule für sie nicht möglich ist. Trans‘-Kinder sind in den allermeisten Fällen unerkannt. Daher sollte zu einer schulischen Gleichstellungspolitik prinzipiell auch gehören, dass alle Kinder bereits in der Grundschule das entsprechende Vokabular lernen – und zwar auch dann, wenn das Schulpersonal nicht weiß, ob in einer bestimmten Klasse überhaupt Trans‘-Kinder sind. In diesem Beitrag habe ich mich dem Begriff der kulturellen Cis-Geschlechtlichkeit gewidmet und die Auswirkungen dieser Ideologie auf Trans‘-Personen im Kindes- und Jugendalter analysiert. Trans‘-Kinder leiden zwar auch unter Transphobie11, aber man muss sich darüber bewusst sein, dass negative Einstellungen von Individuen nicht das einzige Problem für Trans‘-Personen darstellen. Die in unserer Gesellschaft vorherrschende Ideologie der Cis-Geschlechtlichkeit führt zu massiven Problemen, die hier insbesondere im Hinblick auf Kinder und Jugendliche dargelegt werden sollten.

Literatur Ansara, Y. G., Hegarty, P. (2011): Cisgenderism in psychology. Pathologising and misgendering children from 1999 to 2008. In: Psychology & Sexuality S. 1-24. Bachtin, M. (1981): The Dialogic Imagination. Four Essays. Texas: University of Texas Press. Benwell, B., Stokoe, E. (2006): Discourse and Identity. Edinburgh: Edinburgh University Press. Bourdieu, P. (1977): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Davidson, J. (2012): Undercover Girl. Growing up Transgender. Smashwords. 11 | Pugh, R. (2008): Lonely road: Why school is hell for transgender pupils. URL: http://www.independent.co.uk/ news/education/schools/lonely-road-why-school-is-hell-for-transgender-pupils-814378.html [29.11.2013].

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Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen Christel Baltes-Löhr

Zusammenfassung Werden Kinder von Eltern, Erziehenden und Lehrenden oftmals immer noch unbewusst oder unreflektiert zu typisch männlichem oder weiblichem Verhalten erzogen, dann zeigt ein Blick in den gesellschaftlichen Alltag, dass Kinder, die sich nicht als weiblich oder männlich einordnen lassen wollen sowie Elternschaften von Menschen, die den stereotypen Entwürfen von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht mehr entsprechen, keine Ausnahme darstellen, sondern vielmehr einen Einblick in die Vielfalt tatsächlich gelebter Lebensentwürfe eröffnen können. Welche Pädagogik wäre von Nöten, um den gelebten vielfältigen Existenzformen – auch hinsichtlich vielfältiger geschlechtlicher Existenzweisen – gerecht zu werden?

Relevanz von Geschlecht für die pädagogische Theorie und Praxis Hat die Frauenbewegung seit den 1970er Jahren dazu beigetragen, dass Erziehungspraxen hinsichtlich der ihnen inhärenten, normativen Vorstellungen zu Geschlecht überprüft werden, und hat die Frauenbewegung weiterhin im Zusammenhang mit den Forderungen nach Gleichberechtigung für Mädchen und Frauen die Förderung von Mädchen im pädagogischen Alltag mit spezifischen Angeboten für Mädchen in den Vordergrund der pädagogischen Debatte gerückt, dann wurde mit der Abkehr von essentialistischen Vorstellungen zur Wesenhaftigkeit von Frauen und damit auch von Männern immer deutlicher, dass nicht mehr von homogen gedachten Geschlechtern Frau und Mann

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auszugehen ist, sondern dass vielmehr die Unterschiede zwischen Frauen sowie die Unterschiede zwischen Männern ebenso manifest sind wie unterschiedliche Formen des Geschlechterverhältnisses. Der Ruf nach einer, die Jungen fördernden Pädagogik, wurde laut, wobei sowohl die feministische Mädchenarbeit als auch die Jungenarbeit oftmals an essentialistischen Vorstellungen von dem richtigen Mädchen und dem richtigen Jungen verhaftet bleiben. So schreibt Tim Rohrmann (o.J.) in einer Ausgabe der KiTa Fachtexte unter dem Titel »Gender im Kontext der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren«, dass es hinsichtlich der Angabe des Zeitpunktes, wann das eigene Geschlecht als solches erkannt wird, sehr divergierende Meinungen gibt und zieht folgenden Schluss: »Zwar können sich Kinder oft recht früh selbst als Junge oder Mädchen bezeichnen. Erst später verstehen sie jedoch, dass es zwei Geschlechter gibt, welches Geschlecht sie selbst haben und – vor allem – dass sich dies nicht mehr ändern wird.«1 Neben solchen immer noch wirkenden essentialistischen und essentialisierenden Ansätzen, hat jedoch die Einsicht in die auf Interaktionen und diskursiven Performanzen beruhende Konstruiertheit von Geschlecht deutlich gemacht, dass die beiden Kategorien weiblich und männlich keineswegs eine vermeintliche Wesenhaftigkeit von Menschengruppen abbilden können und somit nicht ausreichen, die tatsächlich gelebte Vielfalt der Geschlechter begrifflich fassen zu können. Der von Baltes-Löhr2 gemachte Vorschlag, Geschlecht als auf einem Kontinuum angesiedelt zu verstehen, welches nicht von den Eckpfeilern weiblich und männlich begrenzt ist, sondern mit den vier Dimensionen körperliches/physisches, psychisches, soziales und sexuelles Geschlecht als veränderbar, plural, polypolar und intersektional gilt, könnte hier eine Möglichkeit darstellen, die jeweils unterschiedlichen Geschlechter in ihrer historischen, kulturellen, räumlichen aber auch lebensbiographischen Varianz beschreiben zu können. Hiervon ausgehend könnten Vorschläge für eine entsprechende pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gleich welchen Geschlechts entwickelt werden, ohne dass die geschlechtergerechte, -reflektierende oder -sensible Pädagogik genau das stabilisiert, was zu überwinden sie vorgibt, nämlich eine traditionelle Geschlechterordnung von Frauen/Mädchen und Männern/Jungen, die wiederum trans- und intergeschlechtliche Personen allenfalls als große, im Grunde genommen die Normalität der Zweigeschlechtlichkeit bestätigende Ausnahme – oftmals staunend, häufig irritiert – betrachtet.

1 | Rohrmann, Tim: Gender im Kontext der Arbeit mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren. URL: http://www. kita-fachtexte.de/fileadmin/website/FT_Rohrmann_OV.pdf [03.01.2014]. 2 | Zum Versuch einer Begriffsdefinition siehe den Beitrag von Christel Baltes-Löhr in dieser Publikation: Immer wieder Geschlecht — immer wieder anders.

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Geschlecht als Norm Spricht Spinoza vom Verhaftet-Sein, von der Selbstbeharrung als dem Menschlichen, und erweitert Hegel diesen Gedanken, wenn für ihn Verhaftet-Sein nur unter der Bedingung der wechselseitigen Anerkennung möglich wird3, dann ergänzt Foucault dies durch den Gedanken, dass die Normen der Anerkennung der Produktion und Reproduktion der Vorstellung vom Menschlichen dienen (Butler 2009: 57). Normen haben jedoch keinen unabhängigen ontologischen Stellenwert, können aber auch nicht einfach auf ihre Erscheinungen reduziert werden. Normen werden durch ihre Verkörperungen (re-)produziert, durch Handlungen, die sich der jeweiligen Norm anzunähern versuchen sowie durch Idealisierungen, die in und durch solche Handlungen reproduziert werden (Butler 2009: 85). Geschlecht in seiner normativen Dimension kann somit bislang verstanden werden als »eine Form sozialer Macht« (Butler 2009: 84) und als Apparat, »durch den die Geschlechterbinarität eingerichtet wird« (Butler 2009: 84). »Als Norm, die unabhängig von den Praktiken zu sein scheint, die sie regiert, resultiert die Idealität von Gender aus dem wiederholt herbeigeführten Effekt genau jener Praktiken« (Butler 2009: 84). In der Triade Norm – Praktik – Ideal liegt aber auch die Möglichkeit der subversiven Veränderung der jeweiligen Aspekte der Triade durch Wiederholung und der in der Wiederholung innewohnenden Möglichkeit der langsamen Verschiebung, z.B. der Geschlechterpraktiken in Raum und Zeit. Hier zeigt sich die performative und historische Struktur von Geschlecht. Geschlecht bestimmt nicht nur das »Kriterium, nach dem wir beurteilen, ob eine Person ein Geschlechtswesen ist […] bzw. die Erkennbarkeit des Menschlichen« (Butler 2009: 98 f.), sondern auch, »wie wir uns selbst wahrnehmen oder nicht – auf der Ebene des Gefühls, des Begehrens oder des Körpers […]« (Butler 2009: 99). Diese Debatte ist eingebettet in die Frage nach der Entstehung des Menschlichen. Auch hier gilt, dass »die Geschichte der Kategorie nicht abgeschlossen und das ›Menschliche‹ nicht ein für alle Mal erfasst ist« (Butler 2009: 28). An dieser Stelle macht Butler einen bemerkenswerten Bezug zur Pädagogik, wenn sie betont, dass »dieses erneute Durchdenken des Wo und Wie der Entstehung eines Menschen […] auch ein Nachdenken über die soziale und die psychische Umgebung beinhalten (wird), aus denen ein Kleinkind hervorgeht« (Butler 2009: 29). Allerdings bleibt fraglich, inwieweit das von Butler als notwendig eingeforderte Angebot für Kleinkinder in dieser Form haltbar ist. Ausgehend von der Feststellung, dass im Rahmen der Queer-Theory die kategoriale Geschlechterzuordnung radikal in Frage gestellt wird, meint Butler: 3 | »Wenn wir nicht anerkannt werden können, wenn es keine Normen der Anerkennung gibt, durch die wir anerkannt werden können, dann ist es nicht möglich, im eigentlichen Sein zu beharren [verhaftet zu sein, Anm. CBL] und wir sind keine möglichen Wesen: wir sind von der Möglichkeit ausgeschlossen« (Hegel nach Butler 2009: 57).

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»Daraus folgt nicht, dass die Queer-Theory jedwede Geschlechterzuordnung bekämpfen würde oder die Wünsche derer fragwürdig machen wolle, die zum Beispiel bei Intersex-Kindern solche Zuordnungen sicherstellen möchten, weil Kinder sie durchaus brauchen können, um sozial zu funktionieren, selbst wenn sie später im Leben – um die Risiken wissend – zu dem Entschluss gelangen, ihre Geschlechtszugehörigkeit zu ändern.« (Butler 2009: 19).

Es stellt sich die Frage, ob hier nicht die Perspektive der Entdramatisierung von Geschlecht den Kindern viel stärker entgegen kommen würde, weil damit die Frage der Geschlechtlichkeit mehr in den Hintergrund des Geschehens rücken könnte oder gar gänzlich an Bedeutung verlieren würde. Es ist nicht jedoch nur schwer nachzuvollziehen, warum Kindern eine Orientierung angeboten werden soll, die dann später zu überwinden ist. Auch ist an dieser Stelle zu überlegen, ob nicht auch denjenigen Kindern, denen das Geschlecht weiblich oder männlich zugeschrieben wird und die sich diese Zuschreibung aneignen, ein weniger starres und plurales Verständnis von Geschlecht entgegenkommen würde. Wie viel Energie könnte eingespart werden, die bislang von Kindern, Jugendlichen und auch von Erwachsenen aufgebracht wird, um als richtige(s) Mädchen/Frau oder als richtiger Junge/Mann Anerkennung zu finden, wie viele geschlechtsbezogene Konflikte könnten reduziert oder vermieden werden. Die von Baltes-Löhr (siehe Fußnote 2) vorgeschlagene Definition von Geschlecht ließe in ihrer praktischen Anwendung und Umsetzung allen Menschen mehr Luft, mehr Raum für vielfältige Entwicklungen. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie eine Pädagogik aussehen könnte, die einen solchen Anspruch auf vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten gerecht werden möchte.

Pädagogik und Geschlechtlichkeit Fragen der Erziehung und Sozialisation wurden ebenso wie Vorstellungen zu Weiblichkeiten, Männlichkeiten und den Geschlechterverhältnissen schon seit Beginn der Frauenbewegung in den späten 1960er Jahren verstärkt thematisiert. So beschreibt Tervooren (2006) den Weg von der geschlechtsspezifischen Sozialisation zum performativen Geschlecht, Kunert-Zierl (2005) fasst die Etappen der pädagogischen Mädchen- und Jungenarbeit in Dekaden ab 1970 und Rhyner und Zumwald (2008) setzen unterschiedliche Brillen auf, um Geschlecht zu betrachten. Für die Jugendarbeit verweisen Rose und Schulz (2008) auf die einengenden Begrenzungen verschiedener Geschlechterbegriffe. Diese vier Betrachtungsweisen sollen im Folgenden kurz erläutert werden, um

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abschließend auf die Arbeiten von Olaf Stuve (2001) und Jenny Howald (2001) einzugehen, die von einem queer-theoretischen Standpunkt aus argumentieren. In Anlehnung an Liegle (2003) ist Erziehung zu verstehen als eine »bipolare – vermittelnde und aneignende – Tätigkeit im Rahmen von (inter- und intragenerationalen) Beziehungen« (Liegle 2003: 16). Beide Pole von Erziehung – Vermittlung und Aneignung – sind aufeinander bezogen und angewiesen. »Vermittlung kann nur wirksam werden, wenn sie auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Aneignung trifft.« (Liegle 2003: 16). Bildung wird dem Bereich der aneignenden Tätigkeit, also dem Aneignungspol von Erziehung zugeordnet. »Lernen kann als individuelle unterschiedliche Verarbeitung von Informationen und Erfahrungen mit der Umwelt verstanden werden und somit steht der Lernbegriff in einer engen Verbindung zum Aspekt der Aneignung im Erziehungsbegriff und somit zum Bildungsbegriff. Lernen beschreibt die Mechanismen und die Regelhaftigkeit der Prozesse zur Aneignung der Welt« (Liegle 2003: 17).

Ebenfalls bedeutsam ist der Begriff ›Entwicklung‹, womit die Veränderung der menschlichen Persönlichkeit im biographischen Verlauf in Bezug auf Leiblichkeit, Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen, sowie Verhalten gemeint ist. Hierbei spielen biologische Gesetze ebenso eine Rolle wie Erfahrung und Lernen. »Die Ermöglichung, Begleitung, Unterstützung und Anregung von Bildung, Lernen und Entwicklung kann als das allgemeinste Ziel der Erziehung beschrieben werden« (Liegle 2003: 18). In Bezug auf die Bedeutung der Geschlechterdimension für pädagogische Theorie und Praxis geht es um die Erklärung der Verlaufsformen derjenigen Entwicklungs- bzw. Konstruktionsprozesse, die dazu beitragen, dass Menschen ein Geschlecht annehmen oder auch nicht und damit um die Frage, welche Rolle Erziehung, Bildung, Lernen und Sozialisation innerhalb und außerhalb von Familien oder anderen Vergesellschaftungsformen der Privatheit in diesen Entwicklungs- bzw. Konstruktionsprozessen spielen können.4

Und nochmals: Soziale Determiniertheit versus aktive Aneignung von Geschlecht Nach Tervooren sind theoretische Modelle von Sozialisation eher auf der Seite des Widerfahrens (im Sinne Liegles: dem Pol Vermittlung im Erziehungsbegriff) angesiedelt (Tervooren 2006: 10), während konstruktivistische Ansätze eher die Eigenaktivität der Subjekte unterstreichen (Aneignungspol des Erziehungsbegriffs bei Liegle) (Tervooren 2006: 20). Nach Tervooren entwickelte sich

4 | Zu nicht-familiären Formen der Privatheit: siehe Butler (2009).

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aus der Debatte der 1970er Jahre über geschlechtsspezifische Sozialisation vor allem in Hinblick auf den emanzipatorischen Aspekt von Erziehung (Dausien nach Tervooren 2006: 10) immer mehr die Frage nach der Sozialisation von Mädchen, deren Lebenschancen nach Metz-Göckel (2000: 105 f.) als benachteiligend und defizitär angesehen werden. Der sozialisationstheoretische Begriff der ›Geschlechterrolle‹ der 1970er Jahre geht nach Tervooren vor allem auf eine von Talcott Parsons entwickelte Vorstellung von Sozialisation als Verinnerlichung sozialer Werte und Normen zurück, wobei dem Subjekt als Akteur jedoch wenig Raum zukommt. Die von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechterrollen sollen von dem Kind, das dem Erwachsenen in jeder Weise und Dimension als defizitär gegenübersteht, übernommen werden (Tervooren 2006: 11 f.). Biologischer Determinismus weicht einem sozialen Determinismus (Hopfner 1999: 135 ff.), solange nicht wie bei Hurrelmann (1983, 1986) die Vorstellung des »produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts« (Hurrelmann 1983: 91) Bedeutung gewinnt. Dennoch werden sozialisationstheoretisch oftmals die Differenzen zwischen den bipolar gedachten Geschlechtergruppen als gravierender angesehen als die Unterschiede zwischen Mädchen und zwischen Jungen. Nach Tervooren fasst Hagemann-White (1984) Sozialisation als Aneignung von Zweigeschlechtlichkeit, die jedoch von aktiv handelnden Kindern gestaltet wird. Hagemann-White verharrt dennoch im bipolaren Spektrum der Zweigeschlechtlichkeit. Die Abkehr von einer defizitären Perspektive auf das rezipierende, sich sozialisierende Kind wird in der sich in den späten 1980er Jahren etablierenden Kindheitsforschung ersetzt durch den Blick auf Kinder »als Produzenten von Kultur, als soziale Akteure und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft, deren Perspektiven herauszuarbeiten sind« (Honig 1999 nach Tervooren 2006: 13). Die Alltagspraxen von Kindern werden mit Hilfe ethnographischer Forschungsinstrumente eruiert. Neben Geschlecht kommt z.B. der ethnischen Herkunft hierbei eine große Bedeutung zu (Tervooren 2006: 13). Die stärkere Wahrnehmung der Eigenaktivitäten von Individuen vollzieht sich nach Tervooren nicht allein in der Kindheitsforschung, sondern mit Beginn der 1991 Jahre auch in der Geschlechterforschung, wenn von der Konstruktion der Geschlechter gesprochen wird und das Konzept des doing gender (West/Zimmermann 1991) die wechselseitig aufeinander bezogenen Aktivitäten der Akteurinnen und Akteure in den Vordergrund rückt: Geschlecht wird ständig interaktiv durch die Individuen selbst erzeugt und verfestigt. Diese konstruktivistische Wende findet in den Erziehungswissenschaften ebenso statt

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wie in der Bildungssoziologie und beeinflusst die Geschlechterdebatte enorm (Bilden 1991; Lemmermöhle u.a. 2000). Kritisiert wird an diesem Ansatz immer wieder – auch aus sozialisationstheoretischer Perspektive – die Überbetonung der intersubjektiven Interaktionen zu Ungunsten und unter Vernachlässigung strukturtheoretischer Kategorisierungen (Lindemann 1993). Kann ethnographische Kindheitsforschung in der Tendenz die Wirkmächtigkeit von Strukturen und das gesellschaftlich-historische Geworden-Sein eher ausblenden, dann fehlt sozialisationstheoretischen Ansätzen eher die Betonung der Eigenund Ko-Konstruktion der Akteurinnen und Akteure – vor allem wenn es um die Inszenierung, um die Konstruktionen von Geschlechtern geht. Die Inszenierung der Geschlechteridentitäten entspricht der performativen Wende, wie sie vor allem durch die Arbeiten von Judith Butler hervorgebracht wurde. Inszenierung und Performanz meint nicht, dass die Darstellung der Geschlechter ins freie Ermessen der Handelnden gestellt sei (Goffman 1994: 15). Im Kontext aller umweltlichen Gegebenheiten ist es der performative Akt des handelnden Subjektes, wodurch Geschlecht durch Sprechakte und Körperlichkeit ständig hergestellt wird. In der Notwendigkeit der Wiederholung liegt die Perspektive der subversiven Verschiebung von Geschlechtsidentitäten bzw. von Geschlecht. Allerdings bleibt bislang unklar, »wie aus den stetigen, in der konkreten Realisierung jedoch vielfältigen alltäglichen Verfehlungen des Normideals neue Muster entstehen, die normative wie formative Geltung erlangen« (Tervooren 2006: 20). Es gilt somit für die nahe Zukunft, die Prozesse des performativen Einübens von Geschlecht genau zu beobachten und dabei sowohl den Interaktionen als auch den Wirkmächtigkeiten von Strukturen und Normen Raum zu geben. Hiermit kann nicht zuletzt einer intersektionalen Perspektive Rechnung getragen werden, so dass neben der Pluralität der Geschlechter auch Aspekte wie sozio-ökonomischer Status, ethnische Orientierung, Alter, regionale Herkunft etc. in Betracht gezogen werden.

Geschlechtersensible Kinder- und Jugendarbeit: mehr als Mädchenarbeit bzw. Jungenarbeit? Kunert-Zierl (2005) gibt in Bezug auf die Mädchen- und Jungenarbeit neben der Beschreibung der Entwicklungen in der Praxis jeweils theoretische Erläuterungen zu den einzelnen Dekaden ab 1970. So finden sich bei der Montessori-Pädagogin Elena Gianni Belotti in der deutschsprachigen Übersetzung 1975 Vorstellungen von geschlechtsspezifischen Konditionierungen von Mädchen und Frauen,

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die schon mit der Schwangerschaft beginnen und Mädchen sozusagen unentrinnbar auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter ausrichten (Kunert-Zierl 2005: 28). Gleiches beschreibt Ursula Scheu (1977) in der Arbeit: »Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht«, deutlich angelehnt an den Satz von Simone de Beauvoir aus dem Jahre 1949, wenn sie in »Le deuxième Sexe« (dt.: Das andere Geschlecht) sagt, dass »Frauen nicht als Frauen geboren werden, sondern zu Frauen gemacht« werden (de Beauvoir 1949). Bei Scheu, deren Werk bis zum Jahr 2000 mehr als zwanzig Auflagen erreicht, werden Mädchen als Opfer patriarchaler Strukturen betrachtet. Sie sollen in geschlechtshomogenen Gruppen das einüben, was Jungen sowieso schon können, z.B. physische Gegenwehr. Ein entsprechendes Programm für Jungen wird lediglich theoretisch eingefordert, aber nicht praktisch umgesetzt. Verbunden mit einer marxistischen Gesellschaftskritik wird die kapitalistische Gesellschaft für die Entwicklung einer spezifisch weiblichen Identität verantwortlich gemacht. In der pädagogischen Alltagspraxis führt dies zu spezifischen Angeboten für Mädchen, um sie aus der – aus Sicht der Pädagoginnen – unterdrückten Situation zu befreien bzw. auf dem Weg zur Emanzipation zu unterstützen oder den Weg zu weisen. Nur am Rande sei bemerkt, dass ebenfalls in den späten 1970er Jahren Maria Mies Frauenforschung als Parteinahme für unterdrückte Frauen und als Suche nach Wegen aus der Unterdrückung zur Befreiung verstanden hat (Mies 1978). Ansätze, solche essentialistischen und defizitären Weiblichkeitsbilder zu hinterfragen ergeben sich, wenn in Bezug auf die Mütter-Töchter-Beziehungen von wechselseitigen Unterdrückungsprozessen gesprochen wird (Osterland 1978 nach Kunert-Zierl 2005: 31). Allerdings werden hier die Unterschiede zwischen den Frauen eher noch unter einem negativen Vorzeichen diskutiert, wenn Frauen, in diesem Fall Mütter und Pädagoginnen, häufig in einem Konkurrenzverhältnis in Bezug auf das Kind, vor allem die Tochter, betrachtet werden und nicht als im Feld der Erziehung an unterschiedlichen Positionen mit unterschiedlichen Perspektiven zum Konstruktionsprozess des Geschlechts von Kindern – mit all seinen Dimensionen – Beitragende verstanden werden. Somit verharren selbst diejenigen Ansätze, die Konzepte von Mütterlichkeit und Töchterlichkeit kritisch betrachten, dennoch in den Schuhen des altbekannten, traditionellen Konkurrenzdenkens und -handelns zwischen Frauen. Die Rivalität um die Gunst und die Anerkennung durch den Mann wird ersetzt durch die Rivalität um die Gunst des Kindes (Kunert-Zierl 2005: 32). Im Sinne einer an Butler angelehnten Anerkennungstheorie (Butler 2001) würde somit auch die Mütterlichkeit durch die Anerkennung seitens des Kindes konstruiert, wobei

Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen

der jeweiligen Geschlechtlichkeit der Akteure und Akteurinnen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Es ist zu fragen, ob sich Mütterlichkeit durch einen anerkennenden Sohn anders gestaltet als diejenige, die durch die Anerkennung durch ein Mädchen konstruiert wird5 und inwieweit Turbulenzen entstehen, wenn das Geschlecht des Kindes morphologisch nicht eindeutig zu sein scheint. Ebenso wäre die Konstruiertheit von Väterlichkeit in diesem Kontext zu betrachten und zu befragen. Außerdem lässt sich hier hinsichtlich der Professionalisierungsdebatte von Erzieherinnen und Erziehern die Frage anknüpfen, ob auch die Erzieherin und der Erzieher durch die Anerkennung seitens der Kinder zur Erzieherin/zum Erzieher wird, wie sich dieser Prozess der Konstruktion gestaltet und welche Effekte uneindeutige Geschlechterzuschreibungen beim erzieherischen Fachpersonal evozieren. In Bezug auf die Konstruktion von Geschlechtlichkeit wurde nach KunertZierl in den 1980er Jahren zunehmend die Bedeutung des subjektiven, aktiven Anteils von Mädchen und Frauen bei der Konstruktion von Geschlechtlichkeit in den Vordergrund der Betrachtungen gerückt. Weibliche Subjektivität steht zur Debatte und damit die Frage, ob nach Breitenbach/Hagemann-White tief verankerte und zum Teil auch liebgewonnene sogenannte weibliche Eigenschaften, die bislang als defizitär galten, »nicht doch auch ihr Gutes hätten« (Breitenbach/ Hagemann-White 1994: 254). Es kommt zu einer Aufwertung der immer noch bipolar gedachten Geschlechterdifferenz zugunsten der Weiblichkeit. Weibliche Bewältigungsformen im Alltag werden hoch geschätzt, Mädchen und Frauen kommen zu Wort, erhalten im symbolischen und haptischen Sinn mehr Raum. In den Jugendhäusern ist dies die Phase der Entstehung von Mädchengruppen, Mädchenräumen sowie von spezifischen Angeboten für Mädchen. Es sollen die Stärken der Mädchen erkannt und gefördert werden. 1981 forderte Michael Brunke eine geschlechtsspezifische Jungenarbeit, mit der Perspektive der Relativierung des männlichen Rollenverhaltens, vor allem im Hinblick auf männliche Aggressivität. 1987 begründete Ottemeier-Glücks die Notwendigkeit einer antisexistischen Jungenarbeit, die den Jungen die Möglichkeit eröffnet, ihr Rollenverhalten zu reflektieren und »die Fähigkeit am Leiden an der eigenen Rolle« (Ottemeier-Glücks 1987: 345) zu wecken. Das männliche Selbstkonzept sollte um sogenannte traditionell weibliche Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Kochen, Waschen und Putzen erweitert werden. Obwohl die antisexistische Jungenarbeit zum »Ende des Patriarchats« (Ottemeier-Glücks 1988: 381) beitragen sollte, blieben letztendlich Täter-Opfer-Schemata ebenso 5 | Schon 1984 bemerkt Hagemann-White: »Eine Mutter lächelt ihren Sohn weder mehr noch weniger an als ihre Tochter, sondern anders: Ihr Lächeln trägt einen anderen Sinn und andere Gefühle. Der Sinn und die Gefühle erwachsen aus der gesellschaftlichen Bedeutung, die es hat, ein zukünftiger Mann oder eine zukünftige Frau zu sein« (Hagemann-White 1984: 74).

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virulent wie die generelle Zuordnung von Jungen zu der potentiellen Herrschergruppe, der die Mädchen als potentiell Unterdrückte gegenüberstanden.6 Neben der antisexistischen Jungenarbeit, in der Weiblichkeit als der tendenziell aggressiven Männlichkeit überlegen betrachtet wird, wurde ebenfalls in den 1980er Jahren das Konzept der jungenspezifischen Bildungsarbeit entwickelt, die das Schema Herrscher und Beherrschte auflöst, indem auch die »anderen, nicht an der männlichen Norm orientierten Jungen, sowie die mächtigen Mädchen in der Jugendarbeit thematisiert wurden« (Adloff 1988: 376 f.). Ansätze der bewussten Jungenarbeit »stellen die Jungen als Individuen in den Vordergrund und verweisen auf Differenzen und Benachteiligungsstrukturen auch untereinander« (Kunert-Zierl 2005: 61). Die Beziehungen der Geschlechter zueinander werden eher aus der Perspektive der Jugendlichen selbst betrachtet und weniger aus einem gesellschaftspolitischen Blickwinkel. In den 1990er Jahren nehmen der Dekonstruktivismus und die oben erläuterten Vorstellungen Judith Butlers enormen Einfluss auf die Geschlechterdebatte. Viele feministisch orientierte Mädchenarbeiterinnen sehen hier jedoch eine Gefährdung ihres Gegenstandes, wenn Geschlechter als Ergebnisse von Konstruktionsprozessen zu verstehen sind und das gemeinschaftliche, gemeinsame kollektive Subjekt Wir-Frauen dekonstruiert wird. Für die Jungenarbeit dieser Dekade ist nach Kunert-Zierl kennzeichnend, dass neben der anti-sexistischen Jungenarbeit populärwissenschaftliche Veröffentlichungen wie »Kleine Helden in Not« (Schnack/Neutzling 1990) mit einer deutlichen Absage an die Vorstellungen vom starken männlichen Geschlecht weitreichende Beachtung finden. Sielert entwirft auf wissenschaftlichem Gebiet 1989 das Konzept einer reflektierten Jungenarbeit, die an den Stärken der Jungen ansetzt, auf Akzeptanz seitens der Jungen hofft, um so bei den Jungen eine Bereitschaft entstehen zu lassen, sich auch auf bislang eher unbekannte, auch sogenannte atypische Verhaltensweisen einzulassen und sie in das eigene Verhaltensrepertoire einfließen zu lassen. In der kritischen Jungenarbeit entwickelt Winter (Winter 1991, 1997) die Vorstellung von einer Vielfalt des Mannseins und vertritt damit ebenso wie Sielert (1989) Ansätze, die sich deutlich gegen alle essentialistischen Vorstellungen von Männlichkeit abgrenzen. Mit dem Konzept der emanzipatorischen Jungenarbeit wird betont, dass Männer selbst als »Opfer einer männerrechtlich strukturierten 6 | Diese Perspektive kommt noch 1997 in der Kampagne »Aktiv gegen Männergewalt« (Süddeutsche Zeitung 270/97 S. 38 vom 24.11.1997) zum Tragen, wenn die Koordinatorin der Aktion, Anita Heiliger, auf die Frage, ob damit gemeint sie, dass alle Männer potentielle Vergewaltiger seien, antwortet: »Ich sage nicht, dass alle Männer Täter sind, sondern dass in unserer Gesellschaft Voraussetzungen in der männlichen Sozialisation gegeben sind, die sie unter bestimmten Umständen zu Tätern werden lassen können. Bei Frauen ist das umgekehrt. […] Es gibt eine ganze Reihe von Männern, die die Gewalt ablehnen, das ist kein neues Phänomen. Aber diese Männer gelten nicht als diejenigen, die die Norm für Männlichkeit bestimmen«.

Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen

Gesellschaft« verstanden werden können (Schenk 1991: 102) und Jungen sowie Männer Unterstützung und Begleitung benötigen, um eine männliche Identität jenseits traditioneller Männlichkeitsnormierungen entwickeln zu können (Krüger 1993: 32 f). Mit dem Ansatz geschlechtsspezifischer Jungenarbeit sollen nach Spoden (1993) den Jungen geschlechtshomogene Räume zur selbstbestimmten und selbstbewussten Entwicklung der eigenen Identität geboten werden, jenseits der hegemonial wirkenden Männlichkeitsnorm. Spezifische Angebote nur für Jungen stehen auf dem Programm, sodass der Ansatz sozusagen als das Pendant zu der Mädchenarbeit seit den späten 1970er Jahren betrachtet werden kann, da die geschlechtsspezifische Mädchenarbeit ebenfalls vor allem unter dem Vorzeichen, Schutzräume vor dominanter Männlichkeit zu geährleisten, geschlechtshomogene Gruppen ins Leben rief. Nicht unerwähnt bleibt bei der Sichtung von Kunert-Zierl der mythopoetische Ansatz (Haindorff 1997), der im Wilden Mann den Krieger und Liebhaber vereint sehen möchte und von biogenetischen Unterschieden der zwei Geschlechter ausgeht. In Anlehnung an Horx wird der neue, sanfte, unkarrieristische Mann, häufig auch als Softy karikiert, als »groteskes Schreckgespenst der Emanzipationskultur« betrachtet (Horx nach Haindorff 1997: 129). In der Mädchenarbeit des beginnenden 21. Jahrhunderts hält der Dekonstruktivismus sozusagen durch die Hintertür Einzug, wenn das Konzept des doing gender (West/Zimmermann 1991) in geschlechterreflektierenden pädagogischen Ansätzen (Voigt-Kehlenbeck 2001) Berücksichtigung findet. Eine offene pädagogische Haltung, ein offener Blick für die Konstruktionsprozesse des doing gender, eine pädagogische Begleitung, die nicht auf Stabilisierung und das Erreichen einer abgeschlossenen Geschlechtsidentität ausgerichtet ist, setzt auf Seiten des pädagogischen Fachpersonals die Akzeptanz einer solchen Verunsicherung auch für die eigene subjektive Geschlechtsidentität voraus. Die von Kuhlmann (2000) aufgeworfene Debatte, dass dann Pädagoginnen von ihrer Vorbildfunktion hinsichtlich der Demonstration veränderten Rollenverhaltens entlastet seien, greift insofern zu kurz, da die Vorbildfunktion im pädagogischen Prozess – durchaus auch wechselseitig – erhalten bleibt, jedoch mit veränderten Inhalten: Vorbildhaft ist dann das Sich-Eingestehen, dass Geschlecht in ständigen Konstruktionsprozessen durchaus auch veränderbar ist. Hieraus können auch hinsichtlich einer intergenerationellen Perspektive neue Aspekte für die Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften und Mädchen und Jungen aufscheinen. Es sind nicht mehr nur automatisch die Erwachsenen, die über etwas verfügen, was die Jugendlichen erst noch erreichen oder eben stabilisieren müssen,

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sondern alle Akteurinnen und Akteure können sich über die Prozesse und Ergebnisse der Konstruktionsprozesse während unterschiedlicher biographischer Phasen verständigen, austauschen und sich der Ko-Konstruktion von Identitäten etwas bewusster werden. Auch andere Dimensionen wie Alter, aber auch der sozio-ökonomische Status, die kulturelle Herkunft etc. können hier eine Rolle spielen. Im Sinne einer solchen geschlechterreflektierenden Pädagogik werden Räume für Mädchen nicht mehr als Schutzräume gegen aggressive Männlichkeit verstanden, sondern als Freiräume, die es ermöglichen, Erfahrungen zu machen, die über die traditionellen Zuschreibungen hinausgehen. Dies gilt dann in gleichem Maß auch für Jungenräume. Für Rauw (2001) geht es in einer Mischung aus traditionell-feministischem und dekonstruktivistischem Ansatz zur Mädchenarbeit darum, dass »die Mädchen einen Raum erleben, in dem sie ihre Stärken und Schwächen zeigen und leben können. Sie sollen erfahren, dass ihre Meinung gefragt ist, ohne dass ihre Anerkennung an die Erfüllung einer Normalität gebunden sein darf.« (Rauw nach Kunert-Zier 2005: 54). Hier wäre jedoch zu ergänzen, dass wie weiter oben beschrieben, Anerkennung immer in einem normativen Kontext abläuft. Für die Mädchenarbeit müsste es also darum gehen, dass die Anerkennung nicht an die Erfüllung einer hegemonial vorgegebenen, als starr erscheinenden Norm gebunden ist und dass den Mädchen – und im Sinne der Geschlechterperspektive auch den Jungen sowie anderen Geschlechtern – Raum gegeben wird, um mit ihrem Tun, Handeln, Fühlen und Denken an der Konstruktion dessen, was als Geschlechter-Normalität aufscheint, aktiv beteiligt zu sein. In Anlehnung an die Prämissen von Rauw (2001) lässt sich Folgendes festhalten: 1. Mädchen- und Jungenarbeit bzw. Arbeit mit Geschlechtern setzt reflektierte Geschlechterbilder seitens des pädagogischen Fachpersonals voraus, damit die Klischees erkannt werden und Neugierde entstehen kann auf das, wie Mädchen, Jungen oder andere ihr Geschlecht inszenieren; eine Projektion der Sichtweisen und Annahmen des pädagogischen Fachpersonals auf die Jugendlichen sollte vermieden werden. 2. Die Interessen der Mädchen, Jungen und allen anderen Geschlechtern sind Ausgangspunkt für die pädagogische Arbeit. 3. Größtmögliche Partizipation und Empathie: Mädchen, Jungen und alle anderen sind aktiv an der Gestaltung des pädagogischen Geschehens beteiligt und zwar mit Respekt vor den Interessen des/der jeweils Anderen, was ein hohes Maß an Empathie einschließt.

Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen

4. Kontakt zwischen den Geschlechtern geschieht wechselseitig, über Generationengrenzen hinweg und in geschlechtshomogenen sowie in geschlechtsheterogenen Konstellationen. So können Probleme, Konflikte, Hemmnisse sowie Förderliches in Konstruktionsprozessen des doing gender erkannt werden und gleichzeitig Raum sein für Lösungsmöglichkeiten und Gestaltungen jenseits festgeschriebener oder gar determinierter Geschlechterbilder. Ein mehrfaches Sowohl-als-auch deutet sich hier an: Geschlechterarbeit ist zusammen zu denken; sowohl geschlechterhomogene als auch -heterogene Aspekte sind in die Arbeit einzubauen; pädagogische Fachkräfte sind sowohl Vorbild als auch Lernende, in jedem Fall aber Konstruierende; dies gilt sowohl für das pädagogische Fachpersonal als auch für die Jugendlichen. Hier sei auch ein Hinweis auf intersektional eingebettete Differenzkompetenz erlaubt, wenn es gilt, die beschriebenen Perspektiven nicht unter einen Hut bringen zu wollen, und damit oftmals verschwinden zu lassen, sondern neben- und miteinander bestehen zu lassen und damit der pädagogischen Begleitung der Konstruktionsprozesse von Geschlecht, aber auch von Identitäten in Bezug auf ethnische Herkunft, regionale Zugehörigkeit, Alter etc. Raum zu geben. Allerdings bleibt die Frage nach der Notwendigkeit einer spezifischen Berücksichtigung von transund intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen noch unbeantwortet.

Auf die Brille kommt es an – Paradigmen in ihrer Relevanz für den pädagogischen Alltag der Geschlechterkonstruktionen am Beispiel Schule Deutlich wurde bislang die weitreichende Bedeutung, die der pädagogischen Haltung von Erziehenden im Prozess der pädagogischen Begleitung zukommt. Dies wird auch in der Arbeit von Thomas Rhyner und Bea Zumwald (2008) differenziert dargelegt. Steht die Lesebrille als Symbol für sozialisationstheoretische Erklärungen hinsichtlich der gesellschaftsabhängigen Formung von Geschlecht, dann steht Binokular für evolutionsbiologische Erklärungen, die innerhalb der Sozialund Persönlichkeitspsychologie wieder mehr an Bedeutung gewinnen (Webster 2007), nachdem sie jahre- bzw. jahrzehntelang als reaktionär abgewertet wurden, was wiederum der Verkürzung und der missbräuchlichen Anwendung der wichtigen Frage nach einer erhöhten Überlebenschance für Menschen durch Anpassung an Umweltverhältnisse in rassistischen, nationalsozialistischen

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sowie sexistischen Vorstellungen geschuldet war. Bis heute bergen solche Ansätze jedoch immer noch die Gefahr in sich, dass sie zur Verfestigung von Geschlechterstereotypisierungen führen. Die Taucherbrille symbolisiert psychoanalytische Erklärungsansätze, »öffnet den Blick für die Tiefen der Seele und interpretiert Geschlechterunterschiede aufgrund psychoanalytischer Grundannahmen« (Rhyner/Zumwald 2008: 22). Mädchen und Jungen wird hierbei ein je eigenes Seelenleben unterstellt. Am Beispiel der Jung´schen Archetypen wie Anima als das Verbindende und Animus als das Unterscheidende und Erkennende erklärt die Wahl der Mädchen, sich auch im Spiel mit Pflege auseinanderzusetzen, und das Interesse der Jungen für den wilden Mann; hier zeigt sich ein deutlicher Bezug zu dem oben beschriebenen mythopoetischen Ansatz von Haindorff (1997). Auch die Perspektive der Taucherbrille kann zu einer Verstärkung stereotyper Sichtweisen auf Mädchen und Jungen führen. Außerdem betonen Rhyner und Zumwald, dass diese Brille in der Schule wohl weniger geeignet sei, dass sie eher die Basis für psychotherapeutische Interventionen und Therapien darstelle, als im Kontext der schulischen Arbeit mit Mädchen, Jungen und allen anderen in Klassenverbänden, Gruppen und im Sinne der Vermittlung und Aneignung von Bildungsinhalten. Die Schutzbrille steht für konstruktivistische Erklärungen, die – wie mehrfach erwähnt – Geschlechter als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse betrachten. Jungen, Mädchen, Lehrpersonal und alle anderen inszenieren und konstruieren Geschlecht. Güting (2004) hat mit dem Ansatz des doing gender für die Schule folgende Ebenen unterschieden: institutionelle Arrangements wie Klassenlisten, die nach Geschlechtern eingeteilt sind; Geschlecht als Zuteilungsbzw. Ordnungskriterium: Umkleideräume im Sport; geschlechterseparierte Toiletten- und Duschanlagen; optische Inszenierungen: Haare, Frisuren, Kleidung und Umgang damit: z.B. sich die Haare aus dem Gesicht streichen, obwohl gar keine Haare mehr im Gesicht hängen; Interaktionen, wie z.B. unterschiedlich inszeniertes Antwortverhalten bei Unsicherheit. Geschlechterinszenierungen sollten pädagogisch begleitet werden und auch hinterfragbar bleiben. Mädchen, Jungen und allen anderen ist Raum zu geben, konventionelle Rollenbilder auch im schulischen Alltag überschreiten zu dürfen. Es ist in diesem Zusammenhang aber auch immer wieder darauf hinzuweisen, wie notwendig im Fall eines intersektionalen Ansatzes auch Aspekte wie Alter, sozio-ökonomischer Status sowie kulturelle Herkunft sind und welch grosse Bedeutung ihnen hinsichtlich der Identitätskonstruktionen von Mädchen, Jungen und allen anderen zukommt.7 7 | Zum Konzept der Intersektionalität siehe: Knapp (2005); Lutz/Wenning (2001); McCall (2005).

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Geht es nach Rhyner und Zumwald (2008) im schulischen Alltag bzgl. des Umgangs mit Geschlecht um die drei möglichen Strategien: Gleichheit herstellen, Differenzen produktiv nutzen und Dekonstruktion ermöglichen, dann sei dies abschließend an einem Beispiel erläutert: Deutlich ist, dass die eigene Haltung der Lehrperson in Bezug auf die Erklärung von Geschlecht auch das professionelle Handeln prägt: Werden beobachtbare Geschlechtsunterschiede als biologisch begründet verstanden, dann wird die Lehrperson bestrebt sein, Kindern Raum zu geben, diese angeborenen weiblichen und männlichen Fähigkeiten und Eigenschaften zu entwickeln. Geht die Lehrperson von einer Konstruktion der Geschlechter aus, dann wird sie stark beobachten müssen, wo beispielsweise auch jenseits von normierten, traditionellen Geschlechterbildern Stärken und Schwächen von Schülerinnen und Schülern liegen. Gleichheit herstellen heißt dann, die Mädchen, Jungen oder anderen nicht von vorneherein mit einem Stereotyp zu belegen, sondern zu versuchen, dass alle Beteiligten am Unterrichts- und Pausengeschehen aktiv teilhaben. Gezielte Maßnahmen zur Förderung können z.B. so aussehen, dass in bestimmten Situationen, z.B. je nach Themengebieten, die Differenzen eine Rolle spielen, indem Mädchen und Jungen eigene Räume zur Verfügung gestellt werden, um z.B. bislang sogenanntes atypisches weibliches Verhalten auch den Mädchen und umgekehrt den Jungen bislang atypisches männliches Verhalten zur ermöglichen. So kann ein dekonstruktivistischer Ansatz zur Geltung kommen, wenn die Schülerinnen und Schüler sich auch jenseits der Geschlechterordnungen und -zuordnungen bewegen können. Hier ein Beispiel bzgl. der Pausenplatzgestaltung: Als Ausgangssituation wurde beobachtet, dass Jungen raumgreifend spielen sowie das in der Tendenz ruhigere, zurückgezogenere und auf Kommunikation ausgerichtete Spiel der Mädchen; Jungen bedrohen andere und markieren ihre Präsenz im Pausenhof auffällig. Gleichheitsstrategien könnten zur Konsequenz haben, dass eine gleichberechtigte Raumnutzung für Jungen, Mädchen und alle anderen hergestellt wird. Mädchen wie Jungen sollten positive Aspekte des Spielverhaltens der anderen Geschlechtergruppe teilweise einüben, und es sollte für alle normal werden, dass es Kinder gibt, die weder Mädchen noch Junge sein wollen oder die wie ein Junge aussehen, sich aber wie ein richtiges Mädchen fühlen und umgekehrt. Die Anwendung der Differenzstrategie würde dafür sorgen, dass dem Bewegungsdrang der Jungen Rechnung getragen wird und noch ein weiteres Bewegungselement im Pausenhof aufgestellt wird und dass die Mädchen

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gemütliche Räume zum Austauschen und Spielen vorfinden. In jedem Fall sollten Mädchen wie Jungen in die Pausenhofgestaltung einbezogen werden und Regeln gemeinsam erarbeitet und aufgestellt werden. Die Dekonstruktionsstrategie würde versuchen, Zuordnungen der Geschlechter nach typisch weiblich und typisch männlich aufzulösen und allen Schülern Raum geben, zusammen zu überlegen, wer wozu Lust hat. Die Lehrpersonen ermuntern Kinder und Jugendliche außerdem, sich in der anderen Geschlechtergruppe zu bewegen. Hier muss dann auch für die Bereitschaft in der Mädchen- bzw. Jungengruppe gesorgt werden, dass die jeweils dem anderen Geschlecht zugeordneten Mädchen oder Jungen als gleichberechtigte Mitglieder an dem Spielgeschehen der anderen Geschlechtergruppe Teilhabe haben. Der eher sanfte und zurückhaltende Junge und das eher starke und wilde Mädchen sollten sowohl in der geschlechtshomogenen Gruppe als auch in der geschlechterheterogenen Gruppe ihren Platz finden können und nicht auf Grund ihres Anders-Seins ausgegrenzt werden, schlimmstenfalls von beiden Geschlechtergruppen – wie dies im heutigen Schulalltag noch allzu häufig der Fall ist. Dies gilt auch für die sexuelle Orientierung von Mädchen und Jungen und ebenso für Kinder und Jugendliche, die keinem Geschlecht eindeutig angehören (wollen) oder ihr Geschlecht wechseln möchten. Die Kombination der drei Strategien im pädagogischen Handeln ermöglicht in Anlehnung an Rhyner und Zumwald eine wertfreie Entwicklung für Mädchen, Jungen und – so möchte ich hinzufügen – für alle anderen Geschlechter, die volle Ausschöpfung individueller Potentiale sowie Identitäten, die traditionelle Geschlechterbilder überschreiten oder in neuen Konnotationen aufscheinen lassen (Rhyner/Zumwald 2008: 38).8 Deutlich wir hier die Nähe zu den Vorstellungen der intersektionalen Differenzkompetenz, die es ermöglicht, mit Unterschieden sowie Ähnlichkeiten in Bezug auf Geschlecht ebenso wie in Bezug auf kulturelle Herkunft, sozio-ökonomischen Status oder Alter im Sinn einer kreativen Vielfalt umzugehen. Auch Rose und Schulz belegen die Notwendigkeit, aus der einengenden Perspektive der feministisch geprägten, oftmals essentialistisch anmutenden Differenz der Geschlechter herauszukommen und beschreiben dies anhand eines Forschungsprojektes in Frankfurter Jugendhäusern. Einengend ist der traditionell feministische Diskurs, wenn Geschlechterpädagogik in Jugendhäusern sozusagen automatisch gleichgesetzt wird mit Arbeit in geschlechtshomogenen Gruppen. Hier hat sich nach Rose und Schulz im Lauf der vergangenen Dekaden eine Regelhaftigkeit eingeschlichen, der die Mädchenarbeit hervorhebt,

8 | Ein weitere, diskurstheoretische Auseinandersetzung zur Thematik Schule und Geschlecht findet sich bei Jäckle (2009): Schule M(m)acht Geschlechter.

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Jungenarbeit bislang aber nicht genügend Raum bietet und die Geschlechterinszenierungen im heterogenen Feld zu sehr außer Acht lässt. Solche Inszenierungen im Jugendhaus beinhalten oftmals verbale Sexismen und gestische Anspielungen auf Sexualakte (Rose/Schulz 2008: 73). Es gilt, diese Inszenierungen in der Sinnhaftigkeit, die der Jugendliche einbringt, zu verstehen und nicht mit dem scheinbaren Allheilmittel der geschlechtshomogenen Gruppenarbeit zu reagieren, in der dann anderes Verhalten eingeübt sowie das aus der Perspektive der pädagogischen Fachkraft sexistische Verhalten diskutiert wird. Vielmehr geht es nach Rose und Schulz darum, die verbalen und habituellen Mitteilungen der Jugendlichen dechiffrieren und beantworten zu können. Genderkompetenz würde bedeuten, nicht jede öffentliche Bemerkung zum Thema Geschlecht auch als auf das Geschlecht bezogene zu verstehen. So könnte dem vordergründigen Gendertext seine hintergründige Bedeutung zukommen, die oftmals nicht auf Genderinhalte bezogen ist. Dieses De-gendering der Situationsbedeutungen bietet nach Rose und Schulz die Chance, sich von genderfixierten Deutungen der Inszenierungen zu lösen und damit das Risiko permanenter Missverständnisse zwischen Jugendlichen und Fachpersonal zu minimieren sowie einengende Handlungsspielräume zu erweitern. »Die Deutungsleistungen zu sozialen Botschaften müssen multiperspektivisch sein, um die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, dass sie richtig verstanden und richtig beantwortet werden« (Rose/Schulz 2008: 74), ganz im Sinne der intersektionalen Differenzkompetenz, die eine solche De-Codierung wie für das De-gendering kurz umrissen, auch für die Aspekte Alter, sozio-ökonomischer Status und kulturelle Herkunft ermöglichen könnte. Es gilt für den Genderbereich: »Wenn Gender draufsteht, ist nicht immer Gender drin.« Diese Vorstellung entspricht auch derjenigen von der Entdramatisierung des Geschlechteraspektes in der pädagogischen Arbeit, wie sie von Budde, Scholand und Faulstich-Wieland (2008) gefasst wird.

Queere Pädagogik Am Beispiel der Arbeiten von Olaf Stuve (2001) und Jenny Howald (2001) soll nochmals ein Blick auf explizite queertheoretische Ansätze in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geworfen werden. Ist es Zufall oder dennoch – trotz deutlicher queertheoretischer Kritik an Heteronormativität – eine Zementierung eben dieser bipolaren, binären Geschlechterordnung, wenn ein Mann zu pädagogischer Arbeit mit Jungen und eine Frau zu pädagogischer Arbeit mit Mädchen schreibt? Oder ist dies als Ausdruck der Resistenz der

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Geschlechterordnung zu werten? So betont Helen Sporbert (2009) im Anschluss an ihre Feststellung, dass die Geschlechterforschung derzeit dabei sei, neue Konzepte zu entwickeln, mit denen es nicht mehr so sehr darum gehe, die Anerkennung von Verschiedenheit zu debattieren, sondern vielmehr Fragen der Aufhebung des Geschlechts als Zwangszuschreibung: »Bis die Dekonstruktion von Geschlecht ins Bewusstsein der Menschen gelangt und eine Vorstellung z.B. nach Judith Butler real werden kann, wird noch eine Menge Zeit vergehen, vorausgesetzt, dies ist mithilfe des menschlichen Denkens und Handelns überhaupt umsetzbar und verbleibt nicht nur im Bereich der Theorie. In der Praxis wird weiterhin die Zweigeschlechtlichkeit bestehen bleiben, was dazu führt, dass ›[...] der ursprüngliche, politisch intendierte Ausgangspunkt erhalten [bleibt]: nach wie vor geht es um Abbau von Hierarchien, um die Verwirklichung von Demokratie‹ (Faulstich-Wieland 2003: 104). Das muss auch als derzeitiges Ziel einer geschlechtergerechten Schule und -gerechtem Unterricht gesehen werden, wobei das langfristige Ziel immer mitwirken muss und zwar nicht von einer heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit auszugehen und diese durch vielfältige Prozesse zu zementieren, sondern der Blick sollte sich auf die Ausbildung einer vielfältigen Geschlechterkultur richten und die Individualität jedes Menschen jenseits einer dualen Geschlechterordnung.« (Sporbert 2009: 16)

Pointierter lässt sich das momentan vorherrschende pädagogische Dilemma kaum beschreiben. Wie kann Nicht-Zementierung alter Geschlechterordnung erreicht werden, wenn alle immer noch Zement benutzen? Sollen Mädchen und Jungen, die Bekanntschaft mit einer Geschlechterordnung machen, an Konzepte herangeführt werden, von denen sie sich dann später wieder lösen sollen, können, wollen oder auch müssen? Wie kann eine Entdramatisierung geschlechtlicher Festschreibungen vonstatten gehen ohne binären Ordnungen zu viel Raum zu geben? Oder überhöht sich die Pädagogik gänzlich und sollte nicht eher gefragt werden, ob sie mit einem Verharren in Zweigeschlechterordnungen nicht viel mehr Schaden anrichtet als vermeintlich Gutes zu tun, wenn es heißt, theoretische Vorstellungen zur Auflösung bzw. Verschiebung der binären Geschlechterordnung seien noch nicht in der Gesellschaft angekommen oder wie sich Sporbert interpretieren ließe, dass die Dekonstruktion bipolarer Geschlechterordnungen – noch – nicht in das Bewusstsein der Menschen gelangt sei. Kann es nicht sein, dass die gelebten Realitäten mit ihren Vielfältigkeiten der Theorie möglicherweise um Lichtjahre voraus sind? Oder sind nicht doch mittlerweile Theorien entwickelt worden, die den diskursiv-performativen und interaktiven Konstruktionsprozessen u.a. von Geschlecht, Erziehung,

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Sozialisation und Bildung langsam auf die Spur kommen? Obwohl Franziska Hofmann mit ihrer empirischen Arbeit zu »Transsexualität und Sozialisation« (2009) in der binären Geschlechterordnung verbleibt, indem sie ein drittes Geschlecht zwar postuliert, es jedoch als sich aus Frau und Mann zusammensetzend fasst und in ihrer Arbeit abschließend die Aussage von Magnus Hirschfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts explizit unterstützt, wenn er damals meinte »Der Mensch ist nicht Mann oder Frau, sondern Mann UND Frau« (Hofmann 2009: 99; Hervorhebung wie bei Hofmann). Hinsichtlich der im vorliegenden Artikel zu diskutierenden Frage nach der Bedeutung von Pädagogik und Erziehung im Kontext einer angenommenen Vielfalt der Geschlechter, weisen die von Franziska Hofmann vorgestellten Ergebnisse ihrer Untersuchung einen von der Autorin selbst so nicht diskutierten Aspekt auf, der im Folgenden kurz erläutert werden soll. In der Auswertung der 12 von Franziska Hofmann mit erwachsenen Trans‘-Personen geführten Interviews hält sie in der tabellarischen Übersicht der chronologischen Lebensläufe fest, dass die früheste Erinnerung, transsexuell zu sein bzw. nicht dem zugeschriebenem Geschlecht weiblich oder männlich zu entsprechen, von drei der Interviewten auf ihr viertes, von zweien auf das fünfte, einmal auf das sechste und einmal auf das achte Lebensjahr datiert wurde. In einem Fall wurde das elfte Lebensjahr für eine erste solche Erinnerung angegeben, in zwei Fällen das zwölfte und einmal das 14. Lebensjahr. Eine der interviewten Personen hatte solche erinnerten Gefühle mit 50 Jahren und diese Person ist auch die einzige der 12 Interviewten, die angegeben hat, dass sie im Alter von 49 Jahren, also ein Jahr vor dem ersten erinnerten Gefühl des Andersseins, zum ersten Mal etwas von Transsexualität gehört habe. Zurück zu den anderen elf Interviewten. Hinsichtlich der Altersangaben für die ersten Erinnerungen, transsexuell zu sein, ohne oft überhaupt diesen Begriff zu kennen, können zwei Gruppen erkannt werden: eine Gruppe, die diese Erinnerungen eher vor der und eine die diese Erinnerungen eher in die pubertäre Lebensphase situieren. Sieben der Interviewten lassen sich der vorpubertären Gruppe und vier der pubertären Gruppe zuordnen.

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Erste TS Erinnerung

Erster Kontakt mit >TS

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Tab. 1: Auszüge aus der Tabelle bei Franziska Hofmann (2009: 89) zu den chronologischen Lebensläufen der von ihr Interviewten; eigene Berechnung.

Liegt das Coming-out bis auf eine Lebenssituation deutlich später als das erste erinnerte Gefühl, nicht dem zugeschriebenen Geschlecht zu entsprechen, dann haben allein diese 12 Menschen 226 Jahre in einer Lebenssituation gelebt, die nicht ihrem Fühlen entsprochen hat. Bemerkenswert sind nun an dieser Stelle die Schlussfolgerungen, die Franziska Hofmann aus ihren Ergebnissen zieht: »Man kann erkennen, dass sich ungefähr die Hälfte der Befragten dazu entschieden hat, die Gefühle zu verdrängen und den Erwartungen der Gesellschaft nachzukommen« (Hofmann 2009: 90). Die Autorin betont die Bedeutung der Medien als Sozialisationsfaktor und schreibt ihnen die Funktion zu, sich als »eine anonyme Plattform zum Gedankenaustausch anzubieten« (Hofmann 2009: 92). Die interviewten Trans‘-Personen werden von ihr abschließend folgendermaßen charakterisiert: »Wir haben also auf der einen Seite Menschen gefunden, die versucht haben, ihr Leben so normal und unauffällig wie möglich zu leben bis dieser Zustand nicht mehr ertragbar war. Auf der anderen Seite haben wir sehr junge Menschen, die schon früh erkannt haben, dass sie transsexuell sind und ihren eigenen Weg gegangen sind. Begünstigt wurde dies durch die heute viel offenere Informationskultur. Eins haben sie aber alle gemeinsam: sie haben irgendwann im Laufe ihres Lebens gegen das Normen- und Wertesystem ihrer Kindheit rebelliert und sich ihr eigenes geschaffen. Dass dies kein

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einfacher Weg ist und heute noch oft mit Ausgrenzung und Intoleranz bestraft wird, sollte jedem klar sein. Es zeugt von viel Mut und Willensstärke« (Hofmann 2009: 93 f.).

Wie viel hätte eine Pädagogik der Vielfalt hier beitragen können, wenn Kindern von Eltern, Erziehenden und Lehrenden in Familie, Kindergarten und Schule eine Vielfalt der Geschlechter als normal vorgestellt hätten. Hierbei geht es gar nicht darum, als Eltern, Erziehende oder Lehrende sein eigenes Geschlecht, sei es nun weiblich, männlich oder wie auch immer, zu verleugnen. Es geht vielmehr darum, die Normalität aller Geschlechter in familiären Kontexten, Kindertagesstätten und in Schulen – und hier nicht nur im Biologieunterricht – Einzug halten zu lassen. Wie viel Kummer, Sorgen und auch Nöte könnten Menschen erspart bleiben, die einer binären Zuschreibung von Geschlecht nicht entsprechen? Wie viel Energie hätten sie für andere Dinge nutzen können. Hier wird mehr als deutlich, welche Aufgaben vor der Pädagogik liegen, wenn sie einen adäquaten Beitrag zur Geschlechterpluralität leisten will. Informationen und Wissen um mehr als zwei Geschlechter sind vonnöten, Begriffe für das Gefühlte müssen angeboten werden, das alltägliche Tun kann sich nicht mehr nur auf zwei Geschlechterformen beschränken, Pädagogik will nicht weiter Lebenssituationen von Menschen auf drastische Weise einschränken. So spricht Olaf Stuve von der Praxis einer nicht-identitären Jungenarbeit (Stuve 2001: 288 ff.) und grenzt sich damit von solchen Ansätzen der Jungenarbeit ab, die in »irritierter Männlichkeit vorzugsweise ein Problem erkennt, die es wieder ins Lot zu bringen gilt« (Stuve 2001: 288 f). Im Gegensatz zu Wild Men, die eine ursprüngliche Männlichkeit inszenieren, Männerbüros, die ihre Jungenarbeit auf die Wiederbelebung männlicher Archetypen aufbauen (vgl. Haindorff 1997), »Boysclubs, die Jungen mit Kompass und Rucksack ins Feld gehen lassen« (Stuve 2001: 288), fasst Stuve nicht-identitäre Jungenarbeit also solche, die »sich weigert, Wahrnehmungen und Erfahrungen anhand der Differenzierung von männlichen und weiblichen Körpern zu organisieren« (Stuve 2001: 289). Als Beispiel für eine solche, nicht mehr in der Heteronormativität verhafteter Arbeit mit dem Körper berichtet Stuve von der Körperreise, die es Jungen ermöglicht, neue Erfahrungen zu machen und ihren Körper nicht im traditionellen Sinne der binären Geschlechterordnungen als Instrument des Geistes (Stuve 2001: 291) sondern als Ort der Entspannung, des Sich-Wohl- und Vertrautfühlens erlebbar zu machen. Die oftmals für viele nach einem eher traditionellen Muster erzogenen Jungen zum »Schweigen gebrachte Sprache des Körpers« (vgl. Kamper nach Stuve 2001: 292) soll mit solchen Körperreisen

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wieder Gehör erlangen. So zeichnet Zowie Davy (2011) in ihrer Arbeit zur Anerkennung Transsexueller hinsichtlich persönlicher, politischer und medizinischmedizinisch-rechtlicher Umsetzungen die Lebenssituationen von 24 Trans‘-Personen nach und legt dabei den Fokus auf Körperästhetiken, die es erlauben, die gelebten Erfahrungen von Trans‘-Personen, die einen passing, non-passing, beautiful, ugly, normative and non-normative Body haben (vgl. Davy 2011: 6). Ähnlich wie Stuve versucht Howald einen Entwurf für eine feministische Mädchenarbeit zu entwickeln, die zur Dekonstruktion traditioneller, essentialistischer Vorstellungen von Weiblichkeit einen Beitrag leisten könnte. Mit Rollenspielen zum Thema homoerotischer Verliebtheiten von Mädchen oder zum Streit mit Eltern wegen unterschiedlicher Vorstellungen zu Partnerschaften, Lebensweisen und Arbeit (Howald 2001: 306), mit der theatralischen Darstellung von 101 Frauentypen oder der Darstellung unterschiedlichster Frauentypen auch im Rahmen einer Modenschau kann auch das Postkartenspiel zum Einsatz gebracht werden. Hier werden Postkarten ausgelegt und die Mädchen sollen sich jeweils eine Postkarte mit einer Frauendarstellung aussuchen und erzählen, warum sie ihre Wahl getroffen haben. Werden historische Frauenporträts auf Postkarten angeboten, kann auch die Aufgabe folgen, die Geschichte der Porträtierten zu erkunden und der Gruppe vorzustellen. Interessant ist jedoch festzustellen, dass Howald hier den Gegensatz zwischen Mädchen und lesbischen Mädchen dekonstruieren will, indem auch das lesbische Mädchen als normales Mädchen betrachtet werden soll. Keine Rede ist bei Howald jedoch von jenen Mädchen, die sich nicht als Mädchen sehen, obwohl der Artikel dies entsprechend seiner Überschrift »Ein Mädchen ist ein Mädchen ist kein Mädchen?« erwarten ließe. Was bleibt für den pädagogischen Alltag?

Geschlechterreflektierende bzw. geschlechtssensible Pädagogik In einer geschlechterreflektierenden bzw. geschlechtssensiblen Pädagogik werden faktisch vorhandene Unterschiede zwischen Geschlechtern erkannt und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten jenseits vorgegebener Klischees angeboten. Geschlechterreflektierende bzw. geschlechtssensible Pädagogik fördert und fordert somit Vielfalt von Lebensentwürfen junger Menschen, gleich welchen Geschlechts (vgl. IEES 2000). Dieses Konzept geht grundlegend von folgenden Annahmen aus: •

Geschlechter sind Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse und deshalb veränderbar (dynamischer Aspekt),

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damit sind auch die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern veränderbar (dynamischer Aspekt), Geschlechter und Geschlechterverhältnisse entstehen innerhalb eines historischen, kulturellen und sozialen Kontextes (kontextueller Aspekt), Geschlechter sind immer noch an stereotype Vorstellungen gebunden (normativer Aspekt), Geschlechter sind immer noch an Vorstellungen der Höher- bzw. Minderwertigkeit eines Geschlechts oder bestimmter Geschlechtsmerkmale gebunden (normativer Aspekt), Geschlechter werden oft im Kontext einer dualistischen Zweigeschlechtlichkeit betrachtet (heterosexueller Aspekt).

Geschlechterreflektierende bzw. geschlechtssensible Pädagogik • •

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trägt dazu bei, dass Geschlecht als soziales Unterscheidungskriterium an Bedeutung verliert, versteht Geschlecht in den Dimensionen körperlich/physisches, psychisches, soziales und sexuelles Geschlecht; Geschlecht gilt als auf einem Kontinuum angeordnet, als veränderbar in Raum, Zeit und lebensbiographisch, als polypolar, plural und intersektional eingebettet, richtet sich in gleicher und je nach Situation spezifischer Weise an alle Geschlechter, eröffnet allen Geschlechtern in geschlechterhomogenen und in geschlechtergemischten Gruppen Chancen zur Entwicklung und Realisierung eigener Vorstellungen von Geschlecht, regt zur Wahrnehmung der Geschlechterunterschiede und -ähnlichkeiten an, reflektiert heteronormative Geschlechterbilder und stellt die Selbstverständlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit in Frage, setzt sich bewusst mit stereotypen Geschlechterbildern auseinander und stellt sie in Frage, enttabuisiert homo-, bi- und andere sexuelle Orientierungen, verzichtet auf eine Zuschreibung homosexueller Orientierungen bei Trans‘und Intersex-Personen, ist sensibel für die tatsächlich existierenden Geschlechterverhältnisse und die damit immer noch verbundenen vorherrschenden Diskriminierungen, ist sensibel für eine Utopie hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse und somit für eine neue Geschlechterkultur, sieht die Vielfalt der Lebenslagen und Haltungen von Kindern und Heranwachsenden und reflektiert gemeinsam mit ihnen deren Vorstellungen vom eigenen Weg,

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bietet individuelle Entwicklungsmöglichkeiten außerhalb traditioneller Rollen an, nimmt wahr, wie sich bei Jugendlichen das Geschlechterverhältnis und die Bilder von Geschlecht verändern, tritt für Geschlechtergerechtigkeit ein, bekennt sich zur Gleichwertigkeit der Menschen, kann in allen Bereichen des pädagogischen Alltags Anwendung finden (vgl. Vernetzungsstelle für Gleichberechtigung).

Hieraus ergeben sich einige Anforderungen an pädagogische Fachkräfte, die gemeinsam die Verantwortung für eine Praxis reflektierter geschlechtssensibler Ansätze übernehmen und sich bewusst für die Anwendung eines solchen Ansatzes entscheiden: • • • •

Reflexion der eigenen Vorstellungen und Bilder von Geschlechtlichkeit, Reflexion des eigenen Verhaltens als geschlechtlich verortete Person, Reflexion der pädagogischen Arbeit, Teilnahme an geschlechterreflektierenden Weiterbildungen.

Abschliessende Fragen • • • • • • • •

Welche Vorstellungen und Praktiken von Geschlechtlichkeit sind im privaten und professionellen Alltag virulent? Welche kulturellen Traditionen sind mir als pädagogischer Fachkraft eigen? Welche sind mir sozusagen selbstverständlich geworden? Welche Normen und Werte sind mir für meine eigene Person, aber auch für meine professionelle Tätigkeit von Bedeutung? Welche Normen und Werte sind in meinem beruflichen Handlungsfeld von Bedeutung? Welchen Raum nehmen unterschiedliche kulturelle Gewohnheiten und Traditionen im pädagogischen Alltag ein? Gibt es im pädagogischen Alltag einen vorherrschenden kulturellen Dominanzdiskurs? Welche Möglichkeiten haben Adressatinnen und Adressaten ihre kulturellen, ethnischen altersspezifischen oder auch religiösen Vorstellungen und habituelle Gepflogenheiten im pädagogischen Alltag einzubringen?

Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen



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Welche religiösen Feste werden gefeiert? Welche kulturellen Bräuche spielen im pädagogischen Alltag eine Rolle? Sind die Herkunftsorte bzw. Herkunftsregionen aller Akteurinnen und Akteure bekannt? Wie findet die sprachliche Verständigung statt? Welche Rolle spielen Eltern, Familie und soziales Umfeld im Rahmen meines pädagogischen Handelns? Was bedeutet für mich Fremdheit, Anderssein, Verschiedenartigkeit? Welcher ethnischen Gruppe fühle ich mich verbunden? Zu welcher ethnischen Gruppe gehöre ich bzw. würde ich gerne gehören? Wie gehe ich mit anderen um? Welches Verhalten erwarte ich von anderen? Was wäre, wenn die Kategorie Geschlecht eine weniger bedeutsame Rolle in unserem Leben spielen würde ?

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Transidentität und Pubertät

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Zusammenfassung Eine frühzeitige medizinische Begleitung ermöglicht gendervarianten Kindern und Jugendlichen eine harmonischere Entwicklung. Durch die Verzögerung der Pubertätsentwicklung kann wertvolle Zeit für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema gewonnen werden, ihre Folgen gleichen jenen der Verzögerung der vorzeitigen Pubertät. Werden die Antigonadotropine abgesetzt, tritt die Pubertätsentwicklung wieder ein, sofern keine Hormontherapie zur Geschlechtsveränderung erfolgt. In diesem Fall wird das gewünschte Ergebnis schneller erzielt, wodurch zahlreiche Behandlungen zur Korrektur einer unerwünschten Geschlechtsentwicklung vermieden werden können. Die psychologische Begleitung der Kinder und ihrer Familien ist während dieser Phase empfehlenswert.

Zur Terminologie Wir sprechen von Transidentität2, da es sich hierbei um eine Identität handelt und nicht um eine Form von Sexualität oder sexuellem Begehren. Transidentität bezieht sich auf die Identitäten von Trans‘-Personen, seien diese transgeschlechtlich (in der französischen Originalversion: transsexe) oder transgender in der französischen Originalversion: transgenre). Ebenso haben wir den Begriff ›transsexuell‹ durch ›transgeschlechtlich‹ ersetzt, da er nicht auf mögliche Formen des sexuellen Begehren oder der sexuellen Praktiken, also der Sexualität verweisen soll und aufgrund seiner terminologischen Nähe zu den Begriffen ›homosexuell‹ und ›heterosexuell‹ dementsprechend ungeeignet ist. Der Begriff ›transgeschlechtlich‹ baut auf dem Konzept des Begriffes ›transgender‹ 1 | Originalfassung in französischer Sprache. 2 | Der im französischen Original verwendete Begriff ›transidentité‹ ist an den deutschen Begriff ›Transidentität‹ angelehnt, der von Support Transgenre Strasbourg ins Französische übersetzt wurde.

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auf. Mit dem Begriff ›Trans‘-Personen‹ beziehen wir uns gleichermaßen auf ›transgeschlechtliche Personen‹ wie auf ›Transgender-Personen‹. Wie bekannt sein sollte, können Trans‘-Personen heterosexuell, homosexuell, bisexuell, asexuell etc. sein. Wir verzichten auf die Verwendung der Begriffe ›Transsexualität‹ und wenn möglich ›Transsexualismus‹ und sprechen stattdessen im weiteren von ›Transidentität‹. Unter Transidentität wird eine atypische Geschlechtsidentitätsentwicklung oder Gendervarianz verstanden. Nur weil lediglich eine Minderheit diese Varianz der Geschlechtsidentitätsentwicklung aufweist, stellt sie nicht zwangsläufig eine Pathologie dar – Linkshänder_innen wird auch nicht aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Minderheit eine Geschicklichkeitsstörung diagnostiziert.

Vorteile einer frühzeitigen medizinischen Begleitung Im folgenden Abschnitt werden Pubertät, Hormontherapie zu Beginn der Pubertät, hormonelle Behandlung 16-jähriger Polynesierinnen sowie ihre physiologischen und psychologischen Folgen thematisiert. Kurz gefasst werden die Vorteile einer frühzeitigen medizinischen Begleitung dargestellt. Ein von Press For Change im Jahre 1998 in Oxford abgehaltener Kongress, auf dem ein schottisches Ärzt_innenteam seine Ergebnisse der Hormontherapie bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 vorstellte, und die auf der Homepage von Lynn Connway geschilderten Erfahrungsberichte, zusammen mit meiner persönlichen Entwicklung sowie die Aussagen zahlreicher transidenter Personen, denen ich in den vergangenen 20 Jahren begegnet bin, bestärken mich in meiner langjährigen Überzeugung, die da lautet: Die frühzeitige Begleitung von Kindern und Jugendlichen ist ein Modell für die Zukunft. Gendervariante Personen müssen bereits in der Kindheit mit einer besonderer Aufmerksamkeit werden. Hierbei handelt es sich insbesondere um die Begleitung der Jugendlichen und ihrer Familien sowie ggf. um die medikamentöse Verzögerung der Pubertätsentwicklung von deren Beginn bis zum Alter von 14 bis 16 Jahren. Im Idealfall kann im durchschnittlichen Eintrittsalter in die Pubertät des jeweiligen Zielgeschlechtes, also für MtF3 im Alter zwischen 12 und 13 und für FtM4 im Alter zwischen 14 und 15 Jahren, eine gegengeschlechtliche Hormontherapie verordnet werden. Dies würde den betroffenen Jugendlichen eine parallele Entwicklung zu ihren Gleichaltrigen 3 | MtF: male to female, Transition von Mann zu Frau. 4 | FtM: female to male, Transition von Frau zu Mann.

Transidentität und Pubertät

ermöglichen. Allerdings wäre es bereits ein großer Fortschritt, wenn sich die französischen Endokrinolog_innen, die nur sehr selten bereit sind, Jugendliche zu betreuen, einer möglichst frühzeitigen Verzögerung der Pubertät noch vor der vollständigen Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale zustimmen würden. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, die Kinder bereits ab einem Alter von 8 bis 10 Jahren zu begleiten. Wenn die Pubertätsentwicklung bereits in vollem Gange ist, bedarf es (wie bei Erwachsenen auch), einer aktiven gegengeschlechtlichen Hormontherapie, um die vollzogene Entwicklung wieder umzukehren und ein zufriedenstellendes Passing in dem der Identität entsprechenden Geschlecht zu ermöglichen. Seit den 2000er Jahren bin ich im Rahmen meiner Arbeit ungefähr fünfzehn Polynesierinnen begegnet, die auf Tahiti im Alter zwischen 14 und 16 Jahren eine Hormontherapie begonnen hatten. Es schien schier undenkbar zu denken, dass diese Frauen nicht als Frauen geboren wurden. Diejenigen, die vor ihrem 18. Lebensjahr keine Hormontherapie in Anspruch genommen hatten, mussten auf plastisch-chirurgische Maßnahmen zurückgreifen. In ihrer Herkunftsregion ist Transidentität neben den beiden anderen Mehrheitsidentitäten (Frau oder Mann) eine kulturell akzeptierte Entwicklungsmöglichkeit. In Polynesien gibt es in jeder Familie mindestens eine transidente Person im breiteren familiären Umfeld (Geschwister, Cousins, Cousinen). Transidentität ist dort also ziemlich häufig anzutreffen. Dank eines derartigen Kontextes verläuft die persönliche Entwicklung harmonischer, die Trans‘-Personen sind frei von Scham. Eventuell vorhandene psychologische Schwierigkeiten unterscheiden sich nicht von denen der restlichen Bevölkerung. Eine im Alter zwischen 14 und 16 Jahren einsetzende Hormontherapie führt zu vergleichbaren Ergebnissen wie jene des oben erwähnten schottischen Teams. Da sich die männliche Pubertät der MtF nicht einstellen kann, verläuft die weibliche Entwicklung optimal: Das Knochengerüst (insbesondere der Hände und Füße) bleibt zierlicher und die Taille niedriger, durch die entsprechende Verteilung des Fettgewebes entstehen weibliche Rundungen (z.B. an den Hüften), zu denen das Muskelgewebe im Schulterbereich in einer günstigen Proportion steht, der Stimmbruch bleibt aus, Adamsapfel und Körperbehaarung sind wenig ausgeprägt. Die Epilation der Gesichtsbehaarung, das Stimmtraining sowie die operative Feminisierung des Gesichts und des Halses werden überflüssig. Das körperliche Erscheinungsbild entwickelt sich schnell und eindeutig feminin. Die vergleichsweise früher einsetzende Pubertät der FtM muss von ihrem

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Beginn an verzögert werden. Anschließend wird eine im Alter zwischen 14 und 16 Jahren einsetzende Hormontherapie ebenfalls positive Auswirkungen haben: Das Knochengerüst entwickelt sich stämmiger, die Körpergröße (insbesondere die Länge der Hände und Füße) nimmt um einige Zentimeter zu, die Entwicklung des Muskelgewebes und Verteilung des Fettgewebes ergeben günstige Proportionen zwischen Schultern und Hüfte und damit der gesamten Figur, die Mastektomie wird hinfällig, der männliche Haarwuchs entwickelt sich. Wird der Eintritt in die männliche Pubertät nicht verzögert, lässt sich das entsprechend entwickelte Muskelgewebe durch eine spätere feminisierende Hormontherapie nicht immer in vergleichbarer Weise zurückbilden. Analog dazu fällt die Entwicklung des Muskelgewebes durch eine virilisierende Hormontherapie geringer aus, wenn diese erst nach einer abgeschlossenen weiblichen Pubertät verabreicht wird. Ärzt_innen behalten sich Behandlungen vor, solange die Fragestellung nur eine Minderheit betrifft. So wollen siche eine vermeintliche Neutralität bewahren und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen. Tatsächlich ist dieses Nicht-Handeln allerdings alles andere als neutral. Die Folgen sind ebenso bedeutend wie die einer gegengeschlechtlichen Hormontherapie. Eine annähernd neutrale Haltung würde vielmehr in der Zustimmung zu einer Blockierung der pubertären Entwicklung bestehen, da so nicht nur wertvolle Zeit gewonnen würde, sondern den jungen Trans‘-Personen ggf. auch die oftmals schwierige Umkehrung unerwünschter Pubertätsentwicklungen zum Preis wesentlich massiverer Behandlungen erspart bliebe. Durch eine frühzeitige medizinische Begleitung von Trans‘-Kindern können Verzweiflung, Leid, Gehänsel, Stigmatisierung, Kollateralschäden im familiären Umfeld, schulisches Versagen, Angstzustände, Depression, Selbstmordgedanken und deren Durchführung vermieden werden. Die psychologische Entwicklung und die Sozialisierung der Jugendlichen könnte ausgewogener verlaufen, ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen könnten sich positiver gestalten. Bei intergeschlechtlichen Personen hingegen sind medizinische Eingriffe, die auf ihr atypisches Wesen zielen und nicht der Lebenserhaltung oder Gesundheitsförderung dienen, zu unterlassen. Die während der Kindheit verabreichte Hormontherapie stellte für alle mir bekannten intergeschlechtlichen Personen eine große seelische Belastung dar. Sie schilderten, wie diese Behandlung ihr Leben zerstört habe und wünschten, die Hormone wären ihnen nicht verabreicht worden. Für sie stellten diese Behandlungen eine tatsächliche Misshandlung dar.

Transidentität und Pubertät

Es ist unabdingbar, intergeschlechtliche oder transidente Kinder nicht in die eine oder in die andere Richtung zu drängen, sondern ihnen zuzuhören und sie zu begleiten, ebenso wie ihre Familien. Die Kinder in ihrer Entwicklung zu bremsen, ist keine Lösung. Vielmehr müssen alle sich anbietenden Möglichkeiten mit ihnen besprochen werden, damit sie für sich selbst die beste Entscheidung treffen können. Es ist wirksamer, sie als vollwertige Partner_innen in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.

Reife Von transidenten Personen kann nicht erwartet werden, dass sie psychologisch ausgeglichener seien als der Rest der Bevölkerung. Ein solcher Anspruch darf nicht als zwingende Voraussetzung für die Anwendung der verlangten Behandlungen gestellt werden. Die Tatsache, sich mit einer Hormontherapie besser zu fühlen und die Behandlung fortführen zu wollen, scheint mir aussagekräftiger als jegliche psychologische Beurteilung. Solange die Barriere der psychologischen Genehmigung von den Endokrinolog_innen und Chirurg_innen weiterhin gefordert wird, werden die Beziehungen zwischen Trans‘-Personen und Psycholog_innen verfälscht sein. Die Psychotherapie mit Trans‘-Personen gestaltet sich schwierig, obwohl manchmal ein tatsächlicher Bedarf besteht. Die Personen, die sich eine Hormontherapie wünschen, sollten für ihre Entscheidung die Verantwortung tragen und Gesundheitsexpert_innen sollten für diese Entscheidung nicht juristisch belangt werden können, sondern lediglich für die fachgerechte Anwendung adäquater medizinischer Maßnahmen zuständig sein. Eine Person, die sich ihrer Geschlechtsidentität nicht sicher ist, kann sich Unterstützung holen, um ihre Situation besser verstehen und eine aufgeklärte Entscheidung treffen zu können. Wenn die betroffene Person nicht selbstständig entscheiden möchte, so darf dies auch keine dritte Person an ihrer Stelle tun. Wenn die betroffene Person den Weg der Transition wählt, so stellt sie damit ihre Reife unter Beweis. Ich habe bereits des Öfteren erlebt, dass nur jene diesen Weg gehen, die dazu auch wirklich bereit sind. Reife ist ein psychologisch komplexes Phänomen, das verschiedene (intellektuelle und emotionale) Charakteristika sowie mehrere Ebenen beinhaltet, die von den verschiedenen Entwicklungsstadien (oral, anal, …) abhängen, die von der Mehrheit der Menschen nicht alle erreicht werden. Bestimmte Elemente entwickeln sich nur, wenn der Transidentität ein adäquater Rahmen geboten wird, andere entwickeln sich vielleicht in einem späteren Lebensabschnitt und in Abhängigkeit von bestimmten Ereignissen. Dies hängt in erster Linie von

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den Individuen und ihrer persönlichen Geschichte ab. Ein bestimmtes Maß an intellektueller Reife ist für eine freie und informierte Einwilligung zu einer Behandlung sicherlich notwendig. Es müssen aber nicht alle Ebenen der emotionalen Reife vollständig ausgebildet sein, auch wenn einige bei einer derartigen Entscheidung durchaus hilfreich sind.

Eventuelle neben der Transidentität bestehende Besonderheiten Eine nicht unwesentliche Anzahl transidenter Personen haben einen Intelligenzquotienten (IQ) von über 125, was im Allgemeinen besondere kognitive und emotionale Fähigkeiten impliziert, welche jedoch nicht mit psychischen Störungen verwechselt werden dürfen. Als Beispiele seien genannt: ein ausgeprägtes Bewusstsein bzgl. Depression sowie eine gesteigerte Emotionalität hinsichtlich ungelöster emotionaler Probleme. Trans‘-Personen haben nicht selten sexualisierte Übergriffe und Gewalt erfahren, sei dies innerhalb der Familie oder außerhalb. Andere haben physische oder psychische Gewalt erfahren. Auch hier müssen die verschiedenen Elemente differenziert betrachtet und eventuelle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung als solche erkannt werden. Diese steht jedoch nicht zwingend in Zusammenhang mit der atypischen Identitätsentwicklung, vor allem, wenn diese schon vor den Übergriffen oder Gewalterfahrungen vorhanden war. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Anzahl transidenter Personen (40 bis 50 %) leiden unter Angstzuständen oder Depressionen, ca. 10 % meiner transidenten (volljährigen wie minderjährigen) Klient_innen weisen Anzeichen von Autismus auf (Asperger-Syndrom, hochgradiger Autismus). Diese Phänomene sind mit einer Transidentität nicht unvereinbar. Die World Professional Association for Transgender Health kommt in der 7. Version ihrer Standards of Care zum gleichen Schluss und hält auf Seite 7 fest: »Es ist relativ häufig für geschlechtsdysphorische Kinder, co-existierende nach innen gerichtete Störungen wie Angst und Depression zu haben (Cohen-Kettenis/Owen/Kaijser/Bradley/Zucker 2003; Wallien/Swaab/Cohen-Kettenis 2007; Zucker/Owen/Bradley/Ameeriar 2002). Die Prävalenz von Störungen aus dem Autismus-Spektrum scheint bei klinisch gesehenen geschlechtsdysphorischen Kindern höher zu sein als in der allgemeinen Bevölkerung (de Vries/Noens/CohenKettenis/van Berckelaer-Onnes/Doreleijers 2010)« (WPATH, 2011).

Transidentität und Pubertät

Nach meinen Erfahrungen mit transitionierenden Personen kann ich festhalten, dass eine Hormontherapie für einige von ihnen durchaus auch Auswirkungen auf das psychische Befinden haben kann. Meiner Ansicht nach darf das Risiko der Entwicklung einer bipolaren (manisch-depressiven) Störung nicht unterschätzt werden. In diesem Sinne ist eine psychologische Begleitung vor allem zu Beginn der Hormontherapie sinnvoll. Die depressionsfördernden Nebenwirkungen der in Frankreich zugelassenen Antiandrogene sind ebenfalls bekannt. Diese Medikamente sollten demnach bei Menschen, die bereits unter einer depressiven Verstimmung gelitten haben, nicht angewendet werden. Auch wenn sie wegen ihrer vergleichsweise hohen Kosten oft verworfen werden, stellen Antigonadotropine bei entsprechender Verträglichkeit hier eine wirksame Alternative dar.

Formen der therapeutischen Beziehung In der Therapie muss die Trans‘-Person auch grammatikalisch entsprechend ihrer Geschlechtsidentität adressiert werden, vor allem, wenn sie dies explizit wünscht und zwar unabhängig von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Hier sollten sich die Therapeut_innen anpassungsfähig zeigen. Dabei handelt es sich nicht etwa darum, die Fantasien der Trans‘-Person zu teilen oder sie in ihr zu bestärken, sondern vor allem darum, sie nicht zu demütigen. Sie nutzt das therapeutische Angebot, weil sie sich bereits auf eine Auseinandersetzung eingelassen hat oder ein bestimmtes Problem als solches zu erkennen glaubt und darin eine fachliche Bestätigung sucht. Viele Jugendliche benötigen diese Bekräftigung von außen nicht, da sie sich ihrer sicher sind. Wenn sie zweifeln, nehmen sie i.d.R. kein therapeutisches Angebot in Anspruch und thematisieren diese Frage nicht. Das Ziel der Therapie ist zunächst die Feststellung der Fähigkeit der Trans‘-Person zu einer freien, informierten Einwilligung, die Vermittlung einer deutlichen und an ihre Verständnisfähigkeiten angepassten Information sowie die Überprüfung, ob sie sich ebenfalls an anderer Stelle Beratung eingeholt hat und sich der Folgen der angestrebten Behandlungen bewusst ist. Hier müssen sich die Therapeut_innen dem Tempo der Trans‘-Person anpassen, also nicht zu schnell arbeiten, aber auch nicht zu langsam, und auf ihre Bedürfnisse bezüglich der Häufigkeit der Sitzungen, der zu bearbeitenden Themenfelder sowie der Art der gewünschten hormonell-chirurgischen Behandlungen eingehen. Die mir im Rahmen meiner Arbeit begegneten Trans‘-Personen haben mich gelehrt, dass sich romantische oder erotische Anziehung im Laufe der Zeit ändern

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kann. Hierbei handelt es sich um soziale Konstruktionen, die im Kontext der Heteronormativität (dem politischen System, welches Heterosexuelle produziert) zu verorten sind. Wir müssen es uns gestatten, unsere Vorurteile über Geschlechterrollen und Sexualität zu hinterfragen, um eine größere Freiheit zu gewinnen. Kindern und Jugendlichen fällt die Dekonstruktion von durch Geschlechternormen tradierter Sexualität verhältnismäßig leicht. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass die in Frankreich nach wie vor gängige Einteilung in primäre oder sekundäre Transsexualität überholt ist und auf internationaler Ebene bereits vor Jahren abgelegt wurde. Die Kriterien sind ebenfalls flexibler geworden. In der Psychotherapie tauchen immer wieder Elemente auf, die in der Kindheit verdrängt wurden, weil sie damals nicht vorstellbar waren. Dieses Phänomen tritt auch in der Arbeit mit intergeschlechtlichen Personen auf, die während der Kindheit oder Jugend einer Behandlung unterzogen wurden. Nur weil sich eine Person erst vergleichsweise spät outet, verheiratet ist und Kinder hat, darf sie deswegen nicht als sekundär klassifiziert werden.

Hormone und Pubertät Die Verabreichung des Schwangerschaftshormons Progesteron für FtM erscheint mir kontraproduktiv. Zwar wird die Aktivität der Eierstöcke unterdrückt, aber gleichzeitig werden die negativen Auswirkungen dieses Hormons begünstigt: (teilweise erhebliche) Gewichtszunahme und ungünstige Verteilung des Fettgewebes (entgegen der gewünschten Verteilung). Die Unterdrückung der Regelblutung ist zwar ein wichtiger Aspekt, der allerdings nicht um jeden Preis errungen werden sollte, zumal es dafür durchaus vorteilhaftere Lösungen gibt. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Funktion der Gonaden zu unterdrücken: Die erste besteht in der langfristigen, kontinuierlichen Verabreichung natürlicher, von den Gonaden produzierter Hormone (dies entspricht dem Prinzip der Verhütung durch kontinuierliche Verabreichung der Pille, die bei Frauen zum Ausbleiben der Monatsblutung führt), aber diese Methode ist für Trans‘-Personen unabhängig von ihrem Alter keine Option. Die zweite Möglichkeit unterdrückt die Hormonproduktion der Gonaden durch Einwirken auf den Rückkopplungsmechanismus. Mit dieser Methode kann ggf. die Pubertät der Jugendlichen verzögert werden, sodass sie einige Jahre Zeit für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema gewinnen. Diese Methode ist zwar kostspieliger als die üblicherweise verwendeten Gegenhormone, letztere sind allerdings nicht neutral und leiten durch ihre hormonelle Wirkung eine Art Pubertät ein.

Transidentität und Pubertät

Eine dritte Möglichkeit für erwachsene Trans‘-Personen besteht in der direkten Verabreichung einer aktiven Hormontherapie mit Hormonen des gewünschten Geschlechts (Testosteron für FtM, Östrogen und Progesteron für MtF) ggf. in Kombination mit der zweiten Methode. Nach einer Behandlungsdauer von sechs Monaten ist diese Methode für die Mehrheit der Behandelten gleichermaßen wirksam. Dennoch muss jede Hormontherapie individuell gestaltet und anschließend an eine eingehende Beratung abgesprochen werden. Die Entscheidung muss von Ärzt_in und Patient_in gemeinsam getroffen werden. Wird einer MtF eine Behandlung mit Antiandrogenen vorgeschlagen, so sollten diese nie als alleiniges Medikament verordnet werden, sondern immer in Kombination mit Östrogenen. Die tägliche Dosierung sollte hier 100 mg nicht überschreiten und die Einnahme muss nach einer Gonadektomie beendet oder durch Progesteron ersetzt werden. Eventuelle Nebenwirkungen müssen beobachtet werden. Die nach zwei Jahren möglicherweise eintretende Unfruchtbarkeit ist die einzige irreversible Wirkung dieser Behandlung. Alle weiteren Veränderungen sind reversibel und entsprechen letztlich der Veränderung des geschlechtlichen Erscheinungsbildes erwachsener Trans‘-Personen durch eine hormonelle Behandlung. Zudem muss die Verabreichung aller drei Hormone kontrolliert werden, um eine Entsprechung der jeweiligen Spiegel mit dem gewünschten Ergebnis sicherzustellen. Einige Gesundheitsexpert_innen sagen, dass sie Jugendlichen keine Hormontherapie zuteilwerden lassen und ihre Pubertät nicht verzögern möchten, da sie die Langzeitfolgen für deren Gesundheit nicht kennen. Gleichzeitig scheint die neurochemischen Behandlung zu unruhiger Kinder5 keine besondere Besorgnis bezüglich der Langzeitfolgen für das Gehirn hervorzurufen. Das Grundproblem ist jedoch das gleiche. Sicher haben Antigonadotropine nicht unwesentliche Nebenwirkungen, trotzdem kommen sie bei Kindern, deren verfrühte Pubertät verzögert werden soll, zum Einsatz und eine Beeinträchtigung der neurologischen Entwicklung ist nicht bekannt. Was für diese Kinder möglich ist, sollte es auch für Trans‘-Kinder sein, nachdem ihnen der aktuelle Kenntnisstand über diese Behandlungsform ehrlich vermittelt und somit die Möglichkeit einer aufgeklärten Entscheidung eingeräumt wurde. Seit den 1990er Jahren ist dieses Vorgehen in mehreren Ländern zulässig: USA, Kanada, Großbritannien, Niederlande, Deutschland, Australien etc. Warum sollte dies in Frankreich nicht möglich sein?

5 | Kinder, die unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit oder ohne Hyperaktivität (ADHS) oder einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung leiden; Letzteres ist die neue Bezeichnung des autistischen Spektrums in seiner Gesamtheit.

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Tom Reucher

Hormontherapie als psychologisches Testverfahren Die in den ersten drei Monaten der Hormontherapie hervorgerufenen Veränderungen werden vom Umfeld der Person, die ihr Wohlbefinden unter Einnahme der Hormone des anderen Mehrheitsgeschlechtes prüfen möchte, nicht wahrgenommen. Diese Wirkungen sind mit dem Absetzen der Hormone vollständig umkehrbar. Im Allgemeinen merkt die Person innerhalb der ersten drei Monate, ob dies tatsächlich der richtige Weg für sie ist. Dieser Hormontest ist wesentlich wirksamer als jede psychologische Beurteilung. Eine Person, die sich nach dreimonatiger Behandlung nicht besser fühlt, sollte sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Behandlungsfortführung auseinandersetzen. Mögliche irreversible und relativ undramatische Veränderungen beim Abbruch einer virilisierenden Hormontherapie nach drei Monaten wären eine größere Klitoris und eine tiefere Stimme (vergleichbar mit der einer 40-Jährigen, die täglich mehr als 20 Zigaretten raucht). Die einzige Folge des Abbruchs einer feminisierenden Hormontherapie, wie sie seit 2000 in Frankreich verabreicht wird, wären vergrößerte Brustwarzen (ohne jedoch eine tatsächliche Entwicklung der Drüsenfunktion).

Schlussfolgerung Die Betreuung transidenter Kinder kann beginnen, sobald sie einen entsprechenden Wunsch äußern, oder sobald sie sich als gendervariant erweisen, auch wenn sie sich dabei nicht in Richtung einer Transition bewegen. Sollten sie sich während oder nach einer Begleitung für eine Transition entscheiden, können schnell angemessene Lösungen angeboten werden. Beginnt die Begleitung zum Zeitpunkt des Eintritts in die Pubertät oder kurz davor, kann durch eine Pubertätsverzögerung einer Entwicklung in die aus der Perspektive der minderjährigen Person falsche Richtung entgegengetreten und wertvolle Zeit gewonnen werden. Die Hormontherapie ist bei einer vorangegangenen Verzögerung der Pubertätsentwicklung effektiver. Letztere kann bei einem Behandlungsabbruch ihren Lauf immer noch dort fortsetzen, wo sie unterbrochen wurde. Da nicht alle Menschen im gleichen Alter in die Pubertät eintreten, kann diese problemlos für ein oder zwei Jahre verzögert werden. Im Falle einer Transition werden genitalchirurgische Eingriffe nur für jene Personen wirklich notwendig sein, die dies wünschen.

Transidentität und Pubertät

Eine Vornamensänderung kann sehr früh erfolgen, sodass Schulzeugnisse dementsprechend angepasst werden können. Eine Änderung des Personenstandes könnte nach 18-monatiger Hormontherapie oder ab der Volljährigkeit möglich sein. Der berufliche Werdegang würde so von Anfang an im gewünschten Geschlecht bestritten. Im Idealfall würde der Geschlechtereintrag aus dem Personenstand aller Personen gänzlich gestrichen und auch in keinem anderen Dokument erwähnt, so wie es auch im Falle der Hautfarbe und der Religionszugehörigkeit geschehen ist. Geschlechtliche Kategorisierungen sind die Brutstätte des Sexismus, so wie rassifizierende Kategorisierungen die Brutstätte des Rassismus sind.

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Analyse und Ausblick

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten von einer Konferenz zu Geschlechternormen 1

Todd Sekuler

Zusammenfassung Neben einer bewusst knapp gehaltenen Übersicht über Konferenzverlauf und -inhalte fokussiert der analytische Ausbilck auf die Thematisierung von Affekt u.a. in seiner Subjekt-Objekt-Verwobenheit und geht der Frage nach, wie gerade im Rahmen einer Konferenz über Geschlechternormen über die Wirkmächtigkeit von Affekten für ebendiese Geschlechternormen nachgedacht, reflektiert und diskutiert werden könnte – oder eben nicht. Wie und wo wird dem Affekt Raum gegeben, wo sucht er sich Raum? Mit dem Ausblick wird diskutiert, wie mittels der mächtigen Emotionen Glück und Optimismus als Kräfte des Affektes einige Körper ein- und andere Körper ausgeschlossen werden und wie durch die Offenlegung der Grausamkeit von Glücksversprechungen und Konferenz-Optimismus eben solche Grausamkeiten überwunden bzw. produktiv gewendet werden könnten.

Körper — Affekte — Wissenschaft In dem endlosen Prozess der sich immer wieder Bahn brechenden, sich akkumulierenden, transformierenden Verschiebungen von Körpern und Beziehungen ist die Wirkmächtigkeit von Affekten im wissenschaftlichen Kontext niemals so abwesend, wie uns Forderungen nach Objektivität glauben machen wollen. Trotz aller Anstrengungen widersetzen sich die Rhythmen und Modalitäten intensiver Affekte allen Versuchen, kontrolliert oder gar ausgelöscht zu werden. Die These, dass Wissen situiert zu betrachten ist – dass es sich »mit partikularer und spezifischer Verkörperung« und nicht mit »der Transzendenz aller

1 | Originalfassung in englischer Sprache.

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Todd Sekuler

Grenzen und Verantwortlichkeiten« zu tun hat (Haraway 1988: 82) – mag heute bei wissenschaftlich Tätigen aus den Bereichen Gender und Sexualitäten als Banalität aufscheinen, deren Wiederholung und kritische Reflexion dennoch berechtigt ist. Zum Beispiel könnte argumentiert werden, dass Affekte stattdessen Wissen einerseits gleichzeitig als fest und als nicht fest positionieren, oder andererseits als sich vielleicht in einem konstanten Zustand der Wiederpositionierung befindlich, wobei beide Argumentationslinien Körper und die Welten, in denen sich die Körper entfalten, markieren und widerspiegeln. Affekte unterstreichen das Werden oder die Wiederpositionierung dazwischen oder daneben. Es ist diese nachbarschaftliche Nähe und Instabilität, die die Spannungen und die Unmöglichkeit dualistischer Denkmuster, die die Gewissheit des Seins als garantiert und gegeben annehmen, eher zum Vorschein bringt als sie zu verbergen. Umfasst Affekt üblicherweise Emotion und geht auch immer über bloße Emotion hinaus, dann markiert Affekt »die Zugehörigkeit eines Körpers zu einer Welt der Begegnungen oder die Zugehörigkeit einer Welt zu einem Körper von Begegnungen. Affekt markiert aber auch die Nicht-Zugehörigkeit bedingt durch all die sehr viel traurigeren Zusammen- und Zersetzungen gegenseitiger Verunmöglichungen gemeinschaftlicher Möglichkeiten oder Inkompatibilitäten.« (Seigworth/Gregg 2010: 2)

In diesem Kapitel betrachte ich die zwischen dem 24. und dem 29. September 2012 in Luxemburg abgehaltene Konferenz »Geschlechternormativität und deren Effekte für Kindheit und Adoleszenz« als ein Element in einer Welt affektiver Kräfte der Begegnung. Dabei möchte ich den zu verschiedenen Zeitpunkten auf der Konferenz auf unordentliche Weise sichtbar gewordenen Affekten kein simples Etikett aufdrücken. Für mich sind sie viel eher eine kritische Offenbarung der Positionierungen und Beschränkungen, sowohl was die körperliche Zugehörigkeit als auch die häufige Nicht-Zugehörigkeit angeht. So haben die Dynamiken von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu dem zeitweiligen, aber deswegen nicht weniger emotional geladenen Verlassen der Konferenz u.a. durch einen Repräsentanten einer Vereinigung von Intersex-Personen geführt. Durch das Verlassen der Konferenz zeigte sich die Präsenz von Affekten sehr deutlich in einem Raum, in dem üblicherweise dem Ausdruck von Emotionen kein oder nur wenig Platz eingeräumt wird. Es mag etwas paradox scheinen, aber ich möchte diese Konferenz daher nicht nur unter dem Aspekt betrachten, was präsent und sichtbar war, sondern ebenfalls unter dem Aspekt, was abwesend bzw. in seinen Existenzformen von der Konferenz ausgeschlossen war.

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten

Darin, dass bestimmte Körper in ihrem Nicht-Erscheinen und ihrer Entfernung die anwesenden Körper beunruhigen, zeigt sich jedoch auch die Unmöglichkeit einer Trennung zwischen uns und ihnen, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen. Meine Anwesenheit auf der Konferenz ergab sich durch die Bitte der Veranstaltenden, eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse zu formulieren, die ebenfalls als Abschlussbericht für den luxemburgischen nationalen Forschungsfond (FNR: Fonds National de la Recherche), der die Konferenz mitfinanzierte, dienen sollte. Anders als die meisten anderen Beiträge dieses Buches, ist demzufolge dieser Text keine erweiterte Fassung eines auf der genannten Konferenz gehaltenen Vortrags. Stattdessen beziehe ich mich auf eine der Präsentationen der Konferenz und diskutiere, wie dieser Vortrag und die Konferenz als Ganzes sich zum Konferenzthema selbst und den verschiedenen unangesprochenen Gruppen verhält bzw. in Beziehung steht. Damit habe ich das Privileg, die Komplexität der Konferenz sowie des Themas rückblickend zu reflektieren. Meine Kommentare zielen jedoch nicht darauf ab, eine außerordentlich erfolgreiche, beflügelnde und produktive Konferenz abzuwerten – eine Konferenz, deren sehr gute Organisation mit viel Einfühlungsvermögen und Gewissenhaftigkeit durchgeführt wurde. Meiner Aufgabe folgend biete ich zunächst eine kurze Übersicht über die zentralen Ergebnisse der verschiedenen Vorträge und Diskussionen der Konferenz an. Anschließend diskutiere ich, wie der Optimismus – eine Form des Affekts, die ohne Zweifel die Konferenz auf wichtige und notwendige Weise zusammenhielt – hat helfen können, der Abwesenheit bestimmter Körper im affektiven, phänomenologischen und epistemologischen Raum der Konferenz Sinn zu geben. Anstelle des schwierigen Versuchs, dem oben genannten vorübergehenden Verlassen der Konferenz durch eine Person einen Sinn zuzuordnen, betrachte ich das affektive Register derjenigen Präsentation detaillierter, die die Person, so wie diese selbst gesagt hat, zum Verlassen der Konferenz bewegte. Insbesondere werde ich auf eines von mehreren Fotos aus der Präsentation eines Endokrinologen eingehen, der den Erfolg seiner Methode zur Geschlechtsanpassung bei transsexuellen Jugendlichen visualisieren wollte. Vor allem aus ethischen Gründen reproduziere ich das Bild in diesem Kapitel nicht, gehe aber darauf ein, wie die Materialität dieses Bildes während des Redebeitrags in Interaktion mit den diskursiven, sozialen und besonders den affektiven Dimensionen der Präsentation die Zukunft bestimmter Körper auf Kosten anderer sichern soll.

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Todd Sekuler

Die Konferenz im Überblick Was sind Geschlechternormen und wie zeigen sie sich in ihrer Wirkung auf junge Menschen? Wie werden Geschlechternormen sozial konstruiert, strukturell verankert und historisch unterscheidbar? In welchem Maße ist eine Welt ohne Geschlechternormen vorstellbar oder gar wünschenswert? Dies waren einige der zentralen Fragen, die während der vom 24. bis zum 29. September 2012 in Luxemburg abgehaltenen Konferenz »Geschlechternormativität und deren Effekte für Kindheit und Adoleszenz« ständig präsent waren – sozusagen als gute Begleitung. Um sich diesen Fragen zu nähern, erkundeten Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Politiker_innen untereinander und voneinander abhängige, also interdependente Räume und Verortungen von Macht- und Wissensproduktion, wie sie sich in Medizin, Recht und Bildung darstellen lassen. Außerdem trugen die Eröffnungsvorträge dazu bei, die Diskussionen dieser verschiedenen Aspekte auch in den Feldern der Philosophie, Soziologie und Ethik zu verorten. Die vorliegende Veröffentlichung bietet eine verständliche Aufarbeitung der Inhalte der Konferenz. Ich biete eine kurze Zusammenfassung von für mich zentralen Befunden. Im Allgemeinen waren sich die Redner_innen darüber einig, dass der Körper ein höchst umkämpfter Ort des Lesens und zur Regulierung von Geschlecht ist. Entgegen des weit verbreiteten Verständnisses von vergeschlechtlichten Körpern als naturgegeben und dualistisch gefasste Kategorie, machten Konferenzteilnehmer_innen deutlich, dass Körper ausgesprochen vielfältig und formbar sind. Einem Redebeitrag zufolge beeinflusst beispielsweise eine Kombination biologischer und sozio-ökologischer Faktoren – wie etwa Temperatur, soziale Interaktionen und hormonelle Regulierung – die Entwicklung der biologischen Merkmale, die üblicherweise dazu genutzt werden, um Tiere in zwei Geschlechterkategorien zu unterteilen. Andere Redner_innen zeigten auf, dass vermeintliche Wahrheiten über vergeschlechtlichte und rassifizierte körperliche Differenzen benutzt wurden und werden, um sozial konstruierte und hierarchisierte Geschlechts- und Rassifizierungskategorien zu naturalisieren. Solche fraglichen Wahrheiten werden sowohl von geschlechterkonformen als auch von geschlechter-non-konformen Jugendlichen als gewalttätig erfahren. Ein_e Sprecher_in schlug vor, Kategorisierung als möglicherweise notwendiges Übel zur Sinnfindung in einer komplexen Welt zu sehen. Anstatt jedoch Kategorisierungen abschaffen zu wollen, könnte es hilfreich sein, die Kategorien des Wissens und der Repräsentation als wechselseitig produktiv, als an der Konstruktion von Geschlechterungleichheiten aktiv mitwirkend und als mit Möglichkeiten zur Transformation des jeweils anderen ausgestattet anzuerkennen.

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten

Mehrere Redner_innen betonten, dass diejenigen Staaten, die die Rechtsdokumente der Europäischen Union und der Vereinten Nationen unterzeichnen, die fundamentalen Kinderrechte, einschließlich der Rechte auf Gesundheit, Identität, Freiheit und Schutz anerkennen. Trotzdem wurden diese und verwandte Gesetze im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Weise interpretiert, was den Spielraum und die sozio-historische Relevanz des Lesens und Interpretierens von Rechtstexten unterstreicht, vor allem dann, wenn es um Geschlecht, Sexualität und Alter geht. Es gibt zwar bestimmte internationale und nationale Gesetze, die z.B. junge Trans‘-Personen unterstützen, welche geschlechtsbestätigende Eingriffe vollziehen lassen möchten, oder mit denen die Haltung vertreten wird, dass Ärzt_innen nicht ohne medizinische Notwendigkeit an intersexuellen Kindern operieren sollen, dennoch sind viele dieser rechtlichen Werkzeuge aufgrund ihrer Komplexität schwer verständlich und wurden bisher nicht erfolgreich in einzelnen Ländern oder in Bezug auf spezifische Fälle angewandt. Die Redner_innen unterstrichen gleichwohl, dass Gesetze allein nicht zur Verbesserung der Situation von Intersex- und Trans‘-Jugendlichen ausreichen, denn diese Gesetze müssen auch auf Grundlage der Bedürfnisse und Rechte der jugendlichen Zielgruppe überwacht, interpretiert und durchgesetzt werden. Sie sollten daher im konstanten Austausch mit Jugendlichen selbst sowie mit weiteren Stellen der Praxis und Wissensproduktion entwickelt werden. Erziehungs- und Bildungsprozesse bieten solche Räume für Zusammenarbeit. Da der Prozess der Naturalisierung, bei dem Geschlechtsunterschiede allmählich als natürlich gegeben angenommen werden, sowohl in formalen als auch in informellen Bildungsprozessen abläuft – etwa beim Erziehen von Kindern, in medizinischen Lehrbüchern oder in Kinderliteratur – bieten diese Kommunikationsmedien auch wichtige Interventionsmöglichkeiten. Besonders innerhalb dieses Kontextes bietet das Konzept des Cis-Genderismus, das in einem Redebeitrag als systematische Vorurteilsform der Stigmatisierung von nicht cis-geschlechtlichen Ausdrucksformen vorgestellt wurde, eine überzeugende neue Epistemologie zur Auseinandersetzung mit Geschlechternormen und Unterdrückungsstrukturen. Viele Redner_innen und Teilnehmende werden vielleicht von dieser kurzen Zusammenfassung enttäuscht sein. Aufgrund des Umfangs dieses Beitrags und der Beschaffenheit meiner Verantwortung als Berichterstatter stelle ich Argumente verkürzt dar und lasse manche Nuancen aus. Wichtiger für dieses Kapitel ist jedoch, dass materielle und inter-körperliche Komplexitäten der Konferenz, die Affekte konstituieren und durch Affekte konstituiert sind, vernachlässigt Erkundung und Ausleuchtung der vitalen Rolle von Affekten hinsichtlich ihrer

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Effekte auf interaktive und performative Konstruktion, Naturalisierung und der Kenntlichmachung von Geschlechternormen viel gewonnen werden. Ohne Zweifel hat sich die Konferenz mit der Bedeutung von Gefühlen und persönlicher Geschichte beschäftigt, wenn es um das Verstehen von und die Kommunikation über Geschlechternormen geht. So berichtete zum Beispiel ein_e als Sprecher_in geladene junge Trans‘-Person persönlich und nüchtern von den Gefühlen von Ablehnung und Schmerz, die die wiederholten Interaktionen mit Erbringer_innen von Gesundheitsleistungen, Erzieher_innen und anderen mit sich brachten. Ein unangekündigter, aber sorgsam organisierter künstlerischer Auftritt provozierte – mindestens – die Reflexion der Geschlechternormen der Konferenzteilnehmenden selbst sowie der Möglichkeiten fließender verkörperter und performativer Geschlechtlichkeiten. Nichtsdestotrotz: während andere Themen theoretisch und empirisch entwickelt wurden, blieb Affekt in und durch die räumlich-zeitlichen Gefüge der Konferenz angesammelt, unbeachtet und dazu verdammt, gefühlt und erfahren, aber nie offen diskutiert zu werden. Da Affekt darauf besteht, dass Subjekt und Objekt miteinander verwoben sind, dass die Trennung von Subjekt und Objekt schwer auszumachen ist, ließe sich behaupten, dass Auseinandersetzungen mit Geschlechternormen via Affekt zugleich sowohl Objekte als auch Subjekte der Konferenz sein könnten. Tatsächlich ist der Verlauf der Konferenz ja bereits Teil der von der Konferenz beschriebenen Welt, also generiert die Konferenz, während sie versucht, darzustellen. Ich möchte daher fragen, was es bedeuten könnte, über Affekte in ihrer Wirkmächtigkeit für Geschlechternormen nachzudenken, insbesondere im Rahmen einer Konferenz, deren Untersuchungsgegenstand Geschlechternormen sind. Dazu möchte ich zwei affektive Register der Konferenz untersuchen, die gewissermaßen zueinander in einer Beziehung stehen: Optimismus und Glück.

Die Grausamkeit von Konferenz-Optimismus Trotz der Unzulänglichkeiten der obigen Zusammenfassung der Konferenz ist es, glaube ich, nicht übertrieben, von einer die gesamte Veranstaltung durchziehenden, zusammenhängenden und doch chaotischen affektiven Energie zu sprechen. Dieser augenscheinlich übergreifende Zusammenhalt spiegelte sich auch in den täglichen Ritualen der Konferenz, bei der Begrüßung, bei Diskussionen am Kaffeetisch zwischen verschiedenen Veranstaltungsabschnitten oder beim morgendlichen Ankommen und abendlichen Verlassen der Konferenz. Er zeigte sich auch in den spontan entstandenen Gruppen von Teilnehmenden beim Mittag- und Abendessen, bei Treffen im Hotel und, am

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deutlichsten, nach der Abschlussveranstaltung, als die Organisierenden sich bedankten und viele Anwesende von dem Gefühl ergriffen wurden, im Verlauf der Veranstaltungen der vergangenen Tage etwas Wichtiges erreicht zu haben. Dieser Zusammenhalt und das Gefühl, etwas erreicht zu haben, zeugen vom Fokus der Konferenz und vom bemerkenswerten Talent der Organisierenden, hervorragende Sprecher_innen zu gewinnen, die auf die eine oder andere Weise eine Kritik an Geschlechternormen teilen. Wie viele andere Konferenzteilnehmende sicher auch, verließ ich die Konferenz angeregt und motiviert, neben anderen Gefühlen, mit vielen Fragen und Überlegungen, die ich nun in mein politisches Handeln, meine Doktorarbeit und in andere Bereiche einbringen kann. In Anlehnung an Lauren Berlant möchte ich vorschlagen, dass wir die Konferenz als ein Objekt des Begehrens betrachten, das sie als eine »Zusammenballung von Versprechen, die uns jemand oder etwas macht und uns dann erfüllt« (2010: 93), beschreibt. Bereits in der Einleitung zum Programm der Konferenz2 werden einige Versprechen gemacht, die dann zentral für die Konferenz werden: »Mit dem Kongress geht es vor allem um das Hinterfragen von Geschlechternormen und dem Raum, den sie in der Entwicklung und Erziehung im Allgemeinen einnehmen. [...] Die Vorstellungen darüber, was ›das Beste‹ für ein Kind ist, wer ›das Beste‹ definiert und wer weiß, was ›das Beste‹ ist, sollen kritisch beleuchtet werden. Ferner strebt der Kongress eine ergebnisorientierte Debatte über zu verbessernde familiäre und soziale Integration der den vorherrschenden Geschlechternormen nicht entsprechenden Kinder und Jugendlichen an. Es geht um die Erweiterung des Erkenntnisspektrums hinsichtlich der Variabilität von biologischen Geschlechtern, geschlechtlichen Identitäten, sozialen Rollen und sexuellen Orientierungen einschließlich all ihrer jeweiligen Wechselwirkungen. [...] Ein zusätzliches Ziel des Kongresses ist vor diesem Hintergrund die Erweiterung der Diskussion auf die Gleichheit von Kindern und Jugendlichen, die sich den geltenden Geschlechternormen entziehen. Ergebnisse des Kongresses könnten als Lösungsvorschläge dienen und somit einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit leisten, insbesondere in den Bereichen Erziehung und Bildung. Weiterentwicklungen von ›Good practices‹ stehen im Zentrum des Kongresses [...]«

Die mögliche – und in gewissem Maße tatsächliche – Erfüllung dieser häufig hochfliegenden Versprechen vermittelte vielen Konferenzteilnehmer_innen und Redner_innen das Gefühl von Optimismus und lässt sich vielleicht als Orientierung auf und in Verbindung zur Konferenz in ihrem Verlauf beschreiben. Damit ist nicht gesagt, dass es während der Konferenz keine Meinungsverschiedenheiten und Kritik gegeben habe oder dass der zeitliche Verlauf nur eine Richtung kannte oder gar linear war oder dass alle Vorträge eine bestimmte Epistemologie

2 | Kongressprogramm. URL: http://idw-online.de/pages/de/attachmentdata18240.pdf [21.12.2013].

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oder politische Ideologie teilten. Angesichts der oben bereits erwähnten Tatsache, dass eine Person die Konferenz hoch emotional aufgeladen verließ, wies darauf hin, dass ein tatsächlicher, wenngleich sporadischer Dissens bereits etabliert war. Allerdings bleibt interessanterweise festzuhalten, dass es dieser teilnehmenden Person offenbar am erträglichsten schien, den Raum zu verlassen, anstatt sich weiter an der Debatte oder dem Gespräch zu beteiligen. Möglicherweise war der Ausschluss dieser Person Teil einer affektiven Kraft, die sich mit dem auf der Konferenz akkumulierenden Optimismus verschränkte. Mit jeder Präsentation erhielten die Teilnehmenden Einblicke in eine bestimmte Sichtweise auf das jeweils vorgestellte Thema, welches im Rahmen der Konferenz angeblich immer in irgendeiner Weise mit Geschlechternormen und deren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche zusammenhing. Nun konnten die Teilnehmenden einzelnen oder sämtlichen Präsentationen teilweise, ganz, oder gar nicht zustimmen. Aber die Entscheidung, zu bleiben, zuzuhören und das Projekt der Konferenz weiter zu verfolgen, war eine optimistische Investition in die Konferenz, um den von ihr, zumindest potenziell, gebotenen Strauß von Versprechungen zu erreichen. Nicht vergessen werden sollte, dass die Person, die die Konferenz verließ, kurz darauf wieder zurückkehrte. War es ein wieder erwachter Optimismus – wie schwach oder unsicher er auch sein mochte – der diese Person zur Rückkehr bewegte? Berlant verwendet den Begriff ›Grausamer Optimismus‹, um den unerschütterlichen Optimismus zu beschreiben, mit dem Menschen eine Sache angehen, selbst angesichts einer eventuell möglichen oder sicherlich eintreffenden Enttäuschung. »Grausamer Optimismus beschreibt die Voraussetzung zur Aufrechterhaltung einer Bindung an ein problematisches Objekt im Vorfeld seines Verlustes« (Berlant 2010: 94). Warum sollte jemand angesichts einer sicheren Enttäuschung an der Bindung zu einem Objekt festhalten? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht, aber laut Berlant lässt sich das Festhalten möglicherweise auf die Angst zurückführen, der Verlust des Objekts könnte für die Zukunft allen Grund auf jegliche weitere Hoffnung zunichtemachen. Selbst der sichere Verlust lässt noch Raum für die im Grunde verzweifelte Hoffnung, dass Sicherheit mit der Zeit unsicher wird, so dass Hoffnung und damit das Leben selbst weiter bestehen können. Zwar behaupte ich nicht, dass es Optimismus – ob grausam oder nicht – war, der besagte Person zur Rückkehr bewegte, denn darauf kann nur die Person selbst eine Antwort geben. Dennoch möchte ich an dieser Stelle behaupten, dass dem für die Organisation, das Zuhören und die Teilnahme an Präsentationen

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten

bzw. das Verfassen von Artikeln für diese und ähnliche Konferenzen nötigen Optimismus ein gewisses Maß an Grausamkeit zu Grunde liegt, da es sich um Investitionen in Strukturen handelt, die bekanntermaßen Diskriminierung produzieren. Es besteht ein beharrliches Begehren, diese Strukturen zum Funktionieren zu bringen, sie zu analysieren, kritisieren und anzupassen, immer in der Hoffnung, dass sie eines Tages auf Gleichheit und Gerechtigkeit basieren mögen. Ein Interesse an und eine Beschäftigung mit Geschlechternormen in den Bereichen Bildung, Medizin und Recht verstärkt das Sich-Einbringen in diese Bereiche, selbst wenn sie gleichzeitig als Bereiche der Normalisierung zu identifizieren sind. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich im folgenden Abschnitt die in einem Gefühl von Glück verborgene Grausamkeit aufzeigen, wie sie im Konferenzvortrag eines Arztes zum Tragen kam.

Glückbringende Geschlechternormen Sara Ahmed (2010) nennt Objekte, zu denen uns Affekte hinziehen, Glückbringende Objekte. Anhand des Beispiels der Familie zeigt sie, wie bestimmte Objekte von uns als gut, das heißt als Ursache für Glück, interpretiert werden, weil wir auf sie als glücklich machende Objekte orientiert sind: »Die Familie liefert einen gemeinsamen Horizont, einen Hintergrund, vor dem Objekte zirkulieren und positive affektive Werte anhäufen« (Ahmed 2010: 38). Laut Ahmed geschieht die Darstellung der glücklichen Familie dadurch, dass jene identifiziert werden, die die Familie nicht als Ursache für ihr eigenes Unglücklich-Sein verantwortlich machen: »Einigen Körpern wird das Entstehen schlechter Gefühle zugeschrieben, insofern sie das Versprechen von Glück stören, was ich als sozialen Druck zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung des Du wirst es schon schaffen resignifizieren möchte. Einige Körper werden zu Blockade-Punkten, zu Punkten, an denen eine durchlässige Kommunikation gestoppt wird« (Ahmed 2010: 39). In diesem Lichte ließe sich argumentieren, dass Geschlechternormen einiges von ihrer Wirkmächtigkeit sowohl aus als auch durch Glück verheißende Objekte erlangen. Blockieren diese Objekte die Orientierung auf Normen, wenn sie uns von jenen wegführen, die den Normen nicht entsprechen, oder bestätigen sie diese Normen dadurch nicht weiter? Während der Konferenz wurde mindestens einmal ein Gegenstand der Geschlechternorm durch einen anderen, Glück verheißend gezeichneten Gegenstand ersetzt: und zwar durch eine Fotografie. Ich sollte klarstellen, dass es sich eigentlich nicht um Fotos handelte, sondern um digitalisierte, in eine Powerpoint-Präsentation eingebettete Abbildungen. Dies ist im Rahmen der

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Analyse einer fotografischen Abbildung eines Körpers wichtig, wenn es um das Verständnis des Ausmaßes der Zuschreibungen auf materieller, sozialer, technischer, zeitlicher und räumlicher Ebene geht und um die Frage, wie das Anliegen der Fotografie wirksam wird – so wie vom Sprecher beabsichtigt, aber auch so wie von ihm nicht beabsichtigt. Hier ist es hilfreich, das Foto als soziale Biografie (Kopytoff 1986) zu begreifen, da Funktion und Bedeutung des Bildes vom Ausstellungsort und -zeitpunkt sowie von der Absicht des Redners und seiner Beziehung zum Foto abhängen. Zwar kann ich hier keinen Überblick über die komplexe visuelle Ökonomie (Poole 1997) des Bildes geben, aber wir können davon ausgehen, dass das Foto mit der Zeit neue Funktionen bekommen hat und dass seine Wirkmächtigkeit und Formen ein komplexes Gebilde auseinanderlaufender und asymmetrischer affektiver Beziehungen und Bedeutungen beinhalten. Die fraglichen Fotos wurden von einem deutschen Endokrinologen bei seinem Vortrag gezeigt, der einen Überblick über das von ihm und anderen Ärzt_innen für geschlechtsbestätigende Eingriffe bei interessierten Trans‘-Jugendlichen genutzte medizinische Protokoll geben sollte. Zunächst möchte ich anmerken, dass sich nicht alle Ärzt_innen einig sind, dass auch jungen Menschen Hormonbehandlungen und chirurgische Eingriffe zugänglich gemacht werden sollen. Viele Mediziner_innen fürchten, dass Personen unterhalb einer bestimmten Altersgrenze ihre Selbstwahrnehmung noch nicht voll entwickelt haben, und scheuen daher vor der Ausführung von Eingriffen zurück, die als irreversibel gelten. Nach Überzeugung des referierenden Arztes stellt sich jedoch mit dem Beginn der Pubertät, die für ihn zwischen dem 10. und dem 13. Lebensjahr einsetzt, entweder eine Versöhnung mit dem biologischen Geschlecht ein, oder es kommt zu einer verstärkten Ablehnung eines als falsch erlebten Körpers. Für ihn richtet die Versuchung abzuwarten sehr wohl Schaden an. Wenn Hormonblocker früh genug gegeben werden, um die Entwicklung angeblich irreversibler sekundärer Geschlechtsmerkmale hinauszuschieben, kann dies die Transition für die betroffenen Personen nicht nur emotional und sozial weniger belastend machen, sondern auch körperlich und optisch überzeugender gestalten. Den Erfolg seines Ansatzes demonstrierte der Referent anhand der Fotos eines Trans‘-Mädchens und eines Trans‘-Jungen, jeweils vor und nach der Transition. Er versicherte uns, dass beide ihm ihre Zustimmung gegeben hatten, ihre Bilder auf der Konferenz zu zeigen. Zur Unterstreichung des Erfolgs der Eingriffe, das heißt der Arbeit des Endokrinologen, verließ er sich nicht allein auf die Kraft der Bilder. Vielmehr kommentierte der Arzt jedes Bild. Ohne Zweifel versuchte er damit auch, den

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Bildern eine gewisse affektive Kraft zu verleihen. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass sich die Kraft von Affekten im Zusammenspiel der Bedeutungen und Beziehungen zwischen dem Redner und seinem Vortrag, den an die Wand geworfenen Bildern und den subjektiven und intersubjektiven Dynamiken der verschiedenen Personen im Publikum aufbaut. Das Foto eines 18 Jahre alten operierten Trans‘-Jungen ohne T-Shirt kommentierte der Arzt so, dass sich diese Person »zu einem sehr netten, offenen jungen Mann« entwickelt habe. Dann fügte er hinzu, dass »niemand, der ihn sieht, denken würde, dass er ursprünglich kein Junge gewesen sei«. Später in seinem Leben, und dank der erfolgreichen Transition, so erfuhren wir, »bekam er eine sehr gute Abiturnote« und habe »erfolgreich flirtend ein Mädchen nach dem anderen abgeschleppt«. Jugendliche, so schließt er, die sich früh genug geschlechtsbestätigenden Verfahren unterziehen, bilden »keine Extra-Kategorie, sondern fühlen sich ihrer Gruppe zugehörig. Diese Gleichheit mit der Gruppe ist«, aus Sicht des Endokrinologen, »sehr wichtig für ihre allgemeine psychosoziale Entwicklung«. Es besteht eine gewisse Ironie in der Arbeit dieses Arztes, der Bilder als Beweis gleichermaßen für die Unsichtbarkeit und den Erfolg seiner Arbeit bemüht: »Niemand, der ihn sieht, würde denken, dass er ursprünglich kein Junge gewesen sei«. Die von diesem und anderen Ärzt_innen durchgeführten Eingriffe sind so gut (hinsichtlich der Konstruktion von geschlechtskonformen Körpern), dass die Drohung von Unglück (durch das mögliche Anzweifeln des Geschlechts des jungen Menschen) als ausgelöscht gilt. Selbstverständlich impliziert die Aussage des Arztes, dass es schlecht wäre, wenn der Gedanke aufkommen könnte, dass dieser junge Mensch einmal kein Junge gewesen sein könnte bzw. war. Dieser implizite (und daher unausgesprochene) Aspekt erinnert uns daran, dass dabei allerdings als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass den Geschlechternormen nicht entsprechende Körper unerwünscht sind, und dass ihre Unerwünschtheit allgemein anerkannt oder gar eine grundlegende Tatsache ist. Weiterhin ist es wichtig festzuhalten, dass die Bilder und der dazugehörende Vortrag, normkonforme Körper als positiv, begehrenswert und glücklich darstellen und uns suggeriert wird, dass in solchen Körpern der Weg zum Glück liegt. Es wird deutlich, dass Geschlechternormen in gewissem Maße dadurch als Normen verstärkt werden, dass das Erreichen dieser Normen zu einem Bestandteil eines Versprechens von Glück gemacht wird. Nun könnte eine_r darauf bestehen, dass der Junge auf dem Foto selbst die Ärzt_innen aufgefordert hat, alles dafür zu tun, dass nach der Transition so wenig wie möglich von seinem ursprünglichen, dem sogenannten biologischen

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Geschlecht, übrig bleibt. Der Kommentar des Arztes (»Niemand, der ihn sieht, würde denken, dass er früher kein Junge gewesen sei«) legt die Annahme nahe, dass es schlecht wäre, zu denken, der Junge könnte einmal etwas anderes gewesen sein als ein Junge, und kritischen Einwänden gegenüber ließe sich argumentieren, dies läge nur daran, dass der Junge selbst es so wollte. Da der Arzt keine Angaben zu den Wünschen des Jungen gemacht hat, kann dies sowohl stimmen als auch falsch sein. Eine solche Kritik impliziert daher die nicht explizit dargelegte Vorstellung, dass alle Trans‘-Jugendlichen den Wunsch haben, konform zu den Geschlechternormen desjenigen Geschlechts zu sein, mit dem sie sich identifizieren (vorausgesetzt sie identifizieren sich mit einem festen und einfach definierbaren Geschlecht). Ebenfalls außer Acht bleiben die komplexen Zeitlichkeiten des Fotos und dessen affektive Wirkmächtigkeit jenseits des Begehrens des fotografierten Jungen und des Begehrens des Arztes. Außer nach der Botschaft zu fragen, die der Junge bzw. der Arzt mit dem Körper des Jungen und des Fotos des Körpers des Jungen (und auch der Powerpoint-Folie mit dem Foto des Körpers des Jungen) verbinden, könnten wir auch fragen, wie das Bild auf der Konferenz wirkt, und zwar trotz oder gar aufgrund dieser beabsichtigten Botschaften. Welche Zukünfte ermöglicht das Foto, welche schließt es aus? Und welche Geschichte(n) transportiert das Foto in die Gegenwart? Dem Arzt genügte es nicht, stillschweigend vorauszusetzen, dass die auf den Bildern gezeigten Körper allein aufgrund der überzeugenden Transition, die sich in ihrer Ununterscheidbarkeit von geschlechtskonformen Jugendlichen zeigt, für erreichtes Glück stehen mögen. Um über jeden Verdacht erhaben zu sein, und damit sie als erfolgreiche Geschlechtsanpassung gelten können, müssen sie auch Körper sein, die »keine Extra-Kategorie« bilden, »sondern ihrer Gruppe zugehörig sind«. Obwohl der Arzt zu keinem Moment sagt, auf welche Gruppe genau er sich bezieht, gibt er uns doch einige Hinweise zu den Zugehörigkeitskriterien (zumindest für den jungen Trans‘-Mann): das Erlangen eines Abiturs, (hetero-)sexuelle Anziehungskraft und eine positive psychosoziale Entwicklung. Aufgrund der Nähe dieser offenbar wünschenswerten Kriterien zueinander und der durch die Präsentation und Diskussion der Bilder verstärkten Geschlechternormen findet ein Austausch positiver Affekte statt. Diese Akkumulation verschiedener positiver Register lässt diese miteinander verschwimmen, so dass sie alle Teil derselben glücklichen Familie werden. Selbstverständlich lohnt es sich, auf die angenommene, umstrittene Erwünschtheit dieser Kriterien einzugehen. Eine frühe Transition erscheint diesem Arzt vorteilhaft, weil es die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Trans‘-Jugendliche einen

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten

Schulabschluss machen und eine bestimmte psychosoziale Entwicklung und (hetero-)sexuelle Anziehungskraft erreichen. Allerdings wären manche Leute vorsichtiger, das Abitur als wünschenswertes oder überhaupt vorstellbares Ziel zu betrachten. Denn in Deutschland werden Schüler_innen sehr früh vorgeblich nach Leistungskriterien auf verschiedene Schulen aufgeteilt. Wie Untersuchungen jedoch zeigen, findet dabei gleichsam eine Selektion vor allem nach Familieneinkommen und Migrationshintergrund statt (Baumert/Watermann/ Schümer 2003). Im Ergebnis werden dunkelhäutigere Schüler_innen und jene aus einkommensschwachen Familien systematisch von einem zum Abitur führenden Bildungsweg ausgeschlossen. Das heißt, dass nicht alle jungen Trans‘-Personen automatisch zugehörig zu ihrer Gruppe werden, nur weil sie früh genug geschlechtsbestätigende Verfahren beginnen und so alle Zeichen der bisherigen Nicht-Konformität beseitigen. Nur diejenigen, die weiß und nicht arm sind – zwei zwar unausgesprochene, aber zur affektiven Kraft des Fotos gehörende Merkmale – bewegen sich im Rahmen dieser Kriterien. Die selektive Auswahl ist auch Teil dessen, was sie begehrlich macht. Hier sehen wir also, wie sich Geschlechternormen untrennbar mit Normen von Gesundheit, Sexualität und Bildung sowie, weniger explizit, mit Normen basierend auf sozialer Klasse und rassifizierten Kriterien verbinden. Über die derzeitigen Gräben im Transgender-Aktivismus in den USA bemerkt Jack Halberstam scharfsinnig: »Es ist ein großer Unterschied, ob einer ein schwarzer oder dunkelhäutiger Mann oder aber ein weißer Mann wird« (1998: 159). Tatsächlich war für mich die fehlende Diskussion über die Bedeutung rassistischer Kategorien und sozialer Klasse in der Transition bzw. darüber, wie rassistische Kriterien und die soziale Klasse Geschlechternormen und die Erfahrungen der geschlechtlichen Nicht-Konformität beeinflussen, während der gesamten Konferenz fühlbar. Diese Abwesenheit spiegelte sich und entstand vielleicht auch in gewissem Maße durch die dem Ort der Konferenz eigene Dynamik von Klasse und rassistischen Codes, lag aber vielleicht auch in dem überwältigenden Weißsein der Mehrheit der Organisierenden, Teilnehmenden und Redner_innen begründet. So hat Sarah Lamble (2008) beispielsweise die Veranstaltungen zum Transgender Day of Remembrance (TDoR), an dem den im jeweils zurückliegenden Jahr Ermordeten gedacht wird, analysiert. Ihr Fo-kus liegt dabei auf den üblicherweise weißen Mittelschichtsstudent_innen, die den Tag in der Regel organisieren, und den vornehmlich armen Nicht-Weißen, die häufig Sex-Arbeiter_innen sind, derer bei den Veranstaltungen gedacht wird. Lamble argumentiert, dass Veranstaltungen im Rahmen des TDoR die Rolle

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von Rassismus, Armut und anderen Formen der Stigmatisierung durch die mörderische Gewalt gegenüber Trans‘-Personen ausblenden, anstatt diejenigen Faktoren zu vermindern, die zu einer spezifischen Transgender-Feindseligkeit beitragen.

Schlussfolgerung Mittels instabiler, aber nichtsdestotrotz mächtiger Emotionen von Optimismus oder Glück schlossen die Kräfte des Affekts auf dieser Konferenz Körper ein und andere aus. Um erneut mit den Worten Sara Ahmeds zu sprechen, könnten diese Anderen als Affekt-Fremde bezeichnen werden. Mit diesem Begriff bezeichnet Ahmed diejenigen, die sich weigern, solche Konstellationen zu reproduzieren, die vermeintlich Glück verheißend sind oder, wie hinzugefügt werden könnte, einen ganzen Strauß von Versprechungen bereithalten. Dieser Begriff ist besonders passend, da er zwei der ausgeschlossenen fremdartigen Typen beschreibt, die aufgrund ihres Ausschlusses von der Konferenz bzw. der dort erfahrenen Ablehnung offenbar gemacht haben, wie Normen selbst am Ort ihrer Dekonstruktion reproduziert werden. Bei diesen beiden Gruppen handelt es sich um die der unglücklichen Queers und der melancholischen Migrant_innen. Wie wir sehen konnten, sind unglückliche Queers diejenigen, die trotz der Glück verheißenden Norm einen nicht-konformen Körper wählen, akzeptieren oder darin feststecken, selbst wenn diese Entscheidung auf Kosten des Abiturs, des sexuellen Erfolgs und der psychosozialen Entwicklung geht. Zusammengefasst ist dies die allgemein als »unglücklich gesehene queere Person« (Ahmed 2010: 43). Die melancholische Migrant_in ist laut Ahmed jene, die nicht nur stur an Differenz festhält, »sondern die auch dort darauf besteht, über Rassismus zu sprechen, wo solches Sprechen als Bohren an wunden Punkten gesehen wird« (Ahmed 2010: 48). Eine solche Migrant_in weigert sich, Geschlechternormen allein als Ursache ihrer Melancholie zu sehen und aufgrund dieser Weigerung wird sie als der Grund für ihr eigenes Unglück betrachtet. Die Offenlegung dieser Grausamkeit, die sich im Optimismus und dem Glücksversprechen der Konferenz verbirgt, muss zentraler Bestandteil der Befunde werden, die wir von hier mitnehmen. Denn, wie Sara Ahmed beharrt, »ist es gerade die Offenlegung dieser Unglück bereitenden Effekte, die affirmativ ist, und uns alternative Vorstellungen darüber ermöglicht, was als gutes oder besseres Leben zählt« (Ahmed 2010: 50). Sollte diese Möglichkeit alternativer

Optimismus, Glück und andere Grausamkeiten

Vorstellungsräume eine neue Form des Optimismus hervorrufen, dann sollten wir zwar die potenzielle Grausamkeit dieses Optimismus nicht vergessen, aber andererseits nicht übersehen, dass es gerade dieser Optimismus ist, der uns die Kraft für den nächsten Tag gibt.

Literatur Ahmed, S. (2010): Happy Objects. In: Gregg/Seigworth (Hg.). The Affect Theory Reader. Durham: Duke UP, S. 29-51. Baumert, J., Watermann, R., Schümer, G. (2003): Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 6, 1, S. 46-72. Berlandt, L. (2010): Cruel Optimism. In: Gregg/Seigworth (Hg.): The Affect Theory Reader. Durham: Duke UP, S. 93-117. Halberstam, J. (1998): Female Masculinity. Durham: Duke UP. Haraway, D. (1988): Situiertes Wissen. In: Hammer/Stieß (Hg.): Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt: Campus, S. 73-97. Kopytoff, I. (1986): The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process. In: Appadurai (Hg.): The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective. Cambridge: Cambridge UP, S. 64-91. Lamble, S. (2008): Retelling Racialized Violence, Remaking White Innocence: The Politics of Interlocking Oppressions in Transgender Day of Remembrance. Sexuality Research and Social Policy 5, 1, S. 24-42. Poole, D. (1997): Vision, Race, and Modernity: A Visual Economy of the Andean Image World. Princeton, NJ: Princeton UP. Seigworth, G., Gregg, M. (2010): An Inventory of Shimmers. In: Gregg/Seigworth (Hg.): The Affect Theory Reader. Durham: Duke UP, S. 1-25.

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Autor_innen Christel BALTES-LÖHR (Prof. Dr.) ist Genderbeauftragte der Universität Luxemburg und Leiterin des Institutes für Geschlechterforschung, Diversität und Migration. Sie lehrt und forscht in den Gebieten Identitäten und Migration und koordiniert den »European Migration Network – National Contact Point – Luxembourg«, der bei der EU-Kommission angesiedelt ist. Janik BASTIEN CHARLEBOIS (Prof. Dr.) lehrt und forscht als Soziologin an der Université du Quebec à Montréal, Kanada. Mariela CASTRO ESPÍN ist Präsidentin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung (CENESEX) in Havanna, Kuba. Isabelle COLLET lehrt und forscht am Institut universitaire de formation des enseignants und der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf, Schweiz. Sylvie DEPLUS (Dr. med.) arbeitet als Augenärztin im Krankenhaus und lehrt als Dozentin für Anatomie an Universität Paris Diderot-Paris VII, Frankreich. Éric FASSIN (Prof. Dr.) arbeitet an der Fakultät für Politikwissenschaften und dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Paris 8 und forscht am Institut de recherche interdisciplinaire sur les enjeux sociaux (IRIS/CNRS), Paris, Frankreich. Charles GOERENS ist Europaparlamentarier und Mitglied der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa und fungiert u.a. als Mitglied im Unterausschuss Menschenrechte des Europäischen Parlamentes. Er blickt auf eine langjährige politische Karriere zurück, die mit seiner ersten Wahl in das luxemburgische Parlament 1979 eine wichtige Etappe nahm und zu der auch seine Ministerämter von 1999-2004 zählen. Für Luxemburg initiiert er seit 1997 die »voyages commémoratifs« nach Auschwitz.

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Michael GRONEBERG (Dr. habil.) ist Philosoph an der Universität Lausanne, Schweiz. Seine Philosophie des Zwischen und der Kontingenz erstreckt sich insbesondere auf Logik und die Analyse von Geschlecht und Sexualität. Er hat zu Fragen von Transgender, der Zwischengeschlechtlichkeit und dem Mann als geschlechtlichem Wesen Bücher und Artikel publiziert und nationale Ethikkommissionen in Deutschland und der Schweiz zu Fragen der Zwischengeschlechtlichkeit beraten. Vincent GUILLOT ist Soziolog_in und als Sprecher_in der frankophonen Sektion der Internationalen Vereinigung von Intersex-Personen (OII-Frankophonie), Frankreich. Natacha KENNEDY arbeitet nach ihrer Tätigkeit als Grundschullehrerin als Dozentin im Fachbereich Erziehung am Goldsmiths College der University of London, Vereinigtes Königreich. Sie ist Gründungsmitglied der Transgender Teachers Association und kooperiert mit Trans Media Watch. Derzeit arbeitet sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Institute of Education an der London University an einem Forschungsprojekt mit Fokus auf junge Trans‘-Menschen. Sie selbst identifiziert sich ihrer Kindheit als Transgender. Jean-Paul LEHNERS (Prof. Dr.) ist Historiker und arbeitete bis zu seiner Emeritierung im April 2013 an der Universität Luxemburg in der Forschungseinheit Identitäten. Politiken, Gesellschaften, Räume (IPSE). Von 2006 bis 2013 war er Präsident der luxemburgischen Menschenrechtskommission (CCDH) und wurde im Dezember 2013 zum Mitglied des Büros der Europäischen Kommission des Europarates gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) gewählt. Seit Ende 2011 ist er Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechte an der Universität Luxemburg. Tom REUCHER arbeitet als klinischer Psychologe in Brest, Frankreich, und ist spezialisiert auf die Begleitung von transidenten und intersexuierten Menschen. Erik SCHNEIDER (Dr. med.) ist Psychiater und Psychotherapeut und in Luxemburg freiberuflich tätig in den Bereichen Medizin, Recht und Ethik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Definitions- und Kategorienkritik, Dynamiken und Machtwirksamkeit zwischen Medizin, insbesondere der Psychiatrie, Recht und Erziehungswissenschaft einschließlich ethischer Gesichtspunkte, Geschlechterbinarität und -variabilität.

Autor_innen

Todd SEKULER hat seinen Master in Public Health mit Schwerpunkt auf Gender, Sexualität und Gesundheit an der Mailman School of Public Health an der Columbia University in New York absolviert. Seit 2012 ist er Doktorand am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität zu Berlin, Deutschland, und Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«. Petra de SUTTER (Prof. Dr. med.) arbeitet als Frauenärztin und Reproduktionsendokrinologin und ist Leiterin des Zentrums für Reproduktionsmedizin am Krankenhaus in Gand, Belgien. Tanguy TRILLET ist Schauspieler, der mit dem Verein für politische Bildung »Impulsions Femmes« in Niort, Frankreich, zusammenarbeitet. Heinz-Jürgen VOSS (Dipl. Biol., Dr. phil.) promovierte 2010 zur gesellschaftlichen Herstellung biologischer Geschlechtertheorien an der Universität Bremen. Die Dissertationsschrift wurde 2011 mit der Übersetzungsförderung »Geisteswissenschaften international« ausgezeichnet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Geschichte und Ethik der Medizin und Biologie sowie biologisch-medizinische Geschlechtertheorien. Aktuell arbeitet er als externer Mitarbeiter am Lehrstuhl Sprachwissenschaft und therapeutische Kommunikation der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Deutschland. Karin WEYER ist Psychologin und arbeit in der von ihr mitgründeten psychotherapeutischen Praxis und Institut für Supervision und Weiterbildung, KaSu-Institut, Luxemburg. Jörg WOWERIES (Dr. med.) arbeitete als Kinderarzt in Berlin, Deutschland, und war Experte im Rahmen der Debatten zu Intersexualität des Deutschen Ethikrates 2011. Ebenfalls war er als Sachverständiger beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages tätig. Achim WÜSTHOF (Dr. med.) arbeitet als pädiatrischer Endokrinologe seit 2005 im Endokrinologikum Hamburg, Deutschland. Dort betreut er hauptsächlich Kin-der und Jugendliche mit Hormonstörungen. Während der letzten zehn Jahre hat er außerdem mehr als einhundert transsexuelle Jugendliche endokrinologisch begleitet.

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Simon ZOBEL (Dipl.-Ing.) ist nach Lehramtstätigkeiten in Frankreich und neben der Planung städtischer und privater Vorhaben in Paris und Berlin als freiberuflicher Ingenieur tätig und setzt den Fokus auf Grenz- und Konfliktbereiche (sozialer) Mythologien und Naturwissenschaft. Von besonderem Interesse ist das Thema Geschlecht sowie Intersexualität. Er gehört als Vertreter des Verbandes Intersexuelle Menschen e.V., Deutschland zum Gründungsteam der sich formierenden European Intersex Association.