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German Pages 362 Year 2017
Julia Vomhof Verführung – Ein ästhetisches Dispositiv von Lyrik
Lettre
Julia Vomhof (Dr. phil.) promovierte als Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Materialität und Produktion« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie hielt Vorträge u.a. an der Sorbonne, der New York University und der Yale University. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutschen Lyrik vom 18. Jahrhundert bis heute, der Lyriktheorie sowie der postmodernen französischen Philosophie.
Julia Vomhof
Verführung – Ein ästhetisches Dispositiv von Lyrik
D61 Der Druck wurde bezuschusst durch das DFG-geförderte Graduiertenkolleg »Materialität und Produktion« der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Gefördert durch die Anton-Betz-Stiftung.
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Inhalt
Einleitung | 9
TEIL I PRÄLIMINARIEN EINER VERFÜHRUNG IM GEDICHT Süße Pein. Lyrische und kulturhistorische Konstellationen | 23
Christliche Genealogien | 35 Über Strategien I | 43 Versprechen | 47 Öffnung des Verführungsparadigmas | 51
„Doch seine Spröde hört ihn nie.“ Gellerts Damoetas und Phyllis | 53 Baudrillard | 56 Exkurs: Kunst als Verführung – Jean-François de Bastides La petite maison | 63
TEIL II DIE VERFÜHRUNG DES TEXTES Poetische Differenz | 81
„Komm! ins Offene, Freund!“ – Einladungen | 81 Begriffliche Rückvergewisserung | 89 Exkurs: Zum Verhältnis von Bild und Text | 94 Poetische Differenz als Ereignis | 97 Jan Wagners giersch | 101 „nach einem halben Leben fand ich in dem Bild die Tür.“ „Ach hier, wie liegt die Welt so licht!“ – Szenerien des Ästhetischen | 110 Positionalität – Relationalität | 125
Lyrische Topologien | 125 Von Wendungen und Entwendungen. Topologische Bewegungen des Textraums | 138 Die prozessuale Genese des Gedichts | 156 Zwischenfazit | 167 Verführerische Relationen in Rilkes Insel der Sirenen | 170
Geste – Attraktoren | 181
Aufbruch nach Kythera | 181 Das Gestische der lyrischen Sprache | 184
Attraktoren | 208 Über Strategien II | 218 „See, here it is“. Keats’ This living hand | 225
Fiktionalität – Faktualität | 235
Auftakt | 235 Perspektiven auf den hybriden Raum | 239 Das lyrische Präsens | 249 Wer spricht? | 254 „Der Fischer sang dies Liedchen, / Als ob ich’s selber wär’“ – Brentanos ‚Lyrisches Ich’ | 257 „ein Reh stand unterm Kirschbaum“. Beckers Kaleidoskope | 260 Der Pakt | 262 Postmoderne Öffnungen | 269 Pluralität der Existenzweisen in Rilkes Archaïscher Torso Apollos | 272 Bildakt | 280 Dispositive | 282
Das Andere in Arbeit: Verführung | 289
Auftakt | 289 Folge dem weißen Kaninchen | 291 Formen des Produktivseins | 295 Begierden als Motor | 304 Oszillieren der Redeperspektiven | 315 Anleitung zur Verführung in kapitalistischer Hinsicht | 318 Die Agentialität der Sprache | 322 Spieglein, Spieglein | 324
Schluss und Ausblick | 335 Literatur | 343 Register der Gedichttitel oder -anfänge | 357 Dank | 359
DIE LICHTUNG JEDES GESPRÄCH HAT SEIN REH, EIN REH TRITT DURCH DIE GESPRÄCHE, ES ÄST AM RAND DER GESPRÄCHE, WENDET DEN KOPF, WENN EINER WAS SAGT, SCHWEIGT, SOLANGE ES SICH ZEIGT, FRAGT NICHT ODER WARTET, BIS ER ENDET, UND FLIEHT, WENN ES IHN REDEN SIEHT.
»DA AM RAND DES GESPRÄCHS EIN REH.« HENDRIK ROST
Einleitung
Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem folgenden Gedicht von Durs Grünbein. Erklärte Nacht 1
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle... Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil. Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen. Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
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Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das »Echt absolut Reelle.« Jene Zickzacknaht – Vernunft, an Affekte und Mythen gebunden, Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen. Rückkehr des Echos zur Quelle, zum Mund, wo die Laute sich runden. Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
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Magisches Gängelband, Ariadnefaden durchs Dunkle der Aporien, Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil. Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien, Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze. Vergeßt das schamlose Ich und sein Du, herbeigeholt aus der Ferne.
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Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen. Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasseroberfläche berühren, Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
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Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch Zeiten führen. Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
10 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht. Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.1
Dichtung, was war das noch? Fragt Durs Grünbein und bietet mittels eines Werks aus seiner eigenen Dichtung ein Bouquet von Antworten an: Sie sei eine erklärte Nacht (Titel), eine Entführung (1), ein Fang (2), Zauber (ebd.), Tanz (3), Nichts Halbes, nichts Ganzes (4), die Zickzacknaht von Vernunft und Affekt (6), hingehauchter Atem (9), magisches Gängelband (10), Ariadnefaden (ebd.), ein in die Tiefe ziehender Taucher (15), ein Lot (20), Philosophie in Metren (21), Musik (ebd.) oder ein Reiseführer (24). Aus diesen Substantiven, die Dichtung charakterisieren, lässt sich, zusammen mit den ebenfalls zahlreichen Verben, die Grünbein verwendet, ableiten, was sie tut: Sie entführt (1), sie fängt (2), sie zaubert (ebd.), gängelt (10), entflieht (12), zieht (15) und führt (20). In eine ähnliche Richtung zielt Robert Gernhardt in seinen Gedanken zum Gedicht und konstatiert lapidar: „Warum liest einer Gedichte? Weil er einmal hängen geblieben ist – an einem ganzen Gedicht, an einer Strophe, an einigen Zeilen, an ein paar Worten“2. Schamma Schahadat stellt fest, der Leser werde „in den Text geführt, entführt, verführt“3, sodann beginne sein Begehren.4 Peter Rühmkorf betrachtet Gedichte als „mehr oder weniger mit Anziehungskraft und Anstoßvermögen begabte[n] Partikel[n], bei denen es im einzelnen noch völlig unklar ist, ob sie sich schließlich als Korn oder Kaff erweisen.“5 Mit seinen Worten „Du bist mir nun einmal auf den Leim gegangen. Denn Du bist mir nun einmal ins Gedicht gegangen“6 zeichnet er ein Bild von Lyrik als eine Täuschung, auf die man hereinfallen kann, oder als verlockende Falle, in die man hineintappt und und der man nicht so leicht wieder entkommt.
1
Grünbein, Durs (2002): Erklärte Nacht. Frankfurt/M: Suhrkamp, 145 (Hervorhebungen im Original).
2
Gernhardt, Robert (1990): Gedanken zum Gedicht. Zürich: Haffmanns, 117.
3
Schahadat, Schamma (2011): Verführung in der Philosophie. Anfänge. In: Misselhorn, Carin et al. (Hg.): Erkenntnis und Darstellung. Formen der Philosophie und der Literatur. Paderborn: Mentis, 179-202, hier 191.
4
Vgl. ebd., 192 und 196.
5
Rühmkorf, Peter (2001): Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Hamburg: Rowohlt, 168.
6
Ebd., 110.
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Eindrücke solcher Art fundiert Jonathan Culler in seiner Lyriktheorie, die von der Grundannahme ausgeht, Dichtung habe „the power of enchantment“7, und deren Interesse es ist, „to explore [...] the different sorts of seductive effects that lyric may achieve“8. Es scheint, stets ist das Schreiben und Lesen von Lyrik von einer metapoetischen Reflexion über sie begleitet. Was aber wäre, wenn wir nicht fragten, was Lyrik ist – eine Frage, an der die Forschung nach wie vor laboriert sofern sie eine Gattungsdefinition intendiert –, sondern wie sie geworden ist? Dies würde zu fragen bedeuten: Wie, warum und wodurch zeigt und zeitigt sich Lyrik überhaupt? Was sind die Ereignisse und Bewegungen zur Lyrik hin, dass also sich multimodal und multiakteuriell das ontologisch verdichtet und stabilisiert, was wir Lyrik zu nennen gelernt haben? Anders gefragt: Welche poetischen Prozesse und Relationen haben dazu geführt, dass ein Gedicht als Gedicht erscheint, dass wir es als solches bezeichnen, dass es für uns ein Gedicht ist? Folgt man diesen Spuren der Genese, so wird ein Dispositiv der Verführung offengelegt. Gedichte sind verführerisch? Über die motivliche Relevanz des Topos – etwa im Sinne von Liebesmotiven – hinaus ist Verführung vor allem jenes potentielle Prinzip von Sprache, das eine andere Ökonomie als die funktionalistische produktiv macht. Bemerkbar macht sich diese neben der Motivik insbesondere in der Materialität des Mediums. Die aisthetischen Praxen der Verführung in Lyrik zu untersuchen, ist das Anliegen und Interesse dieser Arbeit. Dafür werden Momente der Literatur- bzw. Lyrikanalyse herangezogen, die verschiedene Perspektivierungen auf den Text vornehmen, indem sie etwa Strophen- und Reimformen, Rhythmen, Diegesegrenzen, Figuren oder Instanzen wie den Leser und Autor herausarbeiten oder poetische Phänomene wie Ambiguitäten, Leerstellen, semantische Resistenzen, Paradoxien, intertextuelle Bezüge in den Blick nehmen. Diese Prozesse, Strukturen und Phänomene als Verführungsqualitäten lyrischer Sprache wahrzunehmen und zu systematisieren, ermöglicht es, offenzulegen, wie sich Lyrik als eigenständige Existenzweise (Étienne Souriau/Bruno Latour) bildet. So schlägt die vorliegende Studie das Paradigma ‚Verführung‘ für die Lyriktheorie vor als Angebot, um der Frage nach der Genese eines Gedichts näher zu kommen. Naheliegend ist dies für das zur Untersuchung ausgewählte Genre nicht nur
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Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press. Einband.
8
Ebd., Preface viii.
12 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK
wegen seiner motivlichen Relevanz angesichts der prominenten Liebesthematik, vielmehr soll grundsätzlicher der These nachgegangen werden, dass die Materialität des Mediums Verführungspotential hat – so wie es die eingangs angeführten Zitate schon nahe gelegt hatten. Denken wir an Formen wie die Konkrete Poesie, so ist dieser Verdacht nicht abwegig. Er wird in der vorliegenden Studie fundiert, indem die ästhetischen Produktionsbedingungen und –prozesse von Lyrik in einer Poetik der Verführung systematisiert werden. Dabei reicht das Panorama der Untersuchungsgegenstände von kanonischen Werken über wenig bekannte und von solchen aus dem Mittelalter bis in die Gegenwart – wobei die frühen Gedichte mehr streiflichtartig betrachtet werden, während der Schwerpunkt auf der modernen und auf der deutschsprachigen Lyrik liegt. Wenn die Rede ist von Lyrik als eigener Ontologie, so werden poetische Texte mithin nicht, wie in der Gattungsdiskussion, als prästabile Entitäten verstanden, sondern als generative – bisweilen gar performative – Existenzweisen, die im Gedicht auf je spezifische Weise durch eine Verknüpfung von Motiv und Materialität der Schrift hervorgebracht werden. Dabei zeigt sich Verführung als flexibles ästhetisches Dispositiv, das den topologisch organisierten Raum der Poesie instauriert, d.h. zur Existenz bringt. Es fungiert also als Deutungsmuster der Eigenheiten, Praktiken und Qualitäten von Lyrik, als ihre alternative Logik – so der hier unterbreitete Vorschlag. Anders formuliert: Verführung ist, etwa neben der Unterhaltung oder Information, eine potentielle Qualität des Tuns von Lyrik, so die These. Mit welchen Mitteln verführen Gedichte? Wie agiert Verführung in Poesie – dies wird sich noch beispielhaft an dem Adverb ‚vielleicht‘ oder an der Hölderlinschen Aufforderung „Komm! ins Offene, Freund!“ zeigen – und zugleich: Wie agiert Poesie verführerisch? Das Wort „zugleich“ betont hier das Wechselspiel zwischen der Materialität des Textes und dem möglichen Effekt, den diese auf den Leser haben kann. Die Textmaterialität und Instanzen wie der Autor oder der Leser werden also nicht mehr als starre und statische Positionen betrachtet, die voneinander getrennt zu sehen sind, vielmehr bewegen sie sich in einer dynamischen Relation zueinander (siehe weiterführend dazu die Untersuchungen zu Positionalität – Relationalität und Fiktionalität – Faktualität). Um sich den oben formulierten Fragen zu nähern, bedarf es einer ‚Durcharbeitung‘ des Dispositivs. So werden in dem Präliminarien einer Verführung im Gedicht betitelten ersten Teil dieser Arbeit tradierte Konzepte von Verführung im Sinne erotischer, ökonomischer, rhetorischer oder auch politischer Strategeme der Vereindeutigung – etwa der Vereindeutigung von Subjektpositionen, wie sie in der Figur des romantisch Liebenden oder des manipulativen Eroberers geschieht – berücksichtigt, indem zum einen schlaglichtartig lyrikhistorische Formen angeführt werden, die an
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die Relevanz des Topos erinnern. Zum anderen wird auf populäre Figuren hingewiesen, die das Paradigma geprägt haben, wie Don Juan oder die Sirenen. Dabei zeigen sich Konzepte wie ‚Strategie‘, ‚Manipulation‘, ‚Paarbeziehung‘ oder die starren Positionen des aktiven Verführers und des passiven Verführten, die eingegangen sind in die Übereinkunft darüber, was unter Verführung zu verstehen ist.9 Die untersuchten Gedichte deuten jedoch schon an, dass solche diskursive Verengungen dem Kaleidoskop lyrischer Seduktion nicht gerecht werden. Diese ist lyrikhistorisch, lyriktypologisch und auch begriffsgeschichtlich umfassender, als dass sie bloß das Ziel einer ausgeklügelten manipulativen Strategie wäre, als dass sie beschränkt wäre auf die (erotische) Beziehung zweier Personen und als dass sie sich in Verhältnissen mit eindeutig vergebenen Rollen und Machtverhältnissen vollziehen würde. Vielmehr fordern die angeführten Gedichte ein emphatisches Modell ein, das keinen ökonomischen Nutzen im Sinne einer Eindeutigkeit und Effizienz generiert, sondern Momente des Aufschubs, des Entzugs, der Ambiguität oder Reversibilität in sich zu integrieren weiß und dabei nicht nur die Motivik einbezieht, sondern auch die Sprachmaterialität. Nicht nur ist ein jedes Motiv in einem Gedicht sprachlich-bildlich und auch lautlich verfasst, sondern auch jenseits der Motivik gibt es Strukturen, Prozesse und Phänomene in Lyrik wie Verse, Reime, Strophenformen, Andeutungen, Rhythmen, diegetische und außerdiegetische Figuren wie das lyrische Ich oder der Leser, die Verwendung spezifischer Tempi, Leerstellen, Paradoxien, Syntax, mehrdeutige Worte, die das Feld des Möglichen und Virtuellen eröffnen – allesamt poetische Akteure und Aktanten, die Verführungspotential haben können und insofern als ‚Enzyme‘ der Verführung fungieren. Dem wird in dem Die Verführung des Textes überschriebenen zweiten Teil des Buches Rechnung getragen, wenn sich aus den Streiflichtern durch den ‚klassischen‘ Verführungsdiskurs ein flexibleres und facettenreicheres Paradigma eröffnet, das in den folgenden Gedichtanalysen in seiner Komplexität entfaltet wird. Operationalisiert wird dies durch eine Verflechtung kultur-, bild- und literaturtheoretischer Ansätze mit close readings von Gedichten.10 In diesen Analysen bilden
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Mit der männlichen grammatikalischen Form ‚Verführer‘ ist in diesem Buch, sofern nicht anders vermerkt, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
10 Mit einem close reading ist die Praxis bezeichnet, Gedichten tatsächlich ‚nah‘ zu Leibe zu rücken, d.h. jedem Wort oder Vers Aufmerksamkeit zu widmen. Damit ist der Fokus auf die ästhetische Materialität gemeint, die in Zeiten des distant reading (Franco Moretti) immer noch ein Desiderat darstellt. Gleichwohl nutzt das makrologisch interessierte letzte Kapitel dieser Arbeit, betitelt Das Andere in Arbeit: Verführung, den Grundgedanken des distant reading, schließlich entwirft es die aufs historische Epistem zielende Literatur- bzw. Lyriktheorie einer Moder-
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die Parameter Poetische Differenz, Positionalität – Relationalität, Geste – Attraktoren, Fiktionalität – Faktualität und das von Arbeit/Ökonomie und ihrem Anderen das lyriktheoretische Dispositiv ‚Verführung‘.11 Die Poetische Differenz markiert dabei – in Fortschreibung des bildwissenschaftlichen Konzepts der Ikonischen Differenz Gottfried Boehms – den Bruch zwischen der äußeren Welt und dem Raum des Gedichts. Als eine Art Präposition muss sie immer schon geschehen sein, uns immer schon phänomenologisch verführt haben, wenn wir gewahr werden, ein Gedicht vor uns zu haben. Dieses Gründungsereignis des Lyrischen eröffnet Szenerien des Ästhetischen, die sich je spezifisch innerhalb eines Gedichts ausgestalten. In den folgenden Analysen ist eine Verunsicherung klarer Positionen wie beispielsweise die des Autors oder Lesers zugunsten einer beweglichen Relationalität lyrischer Akteure, also von Figuren, Motivik, Sprachmaterial o.ä. zu beobachten (Kapitel Positionalität – Relationalität).
ne, in der das ubiquitäre, kapitalistisch-ökonomische Arbeitsparadigma zu dem verführt wird, was es selber nicht kann: Sich von einem ambiguen Rest bestimmt zu wissen. Während also die Ausarbeitungen zur Poetischen Differenz für die Mikroebene eines jeden Textes erläutert, dass und wie uns das Statthaben einer gestalteten Alterität begegnet und die restlichen Kapitel der Studie mikrologische Analysen von einzelnen Gedichten vornehmen, erfolgt in diesem letzten Kapitel zu Goethe, Arbeit und Ökonomie eine Bewegung zur Makroebene – und insofern ein konstruktives Schwanken zwischen close und distant reading, welches Moretti beschreibt als die Tätigkeit „Einheiten in den Blick zu nehmen, die sehr viel kleiner oder auch sehr viel größer sind als der Text: Kunstgriffe, Themen, Tropen – oder Gattungen und Systeme.“ (Moretti, Franco (2016): Distant reading. Konstanz: Konstanz University Press, 50) 11 Das Dispositiv ‚Verführung‘ wird also nicht präskriptiv definiert und, einer Schablone ähnlich, auf die Untersuchungsgegenstände angelegt, sondern es realisiert sich erst durch die Untersuchungsgegenstände. Vgl. Foucaults Formulierung: „[D]er Diskurs, von dem ich spreche, existiert nicht, bevor ich diesen nackten Satz ausspreche, und er verschwindet, sobald ich verstumme.“ (Foucault, Michel (2003): Das Denken des Außen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. von Defert, Daniel. Frankfurt/M: Suhrkamp, 670-697, hier 671f.) Siehe in diesem Zusammenhang auch die Methodik Latours – wenn sie auch einen anderen Kontext hat –, der hinsichtlich des ‚Sozialen‘ zeigt, dass es keine präexistente Kategorie des Sozialen gibt, die normativ angelegt wird, um Situation und Konstellationen als sozial oder nicht-sozial zu klassifizieren. Stattdessen ist sozial das, was durch Relationen von Elementen erst entsteht. ‚Sozial‘ ist keine Eigenschaft, sondern eine Handlung (Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp, 21f.).
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Insofern sich lyrische Sprache immer wieder einer eindeutigen, funktionalistischen Bestimmung widersetzt und stattdessen die sinnliche Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung der Personnage – sei es die des Lesers, sei es die der fiktiven Figuren – in Bewegung bringt, führt sie eine Bewegung aus, erfüllt diese aber nicht bis zu einem Ziel. Lyrik ist daher gestisch (Geste – Attraktoren). Ein weiteres verführerisches Charakteristikum findet sich in der Eigenheit von Lyrik, die harte Grenze von ‚Fiktion‘ und ‚Realität‘ implodieren zu lassen. Spätestens hier zeigt sich, dass das vorgeschlagene Theorem der Verführung aktuelle lyriktheoretische Problemstellungen aufwirft (Fiktionalität – Faktualität). Schließlich ist die Agentialität von Lyrik darin zu finden, lückenlosen Ökonomien von Subjektbeziehungen, Handlungen und Urteilen das Begehren der Sprache entgegenzusetzen, welches im Erscheinen eines uneinholbaren semantischen und/oder sprachmateriellen Überschusses und Aufschubs, einer Verschwendung, einer exzessiven Gabe und Iterabilität besteht (Das Andere in Arbeit: Verführung). Die beschriebene Struktur lässt auf eine Architektur des Buches schließen, die auf prominente und aktuelle lyrik- bzw. literaturtheoretische Reflexionen aufsetzt und diese erweitert – und zwar exemplarisch am Phänomen der Verführung. Mithin wird ein Modell von Verführung entwickelt, das Dynamiken wie Ambiguität, Reversibilität, Versprechen, Unzuverlässigkeit, Nähe und Distanz, Präsenz und Latenz, Aufschub und Überschuss in sich vereint. Die spezifische Form dieses Modells ist hier, wie schon angedeutet, ein Dispositiv und zwar ein ästhetisches (andere Dispositive, die hier außen vor bleiben müssen, wären beispielsweise die Technik, Vertriebsökonomie, Unterhaltung o.ä.). Dieses ästhetische Dispositiv ‚Verführung’ wird nur für die Lyrik entfaltet, seine Relevanz muss jedoch nicht auf sie beschränkt bleiben. Vielmehr kann es als Modell dienen, um Momente solcher spezifischen sinnlichen Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung auch in anderen Medien und Künsten zu beschreiben, denn ‚Ver-führung‘ ist als fundamentales Moment aisthetischer und ästhetischer Praxis zu sehen. Allein, sie prägt sich je individuell aus. Der Begriff des Dispositivs geht zurück auf Michel Foucault. Wie Foucault zuerst im Kontext von Die Ordnung des Diskurses und Überwachen und Strafen, und dann in Dispositive der Macht zusammenfasst, handelt es sich um ein „entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes
16 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“12
Zwischen den Elementen oder Parametern vollzieht sich ein „Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen“13, das sich verschiedentlich ausgestalten kann und das Dispositiv erst herausbildet, denn: „[E]in Dispositiv ist vielmehr als ein Netz von Beziehungen zu charakterisieren. Das heißt, es ist keine Entität, die dingfest gemacht werden könnte. Es gibt kein Dispositiv, das wesenhaft objektivierbar wäre. Dispositive haben demnach eine konstitutive Funktion, sie sind performativ.“14
Ein Dispositiv materialisiert sich also durch das Zusammenspiel seiner Elemente. Im vorliegenden Buch geschieht dies über die oben genannten fünf Parameter, die sich auch in der Kapitelstruktur der Studie widerspiegeln. Sie produzieren das Dispositiv ‚Verführung‘ als dynamisches Feld von Kräfteverhältnissen.15 Im Unterschied zu Foucaults und auch, wie im vorletzten Kapitel der Studie zu sehen sein wird, Agambens Dispositivkonzept, ist Verführung nicht als Machtkonglomerat zu sehen, sondern als bewegliches Netz von Relationen, in dem sich Machtpositionen als prekär, austauschbar und reversibel erweisen. Es wird deutlich, dass kein historischer Ansatz verfolgt, sondern ein topologisch zu nennendes Modell entwickelt wird im Sinne Vittoria Borsòs: „Denn Raum ist nicht vorgegeben, sondern wird produziert – dies ist auch die Grundannahme der literarischen oder kulturwissenschaftlichen Topographien, die mehr oder weniger explizit auf topologischem Denken beruhen, insofern ‚Topologie‘ als Lehre des Raums zugleich eine kritische Reflexion über die Bedingungen der Produktion, der Dynamik oder der Emergenz von Raum ist.“16
12 Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Berlin: Merve, 119f. 13 Ebd., 120. 14 Bippus, Elke et al. (2012): Vorwort. In: Dies. et al. (Hg.): Ästhetik x Dispositiv. Wien / New York: Springer. 7-12, hier 7. 15 Dass Verführung dynamisch und prozesshaft ist, zeigt sich schon an dem Suffix ‚-ung‘. Eine ‚Verführtheit‘, die einen Status bezeichnen würde, kann es nicht geben. 16 Borsò, Vittoria (2007): Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript, 279-295, hier 279. Hervorhebungen J.V. Weiterführend außerdem von Vittoria Borsò zur Barthes’schen écriture als topologischer Raum der Materialität: Dies. (2010): Materiali-
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Borsò formuliert die theoretische Prämisse, auf die das Grundinteresse dieser Studie aufsitzt: Das ‚Werden‘ der Existenzweise Lyrik zu beobachten. Foucaults obiges Zitat hatte es schon angedeutet: Man kann ein Dispositiv als Netzwerk denken. Demgemäß liegt es nahe, auch dieses Begriffsangebot heranzuziehen und auszudifferenzieren, und zwar im Rahmen von Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie. Latour fordert, das Handlungspotential nicht nur menschlicher, sondern auch nicht-menschlicher Akteure zu berücksichtigen, die keine bloß passive Materie darstellen. Damit wird eine anthropologische Herrschaftsvorstellung beschnitten. Für das Vorgehen in dieser Studie hat dieser Ansatz weitreichende Konsequenzen, schließlich gilt es, aufmerksam zu sein für die Wege und Handlungsbahnen von Akteuren und Aktanten, zu denen sprachliche Elemente ebenso gehören wie syntaktische Formen, Reime oder Alliterationen, Rhythmen und Klänge, Motivik, diegetische und extradiegetische Figuren, ‚fiktive‘ und ‚reale‘ Dinge usw. Mein Plädoyer zielt darauf, die lyrische Sprache nicht als passives, zurichtbares Objekt zu verstehen, sondern als einen eigenständigen und handlungsfähigen Akteur anzuerkennen, der Verführungspotential hat. Neben der skizzierten Weise gibt es noch eine zweite Möglichkeit, das Buch zu lesen, nämlich weniger aus der Warte des Verführungsdispositivs, als vielmehr aus einer gattungstheoretischen Perspektive. In diesem Sinne dient das vorgeschlagene Theorem als Einladung, Operationen und Strukturen lyrischer Sprache wahrzunehmen, die Randgänge am Gattungsterritorium vollführen und dadurch typologische Grenzen, die per se starr und unflexibel sind, brüchig machen. Dadurch werden im Übrigen aktuelle lyriktheoretische Problemstellungen thematisiert, die die Theoriebildung umtreiben, wie etwa die Frage nach ihrem fiktionalen oder nicht-fiktionalen Status, nach der Figur des lyrischen Ichs oder nach der Beziehung von Text und Rezipient. Die angebotenen neuartigen Lesarten teils unbekannter, teils kanonischer Gedichte zeugen davon. Der genretheoretische Beitrag des Manuskripts besteht mithin darin, das Konstrukt einer prästabilen Gattung, in die sich ein Gedicht einfügt oder von der es abweicht, aufzulösen zugunsten eines emphatischen Ontologiebegriffs. Lyrik ist eine Existenzweise. Sie ist das Ergebnis von verschiedensten Prozessen sprachlicher, bildlicher, materieller, motivlicher Art. Diese der Prozessontologie verpflichtete Hypothese
tät, Medialität und Immanenz: Wider die Medialität als Drittes. In: Dieckmann, Bernhard et al. (Hg.): Identität – Bewegung – Inszenierung. Düsseldorfer Schriften zu Kultur und Medien. Frankfurt/M: Peter Lang, 19-36 und Dies. (2010): „Écriture et presence“: Remapping Literary Discourse Beyond the Spatial, Iconic and Performative Turns. In: Begam, Richard/Stein, Dieter (Hg.): Text and Meaning. Literary Discourse and Beyond. Düsseldorf: düsseldorf university press, 267-284.
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kann ein neues Licht werfen auf Charakteristika lyrischer Sprache, die schon lange Gegenstand theoretischer Betrachtungen sind, jedoch stets limitiert werden durch Gattungsgrenzen, gegen die sich Gedichte häufig sperren. Was hier vielmehr betrachtet wird, sind temporäre ‚ontologische Verdichtungen‘ oder ‚Stabilisierungen‘, die gleich in der nächsten Gedichtzeile schon wieder zugunsten einer anderen aufgelöst sein mögen. Anders gesagt: Welt – und damit Lyrik – ist nicht, sondern sie wird durch ständige Aktualisierung einer auf temporale wie räumliche Relationen zurückgehende Potenz des Möglichen. Darin erst entstehen Formen als jeweilige Konkretisierungen.17 Der hier verfolgte Ansatz, Gedichte als generative oder prozessuale Ontologien zu betrachten, unterscheidet sich also grundlegend von den bisherigen Lyriktheorien, deren Ziel es ist, eine Gattungsbestimmung zu leisten – etwa über die Feststellung, ob Lyrik fiktional oder nicht-fiktional sei, welche distinktiven idiosynkratischen Strukturen wie die Versform sie habe oder welche spezifische, vom allgemeinen Gebrauch abweichende Sprache. Hier dagegen wird behauptet, dass keine solchen pauschalisierenden Aussagen getroffen werden können mit dem Ziel einer festen Vorbestimmung dessen, was Lyrik ist im Sinne einer Zustandsbeschreibung. Anders formuliert, geht es darum, die Blackbox ‚Lyrik‘ zu öffnen und festzustellen, wodurch sie konstituiert wird, d.h. ihr Werden zu betrachten – während die Lyriktheorie bisher eher das Interesse verfolgt hat, ihr Sein zu beschreiben. Der hier unterbreitete Vorschlag ist, jene Blackbox über das Dispositiv der Verführung zu öffnen. Die untersuchten poetischen Strukturen und Phänomene stellen mithin temporäre ontologische Verfestigungen dar, deren Resultat und nicht Präexistenz das jeweilige Poem bzw., allgemeiner gesprochen, die Existenzweise ‚Lyrik‘ ist. Dass es nötig ist, den gattungstheoretischen Zugang zu Lyrik zu überdenken, führen Werke wie die eines Mallarmé, Gomringer, Jürgen Becker oder Durs Grünbein vor, die typologische Einordnungen prekär werden lassen. Dass dies nötig ist, wissen auch Theoretiker wie Derrida, der fordert, es müsse die Möglichkeit bestehen bleiben, Fragen zu stellen „nach den Voraussetzungen, Fragen nach den Rändern, an denen die Lektüre ansetzt oder zum Zug kommt“18. Und dass dies nötig ist, legt zuletzt die aktuelle Theoriebildung nahe, wenn sie an ihre Grenzen stößt, so-
17 Diese Perspektivierungen gehen zurück auf die derzeit insbesondere über Gilles Deleuze und Brian Massumi vermittelte Philosophie von Alfred North Whitehead, der v.a. in seinem Werk Process and Reality (1929) die prozessuale Dynamik der Welt betont. Dieser Ansatz wird hier nicht weiter verfolgt, sei aber an dieser Stelle als kulturtheoretischer Hintergrund angeführt. 18 Derrida, Jacques (1994): Gestade. Hg. von Engelmann, Peter. Wien: Passagen, 254.
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bald sie versucht, genrespezifische Kategorisierungen zu formulieren, denen sich Gedichte aber immer wieder widersetzen. Seit Baudrillard 1983 festgestellt hat, die Verführung verdanke ihren Reiz der Tatsache, dass sie als theoretischer Gegenstand noch nicht bearbeitet ist, hat sich nicht viel geändert.19 Zu finden sind literaturwissenschaftliche Studien zu einzelnen populären Figuren, v.a. Don Juan, den Sirenen oder der Femme fatale. Auch ist das Thema im größeren literaturwissenschaftlichen Kontext bearbeitet worden, wobei es sich um Auseinandersetzungen mit den zahlreichen Romanen rund um den Topos handelt. Aus dem spezifischen Einsatzpunkt der Lyrik heraus ist dies bisher nicht geschehen; ebensowenig gibt es bisher, auch genreunabhängig, mehr als bloße Ansätze zu einer Poetik der Verführung. Die Lyrik selbst hat sich zwar mit kaum einem Topos stärker auseinandergesetzt als mit der Liebe, die eine Verführung voraussetzt, dennoch hat sich die Forschung höchstens thematisch und historisch, nicht aber systematisch mit dem Phänomen beschäftigt. Es ist also unbeachtet geblieben, dass Lyrik und Verführung nicht nur in einem motivischen Verhältnis stehen, sondern in einem inneren ästhetischen Zusammenhang. Herauszuarbeiten, durch welche Mittel sich dieser im jeweiligen Gedicht bildet – durch welche Worte, Verse, Figuren, lyriktheoretische Problemstellungen und sonstige poetische Phänomene und Strukturen –, ist das Anliegen der Studie, mit dem Ziel, eine alternative Gattungspoetik vorzuschlagen, eben: Lyrik als verführerische Existenzweise.20
19 Vgl. Baudrillard, Jean (1983): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 35. Vgl. die Präliminarien einer Verführung im Gedicht in dem vorliegenden Buch. Freilich gibt es kulturwissenschaftliche Bereiche wie die Psychoanalyse, die mit Laplanche ein spezifisches Verführungsmodell entwickelt hat. Siehe Laplanche, Jean (1988): Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen: Ed. Diskord sowie Bayer, Lothar/Quindeau, Ilka (Hg.) (2014): Die unbewusste Botschaft der Verführung: interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches. Gießen: Psychosozialverlag. Außerdem Freud, Sigmund (1978): Werkausgabe in zwei Bänden. Hg. von GrubrichSimitis, Ilse. Bd. 1. Frankfurt/M: Fischer. 20 Wenn im Folgenden die Begriffe ‚Existenzweise‘ und ‚Ontologie‘ synonym verwendet werden, so geschieht dies in dem Wissen, dass sie eigentlich nicht gleichbedeutend sind, insofern ‚Ontologie‘ nicht das Sein, sondern die Lehre vom Sein meint. In diesem Sinne werden am Ende der vorliegenden Studie, als Ergebnis der Analysen, Ansätze einer alternativen Ontologie, d.h. einer Lehre von Lyrik entstanden sein. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist jedoch die Tendenz zu verzeichnen, von einer Ontologie (auch) als einem Sein zu sprechen. So trägt im Folgenden Ontologie auch im Sinne einer Existenzweise namens Lyrik gesprochen.
Teil I Präliminarien einer Verführung im Gedicht
Süße Pein. Lyrische und kulturhistorische Konstellationen
Ein Mann verguckt sich in ein Mädchen. Doch das Objekt seiner Begierde erweist sich als keine leichte Beute. Im Gegenteil. Es ist starrköpfig, widerspenstig und resistent gegenüber seinen Reizen. So wird ein ausgeklügelter Plan gefasst, um es mithilfe seines guten Geschmacks und seines Sinnes für Kunst zu betören und der jungen Frau Stück für Stück den Kopf zu verdrehen. Die hier in wenigen Sätzen skizzierte Handlung ist die von Jean-François de Bastides La petite maison, die uns am Ende dieses Kapitels noch eingehender beschäftigen wird. Sie deutet ein Verführungsparadigma an, das sich als ‚klassisch‘ ausgeformt und hervorgetan hat: Um zwei Personen entwickelt sich eine erotische Beziehung, in der eine, meist der Mann, die Rolle des Verführers inne hat und das Objekt seiner Begierde mit ausgeklügelten Techniken und gegen seinen Willen dazu bringt, ihm zu verfallen. So oder ähnlich plakativ könnte eine literarische Verführungsszene aussehen, wie sie häufig in der Literatur zu finden ist und mit der Figur des Don Juan, des Casanova, der Sirenen, der Femme fatale o.ä. assoziiert ist.1 Das folgende Gedicht ist an der Herausbildung eines solchen schematischen Modells beteiligt:
1
Ihr Mädchen, flieht Damöten ja! Als ich zum erstenmal ihn sah, Da fühlt’ ich – so was fühlt’ ich nie; Mir ward – mir ward – ich weiß nicht wie:
5
Ich seufzte, zitterte, und schien mich doch zu freun:
1
Vgl. zum Motiv der Verführung in der Prosa Haustedt, Birgit (Hg.) (1997): Die Kunst der Verführung. Frankfurt/M: Insel. Für die Lyrik existiert eine solche mit relevanten Werken bestückte Anthologie bisher leider nicht.
24 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Glaubt mir, er muss ein Zaub’rer seyn! Sah ich ihn an, so ward mir heiss, Bald ward ich roth, bald ward ich weiss; 10
Zuletzt nahm er mich bey der Hand: Wer sagt mir, was ich da empfand? Ich sah, ich hörte nicht, sprach nichts als Ja und Nein – Glaubt mir, er muss ein Zaub’rer seyn!
15 Er führte mich in diess Gesträuch; Ich wollt’ ihn fliehn, und – folgt’ ihm gleich. Er setzte sich, ich setzte mich; Er sprach – nur Sylben stammelt’ ich; 20
Die Augen starrten ihm, die meinen wurden klein: Glaubt mir, er muss ein Zaub’rer seyn! Entbrannt drückt’ er mich an sein Herz. Was fühlt’ ich! welch ein süsser Schmerz!
25
Ich schluchzt’, ich athmete sehr schwer; Da kam zum Glück die Mutter her: Was würd’, o Götter! sonst nach so viel Zaubereyn Aus mir zuletzt geworden seyn!2
Als Zauberei bezeichnet das lyrische Ich das, was ihm hier, in Christian Felix Weisses Ende des 18. Jahrhunderts zuerst erschienenen Gedicht Der Zauberer, widerfährt. Eine Zauberei, der es gerade noch entkommen kann, bevor ihm – so glaubt es jedenfalls – Schlimmeres zustößt. Der vierstrophige, in Paarreimen gehaltene Text hebt an mit einer Warnung, die die Sprecherin, ein Mädchen, an Gleichaltrige richtet. Der Appell hat proleptischen Charakter, insofern er das zur Grundlage hat, was erst in den folgenden Zeilen thematisiert wird: Die Verführung durch Damötas, einem ‚Schwerenöter’, einem jungen Mann also, der dem Mädchen Avancen macht und ihm gar hinterhersteigt. Wir finden hier eine Konstellation mit eindeutigen Positionen und Rollen vor. Obwohl aus der Sicht des Mädchens erzählt, hat es einen passiven Part, der dominiert und gelenkt wird durch den Schürzenjäger. Dessen vermeintliche „Zaubereyn“ (27) machen sich bemerkbar durch die Alterierung der Wahrnehmung und Empfin-
2
Weisse, Christian Felix (2006): ‚Es schlug mein Herz‘. Deutsche Liebeslyrik. Hg. von Wagener, Hans. Stuttgart: Reclam, 108f.
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dung des Mädchens. Es kann nur Silben stammeln, wie der Text glaubhaft vor Augen führt („Mir ward – mir ward – ich weiß nicht wie“ (4)); es hat widersprüchliche Gefühle („Ich seufzte, zitterte, und schien mich doch zu freun“ (5)); kann diese Empfindungen selbst aber nicht einordnen („Wer sagt mir, was ich da empfand?“ (11)); es hat keine Macht mehr über seine physische Reaktion („Bald ward ich roth, bald ward ich weiss“ (9)); seine Wahrnehmung ist eingeschränkt („Ich sah, ich hörte nicht“ (12)). Aufgrund seiner Betörung, gegen die es sich nicht zu wehren vermag, ja, es weiß nicht einmal, wie ihm geschieht, handelt es im Affekt – ungeplant und kopflos. Der „Zaub’rer“ vermag es, die Position des Mädchens zu verunsichern – er nimmt es an der Hand und führt es ins Gebüsch –, und also das Verhalten des Mädchens zu seinen Zwecken umzuleiten. Indem es den Willen des Mädchens außer Kraft setzt, lässt er es Dinge tun, deren genaues Gegenteil es intendiert hatte: „Ich wollt’ ihn fliehen, und – folgt’ ihm gleich.“ (17) Das Motiv hinter den Handlungen des Mannes ist erotischer Natur: „Entbrannt drückt’ er mich an sein Herz.“ (23) Das Gedicht steht damit in einer Verführungstradition, die zur sinnlichen Liebe verleiten will. Lyrikhistorisch ist dieses Anliegen vielleicht am prägnantesten und häufigsten in der Barocklyrik zu finden. Hier speist sich das überredende Frohlocken aus dem Appell nach Lebensfreude, insbesondere dank der Mahnung des carpe diem.
ALbanie / gebrauche deine zeit / Und laß den liebes=lüsten freyen zügel / Wenn uns der schnee der jahre hat beschneyt / So schmeckt kein kuß / der liebe wahres siegel / Im grünen may grünt nur der bunte klee. Albanie.3
An „Albanie“ – durchgängig das erste und letzte Wort einer jeden der sechs Strophen – wird appelliert, sie möge doch im Hier und Jetzt und nicht erst im Alter der körperlichen Liebe frönen. „Albanie / was quälen wir uns viel / Und züchtigen die nieren und die lenden? / Nur frisch gewagt das angenehme spiel /“, fragt das poetische Ich und weiß doch seine eindeutigen Absichten mit Anleihen aus der Minne zu verbinden: „So laß doch zu / daß auff der Venus-au / Ein brünstger geist dir kniend opffer bringet / Daß er vor dir in voller Andacht steht.“4 Zur Sinnenlust verleiten will das poetische Ich nicht wie etwa in der galanten Poesie mit strategisch angeleg-
3
Hofmann von Hofmannswaldau, Christian (1968): Gedichte. Frankfurt/M und Hamburg: Fischer, 101f.
4
Ebd.
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ten, aufwartenden Worten und Taten, sondern mit seiner ungeduldig drängenden, bisweilen beschwörenden Mahnung, wie kurz das Leben sei, das es in vollen Zügen zu genießen gelte. Dass der Wollust des Mannes, der meist auch die Sprecherrolle inne hat und von seinem eigenen Empfinden berichtet, seine eigene Betörung vorweggeht bis hin zur Beraubung seiner Freiheit, führen zahlreiche Barockgedichte vor Augen. In So soll der purpur deiner lippen etwa bedient sich Hofmannswaldau der Schifffahrtsmetaphorik, um in Worte zu fassen, wie sehr die Angebetete das lyrische Ich zum Phantasieren verleitet und ihm den Kopf verdreht. SO soll der purpur deiner lippen Itzt meiner freyheit bahre seyn? Soll an den corallinen klippen Mein mast nur darum lauffen ein / Daß er an statt dem süssen lande / Auff deinem schönen munde strande?5 (Hervorhebung J.V.)
Der Auftakt macht schon deutlich, dass es mit der Freiheit des Protagonisten nicht weit her ist. Die „lippen“ sind im zweifachen körperlichen Sinne „klippen“, auf denen das lyrische Ich „strande[t]“. In der Figur des Seefahrers also kommt es vom Weg ab, verliert seine aktive Rolle und wird, der Kontrolle beraubt, in die Strömung gezogen. Es läuft auf den Strand der Liebe bzw. Wollust auf, von dem es sich nicht mehr befreien kann. Ja / leider! es ist gar kein wunder / Wenn deiner augen sternend licht / Das von dem himmel seinen zunder / Und sonnen von der sonnen bricht / Sich will bey meinem morrschen nachen Zu einen schönen irrlicht machen.6
Schuld an der Havarie ist der Blick der namenlosen Angebeteten, die ihm, einem Irrlicht gleich, trügerisch den Weg in die falsche Richtung geleitet hat. Der Legende nach flackern die geheimnisumwobenen Irrlichter in der Dunkelheit auf und gaukeln Wanderern die Nähe eines Unterschlupfs vor, locken sie aber eigentlich ins Moor, wo sie den Tod finden, weil die Gefahr zu spät sichtbar wird, als dass sie noch zum sicheren Weg zurückfinden könnten.
5
Ebd., 95.
6
Ebd.
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„Jedoch der schiffbruch wird versüsset“, findet das lyrische Ich angesichts des entzückenden Körpers, der sich ihm darbietet und dem nicht nur er im Liebesakt verfällt, sondern „Biß endlich in dem zucker-schlunde / Die geister selbsten gehen zu grunde.“7 Die Betörungskunst der Dame macht selbst vor dem Jenseits nicht Halt. So ist der Tor gewillt, sich seinem Schicksal hinzugeben, dass da vorsieht, Daß Venus meiner freyheit schatz In diesen strudel möge drehen.8 (Hervorhebung J.V.)
Das Gedicht endet mit der Bekundung seiner Anbetung dieser „gött- und priesterin“9, die ihm so viel Lust beschert. Die Ausdrücke „strande“, „irrlicht“ und „strudel“ stellen beispielhaft heraus, was in einer Verführungssituation geschieht: Der Verstand und die Sinne werden verdreht, werden abgelenkt, verlieren die Orientierung. Das lyrische Ich versucht gar nicht erst, sich aus den Fängen des Irrlichts zu befreien oder unternimmt nur halbherzige Versuche, die es nur stärker und genussvoller in die Arme der Frau treiben. In Hofmannswaldaus erotischen Gedichten zeigen sich Anklänge an die galante Lyrik, in der ebenfalls die Frau die Verführerin ist, aber nicht eigentlich in Aktion tritt. „[E]s gehet uns wie den fischen, welche sich zwar selbst ins netze stürtzen, aber gar selten wieder befreyen können“10, warnt Benjamin Neukirch. Es ist hier meist der verführte Mann, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, und es scheint, dass der bloße Anblick der Dame ausreicht, um den Kopf zu verlieren, sogar ohne dass sie tatsächlich und bewusst in seine Richtung gehandelt hätte. Das Panorama, in das die Frau bei Hofmannswaldau gerückt wird, reicht von der Hohen Minne mit ihren höfischen Idealen – wenn der angebeteten frouwe hier auch keine ewige Liebe geschworen, sondern die momenthafte, aber ungebändigte und schier unversiegbare Leidenschaft versichert wird –, über die romantische Verklärung der Geliebten, bis hin zur frivolen, sündigen Lustschöpferin, die mit obszönen Anklängen beschrieben wird. Die Minnelyrik führt vor Augen, dass der Entzug der Angebeteten und die unerfüllte Liebe zu ihr das wesentliche Element ihrer Verführungskraft ist:
7
Ebd.
8
Ebd.
9
Ebd.
10 Neukirch, Benjamin (1969): Über die Galanterie in Briefen. In: Wiedemann, Conrad (Hg.): Der galante Stil: 1680-1730. Tübingen: Niemeyer, 31.
28 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Schmollende Liebe 1
Nun haben alle Freunde mich verlorn! Da meine Herrin mir die Liebe wehret, Darf ich nicht heim mehr ziehn nach Ventadorn. Gleich ist sie scheu und bös mir abgekehret.
5
Woher auf ihrem Antlitz dieser Zorn? Daß ich zur Lust mir ihre Lieb erkorn, Das ists, weshalb sie klagt und sich beschweret. So schnellt das Fischlein auf den Köder los
10
Und weiß kein Arg, bis es am Haken hänget, Wie eines Tags in allzuraschem Stoß Ich nach der Liebe flog und war versenget. In keinem Ofen ist die Glut so groß, Und dennoch komm ich keine Handbreit los,
15
Weil ihre Liebe mich so fest umfänget. Kein Wunder, daß sie mich gefesselt hat, Ist keine doch so edel anzuschaun: Frische Gestalt, geschmeidig, weiß und glatt
20
Und alles wie ichs liebe an den Frauen. Hätte der kleinste Fehler bei ihr statt, Ich schmähte sie, nähm vor den Mund kein Blatt – Doch find ich nichts und darf mir nichts getrauen.
25
So will ich ewig ihr zu Glück und Preis Als Knecht und Freund im Dienste mich bequemen, Ob gut, ob schlecht sie meine Minne heiß; Herzens lebendger Trieb läßt sich nicht zähmen. Nicht eine von den Frauen, die ich weiß,
30
Kanns wehren, will ich lieben sie mit Fleiß – 11
Doch alles freilich kann man übel nehmen...
Das Gedicht von Bernart von Ventadorn, bestehend aus jambischen Versen, die konsequent im Reimschema a-b-a-b-cc-d gehalten und in vier Strophen zu je exakt sieben Zeilen gereiht sind, stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Es setzt ein, nachdem die Abweisung durch die angebetete frouwe bereits geschehen
11 Vossler, Karl (1946): Romanische Dichter. München: Piper & Co., 15f.
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ist, und thematisiert die Folgen ihrer Ablehnung. Die Hohe Minne folgt stets dem gleichen Schema, das nur sprachlich verschieden umgesetzt wird: Ein Ritter erweist seiner unerreichbaren Herrin den Dienst, besingt sie, betet sie an, doch die sinnliche Erfüllung bleibt ihm verwehrt. Der Hohe Minnesang ist jene Gattung, die das Besingen des Unerfüllten, Unerreichbaren Verbotenen – nicht zuletzt weil die Angebetete eine verheiratete Frau ist – zum Prinzip erhebt. Erst dadurch wird der Ritter zum sehnsüchtigen, aber auch zum verführten Subjekt stilisiert, denn schon hier gilt, dass der Reiz gerade in dem offenen Ausgang der Situation liegt. Wenn das Spiel der Minne natürlich auch hoch artifiziell und schematisch ist – Erfüllung wäre ihr Ende. „Das Werberitual ist [...] eingeengt auf eine bestimmte Konstellation – auf die Werbung um eine Frau, die der Werbende als gleichgültig, hochmütig, unnahbar, abweisend, ja feindselig erfährt. Er [das männliche lyrische Ich, J.V.] stilisiert sie als Minneherrin, erhebt sie in eine dominierende ethische Position, entrückt sie geradezu“12.
In von Ventadorns Gedicht sind es die beiden mittleren Strophen, die den nachhaltigen Eindruck der Dame auf das lyrische Ich deutlich machen, dem es ähnlich ergeht wie Jahrhunderte später dem galanten Dichter. Auch bei Ventadorn ist es die Metapher des Fisches (sogar ein „Fischlein“ (9; Hervorhebung J.V.)), mit der sich der Dichter vergleicht. Er hat sich ködern lassen und ist der frouwe ins Netz gegangen. Indes kommen in den rahmenden ersten und letzten Strophen Enttäuschung und Bedauern auf angesichts der Abweisung und deren Folgen, etwa in seinem Heimatort nicht mehr willkommen zu sein. Dies tut seiner Liebe jedoch, so versichern die letzten Verse, keinen Abbruch: „Ob gut, ob schlecht sie meine Minne heiß; / Herzens lebendger Trieb läßt sich nicht zähmen.“ (27-28) Schon der Titel hebt den spielerischen Unmut hervor, der hier vorherrscht: Schmollende Liebe. Ist es der Ritter, der hier schmollt, angesichts seiner Zurückweisung durch die Dame? Die infantile Anspielung des Diminutivs „Fischlein“ (9) lässt diesen Gedanken nicht abwegig erscheinen. Oder ist es die seinen Liebesbekundungen gegenüber halb geschmeichelte, halb in ihrer Eitelkeit verletzte Angebetete, die sich trotzig von ihm abwendet? Schließlich hatte der Ritter offenbar kenntlich gemacht, dass seine Werbung ein eindeutiges Ziel verfolgt: „Daß ich zur Lust mir ihre Lieb erkorn, / Das ists, weshalb sie klagt und sich beschweret.“ (6-7) Sie erwartet also trotz ihrer gesellschaftlichen und ehelichen Bindung seine wahren Gefühle, die jedoch, sehr zu ihrer Klage, ausschließlich der sinnlichen Lust verpflich-
12 Schweikle, Günther (1995): Minnesang. Stuttgart: Metzler, 171.
30 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK
tet sind. Nichtsdestotrotz entbehren sie nicht einer Tiefe und Intensität, wovon die zweite Strophe zeugt: „In keinem Ofen ist die Glut so groß“ (13). Die oben zitierte Warnung des Benjamin Neukirch jedenfalls kommt für den Dichter zu spät. Arglos wie er ist, sind seine Sinne längst von den weiblichen Reizen eingenommen, noch bevor er sich dessen bewusst wird. Rückblickend berichtet er, dass er sich wie Ikarus die Flügel versengte, und schreibt damit seiner frouwe das Bild der Sonne zu, ebenso wie, in aller Zweideutigkeit, das des Ofens. Er trägt Verletzungen fort, und kann sich dennoch nicht von ihr befreien, sondern liegt in Fesseln. Christian Hofmann von Hofmannswaldau weiß: Verbotne frucht ist mehr als doppelt süsse; / Der neben-weg reitzt mehrmals unsre füsse/ Die wollust wächst auch aus gefahr und pein
13
und bedient sich damit eines Topos, der mit dem Ausdruck der ‚süßen Pein‘ umschrieben werden kann und hier aus der Sinnenfreude und Fleischeslust bei gleichzeitigem Schuldgefühl und Reue aufgrund des kirchlichen Moralkorsetts resultiert. Verführerisch ist gerade dessen Übertretung, die aber nur als ‚pastorale Technik‘ in der Dichtung eingesetzt wird und nicht in der Wirklichkeit geschieht. „Der neben-weg reitzt mehrmals unsre füsse“: Wo das geschieht, ändert sich die Topologie – und zwar nicht nur die der Sinne, sondern auch der geographische Standort, wie die „füsse“ zeigen, die sowohl die taktile Wahrnehmung der Haut, als auch die physische Fortbewegung, die den Raum geographisch erkundet und einnimmt, einschließen (vgl. dazu auch das Kapitel Positionalität – Relationalität). Der ins Netz gegangene Fisch ist eines der Leitmotive, die thematisieren, wie die Bewegung des Verführten beeinflusst wird. Leitmotivisch sind auch die Ketten, in denen der Schmachtende liegt, oder das Verirren in einem Labyrinth. Bei Ventadorn jedenfalls, und dies können wir auch prototypisch für den Barock feststellen, ist es die äußere Gestalt seiner Angebeteten, der er verfallen ist, und zwar ausschließlich. „[E]del“ (18), „frisch“ (19), „geschmeidig, weiß und glatt“ (ebd.) ist ihr in seinen Augen vollkommener Körper. Von ihren inneren Werten ist typischerweise nicht die Rede. Es scheint, die verlockende Wirkung der frouwe resultiere nicht nur aus ihrer Unerreichbarkeit, wie in den anderen Gedichten der Hohen Minne, sondern sei noch potenziert durch das paradoxe Spiel, das sie mit ihm treibt. Ehelich gebunden, kann sie keine ernsthaften Ambitionen hegen, und doch erwartet sie genau diese von ihm und empört sich „bös“ (4) und voller „Zorn“ (5)
13 Capua, Angelo George de und Philippson, Ernst Alfred (Hg.) (1961): Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn von Hofmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Bd. 1. Tübingen: Niemeyer, 451.
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ob seines bloß körperlichen Verlangens nach ihr. Ihre Reaktion spiegelt, es handle sich um ein unerhörtes Benehmen, das der Sublimierung seiner Triebe und Züchtigung der Affekte dient, aber gerade die gegenteilige Wirkung hat. Gleichzeitig weiß der Ritter durchaus um die gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtungen seiner frouwe. Seine Klage ist also scheinheilig. Dies ist Teil des Rollenspiels, dessen Regeln vorsehen, dass die frouwe den Ritter dazu bringt, ihr zu verfallen, was sie ihm zugleich schelmisch übel nimmt, und doch wieder schmollend reagiert, wenn seine Gunst nicht ausreicht und er – wie bei Ventadorn – bloß sinnlich-körperliche Absichten hegt. Sie fordert ein, dass er sein Bemühen vervielfache, einer Dame würdig zu sein, während genau das aussichtslos ist und sein muss. Paradox, aus heutiger Sicht, ist ebenfalls das Ergebnis dieser komplizierten Beziehung: „Aus dieser Unterwerfungsgeste resultieren ethische und gesellschaftliche Werte: Steigerung des Lebensgefühls und Anerkennung in der Gesellschaft.“ 14 Die festen Formprinzipien des Minnesangs – die Preisung der Schönheit der Angebeteten, die Beschreibung der Machtlosigkeit angesichts ihrer bezaubernden Wirkung, die Klage über die Erfolglosigkeit des Werbens und das resignierende Bekenntnis, der ihr ‚ins Netz Gegangene‘ könne sich ohnehin nicht von ihr losmachen – verdeutlichen: Die Vergeblichkeit der Werbebemühungen und die daraus resultierenden Gefühlszustände – Leid, das tapfer ertragen wird – sind die Voraussetzungen für die Anerkennung in der Gesellschaft, die gerade den verachtet, der sich nicht auf dies Spiel einlässt. Und so hält der Kavalier aus Ventadorns Gedicht fest an seinem Ziel, wozu ihm zum einen sein Selbstbewusstsein genügend Anlass gibt: „Nicht eine von den Frauen, die ich weiß, / Kanns wehren, will ich lieben sie mit Fleiß“ (30-31). Und zum anderen die resignierende Einsicht, dass er ihr ohnehin schon vollständig verfallen ist: „Herzends lebendger Trieb läßt sich nicht zähmen.“ (28) Ebenso wie in den Beispielen aus dem Barock ist es auch in der Minne die Dame, die zur Verführerin wird, wenn sie auch noch keinerlei Gemeinsamkeiten mit der intentional handelnden Sirene des 18. oder der Femme fatale des 19. Jahrhunderts hat. Denn weder tritt sie aktiv in Erscheinung noch wird je thematisiert, ob sie bewusst ihre Reize einsetzt oder nicht. Die Rede vom „Köder“ (9) lässt beide Interpretationen zu, es mag ein absichtlich ausgelegtes Lockmittel sein oder eines, das für den Ritter zu einem solchen nur wird, ohne dass dies die Absicht der Dame war. Die Frau jedenfalls nimmt hier rekursiv, durch ihre Wirkung, die Rolle der Verführerin ein.
14 Schweikle, Günther (1995): Minnesang. Stuttgart: Metzler, 171.
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Eine andere Konstellation zeigt sich in der Pastourelle, die als ein weiterer Typus höfischer Lyrik gelten kann und das amouröse Abenteuer eines Ritters oder Klerikers mit einem einfachen Mädchen zum Thema hat. „In der Regel wird die Pastourelle als Verführungsdialog gestaltet, der entweder gelingt (und dann mit der Schilderung erotischer Details einhergeht) oder scheitert (und dann den Witz und die rhetorische Finesse des sozial unterlegenen Mädchens vorführt).“15
Der Ritter setzt alles daran, das Bauermädchen zu verführen, und kann dabei häufig Erfolg verbuchen. Die Variationsbreite der männlichen Werbung reicht von der Verführung über die beiderseitige erfüllte Liebe, wie in Walther von der Vogelweides Unter der linden, aus Sicht des Mädchens geschrieben, das glücklich („tandaradei“ lautet der refrainartige, ihr Glück bekundende Ausruf) der körperlichen Liebe frönt, bis hin zur Vergewaltigung wie in Ich war ein unschuldiges Kind der Carmina Burana. Hier will ein junges Mädchen auf der Wiese Blumen pflücken, so geben die ersten Verse kund, wo ein Schürzenjäger ihr nachsteigt um sie ihrer Tugend zu berauben.
Er nahm mich bei meiner weißen Hand, keineswegs unanständig, er führte mich die Wiese entlang – doch keineswegs in lauterer Absicht. Ach und Weh! Verflucht seien die Linden die am Wegrand stehen! [...] Er sprach: [...] »Es steht eine schöne Linde nicht weit vom Weg; dort habe ich meine Harfe gelassen, mein Tamburin und meine Fiedel.« Ach und Weh! Verflucht seien die Linden die am Wegrand stehen.16
15 Holznagel, Franz-Josef (2013): Geschichte der deutschen Lyrik. Band 1. Mittelalter. Stuttgart: Reclam, 41.
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Das Mädchen wird als besonders tugendhaft entworfen: „Damals sang man überall mein Lob“, heißt es in der ersten Strophe. Es ist weiß gekleidet, hat eine weiße Hand (in manchen Übersetzungen geht sie sogar auf ‚weißem Pfad‘), und sucht nach Blumen, als der Schürzenjäger es lockt (oder zwingt?), ihn stattdessen zu den Linden zu begleiten. Die Linden sind fortan Symbol für den verdammungsvollen Ort seines Schicksals, schließlich „nahm [er] den Köcher und den Bogen / und machte gute Beute. / Dieser Mann hatte mich betrogen, / damit das Spiel seine Erfüllung finde“, woraufhin die Klage „Ach und Weh! / Verflucht seien die Linden / die am Wegrand stehen“ zum Refrain des Gedichts avanciert. Typisch ist das hier verwendete Motiv der Linde, bekannt durch von der Vogelweide, das den Ort markiert, unter dessen Blätterdach das Geschehen vor sich geht. Die Linde fungiert als Symbol für die Liebe, gleich, ob sie nun einvernehmlich geschieht oder, wie hier, mit Gewalt. Folgende Koordinaten macht die Forschung für die Pastourelle fest: „Die gattungskonstitutive Situation findet im amönen Milieu und im plotbestimmenden Verführungsmotiv ihr Zentrum. Als Nebenaspekte treten zu ersterem die Zufälligkeit (am Beginn steht fast immer ein zielloser Ausritt) und die Heimlichkeit der Begegnung bei hellem Tage 17
[...], zu letzterem kalkulierte Verführungsstrategien wie Geschenke oder Schmeicheleien.“
Nicht festgelegt ist dagegen der Ausgang der Situation: „Ob die Frau der Verführung oder dem Reiz der Gaben erliegt, sich erfolgreich verweigert oder roher Gewalt unterliegt, scheint fakultativ.“18 Als ebenso genretypisch macht Mathias Herweg das Rollenpersonal aus, bei dem es sich stets um einen Mann und eine Frau handle, meist ein Knappe oder Ritter und eine Magd oder Hirtin. Außerdem weist er auf die gattungsspezifische Struktur der Pastourelle hin, einem „narrativ gerahmte[n] Dialog“19 mit außergewöhnlicher Rede- und Perspektivierungskonstellation: „Der mit dem Verführer identische Erzähler wählt auch die Redeanteile der Frau aus und gibt sie gefiltert wieder. Die Frau spricht so letztlich durch den Mund ihres Verführers“20.
16 Carmina Burana (1987). Die Liebeslieder Nr. 185. Bibliothek des Mittelalters, Bd. 13. Hg. von Vollmann, Benedikt Konrad. Frankfurt/M: Deutscher Klassiker Verlag, 589ff. 17 Herweg, Mathias (2013): Der zerbrochene Krug, oder die Schande des Verführers. Zur ‚nachklassischen‘ deutschen Pastourelle. In: Köbele, Susanne (Hg.): Transformationen der Lyrik im 13. Jahrhundert, Berlin: Erich Schmidt, 67-100, hier 70 (Hervorhebung im Original). 18 Ebd. 19 Ebd., 71. 20 Ebd., 72.
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Die Beispiele aus Barock, Galanter Lyrik und Höfischer Dichtung fungieren hier als Schlaglichter für lyrische Formen, die das klassische Verführungsparadigma am stärksten mitausgeprägt haben. Freilich wäre diese grobe Auswahl zu erweitern und zu ergänzen, etwa um den Petrarkismus und die Romantik sowie durch Dichter, die sich besonders hervorgetan haben.21
Wir können aus den lyrischen Einblicken resümieren, dass das Verführungsmodell, welches sich in der Literatur- und Kulturgeschichte durchgesetzt hat, recht schematisch ist: Zwei Personen stehen in einer Beziehung zueinander, in der jede eine eindeutige Rolle besetzt. Den dominanten Part hat der Verführer inne, der, wie wir gesehen haben, nicht geschlechtsspezifisch ist, also nicht unbedingt männlich besetzt sein muss, und der eine erotische Beziehung initiieren will. Das Objekt seiner Begierde ist in einer passiven Position verhaftet, in der es sich als mehr oder weniger widerspenstig erweist, sodass der Verführer zu planvollem, ja raffiniertem und berechnendem Vorgehen herausgefordert ist. Figuren, die dieses Paradigma konstituiert und aktualisiert haben, sind diejenigen, die zu Prototypen der Verführung avanciert sind und als solche die Kulturgeschichte besonders prägen. Dazu zählen v.a. Don Juan, die Sirenen und die Femme fatale.22 Dazu zählt aber auch, und für die abendländische Kulturgeschichte als allererstes, Eva.
21 Zu Texten der Romantik und des Petrarkismus siehe das Kapitel Positionalität – Relationalität in dieser Arbeit. Gedichte rund um Warenästhetik und Konsum oder auch die Politische Lyrik wären außerdem relevant für unser Forschungsthema, können in dieser Studie jedoch nicht weiter beleuchtet werden. Zur Verführung in und Verführung von ökonomischen Verhältnissen siehe das letzte Kapitel dieser Arbeit. Nicht unerwähnt bleiben sollen außerdem die antike Dichterin Sappho oder für die Moderne Bertolt Brecht, die unter den Auspizien der Verführung besonders interessant sind. Von Brechts Gedicht Gegen Verführung kann man behaupten, dass es gerade zu eben dieser anregt. Schließlich schreibt er: „Laßt euch nicht betrügen! / Das Leben wenig ist. / Schlürft es in vollen Zügen!“ Er appelliert daran, das Leben zu genießen und sich nicht verführen zu lassen „[z]u Fron und Ausgezehr!“ (Brecht, Bertolt (2009): Liebesgedichte. Frankfurt/M: Suhrkamp, 18f.) 22 Freilich wäre diese knappe Liste um ein Vielfaches durch weitere populäre literarische Figuren zu erweitern wie Casanova, Mephisto, Faust, den Vicomte de Valmont, Lolita, Lulu, Medusa und viele mehr. Einen Überblick über das in Rede stehende Motiv in Prosa und Drama, bis auf sehr wenige Ausnahmen unter Auslassung der Lyrik, bietet Frenzel, Elisabeth (2008): Motive der Weltliteratur, Stichwort „Verführer und Verführte“, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 743-760.
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C HRISTLICHE G ENEALOGIEN Eva Filatrice 1
Von alters her steht sie im Regen. Sie balanciert, Die empfindsamen Finger ausgestreckt, überm Rand, Frivole Fialen türmend, auf gotischen Zinnen. Steinerne Spitzentüchlein sinds, die sie lanciert,
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Kronen aus Marmorschaum, Sandstein-Krokant, Streben, handwurzelfein, Pfeiler und Regenrinnen. Immer ist sie es, die lächelnd den Faden spinnt, Gemeißelte Ranken zaubernd auf Kuppel und Dach. Sie treibt das Bauwerk in Himmelshöhen empor.
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Unten die Krypta der Herren, fledermausblind, Mächtig ihr Schuldspruch. Das Fleisch ist schwach. Sie kniet, die Stille, als letzte im holzgetäfelten Chor, Sünderin, Dirne, verlobt mit der Perle, dem Edelstein. Im Glasfenster lenkt sie den Strahl ins Freie hinaus.
15
Lose Muse den Malern, sitzt sie aufrecht Modell Für Madonna und Venus, in ihrer Nacktheit allein, Mit Augen und Adern Vorbild für alle die Blaus. Sie ist es, sie, die das Kirchenschiff spärlich erhellt.23
Der Text eröffnet die Liebesgedichte Durs Grünbeins. Titelgebende Figur ist die Spinnerin Eva Filatrice, Werk des Bildhauers Nicholaus aus dem 12. Jahrhundert. Der erste Vers spielt auf die Topologie der Skulptur an. Ursprünglich war ihr Ort die gotische Fassade der Kathedrale San Giorno im norditalienischen Ferrara. Dementsprechend ist „der Ort des Gedichtes ein gotisches Gotteshaus, das von seinen äußersten Spitzen, den ‚Kuppel[n]‘, ‚Zinnen‘, Dächern und ‚Fialen‘ über die ‚Streben‘, ‚Glasfenster‘ und das ‚Kirchenschiff‘ bis in die ‚Krypta‘ hinabsteigend in das poetische Blickfeld rückt.“24 Sie „steht im Regen“ (1), trotzt Wind und Wetter, und obwohl sie, auf dem Rand balancierend (vgl. 1-2), einen prekären Platz inne-
23 Grünbein, Durs (2002): Liebesgedichte. Frankfurt/M: Insel, 9. 24 Klein, Sonja (2014): ‚Gleich nach der Liebe ist Vögeln der bessere Stil.‘ Von sachlichen Romanzen und Hoher Minne in der zeitgenössischen Lyrik. In: Herwig, Henriette/Seidler, Miriam: Nach der Utopie der Liebe? Beziehungsmodelle nach der romantischen Liebe. Würzburg: Ergon, 309-331, hier 324. Große Teile der Analyse auf den folgenden anderthalb Seiten denkt Sonja Klein in ihrer feinsinnigen Auseinandersetzung mit Grünbeins Gedicht schon vor.
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hat, ist sie treibendes Element für das gesamte Bauwerk. Sie türmt „[f]rivole Fialen“ (3), ebenso wie die Sprache die alliterierenden Anfangslaute auftürmt; sie bildet feinsinnig „[s]teinerne Spitzentüchlein“ (4), „Kronen aus Marmorschaum, Sandstein-Krokant, / Streben, handwurzelfein, Pfeiler und Regenrinnen.“ (5-6) Sie verfügt über feinfühlige, empfindliche Finger, die filigranen, zerbrechlichen Schmuck wie Spitze, Kronen, Schaum und Krokant zu händeln wissen. Eva Filatrice wird zur Schöpferin des architektonischen Kunstwerks: „Sie treibt das Bauwerk in Himmelshöhen empor“ (9), was durchaus architektonisch-räumlich gemeint sein kann, insofern die Türme und Spitzen es in die Höhe verlängern wie auch Ranken, Streben und Pfeiler in die Breite vergrößern. Es wird aber auch ästhetisch gemeint sein. Denn sie sorgt für besondere Lichtverhältnisse im Kirchenschiff, indem sie mit ihrem Volumen den Lichtstrahl lenkt (vgl. 14), das richtige Maß für dessen Ausschmückung wählt (vgl. 18), und sie steht Modell für die Maler der den Innenraum verzierenden Gemälde, in all deren figürlichen und farblichen Vielfältigkeit (vgl. 15-17). Ihr Schaffen versinnbildlicht sich in zahlreichen Tätigkeiten des Balancierens (vgl. 1), Türmens (vgl. 3), Lancierens (vgl. 4), Spinnens (vgl. 7) und Zauberns (vgl. 8). Sie treibt an und lenkt. Als eine ‚Macherin‘, wie wir sie heute nennen könnten, ist sie Stellvertreterin für alles Weibliche, dessen Leistung und Fähigkeiten durch den harschen Gegensatz zu allem Männlichen („Unten die Krypta der Herren, fledermausblind“ (10)) hervorgehoben wird. Das Adverb „Immer“ (7) lässt keinen Zweifel daran, dass stets und allein sie, das Weibliche schlechthin, diejenige ist, die schöpferisch tätig ist und hervorbringende Kraft hat. Sonja Klein betont, dass Eva Filatrice verschiedene, teils widersprüchlich besetzte Frauenfiguren und Liebeskonzepte in sich vereint: „Sie ist zugleich Heilige (‚Madonna‘), erotisches Objekt (‚Lose Muse‘, ‚Sünderin, Dirne‘) und Liebesgöttin (‚Venus‘). Innerhalb des Poems entsteht so – parallel zu der lyrischen Erschaffung des Kirchengebäudes – ein Bild des Weiblichen per se, das für den Dichter jedoch den Ursprung aller Schönheit und damit vor allem der Kunst bedeutet. [...] In diesem Sinne offenbart sich in diesen Versen das Weibliche als der Urgrund aller Kunst und damit auch der Dichtung selbst.“25
Über die verschiedenen Frauenfiguren und Konzepte des Weiblichen hinweg verkörpert Eva Filatrice die ästhetische Sinnlichkeit samt der Versuchung, die von dieser ausgeht. Der elfte Vers steht hierfür Pate: „Mächtig ihr Schuldspruch: Das Fleisch ist schwach.“ Ebenso wie das Bauwerk durch sie hervorgebracht und vervollständigt wird, so ist sie die poetologische Lenkerin des Gedichts, welches sie zum Kunstwerk erhebt.
25 Ebd., 325.
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Durch sie sind handwurzelfeine Kronen, Ranken, Fialen, Spitzentüchlein der Kirche verschränkt mit den filigranen, frivolen lyrischen Wendungen des Textes. Sie zaubert beides hervor, treibt beides in die Höhe: Den empfindsamen Bau der Kirche und den des Gedichts. So ist sie auch die Muse des Dichters und ‚verlobt mit der Sprache‘ (vgl. 13), die zu schöpfen, zu schmücken und die Sinne zu berühren vermag. Davon zeugen die Alliterationen „[f]rivole Fialen“ (3), „Muse den Malern“ (15) und „Augen und Adern“ (17). Hier ist eine Sprache am Werk, die sich ebenso „handwurzelfein“ (6) und feinnervig zeigt wie Eva Filatrice, und die es vermag, Inhalte hervorzubringen und zu lancieren, so wie Eva auf ihre Weise in immenser Produktivität die Kirche – und den Text – zum Kunstwerk ausgestaltet. Die Schuld, die Eva Filatrice trägt, beruht auf ihrer Empfänglichkeit für sinnliche Verlockung: „Das Fleisch ist schwach.“ (11) Ihr Fleisch ist schwach, ebenso wie das derer, die von ihr lesen oder die sie betrachten. So ist sie nicht nur Venus und Madonna, sie ist auch Eva, die erste Frau. Als Opfer der heimtückischen Schlange ist sie Sinnbild der menschlichen Schwäche, Versuchungen zu erliegen, und ist Trägerin der Erbsünde – nicht zuletzt im Übrigen, weil sie auch Adam dazu gebracht hat, vom Apfel zu essen. Nach der biblischen Überlieferung gilt sie zugleich als die von den Sinnen Verführte wie als Verführerin der Sinne. Ebenso bei Grünbein. Hier trägt sie ihre mächtige Schuld, steht im Regen (vgl. 1), und gleichzeitig lanciert sie, zaubert (und damit be-zaubert und ver-zaubert sie auch) und lenkt. Sie hat im wortwörtlichen Sinne die Fäden in der Hand, ist sie doch Spinnerin von Beruf. Sie gibt den Weg vor, lenkt vom eigentlichen Weg ab (vgl. 14). „Eva“ steht für Sinnlichkeit, ist die Schöpferin des Lebens und Urgrund von Kunst und damit auch der Dichtung, sie ist Sinnbild der Liebe. „Eva bzw. die Liebe begegnet so auch in Gestalt der Parze [die drei griechischen Schicksalsgöttinnen, J.V.], die den Faden des Lebens spinnt, über dessen Schicksalsläufe sie entscheidet.“26 Grünbeins Gedicht führt vor Augen, dass die Geschichte des christlichabendländischen Denkens von der Verführung her verstanden werden kann, ist doch der Sündenfall im Paradies durch die Verleitung Evas, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der christliche Ursprungsmythos schlechthin. Seit dieser Urszene ist Verführung an den janusköpfigen Diskurs um Verbot, Manipulation und Verlust der Autonomie auf der einen Seite, und Gewinn an Erkenntnis, Wissen und Ausprägung der Subjektivität auf der anderen Seite gekoppelt. Verführung ist stets Verführung zur Sinnlichkeit. Dies gilt nicht nur für erotische Verhältnisse oder Liebesbeziehungen, denn selbst in ökonomischen Zusammenhängen, im politischen Diskurs o.ä. spielt die Sinnlichkeit des Materials – sei es
26 Ebd.
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die der Sprache oder des Gegenstands, der angepriesen wird – eine Rolle, wie schon die Werbung weiß. Die paradiesische Frucht des Baumes der Erkenntnis, die im Abendland zum Apfel wurde, während sie im Orient als Feige wiedergegeben wird, war offenbar glänzend, saftig und von intensiver Farbe, schließlich „sah die Frau, dass es gut wäre, von dem Baum zu essen, und dass er eine Lust für die Augen war und dass der Baum begehrenswert war“27. Die Folgen sind bekannt: Adam und Eva erlangen Erkenntnis, symbolisch dafür ist die Scham vor ihrer Blöße. Für ihren Ungehorsam bestraft Gott sie mit Mühen und Leid, Eva soll unter Schmerzen gebären und dem Manne fortan untertan sein; und Adam wird mit harter, mühseliger Arbeit bestraft. Mit dieser Verdammnis werden sie aus dem Garten Eden vertrieben. Weil sie Verführte und Verführerin gleichermaßen ist, ist Eva seither in der christlichen Deutung negativ besetzt und als Trägerin der Erbsünde stigmatisiert. Die biblische Szene führt aber auch vor, dass es gerade die Verbotsüberschreitung, also das Erliegen der Verführung ist, das Erkenntnis und Wissen möglich macht. Die Folgen sind einmal mehr die sinnliche Wahrnehmung der Welt: „Da gingen den beiden die Augen auf“28 sowie die Etablierung von Sprache: „Und der Mensch nannte seine Frau Eva.“29 Seit ihren theologischen Anfängen also hat der Begriff der Verführung moralische sowie sinnlich-erotische und ästhetische Komponenten. Sie ist an Angebot und Entzug, an Nähe und Distanz gebunden durch den Apfel, der in Reichweite am Baum hängt, jedoch mit einem expliziten Tabu belegt ist, und dadurch mit dem Begehren verknüpft, den Entzug zu überwinden. Das Objekt der Begierde ist anwesend, zugleich unerreichbar und bleibt dadurch als Versuchung präsent. In dieser christlichen Ordnung erscheint Verführung als eine stabile symmetrische Situation, in der die Rollen des aktiv Handelnden und des passiv Rezipierenden eindeutig verteilt sind. So ist es in der Genesis die listige Schlange (bzw. der Teufel), die mit Mitteln der Manipulation die arglose Eva zum Übertreten des Verbots verleitet indem sie scheinheilig fragt: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“30 Sodann nimmt Eva deren Stelle als Verführerin ein und bringt den ihr vertrauenden Adam dazu, vom Apfel zu kosten. Die Literatur hat, so können wir schlussfolgern, nicht nur den männlichen Verführer zu einem traditionsbildenden Schema ausgeformt, sondern ebenso die Verführerin, die nicht zuletzt in der Nachfolge der biblischen Eva dämonische Züge hat oder
27 Zürcher Bibel (2007): Genesis 3, 6. Zürich: Genossenschaft Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich. 28 Ebd., Genesis 3, 7. 29 Ebd., Genesis 3, 20. 30 Ebd., Genesis 3,1.
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doch zumindest Sprachrohr des Teuflischen ist. 31 Ausgestattet mit magischerotischer Anziehungskraft vermag sie es, den Mann an sich zu binden und zu lenken. Dazu gehört schon in der antiken Tradition die Unheil bringende Pandora, und dazu zählen v.a. in der Moderne die Femme fatale oder die Wasserfrau. In der Lyrik ist insbesondere letztere präsent, besonders in klassisch-romantischen Texten in ihren verschiedenen, über das Menschliche hinausgehenden Ausformungen als Undine, Melusine, Sirene, Nymphe, Loreley und das im Wasserrauschen verkleidete Numinose.32 Eine andere, das klassische Verführungsmodell prägende Figur ist Don Juan. Durch Tirso de Molina im 17. Jahrhundert ins Leben gerufen und seitdem verschiedentlich und am bekanntesten von Molière, Da Ponte, Mozart und Lord Byron inszeniert, ist er die „Inkarnation sinnlich erotischer Genialität“33. Sein Pendant findet er im 19. Jahrhundert im kierkegaardschen Namensvetter Johannes. Dieser schreibt im Tagebuch des Verführers: „Die meisten genießen ein junges Mädchen, wie sie ein Glas Champagner in einem schäumenden Augenblick genießen, [...] aber hier ist mehr.“34 Jenes „[M]ehr“ meint „die Schlauheit, die Hinterlist, mit der er [der Verführer] sich in das Herz eines Mädchens einzuschleichen weiß, die Herrschaft, die er sich darüber zu verschaffen weiß, die betörende, planmäßige, sukzessive Verführung.“35 Hier wird auf eine Praxis abgehoben, die die Manipulation zelebriert. Der Herausgeber Victor Eremita kommentiert über Johannes, er könne sich gut vorstellen, „wie er ein Mädchen bis zu dem Punkt brachte, wo er sicher sein konnte, daß sie ihm alles opfern würde; und wenn die Sache so weit gediehen war, brach er ab, ohne daß von seiner Seite die kleinste Annäherung geschehen wäre“36. Zu diesem Zweck geht Johannes kühl berechnend vor, betont, man müsse Studien machen und „alles mit System betreiben“37, mahnt immer wieder zur Geduld, d.h. dazu, dass der
31 In gendertheoretischer Perspektive wäre mit Judith Butler zu betonen, dass diese Gedichte das Weibliche im Gegensatz zur Kategorie des Männlichen allererst konstituieren, anstatt dass es sich um prästabile und normative Kategorien handelt. 32 Vgl. zu den Figuren der Sirene und Nymphe die Kapitel Positionalität – Relationalität und Das Andere in Arbeit: Verführung. 33 Gnüg, Hiltrud (1989): Don Juan. München: Artemis, 8. 34 Kierkegaard, Sören (1960): Entweder-Oder. Köln: Hegner, 397. Weiterführend zu Kierkegaards Verführer siehe Rehm, Walter (2003): Kierkegaard und der Verführer. Hildesheim: Olms Verlag. 35 Kierkegaard, Sören (1960): Entweder-Oder. Köln: Hegner, 130. 36 Kierkegaard, Sören (1946): Aus dem Tagebuch des Verführers. München: Zinnen Verlag, 12. 37 Ebd., 32.
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Bogen langsam gespannt werden müsse, denn „[w]er zuletzt lacht, lacht am besten.“38 Johannes ist ein Stratege. Er verschafft sich Zutritt zu Cordelias Familie, wo er die Rolle als guter Bekannter der Tante spielt, ohne Interesse an deren Nichte zu zeigen, und Cordelia zunächst mit Ignoranz abstraft, Gleichgültigkeit vorgaukelnd. Seinen Freund Eduard benutzt er als Köder, um neben ihm als gute Partie hervorzustechen. Als Cordelia für ihn entbrannt ist, bringt er sie dazu, nach seinen Vorstellungen zu handeln. Er modelliert sie, damit sie sein Begehren schürt, indem er einen Verehrer für sie sucht, der ihr freilich nicht gefällt, so dass sie „stolz [wird] in Liebessachen, und das macht sie interessant“39. Ziel seines Plans ist es, das Mädchen so weit zu bringen, „daß sie ihren freien Willen nur noch dazu hat, sich hinzugeben“40. Sobald er sie für sich gewonnen hat, will er sich dann „zurückzuziehen und sie wird alles aufbieten, mich wirklich zu fesseln.“41 Er betört sie, indem er in ihr den Schein seines Begehrens erzeugt. Als Johannes sich seines Sieges sicher ist, verliert er das Interesse an Cordelia: „Wenn ein Mädchen alles hingegeben hat, so hat sie alles verloren. [...] Nun ist es mit allem Widerstand vorbei, und nur solange man ernstlichen Widerstand zu überwinden hat, ist es schön zu lieben; hört er auf, so wird die Liebe Schwachheit und Gewohnheit.“42 Respektiert man Kierkegaards verschachteltes Spiel um Pseudonyme, so würde die Verführung nicht nur von Johannes, sondern auch von Victor Eremita, der als Herausgeber zeichnet, ausgehen und so gesehen würde nicht nur Cordelia, sondern auch der Leser ihnen beiden verfallen.43 Kurt Röttgers schlussfolgert: „Nimmt man es auf diese Weise, dann wäre das ‚Tagebuch eines Verführers‘ weit mehr als das Journal einer stattgefunden habenden Verführung. Es wäre die Iteration der Verführung in der Gestalt der Verführung des Lesers. [...] Der Text ist Vollzug und Bericht einer Verführung in einem.“44
38 Ebd., 54. 39 Ebd., 37. 40 Ebd., 32. 41 Ebd., 58. 42 Ebd., 95f. 43 Zum Topos des Dichters als Verführer siehe Rehm, Walter (2003): Kierkegaard und der Verführer. Hildesheim: Olms Verlag, insb. 324-345. Weiterführend zur „Ästhetik der Verführung” in Kierkegaards Tagebuch des Verführers siehe Liessmann, Konrad Paul (1991): Ästhetik der Verführung. Frankfurt/M: Anton Hain. 44 Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 419. Die Erwähnung der verführerischen Kraft eines Textes lässt sich gesellschaftshisto-
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Auch in der Pastourelle der Carmina Burana wusste der Schürzenjäger geschickt vorzugehen: Er verhält sich zunächst „keineswegs unanständig“, wie das junge Mädchen berichtet, und verweist auf die schöne Linde, auf seine Harfe, Tamburin und Fiedel. Ebenso wie bei Johannes kann man auch bei Don Juan gar von einer Manipulation sprechen. Immun gegen Appelle an seine Moral verkörpert Don Juan als Libertin die Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen, politischen und moralischen Ordnungen. Seine Überlegenheit gegenüber den Frauen gründet sich in seiner sprachlichen Gewandtheit. Er erobert sie, indem er sie dazu bringt, seinen Worten zu glauben. Er nutzt Doppelsinnigkeiten, Satzverkürzungen, macht Komplimente, heuchelt Aufrichtigkeit, intrigiert – etwa, indem er Charlotte einredet, sie habe einen besseren Mann verdient als ihren Verlobten Pierrot –; gaukelt Reue vor; lügt und behauptet, er gehöre nicht zu den Verführern, die jemanden hinters Licht führen; er spielt zwei seiner ihm zu Füßen liegenden Damen gegeneinander aus und versichert beiden, er werde sie heiraten – sogar bei einer Unterhaltung, an der sie alle drei zugleich beteiligt sind: „Leise zu Mathurine Ich bete dich an. Leise zu Charlotte Ich gehöre nur dir. Leise zu Mathurine Neben dem deinigen sind alle Gesichter häßlich. Leise zu Charlotte Eine andere erträgt man nicht mehr, wenn man dich erst gesehen hat.“
45
Er begehrt das Begehren des Weibs, er will also, indem er ihr seine Begierde bzw. gar Liebe vorgaukelt, ihr Begehren entfachen. Er spielt ihr vor, welch verführerische Wirkung sie auf ihn habe, und kann sie dadurch für sich gewinnen, bevor er sie wieder verlässt. Die ethischen Implikationen des Don Juan-Mythos werden nicht zuletzt an der Figur der entehrten Elvira deutlich, schließlich wird mit der Verschiebung der emotionalen Position der beteiligten Damen auch eine moralische Haltung verändert, die von Seiten der Gesellschaft erwartet wird – was in der Folge zu großer Missbilligung und Ausgrenzung führt. Baudelaires Zeilen zu Don Juan in
risch einbetten durch den Verweis auf die Entdeckung, wie sehr Lesen Körper und Geist zu affizieren vermag. Eine Erkenntnis, die v.a. im 18. und 19. Jahrhundert zu der Mahnung geführt hat, Frauen sollten keine Literatur lesen, da diese den Geist zerrütten könne. Vgl. etwa Flauberts Madame Bovary; aber auch die Wirkung von Goethes Werther. Um den Effekt von Literatur weiß auch Johannes. Eine sehr gute Art, sich zu einem jungen Mädchen in Rapport zu setzen, sei es, ihr Bücher zu leihen (Vgl. Kierkegaard, Sören (1960): Entweder-Oder. Köln: Hegner, 424). 45 Molière (1953): Don Juan oder der Steinerne Gast. Dt. von Landau, Edwin Maria. In: Schondorff, Joachim (Hg.): Theater der Jahrhunderte. Don Juan. Vollständige Dramentexte. München: Albert Langen. 2. Akt, 4. Szene, 153.
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der Unterwelt beschreiben das Schicksal der Verlassenen auf höchst dramatische Weise: „Mit schlaffen Brüsten und mit offenem Kleid / Wanden die Frauen sich in dunkler Nacht; / Die dumpfen Klagelaute tönten weit, / Als würden Opfertiere dargebracht.“46
46 Baudelaire, Charles (1992 und 1998): Die Blumen des Bösen. Stuttgart: Reclam, 20.
Über Strategien I
Das Verhalten und Vorgehen von Don Juan und Kierkegaards Johannes wird häufig als hinterlistig oder manipulativ bezeichnet.1 Damit gemeint ist ihre gezielte, aber versteckte Einflussnahme auf die Situation in der Absicht, diese zu ihrem Gewinn zu verändern. Um ihr zuvor gefasstes Ziel zu erreichen, das darin besteht, die begehrten Frauen zu verführen, sind ihre Handlungen Teil einer wohlüberlegten Strategie. Ihr Verhalten basiert auf der Antizipation der weiblichen Reaktion, etwa wenn Johannes kalkuliert, sobald er sich rar macht, werde er Cordelias Begehren nach ihm schüren. Dazu bedient er sich eines Vokabulars aus der taktischen Kriegsführung. Er fasst ein „Ziel“ ins Auge, geht zum „Angriff“ über, folgt einem „strategische[n] Prinzip“. In seinem „Feldzug“ wird „eine neue strategische Operation eingeleitet“, ja sogar „Operationen im Kampf mit Cordelia“2. Für diese Operationen weiß er, ausgewählte Mittel zweckhaft einzusetzen. Nutzen gegen Nachteil sind dabei abgewogen – und so wird zwar der als Lockvogel eingesetzte Bekannte Eduard hintergangen und ins Unglück gestürzt, hat aber seinen Zweck erfüllt. Die Cordelia wird von Johannes mit höchstem Genuss manipuliert. Noch in den allerletzten Zeilen des Textes beginnt er zu überlegen, ob man ein sitzen gelassenes Mädchen nicht dazu bringen könnte, zu glauben, es sei selbst des Verhältnisses überdrüssig. Diese Vorstellung scheint ihm ein interessantes Nachspiel voll psychologischer Erkenntnisse und erotischer Bereicherung zu bieten. Nicht minder verfolgt Don Juan eine rationale, raffinierte und berechnende Vorgehensweise, um sein Ziel zu erreichen.
1
Das vielleicht drastischste (und auch das ‚erste‘) Beispiel für eine Verführung, die manipulative Implikationen hat, stammt aus der Geschichte von Judit und Holofernes in der Bibel, die gipfelt in dem Satz: „Ihre Schönheit fing sein Herz, aber sie hieb ihm den Kopf ab.“ (Zititert nach Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 442)
2
Die zitierten Begriffe stammen aus: Kierkegaard, Sören (1946): Aus dem Tagebuch des Verführers. München: Zinnen Verlag, 27, 31, 37, ebd., 45, 53 in der Reihenfolge ihrer Nennung.
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Ziehen wir obige Umschreibungen zusammen, so lässt sich für jetzt festhalten, dass eine Strategie die von einem rational agierenden Subjekt wohldurchdachte und in Absicht auf ein abgestecktes, gewinnbringendes Ziel hin gefasste und geplante Handlungsweise darstellt. Kostproben dieser auf den eigenen Vorteil ausgerichteten Handlungen hatte uns Molières Don Juan gegeben, wenn er etwa gegenüber Dona Elviras Bruder seine Identität verheimlicht oder wenn er Charlotte und Mathurine in beider Anwesenheit abwechselnd als verrückt darstellt, weil jede überzeugt ist, Don Juan habe ihr seine Liebe versprochen. Wenn er mitunter auch tut, als handle er irrational, weil er gegen seine Gefühle nichts tun könne, so ist auch dies Teil seiner Strategie – etwa, um Sganarelle zu besänftigen und ihn davon abzuhalten, ihm in den Rücken zu fallen. „Strategien sind Matrizen zur rationalen Formung und Anordnung des Unbedachten, Unbeherrschten, Irrationalen. Sie dienen der Beherrschung und Kanalisierung von Komplexitäten, indem sie diesen planerische Form geben“3,
so hält Timo Skrandies fest. Der Begriff bezeichnet eine Relation, die, in Abhängigkeit der Perspektive, eben als strategisch – aus der Sicht des Don Juan – zu bezeichnen ist bzw. als emergent – aus Sicht der Damen, die die Zuneigung des Frauenhelden nicht als rationale planvolle Kalkulation wahrnehmen. Dies zeigt sich am Beispiel von Charlotte und Mathurine, die beide ahnungslos Don Juans Wort glauben, nur ‚sie‘ sei die Eine für ihn; oder am Beispiel der Dona Elvira, für die erst im Nachhinein das Muster der Handlungen ihres untreuen Verehrers ersichtlich ist. Johannes nennt diese „Methode“ „indirekt“ und gibt zu, „[d]iese Art ist arglistig, aber überaus zweckmäßig“4. So können wir festhalten, dass die Strategie im oben dargelegten Sinne im klassischen Verführungsparadigma eine Konstante darstellt, die von einem zu Rationalität befähigten, intentional agierenden Subjekt ausgeht, der die Gutgläubigkeit, Tugendhaftigkeit und Unschuld des ‚Opfers‘ korrespondiert. In dieser Konstellation werden die moralischen Wertvorstellungen der Gesellschaft thematisch. Vom Libertin zwar unterlaufen, bleibt die Verführte doch in sie eingebunden. Allein, es handelt sich hierbei um eine einseitige, um nicht zu sagen: verkürzte Auffassung von ‚Strategie‘. Für den Moment mag sie genügen, um die lyrischen Konstellationen zwischen Mann und Frau, die hier zu besprechen waren, zu beschreiben.
3
Skrandies, Timo (2010): Arbeit und Ästhetik I – Künstlerische Strategien. Habilitationsschrift Trondheim/Düsseldorf. Unveröffentlichtes Manuskript, 82. Diesem Buch verdankt mein Kapitel entscheidende Hinweise.
4
Kierkegaard, Sören (1960): Entweder-Oder. Köln: Hegner, 495.
Ü BER S TRATEGIEN I
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Im Verlauf der Studie wird sie aber wieder aufgegriffen und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden müssen.
Versprechen
Eine jede Verführungsszenerie arbeitet mit einem Versprechen. Es ist eine Geste, die in der Andeutung verharrt und als solche eröffnet sie allererst das Seduktionssspiel. Darin wird in Aussicht gestellt, dass sich etwas realisieren werde. Zumindest verspricht sich der Verführte, das ihm gegebene Versprechen werde eingelöst. Verführung ist eine paradoxe Zeitstruktur inhärent, die sich der Stratege Don Juan zunutze macht und der Don Elvira zum Opfer fällt – hier wird das Versprechen moralisiert, es wird zu einer Lüge: Von Verführung kann immer erst im Nachhinein gesprochen werden (dies wird deutlich beispielsweise in der häufig zu hörenden präteritalisierten Phrase ‚Ich konnte nicht widerstehen‘), sie wird erst bemerkbar, wenn sie schon geschehen ist, wenn man ihr schon anheim gefallen ist ohne es zu merken. 1 Zugleich aber gibt sie ein Versprechen und ein solches ist stets in die Zukunft gerichtet. Dieses in die Zukunft gerichtete Versprechen wird in der Verführung geradezu ad absurdum geführt, weil sie seine Einlösung aufschiebt. Als Performativ im Sinne des Sprachtheoretikers J. L. Austin vollzieht sich das Versprechen eigentlich im Moment der Artikulation schon, die Verführung aber lässt ungewiss, ob es sich erfüllt oder nicht.2 Sie stellt etwas in Aussicht, das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht und vielleicht nie realisiert sein wird, wie es in einem Performativ eigentlich der
1
Siehe auch Rötttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 443. Baudrillard meint mit dem Begriff der Nachträglichkeit noch einen zweiten Umstand: „Alles hat schon vorher stattgefunden“ (Baudrillard, Jean (2012): Von der Verführung. Berlin: Matthes & Seitz, 114). Dies ist der Fall wegen der jeder Verführung inhärenten Reversibilität, denn jeder Verführer ist vorher schon verführt worden: „[I]ch kann nur verführen, wenn ich schon verführt bin, und niemand kann mich verführen, ohne selbst schon verführt zu sein.“ (Baudrillard, Jean (1982): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 18)
2
Vgl. Austin, John L. (2010): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam.
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Fall wäre.3 Eigensinnig und resistent gegenüber einer linearen Zeitlichkeit, kreuzen sich in ihr also zwei Zeitregime, das der Gegenwart und das der Zukunft. Daraus resultiert ihre Prekarität. Der performative Akt des Versprechens ist als „epistemologisch illegitime Figur“ strukturiert. „Denn was vom Versprechen erst für die Zukunft angekündigt ist [...], wird mit ihm als gegenwärtig schon wirksam behauptet.“4 Das Versprechen stellt einen Vorgriff, eine Zukunftsschau dar, dessen Realisierung und Einlösung in der Verführung suspendiert, ent-setzt, aufgeschoben bleibt. Auf dieser proleptischen und daher virtuellen Temporalität beruht ihre spezifische ästhetische Eigenzeit. Sie bedingt das Wagnis, das mit ihr einhergeht, denn ihr Versprechen kann auch ein Ver-sprechen sein, wie Don Juan es praktiziert.5 „Sie gibt das Versprechen, dass ihre Potentialität realisierbar sei, löst aber ihr Versprechen niemals ein.“6 Täte sie dies, wäre sie vorbei. Das heißt, dass sie immer schon angefangen haben wird und nie einlösen darf, was sie verspricht, wenn sie Verführung bleiben soll. Weil sie sich über den Aufschub konstituiert, emphatisch formuliert, weil sie den Aufschub genussvoll praktiziert, verführt sie letztlich nicht zu etwas, sondern immer nur zu sich selbst. Aus diesem Grund kann Baudrillard behaupten: „Die Strategie der Verführung ist diejenige der Täuschung.“7
3
Diese Struktur macht sich Don Juan zunutze. Ich erinnere an Shoshana Felmans Lektüre von Molières Don Juan, demnach ein Versprechen sich nicht auf die Zukunft bezieht, sondern sich als Performativ immer schon im Jetzt realisiert habe. Aus diesem Grund wäre Don Juan nicht der Vorwurf zu machen, er halte seine Versprechen nicht. „The trap of seduction consists in producing a referential illusion through an utterance that is by its very nature self-referential.“ (Felman, Shoshana (2003): The Scandal of the speaking body. Stanford: Stanford University Press, 17, Hervorhebungen im Original)
4
Hamacher, Werner (1988): Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M: Suhrkamp, 7-27, hier 20.
5
Die Konstruktion aus Ver-sprechen und Versprechen wird sich z.B. anhand von Hölderlins Formulierung „vielleicht, daß“ zeigen, also der Montage aus einem Adverb, das einen Modus der Unsicherheit anzeigt, und einer konstatierenden Konjunktion (weiterführend dazu das Kapitel Geste – Attraktoren).
6
Skrandies, Timo (2003): Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft. Bielefeld: transcript, 229.
7
Baudrillard, Jean (2012): Von der Verführung. Berlin: Matthes & Seitz, 80. Hamacher schreibt folgendes zum Versprechen, einer Figur, die Künftiges mit Gegenwärtigem epistemologisch illegitim vertausche: „[E]ine Figur des Trugs, sofern das, was sie als gegenwärtig konstatiert, vom illokutionären Akt erst als Zukunft eröffnet werden kann.“ (Ha-
V ERSPRECHEN
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Verführung, so kann man schlussfolgern, verspricht eine Setzung, vollzieht diese aber nie, sondern deutet nur an, dass ihr Vollzug geschehen könnte: Verführung verspricht das Dass einer Potentialität. In welcher Form sie dies tut, wird in den folgenden Kapiteln zu beobachten sein. Hölderlins „Komm! ins Offene, Freund!“ beispielsweise gibt das Versprechen, dass – wenn es wegen des bleigrauen Himmels auch nicht so scheint – der Tag der Lust geweiht bleibt; dass der Tag anders, dass er besser werden kann als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Baudrillard schreibt: „[A]lle Verben weisen einen geheimen Modus auf, der sich hinter dem Indikativ bzw. dem Imperativ verbirgt: sozusagen eine Art ‚Seduktivmodus‘“8. Das Hölderlinische Offene, das sich im „Komm“ artikuliert, wäre ein solcher seduktiver Imperativ. Mit jedem Anfang eines Gedichts – mit seiner Form, mit seiner vertraut erscheinenden Sprache – wird aufs Neue ein Versprechen gegeben. Das Versprechen der Fiktion etwa oder das einer zuverlässigen Bedeutung. Jedoch ist es das Geben eines Versprechens, das nicht unmittelbar eingelöst, sondern aufgeschoben wird in die Zukunft, dem Verlauf der Verse übergegeben wird und dem Fortgang des Textes.
„In seinem infiniten Voraus steht das Versprechen nicht nur mit Anderem – einer korrespondierenden Intention, der angekündigten Erfüllung, symmetrischen anderen Versprechen –, es steht eben deshalb auch mit sich selbst nicht zusammen. Es konveniert unendlich, und deshalb nie ganz. Das Infinite ist eine der Formen der Inkonsistenz. Jedes gegebene ist ein hyperbolisches Wort: es geht über sich selbst uneinholbar hinaus.“9
Es gibt in lyrischer Sprache, und das gilt für Lyrik mehr als für andere Gattungen, keine institutionelle Sicherheit auf die Erfüllung dieses Versprechens. „Poesie hat
macher, Werner (1988): Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M: Suhrkamp, 7-27, hier 20). 8
Baudrillard, Jean (1983): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 25.
9
Hamacher, Werner (2005): Wilde Versprechen. Zur Sprache „Leviathan“. In: Schneider, Manfred (Hg.): Die Ordnung des Versprechens. München: Fink, 171-198, hier 190. Weiterführend zum ‚Versprechen‘: Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 49ff., insbesondere 65ff., Ders. (1988): Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M: Suhrkamp, 7-27, insbesondere 20f. sowie Ders. (1994): Afformativ, Streik. In: Hart-Nibbrig, Christiaan: Was heißt Darstellen? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 363. Außerdem weitere Aufsätze des oben genannten Sammelbands von Schneider, Manfred; und Derrida, Jacques (1982/1987): Die Postkarte. Berlin: Brinkmann & Bose.
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sehr viel mit dem Eingeweihtsein zu tun“10, so schreibt Durs Grünbein. Sie suggeriert, man könne gewiss sein, dass die Worte, die sie verwendet, eine vertraute Bedeutung haben. In ihrer Eigenschaft als Verführerin kann es dafür aber keine Gewähr geben. Um mit einer Formulierungsanleihe von Hamacher zu enden: Verführung ist „nicht performativ im Sinn der Erfüllung einer [...] Handlungsform, sondern Öffnung auf mögliche Formen, also ad-formativ, Auflösung sedimentierter Formen, aformativ [etwa darin, dass sie Subjekt-Objekt-Verhältnisse tauscht oder aussetzt, J.V.]“11, und, so wäre zuletzt hinzuzufügen, weil sie andeutend setzt (nochmal: Sie verspricht das Dass ihrer Potentialität) und diese Setzung aufschiebt, unterlässt, ent-setzt, ist sie afformativ (zum Begriff des Afformativs siehe das Kapitel Geste Attraktoren in diesem Buch).
10 Kasaty, Olga Olivia (2007): Ein Gespräch mit Durs Grünbein. In: Dies.: Entgrenzungen. München: Ed. text + kritik, 84. 11 Hamacher, Werner (2005): Wilde Versprechen. Zur Sprache „Leviathan“. In: Schneider, Manfred (Hg.): Die Ordnung des Versprechens. München: Fink, 171-198, hier 198 (Hervorhebung J.V.).
Öffnung des Verführungsparadigmas
Bei aller epochenbedingten Varianz scheint das erotische Verführungsparadigma das dominante zu sein. Ebenso die Tatsache, dass das Ziel der Verleitung zur sinnlichen Lust durch ein strategisches Kalkül erreicht wird. Wenn Johannes eine List verfolgt, um Cordelia für sich zu gewinnen, bedient er ein gängiges Modell, das sich mit Don Juan, den Sirenen, der Femme fatale u.a. in der Kulturgeschichte durchgesetzt hat. So legt sich zum einen die Begriffsgeschichte auf die Bedeutung fest „jemanden an einen falschen ort führen, in die irre führen“ und „vom wege abführen“, „vom richtigen wege zum falschen, verwerflichen ablenkend“, wobei das Grimmsche Wörterbuch betont, der Begriff sei „stets nur in schlimmer bedeutung nachweisbar“, als „verleitung zum bösen, verwerflichen“1. Vor der amoralischen Verführung zu beschützen ist v.a. die Funktion der Mutter, die so häufig in den Gedichten rund um den Topos der verfolgten Unschuld auftritt, um ihre Tochter zu ermahnen, wie in Wedekinds Lied vom gehorsamen Mägdlein: „Verlier dich von dem Lebenspfad / Nie seitwärts ins Geheg, / Geh immer artig kerzengrad / Den goldenen Mittelweg“2, oder um, wenn auch körperlich abwesend, als moralische Instanz an das Gewissen des Mädchens zu appellieren wie in Weisses Zauberer. Dadurch wird eine moralisierende Gegenüberstellung von Triebhaftigkeit der Physis auf der einen und Vernunft bzw. Glauben auf der anderen Seite erreicht, die ein Don Juan subvertiert. Diskursgeschichtlich ist also die Verkürzung auf einen funktionalisierten Verführungsbegriff zu verzeichnen, der dem Nützlichkeitsprinzip verpflichtet ist. Verführung zeigt sich als eine relativ starre Konstellation, in der eindeutige Rollen und feste Positionen vergeben sind: Der intentional vorgehende Verführer operiert mit
1
Grimm, Jacob und Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 359f. Die Zitate entstammen den Lexemeinträgen „Verführen“, „Verführer“, „Verführerei“ und „Verführisch“.
2
Wedekind, Frank (1924): Gesammelte Werke. Hg. von Kutscher, Artur. Bd I. München und Leipzig: Müller, 36f.
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manipulativen Instrumenten, oder zumindest mit einem genau kalkulierten Einsatz von Mitteln, um mithilfe einer ausgefeilten Taktik ein für ihn gewinnbringendes Ziel zu erreichen. Diese hierarchische Konstellation weiß klar zu trennen zwischen Subjekt und Objekt, also dem aktiven Verführer und dem in seiner Autonomie angegriffenen oder beschnittenen passiven Verführten. Das klassische Modell folgt seit der Genesis diesem relativ unflexiblen Schema, das ein ästhetisches ist, insofern es stets sinnliche Komponenten hat, die sich dann erotisch bzw. in Bezug auf Liebesbeziehungen ausgeprägt und verfestigt haben. In dem skizzierten Paradigma sind eindeutige Subjektkonstitutionen zu verzeichnen wie, plakativ gesprochen, der sehnsüchtig Liebende, der auf Sinnenlust abzielende Eroberer, die unterlegene Gutgläubige, die dämonische Intrigantin; auf dem Feld der Ökonomie der Konsument, der ein solcher nur ist, weil er der Verführung zum Kauf – z.B. durch die Werbung – erlegen ist; der Bürger im politischen Diskurs, an den in der Politischen Lyrik appelliert wird usw. Diese Figuren sind das Ergebnis von Vereindeutigungsprozessen, die jedoch, so meine These, nur begrenzt als Verführung zu bezeichnen sind. Das klassische Modell stellt eine unzureichende diskursive Verengung dar, die der Bandbreite lyrischer Verführungen nicht gerecht wird. Diese fordern eine Öffnung des Paradigmas ein, um dessen Vielfalt, Komplexität und Wirkmächtigkeit beschreiben zu können. Es gilt, einen emphatischen Seduktionsbegriff zu entwerfen, der keinen ökonomischen Nutzen im Sinne der Effizienz generiert, sondern über Aufschub, Entzug, Umweg, Ambiguität funktioniert. Es bedarf eines erweiterten Modells, das der Tatsache Rechnung trägt, dass es in Verführung Dynamiken geben muss, die ein Festzurren oder eine Essentialisierung von Rollen, Relationen und Positionen zum Verharren bringt (vgl. das Kapitel zu Geste – Attraktoren), diese verunsichern und verschieben (vgl. das Kapitel zu Positionalität – Relationalität); Dynamiken, die den ontologischen Status prekär und ambigue machen (dazu das Kapitel zum Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität), die widerständig sind gegenüber einem Kreislaufmodell, welches, auch im semiotischen Sinne, vollständig aufgeht (vgl. die Ausarbeitungen zu Goethe und Ökonomie in Das Andere in Arbeit: Verführung). Dieses vorgeschlagene Modell impliziert u.a. eine alternative Art und Weise, wie Verführer und Verführte zueinander stehen. Statt in einer eindeutigen Machtund Ohnmachtsverteilung bewegen sie sich in einer dynamischen, wechselseitigen Relation, einem Verhältnis im emphatischen Sinne. Solche Qualitäten, die das klassische Verführungsschema außen vor lässt, sind schon in vielen der zu Anfang dieses Kapitels besprochenen Textbeispielen zu finden. In Ventadorns Gedicht Schmollende Liebe hatten wir gesehen, dass das Verhältnis von Ritter und seiner frouwe reversible Qualitäten hat: Es ist nicht mehr klar auszumachen, wer wen verführt und verführt hat, ebenso wie die Barockdichtung meist dort einsetzt, wo die Bezauberung des lyrischen Ichs schon geschehen ist, bevor dieses dann diejenige
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besingen kann, die ihm den Kopf verdreht. Hier werden die starren Positionen beweglich, beziehen sich aufeinander, gehen ein Wechselspiel ein und werden für kurze Zeit gar ausgetauscht, bevor sie sich erneut verfestigen. Sogar für die Pastourelle hat Holznagel angemerkt – wenn dies auch nicht auf unser Beispiel zutrifft –, dass ein gewieftes Mädchen mitunter die Situation umzukehren vermag und nicht länger die Unterlegene bleibt, sondern die versuchte Verführung mit ihrer rhetorischen Raffinesse misslingen lässt. Bei genauem Hinsehen sind auch bei Kierkegaard solche reversiblen Dynamiken auszumachen. So kommentiert Victor Eremita, die Geschichte mit Cordelia sei „so verwickelt, daß er [Johannes, J.V.] fast sagen könnte, er sei verführt worden“3. Er verweist auf den konjunktivischen und nicht indikativischen Charakter des Tagebuchs, so dass sich die Frage stellt, ob Johannes „gar nicht der Verführer war, sondern der durch seine eigene Einbildung verführte“4. Vor allem aber basiert seine Ästhetik der Verführung darauf, Cordelia allererst dazu zu bringen, seiner Verführung würdig zu sein, indem sie in Johannes das Begehren nach ihr schürt. „Damit ist der Endpunkt und das Ziel der Verführung benannt: daß der Verführer zum Verführten und die Verführte zur Verführerin wird.“5
„D OCH SEINE S PRÖDE HÖRT IHN NIE .“ G ELLERTS D AMOETAS UND P HYLLIS Damoetas und Phyllis 1
Damoetas war schon lange Zeit Der jungen Phyllis nachgegangen; Noch konnte seine Zärtlichkeit Nicht einen Kuß von ihr erlangen.
5
Er bat, er gab sich alle Müh; Doch seine Spröde hört ihn nie. Er sprach: Zwei Bänder geb ich dir. Auch soll kein Warten mich verdrüßen,
10
Versprich nur, schöne Phyllis, mir
3
Kierkegaard, Sören (1946): Aus dem Tagebuch des Verführers. München. Zinnen Verlag, 14.
4
Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 469.
5
Liessmann, Konrad Paul (1991): Ästhetik der Verführung. Frankfurt/M: Anton Hain, 77.
54 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Mich diesen Sommer noch zu küssen. Sie sieht sie an, er hofft sein Glück, Sie lobt sie, und gibt sie zurück. 15
Er bot ein Lamm, noch zwei darauf, Dann zehn, dann alle seine Herden. So viel? Dies ist ein teurer Kauf. Nun wird sie doch gewonnen werden. Doch nichts nahm unsre Phyllis ein;
20
Mit finstrer Stirne sprach sie: Nein! Wie? rief Damoetas ganz erhitzt. So willst du ewig widerstreben? Gut, ich verbiete dir anitzt,
25
Mir jemals einen Kuß zu geben. O! rief sie, fürchte nichts von mir, Ich bin dir ewig gut dafür. Die Spröde lacht; der Schäfer geht,
30
Schleicht ungeküßt zu seinen Schafen. Am andern Morgen war Damoet Bei seinen Herden eingeschlafen; Er schlief, und im Vorübergehn Blieb Phyllis bei dem Schäfer stehn.
35 Wie rot, spricht Phyllis ist sein Mund! Bald dürft ich mich zu was entschließen. O täte nicht sein böser Hund, Ich müßte diesen Schäfer küssen. 40
Sie geht, doch da sie gehen will, So steht sie vor Verlangen still. Sie sieht sich dreimal schüchtern um, Und sucht die Zeugen, die sie scheute;
45
Sie macht den Hund mit Streicheln stumm, Und lockt ihn freundlich auf die Seite; Sie sinnt, bis daß sie, ganz verzagt, Sich noch zween Schritte näher wagt.
50
Hier steht nunmehr das gute Kind;
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Allein sie kann sich nicht entschließen; Doch nein, itzt bückt sie sich geschwind, Und wagts, Damoeten sanft zu küssen. Sie gibt ihm drauf noch einen Blick, 55
Und kehrt nach ihrer Flur zurück. Wie süße muß ein Kuß nicht sein! Denn Phyllis kömmt noch einmal wieder, Scheint minder sich, als erst zu scheun,
60
Und läßt sich bei dem Schäfer nieder; Sie küßt, und nimmt sich nicht in acht; Sie küßt ihn, und Damoet erwacht. O! fing Damoet halb schlafend an,
65
Mißgönnst du mir die sanfte Stunde? Dir, sprach sie, hab ich nichts getan, Ich spielte nur mit deinem Hunde; Und überhaupt, es steht nicht fein, Ein Schäfer und stets schläfrig sein.
70 Jedoch, was gibst du mir, Damoet? So sollst du mich zum Scherze küssen. Nun, sprach der Schäfer, ists zu spät, Du wirst an mich bezahlen müssen. 75
Drauf gab die gute Schäferin Um einen Kuß zehn Küsse hin.6
In diesem zu großen Teilen in Dialogform gehaltenen Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert aus dem Jahr 1746 steigt also der Schäfer Damötas der Phyllis nach, doch ohne Erfolg. Keines seiner Werbemittel, weder sein Bitten, noch die Bänder, die er ihr gibt, nicht ein Lamm, noch zwei Lämmer, noch derer drei, nicht einmal seine gesamte Herde können die Angebetete dazu bringen, ihm einen Kuss zu gewähren. Die „Spröde“ (6) ist vollkommen resistent gegen seine Aufwartungen: „Doch nichts nahm unsre Phyllis ein; / mit finstrer Stirne sprach sie: Nein!“ (1920). Daraufhin verbietet Damötas ihr erbost, ihn jemals zu küssen, woraufhin sie ihn zunächst bloß auslacht. Es ist das Verbot samt der Herausforderung, dieses einzuhalten, das den erhofften Reiz entwickelt. „Gibt es etwas Verführerisches als eine
6
Gellert, Christian Fürchtegott (1966): Fabeln und Erzählungen. Bearbeitet von Scheibe, Siegfried. Tübingen: Niemeyer Verlag, 112f.
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Herausforderung?“ fragt Baudrillard, und gibt sogleich die Antwort: „Ihr kann man sich (ähnlich wie bei der Verführung) nicht entziehen, denn sie ist das Herz der Verführung.“7 So ergeht es auch Phyllis. Als Damötas anderntags bei seiner Herde eingeschlafen ist, fällt ihr sein schöner Mund auf, der ihr Verlangen entfacht. Sie hadert mit sich, gibt zuerst Angst vor seinem Hirtenhund vor, sodann vermeintliche Zeugen, die sie beobachten könnten, geht fort, kommt wieder und nähert sich dann doch Schritt für Schritt dem Objekt ihrer Begierde. Sie zögert, kann sich nicht entschließen, Damötas näherzukommen; doch lassen kann sie es auch nicht. Schließlich wagt sie einen kurzen Kuss und flieht, noch bevor er aufwacht. Weit davon entfernt, ihr Begehren gestillt zu haben, lodert es nun erst recht. So kommt sie wieder und küsst ihn erneut, bis der Schäfer erwacht. In das nun folgende kokettierende Spiel sind beide gleichermaßen involviert. Phyllis wird angestachelt von dem, was ihr untersagt ist, und kann nicht anders, als das Verbot zu brechen. Durch die Verse hinweg wird aus einer zuerst eindeutigen, starren Positionsverteilung, in der Damötas sich als – wenn auch zunächst wenig erfolgreicher – Verführer der Phyllis versucht, eine flexible Relation, in der das ihr auferlegte Verbot den von Damötas erhofften Reiz zu entfalten beginnt, bis es schließlich zu einer Umkehr des aktiven und passiven Parts kommt. Doch Damotäs war es nie vergönnt, als tatsächlicher Verführer zu agieren. Noch zuletzt, als Phyllis diejenige ist, die Damötas küsst, und nicht umgekehrt, bleibt offen, wer nun eigentlich wen verführt hat. Schließlich war es die Phyllis, die Damötas „lange Zeit“ (1) den Kopf verdreht hatte, sonst wäre er gar nicht voller Verlangen nach ihr. Sodann ist es an ihm, sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu überreden – worin er scheitert. Erst das Aussprechen des Verbots verleitet sie dazu, gerade jenen Kuss so sehr zu begehren. Sie schließlich ist es, die eine Verbotsübertretung derart verlockt, dass sie sich zu ihm legt, woraufhin er ihr erneut verfällt. Damötas macht sich also die Sprache zunutze, um Phyllis zu überreden: Zunächst versucht er, noch bevor er seine Herde aufbietet, mit Worten zu beeindrucken, worauf wir schließen können wegen des Ausdrucks „Doch seine Spröde hört ihn nie.“ (6; Hervorhebung J.V.) Sodann ist es das verbal artikulierte Verbot „So willst du ewig widerstreben? / Gut, ich verbiete dir anitzt, / Mir jemals einen Kuß zu geben“ (23-25), das das eigentliche Mittel zur Erweichung der störrischen Phyllis ist.
B AUDRILLARD Das Prinzip der Verlockung durch Entzug und Distanz, das Damötas vielleicht aus taktischen Gründen, vielleicht aus schierer Verzweiflung angewendet hat, geht auf.
7
Baudrillard, Jean (1983): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 37.
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Es entwickelt sich eine Dynamik, die mit Jean Baudrillards Begriff der Reversibilität beschrieben werden kann, und die er als grundlegend für eine Verführungsrelation betrachtet, denn „ich kann nur verführen, wenn ich schon verführt bin, und niemand kann mich verführen, ohne selbst schon verführt zu sein. Die beiden Akteure sind unmittelbar betroffen, sonst gäbe es nämlich keine Verführung.“8 Baudrillard nimmt die Art und Weise in den Blick, in der lebensweltliche Zusammenhänge dargestellt werden, also alles, was ist. Er diagnostiziert eine prinzipielle Darstellbarkeit, eine vermeintlich durchgängige Sichtbarkeit, ein Bedürfnis, alles solle bedeutsam sein, solle eine Bedeutung haben. „Es soll nichts mehr geben, von dem sich nichts sagen ließe.“9 Eine solche Darstellung der Welt bezeichnet er als ‚obszön‘. Um seine Gegenwartsanalysen operationalisierbar zu machen, entwickelt Baudrillard ein Gewebe eigenwilliger begrifflicher Parameter. Dazu gehört u.a. ‚Verführung‘. Sie ist für ihn ein allgemeiner und grundlegender lebensweltlicher Vorgang, der im alltäglichen Leben unvermeidlich geschieht, und Gegenstand vieler seiner Texte.10 Die Verführung ist eine Herausforderung, die danach strebt, Bedeutungen zu verwirren, radikale Andersheit zu ermöglichen und ist als solche eine perturbierende Kraft der Mächte symbolischer Ordnung, die letztlich auf die Generierung von Eindeutigkeit, von absoluter Transparenz, von dem, was für die Ratio verfügbar ist, aus sind, wie beispielsweise die Produktion, die auf die Konstruktion von Bedeutung abzielt.11 ‚Produktion‘ im zweifachen Wortsinn von Hervorbringen und Vorführen (letzteres trägt auch die Konnotation sichtbar-machen, ins Licht rücken; eine Bedeutung, wie sie Hans-Ulrich Gumbrecht in Bezug auf seinen Präsenzbegriff aufgreifen wird; vgl. das Kapitel zu Fiktionalität – Faktualität) zerstört die Verfüh-
8
Ebd., 18.
9
Baudrillard, Jean (2004): Die Intelligenz des Bösen. Wien: Passagen, 13.
10 Vgl. den Kommentar zu Baudrillard, Jean (2012): Von der Verführung. Berlin: Mattes & Seitz, Einband. Vgl. auch: „Die elementare Dynamik der Welt ist die Verführung.“ Und: „Es ist nicht möglich, sich nicht auf sie einzulassen.“ (Baudrillard, Jean (1987): Das Andere selbst. Hg. von Engelmann, Peter. Wien: Passagen Verlag, 47 und 46) Weiterhin: „Man könnte behaupten, daß die Welt verführt (séduit) worden sei, bevor sie geschaffen (produit) wurde“ (Ebd., 57, Hervorhebung im Original). Relevant sind insbesondere Baudrillards Werke Laßt euch nicht verführen! (1983; Sammlung verschiedener französischsprachiger Aufsätze aus den Jahren 1979-1982), Von der Verführung (2012; frz. Original De la séduction von 1979), Die fatalen Strategien (1985; frz. Original Les stratégies fatales von 1983). 11 Vgl. Baudrillard, Jean (2002): Paßwörter. Berlin: Merve, 24.
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rung, in der zwar angedeutet wird – sie spielt mit dem Schein und verweigert sich der Zeichenhaftigkeit, die sie in das Prinzip der Repräsentation einhegen würde –, sie gibt sogar das Versprechen, es werde Bedeutung generiert, doch bleibt dies aufgeschoben und wird nicht eingelöst. Sie realisiert nicht, sondern deutet bloß an. Während die Produktion einer ökonomischen Logik verpflichtet bleibt und auf größtmögliche Effizienz bei möglichst geringem Aufwand abzielt, braucht Verführung den Umweg, die Irreführung, das Ambigue. Andeutung statt Ausdeutung, Ahnung statt Wissen, Möglichkeit statt Verfügbarkeit, Ablenkung und Umschweife anstelle des direkten Weges. Ihr so bewahrtes Geheimnis bleibt entzogen und löst Begehren aus, ohne dass es je gelüftet werden kann. Gelangt sie an ein Ende, erreicht sie ihr Ziel, so wäre nicht mehr von Verführung zu sprechen. Sie ist das Vorspiel, nicht die Erfüllung. „Verführung ist das, wovon es keine Repräsentation gibt“12, so Baudrillard. Eine Welt, die das Geheimnis preisgegeben hat, ist obszön, weil sie alles gibt, alles sichtbar und berechenbar macht, kein Rätsel, keine Illusion zurückbehält, wie beispielsweise die Pornographie.13 Dagegen wäre etwa der Schleier eines der Mittel, die man mit Baudrillard der Sphäre der Verführung zuordnen könnte. Diese „geht von einer rätselhaften, dual/duellhaften Beziehung, einer werbenden, starken und geheimnisvollen Anziehung zwischen den Lebewesen und Dingen aus.“14 Verführung folgt zwar – unausgesprochenen – Regeln – sie braucht eine dialogische Situation, setzt eine Haltung der Affektierbarkeit und der Risikobereitschaft voraus, sie braucht das Spiel der Imagination, sie braucht Distanz –, jedoch setzt sie Kausalketten und planvolle Intentionalität außer Kraft. Das Rätselhafte der Verführung besteht v.a. in ihrer Reversibilität, d.h. sie ergibt sich aus der Gegenseitigkeit, Umkehrbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Konstellation. Eine poetische Form, in der sich das Prinzip der Reversibilität artikuliert, bietet beispielsweise das Anagramm, das aus der Kehrtwendung von Zeichen entsteht. Es lässt sich in zwei Richtungen lesen. Reversible Ordnungen verlaufen nicht linear in eine Richtung, sie folgen keiner Kausalität, sondern sie sind umkehrbar, sind Pendelbewegungen oder gar Kreisläufe. Die Dichotomien, mit denen das klassische Verführungsparadigma operiert wie Wahrheit vs. Lüge, Oberflächlichkeit (die man gemeinhin dem Schürzenjäger vor-
12 Baudrillard, Jean (2012): Von der Verführung. Berlin: Matthes & Seitz, 78. 13 Vgl. zum Obszönen u.a. Baudrillard, Jean (1985): Die fatalen Strategien, 59f. sowie Baudrillard, Jean (1987): Das Andere selbst. Hg. von Engelmann, Peter. Wien: Passagen Verlag. „Die Obszönität beginnt, wenn es kein Schauspiel, keine Szene, kein Theater, keine Illusion mehr gibt, wenn alles dem kalten und unerbittlichen Licht der Information und Kommunikation ausgesetzt ist.“ (18) 14 Baudrillard, Jean (1983): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 7.
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werfen würde) vs. Tiefe (der wahren Gefühle), Macht vs. Ohnmacht, Trieb vs. Ratio sind hier folglich wirkungslos. Wert und Bedeutung im semiotischen Sinne sind in der Verführung nicht mehr entschlüsselbar, sie bleiben rätselhaft, das Prinzip der Referenz wird suspendiert. „Was sich nicht dechiffrieren läßt, eröffnet die Möglichkeit zur Verführung.“15 Reversibilität also meint schlichtweg auch, dass eine momentane Situation sich ändern kann, d.h. wenn ein begehrtes Objekt außer Reichweite ist, so resultiert die von ihm ausgehende Versuchung daraus, dass vorstellbar ist, dass es anwesend und greifbar wird. Röttgers weist gar – ohne diesen Begriff explizit zu verwenden – darauf hin, dass Verführung stets die Dynamik der Reversibilität inhärent sei: „Der Verführer ist zugleich immer auch ein Verführter [und der Verführte immer zugleich auch ein Verführer, J.V.], und dieses ‚Verführt-werden-Wollen‘ ist stets die zweite Seite der Verführung. So muß der Verführer die Verführte dazu verführen, ihn zu verführen, und er muß in der Verführten selbst auch diese reflexive Verführung erzeugen wollen.“16
Unter den Auspizien der Reversibilität kann nun ein Nachtrag zum Strategiebegriff formuliert werden: Wir haben gesehen, dass Damötas zwar ein lineares – eben: strategisches – Konzept verfolgt, d.h. er steht an einem spezifischen Punkt und hat dort eine eindeutige Position inne, nämlich die des Begehrenden, der aber bisher erfolglos um Phyllis geworben hatte. Von hier aus fasst er das Ziel ins Auge, seine Position gewinnbringend zu verbessern, indem er die eines anderen verunsichert und verschiebt, d.h. er avisiert, zu dem Punkt zu gelangen, an dem er die Phyllis für sich gewinnt. Um dies zu erreichen, hat er einen Plan gefasst, der z.B. den Einsatz von bestimmten Mitteln vorsieht wie Komplimente, die Bänder oder Lämmer, die er ihr schenkt oder eben das raffinierte Verbot, ihn zu küssen, das er ihr auferlegt. Er startet also auf einem linearen Weg, der sich jedoch auf kompliziert verschachtelte Weise in Schleifen auflöst. Schlussendlich gelangt er an sein Ziel, jedoch über verschlungene Wendungen, in denen er, schlafend, für kurze Zeit seine bewusste Handlungsfähigkeit einbüßt und sogleich Phyllis’ Begehren für ihn entfacht. Sein strategisches Ziel hat er also erreicht, jedoch bleibt zu zweifeln, dass das Geschehen vollständig nach seinem Plan abgelaufen ist. So bleibt festzuhalten, dass dem strategischen Vorgehen lockernde bzw. auflösende Dynamiken inhärent sind, die die Verfolgung und Durchsetzung einer starren, konsequenten und unflexiblen Strategie stören. Dynamiken, aufgrund derer kaum noch auszumachen ist, wer wen verführt. Zur Beschreibung dieser komplexen
15 Ebd., 135. 16 Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 420.
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Verflechtung hat sich nun der Baudrillard’sche Begriff der Reversibilität angeboten. Baudrillard wird so zu einem der sehr wenigen Theoretiker, die sich mit dem in dieser Studie zur Diskussion stehenden Phänomen auseinandersetzen. Dabei bleibt er mitunter diffus und bietet keine abschließende Definition von Verführung – und dies kann er auch nicht, wenn er ihr grundlegendes Prinzip ernst nimmt und sie nicht ins Feld des Obszönen überführen will.17 Weitere Beiträge zur theoretischen Reflexion über Verführung hat die Psychoanalyse nach Laplanche und Freud geliefert, der Baudrillard freilich konsequenterweise vorwerfen muss, dass sie die Verführung in die Zeichenkategorie einpasse und sie damit verkenne.18 Während sie für Freud, der sie in Auseinandersetzung mit der Hysterie behandelt hat, ein vorsätzliches Ereignis (das man wohl heute als Missbrauch bezeichnen würde) mit einem passiven, unschuldig Verführten, meist im Kindesalter, und einem aktiven Verführer, darstellt, löst Laplanche sie aus ihrer Intentionalität und sieht sie grundsätzlich in sozialisatorischen Situationen am Werk, in der sie sich unabhängig von Bewusstsein oder Intention vollzieht.19 Unter dem Begriff der Koketterie versammelt Georg Simmel einige hier ausgearbeitete Aspekte der Verführung. Das Spiel von Zu- und Abwendung, das Verstohlene, der „Reiz der Heimlichkeit“, „Distanz und Reserve“, die „Bewegung zwischen Haben und Nichthaben“, „das labile Spiel zwischen Ja und Nein“20 sind es, mit dem die kokettierende Frau – Simmel bleibt in geschlechtsspezifischen Rollen verhaftet – das Begehren des Mannes entfacht. Er versucht eine Physiognomie der kokettierenden Frau, wenn er auf ihren Gang, das Wiegen der Hüften und ihren Blick abhebt als zentrale Elemente ihres kapriziös-spielerischen Verhaltens: „In ihm [dem Blick, J.V.] liegt ein Sich-abwenden, mit dem doch zugleich ein flüchtiges Sich-geben verbunden ist, ein momentanes Richten der Aufmerksamkeit auf den Anderen,
17 Möglicherweise ist diese letzten Endes bei Baudrillard häufig unbeantwortete Frage ‚Worauf denkt er hin?‘ eine der Gründe, weshalb er im Verhältnis zu anderen postmodernen französischen Theorien wenig rezipiert ist. 18 Vgl. Baudrillard, Jean (1983): Laßt euch nicht verführen! Berlin: Merve, 39f. 19 Siehe weiterführend: Laplanche, Jean (1988): Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen: Ed. Diskord sowie Bayer, Lothar/Quindeau, Ilka (Hg.) (2014): Die unbewusste Botschaft der Verführung: interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches. Gießen: Psychosozialverlag. Außerdem Freud, Sigmund (1978): Werkausgabe in zwei Bänden. Hg. von Grubrich-Simitis, Ilse. Bd. 1. Frankfurt/M: Fischer. 20 Simmel, Georg (1983): Philosophische Kultur. Die Koketterie. Berlin: Wagenbach Verlag, 83.
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dem man sich in demselben Moment durch die andere Richtung von Kopf und Körper symbolisch versagt. [...] Der volle En-face-Blick, so innig und verlangend er sei, hat nie eben dies spezifisch Kokette.“21
21 Ebd.
Exkurs: Kunst als Verführung – Jean-François de Bastides La petite maison
Die junge Mélite hat Herrn von Trémicour den Kopf verdreht.1 Seine Versuche, das Objekt seines Begehrens zu verführen, blieben bisher jedoch erfolglos. Er lädt sie deshalb in seine petite maison ein und schlägt ihr eine Wette vor: Er wettet, dass sie ihm verfallen wird, wenn sie sein Haus besichtigt; sie hält dagegen. Lange Zeit widersteht sie tapfer den zahllosen, beeindruckenden Attraktionen und Schönheiten, die sich ihr in dem Haus des Marquis zeigen, doch von Zimmer zu Zimmer, das sie besucht, wird ihr Wille schwächer. Nach einem eindringlichen Schlussappell, in dem Trémicour ihr seine ewige Liebe versichert, verliert sie die Wette. Dieses Liebesgeständnis, das der Marquis ihr am Ende der Hausbesichtigung macht, und das sie als aufrichtig einschätzt, ist nur das letzte aus einer Reihe von Mitteln, die ihre Widerstandskraft brechen. Zuvor war es vor allem die Kunst, mit der das Haus in schierer Abundanz ausgestattet ist, die sie betört hat, die sinnliche Gefühle in ihr geweckt und ihr schließlich den Verstand geraubt hat. Denn die petite maison ist nicht nur architektonisch besonders reizvoll angelegt, sondern mit zahlreichen, Mélite faszinierenden Gemälden ausgestattet. Der für seine Begehrte entflammte Marquis, seine Irritation ob ihrer Abweisung, seine Angespanntheit, seine drängende Ungeduld, sodann sein hoffnungsvolles Abwarten, sein überredendes Flehen, schließlich sein Ungestüm, seine keine Ablehnung duldenden Handgreiflichkeiten; und die selbstsichere Mélite, die sich ihrer Widerstandskraft so sicher ist, dass sie eine gefährliche Wette eingeht, wort-
1
Ich danke Hans Körner für seinen Hinweis auf Bastides Text. Die folgenden Ausführungen verdanken viel seinem folgenden Aufsatz: Körner, Hans (2015): Kunst als Überredung zur Liebe. Die Sinnlichkeit der Gemälde Jean-Antoine Watteaus und François Bouchers. In: Bückling, Maraike (Hg.): Gefährliche Liebschaften. Die Kunst des französischen Rokoko. Katalog der Ausstellung, Frankfurt, Liebighaus Skulpturensammlung 2015-2016. München, 136-145.
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gewandt, keck, mit schauspielerischen Qualitäten bedacht, die Geduld des Marquis auf harte Proben stellend, ihre distanzierte Zurückhaltung, ihr tugendsames Zaudern, sodann ihr zaghaftes Nachgeben, das sich zu hingebungsvoller Leidenschaft für die Kunst steigert, ihre verzweifelten Versuche, sich ihren Gefühlen zu widersetzen, ihr vergeblicher Widerstand, ihr letztes Aufbäumen und ihre endgültige Hingabe – diese Phasen der Überredung, die sogleich genauer ausdifferenziert werden, sind entscheidend von den Schönheiten der Zimmer, Objekte und Gartenanlagen beeinflusst, die sich, sorgsam arrangiert, Mélite während der Führung durch das Anwesen bieten. Als seine Angebetete sich darauf einlässt, ihn in seinem Haus zu besuchen, ist Trémicour so siegesgewiss („Le marquis de Trémicour avoit envie de l´engager, et s’étoit flatté d’y réussir aisément“2), wie Mélite selbstsicher, dass sie seinen Avancen problemlos widerstehen wird („Elle répondit qu’elle y viendroit, et que là, ni ailleurs, il ne lui seroit redoutable“3). Während der Erzähler wissen lässt, dass es sich bei einer petite maison um einen architektonischen locus amoenus handelt, ist Mélite diesbezüglich ahnungslos: „[E]lle ne sçavoit pas ce que c’étoit que cette petite maison [...]. Nul lieu dans Paris, ni dans l’Europe, n’est ni aussi galant ni aussi ingénieux.“4 Zuerst besichtigen Trémicour und seine Angebetete den Garten. Mit symmetrisch angelegten Grünanlagen, Obstgärten, einer Molkerei, Wasserfällen, Pferdeställen und Zwingern „des chiens de toute espece“5 ist die Gartenanlage von vollkommener Perfektion. Mélite kann kaum die Augen lassen von den Schönheiten, die sich ihr bieten. Trémicour reagiert darauf mit Ungeduld, will er sie doch ins Haus führen, um dort ihre Verführung voranzutreiben. Mélite ist seine fühlbare Ungeduld ein erster Triumph, den sie mit begeisterten Ausrufen, interessierten Nachfragen, Komplimenten ob seines guten Geschmacks und der beharrlichen Erkundung von Details sorgsam auskostet. Es beginnt ein Spiel aus Zuwendung und Rückzug:
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Bastide, Jean-François de (1993): La petite maison. Paris: Gallimard, 21. „Der Marquis von Trémicour hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie zu verführen, und war sich eines leichten Sieges gewiss.“ (In Ermangelung einer publizierten Übersetzung stammen die folgenden Übertragungen ins Deutsche sämtlich von mir, J.V.)
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Ebd., 22. „Sie antwortete, sie werde kommen, und dass sie seine Avancen weder dort noch anderswo fürchte.“
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Ebd., 22. „[S]ie wusste nicht, dass kein anderer Ort in Paris oder dem Rest Europas so raffiniert und bezaubernd zum Zwecke der Liebe gestaltet war.“
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Ebd., 23. „Hunde aller Rassen“.
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„Il la conduisoit par la main, et toujours il la tiroit vers la maison. Trois ou quatre fois de suite elle eut la méchanceté de se laisser entraîner jusqu’à un certain point; elle faisoit quelques pas, et elle revenoit pour examiner encore ce qu’elle avoit déjà examiné. Il l’entraînoit toujours, il paroissait marcher sur des épines; elle en rioit intérieurement, et lui donnoit de ces regards qui, par un artifice unique, disent : ‚Je me plais à vous désespére, en paroissant solliciter la complaisance.‘
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Unglücklich für den Marquis, dass seine Begehrte dieses Spiel perfekt beherrscht. „Le son de voix et le regard qui l’accompagnoit étoient si doux qu’il sentit augmenter le défaut qu’on lui reprochoit.“7 Sie weist ihn ab, jedoch so kokett, dass sein Verlangen in dem Maße mehr geschürt wird, wie sie ihm die kalte Schulter zeigt. Endlich wird der Salon betreten, von dem es heißt: „En effet, ce salon est si voluptueux qu’on y prend des idées de tendresse“8. Holzvertäfelt und von runder Form, mit einer Kuppel ausgestattet, verzierten Spiegeln, einem goldenen Lüster, farbig aufeinander abgestimmten Vorhängen und mit Reliefs über der Tür, die galante Themen aufgreifen. Kerzen und deren Spiegelung zaubern ein Farbenspiel, das dem Raum eine romantische Stimmung verleiht. „C’est ainsi que doit être l’asyle de l’amour“9, konstatiert der Marquis. Der Raum hat eine folgenschwere Wirkung auf Mélite. Sie zieht ihren Genuss nunmehr weniger aus ihrem triumphierenden Widerstand gegenüber Trémicour, sondern ist ehrlich berührt von der Szenerie: „Mélite, frappée de ce coup d’œil, commença à admirer sérieusement et à perdre l’envie de faire des malices à Trémicour.“10 In das Verführungsspiel sind sie fortan beide zu gleichen Teilen involviert. War es zuerst Mélite, die das Begehren des Marquis entfacht hatte, und sich fortan zurück-
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Ebd., 25f. „Er nahm sie bei der Hand und zog sie näher zum Haus; zwei oder dreimal schien sie sich zu fügen, aber nach ein paar Schritten drehte sie um und ging wieder zurück, um das erneut zu betrachten, was sie zuvor schon gesehen hatte. Sie stellte Trémicours Geduld auf die Probe. Dieser versuchte weiterhin, sie ins Haus zu locken, aber er schien wie auf heißen Kohlen zu gehen. Mélite triumphierte innerlich und warf ihm flehende Blicke zu, die um Nachsicht zu bitten schienen, als wolle sie ihm gefallen, die aber eigentlich doch unmissverständlich konstatierten: ‚Ihre Verzweiflung ist mein Triumph!’“
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Ebd., 26. „Der Klang ihrer Stimme war so süß und ihre Augen so sanft, dass er fühlte, wie seine Schwäche mehr und mehr zunahm.“
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Ebd., 28. „Der Salon ist so lustvoll und sinnenfreudig eingerichtet, dass sich Gedanken an Zärtlichkeiten einstellen.“
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Ebd., 30. „So müsste ein Asylum der Liebe aussehen.“
10 Ebd., 29. „Mélite bewunderte die Schönheit des Zimmers aufrichtig und verlor das Interesse daran, dem Marquis Streiche zu spielen.“
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zog, so ist es nun ihre Willenskraft, die angesichts der Schönheiten der Kunst und des offensichtlich guten Geschmacks ihres Verehrers schwächer wird: „[P]erdant de vue les importunités auxquelles elle s’exposoit de la part de Trémicour en lui donnant de la vanité, elle lui prodigua les louanges qu’il méritoit par son goût et son choix.“11 Sogleich nutzt er die Gunst des Moments und wagt es, ihr einen Handkuss zu geben, woraufhin sie sich sofort erhebt und das Gespräch auf die sich ihr bietende Kunst zurückleitet. Auch der nächste Raum, das Schlafzimmer, ist in vollendeter Perfektion ausgesucht. Die Decke, mit einem Gemälde von Pierre bestückt, zeigt eine Liebesszene: Herkules in den Armen von Morpheus, berührt von Amor. Das Zimmer besticht durch ideale Farbkombinationen, Bronze- und Porzellanfiguren; die Möbel sind von ausgesuchter Eleganz und „forcent les esprits les plus froids à ressentir un peu de cette volupté qu’ils annoncent“12. Und so ist auch Mélite emotional berührt, „elle commençoit même à craindre de sentir“13. Der nächste Raum, das Boudoir, wird sogleich beschrieben als „lieu qu’il est inutile de nommer à celle qui y entre, car l’esprit et le cœur y devinent de concert.“14 Spätestens hier wird die emotionale Wirkungskraft von Kunst und Architektur auf Mélite deutlich. Das Boudoir ist in Pastelltönen gehalten, mit Wand- und Deckenspiegeln behangen, von Blumenarrangements überbordet; das in einer Nische stehende Sofa bietet einen Rückzugsort. Im angrenzenden Korridor wird Musik aufgespielt. Mélite gerät außer sich. „Mélite étoit ravie en extase. Depuis plus d’un quart d’heure qu’elle parcouroit ce boudoir, sa langue étoit muette, mais son coeur ne se taisoit pas.“15 Ihre starke emotionale Reaktion bleibt Trémicour nicht verborgen. „Il ne parloit pas, mais ses regards étoient des sermens.“16 Noch ist sich Mélite seiner wohlfeilen Absichten nicht gewiss, hat sie doch durchaus wahrgenommen, zu welch Schauspielerei ihr Verehrer fähig ist. Dennoch spielt sie ihm versehentlich zu:
11 Ebd., 30. „Sie vergaß für einen Moment, wie töricht es war, Trémicours Eitelkeit noch zu befeuern, und lobte seinen Geschmack in den höchsten Tönen.“ 12 Ebd., 34. „[B]ringen noch das kühlste Gemüt dazu, die Wollust, die sie ausstrahlen, am eigenen Leibe zu spüren.“ 13 Ebd., 34. „[S]ie begann sogar, ihre eigenen Empfindungen zu fürchten.“ 14 Ebd., 34. „Raum, der für eine Dame, die ihn betritt, keinerlei Erklärung bedarf. Ihr Herz und ihre Seele erkennen ihn sofort.“ 15 Ebd., 36. „Mélite geriet in Extase. Seit einer Viertelstunde, seitdem sie in dem Boudoir war, hatte es ihr die Sprache verschlagen. Ihr Herz jedoch schwieg nicht.“ 16 Ebd., 37. „Er sprach nicht, aber seine Blicke (ver)sprachen Bände.“
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„Mélit doutoit de sa sincérité, mais elle voyoit du moins qu’il sçavoit bien feindre, et elle sentoit que cet art dangereux expose à tout dans un lieu charmant. Pour se distraire de cette idée, elle s’eloigna un peu de lui et s’approcha d’une des glaces, feignant de remettre une épingle à sa coëffure. Trémicour se plaça devant la glace qui étoit vis-à-vis, et par cet artifice, pouvant la regarder encore plus tendrement sans qu’elle fût obligée de détourner les yeux, il se trouva que c’étoit un piège qu’elle s’étoit tendu à elle-même.“
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Der Marquis wiederum weiß sie zu besänftigen indem er ihr versichert: „Je vous adore et n’en suis pas plus rassuré“18, während sie mehr schlecht als recht ihre ‚wahren Gefühle‘ zu verbergen sucht. Es zeigt sich hier par excellence die Reversibilität der Situation, in die beide Beteiligte wechselweise eingebunden sind. Nachdem zuerst die Rollen klar verteilt waren, finden sich beide in einem Spiel aus wechselnden Positionen wieder: Mélite nämlich als unnahbare, tugendhafte Dame, die Trémicour den Kopf verdreht; dieser sodann in der Rolle des Verführers, der sich eine sorgsam ausgeklügelte Strategie zurechtgelegt hat, um seine widerspenstige Angebetete zur Liebe zu überreden; Mélite sogleich als diejenige, die die Fäden in der Hand hält und Trémicour ob ihrer Widerstandskraft verzweifeln lässt; bis es ihm dann gelingt, sie mithilfe der präsentierten Kunstwerke zu betören; während sie nicht mehr weiß, ob seine Avancen nur ehrgeizigen Ambitionen entspringen oder er ihr ernsthaft und ehrlich verfallen ist. Mal hat sie ihn emotional in der Hand, mal er sie – und doch entziehen sich Mélite Trémicours wahre Absichten (gut möglich, dass seine vermeintliche Lauterkeit nur der besonders freche Teil seiner manipulativen Strategie ist), ebenso wie Mélite sich weigert, sich ihm endlich anheimzugeben (möglich, dass ihre emotionale Hingabe nur gespielt ist oder ihre Schwäche noch nicht derart vollständig, dass sie sich ihm nicht doch am Ende noch entziehen würde). Während Mélite am Anfang noch die Lage zu Ungunsten des Marquis’ bestimmte und seinen Avancen starrsinnig trotzte, so bieten sich diesem nun, gleichsam von Zimmer zu Zimmer, von Kunstwerk zu Kunstwerk, immer mehr Gelegenheiten, ihre zunehmende Schwäche auszunutzen. Doch er zögert und will den sich
17 Ebd., 37. „Mélite zweifelte an seiner Aufrichtigkeit, aber sie nahm immer weniger wahr, dass er ein guter Heuchler war, und sie spürte, dass diese gefährliche Kunst sie an einem reizenden Ort zu allem bewegen würde. Um sich von diesem Gedanken abzulenken, ging sie ein Stück von ihm weg und näherte sich einem der Spiegel, während sie so tat, als würde sie eine Haarnadel in ihrer Frisur richten. Trémicour stellte sich vor den gegenüberliegenden Spiegel und konnte sie so unbemerkt noch zärtlicher betrachten, ohne dass sie gezwungen war, den Blick zu senken. Er fand, es war eine Falle, in die sie selbst hineingetappt war.“ 18 Ebd., 38. „Ich bewundere Sie und bin Ihnen hilflos ausgeliefert.“
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abzeichnenden Sieg auskosten: „Trémicour eût pu profiter de son extase et fermer la porte sans qu’elle s’en apperçut pour la forcer à l’écouter; mais il vouloit devoir les progrès de la victoire aux progrès du plaisir.“19 Sie haben inzwischen das Bad erreicht, das reich ist an Werken von Perot, Gillot, Cafieri, Huet, Boucher, Martin und Bachelier und eine starke Wirkung auf den Gast hat: „Mélite ne tint point à tant de prodiges; elle se sentit pour ainsi dire suffoquée, et fut obligée de s’asseoir. ‚Je n’y tiens plus‘, dit-elle; ‚cela est trop beau. Il n’y a rien de comparable sur la terre...‘.“20 Noch hier hört sie von Ferne die Musik und sagt bezeichnenderweise: „‚À cette musique‘, réprit-elle; ‚j’ai cru la fuir, et de loin elle est en plus touchante.‘“21 Von ihren eigenen Gefühlen irritiert, flieht sie zurück in den Garten. Doch auch hier findet sie eine Szenerie vor, die sie verzaubert. Der als Amphitheater angelegte Garten ist von Tausenden von Lichtern erleuchtet, Fanfarenklänge samt Ariengesängen liegen in der Luft; ein Feuerwerk ist außerdem inszeniert. „Mélite fut enchantée, et ne s´exprima pendant un quart-heure que par des cris d’admiration. [...] Trémicour, ne marquant aucun dessein et affectant même, [...], de montrer moins d’ardeur qu’il n’en avoit, conduisit Mélite dans une allée“22. Ob sein Verhalten aus hässlichen, trügerischen Motiven erfolgt oder angesichts aufrichtiger Sorge, sie könne ihm seine ehrliche Zuneigung versagen, bleibt nach wie vor ungeklärt. Der Erzähler lässt wissen, dass „l’éclat subit d’un feu d’artifice lui montra dans les yeux du téméraire l’amour le plus tendre et le plus soumis.“23 Noch hier jedoch ist offen, ob hierfür lediglich aus Mélites subjektiver, von ihren Gefühlen gefärbten Perspektive gesprochen wird oder aus der eines allwissenden Erzählers. Von ihren eigenen Gefühlen überwältigt, die sie die Kontrolle über sich und die Situation verlieren lassen, ist es höchste Zeit, die Flucht zu ergreifen. Trémicour weiß auch diesen Moment zu nutzen; versichert ihr seufzend, sie habe
19 Ebd., 39. „Trémicour hätte ihre Verzückung ausnutzen können, um die Tür heimlich hinter ihr zu schließen und sie zu zwingen, seinem Liebesbekenntnis zu lauschen, aber er wollte den Sieg dem Fortschritt des Vergnügens verdanken.“ 20 Ebd., 42. „Mélite konnte so vielen Wundern nicht mehr standhalten: Sie fühlte sich schwach werden, geradezu ersticken, und musste sich setzen. ‚Ich ertrage es nicht mehr‘, sagte sie, ‚es ist zu schön. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Vergleichbares.‘“ 21 Ebd., 45. „‚Ah, diese Musik‘, antwortete sie, ‚ich wollte ihr entkommen, aber aus der Ferne ist so noch berührender.‘“ 22 Ebd., 48. „Mélite war verzaubert. Eine Viertelstunde lang gab sie nichts als Ausrufe der Bewunderung von sich. [...] Trémicour zeigte keinerlei Absichten und gab weniger Leidenschaft vor als er besaß, während er Mélite in eine Allee dirigierte.“ 23 Ebd., 49. „[D]as plötzliche Licht eines Feuerwerks offenbarte ihr in den verwegenen Augen des Mannes eine tiefe und devote Liebe.“
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noch immer die Fäden in der Hand, und schlägt eine alternative Strategie ein: Er tritt weniger fordernd und drängend auf und scheint stattdessen ihren Entscheidungen Respekt zu zollen; er tut sogar, als nähme er den Verweis auf ihre Tugendhaftigkeit ernst und schickt, besorgt um ihren Ruf, seine Bediensteten fort, damit sie keinen Tratsch über ihre Anwesenheit verbreiten können. Er wiegt sie in Sicherheit: „[V]ous devez être fatiguée, et, puisq’il faut que vous soupiez, vous me ferez bien l’honneur de m’accorder la préférence, à présent que vous voyez que vous le pouvez avec si peu de risque.“24 Mélite willigt ein, ein letztes Zimmer zu besichtigen, das endgültig den gewünschten Effekt auf sie hat. Sie vergisst sich mehr und mehr und versucht, ihre Schwäche mit schier endloser Fragerei zu überspielen. Geduldig beantwortet der Marquis ihre Einlassungen zu den Kunstwerken, deren Preisen und Künstlern. Der Erzähler lässt mit dem Halbsatz „L’artifice étoit si bien caché“25 nun ohne Zweifel, dass die vermeintliche Aufrichtigkeit des listigen Marquis nur der besonders perfide Schachzug seines ausgeklügelten Plans ist. Mélite vergisst sich mehr und mehr, spielt Trémicour unabsichtlich zu, tappt in Fallen. Ihr entgleitet die Tatsache, dass sie sich in einem höchst ernsten Spiel befindet, das ihr Kontrahent unbedingt gewinnen will. Der Marquis hatte ein Mittel genutzt, das von großer Strahlkraft ist: Die Wette. Eine Wette packt denjenigen, der sie eingeht, ‚an der Ehre‘, denn hier behauptet der eine Beteiligte das Gegenteil des Anderen. Hier geht es ums Ganze. Nicht nur darum, Mélite zur Liebe zu überreden, sondern auch um das Ansehen, um Eitelkeiten, um den Ruf, ‚ums Recht‘. Trémicour will beweisen, dass ihre Tugendhaftigkeit seinem bisher so erfolgreichen Charme nicht zu widerstehen vermag. Mélite ihrerseits will wohl nicht nur ihre Tugendhaftigkeit unter Beweis stellen, sondern auch der männlichen Eitelkeit einen Dämpfer versetzen. Es geht um Macht und Unterlegenheit, um Stärke und Schwäche, um die Eitelkeit der Beteiligten. Mélite spielt um den Beweis, dass sie durchaus in der Lage ist, den selbstbewussten Avancen des Trémicour zu widerstehen. Der Herausforderer ist nicht minder siegesgewiss, kann er doch auf zahlreiche Erfolge seiner Verführungskünste zurückblicken. Diese beinhalten taktische Winkelzüge, die Mélite nicht als solche erkennt: „Mélite, s’affectant de plus en plus [...], oublia réellement qu’elle étoit dans une petite maison, et qu’elle y étoit avec un homme qui avoit parié de la séduire par ces mêmes
24 Ebd., 57. „Sie müssen müde sein und da Sie ohnehin irgendwann zu Abend essen müssen, könnten Sie mir den Gefallen tun, mir Gesellschaft zu leisten. Inzwischen sollten Sie gewiss sein, dass Sie nichts zu befürchten haben.“ 25 Ebd., 54. „Die List war so gut kaschiert.“
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choses qu’elle contemploit avec si peu de précaution et qu’elle louoit avec tant de franchise.“26 Trémicour ist inzwischen dazu übergegangen, gelassene und scheinbar interesselose Konversation zu betreiben, die der Erzähler mit dem in einem eingeklammerten Einschub kommentiert: „([N]ous avons de l’esprit auprès des femmes à proportion que nous le leur faisons perdre)“27, den wir als Anspielung auf die Wechselwirkung als grundlegende Dynamik der Situation verstehen können. Sogar die Änderung seiner Strategie – von drängender Überredung hin zu zurückhaltender Gelassenheit – verwechselt Mélite mit Aufrichtigkeit und glaubt, sich der hehren Absichten Trémicours gewiss sein zu können: „C’étoit pour la prémière fois que l’amour s’offroit à elle avec son caractère [...]. Ce qui la séduisoit ici, c’étoit l’inaction de Trémicour en exprimant tant de tendresse. Rien ne l’avertissoit de se défendre: on ne l’attaquoit point; on l’adoroit et on se taisoit.“28 Doch ihr Verehrer erkennt „que la séduction n’étoit encore que momentanée, et il ne se plaignit que par un soupir.“29 Mit der Rezitation der Gedichtverse von Philippe Quinault Que j’étois insensé de croire Qu’un vain laurier, donné par la victoire, De tous les biens fût le plus précieux ! Tout l’éclat dont brille la gloire Vaut-il un regard de vos yeux ?
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versichert er sie seiner ehrlichen Absichten. Mélite zittert, ist einer Ohnmacht nahe, als Trémicour sich vor ihre Füße wirft, ihr seine ewige Liebe verspricht und versi-
26 Ebd., 54. „Mélite war mehr und mehr berührt [...] und vergaß, wo sie war: in einem Kleinen Haus, in Begleitung von einem Mann, der gewettet hatte, er werde sie mit eben jenen schönen Dingen verführen, die sie nun so unvorsichtig und hemmungslos lobte.“ 27 Ebd., 58. „[U]nser Scharfsinn Frauen gegenüber geht oft auf Kosten des ihren.“ 28 Ebd., 61. „Zum ersten Mal wurde sie ehrlicher Liebe gewahr [...]. Was sie verführte, war Trémicours Untätigkeit. Er hatte es nicht eilig, seine Gefühle auszudrücken. Es gab nichts, das sie alarmiert hätte, sie wurde nicht angegriffen, also musste sie sich auch nicht verteidigen. Sie wurde angebetet und es wurde geschwiegen.“ 29 Ebd., 61f. „[D]ass die Verführung nur einen Moment anhielt, und er seufzte darüber.“ 30 Ebd., 62. „Wie verwirrt war ich zu denken / Dass ein nutzloser Lorbeerkranz, errungen im siegreichen Kampf, / Sei der Kostbarste von allen! / All der Ruhmesglanz / Ist er auch nur einen Blick Deiner Augen wert?“
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chert, er werde sterben, wenn sie nicht nachgebe. Nach einem letzten Aufbäumen ist es um sie geschehen: „Mélite frémit, se troubla, soupira, et perdit la gageure.“31 Das Verhältnis von Mélite und Trémicour schien zunächst eindeutig: Er der manipulativ vorgehende Verführer, sie die unbedarfte Verführte, die sich seinen Überredungskünsten für eine Weile zu widersetzen weiß, deren Widerstand aber schwächer und schwächer wird, bevor sie ihm schließlich verfällt. Es stellte sich jedoch heraus, dass auch sie ein Spiel spielt. Sie hat ihn von Anfang an ein Stück weit in der Hand; versucht, Zeit zu gewinnen; heuchelt Desinteresse und Gelassenheit („Elle feignit de ne le trouver pas bon“32). Es gelingt ihr, zu verhindern, dass sich stabile, hierarchische Positionen verfestigen. Als Mann mit Esprit, charmant, klug, großzügig, gut situiert und ohne ernst zu nehmende Konkurrenz hatte der Marquis es bisher leicht gehabt, Frauen zu erobern, sodass es Mélites Starrsinnigkeit ist, die ihn so herausfordert. Weil sie seinen anfänglichen Verführungskünsten widersteht, wird sein Ehrgeiz geweckt und mit jeder Abweisung befeuert. In dem Maße, in dem er sich gewiss ist, sie mittels einer Hausführung doch noch für sich gewinnen zu können, ist Mélite sich sicher, ihm die Unzulänglichkeit seiner Verführungskünste beweisen zu können. Sie scheitert letztlich darin, doch zuvor hatte sie durch zahlreiche, sich abwechselnde Momente der zaghaften Offenheit und der beharrlichen Abweisung („Trémicour sentit qu’elle s’attendrissoit“33, doch dann wieder „[E]lle voulot fuir“34), des kokettierenden Entzugs und des ekstatischen Sinnengenusses, des sturen Widerstands und des höflichen Zögerns die ludischen Qualitäten, die eine Wette besitzt, spannungsvoll erhöht – und die Situation so allererst zu einer der Verführung stilisiert. Mélite ist, so scheint es, die eindeutige Verliererin der Wette, doch ob diese nun tatsächlich zu ihren Ungunsten ausgeht – schließlich entwickelt sie sich von einer kühlen, souveränen, unbeeindruckbaren Frau hin zu einer sinnlichen, lustempfindenden, sensualistischen – oder ob Trémicour zuletzt doch auch seine Souveränität an sie verliert, weil er sich aufrichtig in sie verliebt hat, darüber gibt der Text keine abschließende Auskunft. Er gibt aber eine Handvoll Hinweise auf die mangelnde Lauterkeit des Trémicour in Form der Worte „piège“ (37), „feindre“ (37), „méchamment“ (52). Wenn er zuletzt einen stark emotional gefärbten Appell vorträgt, ist nichtsdestotrotz auch der Leser geneigt zu glauben, dass der Mann eine Wandlung durchlaufen hat von einem arglistigen Verführer, dem an der Frau im eigentlichen Sinne nichts gelegen ist, sondern nur an dem Beweis seines ungebrochenen Erfolgs, hin zu einem
31 Ebd., 68. „Mélite zitterte, wankte, seufzte und verlor die Wette.“ 32 Ebd., 26. „Sie tat so, als empfinde sie ihn als unhöflich.“ 33 Ebd., 42. „Trémicour spürte, dass er sie fast soweit hatte.“ 34 Ebd., 50. „[S]ie wollte fliehen.“
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ernsthaft verliebten, seinerseits vom Zögern der Mélite herausgeforderten und verführten Liebenden, der nicht mehr die reichhaltigen Kunstwerke seines Hauses ins Spiel bringt, sondern, „avec cette simplicité éloquente de la passion; il soupira, versa des pleurs.“35 Letztlich ist es weniger die Person des Marquis, die Mélite verführt, es sind die Kunstwerke und die Architektur der petite maison. Die Strategie des Trémicour ist durch die Kunstobjekte bedingt, ja sie sind es, die dem Paar ihre Rollen geben. Kaum hat sie sein Anwesen betreten, ist Mélite so hingerissen, dass sie keinen Blick mehr hat für den Marquis, was doch das eigentliche Ziel seines Unterfangens war. Sie ist aufgeregt, überfordert angesichts der vielen Sinnesreize, ungeduldig, mehr über die Schönheiten zu erfahren, und völlig von ihnen vereinnahmt: War es Trémicours Plan, sein Hauses nur als Stimulans einzusetzen, um Mélite zur Sinnenfreude anzuregen, die sich, so hoffte er, sodann auf seine Person richten würde, um der Liebe zu frönen, ist sie stattdessen vollkommen erfüllt von der Kunst, will den Blick nicht mehr von ihr wenden, und begeht Übersprungshandlungen, indem sie den Marquis mit Fragen bestürmt. Die petite maison ist sorgsam inszeniert: Blumenarrangements, erlesene Speisen, ein Orchester, das just zum richtigen Zeitpunkt einsetzt, eine stimmungsvolle Beleuchtung, Wasserspiele, die die Hitze des Tages mildern usw. Jedes Element ist mit großer Bedacht ausgewählt worden („Elle [la cour, J.V.] est entourée de murailles revêtues de palissades odoriférantes assez élévees pour rendre le corpsde-logis plus solitaire, mais élaguées de manière qu’elles ne peuvent nuire à la salubrité de l’air que l’amour semble porter.“36 (Hervorhebung J.V.)) Raffiniert ist Kerzenlicht vor Spiegeln arrangiert, sodass ein sinnliches Farbenspiel den Raum kaum erhellt. Die Details sind in ihrer Schönheit überbordend. Sie ziehen alle Blicke auf sich, die jedoch kaum auf ihnen ruhen können, sondern rastlos zum nächsten Objekt weiterspringen. Mélite spürt ihre Wirkung und ergreift die Flucht, doch selbst im Garten betört die Musik ihre Sinne. Die voluptuöse Einrichtung betört ihre Ratio mehr und mehr. Als Mélite von den Schönheiten der Kunst auf den guten Geschmack ihres Besitzers schließt, kommt der Marquis seinem erhofften Ziel endlich näher. Es folgen Momente des Entzugs, in denen Mélite ihre Schwäche am eigenen Leib zu spüren beginnt und versucht, rational zu handeln. Sie hat es plötzlich eilig und gibt vor, eine weitere Verabredung zu haben, bevor Trémicourt sie überreden kann, zu bleiben. Was folgt, ist ein dramatisches Spiel aus Macht und Ohn-
35 Ebd., 66f. „[M]it der einfachen, aber vielsagenden Sprache der Leidenschaft; er seufzte und brach in Tränen aus.“ 36 Ebd., 27. „Der Hof war umgeben von einer Mauer duftender Palisaden, hoch genug, um das Hauptgebäude vor Blicken zu schützen, aber nicht so hoch, als dass sie die Ausbreitung der lieblichen Atmosphäre behindern würden.“
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macht. Sie schlägt das Angebot aus, eine der Porzellanfiguren, die es ihr sichtlich angetan hat, zu behalten, aber mit solch großem Zögern, ja Widerwillen, dass sie über ihren eigenen Zustand besorgt ist, ihn aber auch nicht zu beeinflussen vermag. Auch das rezitierte Gedicht macht sie hin- und hergerissen zwischen dem Wissen um das trügerische Spiel des Marquis und dem reizvollen Glauben, er meine es ernst mit ihr. Während sie noch behauptet, Herr ihrer Sinne zu sein („‚Non!‘, dit Mélite; ‚je suis troublée, mais je sçais encore ce que je fais: vous ne triumpherez point...‘“37), kulminiert die Situation in dem folgenden Dialog: Eh bien ! Monsieur, que faites-vous ?... Ce que je fais... Trémicour, laissez-moi !... Je ne veux point... Cruelle ! je mourrai à vos pieds, ou j’ obtiendrai... La menace étoit terrible, et la situation encore plus. Mélite frémit, se troubla, 38
soupira, et perdit la gageure.
La petite maison ist ein Zeugnis über die Macht der Kunst in ihren verschiedensten Formen, die imstande ist, Positionen zu verschieben, Gefühle zu entfachen, Relationen zu etablieren; die fähig ist zur galanten Überredung, zur Verführung der Sinne. Eine Macht, über die Werke der bildenden Kunst, der Bildhauerei, der Architektur oder der lyrischen Sprache gleichermaßen verfügen können. Dabei bedarf es keiner explizit erotischen Motive, wie sie auf dem Portal im Salon oder im Speisezimmer der petite maison zu sehen oder in dem rezitierten Gedicht angedeutet sind; auch ohne diese Explizitheit hat Kunst das Potential, als Verführungsinstrument taktisch klug eingesetzt zu werden und darin erfolgreich zu sein. Sie vermag es, die Sinne zu betören mit der Folge, ein anderes Verhalten an den Tag zu legen als es geplant war oder klug erscheint. Die Geschichte führt ihr Verführungspotential vor Augen, das nach diesem Exkurs in die Bildende Kunst und Architektur für den spezifischen Fall der Lyrik in dieser Studie angenommen und in den folgenden Kapiteln in Einzelanalysen untersucht wird.
37 Ebd., 68. „Nein!‘, sagte Mélite, ‚ich bin in Bedrängnis, aber ich weiß immer noch, was ich tue. Sie werden nicht gewinnen...‘“ 38 Ebd. „Also, mein Herr! Was tun Sie?“ – „Was ich tue..“ – „Trémicour, lassen Sie mich! ... Ich möchte nicht...“ – „Sie sind grausam! Ich sterbe vor Ihren Füßen, wenn ich nicht...“. Die Drohung war schlimm, und die Situation noch schlimmer. Mélite zitterte, wankte, seufzte und verlor die Wette.“
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Ziel dieses ersten Teils war es, erstens, an die Relevanz des Verführungsmotivs für die abendländische Kulturgeschichte zu erinnern, worauf uns schon die Antike hinweist. Die Verführungen des Zeus, der sich als Ehemann, als Schwan, als Goldregen usw. verkleidet, die Tragödie des Narziss, den sein eigenes Spiegelbild bezaubert, oder der Raub der Europa sind Beispielfigurationen. Einige lyrische Schlaglichter, für die das Motiv besonders relevant ist, haben, zweitens, zu denken gegeben, dass es sich hierbei jedoch um ein schematisiertes und allzu verkürztes Modell handelt. Aus diesem in aller Grobheit skizzierten historischen Aufriss hat sich, drittens, eine systematische Perspektive eröffnet, die ein anderes Verführungsparadigma vorschlägt, wobei es nicht darum geht, das alte abzulegen, sondern es zu erweitern. Denn Verführung ist nicht ausschließlich begrenzt auf eine Liebesbeziehung, wie sie in obigen Beispielen noch zu sehen war. Um eine solche zu initiieren, war die Kunst von Trémicour zwar strategisch eingesetzt worden, jedoch entfaltete sie ihre eigene sinnliche Kraft, die losgelöst von ihm Mélite in ein Verhältnis einband, aus dem sie sich nicht zu lösen vermochte. Wir können ahnen, dass Verführung vielgestaltiger, komplexer, allgemeiner und in alltäglichen lebensweltlichen Situationen präsenter ist als in der Begrenzung auf eine Paarbeziehung. Sie geschieht auch, um bei dem Beispiel der antiken Mythen zu bleiben, wenn Penelope Nacht für Nacht das Leichentuch des Laertes auftrennt, um keinen ihrer Anwerber heiraten zu müssen, sondern auf Odysseus’ Rückkehr warten zu können; wenn Scheherazade den persischen König so sehr mit ihren Geschichten fesselt, dass er darauf verzichtet, sie zu töten; oder im Mythos vom Trojanischen Pferd, das die Einwohner Trojas dazu bringt, den Griechen Eintritt in ihre Stadt zu gewähren. Dabei hatte sich die Strategie als einer der ‚Parameter‘ von Verführung herausgestellt, vorläufig jedenfalls. Verführung geschieht in lebensweltlichen Zusammenhängen sehr häufig, wie die im Folgenden zu analysierenden Gedichte zeigen werden, und zwar auf je spezifische Weise – ja, sie wird sogar als „Grundkonstante der abendländischen Literatur“ bezeichnet. 39 Es ist in diesem Sinne, wenn Schamma Schahadat schreibt: „Die Geschichte europäischen Denkens lässt sich ohne Weiteres als eine Geschichte der Verführung denken“40.
39 Bork, Claudia (1992): Femme fatale und Don Juan. Ein Beitrag zur Motivgeschichte der literarischen Verführergestalt. Hamburg: von Bockel, 7. 40 Das
Zitat
entstammt
einem
Vorlesungskommentar
der
Uni
Tübingen.
http://campus.verwaltung.uni-tuebingen.de/lsfpublic/rds?state=verpublish&status=init& vmfile=no&publishid=48107&moduleCall=webInfo&publishConfFile=webInfo&publish SubDir=veranstaltung. (4.4.2016)
E XKURS : K UNST ALS V ERFÜHRUNG
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Im Sinne des auf der übernächsten Seite folgenden, dem Beginn des zweiten Teils dieser Studie vorangestellten Gedichts von Jürgen Becker gilt es also, dem dort angesprochenen scheuen Reh ein zweites Mal hinterherzugehen mit dem Ziel, differenziertere Einblicke in das Verführungsparadigma zu erhalten.
Teil II Die Verführung des Textes
LEGENDEN IM NEBEL DIE NEBELLAMPEN, UND WENN ÜBERN ASPHALT KEIN REH RENNT, PASSIERT NICHTS DIE NACHT, ODER, DU STEIGST NOCH EINMAL AUS UND SIEHST ÜBER DEN WIESEN ETWAS DAVONGEHEN HINAB IN DEN WEIßEN GRUND ZUM FLUß, UND DU GEHST, IM RAUSCHENDEN DUNKLEN GRAS, HINTERHER.
JÜRGEN BECKER
Poetische Differenz
„K OMM !
INS
O FFENE , F REUND !“ – E INLADUNGEN
Ist nicht längst etwas geschehen, wenn ich angefangen habe, ein Gedicht zu lesen? Ist nicht längst etwas geschehen, wenn ein Gedicht anhebt mit der Warnung „Ihr Mädchen, flieht Damöten ja!“, die wir im ersten Teil der Arbeit im Zuge von Christian Felix Weisses Zauberer gelesen hatten? Oder wenn es mit den Worten beginnt „Im freien Fall erlebte seine letzten Augenblicke / Ein Millionär aus Oklahoma, der sein Geld / Mit Fleisch verdient, mit Kunst veredelt hatte“1? Was war passiert? Was sind die Umstände, die zum Tod des Millionärs geführt haben? Was ist dem tragischen Geschehen vorweggegangen? Die Verse berichten ein Geschehen, das bereits vorbei ist, sie berichten nachträglich davon. Dies können sie, weil sie sich einer dafür vorgesehenen grammatikalischen Zeit bedienen: Dem Präteritum. Hierbei handelt es sich um ein Erzähltempus. Wenn es in der Lyrik auftritt, so provoziert es den Wunsch, zu wissen, was als nächstes passiert, wie die Geschichte weitergeht.2
1
Grünbein, Durs (1994): Den Teuren Toten. Frankfurt/M: Suhrkamp, 37.
2
Angesichts der Verwendung von Begriffen wie ‚Handlung‘, ‚Erzähler‘ oder ‚Geschichte‘ ist es an der Zeit, zu betonen, dass es fruchtbar sein kann, narratologische Konzepte in der Lyrikanalyse (und nicht nur für die Ballade) zu nutzen. Viele Gedichte schildern eine zeitlich strukturierte Abfolge von Ereignissen, haben einen erzählenden Sprecher bzw., um mit Peter Hühn und Jörg Schönerts Definition von Narrativität zu sprechen, weisen sowohl Sequentialität, d.h. dass zeitlich organisierte Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer Abfolge gebracht sind, als auch Medialität – damit gemeint ist die „Vermittlung in Konstruktion, Präsentation und Interpretation dieser Abfolge aus einer bestimmten Perspektive“. Die Quelle für dieses Zitat bietet auch die Grundlage der
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So in Hendrik Jacksons namenlosem Gedicht, das dem Kapitel Winter in seinem Lyrikband einflüsterungen von seitlich entstammt und mit dem Vers beginnt „Als wir ankamen war das Eis schwarz und strahlte, wie von innen“; das diesem Text folgende Gedicht hebt sodann an mit den Worten „wir kickten das wurzelartige holzscheit, das morsche über das eis“, das nächste fängt an mit „Draußen schaltete ich das radio an, den handgroßen / weltempfänger“ und das darauf folgende schließlich mit der Konstatierung „über dem verlassenen schulhof sahen wir zum ersten mal den mond“3. Die Verse provozieren die Neugier, wissen zu wollen, wie es weitergeht. Das zu Beginn eines Gedichts eingesetzte Präteritum also, so führen die Beispiele vor, spricht eine Einladung zur Lektüre aus, die schwer auszuschlagen ist. Eine andere Technik mit dem gleichen Effekt ist die Formulierung einer Frage gleich zu Anfang. Einer solchen bedient sich Jan Wagner in einem seiner Gedichte aus den Regentonnenvariationen: was war so blau wie abende im herbst oder schwarz wie die bibel? hing durch nebelschleier, oktoberschauer, war so herbe, herbst, daß alles sich zusammenzog?4
Die Antwort auf die beiden Fragen folgt sodann: „die schlehe.“ Wagners Gedichte wären Rätsel, wenn er nicht, wie er es häufig tut, die Erklärung für seine Denkbilder schon in der Überschrift lieferte. Er nimmt die Antwort auf das Rätsel, das er baut, vorweg. So etwa in seinem Text koalas: „so viel schlaf in nur einem baum, / so viele kugeln aus fell / in all den astgabeln, eine boheme / der trägheit, die sich in den wipfeln hält und hält“, in im brunnen: „sechs, sieben meter freier fall / und ich war weiter weg / als je zuvor, ein kosmonaut / in seiner kapsel aus feldstein, / betrachtete aus der ferne / das kostbare, runde blau“ oder in nagel: „kaum in der
Debatte um das Verhältnis von Narratologie und Lyrik: Hühn, Peter et al. (Hg.) (2007): Lyrik und Narratologie. Berlin und New York: De Gruyter; sowie Hühn, Peter/Schönert, Jörg (2002): Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34. München: Fink, 287-305. Weiterführend auch Bleumer, Hartmut et al. (Hg.) (2011): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin: De Gruyter. Zu diskutieren bliebe, ob die Annahme einer Handlung, einer zeitlich geordneten Abfolge von Ereignissen und deren perspektivische Vermittlung eines im engeren Sinne narratologischen Ansatzes überhaupt bedarf. 3
Alle Beispiele stammen aus Jackson, Hendrik (2001): einflüsterungen von seitlich. Berlin: Morpheo, 81-84.
4
Wagner, Jan (2014): Regentonnenvariationen. Berlin: Hanser, 20.
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wand, war er die mitte“, in otter: „am morgen manchmal tot in den reusen / der fischer, kalt wie eine meerjungfrau“ oder in versuch über seife: „ein stück war immer in der nähe, / folgte seinen eigenen phasen, / wurde weniger wie fast alles, / stand dann wieder voll / und leuchtend weiß in seiner schale.“5 Ohne seinen Titel wäre jedes dieser Gedichte, eins mehr, eins weniger, ein Rätsel, das viele verschiedene Losungsworte haben könnte. Der Reiz, sich dennoch – obwohl schon vorab mitgeteilt wird, worum es gehen würde – auf das Gedicht einzulassen, resultiert aus einer anderen Technik als der des Spannungsaufbaus. Die häufige vorab gebotene ‚Erklärung‘ ist zu verdächtig, als dass man ihr trauen könnte. Schließlich sind einige Werke, in Regentonnenvariationen allein fünf, mit der bescheidenen Formulierung „Versuch über“ betitelt („versuch über mücken“, „versuch über servietten“ usw.), sodass die darauf folgenden Texte Experimentcharakter erhalten und damit eben Versuche, das einzulösen, was der Titel verspricht, nämlich eine Annäherung an das titelgebende Motiv. Ob das erreicht wird, kann erst der Textkörper zeigen. Wagner geht somit umgekehrt vor als gewöhnlich. Nicht verliert er sich in verklausulierten Versen, die am Ende auflösen, was sie umkreist haben, sondern er nutzt ‚Realia‘, Dinge, Alltagsgegenstände als Ausgangspunkt, um von dort aus die wie mit einem Filetiermesser freigelegten, präzise beobachteten Eigenheiten der Dinge in wohlgewählte Worte zu überführen. Dies tut er in Wendungen und Umkreisungen, in denen der eigentliche Gegenstand mal wie unter einem Brennglas betrachtet wird und mal in den Hintergrund tritt als bloßer Zeuge eines anderen Geschehens (etwa der Zaun in versuch über zäune, der etwas einhegt, was zum eigentlichen Interesse des Gedichts wird, während der Zaun selbst zweitrangig wird). So würde er stilistisch das umsetzen, was er als Fähigkeit der Silberdisteln ausmacht: „ihr trick: so dicht am boden / noch schweben zu können“. Wagners Worte sind sehr nah an den Dingen, die sie zum Gegenstand haben, und doch schweben sie darüber, fokussieren sie, verschleiern sie dann, schweifen ab, gleiten weiter, so wie in dem eingangs zitierten Gedicht über die Schlehen. Dort heißt es im Mittelteil: „zeit genug, abzuschweifen, // an anderes zu denken – an osmose, / die nächste klassenarbeit, nylonstrümpfe, / an nina wrigger’s brüste und den kosmos“.6 Von den Schlehen zum Schulalltag eines Pennälers in nur wenigen Zeilen.
5
Alle Beispiele entstammen Wagner, Jan (2014): Regentonnenvariationen. Berlin: Hanser. Es handelt sich jeweils um die ersten Verse der Gedichte auf den Seiten 16, 38, 92, 94.
6
Ebd., 20.
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Ähnlich Wagners Vorwegnahmen, die er dann, wie wir gesehen haben, wieder verunklart, setzt auch Rilke ein in seinem Text Von den Fontänen, Teil des Buch der Bilder. Die erste der vier Strophen lautet: Auf einmal weiß ich viel von den Fontänen, den unbegreiflichen Bäumen aus Glas. Ich könnte reden wie von eignen Tränen, die ich, ergriffen, von sehr großen Träumen, einmal vergeudete und dann vergaß.
7
„Auf einmal weiß ich viel von den Fontänen“. Wenn diese Technik, in eine Situation hineinzuspringen, 100 Jahre später angewandt wird, klingt das so: „Plötzlich drückt sich die plane / gegen das gerüst und erstarrt / – silbern – zwei sekunden lang“8. Hier ist „[p]lötzlich“ oder, wie bei Rilke, „auf einmal“ eine Situation instauriert, die mindestens zwei Fragen bzw. Begierden aufwirft: Zum einen die Frage, wer oder was dem lyrischen Ich so plötzlich all das Wissen über die Fontänen verschafft hat. Was also ist passiert, bevor das Gedicht einsetzt, was hat das lyrische Ich dazu gebracht, behaupten zu können, urplötzlich wisse es viel von den Fontänen, was ist geschehen, dass sich plötzlich die Plane gegen das Gerüst drückt? Zum anderen kommt ein Verlangen auf. Das Verlangen, über das gleiche Wissen wie das lyrische Ich oder der Autor zu verfügen. Das Gedicht jedoch versagt uns dies, es bietet keine Erklärungen, die uns mit den gleichen Kenntnissen, wie der Sprecher sie hat, ausstatten würden. Wir haben bis hierher verschiedene Anfänge von Gedichten kennengelernt, die auf je eigene Weise – durch das Präteritum, durch die Formulierung einer Frage, durch den Gedichttitel, durch Vorwegnahmen – in den Text hineinziehen und dazu verleiten, mit der Lektüre fortzufahren. Die Eingangsfrage jedoch – ‚Ist nicht längst etwas geschehen, wenn wir angefangen haben, ein Gedicht zu lesen?‘ – hebt ab auf die Vermutung, dass man solche Einladungen auch grundsätzlicher denken kann und muss. Dazu nun Hölderlin. 1
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein. Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
7
Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M: Insel, 344f.
8
Jackson, Hendrik (2001): einflüsterungen von seitlich. Berlin: Morpheo, 21.
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Trüb ists heut, es schlummern die Gäng' und die Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtgläubige zweifeln an Einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.9
So lauten die ersten acht Verse von Hölderlins Der Gang aufs Land. Das Gedicht beginnt mit einer Apostrophe, ein „Freund“ wird angesprochen, eingeladen oder aufgefordert, „ins Offene“ zu kommen. Wir können ein lyrisches Ich ausmachen (vgl. „Mir“ im letzten zitierten Vers), das sich einer Gruppe – oder zumindest dem Freund – zugehörig fühlt, schließlich spricht es von „uns“ (2). Die Sonne scheint kaum an diesem Tag, der Himmel drückt so schwer, dass weder die Berge noch der Wald sichtbar sind, es ist still und trüb, leer in den Straßen. Es herrscht eine Zeit, so gibt der Text Anlass zu vermuten, die von einer schwer lastenden Atmosphäre der Reglosigkeit und Beklemmung zeugt, eine „bleierne Zeit“. Dies kann man aus den Hölderlin’schen Zeilen schlussfolgern, doch sein Text bleibt ein Kunstwerk der lyrischen Unzuverlässigkeit. Zu unvertraut ist der Satzbau (vgl. „Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes / Gipfel nach Wunsch“; 3-4), zu wenig konstatierend („es sei, als in“; 6), zu unsicher und einschränkend („fast will / Mir es scheinen“; 5-6, Hervorhebung J.V.) sind die Aussagen, als dass sie Sicherheit suggerieren könnten hinsichtlich der Tatsache, dass die bleierne Zeit tatsächlich angebrochen ist. Das lyrische Ich ist sich seiner Wahrnehmung nicht ganz sicher, darauf weisen das einschränkende Adverb „fast“, die umständliche Konstruktion „mir will scheinen“ sowie die grammatikalisch ungewöhnliche Verknüpfung von Konjunktiv I und der Konjunktion ‚als‘ in der Formulierung „es sei, als in“ hin. ‚Als‘ kann hier eine modale Beziehung anzeigen, also die Art und Weise der Beziehung im Sinne von ‚Mir ist als wäre ich in der bleiernen Zeit‘ oder ‚Mir ist, als ob die bleierne Zeit angebrochen wäre‘ o.ä. Es kann aber auch eine vergleichende Bedeutung haben, ähnlich einem ‚wie‘, im Sinne von ‚Mir scheint, es ist wie in der bleiernen Zeit‘. Zusammen mit dem Konjunktiv I „sei“ und dem Verb „scheint“ zeugt der gesamte Satz von einer Unbestimmtheit und Unsicherheit, die vollends „ins Offene“ geht, wie der erste Vers voraussagt. Dessen Aufforderung „Komm! ins Offene, Freund!“ wirkt zunächst wenig einladend angesichts der sogleich folgenden, mit dem Adverb „zwar“ beginnenden Einschränkung, doch dann beginnt die vorletzte der zitierten Zeilen mit dem Wort „Dennoch“, einem Adverb mit koordinierender Funktion, auch Konjunktionaladverb genannt. Es bekräftigt die Aufforderung. Trotz der widrigen Umstände, trotz der bleiernen Atmosphäre, bleibt der Tag an der Lust ausgerichtet.
9
Ausschnitt aus: Hölderlin, Friedrich (1970): Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden. Erster Band. Hg. von Lüders, Detlev. Bad Homburg: Athenäum, 285f.
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In diesem kurzen Wort „Dennoch“ liegt die Unterminierung all dessen, was zuvor geschrieben steht: Dunkle Wolken am Himmel, ein drückendes Gebirge im Hintergrund, eine schwere Stille in der Luft, die Welt liegt starr – diese unzugängliche, feindliche, über sechs Zeilen entwickelte Stimmung wird geöffnet durch die sture Behauptung eines einzelnen „Dennoch“. Der dunklen, schweren Stimmung ungeachtet bleibt die Lust bestehen. Trotzdem die Welt starr, bleiern und schweigend liegt, bieten sich Möglichkeiten, das Leben anders zu leben, im Zeichen der Lust – dazu lädt „Komm! ins Offene, Freund!“ (1) ein. Wie genau das Leben anders „als in der bleiernen Zeit“ (6) sein kann, bleibt offen, doch gerade weil das Gedicht nicht verrät, was sein wird, wenn der Freund sich auf das Angebot einlässt, ist die Aufforderung höchst reizvoll. So versetzt die Formulierung „fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“, ähnlich dem Hölderlin’schen „vielleicht, daß“, über das im Verlaufe dieser Studie noch zu sprechen sein wird, die diegetische Welt in Bewegung und bringt sie in eine Dynamik der Offenheit, Virtualität und Möglichkeit. Da uns das Gedicht im Unklaren darüber lässt, was „Komm! ins Offene, Freund!“ bedeuten soll, müssen wir noch eine zweite, eine metapoetische Bedeutung annehmen. So wäre es, als einer der eindrücklichsten Anfänge, die die Lyrik je hervorgebracht hat, eine Metareflexion darüber, was Gedichte überhaupt sind. Sie sind Öffnungen, Offenlegungen von möglichen Wegen, Aufforderungen zum Eintritt in das Gedicht, Einladungen, einen Schritt zu tun und sich auf das Gedicht, auf die Welt, die es entwirft, einzulassen, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen wird – darauf weist das Abstraktum „das Offene“ hin. Dies ist der Moment, in dem in Zusammenkunft mit dem Dispositiv ‚Lyrik‘ eine Subjektkonstituierung beginnt. Anders gesagt: Der Leser entsteht in dieser Beziehung.10 Bei Hölderlin zeigt sich beispielhaft die Tendenz von Lyrik, unzuverlässig zu sein. Unzuverlässig hinsichtlich der Bedeutung eigentlich vertrauter Worte, die eine Atmosphäre entwerfen, die dann doch anders ist als gedacht. Haben die Worte der ersten sechs Verse eine andere als die gewöhnliche Bedeutung? Täuschen sie eine Bedeutung an, die sodann revidiert wird? Oder wie ist die abrupte Umkehrung, die plötzliche Subversion alles vorher Gesagten, zu erklären? Gedichte, so scheint es, sind doch nicht stets „gemahlte Fensterscheiben“11, wie Goethe schrieb. So würde „Komm! ins Offene, Freund!“ das aussprechen, was allen
10 In seinem Buch „Was ist ein Dispositiv?“ unterzieht Giorgio Agamben Foucaults Dispositivbegriff einer Relektüre und entwickelt die These, dass Subjekte aus der Zusammenkunft von Lebewesen und Dispositiven hervorgehen. Siehe weiterführend zur Subjektkonstituierung das Kapitel Fiktionalität – Faktualität in der vorliegenden Studie. 11 Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Die Gedichte I. München: Goldmann, 601.
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Gedichten implizit eingeschrieben ist: Die Einladung, sich auf eine Welt einzulassen, die gleichgültig ist gegenüber Gesetzmäßigkeiten einer symbolischen Ausdrucksordnung. Die Aufforderung, eine Haltung einzunehmen, die von Offenheit gegenüber topologischer und affektiver Alterierung zeugt, ohne zu wissen, was passieren wird; ohne zu wissen, ob der Text das hält, was er verspricht. Es bleibt die Verlockung, sich vom Text anziehen zu lassen, sich der Attraktion des Werkes hinzugeben (weiterführend zur Attraktion das Kapitel Geste – Attraktoren). Jedoch ist dies keine bewusste und intentionale Entscheidung. Es handelt sich vielmehr um eine Verführung, die hier vonstatten geht. Eine Verführung, ein Widerfahrnis, das geschieht, ohne dass man dies bemerkt und die Möglichkeit hätte, es zu lenken. Das beispielhaft angeführte Panorama von Gedichtanfängen – von der Verwendung eines Erzähltempus über die Formulierung einer Frage, einer wohlbedachten Titelauswahl oder Vorwegnahme bis hin zu einem expliziten Appell – kann den Leser dazu verleiten, mit der Lektüre fortzufahren. Dies geschieht über die inhaltliche Dimension, also etwa über die Behauptung, das lyrische Ich wisse etwas, das auch der Leser erfahren möchte, über eine Frage, die beantwortet werden will, über eine explizite Aufforderung o.ä. In den Gedichtanalysen der folgenden Kapitel werden weitere solche mit Verführungsqualitäten ausgestattete Phänomene und Strukturen der lyrischen Sprache untersucht, wie Spiele um Fiktionalität und Faktualität, Metaphorik und Bilder, Abweichungen von der Normalsprache, Rhythmen und Melodien usw. Hierbei handelt es sich um Phänomene oder Strategien, die innerhalb der Texte angesiedelt sind.12 So auch die auf den ersten Seiten dieses Kapitels angeführten Beispiele, die durch Hölderlins explizite Aufforderung „Komm! ins Offene, Freund!“ konkretisiert wurden. Den exemplarischen Einladungen, die schon im Binnenraum der Gedichte angesiedelt sind, geht jedoch eine Verlockung vorweg, der man längst erlegen ist, wenn man angefangen hat, ein Gedicht zu lesen: Ein Ereignis, das der semantischen
12 Auch Schamma Schahadat ist sich sicher, dass Textanfänge Verführungspotential haben. Sie beschäftigt sich mit verführerischen Auftakten in der Philosophie, die die Neugier des Lesers zu entfachen vermögen. Sie macht verschiedene Funktionen von Anfängen philosophischer Texte aus, von denen eine auf den Aufbau einer Beziehung zum Leser abhebt, der „in den Text geführt, entführt, verführt“ wird. Schahadat interessiert sich für die Inhalte, mit denen ein philosophischer (nicht bzw. nicht vorrangig literarischer) Text beginnt und nicht für eine grundsätzliche Kategorie, wie ich sie entwerfe. Schahadat, Schamma (2011): Verführung in der Philosophie. Anfänge. In: Misselhorn, Carin et al.: Erkenntnis und Darstellung. Formen der Philosophie und der Literatur. Paderborn: Mentis, 179-202, hier 191.
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Ebene vorgängig ist und insofern eine andere, eine grundsätzlichere Art des Anfangs darstellt, die nicht nur den Versauftakt, sondern die gesamte Gestalt eines Gedichts betrifft. Ein Ereignis, das ein Gedicht überhaupt erst als Gedicht konstituiert und von seiner Umgebung abhebt. Auch wenn wir nur die ersten acht Zeilen von Hölderlins Text sehen, so tut das der Tatsache keinen Abbruch – im Gegenteil –, dass es auf der Seite, auf der es gedruckt steht, von dem es umgebenden Fließtext dieses Kapitels durch Leerzeilen und Seitenränder abgehoben, und dadurch sichtbar und „sichtig“ wird.13 Hier können wir die simple Feststellung formulieren: Da ist etwas in der Welt, dessen Existenz sich unterscheidet von all den Existenzweisen, von denen es umgeben ist. Wegen der ungewöhnlichen Form noch eindrücklicher als bei dem Hölderlin’schen Beispiel wird das bei der Konkreten Poesie, die die übliche strenge, rechteckige Blockform verlässt und in eine performative überführt, wie Guillaume Apollinaires Poèmes à Lou oder Reinhold Döhls Äpfel dies tun, um das zu realisieren, wovon sie sprechen, oder wenn ein Gedicht eine konkrete Form vollständig auflöst wie Stéphane Mallarmés Un Coup de dés. Eine Existenzweise wird wahrnehmbar durch einen Kontrast zu ihrer Umgebung. Dieses Moment ist das Eröffnungsereignis des Lyrischen, das grundsätzlicher Natur ist und das innertextuellen Prozessen vorweggeht. Als Titel für dieses Vorspiel schlage ich den der Poetischen Differenz vor. Die Poetische Differenz ist ein grundsätzliches Ereignis, das die Existenzweise der Lyrik abhebt von anderen Existenzweisen, d.h. sie beschreibt die Tatsache, dass etwas Text und zwar lyrischer Text ist und sich als solcher von seiner nicht textuellen bzw. nicht-lyrischen Umgebung abhebt. Die Poetische Differenz bezeichnet mithin einen basalen Begründungszusammenhang: Ein Gedicht ist ein Gedicht, insofern es sich abhebt von dem Kontinuum seiner nicht-textuellen oder nicht-lyrischen (sondern dramatischen oder epischen) Umwelt. Durch die Konstatierung seiner selbst – durch das Dass seiner Existenz – zieht ein jedes Gedicht eine Differenz zur es umgebenden Welt ein. Die Beispiele aus der Konkreten Poesie sind überspitzt, weil die Gedichtform sehr auffällig ist. Jedoch: Die Poetische Differenz trifft noch keine Aussage über die Art und Weise der Differenz – d.h. damit ist noch keine Qualifizierung der Sprache (hinsichtlich des Sprachregisters, der Sprachbedeutung, des Klangs usw.) getroffen, noch der Form (gewöhnliche, strenge Gedichtform in Blöcken oder diffuse Ansammlung von
13 Der Neologismus „sichtig“ stammt von Wiesing, Lambert (2013): Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Frankfurt/M: Suhrkamp. Hier zeigt Wiesing, dass nicht alles, was sichtbar ist, auch sichtig ist. Sichtig ist das, was gesehen wird. „Alles, was sichtig ist, muss sichtbar sein, doch nicht alles, was sichtbar ist, ist sichtig.“ (19f.)
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Sprachzeichen usw.) o.ä. Mit ihr ist schlicht das beschrieben, was immer schon geschehen ist, wenn wir ein Gedicht als solches erkennen, wenn wir einen Unterschied wahrnehmen zwischen der Verdichtung von Zeichen und dem Links, Rechts, Oben oder Unten jenseits dieser Verdichtung; wenn eine Kontur samt eines Inneren und eines Äußeren sichtbar ist; wenn also Etwas als Etwas wahrnehmbar wird, das sich unterscheidet von seiner Umwelt.
B EGRIFFLICHE R ÜCKVERGEWISSERUNG Der vorgeschlagene Titel Poetische Differenz macht eine Anleihe bei dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm, der in den 1990er Jahren mit der „Ikonischen Differenz“14 eine „Kategorie“15 zur Analyse von Bildern entworfen hat. Boehm bezeichnet mit der Ikonischen Differenz ein phänomenologisches Anfangsereignis von Bildlichkeit. Etwas, das in die komplexe Wirklichkeit eingebettet ist, erhält eine Rahmung, und ist fortan nicht mehr unscheinbarer und belangloser Teil der es umgebenden allgemeinen Kontinuität der lebensweltlichen Umgebung, sondern hebt sich ab von seinem Hintergrund, sticht gleichsam heraus. Mit Boehms Begrifflichkeit sollen die Strukturen erfasst werden, die es ermöglichen, etwas als Bild auszumachen. Dies geschieht durch einen Kontrast, der sich zwischen dem, was als Bild wahrgenommen wird, und dem kontinuierenden Grund einzieht. Um jenes Bild wird gleichsam ein Rahmen gezogen, der es von anderen Elementen abgrenzt, wobei der Rahmen hier sowohl als konkrete materielle Rahmung eines Gemäldes, das an der Wand hängt, zu verstehen ist, wie auch als Metapher für eine imaginäre, unsichtbare Rahmung, die um das konkrete Element, auf das sich die Wahrnehmung einstellt, gezogen ist. Sei es der alltägliche, gewohnheitsmäßige Blick aus dem Fenster, auf mein Gegenüber, auf die Dielen des Holzbodens oder auf ein Gemälde an der Wand – plötzlich kann uns etwas Wohlbekanntes, bis dahin Uninteressantes oder Unscheinbares als Bild erscheinen. Dieses Bild sticht heraus aus der Kontinuität des Bedeutungslosen, die nunmehr durch es unterbrochen ist. Die Genese des lyrischen Werks aus der konstitutiven Differenz zu seiner Umgebung zu beschreiben, bietet Merleau-Ponty ein Beispiel – wenn es auch keine vollständige Analogie bietet, so doch eine Annäherung. Er beschreibt einen Spaziergang am Meer, wo er glaubt, ein vom Wasser geschliffenes Stück Holz zu se-
14 Vgl. insbesondere Boehm, Gottfried (1994): Was ist ein Bild? München: Fink. 15 Diesen Begriff verwendet Boehm in dem folgenden Interview: Laleg, Dominique (2011): ‚Bildkritik‘ - Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion. Ein Interview mit Gottfried Boehm. In: ALL-OVER. Nr 1, Juli 2011, http://allover-magazin.com/?p=360 (26.3.2016).
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hen, bei dem es sich aber tatsächlich um eine Tonscherbe handelt, wie er bemerkt, als er einige Meter weiter geht. In dem Moment, in dem das aus den Wellen auftauchende unscheinbare Ding sich vor dem Auge als ein Stück Holz darstellt, ereignet sich die Ikonische Differenz. Merleau-Ponty stellt fest: „Wenn sich eine Illusion aufzulösen beginnt, wenn eine Erscheinung plötzlich platzt, so tut sie dies immer zugunsten einer neuen Erscheinung, die ihrerseits die ontologische Funktion der ersteren übernimmt.“16 Eine solche „Erscheinung“ entbehrt nicht, wie er betont, einer absoluten Realität, selbst wenn sie sogleich in eine andere Form, nämlich die der Tonscherbe, übergeht. Sie stelle sich in dem jeweiligen Moment als „‚real‘ und völlig unanfechtbar“ dar.17 Merleau-Ponty kann als Hinweis auf das Statthaben der Ikonischen Differenz gelesen werden, jedoch darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Beispiel nicht vollständig aufgeht. Schließlich entwickelt Boehm seine Überlegungen zur Ikonischen Differenz ausschließlich in Bezug auf Artefakte, seien dies Gemälde, Skulpturen o.ä. D.h. er geht von einer Situation aus, in der in einem bestimmten Abschnitt, Raum oder Feld eine Gestaltung vorgenommen wurde, die jenseits dieses Abschnitts nicht stattgefunden hat. Bei Merleau-Ponty liegt ein solches Artefakt nicht vor. Ob dennoch von einer Ikonischen Differenz zu sprechen wäre, insofern von einem Akteur, der Natur, eine Zurichtung – die Bearbeitung des Holzes bzw. Steins im und durch das Wasser – vorgenommen wurde, die anderswo nicht auf diese Weise geschehen ist, bedürfte weiterführender Untersuchung. Sehr wohl aber kann Merleau-Ponty fungieren als ein anschauliches Beispiel für den Vorgang einer ontologischen Stabilisierung – ein Begriff, der in dieser Studie verwendet wird um zu beschreiben, dass in einem Gedicht, welches einen Prozess darstellt, etwas für kurze Zeit wahrnehmbar, fassbar und greifbar ist. Boehm selbst lässt verlauten, die Ikonische Differenz bezeichne einen Kontrast, „der das Bild generell kennzeichnet, [....] die Bedingungen des Mediums selbst. Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenereignissen einschließt.“18
Mit seinem Theorem will Boehm den Kriterien von Bildlichkeit auf den Grund gehen. „Was Bilder in aller historischen Vielfalt als Bilder ‚sind‘ [...], verdankt sich mithin einem visuellen Grundkontrast, der zugleich der Geburtsort jedes bildlichen
16 Merleau-Ponty, Maurice (1986). Das Sichtbare und das Unsichtbare. München: Fink, 63. 17 Ebd. 18 Boehm, Gottfried (1995): Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink, 11-38, hier 29f.
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Sinnes genannt werden kann.“19 Die vielleicht prägnanteste Bestimmung seines Terminus findet sich im folgenden Zitat: „‚Ikonische Differenz‘ ist der Versuch, nachzubuchstabieren, was am Bild seine innere Strukturierung, seine ihm eigene Logik ausmacht [...], der Versuch einer ersten Bestandsaufnahme, eine Deskription der im Bild wirksamen, auf Sinnerzeugung hin ausgerichteten Mechanismen zustande zu bringen.“20
Die Ikonische Differenz untersucht also die Eigenlogik des Bildes, allgemeiner könnte man auch sagen, die Bedingungen und Grundstrukturen von Bildlichkeit, auf die die rezeptive Wahrnehmung von Kontrasten hinweist. Mit ihr ist noch keine Aussage über symbolische Bedeutungszusammenhänge getroffen, die sie aber auch nicht ausschließt. Jenseits oder eher noch vor (denn sie produziert keine Ausschlüsse) einer ikonographischen Suche nach einer extern gelagerten Bedeutungsgenerierung, vermag sie es, der Evidenz von Bildstrukturen selbst Rechnung zu tragen. Der Umstand jedoch, dass ein Betrachter innerhalb seiner Umwelt etwas als Etwas wahrnimmt, muss eine Dynamik vorweggegangen sein, die ihn dazu gebracht hat, auf es zu fokussieren und nicht über es hinwegzusehen. Diese Dynamik ist eine Verführung, so scheint es. Eine Verführung der Sinne, die widerfährt, ohne dass man sie zu beeinflussen und zu kontrollieren vermöchte. Wenn die Wahrnehmung nicht interesselos über diskrete Elemente hinweggleitet, wie sie über die anderen Teile der Szenerie hinweggeht, etwa die ruhige Oberfläche des Meeres, dessen Farbe und Bewegungen, die Merleau-Ponty vielleicht während seines Spaziergangs interesselos registriert hat; wenn stattdessen sein Blick an dem aus den Wellen auftauchenden Stück ‚Holz‘ hängenbleibt, oder wenn der Blick auf ein Gedicht als konkreten und distinkten Zusammenhang fokussiert, dann hat sich die Wahrnehmung anziehen und gefangen nehmen lassen. Das hat Boehm bisher nicht thematisiert, doch es ist die eigentliche Ursache für die Manifestation der Ikonischen bzw. Poetischen Differenz. Irgendetwas muss den Blick verführt, fasziniert, gefesselt haben, sonst wäre er darüber hinweggeglitten wie über die anderen Elemente der Szenerie. Die Begrifflichkeit, die ich in Analogie zu Boehm ‚Poetische Differenz‘ zu nennen vorschlage, ist in diesem zuvor angeführten verführerischen Anfangsmoment begründet, das die materielle Setzung eines Gedichts markiert. Sie geschieht,
19 Ebd., 30. 20 Laleg, Dominique (2011): „Bildkritik“ – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion. Ein Interview mit Gottfried Boehm. In: ALL-OVER. 1, Juli 2011. http://allovermagazin.com/?p=360 (5.7.2015).
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wenn ein Buch aufgeschlagen wird, zum Beispiel das lyrische Werk eines Dichters, und darin ein Gedicht mit seiner prägnanten rechteckigen Form, die es nicht immer, aber meistens hat und hier prototypisch angenommen wird, sichtbar ist. Die lyrische Eröffnung beruht auf dem „sichtigen“ (Wiesing) visuellen Kontrast zwischen dem kontinuierenden Grund – in unserem Beispielfall etwa das weiße Papier des Buches, das auf einem Schreibtisch liegt oder auf der Bettdecke – und dem Ereignis der Form des Gedichts, dessen Materialität – seine Kontur, die Schrift und Graphik, die Tintenschwärze usw. – sich abhebt von dem lebensweltlichen Raum, der es umgibt. Durch diesen offensichtlichen Kontrast zu ihrer Umgebung – ihrer nicht-literarischen, lebensweltlichen, aber auch im Unterschied zu ihren Geschwistergattungen Epik und Dramatik – wird die spezifische, zunächst nur äußere Logik von Lyrik wahrnehmbar und zieht dann unter Umständen die Aufmerksamkeit des Betrachters und Lesers auf ihren Binnenraum. Das Gedicht existiert im Raum, es ist da, man kann es sehen. Seine Existenz provoziert eine Alterierung des Raums und durch den Raum. Es stellt einen Einschnitt in die Kontinuität der Welterfahrung dar, eine momenthafte Konzentration der Sinne, eine Verführung von der allgemeinen Wahrnehmung einer alltäglichen, unauffälligen, ja unbedeutenden Szenerie hin zur Fokussierung eines bestimmten Elements innerhalb der Szenerie als etwas, das inmitten der Kontinuität des Hintergrunds als Besonderes hervortritt. Auf ihre räumliche Disposition wird zum Zweck einer Definition von Lyrik in Abgrenzung zu den beiden anderen literarischen Gattungen häufig hingewiesen. Es ist demnach also seine Form, durch die das Gedicht einen Kontrast zu seiner nichtlyrischen bzw. nicht-literarischen Umwelt markiert, resultierend aus der meist in linksbündigem Flattersatz gefassten Sprache (im Hinblick auf die Konkrete Poesie müsste man sagen: Sprachzeichen), deren Zusammenfügung zu Versen und dem dank der blank spaces auffälligen Satzspiegel. Trotz ihrer großen Varianz ist Lyrik meist in Textblöcken bzw. Strophen geschrieben, woraus die traditionelle rechteckige Form resultiert. Sie zeichnet sich tendenziell durch eine relative Kürze aus, sie neigt dazu, den Raum, der ihr zur Verfügung steht, nicht zur Gänze einzunehmen; häufig füllen die Verse die Zeile nicht vollständig aus. Meist zeigen sich einige unbeschriebene Flächen, sei es in Form von Leerzeilen zwischen den Strophen, am Ende der Verse oder durch Leerstellen, also ausgelassene Worte. In der äußeren Gestalt, dem inneren formalen Arrangement, der Typographie, abgesehen von den Figuren und Tropen finden sich schriftbildliche Elemente – lyrische Sprache, zumal Schrift, um die es in dieser Arbeit geht, hat also stets diskursive wie auch ikonische Elemente. Insofern Lyrik Text ist, gibt sie einen Verlauf der Struktur vor, nämlich in der westlichen Tradition von links oben nach rechts unten; und zugleich, insofern sie Bild ist, ist eine solche Richtung nicht unbedingt zu erkennen. In einer Ballade Goethes etwa dominiert die Textkomponente, in der Konkreten Poesie das Bildhaf-
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te. Dass beides gleichzeitig möglich und gerade konstitutiv ist, zeichnet die Lyrik gegenüber ihren Geschwistergattungen aus. Es ist also der visuelle Kontrast zu seiner Umgebung, auf den Boehm abhebt, durch den sich ein Gedicht als Gedicht hervorhebt wobei das, was hier als visueller Kontrast bezeichnet wird, nur der erste und augenfälligste Marker für eine von der Umgebung verschiedene Seinsweise ist. Im Falle der Lyrik ist jedoch festzuhalten, dass nicht nur eine Ikonische Differenz festzustellen ist, die sich auf die Gestalt des Textes bezieht, und die es von dem es umgebenden Hintergrund unterscheidet, sondern dass das Gedicht als solches, samt dieser seiner Gestalt, aus sprachlichen Vorgängen besteht, wenn diese auch bildliche beinhalten. Aus diesem Grund ist es für die Lyrik unzureichend, von einer bloßen Ikonischen Differenz zu sprechen. Man mag nun angesichts oder trotz dieser Sätze zur äußeren Gestalt des Gedichts nun einwenden, dass ein Konzept wie das der Ikonischen Differenz, welches einem bildwissenschaftlichen Diskurs entstammt, nicht ohne Weiteres auf Lyrik übertragbar sei. Legitim erscheint mir dies allerdings allein schon aus dem Grund, dass Boehm selbst sich zum Zweck der Entwicklung der Ikonischen Differenz einer Figur bedient, die aus der Sprache stammt, nämlich der Metapher. Boehm geht davon aus, dass sich die Bildhaftigkeit der Metapher als ein Phänomen des Kontrastes kennzeichnen lässt.21 Dieser Kontrast entstehe durch zwei gegenläufige, aber zusammenlaufende Bewegungen: Zum einen jene Brüche und unüberbrückbaren Sprünge, die ursächlich dafür sind, dass sich die Differenz des in Beziehung Gesetzten auch dann nicht auflöst, wenn sie in Nähe zueinander gerückt werden.22 Zugleich wird diese Differenz aber doch „als eine einzige Sinngröße erfahrbar: etwas wird als etwas sichtbar und plausibel“23. Jenes „als“ impliziert nicht nur einen Kontrast, sondern zeugt ebenfalls von einer Setzung, von einer Abgeschlossenheit, von einer in sich ruhenden und identifizierenden Ganzheit, die es erlaubt, jemanden oder etwas zu erkennen und zwar als etwas zu erkennen. Beide Dynamiken kennzeichnen die Metapher und schreiben ihr ein konstitutives verführerisches Moment ein, das den Leser dazu bringt, ihr auf ihrem uneindeutigen Weg zu folgen – vgl. Merschs Formulierung: „Metaphern sind Wege, sie beschreiben Annäherungen ans Ungesagte“24. Denn „[g]erade die Unvollständigkeit, Offenheit und Vieldeutigkeit ihrer Form involviert den Hörer. Sie gibt affektiven Resonanzen Raum, evoziert Sinn, indem sie Spuren legt, Allusionen erzeugt, para-
21 Vgl. Boehm, Gottfried (1995): Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink, 11-38, hier 29. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. München: Fink, 40 (Hervorhebung im Original).
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doxe Zirkularitäten in Gang setzt usf.“25 Dieses Moment ist irreduzibel; selbst wenn die sinnhafte Verknüpfung, die die Metapher intendiert, gelingt, ist sie „von einer stets gegenwärtigen Hetereogenität begleitet.“26 Es ist der Kontrast, der nicht nur, negativ formuliert, Differenzen markiert, sondern darin auch, positiv gewendet, etwas konstituiert (nämlich, nochmal, etwas als etwas). Es ist dieser Kontrast, mit dem die sprachliche Metapher arbeitet, und den Boehm auch im Bild am Werk sieht.
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Eine andere Argumentation bezüglich der Fruchtbarkeit eines bildwissenschaftlichen Konzepts für die Lyrik ist grundsätzlicher Natur und betrifft das Verhältnis von Bild und Text. Deren Relation ist vielgestaltig.27 Hier geht es jedoch weder um die Bildlichkeit des lyrischen Textes, die durch anschauliche oder uneigentliche Sprache, d.h. durch Tropen und Figuren, durch Sprachbilder und Techniken der Übertragung wie die Metapher oder Allegorie erreicht wird, nicht um sprachliche Verfahren des Vor-Augen-Stellens, auch nicht um die bildliche Beschreibung durch die Ekphrasis, nicht um Bildgedichte, also Texte auf einzelne Kunstwerke oder sonstige Bildlichkeit, die im weitesten Sinne dem Feld der Semantik zugerechnet werden kann. In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich vielmehr auf eine Ebene, die, heuristisch, ‚nicht-semantisch‘ oder ‚das Sprachmaterial betreffend‘ genannt werden kann, wenn ich davon ausgehe, dass ein jedes Gedicht, das als solches erkannt wird, aufgrund seiner äußeren Form sowie seiner Schrift Qualitäten eines Bildes hat. In den mannigfaltigen Werken Konkreter Poesie oder Paul Klees Einst dem Grau der Nacht enttaucht..., die die Frage ‚Was war zuerst da? Der Text oder das Bild?‘ zu beantworten verunmöglichen, wird dies besonders deutlich – wenn diese Frage auch nicht ausschließlich für solche Formen gilt, die man als illustrierte Lyrik, Konkrete bzw. Visuelle Poesie bezeichnet, welche keineswegs erst in der Moderne, sondern schon im Barock in Philipp von Zesens Palmbaum oder Johann Helwigs Sanduhr auftritt, oder für die Experimente des Dadaismus, sondern auch etwa für die mit Leerstellen gespickten Gedichte Jürgen Beckers – vor allem in der Reihe Sommerfilm aus Odenthals Küste – ; für die Gattungsgrenzen strapazierenden
25 Boehm, Gottfried (1995): Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink, 11-38, hier 28f. 26 Ebd., 29. 27 Vgl. zur weiterführenden Lektüre insbesondere Simon, Ralf et al. (Hg.) (2010): Das lyrische Bild. München: Fink.
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Prosagedichte desselben Autors (wie im Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft) oder aber die eines Les Murray; für die Mittelachsenanordnung bei Arno Holz o.ä. Diese ausgesuchten lyrischen Beispiele sind Extremformen, die auf ihre innere und äußere Gestalt besonders stark aufmerksam machen. Jedoch ist die Gestalt in einem Gedicht, das als solches wahrgenommen wird, stets, wenn auch weniger auffällig, von bildlichen Elementen konstituiert. Wenn es hier auch nicht darum gehen kann, eine Gattungsdefinition zu liefern, und eine solche spielt in die Frage nach der äußeren Gestalt von Lyrik immer hinein, ist diese doch oft als genrekonstitutives Kriterium herangezogen und wieder verworfen worden, so beziehe ich mich in dieser Studie auf Texte, die sich durch eine Versform auszeichnen. Diese hatte Burdorf als genredistinktives Merkmal ausgemacht. 28 Leerzeilen zwischen den Strophen, der Satzspiegel und die relative Kürze, Leerstellen zwischen den Worten, die Typographie, Majuskeln, Versbrüche, die Wahl zwischen Groß- und Kleinschreibung, der linksbündig gefasste Flattersatz, die Schriftgraphik usw. sind weitere Merkmale, die bildliche Qualitäten haben und in ihrer Gesamtheit ein Textbild konfigurieren. Damit einher geht die simultane Wahrnehmung von Bild und Text, d.h. dass ein Gedicht – meist bevor es gelesen wird – als Ganzes wahrgenommen wird wie dies bei Bildern geschieht. Sukzessives Lesen Wort für Wort, Vers für Vers, Strophe für Strophe, oszilliert also stets mit dem Eindruck der Gesamtgestalt des Gedichts. Das zeigt sich schon daran, dass die Lesbarkeit (und auch Sprechbarkeit, wenn diese auch nicht mit der Lesbarkeit korrelieren muss, also etwa Sprechpausen nicht zwangsläufig mit den Leerstellen eines Textes übereinstimmen) des Textes nicht von der Wahrnehmung des Bildes zu trennen ist und umgekehrt. Diese angeführten rudimentären Eigenschaften von Lyrik variieren freilich stark, doch können wir hier durchaus von Tendenzen sprechen. Dabei geht es nicht darum, Bild und Text als „konkurrierende, aber letztlich sichere Bezugsgrößen“29 zu behandeln. Eines der Spezifika von Lyrik besteht vielmehr gerade darin, dass Bild und Text hier – wie es übrigens auch für Musik bzw. Klang und Text gilt30 – in einem intrikaten und interagierenden Verhältnis stehen. Dies kann z.B. begründet werden über die Räumlichkeit der Schrift, die einen Raum – die Seite – einnimmt und sich auf je individuelle Weise ausbreitet. Das lyrische Material macht von der Fläche Gebrauch: „Nicht anders als Bilder, stellen auch Texte eine zweidimensio-
28 Vgl. Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler, 10f. 29 Voßkamp, Wilhelm und Weingart, Brigitte (2005): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. Köln: DuMont, 7-22, hier 8. 30 Vgl. die Herkunft des Wortes ‚Lyrik’ von Griech. ‚lyra‘, zu Deutsch ‚Leier‘, die auf eine enge Verbindung von Lyrik und Musik hinweist.
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nale sichtbare Ordnung im Raume dar.“31 Dort konstituiert sie sich durch einen zweifachen Kontrast, nicht nur zu seiner außertextuellen Umgebung, sondern auch durch visuelle Differenzen innerhalb des Textes, die durch dessen Materialität bedingt sind: Die Äußerlichkeit der Schrift, sichtbar durch die Typographie des sprachlichen Zeichens (bzw. die Abfolge sprachlicher Zeichen); das sprachliche Zeichen vor seinem Hintergrund, dem Trägermaterial; das sprachliche Zeichen in der Buchstaben-, Wort-, Vers- und Strophenabfolge samt deren Leerstellen. Das Bildhafte des Textes ist mithin u.a. bedingt durch die Tatsache, dass „Materialien [...] die Bedingung von Mediatisierungsprozessen dar[stellen], [...] jedoch zugleich eine irreduzible Präsenz gegenüber dem [behaupten], was sie zur Darstellung bringen.“32 Speziell für die Literatur weiß Christoph Kleinschmidt des Weiteren: „Das Literarische besteht [...] gerade in der dauerhaften Präsenz des Materials, weil sich Aussage und Ausgesagtes der Literatur nicht voneinander trennen lassen und Literatur nicht in einer referentiellen Funktion aufgeht.“33 Die sinnliche Präsenz des Materials (und zwar nicht nur die den visuellen Sinn ansprechende äußere Form, sondern ebenso der Klang der Worte und Verse), die über eine bloße Repräsentationsfunktion von Abwesendem hinausgeht, wenn sie auch dessen Bedingung ist, findet sich in Lyrik stärker ausgeprägt als in anderen Textgattungen, ja, ohne sie wäre keine Poetische Differenz überhaupt möglich. Auch W.J.T. Mitchell gibt entscheidende Hinweise für die Frage nach der BildText-Relation, wenn er schreibt, alle Künsten seien komposit, bestünden also aus Text und Bild.34 Er erklärt, dass „‚reine‘ Texte, sobald sie in sichtbarer Form geschrieben oder gedruckt sind, auch ganz buchstäblich Visualität [inkorporieren, so wie visuelle Repräsentationen routinemäßig Textualität
31 Krämer, Sybille (2003): ‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Dies. et al. (Hg.): Bild – Schrift – Zahl. München: Fink, 157-176, hier 159. 32 Kleinschmidt, Christoph (2013). Die Literatur, das Material und die Künste. In: Strässle, Thomas et al.: Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Bielefeld: transcript, 69-84, hier 73. 33 Ebd., 75. 34 Vgl. Mitchell, W.J.T. (2008): Bildtheorie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 152. Für die Extremformen der Visuellen oder Konkreten Poesie wäre zu prüfen, ob nicht gar von einer Intrarelationalität zu sprechen wäre. Während eine Interrelation von der Präexistenz der getrennten Entitäten ‚Bild‘ und ‚Text‘ ausgeht, wie Mitchell dies tut, die erst in einem sekundären Prozess in eine spannungsvolle Relation treten, kombiniert werden, sich überschneiden, hybrid werden, ineinander übergehen o.ä., betont deren Intrarelation die Hervorbringung des einen aus dem anderen.
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inkorporieren, J.V.]. Das Medium der Schrift dekonstruiert in jedem Fall, ob aus der Perspektive des Visuellen oder der des Verbalen, die Möglichkeit eines reinen Bildes oder eines reinen Textes, zusammen mit den Oppositionen zwischen dem ‚Buchstäblichen‘ (Buchstaben) und dem ‚Figürlichen‘ (Bildern), von denen sie abhängt. Die Schrift ist, in ihrer physischen, graphischen Form, eine untrennbare Vernähung des Visuellen und des Verbalen, ist der inkarnierte ‚Bildtext‘ selbst.“35
Mitchell beschreibt das Verhältnis von Bild und Text als einen „Ort dialektischer Spannung, des Gleitens und der Transformation“36. Ich stimme darin unbedingt mit ihm überein, schließlich gehört das Oszillieren zwischen Bild und Text zum Gründungsereignis dessen, was ich Poetische Differenz zu nennen vorschlage. Wir können die aus der bisherigen Argumentation resultierende These wagen, dass das Statthaben der Poetischen Differenz, die sich – so meine ich – in jedem Gedicht, das als solches wahrgenommen wird, ereignet, der erste und grundsätzliche Hinweis auch auf dessen Bildhaftigkeit ist. Ein Gedicht könnte dementsprechend als Textbild bezeichnet werden.37
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ALS
E REIGNIS
Das, was das Binnenereignis des Textes ausmacht, also die sprachlich-bildlichen Elemente, ebenso wie Sujet und Motivik, sind historisch variabel und in jedem Gedicht verschieden ausgeprägt, doch über die historische Spezifizität hinaus gibt es das allen Gedichten gemeinsame Strukturmerkmal, das eine differentielle Markie-
35 Ebd., 153. 36 Ebd., 170. 37 Selbstverständlich gibt es andere Argumentationsansätze für die Annäherung an das Text-Bild-Verhältnis als die hier gewählten. So etwa das häufig vorgebrachte Kriterium der Propositionalität. Hierzu sei auf Sandra Richter verwiesen, die fordert, das Kriterium der Propositionalität, die Texten im Gegensatz zu Bildern zukomme, bedürfe einer Revisitation: „Für Bilder wie für literarische Texte gilt, dass sie es mit propositionaler und nicht-propositionaler Erkenntnis zu tun haben. Mit nicht-propositionaler Erkenntnis ist die Erkenntnis des ‚phänomenalen Sosein[s]‘ von etwas gemeint, das einer Anschauung entstammt, die sich nicht oder noch nicht vollständig begrifflich fassen lässt. [...] Dazu zählen etwa Stimmungen, die ein Bild oder ein Text oder eine Kombination aus beidem vermittelt. [...] Für Lyrik gilt die Annahme von der Nicht-Propositionalität in vergleichsweise hohem Grad, weil sie üblicherweise weniger narrativ angelegt, nicht in vollständigen Sätzen verfasst ist und für Anschauung sorgt, etwa Tropen und Figuren kombiniert und mit Ellipsen arbeitet.“37
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rung zur es umgebenden lebensweltlichen Realität und zu ihren Geschwistergattungen Prosa und Drama darstellt, die konstitutiv ist für das Gedicht als Sinn- und ggf. auch als Bedeutungsgefüge. Es zieht eine Differenz ein zwischen sich und seiner Umgebung, es hebt sich von ihr ab. Das Lyrische beruht auf diesem ereignishaften Grundeffekt. „Denn ob etwas für jemanden zum Ereignis wird, hängt davon ab, wie es sich innerhalb von Verhältnissen bemerkbar macht, die selber nicht – oder jedenfalls nicht insgesamt – als ereignishaft wahrgenommen werden. Die Ereignisse, die uns als Ereignisse auffällig werden, sind 38
anderer Art als die Prozesse, die sich ohnehin und überall vollziehen.“
Damit hebt Martin Seel ab auf das für Boehm zentrale Moment des Kontrasts oder des Bruchs, welches die Ikonische und die Poetische Differenz brauchen. Auffällig ist ein Gedicht vor gewöhnlichen, kontinuierenden „Verhältnissen“, die unscheinbar sind, weil sie statisch sind oder sich nur langsam verändern. Inmitten dieses Kontinuums eines Zustands (des Raums oder der Zeit) sind Ereignisse erfahrbar als Brüche und Unterbrechungen. „Überdies geschieht ein Ereignis nicht nur, es widerfährt denen, denen es bemerkbar wird“39, erklärt Seel. Allein, bemerkbar wird es erst im Nachgang, denn: „Ereignisse sind Vorgänge, die in der Zeit ihres Geschehens nicht zu fassen sind.“40 Die Poetische Differenz hat, wie die Ikonische Differenz, rezeptionsästhetische Implikationen insofern der Betrachter eines Gedichts zwischen dem Textraum und dessen Umgebung unterscheidet. Sie ist jedoch keine bloße rezeptionsästhetische Kategorie, sondern sie beschreibt die Merkmale, Grundkriterien und inneren Strukturen, und die darin ansichtige Eigenlogik des Gedichts (die Voraussetzung für dessen Rezeption sind), und damit nicht nur eine phänomenologische, sondern eine ontologische Trennung zwischen dem Gedicht und seiner Umwelt.41 Sie beschreibt also den Vorgang der Gedichtwerdung und zwar rekursiv. Der Bruch mit der Umgebung eines Gedichts beruht v.a., wie schon ausgeführt, auf seiner visuellen Idiosynkrasie, d.h. seinem Erscheinungsbild samt seiner spezifischen poetischen Sprache. Wenn die Poetische Differenz der Versuch einer ersten
38 Seel, Martin (2003): Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Bielefeld: transcript, 3747, hier 38. 39 Ebd., 39 (Hervorhebung im Original). 40 Ebd., 41. 41 Unbenommen ist freilich, dass diese Trennung während des Prozesses der Immersion, welche den Leser ergreifen kann, zuweilen verschwimmt oder vollständig unsichtbar wird.
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Antwort auf die phänomenologisch orientierte Frage ist: ‚Was führt dazu, dass ich ein Gedicht als Gedicht wahrnehme, das aus dem Kontinuum meiner Alltagswahrnehmung, als etwas Herausgestelltes, Differentes heraussticht?‘ So wird die ihr eigene paradoxe Bewegung deutlich: Sie funktioniert ex post, setzt das voraus, was sie konstituiert. Anders formuliert: Dass die Poetische Differenz stattgehabt haben muss, ist erst nachträglich feststellbar, wenn ein Gedicht als Ergebnis verschiedenster poetischer Vorgänge schon existiert. Hier vollzieht sich jene ästhetische Erfahrung, die den Leser wissen lässt, um welche Textform es sich handelt. Sie wird erst manifest in der konkreten Gestalt des Gedichts, das einen Unterschied macht zu seiner Umgebung und zu anderer, nicht-lyrischer Literatur. Dass es eine Poetische Differenz gegeben haben muss, zeigt schon die Reaktion von Lesern, die zu großen Teilen ein Gedicht intuitiv erkennen, wenn sie einem solchen begegnen – Rüdiger Zymner stellt fest, dass es „eine kritische Konstellation zu geben [scheint], ab der ein Text als Dichtung [...] gelesen wird.“42 Eben das ist auf die Poetische Differenz zurückzuführen, die sich u.a. bemerkbar macht durch den Satzspiegel mit den großflächigen Freiräumen, oder durch die Versform. Diese komplexe, rekursive Dynamik, in der Gedicht und Poetische Differenz zueinander stehen, gilt es, mit einigen weiteren Sätzen auszudifferenzieren: Die Poetische Differenz produziert das Gedicht allererst, wie das Gedicht die Poetische Differenz produziert. Wenn ein Gedicht die konkrete Form hat, die wir sehen, wenn wir es als Gedicht wahrnehmen und lesen, dann hat die Poetische Differenz längst stattgefunden und nur durch ihr Statthaben hat das Gedicht die Form, in der es vor uns liegt. Schlagen wir einen Gedichtband auf, beginnen wir, ein Gedicht zu lesen, so ist die Poetische Differenz, das Ereignis der Form, längst geschehen, ohne dass wir dies bewusst erfahren hätten. Gleichzeitig ist es nur möglich, von einer Poetischen Differenz zu sprechen, weil es die konkrete Manifestation des Gedichts als stabilisiertes Resultat schon gibt, durch das wiederum das lyrische Ereignis erst bemerkbar werden kann. Wegen dieser paradoxen Bewegung ist dem Konzept ein Moment der Nachträglichkeit, der rekursiven Ereignishaftigkeit eingeschrieben.43
42 Zymner, Rüdiger (2007): Wie ‚Flaschenpost‘ an ‚Herzland‘ stößt. Biopoetische Aspekte literarischer Kommunikation. In: Ders./Eibl, Karl/Mellmann, Katja (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn: mentis, 425-465, hier 437 (Hervorhebung im Original). 43 Rilke formuliert diesen Umstand so: „Das Ereignis ist unserem Denken und unseren Absichten so weit voraus, daß wir es niemals einholen und seine wahre Erscheinung erkennen können.“ (Zitiert nach: Baudrillard, Jean (1985): Die fatalen Strategien. Berlin: Matthes & Seitz, 198)
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Noch einmal anders formuliert: Das Gedicht wäre kein solches ohne das SichEreignet-Haben der Poetischen Differenz; es kann als Gedicht erst dank der Poetischen Differenz existiert und gesehen werden. Es ist ihr Resultat. Dass ein Gedicht existiert, ist durch sie bedingt. Zugleich gilt: Die Poetische Differenz ihrerseits ist angewiesen auf die Gegebenheit des Gedichts; es macht erst Sinn von ihr zu sprechen angesichts der Existenz eines Gedichts. Jacques Derrida hat dieses möbiusbandartige Verhältnis in dem französischen Wort pas eingefangen.44 Er nutzt in seiner Lektüre von Texten Maurice Blanchots das polysemische Wortspiel aus pas in der Bedeutung des Nomens le pas, zu deutsch ‚Schritt‘, und in der adverbialen Bedeutung pas als Teil der französischen Verneinung ne pas, deren erster Bestandteil in der gesprochenen Sprache meist wegfällt – zu deutsch ‚nicht‘. So ist dem Derrida’schen Schritt eine Negation eingeschrieben, die Aufhebung einer Setzung, die gesetzt gewesen sein wird. Man muss einen ersten Schritt gemacht haben, damit ein zweiter möglich wird, aber der erste ist kein Schritt gewesen, weil erst der zweite sichtbar ist. Zurückgewendet auf das uns interessierende Verhältnis von Gedicht und Poetischer Differenz öffnen sich, noch einmal zusammengefasst, zwei Perspektiven: Es muss sich die Poetische Differenz ereignet haben, dass ein Gedicht existent und ansichtig geworden ist. Erst dank der faktischen Existenz eines Gedichts können wir rekursiv darauf schließen, dass die Poetische Differenz stattgehabt hat, welche eine Textform namens ‚Gedicht‘ erst möglich macht. Zugespitzt könnte man sogar sagen: Sie ruft das Gedicht als Geste oder Effekt hervor; sie bewirkt, dass ein Gedicht im Unterschied zu dem, was kein solches ist, existieren kann. Die Tatsache, dass eine Textform existiert (die, mit Wiesing, „sichtig“ ist), die wir als Gedicht zu bezeichnen pflegen im Gegensatz zu dem, was sie umgibt – das Papier, der Tisch, die Welt usw. –, diese sichtbare Existenz des Gedichts zeugt von der Poetischen Differenz, lässt also retrospektiv darauf schließen, dass diese sich ereignet haben muss. Zugleich: Für ihr Statthaben setzt die Poetische Differenz die Existenz des lyrischen Textes voraus, von der zu sprechen also erst angesichts des faktischen Gedichts möglich ist.45
44 Siehe Derrida, Jacques (1994): Pas. In: Ders.: Gestade. Wien: Passagen, 21-118. 45 Für ein weiteres Beispiel zu dieser Bewegung sei auf Werner Hamacher verwiesen, der sie im Verstehen am Werk sieht. ‚Verstehen‘ ist sich selbst immer schon einen Schritt voraus; es impliziert die Einlösung dessen, was es fordert. Verstehen braucht den Abstand zu dem, was verstanden werden soll, es braucht also Unverstandenes um Verstehen sein zu können. Wenn von Verstehen die Rede ist, gibt es das Noch-Nicht-Verstanden-haben jedoch nicht mehr, es wird dann nicht mehr verstanden, sondern es ist immer schon verstanden worden – und Verstehen ist somit umgeschlagen in Wissen. Aus diesem Grund ist dem Verstehen stets eine Prolepse eingeschrieben, ein ständiger Vorgriff auf sich
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Für das Interesse dieser Studie, das Werden von Gedichten über das Dispositiv der Verführung zu beobachten, bedeutet diese Auffassung – und darin liegt ein weiterer entscheidender Unterschied zu Boehm – dass die Entstehungsprozesse, also in aller Allgemeinheit gesagt: Sprachphänomene, Versverläufe, Reimformen, Bedeutungskonstitutionen usw., untersucht werden müssen, deren Resultat die Poetische Differenz ist. Denn ohne diese Textphänomene oder -strategien, ohne das Sprachmaterial in seiner sinnlichen Präsenz, könnte sie, könnte ein Kontrast zur Umwelt überhaupt nicht statthaben.
J AN W AGNERS
GIERSCH
Die Poetische Differenz produziert die und produziert sich in der Artifizialität eines Gedichts, die aus sprachlichen Prozessen besteht. Die sinnliche Gestalt eines Gedichts, die sich bei einer Rezitation auch in der Wort- und Versbetonung bemerkbar macht, entsteht durch die eigentümliche lyrische Sprache, die ignorant sein kann gegenüber Regeln der Interpunktion, der Grammatik und Syntax.46 Lyrik ist oftmals in einer Sprache gehalten, die eine alltägliche und vertraute sein kann und sie hat ebenso oft auch eine Sprache, die alles andere als das ist. Eine Sprache, in der Worte anders als üblich geschrieben sind und ungewöhnlich klingen, in der Rechtschreibung und Grammatik außer Acht gelassen werden, in der Neologismen auftauchen oder längst veraltete Begriffe, oder in der die Worte in einer von der Normalsprache abweichenden Reihenfolge und Anordnung stehen. Es mag Worte geben, die in einem anderen Zusammenhang als einem sinnhaften stehen, etwa im Reim, der mehr Wert legt auf den Gleichklang als auf semantische Kohärenz, oder, genau umgekehrt, der ein Sinngefüge bildet und überraschenderweise nicht das geringste Interesse für Klangähnlichkeit zeigt, und sich so etwa von vorherigen Ver-
selbst. Verstehen „besteht wesentlich darin, seine eigene Prämisse und so dasjenige zu sein – auf dasjenige auszusein –, was es noch nicht ist.“ (Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 31) Diese Setzung (‚le pas‘) wird ausgesetzt (‚pas‘), wird afformativ (zum Hamacher’schen Begriff des Afformativs siehe das Kapitel Geste – Attraktoren). Zurückgewendet auf unser Beispiel können wir formulieren: Die Poetische Differenz ist immer schon geschehen, wenn ein Gedicht existiert und als solches wahrgenommen wird, genauso wie immer schon verstanden worden ist, wenn man vom Verstehen spricht. 46 Selbstredend handelt es sich bei den hier, zuvor und im Folgenden aufgeführten Charakteristika nicht um genredistinktive Merkmale, sehr wohl aber um Tendenzen der lyrischen Sprache.
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sen abhebt. Es können Begriffe verwendet werden, die eigentlich gängig und vertraut sind, die jedoch nicht mehr die übliche Bedeutung tragen und offen lassen, was sie meinen. Diese in aller Grobheit skizzierte Sprache hat eine bestimmte Qualität, die auch in anderen Gattungen aufscheint, jedoch gehäuft in der Lyrik auftritt.47 Die spezifische Qualität lyrischer Sprache beruht auf semantischer, ebenso wie syntaktischer und phonetischer Abweichung von der Normalsprache. ‚Sinn‘ bezieht sich hier nicht mehr nur auf die Bedeutung von Worten, sondern kann auch durch die Materialität der Sprache entstehen, nämlich durch Laute, Klänge und Rhythmen. Solche Rhythmusgefüge evozieren eine Sinnlichkeit, die der Frage nach inhaltlicher Kohärenz, Kongruenz und Konstanz gegenüber gleichgültig sein kann. Auch wenn sie sich den Regeln der Tradition nicht zwangsläufig und vollständig lossagen muss, folgt poetische Sprache ihrer eigenen inneren Logik, die auf idiosynkratischen Regeln oder auch dem Zufall beruht. Dies wird etwa deutlich, wenn es der Klang des Wortes giersch, dem Jan Wagners Reflexionen in seinem gleichnamigen Gedicht aus dem Jahr 2014 gelten, notwendig macht, dass jener Giersch sich zu dem lautlich verwandten Wort ‚Gier‘ irgendwie verhalten muss: Sei es durch Ignoranz, sei es durch Divergenz, sei es durch Analogie. Notwendig ist es bzw. noch eher geschieht dies unwillkürlich und automatisch, weil der Gleichklang das Wort nun einmal evoziert. Wagner entscheidet sich für die Aufdeckung und Hervorhebung der Analogie beider Begriffe:
47 Es ist bekannt, dass alle Lyriktheorie, die sich an einer Definition versucht, früher oder später an dem Problem der Abgrenzung laboriert, einer Abgrenzung zu anderen Gattungen durch Aufzeigen von Unterschieden – zum Beispiel der sprachlich-stilistischen. Burdorf macht die Abweichung von der Alltagssprache als lyrikcharakteristisches Kriterium aus und verweist auf Roman Jakobsons „poetische Funktion“, die auf die Selbstreflexivität poetischer Sprache abhebt. Jakobson schreibt, Poetizität manifestiere sich dadurch, „daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts [...] empfunden wird.“ (Jakobson, Roman (1979): Poetik. Frankfurt/M: Suhrkamp, 79) Wenn Burdorf sogleich einwenden muss, dies gelte für alle literarischen Texte, so wird die Schwierigkeit deutlich, die spezifisch lyrische, und nicht bloß poetische Qualität von Sprache zu bestimmen. Das Kriterium der Abweichung von der Alltagssprache dient also nicht zu einer verlässlichen gattungstheoretischen Unterscheidung. Insofern das Interesse dieser Studie nicht darin besteht, eine solche zu definieren, kann uns die ‚Abweichung von der Alltagssprache‘ samt der Tendenz zur Selbstreflexivität und Betonung der Sinnlichkeit des Sprachmaterials weiterhin als gewichtiges Merkmal lyrischer Sprache dienen. (Vgl. Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler, 9f.)
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nicht zu unterschätzen: der giersch mit dem begehren schon im namen – darum die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch wie ein tyrannentraum.
5 kehrt stets zurück wie eine alte schuld. schickt seine kassiber durchs dunkel unterm rasen, unterm feld, bis irgendwo erneut ein weißes wider10 standsnest emporschießt. hinter der garage, beim knirschenden kies, der kirsche: giersch als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch 15
geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch schier überall sprießt, im ganzen garten giersch 48
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
Begierde Einige der zuvor angesprochenen Idiosynkrasien poetischer oder, genauer, lyrischer Sprache, insbesondere die Indifferenz gegenüber den Regeln der Groß- und Kleinschreibung, zeigen sich in Wagners Text in Aktion. Auf den ersten Blick auffällig ist die vollständige Kleinschreibung, unabhängig von Wortfunktion (Titel), Wortart (Substantiv) oder Wortstellung (Versanfang). Die Verwandtschaft zur ‚Gier‘ wird bereits im zweiten Vers „mit dem begehren schon im namen“ aufgegriffen und im Laufe des Gedichts ausgearbeitet. Denn das Begehren nach mehr Raum, die Gier nach botanischer Alleinherrschaft, ist für den Giersch konstitutiv. Der Giersch ist eine Pflanze, die aufgrund ihrer Neigung zum Wuchern gemeinhin als Unkraut betrachtet und gefürchtet ist. Er gilt als hartnäckig und lästig, da wegen seiner unterirdischen Triebe kaum bezähmbar und eroberungswütig, schließlich überleben die Samen selbst dann noch, wenn die Pflanze schon längst abgestorben ist. „Im Kampf gegen Giersch zeigt sich die Vergeblichkeit des menschlichen Tuns“49.
48 Wagner, Jan (2014): Regentonnenvariationen. Berlin: Hanser, 7. 49 Wiborg, Susanne (2005): Unkraut gewinnt. Zeit online, 9.6.2005. (19.3.2016)
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Thema des Sonetts, also des in zwei Quartetten mit je vier Zeilen und zwei Terzetten zu je drei Zeilen gehaltenen Textes, ist jene Begierde des Gierschs, möglichst den ganzen Garten einzunehmen. Die Bedeutung der Verbformen „emporschießt“ (11), „schäumen“ (13), „sprießt“ (16) und „verschlingt“ (17) machen dies deutlich. Mindestens ebenso deutlich wird dies aber auch durch die Präponderanz, eben das Wuchern des Lautes [ʃ] in den beiden letzten Strophen. So im zwölften und dreizehnten Vers mit überhängendem Zeilensprung in die letzte Strophe hinein: beim knirschenden kies, der kirsche: giersch als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch geschieht [...]
Der Trigraph ‚sch‘, gesprochen [ʃ], taucht 23 Mal im Gedicht auf. Zählt man die Buchstabenfolgen ‚st‘ (in „widerstand“) und ‚sp‘ (in sprießt), ausgesprochen [ʃt] und [ʃp], sowie den phonetisch ähnlichen Digraph ‚ch‘ (etwa in „durchs“, „kriecht“, „sich“, „nichts“) dazu, so zeigt sich, dass die Ausbreitung des Unkrauts durch Klänge geschieht. G-Laute in „garage“, „giersch“, „geräusch“, „geschieht“, „giebel“, „ganzen garten“, und s- bzw. sch-Laute haben die dritte und vierte Strophe infiltriert, überwuchern die Bedeutungsebene, schieben sich in den Vordergrund und kulminieren im letzten Wort, das zusammen mit dem Titel einen Rahmen um das Gedicht zieht: giersch. Jener Name des botanischen Ungeheuers steht allein in der letzten Strophe viermal geschrieben, jeweils als letztes Wort am Ende eines Verses oder Versteils. Die Akustik der Sprache geht indes nicht in einer symbolischen Dimension auf und zeigt uns, dass die offensichtliche Relevanz des Bild-TextVerhältnisses nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Lyrik nicht nur komposit hinsichtlich Bild und Text ist, sondern dieses Paar um den Klang ergänzt werden muss. Es steht daher zu vermuten, dass die Poetische Differenz nicht nur eine ikonische, sondern auch eine auditive Dimension hat. Insofern stellt das Wagner’sche Sonett exemplarisch die oben angesprochene Sinnkonstitution jenseits der Semantik dar. Stattdessen gelingt sie durch den Klang und Rhythmus von Worten, deren Anordnungen, Verbindungen und Konstellationen. Das Begehren des Gierschs nimmt mehr und mehr zu, bis er nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Materialität der Sprache eingenommen hat. Die Kollaboration von Semantik und Klang hat ihre höchste Verdichtung in dem Ausdruck „kirsch: giersch“ (12), der dank dem Doppelpunkt nicht nur eine einträchtige Komplizenschaft, sondern zugleich eine Kollision suggeriert.
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List giersch ist eines von Jan Wagners Werken aus seinem Lyrikband Regentonnenvariationen, die eingängig vor Augen führen, wie die Natur dem Menschen seine Grenzen aufweist. So aggressiv der Giersch vorgeht, so sehr er im Garten ebenso wie im letzten Teil des Gedichts randaliert, tobt und wütet, so sehr tut er dies im Stillen, auf subtile, langsame („kriecht“ (15)) und unscheinbare Weise, ohne viel Aufhebens und Radau und ohne, dass der Gärtner weiß, wie ihm geschieht. Wenn er in weißer Blütenpracht erstrahlt, in schneeweißen, unschuldigen Blüten, „die so schwebend weiß sind, keusch / wie ein tyrannentraum“ (3-4), verschleiert er gewieft sein Begehren, so als wäre nichts Böses von ihm zu erwarten. Hier, in diesen zwei Versen, zeigt sich die Strategie, die der Giersch verfolgt: Ein Tyrann ist er wahrlich und gibt sich dabei, als könne er kein Wässerchen trüben. Sichtbar sind seine weißen, makellosen, Harmlosigkeit versprechenden Blüten, unsichtbar ist sein Agieren im Dunkeln: Im Unterholz durchpflügen seine rhizomartigen Wurzeln große Strecken unbemerkt, bevor an einer einzelnen Stelle mit voller, unvorhersehbarer („irgendwo“ (9)) Wucht ein neues „Widerstandsnest“ (9-11) hervorsprießt. Aufwühlend, aufrührerisch wie Schaum und Gischt, tritt er dann zu Tage, umso überraschender, als er zuvor notorisch unterschätzt wurde (vgl. 1). Darin besteht seine List: An der Oberfläche seine charmante Unschuld bekundend, agiert er im Stillen („ohne ein geräusch (13)) und unbemerkt („hinter der garage“ (11)), aber umso gewiefter. „wie eine alte Schuld“ (6), die man nicht abschütteln kann, übernimmt er die Herrschaft über das gesamte Terrain („schickt seine Kassiber durchs Dunkel“ (7)). Teil seiner List ist es nicht nur, im unsichtbaren Boden und geräuschlos zu wuchern, sondern auch im Schatten eines großen, ehrwürdigen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Baumes, der Kirsche. Widerständig ist er noch, wenn er sich die Sprache, zumal das Korsett der Sonettform, untertan macht: bis irgendwie erneut ein weißes widerstandsnest emporschießt. (Hervorhebung J.V.)
Der Zeilen-, nein, Strophensprung in der exakten Mitte des Gedichts zeigt: Noch vor den Regeln der Sprache macht der Giersch keinen Halt. Groß- und Kleinschreibung missachtet er ebenso wie die Zusammengehörigkeit von Silben, die sich zu einem Wort formen. Unberechenbar ist er, das zeigt sich schon in der ersten Strophe, und unbeherrschbar, wie uns die letzte wissen lässt. Seine Lebensgier ist so stark, dass sie nicht Halt macht, wenn er den Menschen überwuchert hat – man stelle sich die Hilflosigkeit eines Gärtners vor, wie er ver-
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sucht, mit Schaufel, Harke und Gift dem Giersch beizukommen; doch eigentlich recht selbstzufrieden, wenn von ihm nichts mehr zu sehen ist und im siegessicheren Glauben, er habe den Giersch erfolgreich bekämpft. Weit gefehlt. Auch seinen Wirt, den Garten, und sogar sich selbst verschlingt der Giersch: [...] bis giersch schier überall sprießt, im ganzen garten giersch sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
Seine Gier ist unersättlich und führt sogar zur Selbstverzehrung. Der Giersch hat den Menschen längst zum Objekt und sich selbst zum herrschenden Subjekt erkoren, bis seine Gier ihn zum Autophag macht und eine starre Einteilung in Subjekt und Objekt obsolet wird. Sein ausgeprägtes rhizomartiges Wurzelwerk durchwuchert nicht nur den Boden, sondern ebenso den Text. Wie das schwallartig geschieht, gleichsam als natürliche Konsequenz aus der Natur des Giersch, die mit seiner klanglichen Materialität korreliert, da kann der Leser nur verblüfft zuschauen. Es scheint, sowohl Autor als auch Rezipient sind auf verlorenem Posten wenn sie erkennen, dass sich das Wurzelwerk des Giersch vielfach verzweigt und ausgebreitet hat bis in die kleinsten Erdgänge und die filigransten Faserungen der Sprache hinein. Bemerkbar wird es, wenn es bereits zu spät ist und der Giersch das Gedicht schon eingenommen und überwuchert hat. Im Feuilleton wird Wagners Werk so als allegorische „Gegenwartsanalyse“ auf die Kraft der Natur interpretiert: „Wir können noch so mit den Mitteln der Rationalität unsere Oberflächen zurechtstutzen, wir können alles strukturieren und geradebiegen – am Ende bricht sich die Natur ihren Weg. Und wir können nur stumm erstaunt zuschauen. Der spöttische Blick, den wir dabei zu spüren meinen, kommt nicht von der Natur selbst, sondern ist allenfalls unsere eigene, gerade kräftig ins Stolpern geratene Hybris, die auf uns zurückgespiegelt wird.“
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Was geschieht hier? Was passiert hier eigentlich mit mir? So könnte der Leser sich nach Beendigung der Gedichtlektüre verdutzt fragen. Nicht nur die Natur entgleitet dem Menschen, sondern auch die Sprache, die kulturelle Errungenschaft schlecht-
50 Porombka, Wiebke (2015): Jan Wagner. Der Dichter auf verlorenem Posten. In: Zeit online, 12.3.2015 (22.3.2016). Eine weitere Besprechung von Wagners Gedicht findet sich etwa bei Speicher, Stephan (2015): Jan Wagner. Orgel aus Fönen. In: Zeit online, 4.3.2015 (25.3.2016).
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hin, ist eingenommen, überwältigt vom Giersch. Die Knotenpunkte seines Wurzelwerks, von denen ‚Begehren‘ und ‚List‘ aus dem Dunkel der Erde sichtbar hervorlugen, manifestieren sich auch in der Sprache. Die listige Gier des Unkrauts, dem Jan Wagner sein Gedicht widmet, bedingt die Eigenlogik der letzten Strophe, in der jede der drei Zeilen auf das Wort „giersch“ enden muss. An Jan Wagners Gedicht lässt sich illustrieren, dass und wie lyrische Sprache, ebenso wie der Giersch, mitunter mit Täuschung operiert und unzuverlässig wird. Die klangliche Ähnlichkeit des unreinen Reims aus ‚keusch‘ und ‚Giersch‘ suggeriert die Harmlosigkeit der Pflanze, untermalt von ihren „blüten, die so schwebend weiß sind“ (3) – ein Trugschluss jedoch, wie sich von Vers zu Vers eindringlicher herausstellt. Die von Zeile zu Zeile hartnäckigeren Klangfolgen von [ç]- und [ʃ]Lauten machen das Wabern der Sprache zwischen Materialität und Bedeutung augenscheinlich und unüberhörbar. Der Giersch bietet an, sich auf die Erfahrung zu verlassen, die versichert, dass weiße Blüten ungefährlich und vertrauenswürdig seien. Auf diese Erfahrung ist kein Verlass mehr, genauso wenig wie auf die Sprache, die mittels lautlicher Ähnlichkeit Harmlosigkeit vorgaukelt. Auch die traditionelle Sonettform, die ursprünglich für eine Einheit von Form und Inhalt stand, bevor etwa die expressionistische Lyrik mit dieser Vorstellung brach, bietet eine wohlbekannte Textgestalt, besinnt sich vermeintlich auf eine traditionelle Ästhetik und suggeriert, eine arglose Geschichte zu erzählen, gefasst in eine vertraute, zahme Sprache, während im Inneren der Giersch tobt. Stabilisierungen Ein ‚abgeschlossenes‘, publiziertes Gedicht, als welches Jan Wagners giersch vorliegt, ist beschreibbar als eine Materialisierung verschiedenster Prozesse lyrischsprachlicher Art; die Buchstaben bzw. Buchstabenfolgen g, s und sch („garage“ – „giersch“ – „geräusch“; dritte Strophe) samt ihrer prägnanten Akustik, Rhythmen, Reime, wiederholende Versabfolgen („giersch“ – „giersch“ – „giersch“; letzte Strophe), die Anordnung der Strophen in Sonettform, Wortbedeutungen, eine diegetische Welt, in der der Giersch nach eigenen Gesetzmäßigkeiten herrscht. Es wäre verkürzt, zu behaupten, die Poetische Differenz produziere die sprachliche, visuelle und akustische Form eines Gedichts. Sie produziert vielmehr eine Ontologie, nämlich eine ästhetische Existenzweise namens Lyrik. Sie weist darauf hin, dass etwas in der Welt existiert, das sich unterscheidet von all dem, wovon es umgeben ist und zwar nicht nur durch eine ästhetische Form, sondern viel umfassender (vgl. das Kapitel zum Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität). In der Terminologie von Bruno Latour hätte sie damit Qualitäten einer Präposition, die auf einen Existenzmodus hinweist.
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Um diesen ontologischen Ansatz wäre Boehm zu erweitern, der einen phänomenologischen Ansatz verfolgt, demzufolge Realität und Welt des Bildes in einem Verhältnis des Bruchs stehen. Dass die Poetische Differenz erst nachträglich bewusst erfahren werden kann, gibt Anlass zur Vermutung, dass eine Verführung der Sinne vonstattengegangen sein muss. Im Modus der Verführung wird nicht wahrgenommen, in welcher Existenzweise – zum Beispiel ob in der Realität oder Fiktion – man sich befindet. Wenn die Kontur oder spezifische Sprache eines Gedichts nicht mehr beachtet wird, führt das zur Auflösung der Poetischen Differenz. In diesem Modus hält der Rezipient das Gelesene für wahr und immersiert in die Realität des Textes ohne sich dessen bewusst zu sein. Es ist dieser Moment, in dem der Leser, in der Latour’schen Terminologie, zum Wesen der Fiktion wird. Dies geschieht durch eine Attraktion, die allerdings eine prinzipielle Haltung der Neugier, der Offenheit für Alterierung und Leidenschaft für die Fiktion voraussetzt. Die lyrische Existenzweise ist eine generative, denn im Gedicht gehen ständig Prozesse vor sich, die dieses überhaupt erst generieren. Ihm ist eine implizite Prozessualität inne, die ihre je spezifische Eigenlogik konstituiert. Poetische Differenz ist der Titel für diese Prozesse, die mit der von Boehm für das Bild explizierten phänomenologischen Eröffnung ihren Auftakt haben, sich in weiteren Materialisierungen verdichten, und Sinn, oft auch Bedeutung evozieren, bis das Gedicht als stabilisierter Effekt ebendieser sprachlichen Prozesse instauriert ist. Die Poetische Differenz ist das Angebot einer Kategorie um diese Dynamiken zu beschreiben, sie betrachtet Gedichte also von ihrer impliziten Prozessualität her. Als phänomenologisches und ontologisches Eröffnungsereignis von lyrischer Existenzweise ist sie also auch ein Beschreibungsangebot für Prozesse und Mechanismen, die ein Gedicht organisieren. Mit diesem Ansatz einher geht freilich die Annahme, es könne keine essentialistische Ontologie von Lyrik geben, sondern stattdessen eine prozesshafte, die sich im jeweiligen Gedicht durch eben jene semantischen und materiell-semiotischen Vorgänge konstituiert, die es in der vorliegenden Arbeit zu beobachten gilt, und denen in ihrer Gesamtheit der Titel Poetische Differenz gegeben wurde. Die folgenden Kapitel sind Analysen solchen Werdens. Im Sinne des Nachträglichkeitsmoments formuliert: Die Gedichtanalysen fragen, durch welche Phänomene, Operationen und Strategien das entstanden ist, was wir dann als Gedicht bezeichnen, denn es muss eine Poetische Differenz gegeben haben, die zu dem konkreten Produkt führt, das nun vor uns liegt – beispielsweise in der spezifischen Form des giersch. Hier zeigt sich, dass Lyrik ein Raum der Spannung von sprachlichen, visuellen und akustischen Ereignissen ist, die eine Differenz zu ihrer Umgebung hervorrufen.
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Die von mir vorgeschlagene Begrifflichkeit eignet sich nicht für eine Gattungsdefinition, an der die Lyriktheorie so interessiert ist, bietet aber Aufschlüsse über Phänomene, Strukturen und Prozesse, die Hinweise auf Charakteristika und Idiosynkrasien von Lyrik geben und die in der Theoriebildung zu Zwecken einer Definition herangezogen werden. Es lässt sich also nicht die Kausalkette formulieren: Wenn die Poetische Differenz auftritt, liegt Lyrik vor. Jedoch: Alle Lyrik weist die Poetische Differenz auf. Sie ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für das Vorliegen eines Gedichts. Ihre konstitutiven Phänomene, Prozesse und Strukturen sind jeweils andere, doch ist sie ein strukturelles Moment, d.h. sie tritt, bei aller historisch bedingten stilistischen und motivischen Varianz, auf ihre je eigene Weise durch alle Epochen hinweg auf, als allen Gedichten, die als solche sichtbar werden, gemeinsames und konstitutives, wenn auch sprachlich-bildlich je individuell gestaltetes Gründungsereignis. Methodisch gewendet, stellt sie nicht nur ein phänomenologisches und Ontologie beschreibendes wie auch Ontologie konstiuierendes Moment dar, sondern auch ein Untersuchungsinstrument, mit dem Grundkriterien, Prozesse und Strukturen von Lyrik sichtbar gemacht werden können. Sie bietet eine Reflexion über die Logik von Lyrik, über die Konstitutionsmomente und -dynamiken einer generativen Ontologie von Gedichten, d.h. über die Prozesse, durch die ein Gedicht hervorgebracht wird bzw. wurde. Mit ihr ist noch keine Aussage über symbolische Bedeutungszusammenhänge getroffen, die sie aber auch nicht ausschließt. Sie kann also, insofern sie die innere Struktur von Gedichten betrachtet, Hinweise darauf geben, wie Bedeutung generiert wird, wie Gedichte, im Sinne Bredekamps, zu Bildakten fähig sind, oder, um mit Latour zu sprechen, als Akteur agieren. Eher jedoch als von ‚Bedeutung‘ wäre von ‚Sinn‘ zu sprechen. Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Mechanismen und Dynamiken in der lyrischen Sprache auf die Erzeugung von Bedeutung ausgerichtet sind, auch wenn sie tatsächlich häufig Bedeutung tragen, sondern das, was stets – wenn man solch absolute Aussagen zu treffen wagt –, in Gedichten geschieht, ist die Evokation nicht von Bedeutung, sondern von Sinn als Sinnlichkeit. Dies geschieht auch jenseits der semantischen Dimension, also ohne dass sich die Bedeutung von Worten erschließen muss. Ist nicht längst etwas geschehen, wenn wir angefangen haben, ein Gedicht zu lesen? Nach einigen theoretischen Hin- und Herwendungen und Umkreisungen des lyrischen Texts können wir unsere Anfangsvermutung bestätigen: Es hat sich dann durchaus immer schon etwas ereignet. Etwas, das den vielgestaltigen Einladungen, die innerhalb des lyrischen Textes angesiedelt sind – ein Titel, eine Fragestellung, ein spezifisches Tempus, eine Vorwegnahme, ein expliziter Appell o. ä. – vorgängig ist. Bevor diese Einladungen ihre verlockende Wirkung entfalten können, hat
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sich schon ein Gründungsereignis des Lyrischen vollzogen, dem ich den Titel Poetische Differenz gegeben habe. Als Bedingung der lyrischen Existenzweise findet es auf je spezifische Weise in jedem Gedicht statt, das als solches ansichtig wird. Dieser ersten lyrischen Verführung – nämlich die, sich auf den ontologischen Raum des Gedichts einzulassen, einen Raum, der sich von dem unserer alltäglichen Welterfahrung unterscheidet –, ist man immer schon erlegen, wenn man angefangen hat, zu lesen.
„ NACH EINEM HALBEN L EBEN FAND ICH T ÜR .“ „A CH HIER , WIE LIEGT DIE W ELT S ZENERIEN DES Ä STHETISCHEN
IN DEM B ILD DIE SO LICHT !“ –
Was geschieht nun, so könnte man fragen, nachdem sich die Poetische Differenz ereignet hat? Diese Frage werden die Analysen der folgenden Kapitel in verschiedenen Perspektiven der Verführungsrelation annähern und umkreisen. Grundsätzlich kann man formulieren, dass die Poetische Differenz ‚Szenerien des Ästhetischen‘ eröffnet. Damit gemeint ist die Gesamtheit von distinkten lyrischen Elementen und Strukturen. Auch wenn es in der Geschichte der Lyrik Strategien gibt, die mit dem Zufall spielen, wie etwa bei Mallarmés Coup de dès, so handelt es sich in der Regel nicht um beliebige, sondern geordnete und intendierte Anordnungen, die sich z.B. dadurch auszeichnen, dass sie überprüfbar, also wiederholbar sind, und die historisch variabel, gleichwohl historisch geprägt sind. Diese führen dazu, etwas zu erkennen, z.B. die durch den Satzspiegel eingehegte Gestalt des Gedichts, die durch Leerzeilen bedingte Strophenform, und sie führen dazu, dass sich etwas formiert, z.B. eine Figur des Gedichts oder Inhalte. Um eine ästhetische Szenerie handelt es sich, insofern es im Sinne von Martin Seel nicht um eine allgemeine menschliche Wahrnehmung als solche (aisthesis) geht, sondern um eine spezifische Form der Wahrnehmung, die sich durch Selbstbezüglichkeit und Vollzugsorientiertheit der Wahrnehmung auszeichnet. 51 Vollzugsorientiert ist ästhetische Wahrnehmung, weil sie um ihrer selbst willen geschieht. Wenn sie also auch Mittel zu einem Zweck sein kann, so ist sie doch vor allem selbstzweckhaft. Mit dem zweiten Charakteristikum ästhetischer Wahrnehmung, der Selbstbezüglichkeit, ist „eine spürbare Gegenwärtigkeit des Wahrnehmungsvollzugs“52 gemeint. Der Wahrnehmende spürt, hört, riecht, sieht, schmeckt
51 Siehe weiterführend insbesondere Seel, Martin (1996): Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M: Suhrkamp und Ders. (1993): Zur ästhetischen Praxis von Kunst. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink, 398-416. 52 Seel, Martin (1996): Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt/M: Suhrkamp, 55.
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beispielsweise die Natur auf einem Waldspaziergang und verweilt – zeitlich und räumlich – in seiner Fähigkeit des Spürens, Hörens, Riechens, Schmeckens. Er nimmt den Prozess oder Akt seiner Wahrnehmungstätigkeit wahr und hat ein nichtreflexives, sondern „spürendes [...] Bewusstsein der Aufmerksamkeit für das jeweils Wahrgenommene“53. Es eröffnet sich also der Zugang zu szenisch geordneten ästhetischen Elementen, die wir im Sinne Latours als Akteure bzw. Aktanten bezeichnen können. Diese sind in einem Gedicht auf je individuelle Weise ausdifferenziert, d.h. es bietet sich eine spezifische Szenerie. Spezifisch ist sie, insofern es ‚Trigger‘ gibt, die dazu verführen, einem bestimmten Wahrnehmungsvollzug zu folgen. Dies geschieht zum Beispiel, indem man einer Perspektive folgt, sich in eine Figur hineinversetzt oder sich auf eine Konstellation einlässt. Als ein solcher Trigger können viele der im letzten Kapitel betrachten Strukturen fungieren, wie etwa die zuvor ziterten Wagner’schen Fragen zu Anfang eines Gedichts: „was war so blau wie abende im herbst /oder schwarz wie die bibel?“. Auch die auffällige Form oder Typographie eines Gedichts, eine unverständliche Sprache, ein Paratext, spezifische Tempi, Aufforderungen u. dgl. m. Über sie steigen wir ein in eine Szenerie, in der wir einem Akteur begegnen und bis zum Ende des Gedichts folgen (und gedanklich vielleicht sogar darüber hinaus), um mitzuerleben, wie er sich entwickelt, was ihm widerfährt oder welche Krisenerfahrung er macht, ähnlich dem lyrischen Ich in Mörikes Die Geister am Mummelsee, Benns Ein Wort, Trakls Verfall o.ä. Heuristisch gesprochen tritt die Poetische Differenz, auch wenn sie geschehen ist, in dem Maße zurück, in dem sich der Leser in die Diegese hinein bewegt, weil er in sie immersiert, etwa indem er sich mit einer Figur des Textes identifiziert. D.h. in dem Moment, in dem man ein Gedicht wahrnimmt, ist die Poetische Differenz nicht mehr thematisch, sie hat sich zurückgezogen – gleichwohl sie die Existenz des Gedichts ebenso wie, rezeptionsästhetisch gedacht, unsere Wahrnehmung dessen erst ermöglicht und bewirkt hat. Der Bruch zwischen dem Existenzraum des Lesers und dem diegetischen ist verschwunden. Man hat eine Türschwelle übertreten, so könnte man sagen, ohne es bemerkt zu haben. Darin geht es dem Leser wie dem lyrischen Ich in Hendriks Rosts Furor: 1
Voller Wut ging ich das halbe Leben lang spazieren und kam bis zu Friedrichs Gemälde vom Nebelmeer,
Seel weist darauf hin, dass mit der „Selbstbezüglichkeit“ keine „Selbstrückbezüglichkeit“, d.h. keine Thematisierung des Geschehens der Wahrnehmung gemeint ist. (Ebd., 54f.) 53 Ebd., 55.
112 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK nach einem halben Leben fand ich in dem Bild die Tür. Dahinter war es laut und hell, es war heftig, war klar 5
hinterm Überdruss, und Schluss war mit Promenieren. Die Wut, Caspar David, sie war dunkel und stumm, doch was im Dunklen war, hinterm Dunst ist es klar, ist licht jenseits der Tür. Jeder wird älter. Wer überlebt
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und sie durchschreitet, die Allegorie, wer älter wird als alle, alle Rage, der schließt hinter sich das Bild.54
„Voller Wut“ war das lyrische Ich, das mindestens auf eine Hälfte des Lebens (Hölderlin) zurückblickt, und vielleicht auch ein wenig einsam wie der Mönch oder wie der Wanderer über dem dunklen, dunstigen Nebelmeer – solange bis es endlich in dem Bild die Tür fand. Dahinter lag die Welt grell und schrill, fordernd, in Eile und Hetze, aber auch ein bisschen licht und klar für denjenigen, der sich die Gelassenheit bewahrt, den allegorischen Nebel zu durchgehen bis die Wut sich aufgelöst hat. Der Artikel von Hendrik Rost in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gibt Hinweise darauf, dass er ein autobiographisches Gedicht geschrieben hat – und doch wieder nicht.55 Rost schreibt über das Schreiben, über seine Erinnerung, über den Alltag als Familienvater, als Ehemann, als Angestellter, als Poet. Ist also das lyrische Ich ein Mönch am Meer? Oder aber ist das lyrische Ich Rost? Nehmen wir letzteres an, so können wir eine Verschachtelung, ja eine mise en abyme erkennen: Der Leser öffnet die Tür zum Gedicht Rosts; dem Autor des Gedichts, Hendrik Rost, öffnet sich als lyrisches Ich die Tür zu Friedrichs Mönch am Meer oder Wanderer über dem Nebelmeer56; diesem eröffnet sich, am Strand oder auf einem Fels stehend ein Raum der Natur, der ein Gefühl der Einsamkeit oder des Erhabenen auslösen mag. Jedoch schreibt Rost explizit, er sei „kein Mönch am Meer“57. Gleichviel also, wer sich hinter dem lyrischen Ich verbirgt, und ob sich da überhaupt jemand verbirgt, Furor jedenfalls ist lesbar als ein Denkbild, das einen Moment einfängt und stillstellt, damit man ihn betrachten kann. Den Moment, wenn die Poetische Differenz geschehen und in den Hintergrund getreten ist, und sich der Leser in den Text
54 Rost, Hendrik (2016): Furor. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frankfurter Anthologie. Online Ausgabe, 15.4.2016 (18.4.2016). 55 Vgl. ebd. 56 Im Gedicht spricht Rost Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer an; in seiner Besprechung des Gedichts in der FAZ bezieht er sich auf den Mönch am Meer. 57 Ebd.
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hineinbewegt, durch eine Tür, die nicht als solche wahrgenommen wird. Der Auslöser ist bei Rost die Montage des Verses „fand ich in dem Bild die Tür, / Dahinter war es laut und hell“ (3-4). Für das lyrische Ich besteht der Trigger, so können wir annehmen, in der Rückenansicht des Mönchs bzw. Wanderers, die dazu verleitet, dessen Wahrnehmungsvollzug zu folgen, indem man die gleiche Position einnimmt. Genauso nachvollzieht der Leser den Gang des lyrischen Ichs durch die Tür des Bildes, wenn er in es hineinschlüpft, sich auf es einlässt. Selbst die Leerzeile zwischen den Strophen, die nochmal die Poetische Differenz in ihrer Materialität spürbar werden lässt, ändert nichts daran, ja, sie zeigt, dass die Immersion dennoch funktioniert. Der Leser sieht, was das lyrische Ich sieht, das heißt, was der Mönch oder der Wanderer wahrnimmt, nämlich den bleischweren grauen Himmel, dicken Nebel, dann grelles Licht (4); was es hört, nämlich Krach (ebd.) und Schweigen (7); was es empfindet oder erfährt, nämlich Wut und die Enge des Gehetztseins (1 und 5), während der Mönch wohl Weite, Einsamkeit und das Erhabene erfährt. Es tut sich eine Szenerie des Ästhetischen auf, die Vers für Vers, Strophe für Strophe konkretere Formen annimmt, an deren Ende sich ein allegorisches Verhältnis zwischen der Situation der Friedrich’schen Figur, der Rost’schen Figur und der des Lesers herausgebildet hat. Auf einen ähnlichen Gang, bloß, dass Mörikes Gedicht nicht, wie das von Rost, die Bewegung in den Text (bzw. ins Bild) hinein zum Thema hat, begibt man sich auch im folgenden Text von Mörike, in dem sich der Protagonist Auf einer Wanderung – und im gleichnamigen Gedicht – befindet. Auch hier folgen wir einer menschlichen Figur, die eine Immersion relativ leicht ermöglicht, doch kann sie auch weniger subjektverdichtet funktionieren. In den Analysen der nächsten Kapitel dieser Studie geht es, wie hier, darum, aufmerksam zu sein. Aufmerksam für das Vonstattengehen der Immersion in den Text, für das ‚Eintreten‘ in die Diegese und damit auch für die Praxis des Umgangs mit Texten – und das in je spezifischen lyrischen Versuchsanordnungen.
1
In ein freundliches Städtchen tret ich ein, In den Strassen liegt roter Abendschein. Aus einem offnen Fenster eben, über den reichsten Blumenflor
5
Hinweg, hört man Goldglockentoene schweben, Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor, Daß die Blüten beben, Daß die Lüfte leben, Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.
10
114 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Lang hielt ich staunend, lustbeklommen. Wie ich hinaus vors Tor gekommen, Ich weiß es wahrlich selber nicht. Ach hier, wie liegt die Welt so licht! 15
Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle, Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch; Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle! Ich bin wie trunken, irrgeführt O Muse, du hast mein Herz berührt
20
Mit einem Liebeshauch!58
Das 1845 entstandene Gedicht beschreibt zunächst eine Naturszenerie. Eine idyllische Landschaft samt Bach und Mühle, die sich – so lassen die Worte „wie liegt die Welt so licht“ (14) vermuten – durch Weite und Helligkeit auszeichnet. Jedoch handelt es sich kaum um eine unberührte Landschaft, sondern um eine bebaute, bewirtschaftete und bewohnte, schließlich liegt sie vor den Toren einer kleinen Stadt. Der Titel macht den Anlass der Begegnung zwischen lyrischem Ich und dem Städtchen deutlich. Es befindet sich Auf einer Wanderung, im Zuge derer es eine im Abendlicht liegende Stadt erreicht – davon zeugt das Farbenspiel aus Rot, Purpur und Gold (2, 15, 16). Es schildert, was es tut und wahrnimmt, es tritt ein in die ihm „freundlich“ erscheinende Stadt (1), die Straßen sind in rötliches Licht getaucht (2), es sieht ein offenes Fenster (3), aus dem Glockenläuten klingt (5), ihm fallen rot leuchtende Blüten auf. Sodann findet es sich wieder vor dem Stadttor (12), hat jedoch jegliche Erinnerung verloren, wie es dorthin gekommen ist (12-13). Es steht nun mit dem Rücken zum Städtchen (16), hört das Rauschen des Baches und der Wassermühle im Hintergrund (17) und blickt auf die sich vor ihm ausbreitende Landschaft. Die äußere Form des Gedichts ist durch eine Leerzeile markiert. In zwei Strophen geteilt, mit einmal neun, einmal zehn Zeilen, zeichnet sich der Text vor allem durch ein variierendes Reimschema aus. Die beiden Strophen sind auch semantisch getrennt. So betritt der Wanderer im ersten Abschnitt die Stadt, er kommt also aus der Natur und tritt durch das Tor in die Stadt ein, während er sich in der zweiten Strophe wieder vor den Toren der Stadt befindet, mit dem Rücken zu ihr steht und
58 Mörike, Eduard (2003): Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe. Im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg und in Zusammenarbeit mit dem Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Hg. v. Krummacher, HansHenrik/Meyer, Herbert/Zeller, Bernhard. Stuttgart 1967ff. (HKA). Bd. 1,1: Gedichte. Ausgabe von 1867. Erster Teil: Text, 157.
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sich vor ihm die Natur ausbreitet. Diese scharfe Trennung stimmt jedoch nur scheinbar, denn die erste Zeile der zweiten Strophe gehört thematisch noch zur vorherigen: Der Vers „Lang hielt ich staunend, lustbeklommen“ (11) bezieht sich noch auf den Aufenthalt innerhalb des Städtchens. Die Leerzeile zwischen beiden Abschnitten markiert also im Schriftbild einen Hiatus, der thematisch jedoch nicht hier vollzogen wird, sondern erst nach dem folgenden Vers, und somit in die zweite Strophe verschoben ist. Diese, die fehlende Korrelation von äußerer Form und vermitteltem Inhalt markierende Stelle stellt das Irritationsmoment schlechthin des Gedichts dar. Sie setzt das um, was auf semantischer Ebene geschieht: Die Perturbation der Sinne. Der Kern des Textes nämlich dreht sich um das, was in der Zwischenzeit geschehen ist, in der Zeit zwischen dem staunenden, lustbeklommenen Innehalten des Wanderers vor dem offenen Fenster in der Stadt und seinem Zusich-Kommen vor den Stadtmauern. Der Sprecher des Gedichts weiß es nicht, er hat keine Erinnerung. Diese Leerstelle ist topographisch gerahmt durch das Enjambement von Zeile 4 zu Zeile 5 („Blumenflor/Hinweg“), welches das sodann folgende ästhetische Ereignis einläutet – das Ertönen eines Nachtigallenchors – , und den Satzpunkt von Vers 11, der das thematische Ende der Immersion markiert, gefolgt von der Überlegung, wie das lyrische Ich zurück vor das Stadttor gelangt ist. Nach der ersten Zeile ist der Wanderer von der Atmosphäre des Städtchens gefangen genommen. Da sind zum einen die Straßen samt Häuser mit dem geöffneten Fenster vor einem blühenden Beet. Da erhebt sich zum anderen eine weitere Ebene darüber, über den Blumenflor, angesichts des Verbes „schweben“ (5) mag man gar sagen, eine zweite Sphäre, die voller Wohlklänge aus Glockenläuten und Gesang von Nachtigallen ist. Offen bleibt, ob sie der Imagination des Wanderers entspringt oder innerhalb der Welt des Gedichts real ist – oder beides der Fall ist und die Phantasie des lyrischen Ichs die gegebene Szenerie noch potenziert. Für ersteres spricht nicht zuletzt das Verb „scheint“ (6), das von der Unsicherheit des lyrischen Ichs zeugt, dem, was es wahrnimmt, Faktizität zusprechen zu können. Für letzteres spricht der unpersönliche, Objektivität suggerierende Ausdruck „hoert man“ (5), der nahe legt, dass der Wanderer nicht der Einzige ist, der die Klänge vernimmt. Allerdings kann das hier verwendete Indefinitpronomen „man“, im Gegensatz zu dem im ersten Vers der ersten Strophe und im ersten Vers der zweiten Strophe auftretenden „ich“, auch als Ausdruck der Unsicherheit über das eigene Bewusstsein gedeutet werden. Der Wanderer scheint zu zögern, mit dem Wort „ich“ die klare Aussage zu konstatieren, dass tatsächlich er derjenige ist, welcher dort im Eingang der Stadt steht, sehend, hörend, was sich vor ihm abspielt. Dies kann als erster Hinweis auf seine Verfassung gelten, die sich im Laufe des Gedichts zu einem ‚Außer-sich-Sein‘ steigert. Nachdem die ersten Verse zunächst keine ungewöhnlichen Geschehnisse erwarten lassen, schließt sich sodann eine außerordentlich starke, sinnliche Erfahrung des
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lyrischen Ichs an. Der Wandersmann wird in einen anderen Existenzmodus versetzt, der nicht den Gesetzen unserer Realität unterworfen ist. Doch selbst dort herrscht Unzuverlässigkeit: Die Sinne des Wandersmanns sind derart getrübt, dass ihnen nicht zu trauen ist. Es wird nicht konstatiert, dass ein Nachtigallenchor singt, sondern dass die Stimme nur wie einer scheint. Gleichviel, die Szenerie ist von solcher Intensität, dass die Frage, ob das lyrische Ich sie sich bloß einbildet oder sie tatsächlich geschieht, geradezu obsolet ist. Tempuswechsel betonen den Positionswechsel des lyrischen Ichs. Herrschte in der ersten Strophe noch das Präsens vor, als handle es sich um einen Erlebnisbericht, der sich im Moment des Erzählens ereignet, so wechselt zu Beginn des zweiten Abschnitts das Tempus ins Präteritum („Lang hielt ich staunend, lustbeklommen“ (11)). Da dieser Vers, wie gesehen, diskursiv jedoch noch zur ersten Strophe gehört, wird die Dauer des Aufenthalts in der Stadt sowie dessen Eindrücklichkeit und Nachhaltigkeit betont. Fortan wechselt das Tempus erneut ins Präsens („Ich weiß es wahrlich selber nicht“ (13); „Ach hier, wie liegt die Welt so licht!“ (14); „Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle“ (15)), bevor das Perfekt das Gedicht beschließt („O Muse, du hast mein Herz berührt“ (19). Unklar bleibt – und hier sei einmal mehr auf den Vers „Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch“ (15) verwiesen sowie auf die in Vergangenheitsformen gehaltenen Verse „Lang hielt ich“ (10) und „du hast mein Herz berührt“ (18; Hervorhebungen J.V.) – unklar bleibt, ob das lyrische Ich im Rückblick von seinem Erlebnis erzählt und so sehr davon vereinnahmt wird, dass ihm die Koordinaten von Raum und Zeit entgleiten und es in das Geschehen zurückkatapultiert wird, oder ob sich das Erlebnis im hic et nunc tatsächlich ereignet. Möglich also, dass Mörike sein lyrisches Ich retrospektiv von seiner Erfahrung berichten lässt oder dass es dies im Moment der Erfahrung tut. Letzteres zu denken gibt die Verwendung des Präsens in dem Satz „Wie rauscht der Erlenbach“ (16) und „Ich bin wie trunken“ (17; Hervorhebung J.V.) Anlass. Die Tempuswechsel zeugen von einem Verlust des Raum-ZeitGefühls. Der Wanderer ist wie hypnotisiert, die Dimensionen von Raum und Zeit geraten ins Wanken, sind verschoben, durcheinandergeraten. Solcher Schwebezustand illustriert die verschwommene, trunkene Wahrnehmung des lyrischen Ichs, die nicht uneingeschränkt positiv konnotiert ist, wie das Oxymoron „lustbeklommen“ (11) andeutet. Es empfindet größte Lust und zugleich Beklommenheit, resultierend aus dem Verlust der Ratio und der Orientierungslosigkeit, und damit eine gewisse Hilflosigkeit angesichts fehlender Kontrolle über die Situation und die eigene Rolle darin zur Folge hat („trunken, irrgeführt“ (18)). Das sich in der Stadt vollziehende Schauspiel macht etwas mit dem Wanderer, es affiziert dessen Sinne derart – der Blütenduft betört ihn, die Musik steigt ihm gleichsam zu Kopfe –, dass die Realität für ihn eine andere, eine modifizierte ist. In einer Klimax kulminieren die letzten drei Verse des ersten Abschnitts:
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Daß die Blüten beben, Daß die Lüfte leben, Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.
Die Anapher ist aus mehrerlei Gründen von solcher Nachdrücklichkeit. Erstens, aufgrund der Kürze der Verse. Zweitens, weil die kausale Konjunktion „Daß“, die dreimal wiederholt wird, ausgerechnet eine ist, die eine Aussage markiert, und damit die Faktizität des Geschehens hervorhebt, während zugleich Personifikationen behauptet werden (bebende Blüten, lebende Lüfte), die in der ‚Realität‘ keinen Bestand haben. Drittens, wegen der ungewöhnlichen Satzstellung des letzten Verses, der aufgrund des letzten Wortes seltsam elliptisch bleibt, schließlich müsste es doch grammatikalisch korrekt heißen ‚Daß in höherem Rot die Rosen leuchten hervor‘, wenn schon nicht ‚Daß in höherem Rot die Rosen hervorleuchten‘. Die Rosen haben eine andere, eine intensivere Farbe als gewöhnlich. Jedoch ist nicht die Rede von einem stärkeren Rot, sondern von einem „höheren“. Hier ist erneut die Assoziation mit einer zweiten, mystischen Sphäre, die über den Häusern schwebt, nicht weit. Die Natur gerät in Bewegung. Blüten beben ebenso wie der Wanderer selbst, die Luft ist animiert, mit Leben gefüllt, der Himmel ist voller „Gewühle“ (15). Das lyrische Ich hört, sieht, riecht, fühlt. Seine Eindrücke steigern sich zu einem synästhetischen Erlebnis. Nehmen wir nun zu den zuvor zitierten Zeilen noch den sechsten Vers hinzu, Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor, Daß die Blüten beben, Daß die Lüfte leben, Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor [,]
so offenbart sich en passant das Reimschema. Es handelt sich um einen umarmenden Reim, der jedoch nicht im gesamten Gedicht vorherrschend ist. Außerdem wird die Ursache für das ungewöhnliche Geschehen deutlich: Die Rosen leuchten in stärkerem Rot, die Lüfte sind lebendig, die Blüten zittern, weil eine einzelne Stimme wie ein Nachtigallenchor erklingt. Diese einzelne, aber so mächtige Stimme vermag es, die Natur zu beeinflussen, zu alterieren, und versetzt dadurch das lyrische Ich in Staunen. Der Glockenklang verdreht ihm derart den Kopf und beeindruckt seinen Verstand, dass er sich nicht mehr an sein Handeln erinnern kann. Es entsinnt sich nicht, dass es seinen Platz vor dem Fenster innerhalb der Stadt verlassen hat und vor das Tor gegangen ist. Einzig ist ihm bewusst, dass es eine Weile („Lang“ (11)) dort innegehalten hat. Doch auch hier, vor den Pforten der Stadt, kommt der Wanderer nicht recht zu sich selbst, sondern nimmt die Landschaft, die sich vor ihm auftut und die er auf
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dem Hinweg bereits durchschritten hatte, ohne sie zu erwähnen – setzt das Gedicht doch erst beim Eintreffen in die Stadt ein –, diese Landschaft also, der zuvor noch mit keinem Wort gedacht wurde, fällt ihm nun auf, er nimmt sie sehr intensiv wahr. Steigerte sich im Verlauf der ersten Strophe das Rot der Abenddämmerung zu einem leuchtenden Rosenrot, so wird es im zweiten Abschnitt gar zu Purpur. Heller erscheint ihm die ganze Welt. Leuchtender sieht er die Blumen, die Stadt und den Himmel. Lauter tritt das Rauschen des Bachs und der Wassermühle an sein Ohr. Die Anapher im Vers „Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle!“ (17) unterstreicht die außerordentliche Steigerung seiner Sinne. Die Exklamationen, „Ach hier“ (13) und „O“ (18) sind Seufzern ähnlich und untermalen die Betörung des lyrischen Ichs. Im drittletzten Vers des Textes spricht es dann endlich aus, was ihm widerfahren ist. Ich bin wie trunken, irrgeführt -
Und doch verweist auch hier noch das kleine Vergleichswort „wie“ auf sein Zögern. Es stellt nicht fest, dass es trunken und in die Irre geführt worden ist, sondern sich bloß so fühlt, als wäre es das. Noch hier weiß es nicht, wie ihm geschehen ist, wie es dorthin gelangt ist, wo es sich befindet, warum ihm so schwindelig ist. Noch hier ist offen, was passiert ist, wie der Gedankenstrich untermauert. Erst in den letzten beiden Zeilen des Gedichts wird ihm das schließlich bewusst. Es ist in den Bann der Muse geraten, sie hat sein Herz berührt und verzaubert.
O Muse, du hast mein Herz berührt Mit einem Liebeshauch!
Der Vers „Ach hier, wie liegt die Welt so licht!“ (14) illustriert, dass die ästhetische Wahrnehmung des Wanderers affiziert ist; er nimmt die Geräusche und Farben intensiver wahr. Außerdem spürt er. Er fühlt Atmosphären und nimmt das Städtchen als „freundliches“ (1) wahr, er spürt das Beben der Blüten (7), das Leben der Lüfte (8), sein Herz ist berührt (19), es fühlt sich wie trunken (18). Er ist berührt. Es scheint, es ist mehr als bloß seine Wahrnehmung betroffen, die Situationen kaum mehr als flüchtig registriert, sondern das Subjekt ist affektiv berührt und zu einem spürenden, empfindsamen geworden. Wenn Mörikes lyrisches Ich Erinnerungslücken hat und nicht mehr weiß, wie es vor das Stadttor gelangt ist, nicht mehr Herr seiner eigenen Schritte ist, die ihn eben dorthin gebracht haben, wenn es nicht auf seine Erfahrungswerte und sein Wissen zurückgreifen kann, so ist das, was hier geschieht, derart umfassend und mächtig, dass es sowohl die ästhetische Wahrnehmung modifiziert als auch das ästhetische Empfinden affiziert und sogar die ästhetische Erfahrung betrifft. Die Perturbation
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der Sinne ist vollkommen. Bis zu dem Moment, in dem der Wanderer realisiert, dass er vor dem Stadttor steht, sind ihm jegliche Raumkoordinaten abhanden gekommen – so sehr, dass eine stabile Konfiguration von Realität und Virtualität unmöglich ist. Nicht nur die Umwelt des lyrischen Ichs ist aus den Angeln gehoben, seine eigene Ver-ortung in ihr noch dazu. Dem Wanderer ist es nicht vergönnt, das Geheimnis des Ortes zu enthüllen. Er weiß nicht, was und wie ihm geschah, weiß nicht, was Realität, was Imagination ist. Mit dem Verstand kann das Mysterium des Ortes nicht eingeholt werden. Das, was dem lyrischen Ich hier geschieht, ist von solcher Intensität, weil seine Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung zugleich betroffen sind. Seine Wahrnehmung ist modifiziert, seine Sinne sind abgelenkt, seine Empfindungen verändert, sein Verstand setzt aus, Urteilsfähigkeit, Logik und Ratio sind suspendiert. Geräusche sind nicht mehr wie sie gewöhnlich für das lyrische Ich klingen; Stimmen haben keine Ähnlichkeit mehr mit denen, die es bisher kannte; der über der Stadt liegende Dunst ist nicht mehr weißlich, sondern golden verfärbt; das Dämmerlicht ist heller als es normalerweise zu dieser Tageszeit der Fall ist; die Röte der Blumen ist unnatürlich intensiv. Diese Eindrücke können mit empirischem Wissen nicht abgeglichen, mit dem Verstand nicht überprüft und systematisiert werden. Sie lösen Affekte in ihm aus („Ich bin wie trunken, irrgeführt“ (18)). Daraus folgt der Kontrollverlust über die eigenen Handlungen samt dem Verlust der Erinnerung. Konrad Paul Liessmann unterbreitet ein Theorieangebot, das mir dazu dient, die Begriffe der ästhetischen Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung, mit deren Hilfe Gefühle charakterisiert werden können, zu unterscheiden.59 Eine ästhetische Erfahrung ist das Resultat eines komplexen Vorgangs, in dem die Urteilskraft angetriggert wird und sie das, was zuvor wahrgenommen wurde, verarbeitet, ordnet, systematisiert, beurteilt, mit bisherigem Wissen abgleicht und als neues Wissen speichert, abrufbar macht und eine nachhaltige Orientierung in der Welt bietet. So kann ästhetische Erfahrung „an einem Menschen eine dauerhafte Zustandsveränderung“60 herbeiführen, weil die Selbst- und Weltwahrnehmung sich geändert hat, destabilisiert und wieder neu gefestigt wurde. In einer ästhetischen Wahrnehmung dagegen geschieht ‚weniger‘, sie stellt eine erste Begegnung dar; ihr eignen flüchtige Momente, in denen die Aufmerksamkeit Objekte, Situationen oder Erscheinendes registriert.61 Sie geschieht wesentlich häufiger als ästhetische Erfahrung, bedingt
59 Es geht mir hier, in dieser Studie, nicht darum, Seel und Liessmann durch den Hinweis auf ästhetische Theorien, die nicht subjektbezogen sind, zu kritisieren. 60 Liessmann, Konrad Paul (2009): Ästhetische Empfindungen. Wien: Facultas Verlag, 17. 61 Vgl. zum Begriff des Erscheinenden Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser.
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diese und zeugt von einer Unmittelbarkeit und Beiläufigkeit, die noch nicht reflexiv verarbeitet und daher noch nicht mit ‚Bedeutung‘ im emphatischen Sinne versehen ist. Liessmann konstatiert, mit dem Terminus der ästhetischen Erfahrung könnten „die basalen und alltäglichen Begegnungen mit dem Ästhetischen nicht beschrieben werden“62. Mit diesem sei „immer schon zuviel verlangt, als daß man damit das erfassen könnte, was sich zuträgt, wenn jemand die neueste Fernsehsendung witzig, den letzten Song von Madonna langweilig oder die jüngste Produktion einer Mozartoper in den Salzburger Festspielen hinreißend findet.“63
Dem Begriff der ästhetischen Wahrnehmung auf der anderen Seite eignet eine Beiläufigkeit, die zu wenig ist, als dass sie eine affektive Reaktion auf Dinge oder Situationen beschreiben könnte. „Denn die Frage, warum angesichts einer Vielzahl von Gesichtern ein Antlitz als ästhetisch interessant wahrgenommen wird, während der Blick über die anderen hinweggleitet, muß damit zu tun haben, daß schon auf einer unmittelbaren Ebene das Wahrgenommene etwas in uns auslöst, was die Wahrnehmung überschreitet“64
und gleichwohl noch nicht so stark wie eine Erfahrung ist. In der Folge macht Liessmann die Notwendigkeit eines Beschreibungsmodells aus für dasjenige, was nicht nur flüchtig wahrgenommen wird, aber die Affekte erregt und die Sinne anstachelt65, ohne dass „es schon zu einer komplexen Erfahrung oder zu einem nachhaltigen Erlebnis wird“66. Damit bezieht er sich auf Situationen, in denen die Aufmerksamkeit für einen Moment hängen bleibt, etwa, wenn der Blick über eine Menge von Gesichtern hinweggleitet, inmitten derer ein einzelnes den Blick fesselt; oder wenn der kühlende Windstoß an einem heißen Sommertag als erleichternde Berührung gespürt wird – und also mehr geschieht, als dass der Windhauch bloß wahrgenommen wird und weniger, als dass er kognitiv verarbeitet wird.67 Als Ergänzung der beiden anderen Terme schlägt Liessmann den Begriff der „ästhetischen Empfindung“ vor, um der Vielfalt ästhetischer Objekte, Situationen und Konfigurationen gerecht zu werden und dasjenige zu bezeichnen, was we-
62 Liessmann, Konrad Paul (2009): Ästhetische Empfindungen. Wien: Facultas Verlag, 18. 63 Ebd. 64 Ebd., 20. 65 Vgl. ebd., 8. 66 Ebd., 19. 67 Vgl. ebd., 20.
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niger ist als eine ästhetische Erfahrung, aber mehr als bloße Wahrnehmung. Eine erste definitorische Annäherung lautet folgendermaßen: „Eine ästhetische Empfindung liegt [...] dann vor, wenn das Wahrgenommene einen spezifischen inneren, affektiven oder emotionalen Eindruck auslöst, der sich primär auf die angebotene Reizkonstellation und nicht auf deren lebensweltliche Bedeutung (diese wäre schon der Dimension der Erfahrung zuzuschlagen, J.V.) konzentriert.“68
Es geht also „bei ästhetischen Empfindungen gerade nicht um möglichst klare Eindrücke und eindeutige Gefühle [...], sondern ganz im Gegenteil darum, im Auftauchen unterschiedlicher, ja auch einander widersprechender Empfindungen eine besondere Erfahrungsqualität [...] zu finden.“69
Sie ist, nach Liessmann, mehr als das, was bloße Wahrnehmung riechen oder schmecken kann, aber weniger als eine komplexe, durch Reflexionen, Urteile und Wissensbildung sich etablierende Erfahrung, in der die Urteilskraft, also der „Sinn für Form, Struktur und Komposition“70 am Werk ist. Losgelöst von beiden, so sollte klar geworden sein, ist sie jedoch nicht, das zeigt sich bei Mörike, wo der Wahrnehmungsakt mit dem Verweis auf das Abendlicht beginnt, und auch die ästhetische Erfahrung ist im Spiel und versucht, Bedeutungsstrukturen anzulegen – darauf verweist die Suche nach dem ‚Wissen‘, wie das lyrische Ich vor das Stadttor gelangt ist, oder der Abgleich mit seiner Erfahrung, wie die Farbe Rot aussieht, um dann festzustellen, dass die Rosen in höherem Rot leuchten. Zwischen Wahrnehmung und Erfahrung kommt, heuristisch gesprochen, die ästhetische Empfindung auf und entfaltet sich. Was passiert in einem Moment wie jenem, der dem Sprecher des Gedichts widerfährt, noch bevor er sich als „trunken, irrgeführt“ bezeichnen kann? Zu behaupten, die Wahrnehmung des Protagonisten sei gefesselt von einzelnen Elementen wie dem Rot der Rosen oder dem Glockenklang, die für einen Moment herausstechen und alles andere in den Hintergrund rücken, die Urteilskraft ins Wanken bringen und verhindern, dass Erfahrungswissen abgerufen werden kann und systematisierend eingreift, wodurch ästhetische Empfindungen ausgelöst werden, ist zwar zutreffend, greift jedoch zu kurz. All dies geschieht durchaus, aber außerdem noch etwas Umfassenderes: Nicht nur etwas in der Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung des Wandersmanns, sondern mit ihnen. Etwas hat an ihnen gewerkt, das
68 Ebd., 22. 69 Ebd., 33. 70 Ebd., 8.
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den Wanderer dazu gebracht hat, vor das Stadttor zu treten ohne sich daran erinnern zu können; etwas, das Rot intensiviert, das die Lüfte leben lässt. Es ist, so löst der Text auf, die Muse, die ihn verführt hat. Seine Sinne scheinen in dieser ersten Strophe in einen anderen Modus geraten zu sein, in dem Geschehen reversibel ist: Hört er Glockenläuten oder Nachtigallengesang? Ist es die Mühle oder der Bach, der rauscht? Hat er sich aus eigener Kraft vors Stadttor bewegt oder ist er dorthin versetzt worden und von wem? Es scheint Momente zu geben, so gibt das Gedicht Anlass zu denken, in denen in der Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung eines Subjekts etwas am Werk ist, das die reversible Verfasstheit einer Situation zur Folge hat und sowohl ihrer eindeutigen Einordnung entgegen steht als auch der Sicherheit über die eigene Rolle darin. Affektive Reaktionen werden ausgelöst, die eine rationale Beurteilung verschieben, verunsichern und unzuverlässig machen. Es handelt sich hierbei um einen Modus, der sich – mit einer Formulierungsanleihe bei Martin Seel – dadurch auszeichnet, dass in ihm „die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinandergeraten“71. Hier ist eine Verunsicherung, Verschiebung, Verwirrung und Umkehrung der Sinne zu verzeichnen. Ich schlage vor, diesen Modus, in dem die ästhetische Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung des Wandersmanns geschieht, als ‚Verführung‘ zu bezeichnen.
Welchen Zweck erfüllen die angestellten Überlegungen zur ästhetischen Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung des lyrischen Ichs? Inwiefern tragen sie bei zu einer Annäherung an die Frage, was passiert, nachdem sich die Poetische Differenz ereignet hat? Die bisherigen Überlegungen drehten sich darum, zu beschreiben, was das lyrische Ich wahrnimmt, empfindet und welche Erfahrungen es macht. In dieser analytischen Vorgehensweise ist das Angebot einer Antwort auf obige Frage gemacht. Denn im Leseakt vollzieht sich eine Bewegung in den Text hinein, die sich dadurch bemerkbar macht, dass Aussagen der Art ‚Das lyrische Ich ist hypnotisiert‘, ‚seine Raum-Zeit-Dimensionen geraten ins Wanken‘, ‚es hat die Orientierung verloren‘ getroffen werden. Es werden also Behauptungen darüber angestellt, die ästhetische Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung des lyrischen Ichs sei in einen Modus der Verführung geraten. Genau dies ist zu reflektieren, denn solchen Aussagen liegt die Gesetzmäßigkeit der Realität, in der sich der Leser befindet, zugrunde, die die Lyrik aber nicht respektieren muss, weil sie eigene ontische Verhältnisse setzt. Mit
71 Seel, Martin (2004): Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen. In: Mattenklott, Gerd (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste, Sonderheft 2004 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg: Meiner, 73-81, hier 81.
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welcher Legitimation also übertrage ich Konzepte von Liessmann und Seel, die sich auf Menschen aus Fleisch und Blut beziehen, auf fiktive Figuren? Dass ich eine analytische Praxis betreiben kann, in der eine Analogie zwischen zwei Existenzmodi vorausgesetzt und eine Übertragung vorgenommen wird, in der also Behauptungen darüber getroffen werden, wie das lyrische Ich sich fühlt, d.h. dass ich von der Wahrnehmung des Lesers auf die einer Figur des Textes schließen darf – eine Praxis, die kaum hinterfragt wird –, dieses Vorgehen kann mit dem Hinweis auf die in den Hintergrund getretene Poetische Differenz argumentiert werden, die wie eine Kippfigur durch Kontraste ein Gedicht allererst konstituiert; jedoch wird diese Differenz oder Distanz dann durch eine Immersionsbewegung in den Text wieder überwunden. Es kann außerdem argumentiert werden, dass die ‚handfeste‘ ästhetische Erfahrung des Menschen aus Fleisch und Blut und die uneigentliche, metaphorische Verwendung für eine fiktive Figur gleichermaßen real sind und zwar weil beide gleich wirksam sind. Aus diesem Grund muss Fiktion als ebenbürtige Existenzweise aufgefasst werden. Eine solche Position ist theoretisch konturiert worden durch Bruno Latour und wird im Verlauf der Arbeit wieder aufgenommen. Die Funktion dieser letzten Seiten war es, die Öffnung von Szenerien des Ästhetischen zu untersuchen, innerhalb derer distinkte poetische Elemente – Verknotungen von Semantik und Sprachmaterialität – dazu verführen, ihnen und nicht anderen zu folgen. Bei Mörike besteht der Trigger im Präsens des Verses „In ein freundliches Städtchen tret ich ein“: Es geschieht nun, zu der Zeit des Lesens, und ich als Leser begleite den Wandersmann bei seinem Gang in die Stadt hinein. Werden dann Aussagen darüber getroffen werden, welche Wahrnehmungen und Empfindungen er hat und welche Erfahrungen er macht, so geschieht das aus dieser Position heraus. Es wurde also eine erste Bewegung in den Text hinein erprobt. Dieser eröffnet sich und konkretisiert bzw. differenziert sich Vers für Vers aus. Die folgenden Kapitel sind Konstellationen, die ebenfalls ansetzen, nachdem sich die Poetische Differenz bereits ereignet hat. Es sind Betrachtungen, die die Szenerien des Ästhetischen weiter ausdifferenzieren indem je verschiedenen lyrischen Akteuren, also Strukturen, Phänomenen, Operationen, in das Gedicht hinein gefolgt wird.
Positionalität – Relationalität
L YRISCHE T OPOLOGIEN Ein Spaziergänger oder Wanderer geht des Nachts, wahlweise auch in der Morgenoder Abenddämmerung, durch das idyllische Land und wird angerufen von säuselnden Stimmen, die aus der Tiefe der Natur zu ihm sprechen, um ihn zu überreden, zu ihnen nach unten zu steigen. So oder ähnlich könnte eine sehr knappe, unspezifische und verallgemeinernde Inhaltsangabe für zahlreiche Gedichte Eichendorffs lauten, die sich der typischen und wiederkehrenden Requisiten der Eichendorff’schen Landschaft bedienen. Zutreffend wäre sie etwa für sein Gedicht Lockung, erstmals gedruckt um die Jahre 1830 bis 1840. Lockung 1
Hörst du nicht die Bäume rauschen Draußen durch die stille Rund? Lockts dich nicht, hinabzulauschen Von dem Söller in den Grund,
5
Wo die vielen Bäche gehen Wunderbar im Mondenschein Und die stillen Schlösser sehen In den Fluß vom hohen Stein?
10
Kennst du noch die irren Lieder Aus der alten, schönen Zeit? Sie erwachen alle wieder Nachts in Waldeseinsamkeit, Wenn die Bäume träumend lauschen
15
Und der Flieder duftet schwül
126 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Und im Fluß die Nixen rauschen – Komm herab, hier ist’ s so kühl.
1
Zutreffend wäre die Zusammenfassung ebenfalls für Eichendorffs Nachtzauber, das obiges Thema nur leicht variiert: Nachtzauber 1
Hörst du nicht die Quellen gehen Zwischen Stein und Blumen weit Nach den stillen Waldesseen, Wo die Marmorbilder stehen
5
In der schönen Einsamkeit? Von den Bergen sacht hernieder, Weckend die uralten Lieder Steigt die wunderbare Nacht, Und die Gründe glänzen wieder,
10
Wie dus oft im Traum gedacht. Kennst die Blume du, entsprossen In dem mondbeglänzten Grund? Aus der Knospe, halb erschlossen,
15
Junge Glieder blühend sprossen, Weiße Arme, roter Mund, Und die Nachtigallen schlagen, Und rings hebt es an zu klagen, Ach, vor Liebe todeswund,
20
Von versunknen schönen Tagen – Komm, o komm zum stillen Grund!
2
Die Gedichttitel Lockung und Nachtzauber geben schon eine Ahnung von der Macht der Natur, die in beiden Texten detailreich beschrieben ist. Sie hat die Fähigkeit, zu bezaubern bzw. zu locken. Ihre Elemente – die Bäche, Schlösser, Bäume und Seen, Blumen, Wälder, Nachtigallen, der Mondschein, die Nacht, die Einsamkeit – sind zu einer in hohem Maße reizvollen Konstellation zusammengefügt. Wir
1
Eichendorff, Joseph von (1971): Werke. Hg. von Rasch, Wolfdietrich. München: Carl Hanser, 88.
2
Ebd., 432.
P OSITIONALITÄT – R ELATIONALITÄT
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können eine dialogische Konfiguration ausmachen, über die daran Beteiligten jedoch kaum etwas. In beiden Werken zielt die sprechende Stimme (das ‚Ich‘, das sich als solches nicht benennt) darauf ab, ein angesprochenes ‚Du‘ zum Hinabsteigen „in den Grund“ (Lockung, im Folgenden mit ‚L‘ abgekürzt, Vers 4; Nachtzauber, im Folgenden mit ‚N‘ abgekürzt, Vers 21) zu bewegen. Wie in Goethes Ballade vom Fischer, die noch zu besprechen sein wird (vgl. das letzte Kapitel dieser Arbeit), operiert der/die Verführer/in mit Fragen, und zwar größtenteils rhetorischen: „Hörst du nicht die Bäume rauschen“? (L 1), „Lockt’s dich nicht, hinabzulauschen“? (L 3), „Hörst du nicht die Quellen gehen“? (N 1) und „Kennst du noch die irren Lieder / Aus der alten schönen Zeit?“ (L 10), allesamt Fragen, auf die keine Reaktion oder gar Antwort des Angesprochenen verzeichnet ist. Die Überredung macht sich die vielfältigen Schönheiten der Natur zunutze (L 5-8 und 13-15; N 2 und passim), die, etwa in Nachtzauber, mit folgenden zahlreichen AdjektivSubstantiv-Kompositionen beschrieben sind: „stille[] Waldesseen“ (N 3), „schöne[] Einsamkeit“ (5), „uralte[] Lieder“ (7), „wunderbare Nacht“ (8), „mondbeglänzte[r] Grund“ (13), „[j]unge Glieder“ (14), „versunkene[] schöne[] Tage“ (20) und schließlich „stille[r] Grund“ (21). Das sprechende Subjekt weiß die Vorzüge der Natur mit Personifizierungen anzupreisen: Nicht nur „gehen“ die Quellen (1), sondern der Blume „[j]unge Glieder blühend sprossen, / Weiße Arme, roter Mund“ (N 15-16). Die Blütenknospe entpuppt sich als sinnliche Frauenfigur. Auch in Lockung treten detailreiche Adjektive gehäuft auf, wie still (vgl. L 2; 7), wunderbar (vgl. 6), irre (vgl. 10), alt, schön (vgl. 11), „schwül“ (15), „kühl“ (17). Diese zeichnen ein symbolisch aufgeladenes Landschaftsbild. Der viel beschworene „Grund“ (L 4; N 13 und 21), in den das Objekt der Begierde gelockt werden soll, wird als Idyll und Asylum gezeichnet, welche Kühle, Stille, Schönheit und Duft verheißen und, in Nachtzauber, außerdem die Erleichterung von Liebeskummer in Aussicht stellt (vgl. 19). Die Überredung nährt sich des Weiteren aus der Rekurrenz auf vergangene Zeiten, die durch vertraute Klänge evoziert werden (L 10-12; N 7), und schließlich aus einer direkten Aufforderung, die – nach einer Einleitung durch den Gedankenstrich am Ende des jeweils vorletzten Verses – mit dem Appell „Komm“ beginnt: „Komm herab, hier ist’ s so kühl“ (L 17) und „Komm, o komm zum stillen Grund!“ (N 21). Aus den Formulierungen lässt sich schließen, dass der Angesprochene sich (noch) nicht dort befindet – sei es im kartographischen oder emotionalen Sinne –, von wo die Stimmen zu ihm sprechen. Ziel der Frohlockung ist es, ihn dazu zu bringen, zu ihnen zu kommen. Was genau dort auf ihn wartet, wird in keinem der Gedichte präzisiert; zu erfahren ist lediglich, dass es sich um den „stillen“ (N 21), „mondbeglänzten“ (N 13) und einsamen (vgl. N 5; L 13), angenehm kühlen (vgl. L 17) Grund handelt, wo im Mondschein Bäche verlaufen (L 5) und Schlösser stehen (L 7).
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Auch bleibt offen, wer der Sprecher ist, ob die Nixen, ein Beobachter oder ob es das angesprochene Du ist, das zu sich selbst spricht. Die unbestimmbare Figurenkonstellation ist vielleicht das mysteriöseste Element von Eichendorffs zweistrophigen, wahlweise in strengem Kreuzreim (Lockung) oder in variierenden Reimschemata (Nachtzauber) gehaltenen Gedichten. Wer ist das Ich und wen spricht es an? Handelt es sich um Liebesgeflüster? Oder fallen beide, sprechendes Ich und adressiertes Du, in eins, ruft das Ich die Natur an, um selbst von ihr verführt zu werden? Spielen wir die verschiedenen Möglichkeiten gedanklich durch: Es scheint, dass Sprecher und Angesprochenen eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. „Kennst du noch die irren Lieder / Aus der alten schönen Zeit?“ heißt es in Lockung (10-11), anspielend auf eine sie vereinende Erinnerung, die gleichwohl nicht so präsent ist, dass die Frage danach obsolet wäre. Offenbar aber rechnet der Sprecher damit, dass mit den alten Liedern ein positives Andenken verbunden ist, wenn es auch nicht leicht zugänglich zu sein scheint. Schließlich „erwachen“ die Gesänge nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich des Nachts, in der „Waldeseinsamkeit“ und ausschließlich zu jener frühsommerlichen Jahreszeit, in welcher der Flieder blüht. In beiden Gedichten werden zum Ziel jenes ‚Erweckens‘ (vgl. „Kennst du noch die irren Lieder / [...] / Sie erwachen alle wieder“ (L 10-12) und „Von den Bergen sacht hernieder, / Weckend die uralten Lieder“ (N 6-7; beide Hervorhebungen J.V.)) zunächst rhetorische Fragen gestellt, die an dem Suggestivwort „nicht?“ (L 1 und 3; N 1) erkennbar sind, woran sich sodann je eine zweite, offene Frage anschließt: In Nachtzauber fragt der Sprecher, ob der Angesprochene eine, nein, die spezifische Blume aus dem mondbeglänzten Grund kenne. In Eichendorffs Lockung will er wissen, ob das Du noch die Erinnerung an alte Lieder aus längst vergangenen Tagen besitze. Obwohl es sich um offene Fragen handelt, ist ihr suggestiver Charakter unüberhörbar. Es scheint geradezu unmöglich, darauf mit einer Verneinung zu reagieren, schließlich bezieht sich das sprechende Ich auf durchlebte, vergangene Zeiten samt vermeintlich gemeinsamer Erinnerungen. Noch hier jedoch ist nicht auszumachen, wer der Angesprochene ist. Gehen wir von zwei getrennten Beteiligten aus, so kennt der Sprecher Details aus dem Leben des ‚Du‘. Dies wird am deutlichsten in den Versen „Und die Gründe glänzen wieder, / Wie dus oft im Traum gedacht“ (N 9-10). Es scheint, das sprechende Subjekt verfügt über schier allumfassendes Wissen, kennt es doch sogar die Träume des Adressaten – eine größere Macht ist schwerlich vorstellbar. Auch in der Frage „Kennst du noch die irren Lieder / Aus der alten schönen Zeit?“ (L 10-11; Hervorhebung J.V.) rekurriert der Sprecher auf sein Wissen, dass das angesprochene Du diese Lieder zu einem früheren Zeitpunkt einmal tatsächlich kannte, es muss also eine gemeinsame Vergangenheit von beiden gegeben haben. Gemeinsam im Sinne einer geteilten Lebenszeit, einer Zeit also, in der sowohl sprechendes als auch angesprochenes Subjekt gelebt haben. Allerdings kann das Adjektiv „uralt“ (N 7) auch
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als Hinweis darauf verstanden werden, dass es sich um eine archaische Zeit handelt, die so weit zurückliegt, dass keines der Subjekte sie tatsächlich am eigenen Leib erlebt hat, sondern sie nur aus einem kulturellen Gedächtnis heraus kennt und verbindet. Da es nicht zu einem Zwiegespräch kommt, ist jedoch mindestens ebenso plausibel, dass es sich um eine Selbstansprache handelt, in der eigene Erinnerungen evoziert werden („Wie dus oft im Traum gedacht“ (N 10)). Werner Wunderlich glaubt, in der Personifikation der Natur, etwa in der Figur der Sirene oder Nymphe, drücke sich „eine Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der rationalen mit der unbewussten Dimension des eigenen Ichs aus.“3 In diesem Sinne würde der Ausdruck „Und rings hebt es an zu klagen, / Ach, vor Liebe todeswund“ (N 18-19) keine Klage über einen persönlichen Verlust darstellen, sondern Ausdruck einer Nostalgie über vergangene Zeiten sein. Gleichwie, das Hinabsteigen zum Grund wird, so zumindest versprechen es die ‚nachtzaubernden‘ säuselnden Stimmen, Linderung des Kummers verschaffen. Lesbar sind die Texte jedenfalls als Verlockung, sich auf das Fremde im eigenen Ich einzulassen; auf die eigene Andersheit. In diesem Sinne wäre die Rekurrenz auf die Erinnerung eine Aufforderung, in die Tiefe des eigenen Bewusstseins hinabzusteigen. Das sprechende Ich wäre hier vollständig emergiert im Prozess der Verführung, ‚Ich‘ und ‚Du‘ wären ein- und dieselbe Person. Es würde in diesem Sinne also selbst verführt werden. Dazu gibt Kurt Röttgers gar zu denken, dass jede Verführung eine Selbstverführung sei: „Verführung ist [...] Rätsel, das Selbst und Andere füreinander darstellen und das nach Auflösung verlangt. Rätsel sind wir aber auch uns selbst – und nach innen geht, wie Novalis sagte, der geheimnisvolle Weg.“4 Im letzten Vers kulminiert die sich abzeichnende Strategie, den Angesprochenen mittels abundanter Beschreibungen in die Tiefe zu locken, in der schlichten, aber durch den Konsonantenwechsel eindringlichen apostrophischen Aufforderung „Komm herab, hier ist’s so kühl“ (L 17) bzw. dank des Pathos und des Ausrufungszeichens noch eindringlicher in Nachtzauber: „Komm, o komm zum stillen Grund!“ (N 21). Mit diesem Appell enden beide Gedichte. Es handelt sich um einen starken Verführungsbegriff, der hier am Werk ist, schließlich wird weder aufgeklärt, wer spricht, noch, welcher Natur dessen Absichten sind. Auch erfahren wir nichts über die Identität und Relation zwischen Sprecher und Angesprochenem, noch darüber, ob der Angesprochene dem Ruf folgt und in die Tiefe zu den Nixen hinabsteigt oder nicht.
3
Wunderlich, Werner (Hg.) (2007): Mythos Sirenen. Stuttgart: Reclam, 196.
4
Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 437.
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Es ist verlockend, beide Texte als Apostrophe zu lesen und den Fokus auf die Suche nach der Identität von Sprecher und Adressat sowie deren Relation zu legen. Jedoch, in der Gedichtstruktur ist auffällig, dass nach jeder Apostrophe eine Digression auftritt, wodurch der Fokus weniger auf der Ich-Du-Relation liegt, als dass er vielmehr auf die entworfene Welt gerichtet ist. Das ‚Du‘ wird befragt, aber anstelle einer Antwort geht der Text über zur Beschreibung der zauberhaften Welt: Diese wird sodann mittels ihrer Bäche, Schlösser im Mondschein (L 5-8), Waldesseen, Berge, in der Nacht glänzenden Wiesen (N 3-9) ausdifferenziert. Anschließend erfolgt erneut eine kurze Bezugnahme auf das ‚Du‘, gefolgt von einer Digression in Form der fortgesetzten Beschreibung der Natur, endend in dem Appell „Komm“ (L 17 und N 21). Nicht die Vergangenheit ist relevant – nicht die „Lieder / Aus der alten, schönen Zeit“ (L 10-11) oder die Träume (vgl. N 10) werden beschrieben, sondern die entworfene Welt. Es ist der Zauber der Natur, der das sprechende Ich ebenso wie das ‚Du‘ affiziert und – weil deren Identität und Verhältnis nicht eindeutig ist – ebenso auch den Leser, der als solches ‚Du‘ fungieren kann. Das Gedicht vollzieht eine Bewegung in den kühlen (vgl. L 17) bzw. „stillen“ (N 21) Grund, die der Leser unweigerlich mitgehen muss, will er sich auf den Text einlassen. Denn es liegt kein Zwiegespräch vor, dessen Beteiligte identifizierbar wären, sondern eine sprachliche Digression, in der eine neue, eine alternative Welt entworfen wird, in der topologische Alterierungen möglich sind – und in diese Welt werden das Ich, das Du und der Leser gleichermaßen hineingezogen. Es ist den Fähigkeiten der lyrischen Sprache geschuldet, solchermaßen deidentifizierend zu wirken. Das Gedicht erlaubt es nicht, die Realia des ‚Du‘ zu entlarven – es mag ein Liebespartner sein, es mag der Leser sein, es mag die Muse sein, es mag jemand ganz Anderes sein oder aber das eigene Ich. Letzteres stellt schließlich eine Grundkonstellation der Lyrik dar: Die Anrufung der Muse geschieht um sich selbst verführen zu lassen. In beiden Gedichten Eichendorffs ist das unbestimmte adressierte Subjekt jedenfalls kein aktives, sprechendes, sondern lediglich ein passives, hörendes, das selbst weder in Erscheinung tritt noch durch Antworten auf die ihm gestellten Fragen von sich reden macht. Es ist reizvoll, die dialogische Situation entschlüsseln zu wollen, aber nicht möglich. Nicht einmal ist zu benennen, wie viele Stimmen beteiligt sind. Die suggestive Rede mit ihren rhetorischen und offenen Fragen, die Anpreisung der Natur und die Evokation von Erinnerungen soll am Ende zur Folge haben, dass das angesprochene Subjekt aber nicht nur ein Hörendes, sondern sogar ein hingebungsvoll Lauschendes ist (vgl. den Vers „Lockt’ s dich nicht, hinabzulauschen“ (L 3)) – und darin wäre es nicht allein: Der Vers „Wenn die Bäume träumend lauschen“ (L 14) zeigt, dass nicht nur das angesprochene Subjekt, sondern die Natur selbst vom Wasserrauschen und von den „irren Lieder[n]“ (L 10) affiziert ist, und eine tiefe Immersion in die Szenerie geschieht. Nebeneinanderge-
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stellt formieren sich die beiden Gedichttitel zu einer Steigerung, eine Lockung wird nicht nur im gleichnamigen Text explizit, sondern geschieht auch in Nachtzauber, wo die verlockende Wirkung der Natur aber sogar noch zu einer Verzauberung kulminiert wird. Wie in jeder Verführungssituation, so liegt auch hier also eine dialogische Relation vor, wenn auch die Annahme, dass es sich dabei zwangsläufig um zwei verschiedene Personen handeln muss, ein Trugschluss sein kann. Wenn der Adressat schon nicht in Erscheinung tritt, so erfahren wir zumindest etwas über seinen Ort. Die Appelle „Komm herab, hier ist’ s kühl“ und „Komm, o komm zum stillen Grund!“ lassen auf eine kontrastreiche Kartographie schließen: Auf der einen Seite, die „oben“ verortet ist, also oberhalb des Grundes, dort, wo der Söller und die Berge stehen, ist das angesprochene ‚Du‘ situiert. Auf der anderen, der unteren Seite, rauschen die Bäume, gehen viele Bäche, stehen Schlösser im Mondschein. Hier ist es einsam, hier duftet es nach Flieder – und hier im Fluss leben die Nixen. Die letzten Verse von Lockung geben zumindest einen Hinweis, wenn schon nicht bezüglich der Identität des Sprechers, so wenigstens bezüglich seiner Position: „[H]ier“ (L 17), die adverbiale Bestimmung des Ortes, lässt vermuten, dass der Sprecher ebendort unten schon situiert ist und von dort aus sein Lockruf ertönt. Denn er verfügt über präzises Wissen, welches Leben sich auf dem „Grund“ (N21) abspielt. Was ‚Hier‘, was ‚Dort‘ ist, steht in Abhängigkeit zur Perspektive der Protagonisten. Jene rufende Tiefe ist durch Bäume, Schlösser und die Nixen versinnbildlicht. Nicht abwegig also, eine aus dem Kreis der Nixen selbst zu verdächtigen, als Sprecherin zu fungieren, oder aber eine Figur, die von eben jenen Kenntnis hat, weil sie ebenfalls dort unten beheimatet ist. Jedoch – der Text ist auch hier nicht eindeutig: Ebenso wenig wie die dialogische Konstellation identifiziert werden kann, ist es möglich, sie verlässlich zu kartographieren. Denn vertraute Kriterien, die Orientierung ermöglichen würden, müssen nicht diejenigen der lyrischen Sprache sein. Das Gedicht etabliert vielmehr seine eigenen Gesetze, innerhalb derer die Perspektivierungen „Draußen“ (L 2), „hinab“ (L 3) und „herab“ (L 17) oder „weit“ (N 2) und „hernieder“ (N 6) nicht mehr zwangsläufig den vertrauten Dichotomien Nord und Süd, Ost und West, oben und unten, nah und fern, weit und eng entsprechen. In diesem Sinne vollzieht der Text eine Bewegung, die aber nicht eine in den Süden sein muss, sondern auch das Eintauchen ins tiefste Innere darstellen kann. Das „Draußen“, von dem in Lockung die Rede ist, und der stille Grund in Nachtzauber können nah sein und trotzdem unzugänglich. Vor allem, wenn man eine Selbstansprache des lyrischen Ichs in Betracht zieht, scheinen die Parameter ihre kartographischen Qualitäten zu verlieren, denn ein Sprecher, der so sehr von der Natur fasziniert und sinnlich affiziert ist, ist orientierungslos. „Hier“ und „Draußen“
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sind dann ohne festen Referenten. Stattdessen scheinen die Parameter vielmehr ‚psychische‘ Qualitäten gewonnen zu haben. Dafür spricht das Erwachen der vergangenen Zeit (L 12) oder die versunkenen Erinnerungen (N 19), die geweckt werden können (N 7). Es ist wieder die sinnliche Materialität der Sprache, die vertraute Orientierungsmarken verschiebt, und Relationen stattdessen beweglich macht: Nicht mehr besteht ein Gegensatz zwischen schwül duftendem Flieder (L 15) und kühlem Grund (L 17) gemäß unserem topographischen Denken, sondern in der durch lyrische Sprache instaurierten Welt stehen „schwül“ und „kühl“ dank der gleichklingenden Reime nebeneinander. Sie sind einander näher als gedacht. Die hier entworfene Natur unterliegt nicht unseren Gesetzen und genau das macht ihre verführerischen Qualitäten aus. Möglicherweise also handelt es sich bei der Schwüle nicht um eine klimatische Wärme, sondern um einen Liebesrausch, ausgelöst durch die Natur. Diese ist von solch überschwänglicher und überbordender Intensität, dass, angesichts der Kreuzreime, Schwüle und Kühle keine topographischen Gegensätze mehr bilden. An ein und demselben Ort kann es duftend-schwül sein und kühl zugleich. Die Kühle ist von solch angenehmer, erleichternder Materialität, nicht weil es oberhalb des Grundes warm wäre, sondern weil der reine Reim „schwül“ vorneweg geht. Das Sprachmaterial etabliert eine neue Welt, in der alternative Gesetzmäßigkeiten herrschen. Damit sind die beiden Gedichte exemplarisch für eine durch den Körper der Sprache konstituierte Topologie, in der bewegliche Elemente lose gekoppelt werden. In der sinnlichen Ästhetik poetischer Sprache entsteht „dieses plastische Feld, dieser gekrümmte Raum, in dem sich die am wenigsten erwarteten Verbindungen auftun und in jedem Augenblick die paradoxesten Begegnungen möglich sind“5. Die Binnenstrukturen der Sprache entwerfen eine eminent sinnliche Topologie. Naturraum, Figuren sowie deren Bewegungen formen ein relationales Gefüge, das durch die Kraft poetischer Sprache, hier manifestiert im Reim, allererst etabliert wird. So wird die Sprache zum Agens, der die Sinne der Beteiligten derart zu affizieren vermag, dass diese orientierungslos werden. In beiden Gedichten, so lässt sich festhalten, zeigt sich eine Grundkonstante der Verführung, die schon etymologisch angelegt ist: Eine ihrer Eigenschaften betrifft die Topologie von Subjekten, nämlich die Verschiebung von Positionen, eben die Ver-führung im eigentlichen Wortsinne, also die Wegleitung oder Ablenkung von dem bis dahin eingeschlagenen Weg. Der/die Verführte soll auf Abwege geraten, soll verleitet werden, eine andere als die bisherige Richtung zu nehmen. In den bei-
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Genette, Gérard (1966): L’ utopie littéraire. In: Ders.: Figures I. Paris: Seuil, 123-132. Zitiert nach Garnier, Xavier (2015): Der literarische Raum. In: Dünne, Jörg et al. (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin / Boston: De Gruyter, 88-96, hier 88.
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den vorliegenden Fällen also soll der Spaziergänger oder Wandersmann seine momentane Position verlassen und stattdessen in die Tiefe steigen. Diese topologische Qualität der Verführung ist an eine affektive gekoppelt, geht der räumlichen Alterierung doch eine Veränderung der emotionalen Situiertheit voraus. Denn was eine topologische Alterierung bewirken, also die ‚kartographische‘ Position des Angesprochenen modifizieren soll, ist das emotionale In-BewegungVersetzen, das die säuselnden Stimmen im Sinn haben. Ziel ihrer Werbung ist es, den Spaziergänger derart zu berühren, dass er willens ist, sich an den angepriesenen Ort zu bewegen. Die in Lockung entworfenen Bilder – die laufenden Bäche, die im Mondschein stehenden Schlösser, die träumenden Bäume, der duftende Flieder – zeichnen ein Elysium, dessen Ambiguität einzig die letzten drei Verse erahnen lassen: Der schwüle Blütenduft ist nicht ausschließlich positiv konnotiert. Er ist reich, vereinnahmend, schwer, ähnlich überreifen, süßen Früchten, die kurz vor der Fäulnis stehen, aber doch noch davon entfernt sind. Das Wort „schwül“ ist eingefasst in einen Kreuzreim: „lauschen“ – „schwül“ – „rauschen“ – „kühl“ (L 14 - 17). Vor allem durch den Folgevers, der auf „rauschen“ endet, wird die Konnotation von ‚Berauschung‘, die ein schwüler, süßer Duft bewirken kann, evoziert. Neben der duftenden Schwüle ist es die Figur der Nixe, die die Ambivalenz des Ortes erahnen lässt. Sie stellt eine Variation des Sirenenmythos aus Homers Odyssee dar. Seither ist das Wasserweib eine ambigue Gestalt, liebreizend anzusehen und anzuhören, doch mit Hintergedanken ausgestattet. Dem Mythos nach hatte sie mit betörender Stimme und schmeichelndem Gesang den Matrosen ewiges, glückseliges Leben verhießen und sie stattdessen ins Verderben gestürzt (vgl. die Ausarbeitung zu Rilkes Insel der Sirenen). Das Erwähnen der Nymphe und der schweren, süßen Schwüle verleiht der bis dahin positiv entworfenen Szenerie eine widersprüchliche Codierung, die nicht mehr aufgelöst wird. Sirenen und Nymphen stehen paradigmatisch für ‚wunderbare‘ Gestalten, die in der Natur beheimatet sind. Sie verkörpern geradezu das Säuseln und Singen der anthropomorphisierten Natur in ihren verschiedenen, halb weltlichen, halb metaphysischen Manifestationen – einer Natur, die in romantischen Gedichten als Verführerin agiert, indem sie die verschiedenen Sinne eines Subjekts affiziert. In Eichendorffs Texten ist es vor allem der Hörsinn, der durch das Rauschen der Bäume, des Flusses bzw. der Quellen und den Klang der Lieder angesprochen wird; der vom Blumenduft betörte Geruchssinn sowie der von den in Mondschein getauchten Schlössern berührte visuelle Sinn, die von der Szenerie affiziert sind.6
6
Es ist auffällig, dass das Numinose beinahe alle Sinne zugleich zu affizieren vermag. Eines der bekanntesten Beispiele dafür bietet immer noch Goethes Erlkönig, wo sowohl
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Im folgendem Gedicht Wilhelm Müllers, das den Titel Irrlicht trägt und erschienen ist in der Winterreise, ist es das Licht, welches die Position des lyrischen Ich verändert, weil es ihn in seinen Bann zieht, ihn von seinem herkömmlichen Weg ableitet und in die Felsengründe lockt. Es spricht den visuellen Sinn an und bringt ihn derart durcheinander, dass eine verlässliche Lichtquelle nicht von einer trügerischen unterschieden werden kann. Das Irrlicht 1
In die tiefsten Felsengründe Lockte mich ein Irrlicht hin: Wie ich einen Ausgang finde, Liegt nicht schwer mir in dem Sinn.
5 Bin gewohnt das irre Gehen, ’s führt ja jeder Weg zum Ziel: Unsre Freuden, unsre Wehen, Alles eines Irrlichts Spiel! 10 Durch des Bergstroms trockne Rinnen Wind ich ruhig mich hinab – Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, Jedes Leiden auch ein Grab.7
Das Irrlicht hat hier solch volle Arbeit geleistet, dass es das lyrische Ich nicht nur erfolgreich dazu bewegt hat, in „tiefste Felsengründe“ (1) hinabzusteigen, sondern es sogar vergessen macht, dass ihm dort ein Orientierungsverlust bevorstehen wird, der fatal enden kann. Es ist so sehr eingenommen, dass es keine Furcht mehr verspürt, sich zu verirren – womit das Irrlicht seine doppelte Wirkung entfaltet: Es verlockt ihn, ihm zu folgen und außerdem nicht einmal mehr zu bemerken, dass es sich verirrt, dass es in Gefilde entführt wird, die es nicht kennt. Der Effekt des Irrlichts scheint den hier beschriebenen Gang zu einem genussvollen zu machen. Das lassen die Formulierungen „Wie ich einen Ausgang finde, /
Sehsinn („Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?“) und Hörsinn („Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, / was Erlkönig mir leise verspricht?“), als auch der Tastsinn („Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!“) betroffen sind (Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Die Gedichte I. München: Goldmann, 123f.). 7
Müller, Wilhelm (1994): Gedichte I. Hg. von Leistner, Maria-Verena. Berlin: Gatza, 181f.
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Liegt nicht schwer mir in dem Sinn“ (3-4) sowie die unbekümmerte Versicherung „Bin gewohnt das irre Gehen, / s’ führt ja jeder Weg zum Ziel“ (6-7) vermuten. Insbesondere die Betonung der Gewohnheit zusammen mit dem Modal- bzw. Einstellungspartikel „ja“ (7) und das Adjektiv „ruhig“ in dem Vers „Wind ich ruhig mich hinab –“ (12) zeugen von zahlreichen Erfahrungen, die das lyrische Ich in der Vergangenheit gemacht hat und auf die es nun zurückgreifen kann – Erfahrungen, die ihm Sicherheit verleihen. Ob diese Sicherheit nun eine verlässliche oder aber eine nurmehr trügerische ist, darüber gibt das Gedicht keine Auskunft, da es die Rückkehr des lyrischen Ichs aus den tiefen Felsengründen nicht mehr expliziert, allerdings durch das im Präteritum stehende „lockte“andeutet. Sogleich schlägt das Tempus im dritten Vers wieder ins Präsens um, das bis zum Ende durchgehalten wird. Das einmalige Präteritum im zweiten Vers verstärkt die Gewissheit, dass das lyrische Ich den Ausgang gefunden hat und retrospektiv von seinem Erlebnis berichtet und sich sogleich wieder derart in das Geschehene hineinversetzt fühlt, dass es ins Präsens wechselt, als würde es sich erneut in jener Situation befinden. Seine Zuversicht ist unerschütterlich, es ist sogar ein Fatalismus zu verzeichnen („Unsre Freuden, unsre Wehen, / Alles eines Irrlichts Spiel!“ (8-9)), der anzeigt, dass es sein Schicksal den Händen des Irrlichts überantwortet hat. Noch die letzten Verse zeugen von einem tiefen Optimismus, seine Unternehmung werde im Guten enden: „Jeder Strom wird´s Meer gewinnen, / Jedes Leiden auch ein Grab“ (13-14). Offen bleibt, ob dieses Vertrauen aus seiner Erfahrung resultiert oder Ergebnis der immensen Wirkkraft des Irrlichts ist. Die Natur, konturiert als Wald, Meer oder Nacht, ist in romantischer Dichtung häufig gegensätzlich konnotiert. Sie kann eine erbauliche ebenso wie eine bedrohliche Seite haben. Häufig tritt sie als Schwellenraum auf, in Form diffuser Phänomene wie die Dämmerung, das Zwielicht oder das Rauschen – rekurrierende Grundmotive der Eichendorff’schen Dichtung, die dem Seh- und Hörsinn die Orientierung erschweren. Aus dieser undurchschaubaren Ambivalenz resultiert der sie umgebende Reiz. Während es in Müllers Irrlicht die nicht näher beschriebenen „tiefsten Felsengründe“ (1) sind, in die das lyrische Ich gezogen wird, und es bei Eichendorff der zwar mittels Adjektiven ausgeschmückte, jedoch nicht genauer ausdifferenzierte „Grund“ (L 4) ist, der als Reiz fungiert, so übernimmt in anderen Gedichten, die gemeinhin der Romantik zugeordnet werden, häufig das Meer die Funktion der verlockenden Tiefe. Als Inbegriff des Unbekannten und Unbeherrschbaren löst es Sehnsucht nach Untergang aus, wie etwa in Müllers Vineta, dessen erste und letzte Strophen hier zitiert seien. Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde Klingen Abendglocken dumpf und matt,
136 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Uns zu geben wunderbare Kunde Von der schönen alten Wunderstadt. [...] Und dann möchte ich tauchen in die Tiefen, Mich versenken in den Widerschein, Und mir ist, als ob mich Engel riefen In die alte Wunderstadt herein.
8
Auch hier bleibt offen, wer die Urheber der wundersamen Rufe aus der Tiefe sind. Handelt es sich um eine zweite Partei oder aber das eigene Unterbewusstsein, die eigene Alterität? Die in Aussicht gestellte, alternative Welt in der Tiefe des Meeres ist undurchschaubares („tiefem, tiefem, Grund“) und deswegen reizvolles Gegenmodell zur Realität („wunderbare Kunde“; „als ob mich Engel riefen“). Gerade die Rekurrenz auf die „Engel“ spielt an auf die Todesgefahr, die mit dem Sprung in die Tiefe des Meeres verbunden ist. Der Sprung, so scheint es, kann zugleich die Erfüllung und Vollendung des eigenen Selbst bedeuten wie auch den Untergang, den Tod. Der romantische Topos, nach dem die ebenso süße, verlockende wie gefährliche Alteritätserfahrung mit einem Verlust verbunden sein müsse – mit dem Verlust des Verstands, des Lebens, des bisherigen Ichs – wird also durch topologische Verschiebungen in die Höhe, in die Tiefe, in die Weite eingeleitet, die mit einer Desorientierung bzw. Verunsicherung der kartographischen Position einhergehen. Der Angesprochene aus Eichendorffs Gedichten soll, so fordern die Stimmen, den Sprung in eine andere Welt wagen, sich auf das Unbekannte einlassen, auf das in der Tiefe liegende Unsichtbare. Offen bleibt, ob diese Tauchbewegung das Versprochene einlösen wird. Für die Lyrik der Romantik scheint es paradigmatisch, dass von der Gefahr des Verlorengehens oder des Todes ein melancholischer, Sehnsucht auslösender Reiz ausgeht. Mag auch die Vernunft warnen, dass im Wasser kein Überleben möglich ist, ist der Verstand durch das Säuseln getrübt. Aus diesem Grund kann die Anziehungskraft der anderen Dimension so stark werden, dass eine rationale Risikoabschätzung ausgehebelt wird. Den drei in aller Grobheit vorgestellten Gedichten ist gemein, dass jenes attraktive Unbekannte eine Bewegung einfordert, wobei jenes In-Bewegung-versetzen sowohl eine physische wie auch eine affektive Alterierung beinhaltet. Den Kontrast zwi-
8
Müller, Wilhelm (1994): Gedichte II. Hg. von Leistner, Maria-Verena. Berlin: Gatza, 64f.
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schen erfahrener und frohlockender Welt zu überwinden wird in Aussicht gestellt, doch dazu ist eine Änderung, eine Verschiebung oder Verlagerung der physischen Position und der emotionalen Situiertheit vonnöten, die mit dem Verlust metaphysischer Sicherheit einhergeht. Solche Alterierung der körperlich-spatialen, sinnlichen, rationalen und affektiven Haltung ist in allen Gedichtbeispielen durch eine Bewegung in die Tiefe des Meeres oder Gebirges versinnbildlicht, wo Höhlen und Grotten warten. Die Höhe der Nacht oder die ferne Weite, die meist als still und einsam skizziert sind, stellen andere typisch romantische Alterierungen dar, die das Subjekt herausfordern. Es hat sich gezeigt, dass Gedichte der Romantik, wie die Eichendorffs oder Müllers, paradigmatisch für eine topologische, dislozierende Qualität von Verführung sind. Diese kann etymologisch fundiert werden: Das Grimmsche Wörterbuch weiß um die räumlichen Implikationen des Verbs ‚verführen‘, wenn es die beiden Bedeutungen „an einen anderen ort führen“ und „an einen falschen ort führen, in die irre führen“ notiert. Se-ducere trägt in seiner bildlichen, übertragenen Bedeutung seit dem Mittelhochdeutschen stets die Konnotation „vom wege abführen“, sei sie auch nicht immer unbedingt im konkreten, geographischen, sondern mitunter im übertragenen Sinne gemeint. Deutlicher noch wird es im Eintrag zu den Lexemen „Verführer, m. der vom eingeschlagenen wege ableitet“ sowie „Verführung, f. ableitung, ablenkung vom eingeschlagenen weg.“9 Dass der oder die Verführer/in von einem geplanten Weg ablenkt, haben wir soeben anhand von Eichendorff und Müller exemplifiziert und ist auch an den folgenden populären literarischen Verführungsszenerien sichtbar: Die Sirenen wollen Odysseus von seiner Heimfahrt zurück nach Ithaka abhalten; Heines Loreley plant, den Fischer von seiner Route abzubringen; die gleichnamige Hexe in Eichendorffs Waldgespräch droht: „Es ist schon spät, es wird schon kalt, /Kommst nimmermehr aus diesem Wald“10, was das eigentliche Ziel des Reiters war. Ohne dass eine topologische und sinnliche Alterierung vonstatten geht, wäre im eigentlichen Sinne gar nicht erst von einer Verführungssituation zu reden. In den besprochenen Gedichten ist die Tiefe die dominierende Dimension, die sich in den Adverbien „hinab“ und „herab“ (L 3; 17; Irrlicht 12), dem Adjektiv „versunknen“ (N 19) oder „tief“ (vgl. Irrlicht 1) oder dem vielfach variierten Substantiv „Grund“
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Grimm, Jacob und Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 359ff. Die angeführten Zitate entstammen den Lexemeinträgen „Verführen“, „Verführer“, „Verführerei“ und „Verführisch“.
10 Eichendorff, Joseph von (1971): Werke. München: Carl Hanser, 304.
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(L 4; Irrlicht 1; N 9, 13, 21) äußert. Wollte man die Semantik der Gedichte schematisch skizzieren, müsste man mit vertikalen Zeichnungen arbeiten, schließlich konstituiert sich die entworfene Landschaft über senkrechte Bewegungen der von den Bergen heruntersteigenden Nacht (vgl. N 6-8) und des Mondscheins, der das Wasser unter ihm erleuchtet (vgl. L 6). Diese Ortsbekundungen machen zum einen deutlich, wo das, was in Aussicht gestellt wird, situiert ist, und zweitens, welche Bewegung erforderlich ist, um es zu erreichen. Eine vertikal in die Tiefe gehende Bewegung nämlich. Diese Geste in die Tiefe wäre, methodisch-analytisch gewendet hinsichtlich des Umgangs mit literarischen Texten eine hermeneutisch zu nennende.
V ON W ENDUNGEN UND E NTWENDUNGEN . T OPOLOGISCHE B EWEGUNGEN DES T EXTRAUMS Die topologische Alterierung manifestiert sich in Gedichten nicht nur, gleichsam motivisch, in der kartographischen, physischen und affektiven Position des Verführten, sondern schreibt sich, material-semiotisch, auch in das Medium des Textes ein. So bewegt sich die lyrische Schrift in Versform von Zeile zu Zeile gemäß einem Argumentationsgang, der von Suggestivfragen zehrt, sich über Klang und Rhythmen der Endreime zieht bis hin zu dem pathosgeladenen Appell in Nachtzauber „Komm, o komm zum stillen Grund!“ (N 21). Die topologische Alterierung zeigt sich, anders gesagt, im Schrift- und Textraum: In der Materialität des Textes, der durch Bewegungen konstituiert wird – in der westlichen Kultur dominiert jene, die von links nach rechts verläuft und von oben nach unten –; Bewegungen, die mitunter aber nicht linear verlaufen oder deren Verlauf nicht klar identifizierbar ist bzw. die sich nicht konsekutiv entwickeln, sondern durch Gleichzeitigkeit instantan verdichten, wie etwa in Konkreter Poesie oder Mallarmés Dichtkunst. Ein Mythos, in dem Bewegungen eine bedeutsame oder gar die entscheidende Rolle spielen, ist der von Orpheus, seiner Leier und Eurydike. So auch in dessen lyrischer Verarbeitung von Rilke.
Orpheus. Eurydike. Hermes 1
Das war der Seelen wunderliches Bergwerk. Wie stille Silbererze gingen sie als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen,
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und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.
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Sonst war nichts Rotes. Felsen waren da und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres 10
und jener große graue blinde Teich, der über seinem fernen Grunde hing wie Regenhimmel über einer Landschaft. Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut, erschien des einen Weges blasser Streifen,
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wie eine lange Bleiche hingelegt. Und dieses einen Weges kamen sie. Voran der schlanke Mann im blauen Mantel,
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der stumm und ungeduldig vor sich aussah. Ohne zu kauen fraß sein Schritt den Weg in großen Bissen; seine Hände hingen schwer und verschlossen aus dem Fall der Falten und wußten nicht mehr von der leichten Leier,
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die in die Linke eingewachsen war wie Rosenranken in den Ast des Ölbaums. Und seine Sinne waren wie entzweit: indes der Blick ihm wie ein Hund vorauslief, umkehrte, kam und immer wieder weit
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und wartend an der nächsten Wendung stand, blieb sein Gehör wie ein Geruch zurück. Manchmal erschien es ihm als reichte es bis an das Gehen jener beiden andern, die folgen sollten diesem ganzen Aufstieg.
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Dann wieder wars nur seines Steigens Nachklang und seines Mantels Wind was hinter ihm war. Er aber sagte sich, sie kämen doch; sagte es laut und hörte sich verhallen. Sie kämen doch, nur wärens zwei
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die furchtbar leise gingen. Dürfte er sich einmal wenden (wäre das Zurückschaun nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes, das erst vollbracht wird), müßte er sie sehen, die beiden Leisen, die ihm schweigend nachgehen:
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140 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft, die Reisehaube über hellen Augen, den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe und flügelschlagend an den Fußgelenken; 50
und seiner linken Hand gegeben: sie. Die So-geliebte, daß aus einer Leier mehr Klage kam als je aus Klagefrauen; daß eine Welt aus Klage ward, in der
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alles noch einmal da war: Wald und Tal und Weg und Ortschaft; Feld und Fluß und Tier; und daß um diese Klage-Welt, ganz so wie um die andre Erde, eine Sonne und ein gestirnter stiller Himmel ging,
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ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen - : Die So-geliebte. Sie aber ging an jenes Gottes Hand, den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,
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unsicher, sanft und ohne Ungeduld. Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung, und dachte nicht des Mannes, der voranging, und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg. Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein
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erfüllte sie wie Fülle. Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel so war sie voll von ihrem großen Tode, der also neu war, daß sie nichts begriff.
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Sie war in einem neuen Mädchentum und unberührbar; ihr Geschlecht war zu wie eine junge Blume gegen Abend, und ihre Hände waren der Vermählung so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes
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unendlich leise, leitende Berührung sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit. Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau, die in des Dichters Liedern manchmal anklang,
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nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland
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und jenes Mannes Eigentum nicht mehr. Sie war schon aufgelöst wie langes Haar und hingegeben wie gefallner Regen 90
und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. Sie war schon Wurzel. Und als plötzlich jäh
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der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf die Worte sprach: Er hat sich umgewendet -, begriff sie nichts und sagte leise: Wer? Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang,
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stand irgend jemand, dessen Angesicht nicht zu erkennen war. Er stand und sah, wie auf dem Streifen eines Wiesenpfades mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,
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die schon zurückging dieses selben Weges, den Schritt beschränkt von Leichenbändern, unsicher, sanft und ohne Ungeduld.11
„Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.“ Mit dieser Aussage hebt das Gedicht an, gesprochen von jemandem, der sich zunächst nicht identifizieren lässt. Jemand oder etwas spricht – doch um wen oder was es sich handelt, ist zunächst nicht zu erfahren. Rilkes Gedicht stammt aus dem Jahr 1907 und ist Teil der Neuen Gedichte. Es ist hauptsächlich in Blankversen gehalten, fünfhebigen, reimlosen Jamben. „Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.“ (Hervorhebung J.V.) Das Demonstrativpronomen „Das“ suggeriert Eindeutigkeit hinsichtlich des Gegenstands, auf das es hinweist. Da es nach dem Titel jedoch das erste Wort des Gedichts ist, bleibt paradoxerweise unbestimmt, auf wen oder was es sich bezieht oder, um seine deiktische Qualität zu betonen, worauf es zeigt. Es steht zu vermuten, dass es sich um die sich vor dem Sprecher ausbreitende Landschaft handelt. Das Gedicht setzt ein zu einem Moment, in dem das Geschehen schon voll im Gange ist, und stellt dessen Beschreibung dar, mehr als dass es dessen Erklärung wäre. Auch die folgenden Verse verleihen dem Text nicht mehr Eindeutigkeit:
11 Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M: Insel, 471f.
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„Wie stille Silbererze gingen sie /als Adern durch sein Dunkel.“ (2-3; Hervorhebung J.V.) Der grammatischen Logik gemäß müsste sich „sie“ auf die Seelen beziehen; jedoch bleibt die Aussage, dass Seelen sich wie Erze (vgl. 2) bzw. „als Adern durch sein Dunkel“ ziehen (3; wobei sich das Possesivpronomen „sein“ sowohl auf das Dunkel des Bergwerks wie auch auf das Innenleben des Orpheus beziehen mag), seltsam kryptisch. Die Landschaft verflicht sich zu einem Bergwerk aus Seelen, die sich wie Adern verzweigen, glänzend wie Silbererz – Mineralien, die wie Gefäße einen Körper durchziehen. Im Bergbau werden Erzgänge als Adern bezeichnet. Vor dem Hintergrund des Ovid’schen Ursprungstextes könnte das Pronomen „sie“ aber ebenso den stillen Gang der zwei Gestalten Eurydike und Hermes meinen, die das Leben des Orpheus („sein Dunkel“, 3) durchfurchen. In diesem Sinne würden sie sich, lebensnotwendigen Adern gleich, durch sein von Trauer ob des Verlusts der Eurydike gebeugtes Wesen ziehen. Diese letztere Lesart kristallisiert sich jedoch erst nachträglich hinaus, vom Ende des Gedichts her. Inmitten des beklemmend farblosen Schauplatzes der Naturlandschaft, die zugleich Orpheus’ Seelenlandschaft zu sein scheint, glänzt als Farbtupfer hochrot einzig das Blut. In der Dunkelheit sieht es aus, als habe es die Konsistenz von Porphyr (5), einem Gestein von dichter, harter Struktur. Die Formulierung „Blut, das fortgeht zu den Menschen“ (4), gibt Anlass zu vermuten, dass in der ersten Strophe der Hades beschrieben wird, der durch das Blut in Bezug zur Welt der Lebenden gesetzt wird. Doch ohne den Gedichttitel Orpheus. Eurydike. Hermes wäre diese Schlussfolgerung nicht haltbar, denn die Verse entstammen einem nüchtern beschreibenden, aber nicht kommentierenden Sprecher, der nicht weiß oder so tut, als wüsste er nicht, dass er sich im Hades befindet. Das fließende, zirkulierende Blut symbolisiert das Leben; stockendes, versteinertes Blut dagegen den Tod. An dieser Stelle ist zum ersten Mal beider Relation evoziert, die in den folgenden Versen programmatisch wird: Das (Kräfte)Verhältnis der Welt der Lebenden und der Toten, das im Verlaufe des Gedichts in seinen verschiedenen Modi beschrieben wir – von harten, unvereinbaren Gegensätzen, deren Grenze nur vom Leben hin zum Tod durchlässig ist bis zu einer reversiblen Synthese in beide Richtungen. Der Vers vom Blut, das zwischen Wurzeln entspringt (3-4) und „fortgeht zu den Menschen“ (ebd.; Hervorhebung J.V.), macht gleich zu Anfang deutlich, dass es eine von jener der Menschen verschiedene Welt gibt. Wenn es zuletzt in Zeile 92 heißt, Eurydike sei schon zur Wurzel geworden, wird eine Bewegung in die andere Richtung deutlich: Sie geht fort zu den Toten. Zwischen dem Totenreich mit seiner Erde, den Wurzeln, Erzen und Gesteinen und der Welt der Menschen, der Lebenden, verläuft eine scharfe Grenze, es ist eigentlich kein Übergang möglich. Im Motiv der Adern, einem beispiellosen System von Bifurkationen, hat diese Aufspaltung der beiden Welten, jene der Lebenden und jene der Toten, ihre bildliche Korrespondenz. Sie überschneiden sich nicht, sie
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gehen nicht ineinander über. Eigentlich, so muss man sagen, denn Rilkes Version der Geschichte von Orpheus und Eurydike, die hier berichtet wird, erzählt von einer Grenze, die reversibel wird, von einer Grenze, die zur Schwelle wird. Doch zunächst fährt der Sprecher fort mit seiner Beschreibung der Szenerie. Diese wird in der zweiten Strophe verortet in einer Landschaft, die so anonym ist, dass sie überall zu finden sein könnte: Felsen waren da und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres und jener große graue blinde Teich, der über seinem fernen Grunde hing wie Regenhimmel über einer Landschaft, Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut, erschien des einen Weges blasser Streifen, wie eine lange Bleiche hingelegt. (8-15; Hervorhebungen J.V.)
Die Beschreibung einer Landschaft also; die Schilderung einer Beobachtung: „Felsen waren da“ (8), gefolgt von einem Adjektiv, das die beobachteten Wälder doch eigentlich näher bestimmen soll, sich dessen aber gerade verweigert, denn sie sind „wesenlos“ (8). „Brücken über Leeres“ (9) beschreibt die Sprechinstanz und selbst der Teich, der ein spezifischer ist, angezeigt durch das Demonstrativpronomen „jener“ (10), das eine deiktische Geste auf einen bestimmten Teich impliziert, ist doch wieder nur ein „großer, grauer, blinder“ (10) ohne spezifische Eigenschaften. Die Landschaft ist trist, trostlos, grau, einem Regenhimmel gleich. Sie ist zum einen die Kulisse, vor der sich die Handlung des Gedichts abspielt, und sie ist zugleich eine Metapher für das Innenleben des Orpheus, wie sich nachträglich herausstellt. Vom Ende des Textes her eröffnen sich im Nachhinein weitere Ambiguitäten. Doch bleiben wir zunächst bei dem, was geschrieben steht: Ein Weg verläuft wie ein blasser Streifen durch die Landschaft. Die Szene ist keine von auffälliger Hässlichkeit oder bedrohlicher Unheimlichkeit, sondern von tiefer Gleichgültigkeit. Die Wiesen sind als „sanft und voller Langmut“ (14), beschrieben, sie ruhen in sich selbst, zeigen eine Gelassenheit und Geduld ob dessen, was da kommt, was sich allmählich, Vers für Vers wie in einem filmischen Verfahren herausbildet, schlechterdings so, als gingen die Figuren langsam auf eine Kamera zu – erst verschwommen, dann immer deutlicher. Auf dem langen Weg formen sich allmählich, Stück für Stück (man denke an den stokkatohaften Rhythmus: „[J]ener große graue blinde Teich“ (10; Hervorhebung J.V.)) Personen hervor, die „dieses eines Weges kamen“ (17): Orpheus, gefolgt von seiner verstorbenen Frau Eurydike an der Seite des Hermes, Götterbote und Begleiter von Reisenden. Die Ankündigung ihrer Näherung „Und dieses einen Weges kamen sie“ (16) ist durch eine vorangehende und
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eine nachfolgende Leerzeile hervorgehoben. Sie beendet die einleitende Vorrede und führt in den Hauptteil des Textes ein. Vorneweg geht ein schlanker Mann im blauen Mantel, der mit keinem Namen bedacht ist. Die Geste des Gedichts ist keine des Wissens, sondern der sinnlichen Beobachtung. Jemand beobachtet erstaunt, was sich vor seinen Augen abspielt, ohne zu wissen, um wen es sich handelt. Ein schlanker, stummer, ungeduldiger Mann, ist zu sehen, der schwer an seinem Gang trägt. Erst dann, im 24. Vers, mit der Rede von der Leier in seiner linken Hand, wird endlich deutlich, um wen es sich handeln muss: Den thrakischen Sänger und Dichter Orpheus. Der Titel des Gedichts hatte zwar das Thema geliefert, doch nicht die Figurenkonstellation. Zu sehen also ist Orpheus, dessen Unruhe in hartem Kontrast zur reglosen, gleichmütigen Landschaft steht, die er durchschreitet. Alliterationen wie die von „dem Fall der Falten“ (23) und der „leichten Leier“ (24) betonen die sinnlichen Qualitäten der Sprache, die im Vordergrund stehen anstelle der analytischen. Die Sinnlichkeit des Klanges hatte sich auch Orpheus zunutze gemacht, als er die Leier mit einer betörenden Leichtigkeit spielte, die hier vollkommen vergessen scheint. Orpheus, der als Kind des Apollon und der Muse Kalliope gilt, vermochte, das Instrument so zu spielen, dass er wilde Tiere mit seinem dichterischen Gesang zähmen und Steine beleben konnte: „Während er so sang und zu seinem Lied die Leier schlug, begannen die blutlosen Seelen zu weinen, Tantalus schnappte nicht nach dem entweichenden Wasser, Ixions Rad stand still, an des Tityos Leber hackten nicht mehr die Geier, keine Krüge trugen die Danaiden, und du, Sisyphus, saßest auf deinem Felsenblock. Damals, so kündet die Sage, netzten zum ersten Mal Tränen die Wangen der Furien, wie das Lied sie rührte, und weder die Gattin des Herrschers vermag dem Flehenden seine Bitte abzuschlagen noch der König der Tiefe.“12
Dank seines bezaubernden Gesangs und Saitenspiels, zählt er zusammen mit den Sirenen zu den großen, mit dem Mittel des Klanges operierenden kulturhistorischen Verführerfiguren.13 So mächtig, dass Rilke im fünften seiner Sonette an Orpheus schreibt:
12 Ovidius Naso, Publius (2004): Metamorphosen. Zehntes Buch. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 481. 13 Dabei ist er, hinsichtlich der Wirkungsgeschichte, eine der produktivsten Gestalten der antiken Mythologie. Vgl. Neymeyr, Barbara (1999): Poetische Metamorphosen des Orpheus-Mythos bei Rilke. Von seinem Gedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes“ bis zu den „Sonetten an Orpheus“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. Band 118, Sonderheft. Berlin: Erich Schmidt, 25-59.
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Ein für alle Male / ist’s Orpheus, wenn es singt.14
„[E]s“ spielt an auf die Kraft des Gesangs, die als so persistierend und allgemeingültig angenommen wird, dass sie unabhängig von seinem Inhalt ist. Nach dem Tod Eurydikes durch einen Schlangenbiss stieg Orpheus in die Unterwelt hinab, um die Götter zu bitten, das Todesurteil seiner Vermählten zu widerrufen. Und tatsächlich vermochte er, ihnen mit seinem Spiel und Gesang die Erlaubnis abzugewinnen, seine Geliebte aus dem Hades zurückzuholen. Der Tod, der bis dato als irreversibel galt, kann dank seiner Betörungskunst wenn nicht umkehrbar gemacht, so doch aufgeschoben werden. Orpheus bittet nicht darum, seine junge Gattin unsterblich zu machen, sondern ihr Zeit zu schenken, ihr noch einige Jahre mehr zu gewähren. Er versichert, sie sei für ihn eine „Gabe auf Zeit“15 und werde zurückkehren in die Totenwelt, wenn sie eine angemessene Zeit gelebt habe. Bedingung für die Einwilligung der Götter ist es, er dürfe sich auf dem Weg in die Welt der Lebenden nicht nach ihr umdrehen bis er das Tal der Totenwelt verlassen hat, sondern darauf vertrauen, dass sie ihm folge. Eben diesen Gang durch die Unterwelt, mit dem Ziel des Aufstiegs in die Welt der Lebenden, beschreibt Rilkes Gedicht. Orpheus ist ungeduldig, verschlingt den Weg „in großen Bissen“ (22), hat alle Leichtigkeit verloren und wirkt alles andere als befreit angesichts der Aussicht, Eurydike in Kürze wieder um sich zu haben. Er, der versprochen hatte, dem Wort der Götter Vertrauen zu schenken, ist voller Zweifel, weil seine Sinne ihm nicht versichern, dass Eurydike ihm tatsächlich folgt. Der zwischen beiden liegende, zwischen Leben und Tod situierte Raum wird von seinen Sinnen durchkreuzt, taxiert, befragt. Sie sind in unruhiger Bewegung, sie sind entzweit voneinander und laufen in entgegengesetzte Richtungen: Während seine Blicke ungeduldig den Weg abmessen, der noch vor ihnen liegt und sich bemühen, die Zukunft zu antizipieren (27-30), versucht sein Gehör, das zu registrieren, was sich hinter ihm befindet. Und seine Sinne waren wie entzweit: indes der Blick ihm wie ein Hund vorauslief, umkehrte, kam und immer wieder weit und wartend an der nächsten Wendung stand, – bleib sein Gehör wie ein Geruch zurück. (27-31)
Es gibt wenige Möglichkeiten, mittels Sprache stärker mit der Sinnlichkeit zu spielen, als in Rilkes Versen von dem wie ein Hund ungeduldig vorauslaufenden Blick und dem wie ein Geruch in der Luft hängenden Gehör. So auch in den folgenden
14 Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M: Insel, 724. 15 Ovidius Naso, Publius (2004): Metamorphosen. Zehntes Buch, 481.
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Alliterationen „immer wiederweit / und wartend an der nächsten Wendung“ und „Gehör wie ein Geruch“ (Hervorhebungen J.V.). In außerordentlicher Weise vermag die lyrische Sprache es, den Drang des Orpheus, sich umzudrehen, klanglich zu präsupponieren, ohne dass dies schon explizit thematisch geworden wäre. Wie in einem Stottern stolpern seine Sinne und müssen verharren oder Substitutionshandlungen ausführen – wenn sich schon seine Augen nicht von Eurydikes Anwesenheit überzeugen dürfen, so soll wenigstens sein Gehör wie ein in der Luft stehender Geruch Wache halten. Manchmal suggeriert sein Hörsinn ihm den Klang der Schritte; manchmal gaukelt er ihm dies nur vor und kolportiert stattdessen den Wind, der sich in seinem Mantel geräuschvoll verfängt. Auch der Sprecher des Gedichts ist nicht sicher, dass Eurydike und Hermes dem Orpheus folgen. Die Rede ist von jenen „beiden andern, / die folgen sollten diesem ganzen Aufstieg“ (33-34; Hervorhebung J.V.). Der Konjunktiv II drückt eine Vermutung aus und zeugt von keiner Gewissheit ob ihrer Anwesenheit. Der Versuch, sich selbst zu beruhigen und von Eurydikes Präsenz zu überzeugen, ist wirkungslos und verhallt im leeren Raum: „Er aber sagte sich, sie kämen doch; / sagte es laut und hörte sich verhallen.“ (37-40) Der Sprecher versetzt sich in hohem Maße in den Protagonisten Orpheus hinein und macht von keiner auktorialen Perspektive Gebrauch, sondern suggeriert, dass er genauso wenig Wissen wie Orpheus hat über den Verbleib der Eurydike. Der Sprecher versetzt sich so sehr in Orpheus hinein, dass deren Unio in Betracht zu ziehen ist. Anders gesagt: Ob es Orpheus selbst ist, der thrakische Sänger und Dichter, der das Gedicht spricht, erfahren wir nicht, aber es gibt erste Anzeichen dafür. Denn nicht nur geht es, auf einer semantischen Ebene, darum, dass Orpheus der Verlockung, sich umzudrehen, widersteht, sondern eben diese Verlockung spürt auch der Sprecher, wenn er stakkatohaft von dem Blick spricht, der „immer wiederweit und wartend an der nächsten Wendung stand“ (Hervorhebung J.V.). Die W-Laute machen den schier unerträglichen Drang spürbar, sich umdrehen zu müssen – und daran beinahe zu ersticken. Das Gedicht macht auf zweifache Weise eine Verführung gegen das Gesetz thematisch: Im Ovid’schen Urmythos war Orpheus der schlechthinnig mächtige Dichter, der selbst als Verführer agierte, und mit seinem Leierspiel zwei Welten, die stets getrennt waren, überquerte, indem ihm das Unwahrscheinliche gelang, nämlich die Sinne der Götter zu betören. Bei Rilke nun ist Orpheus der Ohnmächtige, der der Verlockung widerstehen muss, gegen das ihm auferlegte Gesetz, sich bloß nicht umzudrehen, zu verstoßen. In einer metapoetischen Volte wird die Ohnmacht des Dichters – zum einen Orpheus, der antike Dichter, zum anderen der Sprecher des vorliegenden Textes und, nochmal, ob sie in eins fallen, erfahren wir nicht – artikuliert. Der Gedichttitel evoziert also zunächst den Ovid’schen Mythos, doch was dann folgt, ist eine Demontage, ein Undoing of the myth, ja dessen Umkehrung.
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Mit den nächsten Versen bilden sich durch die Beschreibung ihrer äußeren Gestalt, ebenso wie es zuvor mit der Figur des Orpheus geschehen war, Hermes und Eurydike heraus: Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft, die Reisehaube über hellen Augen, den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe und flügelschlagend an den Fußgelenken; und seiner linken Hand gegeben: sie. (46-50)
Auch hier suggeriert der Sprecher mittels des schlichten Personalpronomens „sie“, er wisse nicht, um wen es sich handelt. Dabei macht die nächste Strophe überdeutlich, dass es sich keinesfalls um irgendeine Frau handelt, sondern um die eine, die Orpheus am Herzen liegt: die „So-geliebte“ (52, 61). „So“ fungiert hier in seiner zweifachen Bedeutung als Bestimmung der Art und Weise seiner Liebe und als Angabe deren Stärke. Er hat sie so sehr geliebt, daß aus einer Leier mehr Klage kam als je aus Klagefrauen; daß eine Welt aus Klage ward, in der alles noch einmal da war: Wald und Tal und Weg und Ortschaft; Feld und Fluß und Tier; und daß um diese Klage-Welt, ganz so wie um die andre Erde, eine Sonne und ein gestirnter stiller Himmel ging, ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen - : Die So-geliebte. (52-61)
Nicht nur wog der Verlust seiner Frau so schwer, dass aus dem orphischen, belebenden Gesang eine Totenklage ward, sondern seine Liebe vermochte, eine zweite Welt zu erschaffen, „in der alles noch einmal da war“ (54-55). Für Orpheus entsteht eine Parallelwelt, in der nicht nur Wald und Feld und Tal ein zweites Mal, in einer traurigen, tristen, „entstellten“ (60) Version des Originals, existieren, sondern ein eigenes Universum der Klage, mit einer eigenen Metaphysik, einer Sonne, einem Himmel und Sternen, die voller Anklage ob des Verlusts der So-sehr-Geliebten sind. Alles ist Klage, das zeigt sich in der fünfmaligen Wiederholung des Wortes (53, 54, 57, 60) und den Aneinanderreihungen durch die Konjunktion „und“ (55, 56, 57, 59).
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Wer also spricht hier? Kann ein solches Klagelied nicht nur der Dichter Orpheus anstimmen? Zumindest gibt es die starke, enge Begegnung zwischen ihm und dem Sprecher. In der Auftaktzeile der folgenden Strophe nun wird endlich das schon angedeutete „aber“ (63) ausgesprochen. Während Orpheus mit weit ausgreifenden, ungeduldigen, ja gierigen Schritten beschrieben war, geht Eurydike langsam, in kleinen Schritten, „beschränkt von langen Leichenbändern, / unsicher, sanft und ohne Ungeduld.“ (64-65) Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung, und dachte nicht des Mannes, der voranging, und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg. Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle. (66-70)
Eurydike bewegt sich physisch – zwar langsam, aber doch setzt sie einen Fuß vor den anderen. Emotional jedoch ist sie nicht mehr in Bewegung versetzbar. Sie ruht in sich, ist nicht offen für sinnliche Ansprache. Sie war in einem neuen Mädchentum und unberührbar; ihr Geschlecht war zu wie eine junge Blume gegen Abend, und ihre Hände waren der Vermählung so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes unendlich leise, leitende Berührung sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit. (75-81)
Jede Berührung verschreckt sie, die Unverfügbare, die Un-Verführbare. Ihr Geschlecht ist zu, und weder für menschliche Zuneigung noch für die Berührung eines Gottes ist sie empfänglich. Noch bevor sie als „aufgelöst“ (88), als „gefallner Regen“ (89), als „Wurzel“ (92) beschrieben wird, kann ihre emotionale Reglosigkeit schon als Vorzeichen für die Endgültigkeit ihres Todes genommen werden. Eurydike ist in einer Metamorphose begriffen, „[s]ie war schon nicht mehr diese blonde Frau“ (83), die Orpheus kannte und geheiratet hatte. Sie war schon aufgelöst wie langes Haar und hingegeben wie gefallner Regen und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. (88-90)
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Und, durch Leerzeilen hervorgehoben, folgt die alle Hoffnung vereitelnde Aussage: Sie war schon Wurzel. (92)
Eurydike hat sich schon vollständig dem Hades überantwortet und muss sich nun aber noch einmal der Welt der Lebenden zuwenden. Und sie tut dies, wenn auch nur physisch und ohne, dass Freude zu erkennen wäre angesichts der bevorstehenden Begegnung mit ihrem Mann. Sie tut dies ohne Hast, ohne zu realisieren, dass es ums Ganze geht. Zu sehr schon ist sie eingenommen von der Welt der Toten, als dass sie noch die Frau wäre, die Orpheus so schmerzlich vermisst. So versinnbildlicht Eurydike das Paradox einer abwesenden Anwesenheit. Körperlich präsent im Limbus, dem Raum der Unentschiedenheit zwischen Erde und Unterwelt. Sie ist sowohl für Hermes als auch den Sprecher des Gedichts sichtbar, bewegt sich, reagiert auf Berührung (79-81), ist also tatsächlich anwesend und ‚lebendig‘; und zugleich doch alles andere als gegenwärtig, sondern unberührbar (76), in sich selbst gekehrt, längst verloren an das Reich des Todes, die Schritte schon in Leichenbändern gebunden, der Erde gegeben als Regen, als Wurzel (88-92). Sie hat sich aufgegeben und dem Hades überantwortet. Orpheus kommt zu spät. Eurydike geht lautlos, ihre Schritte sind nicht zu hören, sie hinterlässt keine hörbaren Spuren, sie wandelt wie ein Geist. Aus diesem Grund zweifelt Orpheus an ihrer Anwesenheit, ist doch der auditive der einzige Sinn, der ihm noch ihrer Lebendigkeit versichern könnte. Eurydike oszilliert zwischen Präsenz und Absenz. Es ist ihre bloß latente Anwesenheit, die auf Orpheus derart betörend wirkt. Angezogen von dem, was in Aussicht steht und was sich doch entzieht, was zum Greifen nah und doch unerreichbar ist. Sein Blick zurück ist die zerstörerische Konsequenz der Verlockung, Gewissheit anstelle bloßer Ahnung, Wissen anstelle von Hoffnung und Imagination erlangen zu können, der er hier mit katastrophalen Folgen erliegt. Das, was sie anwesend machen könnte, würde eine Kontaktaufnahme durch Gesten der Zuwendung wie Blickaustausch und verbale Kommunikation voraussetzen, die Orpheus gerade verboten sind. Sie ist nah, schier greifbar, und doch bleibt der Kontakt zu ihr zeitlich und räumlich aufgeschoben und unerreichbar. Es ist dieses Paradox, das Orpheus aushalten muss, um die Prüfung zu bestehen. Das, was er bis dato so sehr vermochte, nämlich das affektive In-Bewegung-Versetzen um Entscheidungen umzukehren, umzuwenden, umzudrehen, dies darf am eigenen Leib nun nicht geschehen, er muss verharren und in die eine, vorgegebene Richtung vom Hades aus in die Welt der Lebenden gehen, will er die ihm auferlegte Prüfung bestehen. Die Götter hatten Orpheus ein Versprechen gegeben, worauf dieser sich eingelassen hat ohne sicher zu wissen, dass diese ihr Wort tatsächlich halten werden, und ohne das nötige Vertrauen – zu unglaublich mag ihm die Umstimmung der Götter er-
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scheinen, zu groß seine Sehnsucht, die Anwesenheit Eurydikes zu erwarten, zu mächtig seine Angst, sie bleibe ihm wider der Versicherungen der Götter verwehrt oder zu verlockend, Wissen an die Stelle von Hoffnung zu setzen. Er hat sich auf das Paradox eingelassen, Eurydike nur wieder anwesend machen zu können, indem er sich von ihr abkehrt, indem er jegliche Kommunikation mittels Blick und Sprache aufschiebt, jegliche Zuwendung aussetzt. Das Gedicht beschreibt die Tragik einer unwahrscheinlichen Begegnung, die nicht nur flüchtig ist, sondern gar nicht erst statthat, weil es durch Orpheus’ Schwäche nicht dazu kommt. Tragisch ist, dass seine Schwäche höchst romantische Motive hat. Es ist die Geschichte einer gescheiterten Begegnung, die der Text durch seinen Aufbau noch potenziert: Intensive Fokussierungen, einmal auf Orpheus, einmal auf Eurydike, stehen nacheinander – bis zur ungefähren Hälfte des Gedichts, Zeile 61, ist auf Orpheus’ Perspektive fokussiert; von da an bis zum Schluss auf Eurydikes –, und werden nie zusammengebracht. Je weiter sie ihm entzogen ist – je länger der Gang dauert und je stärker seine Sinne darauf reagieren –, desto mehr wächst sein Begehren. Seine Ungeduld macht sich physisch bemerkbar: „Ohne zu kauen fraß sein Schritt den Weg / in großen Bissen“ (21-22). Sie steht im harschen Gegensatz zu Eurydikes Gleichgültigkeit, die sich „unsicher, sanft und ohne Ungeduld“ (107) bewegt. Orpheus’ Affekte, die ausgelöst sind durch den Entzug des Begehrten, werden so zu Merkmalen von Lebendigkeit stilisiert, die Eurydike fehlen. Orpheus ist unruhig, Eurydike jedoch „unsicher, sanft und ohne Ungeduld“ (65, 197) – es ist dies der einzige Vers des Gedichts, der wiederholt wird. Orpheus’ Hörsinn trügt ihn, und so steigert sich sein Verlangen, sich mit dem Blick von der Anwesenheit seiner Geliebten zu überzeugen, ins Unermessliche. Was folgt, ist seit Ovid hinlänglich bekannt: Orpheus erliegt seinem Drang, wagt einen kurzen Blick zurück und verliert Eurydike endgültig. Beide Protagonisten und die Welt, in der sie agieren, sind in dem ästhetischen Vorgang der Metamorphose begriffen: Schon die Wälder sind zu Anfang des Textes als „wesenlos“ (9) charakterisiert. Wenn die letzten Strophen des Gedichts dieses Merkmal wieder aufnehmen und auf Eurydike übertragen, aus der jegliches Leben gewichen ist und die ihre charakteristischen Eigenschaften, die sie einst ausgezeichnet haben, verloren hat, so stellen die Attribute einen Rahmen dar. Eben solches geschieht auch in Bezug auf Orpheus. Die Adjektive „grau“ (10), „blind“ (ebd.) und „blass“ (14), fungieren zunächst als Anzeichen der Farb- und Gestaltlosigkeit der Landschaft. Es könnte sich um jede beliebige Landschaft handeln, sie ist unspezifisch und trägt keine individuellen Charakteristika, die sie auszeichnen würden. An exponierter Stelle, am Schluss des Gedichts, wird das wieder aufgenommen: Aus Orpheus, der zu Anfang noch der spezifische „schlanke Mann im blauen Mantel“ (19) war, wird eine depersonalisierte, kontur- und wesenlose Gestalt, er
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verliert seine Individualität und wird degeneriert zu „irgend jemand, dessen Angesicht / nicht zu erkennen war“ (100-101). So beginnt der Text mit der Innensicht des Orpheus und endet mit der von Eurydike, die nicht einmal registriert, wer sich hinter „irgend jemand“ (100) verbirgt, der wartend und trauernd am Ausgang steht; erstarrt, da nicht nur seiner Liebe und Zukunft beraubt, sondern auch seiner Personalität. Zu „irgend jemand“ ist er degradiert, weil Eurydike ihm gegenüber gleichgültig ist; weil er für Hermes, dem zwischen den Welten Wandelnden, nur ein Schatten unter Vielen ist; weil er das, was ihn ausmachte, nun aufgrund seines Unvermögens für immer verloren hat. Orpheus verwandelt sich von dem liebenden, begehrenden Mann, der die unvergleichliche Macht hatte, die Götter zu verführen, in eine tragische, anonyme Figur, so wie Eurydike von der blonden Frau mit ihrem persönlichen Geruch, die Orpheus in seinen Liedern besungen hatte, in eine gleichgültige Gestalt. Ihre Metamorphose zur Toten hatte schon längst eingesetzt, doch jetzt wird sie in aller Vehemenz wahrnehmbar. Eingeleitet durch die sechsmaligen anaphorischen Versanfänge „Sie war“ (66, 69, 75, 83, 88, 92) schreitet die Verwandlung progressiv voran, kulminiert in den Zeilen „Sie war schon aufgelöst wie langes Haar / und hingegeben wie gefallner Regen / und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat“ (88-90) und wird besiegelt in dem durch Leerzeilen exponierten Vers „Sie war schon Wurzel“ (92). Es handelt sich hierbei um einen genuin ästhetischen Vorgang, Eurydike wird zu etwas Anderem, verwandelt sich von einer lebendigen Frau in eine im Erdreich verortete, reglose Wurzel. Während hier zunächst der Vergleich dominiert, wie durch das ganze Gedicht hinweg (vgl. etwa 2, 15, 26, 27, 71, 77, 81, 88-90), erscheint Eurydike nun nicht mehr wie eine Frucht, wie eine Blume oder wie Regen, sondern sie ist eine Wurzel geworden, versteinert, reglos und passiv, wovon die folgenden Adjektive zeugen: Sie war schon aufgelöst wie langes Haar und hingegeben wie gefallner Regen und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. (Hervorhebungen J.V.)
So bewegungslos, dass sie unberührt ist von Orpheus’ Versagen und sich gleichgültig, ja schlechterdings bereitwillig ein letztes Mal umdreht, um in den Hades zurückzukehren. Sind die Antagonisten ‚Leben‘ und ‚Tod‘ bis dahin durch die ungewöhnliche Verknüpfung paradoxer Bilder wie dem von der Fruchtbarkeit des Todes („Und ihr Gestorbensein / erfüllte sie wie Fülle. / Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel“ (69-71)) in eine Synthese gebracht worden, so illustrieren die Metaphern der Adern und Wurzeln die Bifurkation der zwei Welten, die Orpheus zusammenführen wollte und die doch unvereinbar bleiben: „Sie war schon Wurzel“ heißt es schon eine Zeile bevor Orpheus sich umdreht und ihr beider Schicksal besiegelt. Eurydikes neue Wesensbestimmung lässt keine Hoffnung mehr auf eine
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mögliche Allianz beider Sphären oder gar deren Reversibilität. Die Schuld für diese, jetzt unumkehrbare, endgültige Metamorphose trägt Orpheus’ fatales Verlangen, sich von ihrer Anwesenheit überzeugen zu müssen. In beiden Figuren illustriert sich, wie aus der Dynamik des Diskurses jegliche physische und emotionale Bewegung zugunsten von Reglosigkeit und Starre gewichen ist, kulminierend zum einen in dem Substantiv „Wurzel“ (92), Inbegriff für Eurydikes Anheimgeben an die Erde; und zum anderen in dem Ausdruck „stand und sah“ (100), der Orpheus’ Fehler besiegelt und ihn nurmehr ohnmächtig und hilflos zurücklässt. Rilkes lyrische Verarbeitung der tragischen Liebesgeschichte konstituiert sich durch Bewegungsmomente und deren Ausbleiben; vor allem durch eine entscheidende Wendung, die nicht sein darf, die aber sein wird.16 Folgende Bewegungsabfolgen finden sich im Textdiskurs: Zunächst der Tod der Eurydike und ihre Fahrt hinab in den Hades; sodann Orpheus’ Spiel der Leier, das Steine rühren und Gemüter so sehr bewegen kann, dass sich die Götter erweichen lassen, Eurydikes Schicksal umzukehren und ihr eine zweite Chance auf das Leben zu geben; der schwere Gang des Orpheus von der Unterwelt in die der Lebenden, mit dem er seine Geliebte zurückholen will; nicht zuletzt das Herumirren, das Vorlaufen, Verharren, das Zurückkehren seines visuellen Sinnes sowie das zurückwendende Lauschen seines Hörsinns angesichts der Zweifel, ob seine Geliebte ihm tatsächlich folgt. Eurydike seinerseits ist emotional reglos, bewegt sich aber folgsam wie ihr geheißen. Schließlich folgt der alles entscheidende, verbotene Blick, mit dem sich Orpheus zurückwendet; und, in letzter Konsequenz, das Umkehren Eurydikes zurück in den Hades und ihr endgültiger Verlust. Eine weitere, metapoetische Wendung besteht in der Verarbeitung des Ovid’schen Urmythos, der nicht nur gewendet wird von der hoffnungsvollen, glücklichen Eurydike – „Sie streckt die Arme aus, voll Sehnsucht, ihn zu umfangen und umfangen zu werden, aber die Unglückliche greift nur in die entweichenden Lüfte“17, wie es bei Ovid heißt – in die gleichgültige, hoffnungslose Person bei Rilke. Nein, der Mythos nach Ovid wird nicht nur verschoben und gewendet, sondern umgekehrt: Orpheus nämlich, der große, mächtige Verführer wird zum Ohnmächtigen, der der Verführung erliegt.
16 Auch Gabriele Brandstetter stellt Bewegungen in das Zentrum ihrer Betrachtungen, wenn sie den Mythos von Orpheus und Eurydike als Choreographie liest. Brandstetter, Gabriele (2010): Poetik der (Ent-)Wendung. „Orpheus und Eurydike“ als Choreographie. In: Dies./Avanessian, Armen/Hofmann, Franck (Hg.): Die Erfahrung des Orpheus. Paderborn: Fink, 187-197. 17 Ovidius Naso, Publius (2004): Metamorphosen. Zehntes Buch. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 483.
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Mit seiner Dichtung und seiner Leier zu bewegen, zu rühren, zu erweichen, war das eigentliche Handwerk des Orpheus, er bewegte also die Welt, er hatte die Kraft, die Sinne in Bewegung zu versetzen. Sinne, die er selbst nun nicht mehr unter Kontrolle halten kann, die er nicht mehr als vertrauenswürdig empfindet. Sie drohen, ihn im Stich zu lassen, ihm einen Streich zu spielen, scheinen ihn zu trügen in den Momenten des Zweifels, in denen er keine Schritte hört, und sie tun es tatsächlich, schließlich folgt Eurydike ihm durchaus, wie Sprecher und Leser des Gedichts wissen. Doch kann man dessen gewiss sein? Schließlich ist doch Hermes und nicht der Sprecher derjenige, welcher behauptet, Orpheus habe sich umgedreht. Nicht der Sprecher sagt aus, dass Orpheus sich umgewendet habe, sondern er beobachtet, dass Hermes dies sagt (vgl. 94-97). Doch ist Hermes ein zuverlässiger Bote? Nicht einmal hier also können wir sicher sein, was sich ereignet hat, ob Orpheus sich tatsächlich umgewendet hat oder Hermes dies nur vorgibt. Der Sprecher enthält sich eines Kommentars; Eurydike ist ohnehin lediglich physisch anwesend und begreift nicht, was vor sich geht (97). „[I]rgend jemand“ (100) steht am Ausgang, „dessen Angesicht / nicht zu erkennen war“ (100-101) – bis zuletzt sind die Namen der Figuren außerhalb des Gedichttitels nicht explizit genannt. Es steht zu vermuten, dass es Orpheus ist, der sich tatsächlich umgedreht hat, und der dort ob seines Fehlers trauernd am Ausgang steht. Doch der Beobachter sieht nicht oder er verrät nicht, um wen es sich handelt. Das Gedicht lässt zahlreiche Fragen offen. Mehr als dass es verlässliche Informationen bietet, praktiziert es semantisch, syntaktisch und metapoetisch, Wendungen und Entwendungen in vielfacher Hinsicht. Nicht nur erzählt es von den vielfältigen und heterogenen Drehungen und Torsionen der Physis, sondern auch von der Berührung und Bewegung der Sinne und der emotionalen Innenwelt des Orpheus. So ist der Text lesbar als Allegorie auf eine Bewegung, die nicht unterdrückt werden kann, die über alles entscheidet, die alles aufs Spiel setzt: Leben und Tod, und die Liebe. Sie ist deshalb tragisch, weil Orpheus das schier Unmögliche vermochte, nämlich die Götter mit seiner Musik derart zu betören, dass sie ihm eine unwahrscheinliche zweite und letzte Chance gewährten. Sie machten die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten ein einziges Mal durchlässig und den Tod reversibel. Die Verführung der Götter vermochte es, eine neue Raumordnung zu schaffen bzw. dessen bisherige Grenzen außer Kraft zu setzen; doch genau das wird Orpheus zum Verhängnis: Er hat keine verlässliche Orientierungsmöglichkeit, es gibt keine Demarkationslinie anhand derer er wissen könnte, wann Eurydike den Hades endgültig hinter sich gelassen und in der Welt der Lebenden angekommen ist; die neue Topologie sowie sein Begehren verstören seine Sinne.
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Dieses tragische Spiel von Wendung und Entwendung spiegelt sich auch in der Syntax wider, nicht nur in den Enjambements, die Serpentinen von Zeile zu Zeile ziehen, sondern vor allem in dem allmählichen Herausbilden des plots und der langsamen Formierung der Figuren mittels zahlreicher Adjektive – es ist dies ein Verfahren, das lange offen lässt, von wem und von was der Text eigentlich erzählt. In Rilkes Version des Mythos ist es also das aus Sorge, Zweifel und Sehnsucht erwachende Begehren, das Orpheus dazu zwingt, sich umzudrehen. Bedingung der Götter ist, die Linearität des Weges anzuerkennen und nicht in Frage zu stellen, schließlich handelt es sich um einen Weg, der eigentlich in eine einzige Richtung verläuft, von der Welt der Lebenden in den Hades. Diesen haben die Götter ein einziges Mal umgekehrt, doch hier darf es keine erneute Kehre, keine Wendung geben. Orpheus jedoch ist ver-führt, vom Weg abgekommen, er ist in die Irre geführt, betört von seinen Sinnen, die ihm vorgaukeln, es ginge niemand hinter ihm, es sei nur der Klang seiner Schritte und das Rauschen seines Mantels, das er höre. Bewegung in Form einer Berührung der sinnlichen Wahrnehmung und als emotionale Rührung ist der vielleicht wichtigste Topos des Mythos von Orpheus. Als Wendung, Hinwendung, Zuwendung, Abwendung und Entwendung ist sie Signatur der verhinderten Begegnung der beiden Protagonisten, Tragik ihrer Liebesgeschichte. Bewegung ist so, im wörtlichen Sinne, geradezu movens der Narration; der Motor, der sie in Gang setzt und konstituiert. Dies gilt nicht nur, wie soeben gezeigt, auf motivischer Ebene, sondern außerdem ist das Bewegungsmoment lesbar als Selbstreflexion auf die eigenen Konstitutionsbedingungen des Werks. Darüber gibt der an prominenter Position, in der Mitte des Gedichts, stehende, in runde Klammern gesetzte Satz: „(wäre das Zurückschaun /nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes, /das erst vollbracht wird)“ (41-44) Auskunft, beinahe einer mise en abyme gleich. Die lineare Bewegung nach vorne, in die Zukunft, in die Welt der Lebenden, wird auf der Ebene der Narration thematisiert, es ist das Voranschreiten von Orpheus, Eurydike und Hermes und damit die Entwicklung der Handlung. Auffällig ist, wie häufig Gebrauch gemacht wird von Substantiven und Verben rund um das semantische Feld der Bewegung, vor allem des Gehens. So finden sich zahlreiche Substantive wie „Wege“, „Pfade“, „Gänge“ und „Schritte“ (14, 16, 21, 46, 64, 68, 106) sowie die Verben „gehen“, „laufen“, „kommen“, „steigen“ in verschiedenen Varianten und Tempi (2, 4, 17, 28, 29, 33, 34, 35, 37, 39, 40, 44, 59, 63, 67, 68, 99, 105). Die Bewegung ‚nach vorne‘ ist konstitutiv erstens für die Entwicklung der Handlung, welche vorangetrieben wird durch den Gang der Figuren mit jedem Schritt, der sie wegführt vom Hades in Richtung der Welt der Lebenden. Sie entfaltet sich auf die gleiche Weise wie die Sinne der Figuren den Raum durchmessen. Die Syntax drückt die konsekutive Handlungsabfolge insbesondere durch das
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durchgängige Präteritum, mit der Konjunktion „und“ (27) sowie den Adverben „[d]ann“ (35), „plötzlich“ (94) oder „jäh (94) aus. Die lineare Bewegung nach vorne meint aber auch, darauf weist die metapoetische Volte der eingeklammerten Verse hin, die Bewegung dessen, was man als ‚Materialität der Sprache‘ bezeichnen kann. Gemeint ist der Fortlauf der Schrift von Zeile zu Zeile, der in lyrischen Texten durch die Versform und zumal durch die Zeilensprünge besonders spürbar wird. Die Richtung der Schrift und die Richtung der Handlung sind synchron. Der lange, blasse Weg vom Hades in die Welt der Lebenden zwischen Wiesen, den die Dreiergruppe nimmt, entspricht dem linearen Fortlauf der lateinischen Schrift. Beider Weg ist vorgegeben in nur eine Richtung. Die Bewegung der Schrift, ihre Ausbreitung im Raum, ist Konstituens von Literatur. Sie breitet sich auf dem Papier aus wie Adern im Körper oder Silbererze in einem Bergwerk. Nicht nur durchlaufen Adern den Körper, sie konstituieren ihn, machen ihn funktional, lebendig – genauso wie der Fortlauf der Schrift das Gedicht generiert. Dies vollzieht sich bis zu jenem Augenblick, an dem Orpheus zu Zögern beginnt und seinen Sinnen (sowie den Göttern) misstraut – bis er sich schließlich umdreht. In diesem Moment kehrt sich auf der Ebene des plots der vorgezeichnete Weg um, Orpheus bleibt stehen, während Eurydike und ihr Begleiter Hermes sich umdrehen und den Weg zurück in die Unterwelt gehen. Die Schrift läuft noch ein Stück weiter, der Text bricht nicht direkt ab und spiegelt auch nicht auf formaler, visueller Ebene das Geschehene, die Bewegung des Umkehrens, wie dies etwa ein Werk der visuellen Poesie durch eine non-lineare Anordnung von Worten tun könnte. Der lyrische Text läuft vielmehr noch einige Verse in vertrauter Versreihung fort und illustriert so einmal mehr auf materiell-semiotischer Ebene die emotionale Gleichgültigkeit, mit der sich Eurydike dem Hades ein zweites Mal übergibt, und mit deren Innensicht das Gedicht schließt. Die in den eingeklammerten Versen „(wäre das Zurückschaun / nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes, / das erst vollbracht wird)“ (41-43) formulierte, drohende Zersetzung des Werkes meint, so gesehen, zum einen das von Orpheus vollbrachte wundersame Werk, die Götter auf seine Seite zu ziehen und den Tod zu besiegen – ein Werk, das sodann durch seine Schwäche zerstört wird –, und zum anderen den Text als Werk, der ebenfalls von seiner Zersetzung bedroht ist, und der nach Orpheus fatalem Blick noch zwei Handvoll Zeilen weiter läuft und dann endet – „unsicher, sanft und ohne Ungeduld.“ (107) Es ist keine bewegliche Topologie mehr möglich, sie verhärtet sich zu Wurzeln und die ursprüngliche Dichotomie von Hades und Leben erstarrt. Diskurs und Sprachmaterialität hängen zusammen, ersteren kann es nicht ohne letztere geben, die Bedeutung geht aus dem Schriftmaterial hervor wie die körperlichen und affektiven Bewegungen der Figuren aus den sinnlichen Energien der Schrift.
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D IE
PROZESSUALE
G ENESE
DES
G EDICHTS
Um diese spannungsvolle Relation und Interaktion zu beleuchten, ist der Begriff des „sens“18 von Bruno Latour vielversprechend. Es wäre übertrieben, von einem Theorem oder Konzept zu sprechen, schließlich arbeitet Latour den Begriff, den er in seinem Buch Modes d’existence nur an einer Stelle verwendet, nicht aus. Aber er gibt Anlass, dies zu tun und erste weiterführende Überlegungen anzustellen mit dem Ziel, ihn für die Lyrikanalyse fruchtbar zu machen. Schließlich handelt es sich um eine Denkfigur, die in sich die Interaktion von Materialität und Bedeutung zusammenführt, denn das ist es, was Lyrik konstituiert: Sinnlichkeit in hohem Maße, aus der Sinnhaftigkeit hervorgehen kann (aber nicht muss). Das französische Wort sens vereint beides in sich, hat es doch die dreifache Bedeutung von Sinnlichkeit, Richtung und Bedeutung. „Alles läuft, alles fließt in dieselbe Richtung (sens), die Welt und die Worte“19, so schreibt Latour. Die Genese der fiktionalen Welt, die mit jedem Schritt der drei Figuren ein Stück mehr in die Existenz geschrieben, also instauriert wird, und mit jedem beschriebenen Detail ausformuliert und mit Leben gefüllt wird, beruht auf der Genese des Textes durch sein Material, die Schrift, den Klang, die Rhythmen etc. So verstanden, vereint ein ästhetischer Prozess, und ein solcher ist ein jedes Gedicht, stets sens im dreifachen Sinne in sich: Das Herausbilden der Figuration aus dem Sprachmaterial, die Arbeit an und mit den Sinnen bzw. der Sinnlichkeit von Sprache, die Genese des Textes durch Richtungsnahmen, die eines jeden Prozesses inhärent sind – wenn diese auch nicht eindeutig, sondern im Gegenteil, non-linear, komplex und vielgestaltig sein mögen. Ist man etwa einem metaphysischen Repräsentationskonzept verbunden, so handelte es sich, wie schon angesprochen, vor allem um eine vertikale Bewegung, um Bedeutungen zu heben. So etwa, wenn die Rückkehr der Eurydike ein Aufstieg ist aus der Tiefe des Hades, der Unterwelt, nach oben an die Oberfläche der Welt der Lebenden. Zugleich aber liegt in der Lyrik auch stets eine Bewegung in die Breite vor wegen der Ausbreitung der Schrift durch die Einnahme des Raumes auf dem Papier, wegen der Ausdehnung der fiktionalen Welt, die Zeile für Zeile wächst und an Komplexität zunimmt; ebenso im vorliegenden Beispiel wegen der Einnahme und Umformung des plötzlich durchlässigen Raumes durch die Dreiergruppe, bestehend aus Orpheus, Eurydike und
18 Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 363. Der Begriff „Modes d’ existence“ kommt ursprünglich von Étienne Souriau (Souriau, Étienne (1943): Les Différents modes d’ existence. Paris: Presses Universitaires de Franc). 19 Ebd.
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Hermes; ihre Durchwanderung der Landschaft; deren Durchfurchung durch die Ausbreitung der Seelenadern (1-3). Wenden wir dieses, sich auf der Motivebene vollziehende, kartographische Durchschreiten der Landschaft von Orpheus, Eurydike und Hermes auf die Ebene der Textmaterialität, so zeigen sich auch hier Bewegungen der Verse, Enjambements, Reime, Gleichklänge usw., die sich zueinander in Beziehung setzen und gemeinsam das Gedicht als Endergebnis hervorbringen. In diesem Sinne wäre der lyrische Text nicht mehr allein als im Repräsentationsparadigma verhaftet aufzufassen, sondern prozesshaft, als Genese, als Bewegung, die sich allmählich, sei es kontinuierlich, sei es iterativ oder instantan, verdichtet. Das Konzept des sens, so verstanden wie es hier in aller Grobheit skizziert wurde, muss sich nicht eine „seltsame Parteinahme [vorwerfen lassen], die blindlings die Tiefe überbewertet auf Kosten der Oberfläche, und die will, daß ‚oberflächlich‘ nicht ‚von weiter Ausdehnung‘ bedeutet, sondern ‚von geringer Tiefe‘, während ‚tief’ dagegen ‚von großer Tiefe‘ bedeutet und nicht ‚von geringer Oberfläche‘“20. Weder muss die hermeneutische Bewegung in die Tiefe die bedeutungslose Materialität als wenig komplex und eben ‚bloß oberflächlich‘ gering schätzen oder ignorieren21 bzw. ihr allein die Funktion, Ausdruck von Bedeutung zu sein, zuweisen, noch der Fokus auf eben diese mit einer Vernachlässigung der Bedeutungsdimension einhergehen. Sens berücksichtigt durchaus topologische Bewegungen, jedoch ohne Tiefen oder Oberflächen zu bewerten und zu hierarchisieren. Die Metapher der Wurzel, mit der Eurydike beschrieben wird, illustriert das, denn Wurzeln können sowohl in die Tiefe wachsen wie sie sich auch in die Waagerechte ausbreiten können. Es ist im Sinne des italienischen Wortes stanza mit seiner zweifachen Bedeutung von ‚Raum‘ und lyrischer ‚Stanze‘, dass beide Momente miteinander verknüpft sind. Der Raum zwischen Hades und Oberwelt, der für die Dauer des Ge-
20 Tournier, Michel (1982): Freitag oder Im Schoß des Pazifik. Frankfurt/M: Fischer, 56. Auf diese Stelle hat mich eine Fußnote Deleuzes, Gilles (1993): Logik des Sinns. Frankfurt/M: Suhrkamp, 27f. aufmerksam gemacht. 21 Was ihr gleichwohl nie ganz gelungen ist, ist derlei Vergessenes doch als Spur, Stigmata, alternative commencements (Foucault) im Verborgenen am Werk und bricht mitunter als Emergenzen hervor. Vgl. für ein Plädoyer für eine Ästhetik der Materialität auch Borsò, Vittoria (2004): Schriftkörper und Bildmaterialität – Narrative Inszenierungen und Visualität in Gustave Flauberts ‚Salammbo‘. In: Hrachovec, Herbert et al. (Hg.): Kleine Erzählungen und ihre Medien. Wien: Turia + Kant, 27-49 sowie Borsò, Vittoria (2010): Materialität, Medialität und Immanenz: Wider die Medialität als Drittes. In: Dieckmann, Bernhard et al. (Hg.): Identität – Bewegung – Inszenierung. Düsseldorfer Schriften zu Kultur und Medien. Frankfurt/M: Peter Lang, 19-36, hier insb. 33.
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dichts eine reversible Grenze besitzt, wird durch den Versverlauf, durch die Materialität des Textes erst performativ instauriert und zur Existenz gebracht. Das ist es, was Literatur vermag, jenseits mimetischer Abbildung von Räumen. In Orpheus. Eurydike. Hermes aktualisiert sich poetisch das, was Bruno Latour mit seinem Begriff des sens zu intendieren scheint. Das Zusammenspiel seiner drei Dimensionen – erstens Richtung als generisches Textprinzip bzw. Produktion von Lyrik; zweitens die materielle Sinnlichkeit der Sprache, die körperlich-sinnliche Affekte auszulösen vermag; sowie drittens Bedeutung oder Sinnhaftigkeit – soll an zwei weiteren Beispielen beleuchtet werden. Die Wahl fällt auf zwei Barockgedichte, deren Aufbau einer paradigmatischen und weniger syntagmatischen Logik verpflichtet ist, worin sie stellvertretend für eine Vielzahl lyrischer Werke aus der Epoche stehen. Auff den mund. 1
MUnd! der die seelen kan durch die lust zusammen hetzen / Mund! der viel süsser ist als starcker himmels=wein / Mund! der du alikant des lebens schenckest ein / Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schätzen /
5
Mund! dessen balsam uns kan stärcken und verletzen / Mund! der vergnügter blüht / als aller rosen schein. Mund! welchem kein rubin kan gleich und ähnlich seyn. Mund! den die Gratien mit ihren qvellen netzen; Mund! Ach corallen=mund / mein eintziges ergetzen!
10
Mund! laß mich einen kuß auff deinen purpur setzen.
22
Das Gedicht aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammt aus der Feder von Hofmann von Hofmannswaldau. Dank der auffälligen Versanfänge, durchgängige, zehnfach wiederholte Anaphern samt Ausrufezeichen, ist es Text und Bild zugleich. Die Beschreibung des Mundes, das Objekt der Begierde schlechthin für das lyrische Ich, kulminiert im neunten Vers, der als einziger mit der Interjektion „Ach“ beginnt und mit einem Exklamationszeichen endet. In diesem Ausruf „Mund! Ach corallenmund / mein eintziges ergetzen!“ hat die affektive Wirkung des Mundes auf den Sprecher des Gedichts ihren Höhepunkt. Auf diese Empfindung muss der Vers, zugleich letzte Zeile des Gedichts, in Form einer Bitte, ja Aufforderung folgen: „Mund! laß mich einen kuß auff deinen purpur setzen.“ Der Mund ist nicht nur Synekdoche, sondern dank der Apostrophe Prosopopoiia. Er tritt selbst nicht handelnd
22 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian (1968): Gedichte. Ausgewählt von Heißenbüttel, Helmut. Frankfurt/M und Hamburg: Fischer, 60.
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oder sprechend auf, aber wird die Hoffnung ausgedrückt, dass genau dies geschehen möge; dass er also nach dem letzten Vers mit Wort oder Tat reagieren werde. So ist er ein Akteur im Sinne Latours, und ein mächtiger zumal. Er ist mit Superlativen wie dem vom „alikant des lebens“ (39) beschrieben; „viel suesser als [...] himmelswein“ (2), roter noch als ein Rubin (9), gewinnt er jeden Vergleich. Als Lebenssaft, Koralle, himmlischer Wein, Edelstein, ist er fähig, Seelen zu bewegen (1), kostbarer als reiche Schätze, und hat eine pharmakologische Wirkung, ist Heil- und Giftmittel zugleich: „Mund! dessen balsam uns kann staercken und verletzen /“ (5). Der Vers „Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schaetzen /“ (4; Hervorhebung J.V.) macht deutlich, dass der Mund keine Möglichkeit lässt zum Widerstand. Er betört die Sinne, lenkt sie auf sich, bringt sie dazu, sich einzig auf ihn zu fokussieren. Dies illustriert die wiederholte Anrufung des Mundes, die Entfaltung seiner Schönheit mittels kontinuierlicher Vergleiche und Metaphern, die kontinuierliche Steigerung bis hin zur zwangsläufigen Folge, der totalen Hingabe („Mund! Ach corallen-mund / mein eintziges ergetzen!“ (9)) und dem Wunsch, diese ausleben zu können. Die Verführungskraft des Mundes intensiviert sich Vers für Vers. Die zehnfachen Anaphern haben eine immense, appellative und drängende Wirkung, durch die sich die Verführungskraft Vers für Vers intensiviert. Nicht nur also illustriert die Sprache die Schönheit des Mundes, sie konstituiert diese, schreibt sie fest, schreibt sie fort, vergrößert sie mit jeder Metapher, jedem Vergleich, mit jeder Wiederholung. Die Verse entstehen nicht nur, wie gewöhnlich, durch lineare Satzzeichenfolgen in der primären rechtsläufigen Richtung, also in der Waagerechte, sondern dank der dominanten Anaphern außerdem durch die Senkrechte. Diese syntagmatische Logik findet sich nicht nur im Barock, sondern in allen reimenden Gedichten schon durch Gleichklänge am Versende, doch hier ist sie besonders stark ausgeprägt und verleiht dem Gedicht seinen visuellen Charakter. Durch die senkrechte Leserichtung berührt es die Grenze der syntaktischen Logik. Ursächlich dafür ist das Objekt der Begierde, der Mund, das eine neue Logik vorgibt. Dessen sinnliche Qualitäten werden erahnbar, ja geradezu spürbar in der Anapher „Mund!“ – einem Attraktor im Sinne eines zugleich visuellen, akustischen und diskursiven Ereignisses. Das zweite Gedicht, eines der bekanntesten von Hofmannswaldau, gibt ein weiteres Beispiel für die prozesshafte Genese von Bedeutung durch die Sprachmaterialität. Die Entwicklung der angepriesenen weiblichen Schönheit erfolgt kontinuierlich durch Hinzufügung ihrer einzelnen Komponenten zu einem Bild der ‚Vollkommenheit‘, die sich Vers für Vers mehr verdichtet.
160 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Sonnet. Beschreibung vollkommener schönheit. 1
EIn haar so kühnlich trotz der Berenice spricht / Ein mund / der rosen führt und perlen in sich heget / Ein zünglein / so ein gifft vor tausend hertzen träget / Zwo brüste / wo rubin durch alabaster bricht /
5
Ein hals / der schwanen=schnee weit weit zurücke sticht / Zwey wangen / wo die pracht der Flora sich beweget / Ein blick / der blitze führt und männer niederleget / Zwey armen / derer krafft offt leuen hingericht / Ein hertz / aus welchem nichts als mein verderben quillet /
10
Ein wort / so himmlisch ist / und mich verdammen kan / Zwey hände / derer grimm mich in den bann gethan / Und durch ein süsses gifft die seele selbst umhüllet / Ein zierrath / wie es scheint / im paradieß gemacht / Hat mich um meinen witz und meine freyheit bracht.23
Hofmannswaldaus Sonett ist eine Lobpreisung auf seine angebetete Berenice. Jeder der vierzehn Verse, mit Ausnahme des elften, beginnt mit einem Zahlwort, mit „ein“ (1, 2, 3, 5, 7, 9. 10, 13) oder „zwey“ bzw. „zwo“ (4, 6, 8, 11), auf das ein Substantiv folgt, nämlich ein Körperteil der besungenen Dame. Die als Aufzählungen fungierenden Parallelismen „[e]in haar“, „[e]in mund“, „[e]in zünglein“ usw. sind jeweils der Beginn eines sechshebigen Jambus. Vollkommenheit, so lässt das Gedicht erahnen, ist etwas Gewordenes – gleich, ob über eine lange Zeit oder durch eine ereignishafte Verdichtung. Vollkommen wird die Schönheit der Berenice mit jedem Körperteil, mit jeder Zeile, und von Vers zu Vers mehr. Mit jedem Versauftakt scheint einem Körperteil eine herausragende Stellung zuzukommen. Und doch, am Ende eines Satzes wird deutlich, dass ein jedes noch übertroffen werden kann von dem, was im folgenden Vers besungen wird. Ihre Vollkommenheit, die Sinnlichkeit ihrer Schönheit und die Genese des Textes entwickeln sich kontinuierlich und kulminieren im letzten Satz „Hat mich um meinen witz und meine freyheit bracht“. Paradox eigentlich, dass die Schönheit der Berenice das lyrische Ich um seinen „witz“ (14) gebracht haben soll, denn was legt es hier an den Tag, wenn nicht eine immense Wortgewandtheit? Jedoch ist es seine Leichtigkeit, seine Freiheit, die ihm geraubt wurde, wie die exakte, starr durchgehaltene und artifizielle Syntax verdeutlicht.
23 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian (1968): Gedichte. Ausgewählt von Heißenbüttel, Helmut. Frankfurt/M und Hamburg: Fischer, 69.
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Stattdessen ist er der Angebeteten verfallen, die ihm ebenso entzogen ist wie den Sätzen ihr Prädikat. Stets folgt das Verb erst am Ende des Verses und fungiert als Reimwort. Aus diesem Aufschub entsteht ein Satzrhythmus, der erst am Zeilenende für kurze Zeit gesättigt wird und mit dem Anfang des nachfolgenden Verses sogleich wieder entflammt. Damit wird die spürbare Folge von Berenices Unerreichbarkeit, aber auch die Rastlosigkeit des Verlangens syntaktisch umgesetzt. Von solcher süßen Qual zeugt auch die Syntax der folgenden Zeilen: Ein blick / der blitze führt und männer niederleget / Zwey armen / derer krafft offt leuen hingericht / Ein hertz / aus welchem nichts als mein verderben quillet / Ein wort / so himmlisch ist / und mich verdammen kan / Zwey hände / derer grimm mich in den bann gethan / Und durch ein süsses gifft die seele selbst umhüllet / (Hervorhebungen J.V.)
Die Zunge der Berenice scheint arglos zu sein („zünglein“) und ist doch giftig (vgl. 3); aus ihren Augen schießen Blitze, die „männer niederleget“ (7); ihre Arme sind nicht von solch filigraner, zierlicher Statur, wie man geneigt ist, zu vermuten, sondern so kraftvoll, dass sie Löwen hinzurichten vermögen (vgl. 8); aus ihrem Herzen quillt statt Liebe der Tod (vgl. 9); und ihre Hände lassen das lyrische Ich nicht mehr entkommen (vgl. 11). Die größtmöglichen Gegensätze der barocken Zeit liegen aber wohl in dem Paradox von Himmel und Verdammnis (vgl. den Vers „Ein wort / so himmlisch ist / und mich verdammen kann“). Selbst das Wissen über die gefährliche und fatale Kraft ihrer Schönheit bringt das lyrische Ich nicht dazu, sich von Berenice abzuwenden, ganz im Gegenteil. „Die Wollust bleibet doch der Zucker dieser Zeit“24, schreibt Hofmannswaldau andernorts. Gerade das Oszillieren zwischen Süße und Bitterkeit betört die Sinne des lyrischen Ichs, nicht zuletzt wird dies durch die Anspielung auf den Sündenfall deutlich (vgl. 13). Das poetische Ich weiß nicht, worauf es sich einlässt, ist doch die Perle im Mund (vgl. 2) wie in einer Muschel ebenso geheimnisvoll versteckt wie das, was sich hinter dem Äußeren der Berenice verbirgt. Jedoch scheint das lyrische Ich die Gefahr zu ahnen, in die es sich begibt – und sein Begehren wächst noch. Es wächst in dem Maße, in dem auf Syntaxebene das Prädikat, und, analog, die Präsenz der Berenice aufgeschoben wird. Ihr ständiger Entzug korreliert mit dem Aufschub des Prädikats in den Relativkonstruktionen und kulminiert in der die Spannung erleichternden, grammatikalischen
24 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian: Die Wollust. In: Ders. (1994): Gedichte. Stuttgart: Reclam, 122-125, hier 122.
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wie semantischen Auflösung im allerletzten Vers. Hier erst erfahren wir, worauf der Lobgesang hinausläuft, hier erst erfahren wir von seinen Folgen. Der Reiz der Berenice beruft auf ihren äußeren, körperlichen Vorzügen. Dem Poetischen Ich liegt es fern, von den inneren Qualitäten seiner angebeteten Dame zu berichten. Der Körper entsteht, formt sich, wächst von Zeile zu Zeile mit jeder neu hinzukommenden Extremität, die stets zu Versanfang genannt wird, gefolgt von einem Schrägstrich, und einem Relativpronomen. Berenices Physis erhält seine Attribute von Vers zu Vers, beginnend mit ihrem Haar, ihr Gesicht wird aus der Erinnerung rekonstituiert und damit konstituiert, es folgen der Oberkörper und schließlich der Schmuck, den Berenice trägt, bis ihr Körper die besungene Vollkommenheit erreicht hat. So können ihre makellose, ‚vollkommene‘ Physis und der, entsprechend streng durchgehaltener Gliederungsprinzipien ‚vollkommene‘ rhetorische Körper des Textes korrelieren. Hofmannswaldau folgt mit seinem Sonett den petrarkistischen Topoi von der süßen Pein und der Verführung durch Entzug. Das Begehren des lyrischen Ichs, geschürt durch den Aufschub von Lauras Präsenz, ist konstitutiv für Petrarcas Dichtung. Lauras Nähe wird auf bisweilen extreme Weise gespürt, doch bleibt sie letztlich entzogen. So schreibt Petrarca beispielsweise in seinem Sonett 100 aus den Canzoniere: 1
Das Fenster, das, so oft ihr’s will behagen, Die eine Sonn, um Mittag andre spüret, Und jenes, das, von kalter Luft gerühret, Bei kurzen Tagen klirrt, vom Nord geschlagen;
5 Der Stein, wo sinnend oft in langen Tagen, Die Herrin mit sich selbst Gespräche führet, Und all die Orte, die ihr Fuß berühret, Die ihrer Schönheit Schatten je getragen; 10 Der böse Pfad, wo Amor mich ersehen, Der Lenz, der, wie dahin die Jahre schwinden, Mir bis auf heut erneut die alte Wunde, 15
Der Blick und all die Worte, die mir stehen Tief eingegraben in des Herzens Grunde,
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Lassen mein Auge Lust an Tränen finden.25
Ähnlich wie bei Hofmannswaldau entsteht ein Rhythmus der Ungeduld, ja fast scheint die Sprache die Luft anzuhalten, sich in Relativsätzen auszudehnen und Spannung aufzubauen bis in dem letzten Vers „Lassen mein Auge Lust an Tränen finden“ deren Auflösung erfolgt. Petrarcas Gedicht macht das Ineinandergreifen der drei Dimensionen des sens deutlich: Die Genese des Textes – von der wir wegen der Sonettform, in der viele Gedichte des Canzoniere gehalten sind, wissen, dass sie erst nach der letzten Zeile des zweiten Terzetts abgeschlossen ist, und dessen Genese sich bis dahin in den zahlreichen Kommata und Semikola mit ihrem Aufzählungscharakter materialisiert –, die Genese des Textes geschieht durch Bewegungen und Ausbreitungen durch Richtungsnahmen im Raum, sowohl metaphorisch gemeint als Ausdehnung der fiktionalen Welt wie auch als Ausbreitung der Sprachmaterialität. Die Entstehung von Bedeutung wäre ohne die Sinnlichkeit des Sprachmaterials nicht denkbar, wie uns das lyrische Ich selbst wissen lässt. So appeliert es mit dem Verweis auf die Wärme der Sonne, die Kühle der Luft und den harten Stein an den Tastsinn; mit dem im Winterwind klirrenden Fenster an den auditiven Sinn und evoziert mit der Anspielung auf den Blick seiner Angebeteten, der ihm Tränen in den Augen treten lässt, den visuellen Sinn. Es imaginiert Laura zu verschiedenen Jahreszeiten, des Sommers und des Winters (vgl. 1. Quartett); an verschiedenen Orten, in ihrem Haus (vgl. 1), im Garten (vgl. 6, 9); in verschiedenen Situationen, Selbstgespräche führend (vgl. 6-7), umherwandelnd (vgl. 8-9). Seine Anspielungen auf die vergangene Zeit („Der Lenz, der, wie dahin die Jahre schwinden, / Mir bis auf heut erneut die alte Wunde“ (11-12)) lassen die Dauer und Persistenz seines unerfüllten Begehrens erahnen. Dieses hält sich am Leben durch die ständige Alteritätserfahrung, der es sich aussetzt indem es sich imaginierend in die Zweisamkeit mit Laura hineinversetzt und hineinver-setzt. Es sucht die enttäuschende und zugleich erfüllende Erfahrung, dass seine Sinne durch Lauras Schönheit verschoben werden. So wird die beständige Verführung und Wiederverführung seiner Sinne auf Dauer gestellt – eine süße Pein, die ebenso quälend wie frohlockend ist. Das Spiel mit Spannungen verschiedenster Art ist ein grundlegendes Prinzip von Petrarcas Gedichtsammlung: Darauf weisen sich wiederholende und bisweilen paradoxe rhetorische Konstruktionen hin wie „Verhaßt das Leben, lieb das Sterben“ (Gedicht 332), „süße Kriegerin“ (21), „bittersüß“ (319), „süße Einsamkeit“ (281), „Süße Herbe“ (60), „Und kost ich Süßes, ist so viel des Herben“ (57), „süße Wehen“ (321), „süßes Bangen“ (61), „den süßen Irrtum“ (129), verführende Wunden
25 Petrarca, Francesco (2002): Canzoniere. Triumphe. Verstreute Gedichte. Hg. von Förster, Karl und Grote, Hans. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 167.
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(vgl. 73) oder die Verquickung von Hitze und Kälte (217) – allesamt Chiasmen und Oxymora, die die psychische Verfasstheit des lyrischen Ichs spiegeln, die Diskrepanz zwischen den tiefen Gefühlen, die Laura im lyrischen Ich auszulösen vermag –, während sie zugleich mit auffallend wenig individuellen Idiosnykrasien beschrieben ist. Details werden akribisch beleuchtet: „Eine Folge von drei Sonetten [...] beschäftigt sich allein mit ihren Händen und Handschuhen. Derartige Angaben suggerieren eine Genauigkeit der Beschreibung, die in der Zusammenschau jedoch keine Persönlichkeit vorstellt.“26 Spannung in Form von Verlangen und Entzug, von Hingabe und Zurückweisung, von Nähe und Ferne („keusches Locken“ (286)), Sehnsucht, Begehren und Aufschub der Erfüllung ist das geradezu als grundsätzlich zu bezeichnende Prinzip, das die Verführungskraft von Laura ausmacht. So heißt es in Gedicht 73: „Weh, daß zu allen Stunden / Nach dem ich trachte, was ich nie erringe, / Und hoffnungslos mich nähre von Verlangen!“. Die Dynamik von Begehren und Entzug artikuliert sich in der paradoxen Tatsache, dass der Zauber Lauras allgegenwärtig ist, jedoch ihr Name nur wenige Male explizit genannt wird. Laura wird zur Akteurin der positionalen Verunsicherung. Vergegenwärtigt und zugleich entzogen wird sie vor allem durch Allegorien oder Andeutungen lautlicher Art – „Lorbeer“ („lauro“; vgl. z.B. 23, 30, 269, 291), „l´oro“, das Gold (vgl. z.B. 12, 46, 157, 181) „Auroren“ („l´aurora“), die Morgenröte (vgl. etwa Sonett 291) o. ä. –, oder semantischer Natur – etwa das scheue, sich entziehende weiße Reh in Sonett 190. Auch der Schleier symbolisiert Verlockung bei gleichzeitigem Entzug: „Was mir das Liebst an euch, ist mir entschwunden- / Das ist des Schleiers Walten“ (11). Die Dialektik von Verfügbarkeit und Entzug, von Präsenz und Absenz, Anziehung und Rückzug sind zentrale Verführungselemente in Petrarcas Liebessystem, welches auch heute neben der mittelalterlichen Minnelyrik und dem romantischen Liebeskonzept als literarisches Regelwerk genannt werden muss.27 Gedichte sind die eindringlichsten Beispiele dafür, dass Materialität und Bedeutung in einer so starken Weise oszillieren, dass beide nur mehr heuristisch als getrennt betrachtet werden können und erst beider intrikates Zusammenspiel ein Gedicht bildet. Wenn Agamben schreibt „poetry lives only in the tension [...] between sound and sense, between the semiotic sphere and the semantic sphere“28 (Hervorhebung J.V.), so liegt das Augenmerk auf dem spannungsvollen Oszillieren zwischen lyri-
26 Grote, Hans (2002): Nachwort. In: Francesco Petrarca: Canzoniere. Triumphe. Verstreute Gedichte. Hg. von Förster, Karl und Grote, Hans. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 729. 27 Vgl. ebd., 733. 28 Agamben, Giorgio (1999): The end of the poem. Studies in Poetics. Stanford: Stanford University Press, 109.
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scher Materialität (wie Klang, Rhythmus, Schrift usw.) und Bedeutung, deren friktionsreiches Zusammenspiel erst das Gedicht konstituiert. Traditionsgemäß wird die Materialität in die Bedeutungsdimension eingepflegt. Hans-Ulrich Gumbrecht weiß von diesem Missstand: „Es ist [...] bezeichnend, dass die Literaturwissenschaft noch nie imstande gewesen ist, auf den Nachdruck zu reagieren, mit dem die Dichtung solche formalen Aspekte hervorhebt – außer mit der Aufstellung langer, langweiliger und wissenschaftlich witzloser ‚Repertorien‘, die in chronologischer Ordnung die verschiedenen poetischen Formen innerhalb verschiedener Nationalliteraturen verzeichnen, und außer mit der sogenannten ‚Theorie der Überbestimmung‘, die entgegen dem unmittelbaren Augenschein behauptet, durch lyrische Formen würden stets bereits existierende Sinnstrukturen verdoppelt und verstärkt.“29
Wenn dagegen in dieser Studie davon ausgegangen wird, dass Bedeutungsstrukturen durch die Wechselbeziehung von Klang, Rhythmen, Versfüße, Reimschemata, Strophenformen usw. und semantischen Dynamiken überhaupt erst entstehen können, dann kann hoffentlich das ansatzweise eingelöst werden, was Gumbrecht als vielversprechendes Vorgehen fordert, nämlich anzunehmen, „daß sich lyrische Formen, anstatt dem Sinn untergeordnet zu sein, in einer Situation der Spannung, in einer strukturellen Form der Oszillation mit der Sinndimension befinden könnten“ und dass die auf diese Weise erfolgte Auseinandersetzung mit Lyrik „zur Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Sinneffekten und Präsenzeffekten“ beitragen könne.30 Latours sens gibt zu denken, dass das lyrische Material nicht semiotisch gedacht werden muss als Verstärkung bestehender Sinnstrukturen, sondern es gilt, den Verlauf, die Bewegung, die Genese von Bedeutung aus dem sinnlichen Material heraus in den Blick zu nehmen. Sens bedenkt die sinnlichen Qualitäten von Sprache und dessen mit, von dem sie spricht. Es fokussiert auf den Verlauf, auf das Werden der Bedeutung aus dem sinnlichen Material heraus. Aus lyrischer Materialität kann sich Form herausbilden, wie Latour bildstark illustriert: „Jedesmal, wenn eine kleine Ansammlung von Wörtern eine Person hervorspringen läßt; jedesmal, wenn man dem gespannten Fell einer Trommel auch einen Klang entlockt; jedesmal, wenn ein Strich auf einer Leinwand außerdem eine Figur zutage fördert; jedesmal, wenn eine Geste auf der Bühne darüber hinaus eine Rolle hervorbringt; jedesmal, wenn ein Stück Lehm zusätzlich den Entwurf einer Statue entstehen läßt. [...] Wenn man sich nur am Material fest-
29 Gumbrecht, Hans-Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M: Suhrkamp, 34f. 30 Ebd., 35.
166 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK hält, verschwindet die Figur, der Klang wird Lärm, die Statue Lehm, das Gemälde ist nur 31
mehr eine Kleckserei, die Wörter werden zu Gekrakel“ .
Die Ansammlung von Sprachmaterial, von Buchstaben, Satzzeichen, Klang und Melodie kann eine Figuration „hervorspringen lassen“ etwa durch eine besonders eindrückliche Schilderung, durch eine anschauliche und bildliche Beschreibung, durch eine detaillierte Ausformung der Figur. Während die Prosa dafür verschiedene Techniken wie die Ekphrasis zur Hand hat, und die Möglichkeit nutzt, auf mitunter ausführlicher Länge die Narration zu entfalten, so legt Lyrik andere Techniken an den Tag. Charakteristisch ist, gerade weil sie mit wenigen Worten auskommt, eine kurze, plötzliche und intensive Verdichtung, in der sie einem Phänomen zum Sein verhilft, es instauriert, und es geradezu dreidimensional aus dem Medium des Textes herausragen lässt. Eine Verdichtung eben, die nicht nur aus der Akkumulation des Materials resultiert, sondern aus der Vibration zwischen Material und Form. Das wusste schon Ferdinand de Saussure, der „in seiner Erforschung der Grundlagen von Sprache immer wieder auf die elementare Beobachtung zurückkam, dass alleine eine Kette von Phonemen sprachlichen Sinn generiert, indem die Abfolge von Lautungen unvermittelt umspringt in etwas Bedeutungshaftes“32 (Hervorhebung J.V.). Schon er bedient sich also des Bildes von einer Bewegung, durch die Bedeutung konstituiert wird. Wie anders kann etwa ein Akrostichon oder ein Anagramm beschrieben werden, als dass beide Dimensionen gemeinsam das Gedicht produzieren? Wie das Schicksal des Schiffers in Heines Loreley, der nicht nur vom Inhalt ihres Gesangs und nicht nur von ihrem Klang, sondern von beidem zugleich verführt wird? Wie Eichendorffs Gedichte, in denen der Gleichklang der Worte „kühl“ und „schwül“ eine alternative Semantik entwirft und eine neue lyrische Topologie eröffnet? Gedichte also, in denen ein Reimwort nicht nur wegen der syntagmatischen Relation zu seinen vorherigen Elementen das horizontale Ende eines Satzes bzw. Verses beschließt, sondern ebenfalls in paradigmatische Relationen, mithin senkrechte Abfolgen, eingebunden ist und Beziehungen zu seinen vorangegangenen und folgenden Reimworten etabliert?
31 Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 345 (Hervorhebungen im Original). 32 Zitiert nach Boehm, Gottfried (2008): Wie Bilder Sinn erzeugen. Berlin: Berlin University Press, 9.
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Z WISCHENFAZIT In dem Raum, den das zu Anfang dieses Kapitels besprochene Rilke’sche Gedicht eröffnet, herrschen nicht die Gesetze der Realität. Negativ formuliert, entzieht er sich den Raumkonzepten westlichen Denkens; positiv beschrieben, schafft er ein Reservat alternativer Ordnungen. Orpheus. Eurydike. Hermes illustriert, dass Lyrik nicht nur einem symbolischen oder einem durch ihre Medialität bestimmten Raum zugeschlagen werden kann, sondern durch deren Zusammenspiel entsteht. Das zeigt die Topologie des unerhörten Raumes, der topographisch produziert wird; und außerdem topophonisch insofern es Orpheus vermag, mit seiner Leier eine neue, eine alternative Welt zu erschaffen, in welcher der Tod kein unzugänglicher Ort, kein irreversibles Schicksal ist. Im graphischen Raum (des Textes) und im phonischen Raum (des der Leier entstammenden Klanges sowie des Rhythmus und der Melodie der lyrischen Sprache) ist die Dichotomie der beiden Welten für einen Moment aufgehoben, sondern intrarelational miteinander verknüpft. Die Kraft des Ästhetischen ist widerständig gegen übliche Gesetzmäßigkeiten, und sie ist darin verführerisch, und zwar geradezu von zwingender verführerischer Kraft, der weder Orpheus widerstehen kann, noch sogar, zuvor, die Götter sich widersetzen konnten. Das lyrische Medium fungiert in Rilkes Gedicht als „topologische Maschine“33. Die Gesamtheit seiner materiell-semiotischen und semantischen Prozesse sind Praktiken zur Produktion des Raums – des Raums des énoncés, also des Beschriebenen, der Handlung, des Geschehens; wie auch der énonciation (Benveniste), also der Raum des Beschreibens, der Raum des Textes, der sich – wie wir gesehen haben – von Vers zu Vers instauriert. Verführung, diese ästhetische Figuration, hält sich nicht an weltliche Gesetze, sondern etabliert ihre Eigenlogik. Sie vermag es, Grenzen zu verschieben. Dies wird besonders deutlich an der Grenze schlechthin, die sich der Mensch noch nicht untertan machen konnte: Die irreversible zwischen Leben und Tod. In der Eigenlogik des Gedichts konfiguriert sich nicht nur auf neue Weise das hierarchische Verhältnis von Mensch und Göttern (die sich, bei aller rationalen Unwahrscheinlichkeit, durch den Klang der Leier tatsächlich haben erweichen lassen und also ihre Macht über den Menschen für einen Moment verloren haben), sondern transformiert sich das Verhältnis von Leben und Tod, das für dieses eine Mal umkehrbar ist. Die Leier – in der Kulturgeschichte das bekannteste mit Klang operierende Verführungsinstrument – hat mit ihrer betörenden Wirkung die Kontingenz der Ordnung sicht-
33 Dieser Ausdruck stammt von Vittoria Borsò. Vgl. Borsò, Vittoria (2007): Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Bielefeld: transcript, 279-295, hier 292.
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bar, oder eher: hörbar gemacht, und hat sie zu modifizieren vermocht. Verführung ist eine mächtige, produktive Dynamik, die Gesetzlichkeiten außer Kraft setzt, die jenseits kartographischer Logik stehende Topologien zu entwerfen vermag und damit neue Ordnungen möglich werden lässt. Es öffnet sich ein Raum der Potentialität, in dem alles möglich und, wie sich angesichts der tragischen Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike zeigt, nichts sicher ist. Denn Orpheus fällt der Verlockung seiner eigenen Affekte zum Opfer. Verführung vermag es, Schicksale zu ändern, Wege zu alterieren. Ihr eignet ein Moment der Kontingenz, ja, des Entzugs. Maurice Blanchot konstatiert: „Schreiben beginnt mit dem Blick des Orpheus. Und dieser Blick ist die Bewegung des Begehrens.“34 Begehren ist visualisiert als eine Geste, wie eine Hand, die sich auf das hin ausstreckt, was sie erreichen will, aber ungehört verharren muss. Verlangen konstituiert sich darüber, etwas zu wollen, was unerreichbar bleibt. So wie Eurydike, die entzogen ist, die entzogen bleiben muss, weil ihre Präsenz das Verlangen zerstört hätte, das Orpheus so sehr quälen wird, ein Verlangen, das aber die Quelle für alle Literatur ist und sie am Leben hält. Begehren konstituiert sich über eine Bewegung in Richtung des bisher Unerreichten, eine Richtung, in die die Sinne des Orpheus ausströmen, um die Anwesenheit Eurydikes zu verifizieren, um die Zukunft vorwegzunehmen oder sicherzustellen. Seine sinnliche Wahrnehmung greift aus in die Zukunft ebenso wie dies für die Schritte der drei Gestalten gilt und wie es die Schrift des Textes tut. Mit jedem Wort mehr bewegt sich die Gruppe in Richtung der Welt der Lebenden, mit jeder Zeile gewinnt die fiktionale Welt, in der eine Eigengesetzlichkeit herrscht, mehr und mehr an Kontur, wird ein Stück weiter die tragische Liebesgeschichte instauriert bis hin zu dem Blick des Orpheus, der Initiationsmoment des Schreibakts ist, Eröffnungsereignis von Literatur – und damit Erliegen der Verführung, die aber nicht vergeht, weil Eurydike ihm vorenthalten bleibt. Insofern wäre Schreiben – wenn so etwas möglich wäre – eine ständig sich aktualisierende Verführung, insofern ihr ein nie gestilltes Verlangen eignet. Wir haben in den Eichendorff’schen Gedichte gesehen, dass eine Verführung mit physischer und psychischer oder topologischer und emotionaler Alterierung einhergeht. Die Sinne werden ab- und umgelenkt, wodurch eine Änderung des eingeschlagenen Wegs bewirkt werden soll. Die Ablenkung vom eigentlichen Weg geht, so hat auch Rilkes Gedicht gezeigt, mit einer Ablenkung der sinnlichen Wahrnehmung einher. Der Klang der Leier bzw. der fehlende Klang von Eurydikes Schritten löst affektive Bewegungen aus und verleitet in der Folge zu Änderungen der bisher eingenommenen Richtung. Orpheus’ Hörsinn ist verwirrt, sein visueller Sinn ist
34 Blanchot, Maurice (2012): Der literarische Raum. Zürich: Diaphanes, 182.
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ohnehin ausgeschaltet wegen des Verbots, sich umzudrehen, und so kommt er vom Weg ab, und zwar einerseits im metaphorischen Sinne, weil er sein Vertrauen, seinen Glauben verliert und sein Versprechen, sich nicht umzudrehen, bricht; und er kommt vom kartographischen Weg ab, wenn er auf dem in nur eine einzige Richtung verlaufenden Weg vom Hades in die Welt des Lebens eine Bewegung in die falsche Richtung tut. Topologische Alterierung ist aufgrund des Mediums in der Lyrik immer auch eine topographische und topophonische, insofern die Schrift samt Klang, Rhythmus usw. sie erst hervorbringt. Das Gedicht thematisiert einen Raum, in dem sich Orpheus und Eurydike beinahe, aber letztlich nicht begegnen; das Gedicht formt, produziert einen Raum, der sich gängigen Gesetzen widersetzt; das Gedicht ist selbst ein Raum, in der die Figuren handeln; ein Raum, der aus Buchstaben, Versen, Rhythmen, Klängen usw. besteht. Anhand von Rilkes Orpheus. Eurydike. Hermes hat sich gezeigt, wie durch sinnliche Verführung (zunächst der Götter und dann des Orpheus selbst) Raumordnungen modifiziert und Wege umgekehrt werden. Der Latour’sche Begriff des sens bot eine Möglichkeit, methodisch-begrifflich den spannungsvollen Prozess einer Gedichtentstehung zu beschreiben, weil in ihm die Sinnlichkeit des Sprachmaterials, dessen Bedeutungshaftigkeit und die Textgenese durch Versbewegungen zu einem Ende hin ineinander verwoben sind. Es kann hier, an spezifischen Stellen des Gedichts, sogar – wenn diese Vermutung auch eine weitergehende Untersuchung bedürfte – von einer Intrarelationalität gesprochen werden, in der die semantische Ebene und die Sprachmaterialität sich bewegen, denn beide sind nicht mehr prästabile Einheiten, die erst in einem sekundären Prozess in ein Verhältnis treten, sondern sie bringen sich gegenseitig erst in dieser und durch diese Relation hervor. Dies sehen wir beispielsweise, wenn der Klang der aneinandergereihten Adjektive „große graue blinde“ stakkatohaft Wort für Wort die Schritte des Orpheus hervorstößt und seine Schritte Vers für Vers den Text vorantreiben und produzieren. Wir sehen es auch in der Metamorphose der wandelnden und sich verwandelnden Eurydike, und in der Entwicklung des Orpheus, die korreliert mit dem von der Zersetzung des Gedichts zeugenden Einschub – allesamt ästhetische Prozesse, deren Zusammenspiel das Gedicht produzieren. Während Eichendorffs Gedichte eine klassische Verführungssituation explizieren, insofern ein Verführer mit verschiedenen Mitteln das Objekt seiner Begierde dis-loziert, und damit eine eindeutige Macht- und Ohnmachtsposition etabliert ist, hat Rilkes Orpheus. Eurydike. Hermes das wieder aufgerufen, was bereits im ersten Kapitel dieser Studie bei Gellerts Damötas und Phyllis deutlich wurde: Ver-führung muss nicht bloß mit einer Verschiebung von starren Positionen, sondern kann auch mit der Etablierung von Relationen einhergehen. Bei Orpheus und Eurydike waren
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es die Sinne des Orpheus, die durch ungeduldige Bewegungen ein Verhältnis zu seiner Geliebten herzustellen suchten, was allerdings gerade verboten ist, denn Eurydike soll ihm hinterhergehen. Die Konstellation ist also eine starre, einseitige – allerdings nimmt Orpheus mitnichten die Machtposition ein, sondern ist in das Dreiecksverhältnis zwischen Eurydike, den Göttern und ihm selbst eingebunden, das ihm, Orpheus, eine Ohnmachtsposition einräumt. Hatte er also zunächst mithilfe seiner Leier Macht über die Götter ausüben können (hier war er in einer klassischen Verführerposition), so findet er sich nunmehr zu dem Zeitpunkt, mit dem Rilkes Gedicht einsetzt, in einer gegenteiligen: Er ist der Situation hilflos ausgeliefert, von seinen eigenen Sinnen verleitet, sich umzublicken und der Versuchung erlegen, die Etablierung eines Verhältnisses zu suchen. Es sind also, so können wir zusammenfassen, Anziehungspunkte festzustellen, wie das Irrlicht, der Mund, die Leier o.ä., die Positionsverschiebungen in Gang bringen und eine Verschiebung und Verunsicherung der kartographischen Position zur Folge haben bis hin zu einer Neuverhandlung der Topologie.
V ERFÜHRERISCHE R ELATIONEN I NSEL DER S IRENEN
IN
R ILKES
Eine solche Neuverhandlung der Topologie, wie wir sie etwa in Orpheus. Eurydike. Hermes beobachten konnten, hat Michel Foucault auf einen inzwischen kanonischen Begriff gebracht, den der Heterotopie. Solche „Gegenräume“ oder „vollkommen andere[] Räume“35 zeichnen sich durch einige Charakteristika aus, etwa, dass sie nicht ohne Weiteres zugänglich sind, sondern bisweilen über ein System von Öffnungen und Schließungen verfügen, dass sie häufig mit Heterochronien einhergehen oder an einem Ort mehrere, eigentlich unvereinbare Räume zusammenbringen. Foucault macht u.a. das Schiff als „Heterotopie par excellence“36 aus. „[D]ie großen Schiffe des 19. Jahrhunderts, ein Stück schwimmender Raum [...], Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert, [...] Reservoir für die Fantasie.“37 Auf einem solchen Schiff fährt bzw. irrt Odysseus zehn Jahre lang durch das Meer auf seiner Heimreise aus dem Trojanischen Krieg. Dabei passiert er in einer Reihe von Abenteuern unter anderem:
35 Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/M: Suhrkamp, 10f. 36 Ebd., 21f. (Hervorhebung im Original) 37 Ebd.
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Die Insel der Sirenen 1
Wenn er denen, die ihm gastlich waren, spät, nach ihrem Tage noch, da sie fragten nach den Fahrten und Gefahren, still berichtete: er wußte nie,
5 wie sie schrecken und mit welchem jähen Wort sie wenden, daß sie so wie er in dem blau gestillten Inselmeer die Vergoldung jener Inseln sähen, 10 deren Anblick macht, daß die Gefahr umschlägt; denn nun ist sie nicht im Tosen und im Wüten, wo sie immer war. Lautlos kommt sie über die Matrosen, 15 welche wissen, daß es dort auf jenen goldnen Inseln manchmal singt –, und sich blindlings in die Ruder lehnen, wie umringt 20 von der Stille, die die ganze Weite in sich hat und an die Ohren weht, so als wäre ihre andre Seite der Gesang, dem keiner widersteht.38
An zentraler Stelle des Gedichts, in der Mitte der mittleren Strophe, zieht ein durch ein Enjambement eingeleiteter Vers die Aufmerksamkeit auf sich und wird zum Dreh- und Angelpunkt für das Geschehen. Es handelt sich um das Wort „umschlägt“ in der Strophe: „deren Anblick macht, daß die Gefahr / umschlägt; denn nun ist sie nicht im Tosen / und im Wüten, wo sie immer war.“ (12-13) Der Vers, um den es mir geht, beginnt mit einem Zeilensprung, gefolgt von einem Semikolon. Das konjugierte Verb zeugt von einer Selbstreflexivität, die das performativ um-
38 Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M und Leipzig: Insel, 485. Diese Analyse von Rilkes Gedicht basiert auf meinem Aufsatz: Vomhof, Julia (2016): A Silence No One Can Resist. Seduction in Rilke’s Die Insel der Sirenen (The Sirens’ Island), erschienen in Dautel, Katrin/Schödel, Kathrin (Hg.): Insularity. Representations and Constructions of Small Worlds. Würzburg: Königshausen & Neumann, 107-116.
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setzt, was sie bedeutet: Etwas Grundsätzliches verändert sich, schlägt um an dieser Stelle des Gedichts. Zum einen das Tempus, von dem bisher vorherrschenden Präteritum und dem Modus des Konditional zum Präsens, provoziert von dem kleinen Adverb „nun“, das eine Immersion in die Gegenwart ankündigt: Die Immersion des Odysseus nämlich, den wir aufgrund des Gedichttitels und dessen Evokation des Homer’schen Urtextes als Begründer des Sirenenmythos, als Protagonist des Gedichts vermuten dürfen, und der sich hinter der dritten Person Singular „er“ verbirgt. Dieser hat Schwierigkeiten, so ist zu erfahren, seine Abenteuer beim abendlichen Gespräch mit Anderen zu teilen. Vergebens sucht er nach Worten, um das zu beschreiben, was ihm draußen auf dem Meer geschehen ist: Eine Begegnung mit den singenden Sirenen, die im eigentlichen Sinne gar nicht statt hatte – schließlich ist die Rede „von der Stille, die die ganze Weite / in sich hat“ (21-22; Hervorhebung J.V.). Über den Sprecher des Gedichts ist nichts weiter zu erfahren; ja, so wenig, dass es ebenso plausibel ist, anzunehmen, dass Odysseus selbst als Sprecher fungiert und in der dritten Person von sich redet, wie, dass dies jemand Unbekanntes tut. Obwohl Odysseus von seinem Unvermögen berichtet, die Erlebnisse in Worte zu fassen, scheint er sich nun geradewegs in diese zurückzuversetzen: Nicht mehr, am Ende des Tages, im sicheren Hafen mit festem Boden unter den Füßen, umringt von seinen Zuhörern und nur mehr von seinen Abenteuern berichtend; sondern zurück auf seinem Schiff, auf seiner Reise, draußen auf dem mit goldenen Inseln gespickten Meer. Das verwendete Präsens zeugt von dieser Wahrnehmungsänderung, von der tiefen Immersion in seine Erinnerung, changiert dann aber mit dem Konditional. Das Gedicht beginnt zunächst im Präteritum: „Wenn er denen, die ihm gastlich waren, [...] still berichtete: er wußte nie“ (1-4) geht dann über in den Potentialis: „[D]aß sie so wie er / in dem blau gestillten Inselmeer / die Vergoldung jener Inseln sähen“ (7-9) wechselt ins Präsens: „[D]eren Anblick macht, daß die Gefahr / umschlägt; denn nun ist sie nicht im Tosen / und im Wüten“ (11-13), und zuletzt wieder in den Konditional: „[S]o als wäre ihre andre Seite / der Gesang, dem keiner widersteht“ (23-24; alle Hervorhebungen J.V.). Odysseus sucht nach Worten, um seine Zuhörer teilhaben zu lassen an dem, was ihm geschehen ist, dort draußen auf dem Meer, als er mit seinen Matrosen durch den Archipel segelt. Trotz mangelnden Wissens, auf welcher der Inseln sich die berüchtigten Sirenen aufhalten, verspüren sie doch die bevorstehende Bedrohung und sind kurz davor, in ihre Fänge zu geraten. Nur kurz davor – oder sind sie bereits ‚in ihren Fängen‘? Das Gedicht ist in mehrerlei Hinsicht uneindeutig – nicht nur bezüglich der Rolle des Odysseus und damit des Verhältnisses von Sprecher und Protagonist; bezüglich der Situiertheit von Odysseus, der einerseits nach getaner Fahrt am Ende des Tages in einer Gaststube von seinem Erlebnis berichtet und zugleich aber in eben jenes zurückversetzt
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wird – das Setting des Gedichts also ist uneindeutig –; bezüglich des Verhältnisses von Homer’schem Original und Rilkes Adaption des Mythos; sondern auch und vor allem hinsichtlich dessen, was überhaupt dort draußen auf dem Meer geschehen ist. Der plot ist unklar, es ist nicht mit Sicherheit auszumachen, was auf der Diskursebene im Gedicht geschieht. Mehrere mögliche Lektüren sind in ihm angelegt. Das Gedicht zirkuliert um den kurzen Moment vor der fatalen Begegnung mit den Sirenen, so die erste mögliche Lesart. Odysseus registriert eine unheimliche Stille, ein Abflauen des Windes, und ist umgeben von einer ruhigen, beschaulichen blauen See, in der die besagten Inseln wie Bernsteine eingelassen sind. Eigentlich eine idyllische und Sicherheit suggerierende Szenerie, doch gerade dieser Anschein trügt. Es ist ein Omen für die unmittelbare, wenn auch unvorhersehbare Gefahr der Sirenen, der die Matrosen gerade noch entkommen können. In dem Wissen, „daß es dort auf jenen / goldnen Inseln manchmal singt“ (16-17), und in dem Bewusstsein, dass die Sirenen erst bemerkbar sind, wenn es schon zu spät ist, wenn ihr tödlicher Gesang schon angehoben hat, rudern sie nach Kräften (18), um gar nicht erst in die Nähe der fatalen Insel zu gelangen. Die Sirenen sind weder zu sehen noch zu hören, die Seemänner können sich in Sicherheit bringen, bevor sie der fatale Zauber trifft. Diese Lesart wird untermauert durch die Tatsache, dass Odysseus samt seinen Seemännern offenbar entkommen ist, sonst wäre der Einstieg des Gedichts „Wenn er denen, die ihm gastlich waren, / spät, nach ihrem Tage noch [...] still berichtete“ ad absurdum geführt. Jedoch reicht dieses Lektüreangebot nicht hin, um, erstens, der Bedeutung des Adverbs „nun“ in eben jener mittleren Zeile der mittleren Strophe gerecht zu werden, das auf die Änderung der Art und Weise der von den Sirenen ausgehenden Gefahr hinweist. „[N]un ist sie nicht im Tosen / und im Wüten, wo sie immer war.“ (12-13) Sondern sie besteht nunmehr in der Stille ihres Schweigens. Zu überprüfen, ob dieses Schweigen statt hatte oder nicht, erlaubt uns das Gedicht nicht. Zweitens reicht die obige Interpretation nicht aus, um die Affizierung des Odysseus zu erklären, der seine Sprache verloren hat. Vergebens ringt er um Worte, um den Zuhörern von seinem Erlebnis zu berichten. Etwas ist mit ihm geschehen, dort draußen auf dem Meer. Etwas Außergewöhnliches, darauf lassen die Adverbien „nie“ im vierten Vers und „immer“ im 13. Vers schließen: Odysseus „wußte nie“ (Hervorhebung J.V.), wie er seinen Zuhörer das Erlebte begreiflich machen sollte, nun, da die Form der Gefahr sich verändert hat, und nicht mehr, wie „sie immer war“ (Hervorhebung J.V.) in Geräusch und Gesang besteht. Es scheint, dass seine Zuhörer die Bedrohung durch die Sirenen, gemäß der Homer’schen Sage, alleine auf ihren Gesang zurückführen, so als hätten sie nicht verstanden, worin die eigentliche Gefahr besteht. Odysseus weiß von dieser, weil er sie selbst erfahren hat, aber er vermag es nicht, die Anderen von seinem Wissen zu überzeugen, ja, ist wohl selber nicht vollends überzeugt von seiner schier unglaublichen Erfahrung.
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So bleiben mehrere Variablen offen. Etwa jene, ob die Seemänner auch nur in die Nähe gekommen oder gar an Land der berüchtigten Insel gegangen sind; ob die Gefahr im Gesang oder im Schweigen besteht; und ob diese dann überhaupt bemerkbar ist oder die Matrosen gar nicht erst wissen, dass sie schon längst in die Falle getappt sind; ja, ob die Sirenen überhaupt existieren – schließlich handelt es sich hierbei auch für die Seemänner, die ihnen noch nicht begegnet sind, nur um einen Mythos. Nicht nur bietet die Sprache Odysseus keine Möglichkeit mehr, sein Erlebnis zu teilen, vielmehr erhält durch ihr Versiegen das Geschehene selbst einen zweifelhaften, unzuverlässigen Status. Die depersonalisierte Form „dass es dort auf jenen / goldnen Inseln manchmal singt“ (16-17, Hervorhebung J.V.) an Stelle der expliziten Benennung der Sirenen; die oxymorotische Formulierung „still berichtete“ (4); die zahlreichen Paradoxa „von der Stille, die […] an die Ohren weht” (21-22), die Verknüpfung von „sähen“ (9), „Anblick” (11) und „blindlings” (18), das lautlose „Tosen“ (12) und „Wüten“ (13); sowie der Konjunktiv „wäre“ im vorletzten Vers („so als wäre ihre andere Seite der Gesang, dem keiner widersteht“) – all diese Momente drücken die Verwirrung der Sinne des Odysseus aus und dadurch den Modus, in dem das hier geschilderte, nein, angedeutete Abenteuer des Odysseus und die Existenz der Sirenen steht: In der Möglichkeitsform. Weder die innerdiegetischen Zuhörer noch wir Leser können sicher sein, dass Odysseus die Wahrheit sagt, dass er bei klarem Verstand ist; noch, dass er überhaupt weiß, was passiert ist – geschweige denn, wie es um den Sprecher des Gedichts bestellt ist, über den nichts zu erfahren ist und bei dem es sich um Odysseus selbst handeln mag oder auch nicht. Die Sirenen werden zu Metaphern des Imaginären, die Grenzen von Realität und Imagination verschwimmen sogar innerhalb der Welt des Gedichts. Grund dafür ist die Diffusität der Gefahr: Nicht mehr nur, wie noch bei Homer, im Tosen und Wüten des Meeres kündigt sich die Bedrohung an, auch nicht mehr nur im Gesang der Sirenen, sondern auch in der Stille und im Schweigen – sie ist also allumfassend. Es ist mithin unmöglich, auszumachen, ob die Sirenen anwesend sind und schweigen, ob die Matrosen auf sie getroffen sind oder nicht. Die letzte Strophe, samt Enjambement aus der vorherigen Strophe lässt dank des Konditionals vage, worin das Verführungsmittel der Sirenen besteht, ob in Stillschweigen oder in Gesang: wie umringt von der Stille, die die ganze Weite in sich hat und an die Ohren weht, so als wäre ihre andre Seite der Gesang, dem keiner widersteht (Hervorhebung J.V.)
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Es scheint Odysseus, als hätte die Stille eine andere Seite, nämlich den „Gesang, dem keiner widersteht“. Indem er dies konstatiert, führt er erstens die Behauptung des Sprachverlusts aus der ersten Strophe ad absurdum, weil gerade das, was er glaubte, nicht ausdrücken zu können, spürbar wird. Zweitens stellt er die Ahndung in den Raum, dass die Sirenen durchaus gesungen haben, ohne dass er sich daran erinnert – oder dass es gleich ist, ob sie es getan haben oder nicht, ob sie bloß latent oder präsent sind: Ihrer Verführungskraft tut es keinen Abbruch, sondern verstärkt sie gerade noch. Es scheint gewiss, dass sie Odysseus oder zumindest seine Imagination affiziert haben, auf welche Weise und mit welchen Mitteln auch immer – dies wird nicht mehr zu erfahren sein. Einen erheblichen Anteil an den verschiedenen, ineinander gelagerten Diskursebenen des Textes hat Homers Vorlage, die durch jede Zeile hindurchscheint, jedoch verändert wird. In der Odyssee wird Odysseus vor einer spezifischen Insel gewarnt, auf der die Sirenen lauern. In Rilkes Version des Mythos ist die Gefahr potenziert, weil die Sirenen erstens nicht mehr verortet werden, und die Matrosen folglich nicht wissen, vor welchem der Eilande sie sich in Acht nehmen müssen; und weil zweitens die Art und Weise der Gefahr nicht mehr auszumachen ist. Es ist nicht mehr zwangsläufig ihr auditiver Sinn, der von den Sirenen betroffen ist. Eine Gefahr, von der man nicht weiß, wo und in welcher Form sie auftritt, ist immer eine potenzierte. Diese Momente stellen die auffälligste Abweichung vom Homer’schen Urtext dar. Dort war explizit gemacht worden, dass Odysseus den Sirenen verfällt; allein ein Trick bewahrte ihn und seine Seemänner vor einer Tragödie. Nimmt man die Anspielung auf Homers Odyssee in dieser Hinsicht ernst, so drängt sich eine weitere mögliche Diskursebene auf: Die, nach der Odysseus sich an den Mast hat fesseln lassen, um dem Gesang der Sirenen gefahrlos zu lauschen, während sich seine Matrosen mit Wachs in den Ohren schützen. Die Kräfte der Sirenen sind für den Menschen unbeherrschbar, er ist zu willensschwach, um sich ihnen zu widersetzen. Sie umgibt ein solcher Zauber, dass er ihnen, obwohl er sich ihrer Bedrohlichkeit bewusst ist, nichts entgegenzusetzen weiß außer Mittel, mit denen seine eigene Sinneswahrnehmung betäubt oder ausgeschaltet wird. In diesem Sinne hätten Rilkes Seemänner aufgrund ihres Ohrschutzes die singenden Stimmen also gar nicht gehört, sondern nur Stille wahrgenommen, während Odysseus der Einzige ist, der weiß, dass sie tatsächlich gesungen haben. Dieses Wissen aber vermag er mangels Sprache nicht zu teilen – ist diese doch affiziert von dem, wovon er so verzweifelt berichten möchte, aber niemand außer ihm von dessen (innerdiegetischer) Faktizität weiß. Eine Stille, die verheimlicht, was vor sich geht und Worte, die nicht hinreichen, das auszudrücken, was Odysseus erlebt hat: Das Verführungsszenario ist auch als
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eine metapoetische Bearbeitung des Gedichts lesbar, eine Reflexion auf die Grenzen der Hermeneutik. Während sich in Goethes Ballade vom Fischer das Versprechen der Nixe offenbar auf einen Schatz bezieht, der in der Tiefe des Wassers liegt und nur gehoben werden kann, wenn sich der Fischer auf die Avancen der Nymphe einlässt – analog: wenn der Leser die konzise Sprache Goethes entschlüsselt (vgl. das letzte Kapitel dieser Studie) –, so entzieht sich das Versprechen bei Rilke vollständig. Es ist nicht mehr klar, ob sich überhaupt etwas hinter dem Schweigen verbirgt und was das ist. Um dies herauszufinden, begibt sich der Leser auf eine Suchbewegung zwischen Homers Urtext und Rilkes Version, zwischen Schweigen und Gesang, zwischen Bedeutung und Materialität der Sprache – doch vergebens. Das Paradigma von Verhüllung und Enthüllung geht nicht mehr auf, die Materialität der Sprache verweist nicht mehr zuverlässig auf einen Referenten. Die hermeneutische Geste löst das Geschehene nicht auf, solange sie unter die Oberfläche der Sprache zielt. Stattdessen liegt Sinnhaftigkeit, wenn auch nicht Bedeutung, im Schweigen selbst. Nicht nur der Rezeptionsprozess zirkuliert um diese Leerstelle, sogar Odysseus und seine Männer selbst können sie nicht füllen. Die Leerstelle um das Verführungsmittel der Sirenen korreliert mit der Suche nach sprachlichen Ausdrucksmitteln des Odysseus. Dadurch, dass gleich die erste Strophe auf das Unvermögen Odysseus’, die richtigen Worte zu finden, abhebt, wird er als unzuverlässiger Erzähler markiert, dem nicht zu trauen ist. So wird das Erlebnis zweifelhaft, dubios, irreal. Die Verbformen „sähen“ (9) und „wäre“ (23) verwischen die Grenzen von Faktualität und Fiktionalität, von Wissen und bloßer Vorstellungskraft; das Personalpronomen „es“ (16) benennt die eigentlichen Urheber des Gesangs nicht, auch die häufige Verwendung von Zeilensprüngen illustriert die Unvereinbarkeit von Odysseus’ Erinnerungen und deren sprachliche Artikulation. So wie in Homer die Sirenen arglose Seemänner ins Verderben ziehen, so kommt die Sprache an ihr Ende, wenn sie nicht mehr hinreicht, Erlebnisse zu schildern und zu teilen. Bei Rilke sind es nicht die Matrosen, die in den Armen der Sirenen untergehen, sondern die Sprache. Sie vermag nicht mehr, Ausdrücke zu liefern um Geschehenes zu beschreiben; sie reicht nicht hin, um Sinneserfahrungen verlässlich zu vermitteln. Mögliche Diskursebenen überlagern sich ebenso wie Sturm und tosendes Wasser mit plötzlicher Stille und Windflaute. Gezogen in einen Strudel von Ereignissen völlig unaufgeregter Natur, wissen die Seemänner nicht, was mit ihnen passiert. Sie sind am Leben, sie sind nicht an Land der Insel gegangen, und doch sind sie schon verloren, in den Bann der Sirenen gezogen. Nicht nur sind die Sinne der Akteure im Gedicht verwirrt, sondern auch die des Lesers. Hineingezogen in eine Geschichte, deren Wahrheitsgehalt angezweifelt werden muss und doch so bestechend ist, werden wir Zeugen (und Teilhaber) einer Verführung, von der wir nicht wissen, ob sie
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überhaupt stattgefunden hat. Vereinnahmt von der Kraft der poetischen Sprache, die uns Leser auf Distanz hält, und damit die Imagination allerdings erst anregt, ist weder eine Wiedergabe des tatsächlichen Geschehens möglich, noch eine verlässliche Differenzierung in das, was sich auf diskursiver Ebene abspielt, von dem, was auf Rezeptionsebene gelesen wird. Odysseus Sprache wird von den Sirenen verführt, so wie die (mangelhafte) Sprache ihrerseits dann auch den Adressaten affiziert. Rilke eröffnet mit seinem Text den Topos der schweigenden Sirenen, den auch Kafka zehn Jahre später, 1917, wieder aufgreift.39 Die Gefahr besteht fortan in einer Leerstelle, die mit der Sinneswahrnehmung nicht zu erfassen, und damit nicht zu kontrollieren ist. Die schweigenden Sirenen sind paradigmatisch dafür, dass der Effekt von Verführungskräften erst bemerkbar wird, wenn man ihnen schon längst anheim gefallen ist, ohne sie antizipieren zu können. Ihr eignet also ein konstantes Nachträglichkeitsmoment. Verführung ist ein Ereignis, das schon stattgefunden hat, bevor es wahrnehmbar ist, und paradoxerweise, zugleich auf die Zukunft ausgerichtet ist – das haben schon vorherige Gedichte gezeigt. Diese paradoxe Struktur, die in dem Versprechen begründet ist, welches eine jede Verführung gibt (vgl. zum
39 Siehe Kafka, Franz (1970): Das Schweigen der Sirenen. In: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Raabe, Paul. Frankfurt/M: Fischer, 304-305. Neben Kafka greift etwa auch Brecht das Motiv der schweigenden Sirenen auf: Brecht, Bertolt (1965): Odysseus und die Sirenen. In: Werke. Prosa I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 227-228. Die Sirene gehört neben der Melusine, Undine, Nymphe oder Nixe zum Figurenreigen der verlockenden Wasserfrauen. In den Kontext der in und mit dem Element des Wassers verführenden Belles Dames sans Merci (in Anlehnung an Keats) gehört v.a. in der Lyrik der Romantik auch die Loreley, die vielfach beschrieben und besungen ist, aber insbesondere mit Heinrich Heine, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff assoziiert bleibt. Der Mythos nach sitzt die Loreley auf einem Felsen am Rhein und betört mit ihrer Schönheit und ihrem ‚wunderbaren‘ Gesang die vorbeifahrenden Schiffe derart, dass diese in die gefährliche Strömung geraten oder an die Felsen stoßen und umkommen. Sie wird als Zauberin (z.B. bei Brentano, Zu Bacharach am Rheine) oder als Hexe beschrieben („Es ist schon spät, es wird schon kalt, Kommst nimmermehr aus diesem Wald!“ (Eichendorff, Waldgespräch). Den Wasserfrauen ist gemein, dass sie – wenn sie auch verschiedene Absichten haben – mit enormer Anziehungskraft ausgestattet sind, die sich je spezifisch mittels Gesang, Schönheit, Wissen o.ä. artikuliert. Wunderlich liest sie als Personifikation der triebhaften Natur, die „zur romantischen Verkörperung der Sehnsucht nach Beseelung der Natur und zum Sinnbild für den Untergang als bitter-süße Erfüllung“ ruft (Wunderlich, Werner (2007): Die Metamorphosen der Sirenen. Nachwort. In: Ders. (Hg.): Mythos Sirenen. Stuttgart: Reclam, 173-199, hier 196).
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Versprechen das ebenso betitelte Kapitel im ersten Teil dieser Studie) hält auch Foucault für charakteristisch. Er schreibt: „Verführerisch daran [am Gesang der Sirenen, J.V.] ist weniger, was man zu hören bekommt, als was ihre Worte in der Ferne aufscheinen lassen, die Zukunft des darin Gesagten. Die Faszination rührt nicht aus ihrem tatsächlichen Gesang, sondern aus dem Versprechen, das darin liegt.“40
Demnach wäre es unerheblich, ob die Sirenen gesungen haben oder nicht; verführerisch ist gerade die unendliche Iteration dieser Uneindeutigkeit. Während die Art und Weise der Bedrohung durch die Sirenen – Gesang oder Schweigen – spätestens mit Rilke also variabel wird, ist die Insel, auf der die verführerischen Wesen leben, eine Konstante in Form eines kartographischen Anziehungspunkts. In Rilkes Version, ebenso wie bei Homer, wird das Eiland zu einem Fixpunkt, um den sich die Matrosen herumbewegen. In der Odyssee ist ihre geographische Position auf dem Heimweg nach Ithaka dank der Zauberin Kirke klar zu bestimmen; bei Rilke dagegen scheinen die Matrosen über den genauen Ort der berüchtigten Insel keine Kenntnis zu haben, sondern lediglich über ihren ungefähren („daß es dort auf jenen goldnen Inseln manchmal singt“ (16-17)), was dazu führt, dass die Gefahr allgegenwärtig ist und sie „umringt“ (19). Die Insel als kartographischer und motivischer Ort ist kulturhistorisch häufig von Mythen, Fiktionen, Mysterien umrankt. So dient sie etwa in Platons Atlantis oder Morus’ Utopia als Projektionsfläche für die Imagination; als Ort der Realisierung utopischer und dystopischer Ideen; als Mikrokosmos, der alternative Lebensentwürfe zur ‚normalen‘ Welt verspricht. Häufig ist die Insel ambivalent konnotiert: Ihre Abgeschiedenheit und Isolation, die sie vor leichtfertigem Eindringen schützen, geben Raum für Vielfalt und Abundanz und machen aus ihr einen Rückzugs- und Zufluchtsort. Aus eben diesen Gründen steht sie jedoch andererseits für Einsamkeit und für das Ausgeliefertsein an das sie umgebende unwirtliche Meer, das sie mitunter bloß schwerlich zugänglich macht. Diese aus ihrer geographischen Lage resultierende janusköpfige Konnotation ist ursächlich für ihre Aura der Faszination, die spätestens durch den Homer’schen Mythos fest mit dem Topos der Verführung verflochten ist. Seither haben die Sirenenfiguren großen Anteil daran, dass insularen Räumen das Etikett des Unbekannten, Mysteriösen, und daher Reizvollen anhängt. In außerordentlichem Sinne zeigt sich anhand der von Rilke entworfenen Insel, wie Literatur besondere und alternative Topologien zu produzieren vermag als Va-
40 Foucault, Michel (2001): Das Denken des Außen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Frankfurt/M: Suhrkamp, 687.
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riation zu den von westlichen Kartographien geprägten, die ‚Hier‘ von ‚Dort‘ („daß es dort auf jenen / goldnen Inseln manchmal singt –,“ (16-17, Hervorhebung J.V.) unterscheiden; die das Festland als Zentrum oder Norm modellieren gegenüber Inseln als Abweichung und Peripherie, aber auch als Reservat und Residuum, und die ‚Anwesendes‘ von ‚Abwesendem‘ in starrer Systematik differenzieren. Dass dieser neu entworfene Raum der Insel wiederum besondere Sinneserfahrungen mit sich bringt, zeigt Odysseus’ Reaktion auf sein Erlebnis: Dieses ist eigentlich längst vergangen, er befindet sich im sicheren Hafen, und doch ist sein Denken, sein Handeln, sein Erzählen von der Insel geprägt, in deren Bann er gezogen ist. Wollte man der Verführung also einen geographischen Ort zuschreiben, so stellte die von den Sirenen bewohnte Insel ein mögliches Angebot dar, weil sie aufgrund ihrer exzeptionellen Lage und in sich geschlossenen Form veranschaulicht, wie sie die Position der Seemänner zu verschieben vermag. Wegen ihrer geographischen Lage in einem Ozean und wegen ihrer Form können Inseln umkreist werden, was sich die Sirenen zunutze machen. Ihre Strahlkraft geht in alle Richtungen und ist so groß, dass sie sich nicht einmal von dem Eiland, auf dem sie sitzen, auf die Objekte ihrer Begierde zubewegen müssen, vielmehr kommen diese zu ihnen. Obwohl die Matrosen segeln, und damit in einer beweglichen Position sind, haben sie keinerlei Handlungsmöglichkeiten, sie sind vielmehr bewegungs- und handlungsunfähig gemacht. Angezogen von dem verlockenden Gesang bzw. Schweigen, werden die Seemänner auf ihre Bahn gelenkt, sodass sie ungewollt den Weg zu ihnen einschlagen. Auf diese Weise bauen die Sirenen eine Relation auf, aus der Odysseus bis zum Ende des Textes nicht mehr entlassen wird. Hatten wir zu Anfang dieses Abschnitts als eines der Charakteristika heterotoper Räume das Spezifikum der komplizierten Zugänglichkeit genannt, also die Tatsache, dass eine Heterotopie nur nach Überwindung eines Öffnungs- und Schließmechanismus, und außerdem die Chronotopie, also die Eigenzeitlichkeit, die in ihnen herrscht, so stellen wir fest, dass auch die Insel der Sirenen heterotope Qualitäten hat. Ist es doch, nach Homer, einzig der Gesang, der ihren Besuchern den Zugang ermöglicht. Seit Kafka, und nun, aktualisiert mit Rilke, wissen wir, dass es ebenso das Schweigen ist, das den Öffnungsmechanismus in Gang bringt und diejenigen, die in seine Nähe kommen, affizieren. Eine Verführungskonstellation besteht in, resultiert aus und produziert zugleich Relationen verschiedener, d.h. affektiver, aber auch topologischer Art, wie wir im bisherigen Verlauf der Studie sehen konnten. Damit ist, bezogen auf Rilke, ein durch Performanz geprägtes Wechselverhältnis gemeint, in dem sich Odysseus und die Sirenen bewegen. In diesem Sinne bilden die Insel, auf der die mysteriösen Wesen wohnen, und das Meer, auf dem Odysseus und seine Mannschaft unterwegs sind, den Raum, der beide Figuren durch deren gegenseitiges Verhältnis allererst konsti-
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tuiert, schließlich wäre Odysseus nicht in dem im Gedicht beschriebenen Zustand ohne die Sirenen, die ihrerseits überhaupt erst als solche zu bezeichnen sind dank ihrer Betörungskräfte, welche sich wiederum nur in der Relation zu den Seemännern entfalten. Verführung, so hat sich gezeigt, ist eine Konstellation, die sich verdichtet oder materialisiert in ästhetischen Intrarelationen sprachmaterieller – bei Rilke etwa Reime, spezifische Tempi, Pronomina, abrupte Enjambements, verblüffende Paradoxa o.ä. – und semantischer Natur.
Geste – Attraktoren
A UFBRUCH
NACH
K YTHERA
Am rechten Bildrand sitzt ein Paar auf einer Anhöhe, eine Frau im weißen Kleid und roten Gewand im Gespräch mit einem Kavalier, der ihr vollends zugewandt ist und, in einer Geste der Zuneigung, beinahe mit seinem Gesicht ihre Schulter streift. Er scheint eifrig ins Gespräch vertieft, ja, geradezu auf sie einzureden, die ihrerseits interessiert, aber verhalten reagiert. Vor allem an der Haltung ihrer Knie ist zu erkennen, dass ihr Körper von ihrem Begleiter abgewandt ist, nurmehr ihr Kopf ist diesem zugeneigt. Links daneben ein zweites Paar, ebenfalls festlich gekleidet. Ihrer beider Körper sind einander vollständig zugewandt, die Dame sitzt noch auf dem Boden, der Mann greift sie an beiden Händen als wolle er sie in die Höhe ziehen. Zur Linken ein drittes Paar mit einer Frau im braunen Kleid, die ihren Körper in einer ungewöhnlichen Torsion dreht. Einerseits zu ihrem Begleiter gedreht, wendet sie ihren Oberkörper jedoch zurück, und neigt ihren Kopf entgegen der Gehrichtung. Ihr rechter Arm ist nach vorne und zu ihrem Kavalier gerichtet, der seinerseits ihre Hüfte umfasst, während ihr linker Arm zurückgewandt ist. Sie blickt auf das zuvor beschriebene Paar zu ihrer Linken mit der noch am Boden sitzenden Dame. Ihr in Rot gekleideter Begleiter kehrt dem Betrachter den Rücken zu, ist dafür der Dame vollständig zugewandt und legt seinen Arm um ihre Taille, als wolle er sie zum Weitergehen bewegen. Fast symmetrisch dreht sich der Mann in dem Maße, in dem sich die Frau zurückbeugt, in die entgegengesetzte Richtung nach vorne zum Wasser. Linkerhand finden sich weitere Paare, die einander untergehakt sind und schon näher zum Boot hin stehen. Etwa eines, das in einer ähnlich gegensätzlichen Drehung steht: Auf den beherzten Zugriff des Mannes reagiert die Dame mit dem steifen Zurücknehmen ihres Oberkörpers.1 Oder ein weiteres Paar, beste-
1
Vgl. Bauer, Hermann (1980): Rokokomalerei. Sechs Studien. Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 26.
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hend aus einer Dame in dunklem Blazer und hellem Rock, die sich angesichts der Zudringlichkeit des Mannes versteift, den Kopf zurückgenommen, die Hände auf den Rücken gelegt. Am linken Bildrand schließlich sehen wir ein viertes Paar, das Arm in Arm steht und untereinander eingehakt ist wie in völligem Einverständnis über ihre gemeinsame Absicht, in das erwartete Boot zu steigen, das, prunkvoll geschmückt wie ein französisches Bett, zum Einsteigen bereit in der Bucht liegt. Zwischen den beschriebenen Paaren sehen wir zahlreiche weitere am Ufer des Sees stehende Frauen und Männer, umwimmelt von Putten. Das Boot soll die Festgemeinde nach Kythera übersetzen, die Liebesinsel von Aphrodite und Namensgeber des Gemäldes ist, das hier in aller Kürze beschrieben ist: Die Einschiffung nach Kythera von Antoine de Watteau aus dem Jahr 1717 in der Version des Louvre in Paris. Das Bild ist lesbar als eine Geschichte, der eine vom rechten zum linken Bildrand hin sich entwickelnde Handlung zu entnehmen ist. Das rechte Paar ist noch nicht im Aufbruch, beide Figuren sitzen noch auf dem bewaldeten Hügel, ihre Körper sind nicht dem See, sondern dem dichten Baumbewuchs zugewandt. Der Kavalier wirkt eifrig bemüht, die Dame zum Aufbruch zu überreden, die ihrerseits zwar interessiert, jedoch abwartend erscheint. Die nächste Paarkonstellation ist schon dynamischer. Zwar sitzt die Dame noch, doch bereitwillig hat sie ihre Hände in die ihres Liebhabers gelegt, der kraftvoll zieht und kurz davor ist, seine Begleiterin in den Stand zu heben. Dies ist gelungen, wenn wir das nächste Paar betrachten, das auf der höchsten Stelle des Hügels steht. Der Kavalier drängt zum Weitergehen in Richtung des Wassers, während die Dame zwar in Bewegung ist, doch noch zögernd zurückblickt als fragte sie sich, wie der Mann sie eigentlich dazu gebracht hat, sich in seine Hände zu begeben. Das Paar am linken Bildrand zuletzt scheint sich endlich einig, das nahende Boot nehmen zu wollen, und steht entschlossen bereit. In dieser Lesart, die dem Blick des Betrachters von rechts nach links folgt, oder aber von dem zur Bootsfahrt entschiedenen Paar ausgeht und rekursiv nachverfolgt, wie es zu dieser Entschlossenheit gekommen ist – in dieser Lesart legen die Paare einen Weg zurück, den Hans Körner als „Stadien der Überredung zur Liebe“2 beschreibt. Der Begriff der Überredung scheint wohlgezielt aufgrund der Explizitheit der Szenerie. Es handelt sich um eine fête galante, und vor dem Hintergrund der Bedeutung der Insel Kythera als Vergnügungsort, der mitunter gegen den Namen Saint-Cloud ausgetauscht wurde, um mit der geläufigen Formulierung ‚Partir pour St. Cloud‘ eine Landpartie mit amourösem Ziel zu beschreiben, sind die Absichten
2
Körner, Hans (2015): Kunst als Überredung zur Liebe. Die Sinnlichkeit der Gemälde Antoine Watteaus und François Bouchers. In: Bückling, Maraike (Hg.): Gefährliche Liebschaften. Die Kunst des französischen Rokoko. Katalog der Ausstellung, Frankfurt, Liebighaus Skulpturensammlung 2015-2016. München, 136-145, hier 139.
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des Kavaliers auch für die Dame kein Geheimnis: Sie wird wissen, wozu sie überredet werden soll.3 Jedoch webt vor allem eine Geste im Zentrum des Werks in die Stadien der Überredung Verführungsmomente ein, die andeutet, dass sich die Szene in einem Modus vollzieht, der erstens nicht nur den Kavalier als dominanten Part hervorkehrt, sondern beide – die Dame und ihren Kavalier – als von der Situation affiziert herausstellt. Beide finden sich, zweitens, in einer Situation wieder, die durch zahlreiche Züge nach vorne und wieder zurück gekennzeichnet sind und daher für beide Beteiligten offen sein muss, was als Nächstes geschehen wird und ob die Überredungsversuche Erfolg haben werden oder nicht. Oder anders formuliert: Dass die Überredung so viele verschiedene Stadien hat und braucht, wie das Bild uns wissen lässt, und sich in Phasen von Zuneigung und Rücknahme, von Zuspruch und Zögern, von Hin-Wendungen, Ab-Wendungen und Ent-Wendungen hinzieht, bis sich schließlich das Paar am linken äußeren Bildrand über das Einsteigen in die Barke einig ist, stellt die Verführungsmomente aus, die ihr eingeschrieben sind. Zeugnis davon legt vor allem die paradoxe Körperhaltung der Dame in der Bildmitte ab. Den Avancen ihres Begleiters gegenüber offenbar empfänglich, willigt sie ein, zum bereitliegenden Boot zu gehen – davon zeugt ihr Torso, der in Richtung des Sees gedreht ist; zugleich jedoch wendet sie ihren Oberkörper, ihr Gesicht und ihre Hände zurück. Sie verharrt, sie zögert, sie zaudert. Wir wissen nicht, womit der Kavalier sie zu überzeugen sucht – wohl mit Komplimenten, mit der Anpreisung seiner Vorzüge, mit der Aussicht auf Sinnengenuss, mit dem Versprechen auf Liebesglück. Die Avancen haben die erhoffte Wirkung, die Dame setzt sich in Bewegung – doch nicht ohne Zögern. Dieses in ihrer Gestik ausgedrückte Moment des Verharrens, der Unentschiedenheit und der Zurückhaltung bei gleichzeitiger Aufgeschlossenheit, Offenheit und Neugier ist, so meine These, konstitutiv für eine jede Verführungssituation. Ihre Bewegung in Richtung des Bootes gibt Aufschluss über den Reiz, den das Versprechen des Kavaliers auf sie ausübt, und zeugt von ihrer Einwilligung in das Vorhaben, auf die Liebesinsel überzusetzen. Sie ist eine Affirmation, eine setzende Bewegung, die jedoch ein ent-setzendes Moment birgt, das sichtbar wird in der Haltung ihres Körpers, in dessen Verhalten (und ‚verhalten‘ als Adjektiv), in dessen Gestik. Die Geste der Dame ist, paradoxerweise, zugleich Ausdruck ihrer Hingabe
3
Vgl. Stuffmann, Margret (1982): Ile de Cythère – Ile enchantée. Insel Cythera – Verzauberte Insel. In: Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut (Hg.): Watteau, JeanAntoine. Einschiffung nach Cythera. L´Ile de Cythère. Ausstellungskatalog. Frankfurt/M: Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, 74-89, hier 75. Hermann Bauer spricht von einer „Pilgerschaft zur Liebe“ (Bauer, Hermann (1980): Rokokomalerei. Sechs Stu-
dien. Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 23).
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und ihrer Zurückhaltung. Sie ist eine Reaktion auf die Verführungsversuche des Mannes und gleichzeitig Ansporn für diesen, sein Bemühen um sie noch zu steigern. Weil sie sich entzieht und seine Strategie vorerst erfolglos macht, stellt sie für den männlichen Begleiter einen verlockenden Anreiz dar, sein taktisches Vorgehen zu flexibilisieren und sein Werben zu intensivieren. Wegen der Kontingenz, der Unplanbarkeit des zukünftigen Geschehens steigert das ent-setzende Moment noch die Lust des Kavaliers. Sein Versuch zu ihrer raschen Überredung misslingt, aber ihrer beider Verführung kommt umso mehr in Gang.
D AS G ESTISCHE
DER LYRISCHEN
S PRACHE
Das Kunstwerk ist so dynamisch, wie es ein Gemälde sein kann. Vom rechten Bildrand zum linken bildet es eine Narration ab; es zeigt keinen statischen Zustand, sondern eine Handlungsabfolge, nämlich die Szenen des Verlaufs einer fête galante; es zeigt die Bewegung, die Positionsveränderung und die Entwicklung der Figuren; es illustriert deren Gefühlsregungen. In einem anderen Medium, der Sprache, genauer gesagt der poetischen Sprache in Rilkes Orpheus. Eurydike. Hermes hatten wir zuvor solche Bewegungen nachgezeichnet. Es hatte sich gezeigt, dass lyrische Sprache als Bewegung beschreibbar ist, die den Raum des Gedichts produziert. Lyrik konstituiert sich über Schriftbewegungen; sie ist in Bewegung und in Veränderung begriffen; sie vermag es, in Bewegung zu versetzen. Sie kann symbolisch sein und sich auf eine semantische Aussage zubewegen, wenn sie dies auch nicht muss; sie kann eine Bewegung ins Offene sein ohne sich auf ein bestimmtes Ziel hin zu richten; jedenfalls ist sie stets sinnliche Bewegung (daran hatte schon Latours sens erinnert). Als solche Komplizin der Sinnlichkeit wäre sie nicht irgendeine Bewegung, sondern eine Geste. Dass jede Geste Bewegung ist, wusste schon Cicero – wenn auch nicht umgekehrt gilt, dass jede Bewegung Geste sein muss. Nach Johann Jakob Engel ist eine Geste die Reaktion oder zumindest die Bezugnahme auf die Anziehung oder Abstoßung von einem Objekt. In Engels Sinne also bezieht sich eine Geste auf ein Objekt, sie wendet sich auf es hin, und etabliert damit eine Relation zwischen Subjekt, von dem die Geste ausgeht, und dem Objekt, auf das sie zielt. Als Beispiel für dieses Verhältnis nennt Daniel Blanga-Gubbay in seiner Theorie der Geste explizit Gesten der Verführung und hebt dadurch eine ihrer konstitutiven Eigenschaften hervor: „So in gestures I announce the tension toward an action that I can achieve in the future, and to give an example, gestures of challenge or seduction gestures should be seen as such precisely because they refer to an object-action yet to
G ESTE – A TTRAKTOREN
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come.“4 Blanga-Gubbay nennt also Verführungsgesten als exemplarisch für Gesten im Allgemeinen, denn ihnen ist die Spannung zu dem noch Ausstehenden eingeschrieben. In Abgrenzung zum Zeichen, das eine Bedeutung trägt, versucht BlangaGubbay die folgende Definition von Geste: „[D]efined in the form of tension toward an external object, the gesture needs to keep this distance from the object as [a] space of tension toward it.“5 In diesem Sinne sind Gesten Bewegungen auf noch Ausstehendes hin, ohne schon Akt, Ausführung, Vollzug zu sein. Wegen ihrer starken sinnlichen Qualitäten, die sie von einer bloßen Bewegung unterscheidet wie sie der menschliche Körper ständig, intentional (z.B. beim Gehen) oder nichtintentional (z.B. beim Atmen) vollzieht, und, semiotisch gesprochen, wegen des Entzugs verlässlicher symbolischer Valenz, die, Blanga-Gubbay nach, „unachieved“ bleibt, beschreibt er sie als „a never satisfied desire“6. In Verführungsgesten ist solche Spannung zu dem Noch-nicht-Erreichten besonders pointiert, wenn sie auch, Blanga-Gubbays Argumentation nach, für jede Geste konstitutiv ist. Aus dieser Argumentation resultiert die Schlussfolgerung: „[G]esture is tension“7. Am Beispiel der körperlichen Gestik – und als eine Bewegung des menschlichen Körpers und damit als Ergänzung oder Supplement sprachlichen Ausdrucks werden Gesten gemeinhin aufgefasst – wird diese Distanz leicht nachvollziehbar:
4
Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Daniel Blanga-Gubbay, das dieser mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Zwischenzeitlich wurde es unter dem gleichen Titel, jedoch in einer stark modifizierten Version publiziert: Blanga-Gubbay (2014): Life on the threshold of the body. In: Gal, Michalle (Hg.): Art and Gesture. Berlin: Akademie Verlag, 122-131. Meine Ausführungen beziehen sich daher auf die Version: Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript. Das obige Zitat stammt aus eben diesem Dokument, Seite 3 (Die zitierten Hervorhebungen im Original teile ich nicht bzw. halte sie für meine Argumentation nicht für sinnvoll). Vgl. zum Topos der Geste auch Flusser, Vilém (1991): Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf: Bollmann; Agamben, Giorgio (1992): Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen: edition diskord, 97-107; und Rösch, Günther (2005): Philosophie der Geste. Berlin: Merve.
5
Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 4. Hervorhebungen im Original.
6
Ebd., 6.
7
Blanga-Gubbay, Daniel (2010): Human Gestures between Power and Action. In: Gebauer, Gunter (Hg.): Paragrana 19. Berlin: Akademie Verlag, 213-220, hier 216.
186 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK „Stretching out my arm toward an object, even before reaching it, I experience in my movement the distance between me – as the subject – and the object. I am starting my movement because the object I desire is far from me; it is something that does not belong to my own body but that is distant from me; and it is through my movement that I perceive the space between us.”8
Aus der Überschreitung des eigenen körperlichen Raums in der Hinwendung auf das Noch-Nicht-Erreichte und dem Widerstand, der eben diesem – gerade weil es noch nicht erreicht ist – inhärent ist, resultiert eine für die Geste konstitutive Spannung. Abstrahieren wir von der körperlichen Dimension, die Blanga-Gubbay betont, so können wir sagen, dass sich eine ähnliche Bewegung in Verführungskonstellationen findet, für die die Potentialität ihrer Realisierung konstitutiv ist. Meine bisherige Argumentation in dieser Studie zeigt, dass auch Sprache, insofern sie ein Akteur ist, handelt. Im metaphorischen Sinne wäre sie ein Sprachkörper, der gestisch agieren kann. Dies tut sie auf vielgestaltige Weise. Wald im Winter 1
Du hoher Wald, von Baum zu Baum durchsponnen Mit blassen Reifs verschlungenen Gehängen, Verführ mich nicht zu tief in finstern Gängen! Früh schleicht hinab das gelbe Licht der Sonnen,
5
Frost blüht wie Locken von Asbest im Grunde, Es zagt der Schritt, das Herz wagt nicht zu klopfen, Wie Augen schaun die großen goldnen Tropfen Von klarem Harz an alter Kiefer Wunde. Und Beerenbüschel glühn, purpurne Zeichen,
10
Aus niedern Strauchs durchsichtiger Eisesbürde, Wie Lippen, die ein Tod so jäh berührte, Daß sie nicht Zeit mehr fanden zum Erbleichen.9
Das einstrophige, durchgängig in umarmenden Reimen gehaltene Gedicht von Hans Carossa, entstanden 1906, erstmalig abgedruckt in 1910, beginnt mit einer Apostrophe: Der Sprecher des Gedichts, der nur in der dritten Zeile in der Aufforderung (oder Warnung? oder Bitte?) „Verführ mich nicht zu tief in finstern Gängen!“ (Hervorhebung J.V.) von sich Reden macht, spricht den Wald direkt an: „Du hoher
8
Ebd., 215. (Hervorhebungen im Original)
9
Carossa, Hans (1947): Gesammelte Gedichte. Memmingen: Insel, 43.
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Wald“. Was folgt, ist eine Beschreibung des Waldes zur Winterzeit. Die Bäume sind mit Fäden aus Raureif durchzogen (1), ins dunkle Geäst fällt einzig am Morgen Sonnenlicht (4), Eis überzieht die Pflanzen (10). Der Frost hat sich zu Haarlocken geformt (5); Tropfen aus Kiefernharz sehen aus wie bernsteinfarbene Augen (7-8); Beerenbüschel strahlen in purpurroter Farbe aus den mit Frost überzogenen Bodendecken hervor (9-10), so leuchtend „[w]ie Lippen, die ein Tod so jäh berührte, / Daß sie nicht mehr Zeit fanden zum Erbleichen.“ (11-12) Der Wald strotzt vor unnahbarer Schönheit, die aber eine unheimliche, ja beinahe bedrohliche Wirkung auf den Besucher hat.10 Er geht zaghaft und vorsichtig, hat Sorge, sich zu verirren und nicht mehr den Weg hinaus zu finden (3). Er traut sich kaum, einen Schritt vor den anderen zu setzen (6), sogar sein Herz „wagt nicht zu klopfen“ (6). Das lyrische Ich scheint Ehrfurcht zu haben („Du hoher Wald“ (1, Hervorhebung J. V.)) vor der unberührten Kulisse, in die er nun hineintritt, als könne er sich ihr nicht entziehen, spürt aber nicht minder Furcht vor einem Orientierungsverlust angesichts der Verwandlung des Waldes. Dessen Metamorphose ist durch die Jahreszeit bedingt, er ist mit Raureiffäden behangen, düster, farblos, eiskalt. Der den Boden überziehende Frost sieht aus wie Locken aus Asbest (5), die an der Kiefer klebenden Harztropfen wirken wie Augen (7), die Beerenbüschel sind so purpurn wie Lippen (11). Trotz der intuitiv verspürten Gefahr – sein „Herz wagt nicht zu klopfen“ (6) –, trotzdem er fühlt, dass er droht, sich zu verirren (3), denn der Wald ist „durchsponnen“ (1), „verschlungen“ und „verhangen“ (vgl. 2), „finster“ (vgl. 3), „bleich“ (vgl. 12), von eisiger Kälte (10), der Wald verfolgt seine eigene Zeitlichkeit, die in Wunden (8) und gar in einem plötzlichen Tod enden kann (11) – trotz des Risikos also, das er intuitiv erahnt und Furcht in ihm aufsteigen lässt, vermag er es nicht, sich dem Wald zu entziehen. Trotz und wegen des Entzugs von Wissen, was in dem Wald vorgeht, der zweideutige Signale aussendet, verspürt das lyrische Ich offenbar das Begehren, ihn zu betreten. Den Reiz des Waldes kann auch der Leser nachvollziehen, dem sich ebenso wenig wie dem lyrischen Ich erschließt, was dort vor sich geht. Geheimnisvoll, unwirtlich und lebensfeindlich aufgrund seiner klimatischen Bedingungen, ist er doch paradoxerweise dank der Locken, der Augen und Lippen vermenschlicht. Der Wald ist reglos, als läge er im Winterschlaf, ein Stillleben wird hier eigentlich gezeichnet, erfroren oder versteinert – und doch regt sich in jedem Winkel etwas. Farben ver-
10 Das Unheimliche als Irritation oder Verstörung hat Sigmund Freud auch in alltäglichen Situationen und in Begegnung mit vertrauten Objekten am Werk gesehen. Der Spaziergang durch den Wald und die Begegnung mit den Pflanzen bei Carossa wären Beispiele dafür (Freud, Sigmund (1999): Gesammelte Werke. Hg. von Freud, Anna et al. Bd. 12. Frankfurt/M: Fischer). Frost und Locken sind vertraut und bekannt, werden aber durch die von dem Wort „wie“ produzierte modale Instabilität verfremdet und unheimlich.
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ändern sich: Finster wird zu gelb (3-4), durchsichtig zu rot (9-10). Sogar der Frost ist in Bewegung, denn er hat die Form von Wellen, Kringeln, Locken. Der Harz ist geronnen und doch alles andere als erstarrt, denn er schaut, und das impliziert einen Blick, der in Bewegung ist und Bewegungen anderer verfolgt. Und inmitten dieser fahlen, weißen, eisigen Landschaft lugt diejenige Signalfarbe hervor, die für das Leben schlechthin steht: Rot glühende Beeren, Symbole des Widerstands gegen den Winter. In Carossas Gedicht stehen Verfremdungen bzw. Metamorphosen im Vordergrund. Irritierende und beunruhigende Verwandlungen in einem Zwischenbereich des Humanen und Nicht-Humanen, deren perturbierender Charakter sich nicht mehr durch die Anthropomorphisierungsthese, zu der die Lyrikanalyse greift, familiarisieren lässt. Es vollzieht sich eine sogenannte ‚Alphabetisierung‘ des Körpers, die im Petrarkismus etabliert wurde und zum Kanon der Liebeslyrik wurde. Vor diesem Hintergrund müssen wir den Daphne-Mythos heranziehen, wenn der Natur menschliche Eigenschaften verliehen werden – sie erhält Locken, Augen und Lippen –, denn dies sind Zeichen des Körpers der Geliebten. Die Nymphe Daphne hatte sich auf der Flucht vor Apollon, dessen Liebe sie nicht erwiderte, in einen Lorbeerbaum verwandelt. Bei Carossa liegt eine Metamorphose in die andere Richtung vor und eine solche Rückverwandlung in einen Menschen hat einen das Subjekt umso stärker bedrohenden Charakter. Die Angst vor der Orientierungslosigkeit, die das lyrische Ich mit seinem anfänglichen Appell ausdrückt, liegt in der Perturbation seiner Wahrnehmung begründet. Vielleicht fühlt es sich beobachtet, weil es goldene Augen im Kieferstamm und Locken am Boden sieht, und gespitzte Lippen aus den Sträuchern hervorlugen. Der Wald jedenfalls verströmt eine Atmosphäre, die seine Sinne beeinflusst: „Es zagt der Schritt, das Herz wagt nicht zu klopfen“ (5). Dieser Zauberwald hat das lyrische Ich längst mit dessen erstem Schritt verführt und eine Verschiebung seiner Wahrnehmung bewirkt, ungeachtet seiner Bitte oder Warnung. Eindringlicher wäre die faszinierende wie unheimliche Atmosphäre dieses Orts kaum zu verdeutlichen denn mittels Metamorphosen, die die zuvor skizzierte Leblosigkeit in Frage stellen. Der Wald scheint reglos im Winterschlaf zu liegen oder gar tot zu sein, wie erfroren; aber dies kann ein Trugschluss sein, denn es gibt an den unwahrscheinlichsten Stellen versteckte Anzeichen von Leben. Inmitten der Schneelandschaft sticht der Beerenstrauch mit seiner intensiven Farbe heraus, die der von blutpulsierenden, hochroten Lippen zum Verwechseln ähnelt. Als hätte sie „ein Tod so jäh berührt[], /Daß sie nicht Zeit mehr fanden zum Erbleichen“ (11-12), ragen sie wie unübersehbare Farbtupfer aus der eisüberzogenen, kalten, bleichen Umgebung hervor, so als hätte der Winter sie mit seinem plötzlichen Einbruch überrascht. Die Natur in diesem Wald ist erstarrt, liegt in einem unnahbaren, erhabenen, ‚hohen‘ (vgl. 1) Winterschlaf, der unerwartet über sie gekommen ist. Es
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wird eine ambivalente, ja paradoxe Atmosphäre entworfen aus blühendem Frost (5), purpurn glühendem Erbleichen (9; 12), roten, weil durchbluteten Lippen, vom Tod berührt (9, 11, 12). Allesamt haben die Ausdrücke Qualitäten eines Oxymorons. Inmitten dieses blassen, farblosen, von Eis überzogenen, in Reiffäden verhangenen, reglosen Waldes lugen Residuen ehemaliger und in Bälde, mit einer anderen Jahreszeit wiederkommender Lebendigkeit hervor. Diese wird mittels des Partikels „wie“ evoziert. Es ist das einzige Wort im Gedicht, das dreimal wiederholt wird (5, 7, 11). Es beschreibt, wie die Wahrnehmung des Waldbesuchers, kaum dass er seinen Ausruf „Verführ mich nicht zu tief in finstern Gängen!“ getan hat, doch schon verleitet ist, etwas anderes zu sehen als eigentlich zu sehen ist. Das Wort ‚wie‘ ist ein Vergleichspartikel, der eine Relation – und zwar eben einen Vergleich – etabliert. Es hat eine Scharnierfunktion, weil es zwei Elemente bzw. Existenzweisen verbindet; in obigem Beispiel etwa die Seinsweise „Harz“ und die Seinsweise „Augen“. Beide scheinen zugleich existent zu sein, etwas ist auf eine bestimmte Art und Weise und es ist zugleich auch auf eine andere Art und Weise – so zumindest aus der Perspektive des Waldbesuchers. Die Vergleiche in Carossas Versen Frost blüht wie Locken von Asbest im Grunde (5) Wie Augen schaun die großen goldnen Tropfen (7) Und Beerenbüschel glühn, purpurne Zeichen (9) Wie Lippen, die ein Tod so jäh berührte (11),
beruhen auf übereinstimmenden Merkmalen von Frost und Asbest sowie von Tropfen und Augen, nämlich auf deren ähnlicher Farbe und ähnlicher Form. Und doch haben Frost und Asbest, Tropfen und Augen, Beerenbüschel und Lippen verschiedene Seinsweisen. Anders gesagt, der Vergleich ist hier eine eigentlich paradoxe Figur, denn es handelt sich um Frost, der auf dem Waldboden liegt, und zugleich in der Wahrnehmung des lyrischen Ichs um Locken aus Asbest; es handelt sich um Harz, der, bernsteinfarben, am Kieferstamm klebt, und zugleich um goldene Augen; es handelt sich um Beerenbüschel von glühendem Rot und zugleich um purpurne Lippen. Jedoch, und das ist der Grund, warum beide Vergleichsgrößen tatsächlich nicht gleichberechtigt sind – außer für einen ersten, kurzen vergänglichen Moment in der Perspektive des lyrischen Ichs –, jedoch ohne dass Asbestlocken, Augen und Lippen in der Diegese des Textes real werden, was freilich möglich wäre, denn die Gesetze der Fiktion erlaubten durchaus, dass Augen aus Baumstämmen herauslugten oder Asbestlocken auf Waldböden sich ausbreiteten. Die Sprache aber macht deutlich: Frost sieht aus wie Asbest, Harztropfen sehen aus wie Augen, Beeren wie Lippen, aber sie sind es nicht. Es ist Frost, der hier zu finden ist, es sind Tropfen von
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klarem Harz, und es sind Beerenbüschel, die unter den eisbedeckten Sträuchern hervorblitzen, wenn sie auch wie andere Entitäten erscheinen. In zwei Versen, die mit einem Vergleich operieren, steht das ‚Wie‘ vornean – freilich hat die Wahl der Syntax bzw. des Versbaus fast immer vor allem rhythmische Gründe, so auch hier –, sodass am Zeilenende der umarmende Reim („klopfen“ – „Tropfen“ (6-7) und „Eisesbürde“ – „berührte“ (10-11)) fortgesetzt werden kann: Es zagt der Schritt, das Herz wagt nicht zu klopfen, Wie Augen schaun die großen gelben Tropfen [...] Aus niedern Strauchs durchsichtiger Eisesbürde, Wie Lippen, die ein Tod so jäh berührte (Hervorhebung J.V.).
Gleich zu Anfang des zweiten und vierten Verses steht das Wort „wie“ und lässt ohne Zweifel, dass es sich um einen Vergleich handelt. Anders der Satzbau der Zeile „Frost blüht wie Locken von Asbest im Grunde“ (5). Durch die nachgeschobene Stellung des Vergleichspartikels wird zunächst einmal unzweifelhaft konstatiert, womit wir es hier zu tun haben, nämlich mit Frost, bevor dieses Faktum sodann mittels des Vergleichspartikels „wie“ und der Vergleichsgröße „Locken aus Asbest“ aufgeweicht wird. Die Frontstellung des „Frost“ anstelle eines „wie“ (etwa in einem Vers, der ‚Wie Locken von Asbest blüht der Frost‘ lauten könnte) hat aufgrund der vorhergegangenen Zeile, die mit „Früh“ (4) beginnt, Qualitäten einer Alliteration („Früh“ – „Frost“). Das „wie“ werkt an dieser Setzung, an dieser Aussage, die zunächst aus den beiden Worten „Frost blüht“ (5) besteht. Erst dann folgt, dem Satzbau gemäß, die Metapher der Asbestlocken, eben: „Frost blüht wie Locken von Asbest im Grunde.“ Etwas ist in so hohem Maße wie ein Anderes, dass eine differenzierende essentialistische Wesensbestimmung verunmöglicht wird, aber ist eben nicht das Andere – woraus folgt, dass gerade dies auch nicht ausgeschlossen werden kann. Wenn nämlich das Wesen einer Sache nicht bestimmt werden kann, so kann auch nicht mit Sicherheit angenommen ausgeschlossen werden, dass es sich um das Andere handelt. In dieser unwahrscheinlichen und paradoxen Konstellation besteht die setzende und entsetzende Funktion des Wörtchens „wie“. Der Vers „Beerenbüschel glühn, purpurne Zeichen“ (9) kommt ohne ein weiteres „wie“ aus und setzt an dessen Stelle ein Komma. Damit hat der Satz eine andere Semantik als die Vergleiche: Die Beerensträucher sehen nicht nur wie purpurne Zeichen aus, sie sind purpurne Zeichen. Lesen wir vor dieser Folie noch einmal die Vergleichsätze. Stünde analog zu obigem Vers geschrieben ‚Frost blüht; Locken von Asbest im Grunde‘ ohne dass das Wörtchen „wie“ verwendet würde, so müsste man, vorausgesetzt man respek-
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tiert die exakte Wortwahl des Gedichts, mindestens zweierlei in Betracht ziehen: Zum einen wäre der Satz so zu verstehen, dass die Ontologie des Frosts und die der Asbestlocken von gleichem Rang ist, d.h. dass beide gleichermaßen in der Diegese des Textes realisiert sind. Es ist Frost und es sind Asbestlocken, die hier auf dem Waldboden auftreten, ebenso wie Beerenbüschel purpurne Zeichen sind. Des Weiteren müsste in Betracht gezogen werden, dass es sich um eine Aufzählung handelt (zumindest schlösse die Formulierung diese Möglichkeit nicht aus), was bedeutet, dass innerhalb der Diegese des Textes tatsächlich Frost sowie Locken von Asbest auf dem Boden zu finden wären, dazu noch Beerenbüschel und außerdem purpurne Zeichen sowie Harz und darüberhinaus auch Augen. Der tatsächlich verwendete Partikel „wie“ jedoch stellt eine paradoxe Annäherung zwischen Entitäten her, die an diesem Ort, im Wald, zu dieser Zeit, im Winter, in keiner natürlichen Relation zueinander stehen, aus der Perspektive des lyrischen Ichs jedoch nicht differenziert werden können. Dessen Wahrnehmung ist irritiert, sodass nicht ausgemacht werden kann, ob eine ontologische Transformation der Realität geschehen ist oder seine Sinne ihm dies nur suggerieren, und es gleichsam selbst in den Prozess der Metamorphose integriert ist. Frost sind auch Locken aus Asbest, Tropfen sind auch Augen an Bäumen, Beerensträucher sind auch geschminkte Lippen. Seine Wahrnehmung pendelt zwischen beiden hin und her, seine Sinne sind verführt. Sie versprechen ihm, es gebe zwei Ontologien, doch ob dies in der diegetischen Welt der Fall ist oder dort nur eine aktualisiert und die andere virtuell ist, bleibt offen. Hier illustriert sich der Unterschied zwischen Vergleich und Metapher im Sinne Aristoteles: Während ersterer das Vergleichswort „wie“ braucht, kommt die Metapher ohne es aus.11 Nimmt man nun an, in beiden Beziehungen könne das „wie“ als Produzent einer strukturalen Analogie zwischen Frost und Locken aus Asbest, zwischen Tropfen und Augen, zwischen Beerenbüscheln und Lippen aufgefasst werden, dann beklagen Deleuze/Guattari, in dieser Art der Interpretation habe man „nichts vom Werden verstanden“12. Anstelle der Ähnlichkeit oder Analogie gehe es um eine Entwicklung, um eine Bewegung des Werdens, in der das Wort ‚wie‘ prozessontologisch verstanden werden müsse. In diesem Sinne würde es feste Positionen zugunsten einer Dynamik auflösen und einer Prozesshaftigkeit statt Positionalität fürsprechen. Es ist bereits in diesem Sinne, dass das Historische Wörterbuch der Philosophie unter dem Lexem ‚Vergleich‘ eine zweifache Bedeutung notiert, von der die erste
11 Vgl. Aristoteles: „Er ist wie ein Löwe“ und „Er ist ein Löwe.“ In: Ritter, Joachim et al. (Hg). (1980): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag „Metapher“. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 5, 1179-1186, hier 1179. 12 Deleuze, Gilles und Guattari, Felix (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve, 374.
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in Deleuzes/Guattaris Richtung geht: Zum einen ist eine Handlung gemeint, eine „resultative Aktionsart“13, die auf ein Ergebnis ausgerichtet ist, „z.B. auf die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden“14. Der Vergleich also als Handlung. Es ist zum anderen auch ein stabilisiertes Resultat gemeint, „der Zustand des Gleichseins oder der durch Ausgleichung hervorgebrachte Zustand“15. Der Vergleich also als Resultat. Deleuzes/Guattaris Argumentation zielt auf die erstere der beiden Bedeutungen, wenn sie sich weniger für den verfestigten Zustand interessiert, wie eine Fokussierung auf die beiden Vergleichsgrößen und deren Analogien dies tun würde, als vielmehr für den Prozess des Werdens, das heißt die Produktion der Augen oder der Lippen aus dem tertium comparationis heraus. Deleuze/Guattari geht es nicht um Imitation oder Analogie, sondern um einen Entwicklungsprozess. Sie bleiben selbst recht metaphorisch, wenn sie schreiben: „Albertine kann immer eine Blume imitieren, aber wenn sie schläft und sich mit den Partikeln des Schlafes kombiniert, treten ihr Schönheitsfleck und das Gewebe ihrer Haut in ein Verhältnis von Ruhe und Bewegung, die sie in die Zone einer molekularen Pflanze rücken: das Pflanze-Werden von Albertine. Und als sie gefangen ist, sendet sie Partikel eines Vogels aus. Und wenn sie flieht, sich auf ihre Fluchtlinie stürzt, wird sie zum Pferd, selbst wenn es das Pferd des Todes ist.“16
13 Ritter, Joachim et al. (Hg.) (2001): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Eintrag „Vergleich“. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 11, 679-680. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Deleuze, Gilles und Guattari, Felix (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve, 375. Baudrillard sieht einen Zusammenhang zwischen der Verführung und der Metamorphose: „Und welche Verführung ist heftiger als die, die Gattung zu wechseln, sich in ein Tier, eine Pflanze oder gar in ein Mineral und in etwas Unbelebtes zu verwandeln? [...] Wir kleiden jede Verführung in eine Metamorphose“. Und weiter schreibt er, der Körper der Metamorphose kenne keine symbolische Ordnung, genauso wenig wie die Verführung. „Nur wenn dieser wechselseitigen Transfiguration der Formen Einhalt geboten wird, erscheint eine symbolische Ordnung, [...] dann schlägt sich der Sinn [....] als Metapher nieder.“ (Baudrillard, Jean (1987): Das Andere selbst. Hg. von Engelmann, Peter. Wien: Passagen, 37f.) Wie Deleuze/Guattari sieht also auch Baudrillard die Metapher einer Überführung in das Symbolische (im Sinne der Formulierung „Etwas steht für x“ oder „X kann gedeutet werden als“) ausgesetzt.
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Albertines Pferd-Sein, ihr Vogel-Sein, ihr Pflanze-Sein sind temporäre ontologische Rollen in einem Prozess des Werdens, ähnlich dem der Augen, der Asbestlocken und der Lippen in Wald im Winter.17 Carossas Gedicht ebenso wie Deleuzes/Guattaris Beschreibung fangen den Moment einer ontologischen Stabilisierung ein, ähnlich einem still. Es ist die Materialität der Phänomene, d.h. ihre Form, Farbe, die Art und Weise ihrer Bewegung usw. und die Materialität der lyrischen Sprache, also das „wie“ ebenso wie der Rhythmus und Klang, die Metaphern, Reime oder die Apostrophe, die gemeinsam eine ontologische Stabilisierung festigen – und im nächsten Moment schon wieder auflösen. In Wald im Winter wird der Frost zu Locken aus Asbest, werden die Tropfen aus Harz zu Augen, werden die glühenden Beerensträucher für den Waldbesucher zu Lippen. Erst durch diese ontologischen Stillstellungen wird der vorangegangene Prozess bemerkbar. Eine Verführung der Wahrnehmung ist dem Erscheinen der bernsteinfarbenen Augen am Baumstamm schon vorweggegangen – das wird, gleichsam nachträglich, deutlich. Das Versprechen der Verführung ist eine andere Welt, in der Vertrautes in Metamorphosen begriffen ist. Die Tropfen verlieren nichts von ihrer eigentlichen Ontologie, aber sind zugleich auch, zumindest einen Moment lang, Augen. Das, was das lyrische Ich hier beobachtet, ist der Prozess des ‚Augenwerdens der Tropfen‘; es ist Zeuge des Vorgangs, wie vor Röte glühende Beerensträucher zu Lippen werden, wenn auch temporär. Die Syntax, genauer gesagt die Wortstellung des Verses „Frost blüht wie Locken von Asbest im Grunde“ stellt diese Entwicklung heraus. Zuerst wird konstatiert, dass Frost blüht, was nicht weiter verwunderlich ist in einem Wald zur Winterzeit, auch wenn das Verb „blühen“ in diesem Zusammenhang ungewöhnlich erscheinen mag. Sodann folgt der Zusatz „wie Locken“; die Ergänzung „von Asbest“ präzisiert Form, Farbe und Konsistenz der Locken; und schließlich wird der Ort des Schauspiels hinzugefügt. Wort für Wort lässt sich das Werden der Asbestlocken aus dem Frost nachverfolgen, das, wie sich gezeigt hat, u.a. aus den Assonanzen und dem Reimschema hervorgebracht wird. Die
17 Ähnlich auch der Frau im blauen Kleid in Carossas bekanntem Gedicht Gartentag. Die kurzzeitige ontologische Stabilisierung wird in den Versen „Ein Rittersporn versendet seinen Schimmer, / Als käme eine Frau im blauen Kleid“ gefasst. Durch den Wind formt sich für einen Moment aus den vielen, einzelnen Blütenblättern des Rittersporns die Gestalt einer Frau, die auf das lyrische Ich zuzukommen scheint. Es ist die Kontur, die Form, die Farbe, die Art der Bewegung – vielleicht die Leichtigkeit, mit der Blüten durch die Luft gewirbelt werden und ein Seidenkleid sich im Wind bauscht –, die aus den verwehten Blumen Stück für Stück, Schritt für Schritt eine näherkommende Frau herausformen.
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innere topologische Ordnung des Gedichts ist dynamisch, die Sprache ist im Werden, sie ist „unterwegs“18. So wie das lyrische Ich sich durch den Wald bewegt, ist nicht nur der Wald, entgegen dem ersten Anschein, in Bewegung, sondern auch die lyrische Sprache. Sie bewegt sich zwischen den Extrempunkten der Relationen, ohne dass eine einzelne Bedeutung dauerhaft und eindeutig den Zuschlag, d.h. innerdiegetische Faktizität erhielte. Darin ist das „wie“ eine Geste, die nicht Teil einer symbolischen Ausdrucksordnung ist, an dessen Ende eine eindeutige Bedeutung stünde, sondern eine unentschlossene Bewegung. Etwas kann sein, ohne dass es in der Diegese des Textes vollständig realisiert wird. Es gibt auch in der in diesem Gedicht entfalteten Fiktion keine Augen an der Kiefer. Und doch sind sie dort. Der Grund, weswegen die Wahrnehmung des lyrischen Ichs verschoben ist, liegt in den gemeinsamen Qualitäten von Beeren und Lippen, von Frost und Asbestlocken, von Tropfen und Augen. Das tertium comparationis bezieht sich hier, erstens, auf materielle Prozesse, nämlich die Farbe, Form, der Glanz, die Fähigkeit zur Lichtbrechung und ihr Reflexionsvermögen, die eine Ähnlichkeit zwischen beiden konstituieren. Zweitens sind beide semantisch verknüpft über die Träne, einem Tropfen in ähnlicher Form und sogar Farbe wie der Harz („von klarem Harz“, 8) nur von anderer Konsistenz – einer Körperflüssigkeit, die im Falle einer Verwundung austritt, wie sie auch der Kiefer geschehen ist. Drittens wird der Wald, wie schon erwähnt, einer beunruhigenden Metamorphisierung in den Bereich des Humanen unterzogen. Dies geschieht zuallererst durch die Apostrophe, mit der das Gedicht anhebt („Du hoher Wald“), sodann wird ihm ein Akteursstatus zugeschrieben, denn das lyrische Ich spricht ihm die Macht zu, es zu verführen (3), und schließlich werden ihm durch die Locken, Augen und Lippen menschliche Merkmale attribuiert. Der Wald kann handeln, er kann schauen (7), glühen (9), überrascht und erschrocken sein (12), erröten und erbleichen (ebd.) und den Besucher seiner Orientierung berauben. Vor allem diese drei Aspekte sind es, die die Wahrnehmungsverschiebung des lyrischen Ichs auslösen. Das „wie“ weist also auf die prozessontologische Verfasstheit der lyrischen Welt hin und stellt das Werden von ontologischen Formen heraus. Es ist dies eine sinnliche Bewegung, die nicht in einer dauerhaften, eindeutigen und verlässlichen symbolischen Ordnung aufgeht, sondern oszilliert und in Bewegung begriffen bleibt ohne anzukommen. Als solche können wir sie im Sinne Blanga-Gubbays nun
18 Dieser Ausdruck ist geprägt von Paul Celan durch seine Büchnerpreisrede Der Meridian. Celan jedoch bezieht sich auf ein Gegenüber, das ein jedes Gedicht brauche und aufsuche: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. [...] Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“ (Celan, Paul (1961): Der Meridian. Frankfurt/M: Fischer, 18)
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als eine Geste beschreiben, als eine Geste der poetischen Sprache. Das entsprechende Bild dafür ist das einer ausgestreckten Hand, die sich auf etwas hin ausrichtet, aber noch nichts ergreift.19 Vor allem Gesten der Verführung – dieses Beispiel greift auch Blanga-Gubbay auf, wie wir gesehen haben – veranschaulichen diese Spannung. Ein geheimnisvoller, aber vielversprechender Blick, ein Lächeln20, das andeutende Neigen des Kopfes in eine Richtung, von der man nicht weiß, was dort (er)wartet – diese Gesten speisen ihre Kraft aus dem spannungsvollen Spiel von gegenstrebenden Kräften, die zugleich motivieren und hemmen. Und diese, so scheint mir, können auch lyrisch-sprachlich verfasst sein.
19 Die Übertragung des Konzepts von Blanga-Gubbay impliziert eine Metaphorisierung, denn für ihn steht der körperliche Aspekt im Vordergrund (wenn dieser freilich auch für die Verführung von großer Relevanz sein kann insofern der Körper als Verführungsmittel fungieren kann). Blanga-Gubbay betont die Spannung, die aus der Öffnung des Körpers auf ein Objekt hin, und dem Widerstand des eigenen Körpers in der Bewegung auf die Welt zu, resultiert. Für uns relevant ist seine Aussage: „Once identified then in the form of a tension, gesture can be described as such only before reaching the object it was tending to“, da sich diese Dynamik in der Verführung wiederfindet (Ders. (2014): Life on the threshold of the body. In: Gal, Michalle (Hg.): Art and Gesture. Berlin: Akademie Verlag, 122-131, hier 122). Dazu wäre Emmanuel Lévinas mit Le Dire et le Dit zu konsultieren, der darstellt, dass die Geste des Sagens einen Entzug des Gesagten impliziert (Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder Anders als Sein geschieht. Freiburg: Alber). Interessant bliebe, zu untersuchen, ob das, was Blanga Gubbay für den menschlichen Körper behauptet, auch für den Körper der Sprache veranschlagt werden kann, welcher Sinn und Bedeutung verspricht, aber auch aussetzt und entzieht, bevor diese erreicht werden – etwa weil die referentielle Funktion durch poetische Verdichtungen, wie sie besonders explizit in Lautmalereien, Anagrammen o.ä. geschehen, überlagert, verschoben oder perturbiert wird. Aber auch bei Carossa finden wir Beispiele dafür, dass die Verweisungsfunktion der Sprache ausgehebelt wird. Dann nämlich, wenn die Transformation der Ontologie so weit getrieben wird, dass Frost und Harztropfen nicht für etwas stehen, sndern in der verführten Wahrnehmung des lyrischen Ichs real werden, und Beerenbüschel purpurne Zeichen sind, die für sich stehen und nicht mehr Zeichen für etwas sind. Dies ist möglich, weil es in Carossas transformierter Ontologie keine stabilisierenden Referenzwerte aus unserer Realität mehr gibt. 20 Vgl. Baudrillard, Jean (1987): Das Andere selbst. Hg. von Engelmann, Peter. Wien: Passagen, 53.
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Dass das poetische Sprachmaterial über solche Verführungsgesten verfügt, lässt Hölderlins Die Nacht erahnen: Die Nacht 1
Rings um ruhet die Stadt. Still wird die erleuchtete Gasse, Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg. Satt gehn heim, von Freuden des Tags zu ruhen, die Menschen, Und den Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
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Wolzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen, Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt. Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen
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Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet. Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken, Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl. Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond
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Kommet geheim nun auch, die schwärmerische, die Nacht kommt, Voll mit Sternen, und wol wenig bekümmert um uns Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.21
Das reimlose Gedicht Hölderlins, erstgedruckt 1807, stellt die Anfangsstrophe der späteren Elegie Brod und Wein dar.22 Die Sprechinstanz des Gedichts macht nicht explizit von sich sprechen, etwa indem sie „Ich“ sagen würde, und gibt keinen Hinweis auf ihre Identität. Erst gegen Ende des Textes wird sie bemerkbar, wenn sie erstens jemand anderen mit dem Ausruf „Sieh!“ (14) anspricht, und zweitens sich selbst einbezieht in die Gruppe der Menschen („um uns“; 16). Thema des Textes ist die Beschreibung der beginnenden Nacht in einer Stadt. Geschildert wird die Szenerie einer Stadt zur Abendstunde, in der allmählich die ti-
21 Hölderlin, Friedrich (1807): Die Nacht. In: Von Seckendorf, Leo Freiherr von (Hg.): Muselalmanach für das Jahr 1807. Regensburg: Montag und Weißische Buchhandlung, 9091. 22 Weiterführend dazu Groddeck, Wolfram (1978): Die Nacht. Überlegungen zur Lektüre der späten Gestalt von ‚Brod und Wein‘. In: Doering, Sabine et al. (Hg.): HölderlinJahrbuch 21, 206-224, hier 207.
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telgebende Nacht hereinbricht. Es ist schon dunkel, die Straßen sind erleuchtet, der sonst so geschäftige Marktplatz liegt in Stille. Vereinzelt gehen Menschen aus der Gaststube, in der sie zu Abend gegessen haben, nach Hause. Aus fernen Gärten sind die Klänge eines Musikinstruments zu hören. Woher sie kommen – ob möglicherweise ein Liebeslied gespielt wird oder es ein Stück über die Nostalgie der vergangenen Jugend ist – bleibt unklar, das lyrische Ich kann darüber nur Vermutungen anstellen. Weitere Geräusche stammen vom Wasserlauf eines Brunnens, Glockenläuten und dem Ruf des Wächters, der die Uhrzeit verkündet. Ein lauer Wind kommt auf, der Mond erscheint am Himmel, die Nacht bricht sich Bahn: Voll mit Sternen, und wol wenig bekümmert um ums Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf. (16-18)
Mit dieser Anthropomorphisierung der Nacht – ihr werden Gefühle bzw. deren Mangel zugeschrieben, sie ist „wenig bekümmert“ (16), „traurig“ (18), sie wird also vermenschlicht und bleibt gleichzeitig doch fremd unter den Menschen („Fremdlingin“ (17)), vielleicht weil sie es vermag, in Erstaunen zu versetzen („die Erstaunende“ (ebd.)) – mit dieser paradoxen Anthropomorphisierung, die nicht durchgehalten wird und der Nacht einen uneindeutigen Status zuschreibt, schließt das Gedicht. Die Nacht wird außerdem als „schwärmerisch[]“ (15) und „prächtig“ (18) beschrieben, sie umgibt ein Mysterium, denn mit ihrem Einbruch sind in der Stadt gegenstrebige Kräfte am Werk: Die Stadt ruht – darauf wird dreimal verwiesen (1, 3, 6) –, sie ist still und leer (1, 5, 11) und doch regen sich Geräusche und durchbrechen die stille Szenerie. Auf diesen Gegensatz wird durch die Konjunktion „Aber“ (7) aufmerksam gemacht: „Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten“ (7). Musik ist zu hören (7), die vorbeifahrenden Wagen rauschen (2), der Brunnen nicht minder (10), die Kirchenglocken läuten (11), die Uhrzeit verlautbart (12), Wind bläst durch die Baumwipfel (13). So entstehen oxymorotische Verse, in denen Stille und Geräusch verquickt werden, so etwa in „Still wird die erleuchtete Gasse, / Und mit Fackeln geschmückt rauschen die Wagen hinweg“ (1-2) oder „Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken“ (11, alle Hervorhebungen J.V.). Der Sprecher fungiert als Beobachter, der eine Entwicklung schildert („Jetzt“ (13), „nun“ (15)), in die er selbst involviert, von der er affiziert ist, und die er mit seinen Sinnen wahrnimmt. Er hört – das Rauschen der Wagen, die Glocken, die Musik, das Wasser –, er sieht – das Licht der Fackeln, den leergefegten Markt, den aufsteigenden Mond –, er riecht den Duft der Blumen im Beet. Gleichwohl vermag er nicht, das Geschehen vollständig zu durchdringen. Denn was tatsächlich passiert, wer der Urheber und was der Grund ist für das Saitenspiel,
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ist für ihn nicht auszumachen. Möglich, dass eine verliebte, sehnsüchtige Frau musiziert oder „ein einsamer Mann“ (8), der in Erinnerungen an seine vergangene Jugend und an alte Freunde schwelgt. Die Einschränkung „Aber“ leitet einen Gegensatz zum zuvor Geschilderten ein. Die Stadt ist ruhig, aber voller Geräusche. Das folgende Adverb „vielleicht“ löst diesen Widerspruch keineswegs auf, ganz im Gegenteil, sondern schreibt das Setting fort „ins Offene“23: Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet. (7-10; Hervorhebung J.V.)
Die ungewöhnliche Konstruktion aus Semikolon, gefolgt von „vielleicht, daß“ und einem Zeilensprung stellt eine Kippfigur da, die nicht nur in mehrere Richtungen hin offen ist – ist es still oder nicht? Ist es eine junge Frau, die auf ihrem Instrument spielt oder ein Mann? Sie zieht außerdem die innerdiegetische Faktizität dessen, was in der Folge geschildert wird, in Zweifel. Bezieht sich das „vielleicht“ nur auf die Frage nach dem Ursprung des Saitenspiels, worauf ein weiteres Semikolon folgt, oder außerdem auf das Rauschen des Wassers im Brunnen neben dem Blumenbeet? Bezieht es sich gar auf alle nachfolgenden Verse bis hin zum Ende des Gedichts? Als müsste man sich im Geiste die „ästhetisch strukturbildende[n] Konjunktion[]“24 namens „vielleicht, daß“ vor jedem weiteren Satz denken? Als stünde geschrieben ‚Vielleicht, daß / Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken‘, ‚Vielleicht, daß / Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf‘‚ ‚Vielleicht, daß das Ebenbild der Erde, der Mond / Kommet geheim nun auch‘ und ‚Vielleicht, daß die schwärmerische, die Nacht kommt‘ usf.? Das Adverb „vielleicht“ bewirkt die Suspendierung von Eindeutigkeit, eröffnet Möglichkeiten ohne Sicherheiten zu geben, es stellt eine Bewegung ins Offene dar.
23 „Komm! ins Offene, Freund“ (Hölderlin, Der Gang aufs Land) könnte es für das lyrische Ich (und den Leser) heißen, das (der) sich einlässt auf die diffuse Szenerie, die sich ihm bietet. 24 Braungart, Wolfgang (1999): „Komm! ins Offene, Freund!“ Zum Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Offenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie „Der Gang aufs Land. An Landauer“. In: Denneler, Iris (Hg.): Die Formel und das Unverwechselbare. Frankfurt/M: Peter Lang, 96-114, hier 106.
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Während das zuvor betrachtete „wie“ bei Carossa v.a. den Blick auf die generative, prozesshafte Existenz der fiktionalen Welt lenkte, stellt Hölderlins „vielleicht“ die Kontingenz der ontologischen Stabilisierungen aus: Vielleicht handelt es sich in Carossas Wald im Winter um Augen, die aus dem Baumstamm lugen, vielleicht um Tropfen von Harz; vielleicht läuft in Gartentag eine Frau im blauen Kleid beschwingten Schrittes durch den Garten, vielleicht verweht ein Blütenschimmer; vielleicht hören wir das Liebeslied eines Mädchens in Hölderlins Nacht, vielleicht das Musikstück eines wehmütigen Mannes. So ist „Vielleicht“ der Modus, in dem eine temporäre ontologische Stabilisierung geschieht. Um Modi von Aussagen zu strukturieren, ist ein Rückgriff auf Kant hilfreich, der in seiner Kritik der reinen Vernunft zwischen drei Modalitäten unterscheidet: Zum einen „assertorische“ Urteile, die die Wirklichkeit bezeichnen; „apodiktische“ Urteile, die eine Notwendigkeit bezeichnen, und zuletzt „problematische“ Urteile, die die Möglichkeit bezeichnen.25 Das Wort „vielleicht“ setzt sowohl assertorische Urteile, die besagen, was real ist, aus, als auch apodiktische Urteile, die aussagen, dass etwas ist, weil es sein muss oder dass etwas nicht ist, weil es nicht sein kann. Es repräsentiert vielmehr die Kategorie der Möglichkeit, die sich auf Potenzielles und Kontingentes bezieht, das zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht – vielleicht auch nicht – wirklich wird oder, wie bei Hölderlin, offen lässt, ob es zum jetzigen Zeitpunkt real ist oder nicht.26 Diese Systematisierung Kants wird bei Hölderlin durch die paradoxe Montage der Worte „vielleicht“ und „daß“ verschoben bzw. gar aufgelöst. Einerseits nämlich hat das Wort „vielleicht“ die Suspendierung von Wirklichkeit zur Folge27, andererseits
25 Vgl. Kant, Immanuel (1965): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, B100 und B265ff. 26 Dies ist der Einsatzpunkt Elena Espositos, die darlegt, dass Fiktion und Virtualität nicht gegeneinander ausspielbar sind. „Wenn man vom Möglichen das Notwendige ‚abzieht‘, bleibt immer noch ein sehr viel umfassenderer Bereich übrig als das, was unsere reale Welt tatsächlich ausmacht.“ Das ist der Bereich des Kontingenten, der weiterhin auszudifferenzieren ist in aktualisierte und nicht-aktualisierte Möglichkeiten. Das Virtuelle bezeichnet das letztere. Es bietet eine alternative Realitätsdimension, die von der Wirklichkeit aber unabhängig ist. Die Fiktion dagegen ist ‚fiktiv‘ im Gegensatz zur Realität (Esposito, Elena (1998): Fiktion und Virtualität. In: Krämer, Sybille (Hg.): Medien – Computer – Realität. Frankfurt/M: Suhrkamp, 269-296, hier 269). Mit Latour wird diese Annahme im Verlauf der Arbeit noch zu diskutieren sein insofern er für die Fiktion die Unabhängigkeit von der Realität in Anspruch nimmt, die Esposito dem Virtuellen vorbehält (und die zentral ist für ihre Abgrenzung des Virtuellen). 27 Im kuriosen Gegensatz dazu steht die zweite Bedeutung des Wortes ‚vielleicht‘ als Nachdruck und Verstärkung, etwa in „Das ist vielleicht ein Mist!“.
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lässt „daß“ das Gesagte in einem assertorischen Modus stehen, und weist es also als tatsächlich aus. In diesem Chiasmus sind essentialistische Wesensbestimmungen und sichere Aussagen unmöglich geworden. Rilke bringt das, was zu formulieren versucht wurde, auf einen Vers: „Vielleicht, dass ich durch schwere Berge gehe“28. Hier kondensiert sich das Paradox, welches aus der Verquickung von wirklichkeitsanzeigendem und wirklichkeitskonstituierendem Präsens („Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe“) mit dem Modus der Möglichkeit („Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe“; alle Hervorhebungen J.V.) resultiert, und verweist mit der Metapher von den schweren Bergen noch auf den Effekt dieser konträren Konstruktion. Montiert sind hier die Verheißung, der Text konstituiere durch das Präsens eine Welt, die ohne Zweifel besteht, und zugleich die Ahndung, dass der Sprache nicht zu trauen sei. Das Wort macht ‚Vieles leicht‘ – entzieht es der Schwerkraft, belässt es in der Schwebe. Es richtet sich auf die Zukunft hin, entwirft Utopien, ohne die Gewissheit zu geben, dass diese sich realisieren werden. Es formuliert die Möglichkeit, dass sich etwas realisiert; und aber die ebenbürtige Möglichkeit, dass dies nicht geschehen wird, gleich mit. ‚Vielleicht‘ stellt eine Unentschiedenheit, ein Zögern, ein Innehalten aus; ein Wagnis, aber auch eine Verheißung, Viel-versprechend und zugleich losgelöst von der Verpflichtung zu dessen Einlösung. Hier verdichten sich Qualitäten der lyrischen Sprache, die Blanga-Gubbay für Gesten der Verführung ausgemacht hatte: Sie entwerfen sich auf ein noch Ausstehendes hin, von dem konstitutiv offen bleiben muss, ob es erreicht wird oder nicht. „Vielleicht“ ermöglicht, dass etwas in Erscheinung kommt, ohne dass es sich realisiert, sondern als Möglichkeit offen bleibt. Eine Eröffnung von Potentialität bei gleichzeitiger Resistenz, Setzung bei gleichzeitiger Ent-Setzung – ein „opening toward the world and a resistance from the world“29: So formuliert Blanga-Gubbay
28 Rilke, Rainer Maria (2006): Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe. In: Ders.: Die Gedichte. Frankfurt/M und Leipzig: Insel, 263. Nicht nur Rilke, auch etwa Jürgen Becker nutzt die Formulierung „vielleicht (,) daß”, mit oder ohne Komma. Vgl. „Vielleicht daß / Malerei die Landschaft mit Löwenzahn / noch einmal versorgt“. (Becker, Jürgen (1986): Mittags im Schatten dämmern die Kiefern. In: Ders. Odenthals Küste. Frankfurt/M: Suhrkamp, 54) oder „Vielleicht, daß sich die Hoffnung einmischt, / wie früher in einer Gegend, wo man nicht / weggehen, nicht hineingehen konnte, gleich / welche Jahreszeit war“ (Becker, Jürgen (2012): Gleich, welche Jahreszeit. In: Scheunen im Gelände. München: Stiftung Lyrik-Kabinett, 31). 29 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 1.
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die Grundlage seiner Theorie der Geste. „Every gesture is [...] a little mutiny from being always in action or producer of meaning“30. Eine Bewegung, eine sinnliche Bewegung, die ihre Produktivität daraus bezieht, dass sie nicht aufgeht in einer eindeutigen Bedeutung, sondern diese in der Schwebe hält. Die diegetische Welt kann so oder anders sein. In dem Gestus „vielleicht“ werden grundsätzliche Qualitäten der lyrischen Sprache spürbar: Die Bewegung ins Offene, die sich beispielsweise in einem uneindeutigen Status zwischen Fiktionalität und Faktualität artikuliert oder in der Frage nach den Textinstanzen, vor allem nach dem, der da spricht – eine Frage, die oft nicht zu beantworten ist; sowie in der Frage nach der Zuverlässigkeit der in Gedichten verwendeten Worte hinsichtlich ihrer Bedeutung: Tragen sie die gewöhnliche, vertraute Bedeutung oder kehren sie ihren Eigensinn hervor? Derart verführerische sind nur wenige Worte. Dazu zählen etwa ‚beinahe‘, ‚noch nicht‘ oder konjunktivische Formen. Sie formulieren eine Möglichkeit und zugleich die Kontingenz ihrer Realisierung. Verführungsgesten brauchen die Distanz zu dem, worauf sie sich hin entwerfen, sie brauchen die Offenheit des Zukünftigen, sonst wäre ihnen keine verlockende Wirkung eigen. Sie setzen die Spannung voraus zu dem, was sie andeuten, ohne es auszudeuten; zu dem, was sie versprechen, ohne die Sicherheit zu geben, dass es auch eingelöst wird; zu dem, was erreichbar ist, aber noch nicht tatsächlich erreicht. „[S]eduction gestures reveal themselves as gestures just because they evoke a fullness that can still be accomplished. [...] The object I chase and abstain from – the sexual act [...] – is still waiting for me: It is over there as an object that I can achieve.“31
Das Hölderlin’sche ‚vielleicht‘ gibt eine Ahnung, dass sich in der Lyrik solche Gestik beinahe zu einer subtilen und filigranen Artistik ausgebildet hat. Mehr noch als das deutsche Wort macht das französische „peut-être“ explizit, dass etwas ‚sein kann‘, eine Ontologie haben kann, ohne dass dies der Fall sein muss und gesichert ist, dass dies der Fall sein wird. In dieser zweifachen Bewegung von Öffnung und Widerstand, so schreibt Blanga-Gubbay, öffnet jede Geste „a space of possibility“32, in dem das Erreichen des Avisierten die Geste ebenso zer-
30 Ebd., 7. 31 Blanga-Gubbay, Daniel (2010): Human Gestures between Power and Action. In: Gebauer, Gunther (Hg.): Paragrana 19. Berlin: Akademie Verlag, 213-220, hier 218 (Hervorhebung im Original). 32 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 7.
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stört (da sie nicht ‚angekommen‘ sein darf um Geste zu bleiben), wie die radikale Absenz, die keine Möglichkeit hat, in Latenz bzw. Präsenz umzuschlagen. Das Erreichen oder Aufgehen in dem, was in Verführungssituationen in Aussicht gestellt wird, wenn es auch selten genau benannt werden kann – und darin, also nicht nur in dem Unwissen, ob das, was versprochen wurde, auch eingehalten wird, sondern darin, dass nicht einmal eindeutig ist, was überhaupt versprochen wurde, liegt ein noch größerer Reiz –, dessen Erreichen würde eine Geste zu einer bloßen, vollzogenen Bewegung degradieren (und, analog, die Verführung zu ihrem Ende bringen), weil das Avisierte nicht mehr als Attraktor fungieren würde. Aber eben diesen gleichen Effekt hätte genauso seine vollständige und unzweifelhafte Unerreichbarkeit, denn auch hier wäre der verlockende Reiz der Möglichkeit einer Realisierung verloren. Aufgrund ihrer Offenheit hat die Geste, so schreibt Werner Hamacher in seiner Lektüre von Walter Benjamin und Kafka, „weder eine gesicherte symbolische noch eine schlicht mimetische Bedeutung“33, sondern zögert vor jeder Bedeutung, hält hin, schiebt auf.34 Und weiter: „[Die Geste] trägt etwas, ohne es je auszutragen. [...] Übrig bleibt von der Sprache, nachdem ihr der Sinn entzogen ist, der Gestus; und es ist der Gestus selbst, der sich dem Sinn entzieht. Der Rest der Sprache – somit aber die Sprache selbst, ihr auf Bedeutung Irreduzibles – ist Geste. [...] [Es] bleibt von der Sprache, von ihrem Gesetz, die Geste übrig, die als ihre Möglichkeit sie trägt und deren Ankunft sie gleichzeitig hintanhält.“35
Es geht um die Ermöglichung und Eröffnung von Sinnhaftigkeit, die Bewegung zu einer möglichen Bedeutung hin. Diese Dynamik ist es, an der Deleuze und Guattari interessiert sind, und die jenseits einer Semiotik steht, in der eine eindeutige Bedeutung begrifflich fassbar wäre. Noch jenseits der Dimensionen von Ausdruck und Bedeutung aber ist das Gestische dasjenige, was Ausdruck allererst ermöglicht, und als solches ebenso stets auch deren Nicht-Ereignen als Möglichkeit offen hält. Ermöglichendes Moment von Sinn und Bedeutung (die Ermöglichung, dass diese sich ereignen36) und als solches auch das, was diese offen hält, so oder anders zu sein (die Offenheit des Er-
33 Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt/M: Suhrkamp, 315. 34 Vgl. ebd. 35 Ebd., 316. 36 Vgl. Skrandies, Timo (2010): Arbeit und Ästhetik I – Künstlerische Strategien. Habilitationsschrift Trondheim/Düsseldorf. Unveröffentlichtes Manuskript, 162.
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eignens, die Existenz der Möglichkeit). Das, was sie ermöglicht und, ihre Kontingenz markierend, folglich zugleich auch bedroht. ‚Vielleicht‘ ist eine Geste der Sprache und in der Sprache, „die ins Offene dessen geht, was potentiell entstehen kann“37. Aus diesem Grund kann Agamben schreiben: „Was in jedem Ausdruck ohne Ausdruck bleibt, ist Geste.“38 Er nennt unter Rückgriff auf Benjamin als ‚Seinsart‘ der Geste die Stillstellung, das Innehalten, die Zäsur: Ein Prozess zwischen Potenz und Akt, zwischen Ermöglichung und Verwirklichung. Poetischer kann es kaum ausgedrückt werden als in seinen Worten: „Die Geste ist eine Potenz, die nicht in den Akt übergeht, um sich in ihm zu erschöpfen, sondern als Potenz im Akt verbleibt und in ihm tanzt.“39 Sie tanzt, so bleibe für Hölderlin hinzuzufügen, verschiedene Formationen – mal offenere, wie im „vielleicht“ in der Mitte des Gedichts, das den diffusen Übergang zur Nacht beschreibt, mal konkretere, wie gegen Ende des Textes, wo die Glockenklänge, sprudelnden Brunnen, duftenden Blumen, der Wind, die vor Sternen glänzende Nacht von einer überaus dichten und konzisen Intensität des Tuns der Welt zeugen. Rekapitulieren wir die bisherige Argumentation, so hatte Blanga-Gubbay vor Augen geführt, dass die spezifischen Merkmale des Gestischen vor allem in Verführungsgesten pointiert sind, die – so meine These – auch poetische Sprache vollziehen kann. Dies hatte der Partikel „wie“ und insbesondere das Adverb „vielleicht“ veranschaulicht. Extrapolieren wir Blanga-Gubbays Konzept, so stellt sich heraus, dass aber jede Geste in gewisser Weise jene Qualitäten hat, die wir als ‚verführerisch‘ auffassen, insofern sie als Geste nie schon vollzogen ist, sondern ihren eigenen Vollzug aussetzt, in der Schwebe hält, sich ins Offene entwirft: „[I]n gesture, [the] body responds to the call of this external object, which is a kind of siren song of Odysseus which – to keep itself as gesture – the movement must try not to fall preserving a
37 So schreibt Timo Skrandies in Bezug auf den Tanz. Skrandies, Timo (2009): Das Intervall der Geste oder Wann beginnt Tanz? In: Ders./Görling, Reinhold/Trinkaus, Stephan (Hg.): Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz. Bielefeld: transcript, 117-145, hier 122. 38 Agamben, Giorgio (1992): Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen: edition diskord, 97-107, hier 105. 39 Alle hier aufgeführten Zitate stammen von: Agamben, Giorgio (1992): Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen: edition diskord, 97107, hier 105f.
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distance from it“40. Blanga-Gubbays Argumentation lässt also den Schluss zu, dass, erstens, eine jede Geste Verführungsqualitäten trägt, insofern ihr, entsprechend seiner Konzeptualisierung, die Spannung zu dem, worauf sie sich bezieht, eingeschrieben ist; und, zweitens, dass folglich poetische Sprache Qualitäten haben kann, die sie mit denen einer Geste teilt, insofern sie sich, eben wie die Geste, über den Entzug und die Spannung dessen konstituiert, worauf sie sich hin entwirft, ohne es zu erreichen. Was nun, fragt Blanga-Gubbay, ist es, das verhindert, dass die Distanz zu dem, worauf die Geste sich richtet, verloren geht; was also ist es, das eine Geste als Geste bewahrt, ohne in einem Objekt aufzugehen, von dem sie gleichwohl angezogen ist? Was also hält die Verführung am Leben? Es ist das Afformative. Ent-setzendes Moment einer jeden Setzung, das Ausdruckslose eines Ausdrucks: Afformativ eines jeden Performativs. Eröffnung der bloßen Möglichkeit des Sprechens, „als Ermöglichung und Verunmöglichung, als Handlung und zugleich Nichthandlung: als Afformativ der Sprache“41. Blanga-Gubbay geht davon aus, dass eine Geste – damit sie nicht zu einer bloßen Bewegung degradiert wird – einer konstitutiven Dynamik bedarf (die aber nicht minder auch eine Stillstellung, ein Verharren oder Aussetzen ist), die sie als „never satisfied desire“42 bewahrt. Das Afformativ ist ein Begriffsangebot von Hamacher, um eben dieses Moment zu beschreiben. Er entwickelt es in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Afformativ, Streik in Auseinandersetzung mit Benjamins Kritik der Gewalt.43 In bisweilen abstrakten Ausführungen oder Annäherungen, Umkreisungen – denn das Afformativ widersetzt sich per definitionem einer begrifflichen Festlegung – legt Hamacher dar, dass jede performative Setzung erst dank eines Afformativs möglich werde, das in jenem werkt. Wenn ein Performativ das es ent-setzende Afformativ zwar auch verdrängt oder versteckt, so ist es doch ohne es nicht möglich, es ist des-
40 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 5. 41 Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 323. 42 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 6. 43 Wenn denn von einem Begriff überhaupt zu Reden wäre. Vgl. Hetzel, Andreas: „Das Afformative läßt sich im Vergleich zur Metapher und zum Performativ noch weniger als ‚Kategorie‘ oder auch nur als ‚Begriff‘ beanspruchen. Verbirgt sich im ‚Begriff‘ etymologisch die Geste der sich schließenden, zugreifenden Hand, so kündigt das Afformative eher von einem Sich-Öffnen, von einem Ab- und Entlassen.“ Hetzel, Andreas (2001): Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 273 (Hervorhebung im Original).
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sen Ermöglichungsbedingung wie auch dessen Gefährdung. Das Afformative setzt sich nicht einfach an die Stelle des Performativen, sondern arbeitet in, an und mit diesem: „Das ironische Gesetz des Afformativen ist das Gesetz einer Bastardisierung mit dem Performativen.“44 Das Performative braucht ein ent-setzendes Moment – wie auch umgekehrt ein Afformativ ohne Performativ kein solches wäre, sondern erst durch es zur Erscheinung kommen kann – um überhaupt eine Setzung vollziehen zu können, und ist darin doch stets durch es bedroht. Beide beanspruchen einander: Alle performative Setzung verdankt sich dem afformativen Lassen (es lässt, ohne zu machen) welches wiederum in jeder Setzung bearbeitet oder angegriffen wird, unterdrückt und verdeckt bleibt und nur im Untergrund arbeitet.45 „Das Afformative ist die Ellipse, die stillschweigend jede Handlung begleitet und jeder Sprachhandlung stumm ins Wort fallen kann.“46 Es ist ein Geschehen, das in einiger Gelassenheit vor sich geht. Es lässt geschehen, ohne dass es geschehen macht.47 Hamachers Einlassungen zum Afformativ weisen auf die „logische Mitte“48 von Setzungen hin – bei Benjamin etwa der blinde Fleck des Rechts, dass dieses nämlich auf einer jenseits des Rechts, auf einer außerrechtlichen, grundlosen und daher gewalttätigen Setzung (Instituierung) beruht. Übertragen auf die Sprache, stellt es sich als eine ihr inhärente Dynamik dar, die nicht bloß zweckhaftes, Infor-
44 Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 371. 45 Die Analogie des lassenden Tuns des Afformativen in der Sprache sieht Hamacher in der Figur des Streiks. Als „Nicht-Handeln“, als „Unterlassung einer Handlung“, als „Ausstand“, ohne dass ein anderes, positiv bestimmbares Ziel wie eine modifizierte Form der Arbeit avisiert wäre, könne der proletarische Streik nicht mehr „in der Logik von Setzungen und ihrem Zerfall, nicht mehr in der Dialektik des Performativen oder der Produktion, sondern nur noch als deren Abbruch: als Imperformativ, als Athesis, als Afformativ gedacht werden.“ (Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 351f.) Der Streik ist das „Ausdruckslose”, ist „Unterbrechung”, „Einspruch” (355) und darin keine setzende oder umsetzende, keine gestaltende oder umgestaltende Gewalt (vgl. ebd.), ist selber ohne Darstellung (vgl. 360). 46 Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 360. 47 Vgl. ebd., 359. 48 Hetzel, Andreas (2001): Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 274.
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mation übertragendes Medium mit Verweisungsfunktion ist49, sondern sich selbst ‚mitgibt‘, ‚mitteilt‘.50 Wenn wir betont haben, dass poetische Sprache verspricht, aber auch sich verspricht, so stellt sich hierin ihr Afformatives heraus. Es ist nicht das Gegenteil einer Setzung, sondern steht jenseits von ihr. Das afformative Moment ist jeder Setzung eingeschrieben, stets wirksam, wenn es auch nur manchmal sichtbar wird und ansonsten im Untergrund geschieht. Der Vers „Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß / Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann“ ist eine Setzung, gegen die sich das ihr eigene Wort „vielleicht“ richtet, eine Setzung also, der ihre Ent-setzung eingewoben ist. Sie kommt nicht von außerhalb, als externe Bedrohung, sondern aus der Mitte der Setzung selbst. Der zitierte Vers ist weniger Aussage als Eröffnung der Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Aussage (nur eines von beiden wird der Fall sein, entweder spielt ein Liebendes oder ein einsamer Mann, oder aber gar nichts von beiden, sondern etwas ganz anderes – wir werden es nicht erfahren). „Was bleibt, ist nicht ein Satz, der das Gesetz der Sprache verkündet, sondern die Ellipse – die Geste –, die es eröffnet und offen läßt“51, so resümiert Hamacher. Deswegen kann er schlussfolgern: „Afformative haben unabsehbare Wirkungen, weil sie die kritische Fixierung ihrer Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit verwehren.“52 Die Untersuchungsgegenstände dieses Kapitels halfen, eine prinzipielle und konstitutive Dynamik von Verführungskonstellationen zu entlarven: Ihr afformatives Moment, mit dem Verführung ontologische Verdichtungen gestisch in der Schwebe zwischen Potenz und Akt hält. Es zeigt sich etwa in der Verführungsgeste des mittleren Paars in Antoine Watteaus Gemälde Die Einschiffung nach Kythera. Die Zurückhaltung der Dame, mit
49 Zumindest wenn Hamacher sich der Formulierung einer solchen Wesensbestimmung nicht auch noch verwehren würde, um sie stattdessen ins radikal Offene zu schreiben, insofern das Afformativ „nicht in der Weise des Seins ist. Es wäre vielmehr die Möglichkeit, die sich in keinem Performativ, viel weniger in einem Konstativ, verwirklicht und nicht zur Verwirklichung drängt.“ Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 361. Hervorhebungen im Original. 50 Vgl. Hetzel, Andreas (2001): Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 279. 51 Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt/M: Suhrkamp, 323. 52 Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 358.
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der sie auf die entschlossene Hinwendung ihres Kavaliers reagiert, der sie dazu bringen will, ihn auf das Schiff zu begleiten, drückt sich in ihrer Körperhaltung aus: Schon halb nach vorne, in die Richtung des Bootes gedreht, hält sie inne, wendet sich zurück und zögert. „[A]n opening toward the world and a resistance from the world“53, in Blanga-Gubbays Worten. Das Hamacher’sche Afformativ ist ein Theorieangebot, um dieses spezifische Moment des Gestischen in seiner Konzeptualisierung durch Blanga-Gubbay zu präzisieren. Es artikuliert sich in der Geste des Zögerns bei Watteau – ein Beispiel für die eigensinnige Materialität des Körpers, die das setzende und ent-setzende Moment ausmacht, welches eine Geste in einer Geste hält und verhindert, dass sie in dem Objekt, auf das sie sich bezieht, aufgeht, und so zu einer bloßen Bewegung würde.54 In diesem Moment der Unentschiedenheit wird das Afformativ (hier durch das Medium des Körpers) spürbar. Das wird es außerdem – allein, dass beide Manifestationen in unterschiedlichem Material, nämlich Sprache und Bild, verfasst sind – in dem Adverb „vielleicht“, einer Geste der poetischen Sprache. Vielleicht, dass die Dame im braunen Kleid dem Werben ihres Begleiters nachgibt und sich verleiten lässt, auf das Boot zu steigen, um nach Kythera überzusetzen; vielleicht, dass sie sich dagegen entscheidet. Sprach- und Körpergeste zeigen sich „als Ermöglichung und Verunmöglichung, als Handlung und zugleich Nichthandlung: als Afformativ“55. Watteaus gemalte Verführungsgeste macht das Hamacher’sche Afformativ im Bild spürbar so wie Hölderlins poetische Sprache im Text. Beide Gesten gehen ‚ins Offene‘, entwerfen das Zukünftige ins Offene und lassen es unsicher, prekär und verlockend. „Daß sie [die Afformative, J.V.] etwas geschehen lassen, ohne daß sie es geschehen machen, heißt immer zweierlei: nämlich daß sie es in den Bereich der Setzungen eintreten lassen, un-
53 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskript, 1. 54 Vgl. Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Ebd., 7: „Hence, the matter of the body allows us to give a final definition of gesture as the bodily movement that, once attracted by an object, gets caught in the materiality of the same body, keeping itself in an interstitial space between the body and the world. Every gesture – in the double movement of an opening beyond the body and a resistance of the body from being in the world – is the expression of this space of possibility“. (Hervorhebung im Original) 55 Hamacher, Werner (1998): Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt/M: Suhrkamp, 323.
208 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK ter dessen Diktat sie selber nicht stehen, und daß nicht sie selbst es sind, die sich in diesem Bereich zeigen“56.
Mir scheint, dies ist eine Beschreibung par excellence für das gelassene Tun des Hölderlin’schen „vielleicht“, welches ein Afformativ im Medium der Sprache darstellt. Es lässt Setzungen in den Raum der Möglichkeit kommen, während es sich selber, gleichsam ungesehen, wieder ins Dunkel zurückziehen kann, denn es steht jenseits von dem Diktat der Setzungen, es ist nur deren Möglichkeitsbedingung. Es gibt ihnen Raum, mit bemerkenswerter Gelassenheit, ohne eine Wertung vorzunehmen und ohne selbst Teil einer Setzung zu sein. Weil ein „vielleicht“ semiotisch nicht aufgeht, ist es keiner Darstellung zugänglich, aber auch dasjenige Moment, ohne das Ausdruck gar nicht möglich wäre. Es hat kein sicheres Sein, sondern eröffnet (setzt) Möglichkeiten des Seins und bedroht (entsetzt) sie zugleich: „[S]o muss man vom Afformativen sagen, daß es nicht in der Weise des Seins ist. Es wäre vielmehr die Möglichkeit, die sich in keinem Performativ, viel weniger in einem Konstativ, verwirklicht und nicht zur Verwirklichung drängt: es wäre nicht essentia, und nicht Wesen“57. In Hölderlins Nacht ist es ein Lassen, eine Gelassenheit, die noch den Wahrheitsgehalt der innerdiegetischen Fiktion ins Offene schreibt ohne dies aktiv zu tun. Ein Afformativ ist dasjenige Moment, das die Verführung am Leben hält. Jene Unwägbarkeit, ob das Versprechen, das sie gibt, eingelöst wird oder nicht, ist für sie konstitutiv, es ist das, was sie als solche ermöglicht und, solange die Verführung andauert, möglich hält, und zugleich das, was sie bedroht: Das, was droht, die Setzung zu vollziehen und dadurch zu destabilisieren, mithin zu ent-setzen. Ermöglichung der Setzung und Möglichkeit des Ent- und Aussetzens, darin hat das Gestische afformative Qualitäten. Dieses Afformativ ist der Verführung unabänderlich eingeschrieben und muss es sein.
A TTRAKTOREN „[I]n gesture, [the] body responds to the call of this external object, which is a kind of siren song of Odysseus“58, hatte Blanga-Gubbay geschrieben über die Anrufung
56 Vgl. Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik. In: Hart Nibbrig, Christiaan (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? Frankfurt/M: Suhrkamp, 340-371, hier 359f. 57 Ebd., 361. 58 Blanga-Gubbay, Daniel (2014): Life on the threshold of the body. Human gesture between opening and resistance. Unveröffentlichtes Manuskrit, 5. (Hervorhebung im Original).
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durch die Dinge, „a calling of the world“59, worauf das Subjekt mit seiner Geste reagiert. Es wird angezogen von den Dingen der Welt, die es begehrt und auf die es sich hin entwirft, ohne sie je zu erreichen. So bleibt die Verführung am Leben. Ein Beispiel dafür gab Rilkes Gedicht Die Insel der Sirenen, in dem das lyrische Ich mit seiner Mannschaft durch die Meere segelt und der Insel, auf denen die Sirenen leben, immer näher kommt, ohne es zu wissen. Sie sind von ihr angezogen, in den Bann der singenden Stimmen geraten ohne es zu spüren, ohne ihnen tatsächlich nahe zu kommen bzw. ihre Anwesenheit zu bemerken. Noch am Abend, zurück im sicheren Hafen, kreisen Odysseus’ Sinne und Gedanken um die Begegnung, von der er und wir Leser verstanden haben (oder eher: glauben, verstanden zu haben), dass sie physisch nicht stattgefunden hat, sie aber dennoch geschehen ist. Gerade weil er nicht mit ihnen zusammengetroffen ist, sie nicht verorten kann und nicht einmal die Ursache ihres Zaubers ausmachen kann – denn sie haben nicht gesungen, sondern geschwiegen – ist der Matrose ihnen verfallen. So wie die (unsichtbare?) Insel und der (fehlende?) Gesang die Schiffsmannschaft anzieht, so lassen sich auch in anderen Verführungsnetzwerken Wege und Bahnen von Anziehung und Entzug durch verschiedene Akteure nachzeichnen. Das reversible Verhältnis zwischen Gellerts Damötas und Phyllis etwa ist das Ergebnis des Zusammenspiels mehrerer Mechanismen, wie der anfängliche Entzug von Seiten der Phyllis, das daraufhin von Damötas ausgesprochene Verbot, sodann sein roter Mund, zuletzt wieder das Kokettieren der Phyllis. Doch kommt in diesem Wechselspiel dem Verbot eine herausgehobene Stellung zu. Es fungiert als Drehund Angelpunkt, das eine entscheidende neue Dynamik in das bis dato starre Verhältnis beider bringt. Die Reversibilität ist eine besonders starke Form von Relationalität, die bei Gellert durch das Verbot, einem Attraktor, der Phyllis reizt, in Gang gesetzt wird. Häufig, wenn auch nicht immer, ist ein solches Ereignis oder ein Gegenstand am Werk, von dem eine verlockende Wirkung ausgeht. Allein, es auszumachen ist nicht unbedingt möglich. In Eichendorffs Gedichten etwa ist es meist das Zusammenspiel von mehreren, mitunter diffusen Komponenten, die gemeinsam eine betörende Stimmung kreieren, und selten ein einzelnes Ereignis oder Objekt, von dem eine entsprechende Wirkung ausgeht. Mit einem Attraktor wie ihn die Insel der Sirenen darstellt, oder das Kussverbot bei Damötas und Phyllis, Berenices Locken bei Wilhelm Müller, die Sicherheit verheißende, aber Verderben bringende Lampe in Mörikes Zauberleuchtturm o.ä., operiert etwa auch die Produktwerbung in einer Marktwirtschaft, in der ein einseitiges, starres Verhältnis etabliert wird: Bei einer erfolgreichen Werbung entfacht ein Objekt in einem Subjekt, dem Konsumenten, den Wunsch, es zu besitzen oder zu konsumieren; es verschiebt also dessen Haltung
59 Ebd., 3.
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und folglich dessen Position, ohne dass von einem dynamischen Wechselverhältnis zu reden wäre. Solche Anziehungspunkte, die die Ratio der Betroffenen angreifen und ihren Willen schwächen, umlenken oder außer Kraft setzen, können, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, mehr als motivische Qualitäten haben, nämlich Objektstatus erlangen. Die Literaturtheorie hat vor allem solche sprachlich verfassten Attraktoren, die der Konsolidierung von Bedeutung entgegenstehen, in den Blick genommen und als Manifestationen sprachlichen Eigensinns meist unter dem Begriff der ‚Abweichung‘ letztlich wieder familiarisiert. Methodisch problematisch ist hierbei, dass von Abweichungen zu reden nur möglich ist, wenn von einer wie auch immer gearteten Norm ausgegangen wird. In Bezug auf lyrische Sprache ist diese kaum zu benennen, da es keine klare Definition des literarischen Standarddeutschen gibt, wenn auch zugleich allgemeiner Konsens darüber zu bestehen scheint, dass lyrische Sprache die Tendenz hat, häufiger als prosaische durch Abweichungen auffällig zu werden. Rüdiger Zymner nun schlägt unter Rückgriff auf die Kognitionswissenschaften vor, solche Auffälligkeiten als „Attraktoren“60 zu bezeichnen um nicht in die Verlegenheit zu kommen, eine Norm definieren zu müssen. Bildlich gesprochen, stechen diese aus einem kontinuierlichen Hintergrund hervor: „Ein Text oder Sprachgebilde stimuliert nun die Aufmerksamkeit durch bestimmte Auffälligkeiten, die sich – wie bei einem Bild die ‚Gestalten‘ vom ‚Hintergrund‘ – von der Umgebung abheben.“61 Als Attraktoren können einzelne Worte oder Satzzeichen wirken, wenn sie sich beispielsweise durch eine auffällige graphische Form auszeichnen. Ein offenkundiges Beispiel für ein solches aus dem Schriftbild des Textes hervorstechendes Element findet sich in Günter Eichs Gedicht Schlaflos: 1
Ohn Glockenschlag und Hahnenschrei die Nacht verrinnt kein Zug fährt auf dem Damm vorbei die schöne Einsamkeit beginnt.
5
Ich liege hart u. spür es kaum mich wieget dies und das, manchmal nach einem zarten Traum wird mir das Auge naß. Die Kameraden schnarchen laut,
60 Zymner, Rüdiger (2009): Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: mentis, 111 und passim. 61 Ebd., 112.
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der Wind rührt an das Zelt und fröstelnd spür ich bis zur Haut 62
die Schönheit dieser Welt.
In den drei Sätzen, aus denen das Gedicht besteht, wird ein Geschehen entfaltet durch die Schilderung von Elementen, die durch die Konjunktion „und“ (1, 6, 11) verbunden sind: Die Nacht vergeht, weder von Glockengeläut, Hahnenkrähen noch Zugdurchfahrten unterbrochen, das lyrische Ich schläft in einem Zelt und hat Träume, zwischen denen es aufwacht und ihm Tränen in die Augen steigen, vielleicht aufgeweckt durch das Schnarchen der Kameraden, das Wehen des Windes oder die Kälte auf der Haut. Diese Ereignisse, die von so unspektakulärer Natur sind, dass sie dieses Begriffs eigentlich nicht verdienten, sind von solcher Intensität, dass sie das lyrische Ich „die Schönheit dieser Welt“ (12) spüren lassen. Es handelt sich um ein Paradoxon, in dem das Gedicht kulminiert: Schnarchen, Kälte, ein unerbittlicher Wind bringen für das lyrische Ich dennoch die Schönheit der Welt hervor. Diese ist in sprachlich vertrauten Strukturen gefasst, aus denen nur ein unscheinbares Element hervorsticht: Ich liege hart u. spür es kaum
Es gibt keine offensichtliche Notwendigkeit, das Wort „und“ nicht auszuschreiben – zumal Eich dies in dem Text ansonsten durchgängig tut –, sondern zu einer Abkürzung zu greifen: „u.“ Für einen literarischen Text, und einem lyrischen zumal, auch wenn manches Vokabular einem kolloquialen Register entstammt, ist dies mindestens ungewöhnlich, schließlich ist in einem Gedicht aufgrund seiner Kürze jedes Wort von großem Gewicht. Sie spart nur ein einziges Zeichen – dass ökonomische Gründe eine Rolle spielen, ist daher unwahrscheinlich. Das zu einem Satzzeichen degradierte Wort ‚und‘ macht den Widerspruch zwischen den beiden Satzteilen, in die es eingebunden ist, geringer: Das Lager, ob Bett, ob Pritsche, fühlt sich hart an für den Körper des lyrischen Ichs – und dennoch spürt er es kaum. Das lyrische Ich scheint unentschieden, ob es die Paradoxie dieser Aussage hervorheben möchte, wie es etwa durch ein einschränkendes ‚aber‘ oder ‚jedoch‘ möglich wäre, oder ob es gerade keinen Gegensatz zwischen der Härte des Schlaflagers und seinem Empfinden verspürt, wie es das ausgeschriebene Wort ‚und‘ als verbindende Konjunktion ausdrücken würde. Das „u.“ ist seines graphischen Erscheinungsbildes wegen ein Attraktor, aber auch, weil es zu einem semantischen Scharnier wird, das die Entstehung von Eindeutigkeit verhindert.
62 Eich, Günter (2006): Sämtliche Gedichte. Frankfurt/M: Suhrkamp, 473.
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‚Attrahierend‘ können nach Zymner alle Arten der „Entautomatisierung oder Verfremdung“63 wirken, die die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln, d.h. semantische Störungen ebenso wie stilistische oder solche, die die Information betreffen, ebenso wie die Graphik, Faktur, Phonetik usw. Als spezifisch lyrische Attraktoren macht Zymner v.a. Reime, Rhythmen, Stilmittel wie rhetorische Figuren, Strophen- und Gedichtformen aus. Diese zeigten, so Zymner, „durch ihre Dichte und/oder Spezifik die Medialität der Sprache, ihre Eigensinnigkeit, an konkreten Einzelfällen an“64. Er argumentiert von der Rezeptionsseite her, indem er als Attraktoren solche die Aufmerksamkeit des Lesers fesselnde Auffälligkeiten bezeichnet und also konsequent die Wahrnehmungsdimension literaturtheoretisch einbindet.65 Dieser Ansatz ist durchaus ein sinnvoller, um die geradezu zwingende wiederholte Auseinandersetzung mit einem Gedicht zu erklären, der wir uns mitunter ausgesetzt fühlen, gleichsam ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Gleichwohl schlage ich vor, stärker von Seiten der Lyrik, d.h. von ihren inneren Strukturen ausgehend zu argumentieren bevor in einem zweiten Schritt ihre Wirkung thematisiert wird. Denn das, was die Wahrnehmung affizieren kann, muss erst einmal in der Struktur der Sprache angelegt sein. Mir ist darum zu tun, diese Anlage als Potential lyrischer Sprache aufzuzeigen, das freilich nicht konsequent abgerufen und genutzt wird und selbstredend ohnehin nicht stets auf die gleiche Weise. Insofern es sich um ein Potential handelt, besitzt dieses auch jeder literarische Text anderer Gattungen, so mag man nun einwenden, doch ist festzuhalten, dass Lyrik tendenziell über eine höhere Dichte, Intensität, Spezifik und Beharrlichkeit von Attraktoren verfügt als andere literarische Gattungen – man denke nur an den für sehr viele Gedichte auffälligen Satzspiegel (vgl. dazu die Überlegungen zur Poetischen Differenz). Der Grund liegt in der Materialität der Sprache, die in der Lyrik eine eigene, und zwar dem Inhalt ebenbürtige Kraft erhält. Mit dem Begriff der ‚Beharrlichkeit‘ soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass in der Prosa Attraktoren meist problemlos semantisch eingehegt werden, wie etwa bei dem Prinzip des Leerstellen-Füllens, während dies in der Lyrik häufig nicht möglich ist, sondern sie mitunter hinzunehmen sind und ihr Eigensinn zu respektieren, wenn nicht genussvoll wertzuschätzen ist. Attraktoren können aber auch anders als durch ihr Schriftmaterial oder ihren Motivstatus auffällig werden. Mitunter verleiht ihnen die lyrische Sprache eine geradezu objekthafte Materialität wie sich in den folgenden Gedichten zeigt.
63 Zymner, Rüdiger (2009): Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn: mentis, 112. 64 Ebd., 120. 65 Vgl. ebd., 113.
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„they were delicious / so sweet / and so cold“: Pflaumen
Pflaumen Verzeih. W. C. Williams 1
Spät wieder zu Hause, finde ich dich schlafend, eine anziehende Wölbung unter dem Laken. Es ist klar und deswegen sehr kalt heute nacht.
5
Mit meinen blutleeren Händen und Eisfüßen dürfte ich es nicht wagen, mich zu dir zu legen (eine ungebetene Pause im Traum, die nach Fusel riecht). Das Licht aus dem Kühlschrank wirkt
10
warm in diesem Klima, und ich mache mich über die Nachricht her, die du wortlos für mich hinterlassen hast. Ein Teller mit Pflaumen, und jede einzelne schmeckt nach einem reifen Ersatz, sehr saftig,
15
süß, wie die Entschuldigung für etwas, 66
das man sich überraschend eingesteht.
Hendrik Rosts Gedicht Pflaumen, erschienen 2001 in seinem Band Aerobic und Gegenliebe als erster Text des Teils Fakten-Märchen, beginnt mit einer Bitte: „Verzeih.“ Darunter der Name „W. C. Williams“. Rosts Text steht also in einem Verhältnis zu Williams 1934 geschriebenem Text This is just to say, jedoch wird dieses zunächst nicht näher bestimmt. Handelt es sich um eine intertextuelle Anspielung? Eine Bearbeitung? Eine Erweiterung? Eine Hymne? Noch bevor der eigentliche Textkörper steht, ist jedenfalls mit dem paratextuellen Hinweis auf Williams ein Referenztext evoziert.
This is just to say 1
I have eaten the plums that were in
66 Rost, Hendrik (2001): Aerobic und Gegenliebe. Gedichte. Düsseldorf: Gruppello, 13.
214 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK the icebox 5 and which you were probably saving for breakfast 10 Forgive me they were delicious so sweet and so cold
67
Der Titel verkündet die Beiläufigkeit dessen, was folgt. Das Gedicht wirkt wie eine bloße Notiz auf dem Küchentisch als Hinterlassenschaft für das angesprochene ‚Du‘. Ein lyrisches Ich entschuldigt sich, dass es Pflaumen gegessen hat, die im Kühlschrank lagen, wohl kaum für ihn bestimmt, sondern für das Frühstück aufbewahrt. Es bittet um Verzeihung dafür, dass es nicht anders konnte, als sie zu essen: Zu köstlich waren sie, zu süß und zu kalt. Der Text ist im Präteritum gehalten, anders als der von Rost, der das Präsens favorisiert. Im Nachhinein schildert der Sprecher, was geschehen ist: Die Pflaumen hatten ihn verleitet, sie zu essen, obwohl er wusste, dass sie nicht für ihn gedacht sind, sondern für einen bestimmten Anlass aufgehoben waren. Am nächsten Morgen werden sie fehlen, dessen ist er sich bewusst. Doch hatte er es nicht vermocht, sich ihrem Aussehen, ihrem Geschmack, ihrem Duft, ihrer erfrischenden Kühle, vielleicht auch ihrer Unantastbarkeit und dem Reiz des Verbots zu entziehen. Sein schlechtes Gewissen ist das Resultat aus dem genussvollen Schmecken der Pflaumen, die beinahe eine Proustsche Madeleine-Erfahrung in ihm auslösen. Die Notiz stellt die nachträgliche Entschuldigung für seine Schwäche dar, der er nichts entgegenzusetzen vermochte – die verbotene Frucht hatte ihn zum Übertritt des Verbots verleitet. Williams’ Text stellt einen nachträglichen Bericht dar, in dem das lyrische Ich beichtet, was längst geschehen und nicht mehr zu ändern ist: „I have eaten / the plums“ (1-2; Hervorhebung J.V.). Die Süße und Kühle der Pflaumen verwandelt sich in ein schlechtes Gewissen. Dem Geschehen ging die Verführung des lyrischen Ichs vorweg, die bereits passiert ist, als das Gedicht einsetzt. Wie es zu der Situation, in der es sich nun befindet, kam, dazu bietet Rost eine mögliche Version an indem er die Vorgeschichte dessen liefert, was dazu geführt hat, dass das lyrische Ich sagen muss: „I have eaten
67 Williams, William Carlos (1987): The Collected Poems of William Carlos Williams. Edited by Litz, Walton and MacGowan, Christopher. Manchester: Carcanet, 372.
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/ the plums“. Wir können also bei Rost den Prozess der Verführung beobachten, von dem wir dank Williams wissen, dass er von statten gegangen ist. Während in Williams Text die Pflaumen keine Nachricht (höchstens eine warnende, nämlich, dass sie nicht zu essen sind) darstellen, sondern der Wortlaut des Gedichts die eigentliche Botschaft für den Besitzer der Früchte bildet, sind bei Rost die Pflaumen, auf einem Teller angerichtet und ohne Zweifel für das lyrische Ich bestimmt, explizit als eine wortlose Mitteilung gedacht (11-12). Rosts Gedicht ist die Beschreibung dessen, was das lyrische Ich vorfindet, als es zu später Stunde von einer Feier oder aus der Kneipe nach Hause in die gemeinsame Wohnung zurückkehrt, in der jemand – nehmen wir an, es sei seine Partnerin – bereits schlafend im Bett liegt: „[E]ine anziehende Wölbung / unter dem Laken“ (2-3). Er traut sich nicht, sich zu ihr zu legen, weil er ahnt, dass er sie im Schlaf stören wird. Stattdessen geht er in die Küche, wo er im Kühlschrank einen Teller mit Pflaumen findet, reifen, süßen, saftigen Pflaumen. Das Gedicht kommt ohne Reime und ohne festes Metrum aus und wirkt wie eine nüchterne Situationsanalyse – der Vers „Es ist klar und / deswegen sehr kalt heute nacht“ (3-4) ist an sachlich-rationaler Kausalität kaum zu überbieten – und könnte als solcher auch auf die Versform verzichten und in Prosa verfasst sein. Die Atmosphäre der Wohnung, in die das lyrische Ich zurückkehrt, ist ambivalent. Einerseits mit subtiler Sinnlichkeit aufgeladen – davon zeugt „eine anziehende Wölbung / unter dem Laken“, die nicht mehr als eine Kontur, eine Andeutung, ein Versprechen ist, das jedoch nicht eingelöst werden kann, zu kalt sind die Füße, zu alkoholisiert ist der Atem. Andererseits herrscht eine so kalte Stimmung, dass die Temperatur des Kühlschranks „warm“ (10) wirkt. In Rosts Text herrschen zweierlei Formen der Überlagerung: Zum einen die von Urtext und überarbeiteter Version, die in dem übereinstimmenden Thema und Motiv bemerkbar und in einzelnen Formulierungen überdeutlich wird, etwa, wenn Williams’ lyrisches Ich das angesprochene „you“ um Verzeihung bittet („Forgive me“; 11), weil es unrechtmäßig die aufgesparten Pflaumen gegessen hat, und Rost diese Bitte in seinem Paratext „Verzeih.“ an Williams zurückleitet; und zum anderen die Überlagerung von den Pflaumen und derjenigen Person, die sich unter dem Laken befindet. Bei Williams waren die Pflaumen die Attraktoren, denen sich das lyrische Ich nicht entziehen konnte. Bei Rost ist es die Wölbung unter dem Laken, die jedoch entzogen bleibt und als deren Ersatz die Pflaumen fungieren sollen. Sie lösen ein sinnliches Ereignis aus; und suggerieren, sie könnten die Nähe des unter dem Laken sich abzeichnenden Körpers ersetzen. Nicht nur versetzen sie den Sprecher in eine andere Temporalität – vom tiefen Winter, auf den durch die eiskalte Nacht zu schließen ist, in den Herbst, der Reifezeit der Pflaumen –, sondern auch in einen anderen Modus, einen sinnlichen, in dem er imaginiert, neben der Frau unter dem Laken zu liegen. Die Pflaumen geben
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das Versprechen, sie könnten ein angemessener Ersatz sein für die Nähe der „anziehende[n] Wölbung unter dem Laken“ (2-3), die dem lyrischen Ich verwehrt bleibt. Die Sprache jedoch deutet schon an, dass dieses Versprechen nicht gehalten wird, schließlich heißt es nicht, dass die Pflaumen ein reifer Ersatz sind, sondern bloß wie ein solcher schmecken: Ein Teller mit Pflaumen, und jede einzelne schmeckt nach einem reifen Ersatz, sehr saftig, süß, wie die Entschuldigung für etwas (Hervorhebung J.V.)
Die Vergleichsworte stellen eine Einschränkung dar. Etwas ist nicht etwas anderes, sondern etwas scheint wie etwas anderes zu sein, scheint als Substitut taugen zu können. Weil sie aber suggerierten, das, was entzogen bleibt, einlösen zu können, war das lyrische Ich nicht imstande, sich ihnen zu entziehen. Die eigentliche Verlockung aber geht nicht von den verfügbaren Pflaumen aus, sondern von dem unerreichbaren Körper unter der Decke. Wegen ihrer Unverfügbarkeit ist die Atmosphäre kühl, und dies nicht nur aufgrund der von Draußen mit hereingebrachten Kälte. Es ist spät (1), klar (3), kalt (4), die Hände sind blutleer (5), die Füße Eis (6). Vielleicht ist in diesem Raum zuvor etwas geschehen, das eine solche Stimmung ausgelöst hat und eine Entschuldigung nötig macht, die aber nicht in Worten ausgedrückt, sondern nur mittels Früchten auf einem Teller formuliert werden kann. Wenn es heißt, die Pflaumen schmeckten „wie die Entschuldigung für etwas, / das man sich überraschend eingesteht“, so bleibt offen, ob es das lyrische Ich ist, dem das Eingeständnis – der Scham oder Schuld? – widerfährt oder dem ‚Du‘, das die Pflaumen bereitgestellt hat. Auffällig ist das unbestimmte Pronomen „man“, das offen lässt, ob es das Ich oder das Du des Textes meint – oder beide. Insofern erhielte die vorangestellte Bitte „Verzeih“ eine zweifache Bedeutung: Eine paratextuelle, in welcher der Autor Hendrik Rost seinen Dichterkollegen W. C Williams, auf den er sich bezieht, um Verzeihung bittet, wohl für die Bearbeitung dessen Originaltextes; und eine innerdiegetische, in der das lyrische Ich die zweite Figur, die nicht mehr denn als Wölbung unter dem Laken charakterisiert wird und die gleich im ersten Vers angesprochen wird („finde ich dich schlafend“, 1-2; Hervorhebung J.V.), um Verzeihung bittet. Drei Figuren spielen auf der innerdiegetischen Ebene des Textes eine Rolle: Der Sprecher, das angesprochene Du sowie Williams, der explizit erwähnt wird, der eigentlich eine ‚reale‘, wie der Autor außerhalb der Diegese des Textes angesiedelte Figur ist, nun aber eine Zwitterstellung einnimmt, von der nicht mehr klar gesagt werden kann, auf welcher Ebene sie existiert.
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Das Gedicht kreist um die Pflaumen so wie dies wohl Williams’ lyrisches Ich gemacht hat, wohlwissend, dass die Früchte nicht für ihn bestimmt sind, und dennoch nicht fähig, ihnen zu widerstehen. Sie sollen die Leerstelle des Rost’schen Gedichts substituieren, sie sollen „für etwas“ (15) stehen. Sie versprechen, Ersatz für das Liebesobjekt zu sein, und nehmen als solche die Rolle der Geliebten ein. Doch als Attraktor fungieren nicht sie, sondern die reizvolle Kontur des Körpers – eine bloße Andeutung dessen, was sich darunter verbirgt. Sie gibt ihr Geheimnis nicht Preis. Im Gegensatz dazu sind die Pflaumen obszön im Sinne Baudrillards: Sichtbar im grellen Licht des Kühlschranks, bereitgestellt, verfügbar, während die eigentliche Verführung von einer Begegnung ausgeht, die gar nicht statthat. In beiden Texten erlangen die Pflaumen Objektstatus und fungieren als Attraktoren, denen die Protagonisten verfallen. Sie entfalten ein Netzwerk der Verführung, innerhalb dessen die Position des lyrischen Ichs verschoben wird – emotional sowieso, weil es eine Schuld verspürt, aber auch physisch, schließlich bewegt es sich vom Schlafzimmer in die Küche. In diesem Netzwerk hat Williams die schon angesprochene doppelte, und nicht eindeutig zu klärende Rolle; die Intertextualität agiert in ihm als eigenständiger Akteur; die Figuren der Geschichte ebenso wie die lyrische Sprache, die sich eigentlich durch verblüffende Nüchternheit auszeichnet, aber etwa in der Alliteration „sehr saftig, /süß“ (14-15) deutlich macht, dass sie das Material liefert für die ontologische Stabilisierung der Situation zu einer der Verführung; und nicht zuletzt ist auch der Autor Rost Teil des Netzwerks. Dies wird nicht nur in seinem Paratext deutlich, der noch vor dem Einsatz des lyrischen Ichs steht, wie in einem diffusen Zwischenraum der Sprache, deren Urheber nicht eindeutig bestimmt werden kann, sondern auch in einer metapoetischen Wendung angesichts der Rede von der „Nachricht“ (11), als die die Pflaumen fungieren und als die aber ebenso das verfasste, materialisierte Gedicht (hier dann also eine Nachricht in Textform und nicht „wortlos“ (11)) fungiert. Das Netzwerk der Verführung entfaltet sich in Form einer Bewegung und in Bewegung, d.h. sie realisiert sich performativ, kann aber, wie Williams Präteritum nahe legt, nur nachgezeichnet und nicht antizipiert werden. Bevor wir uns mit einem weiteren Attraktor beschäftigen, der eine andere Relation, nämlich weniger ein Umkreisen als vielmehr eine drängende, geradezu unerbittliche Affizierung evoziert – die Rede ist von einer Hand, genauer gesagt This living hand – muss die Behauptung überdacht werden, das durch die Kontur des Körpers gewölbte Laken fungiere als Verführer. Die Frau schläft. Vielleicht hat sie sich, ihrer Wirkung gewahr, bewusst unter der Decke drapiert. Dagegen aber spricht ihre „Nachricht“, mit der sie wohl die Be-
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gierde des Mannes umlenken wollte, vielleicht als Signal, dass seine Gesellschaft nicht gewünscht sei. Gleichviel: Sie ist es, die, schlafend, das lyrische Ich verführt. Mit dieser ungewöhnlichen Konstellation bietet die Szene genug Anlass, den Parameter der Strategie, wie in den Präliminarien einer Verführung im Gedicht versprochen, einer Revisitation zu unterziehen.
Ü BER S TRATEGIEN II Der Strategiebegriff diente bisher zur Beschreibung von u.a. Don Juans Vorgehensweise, die dieser auf der Basis seines Ziels – die Eroberung von Frauen – ausgeklügelt hat. Hier ist die Verführung das Ziel bzw. das Ergebnis einer Strategie mit manipulativen Implikationen, d.h. ein intentional agierendes Subjekt zielt darauf ab, den Willen des Anderen zu seinen Gunsten auf der Grundlage eines zuvor gefassten Plans zu verändern. So sind auch die Pflaumen bei Rost bewusst drapiert – eine Nachricht eben, „die du wortlos / für mich hinterlassen hast“. In der Geschichte des Damötas, der ein Ziel für sich formuliert hat, nämlich die Phyllis zur Liebe zu überreden, haben sich aber auch Dynamiken gezeigt, die aufgrund ihrer Reversibilität andersartig zur Strategie sind, diese in Bewegung bringen, verschieben oder aussetzen. Mit Baudrillard hatte sich schon angedeutet, dass Verführung heißt, sich auf das Unkalkulierbare einzulassen – und dies gilt sowohl für den Verführer als auch für den Verführten, deren Rollen reversibel sind. Ein Strategiebegriff im zu Anfangs skizzierten herkömmlichen Sinne wäre also hinreichend, um eine Verführungskonstellation zu beschreiben, die wir heuristisch als ‚klassisch‘ bezeichnet haben, sie würde jedoch gerade das ad absurdum führen, was Baudrillard ‚Verführung‘ nennt: Ein reversibles, fast duellartiges Verhältnis, in dem Rollen tauschen, in dem der vermeintliche Verführer ebenso verführt ist wie das Objekt seiner Begierde und allenfalls noch kurzzeitige Stabilisierungen von eindeutigen Positionen möglich sind, bevor diese sich wieder verschieben. Zugespitzt formuliert: Verführung wäre nicht Teil oder Ergebnis einer Strategie gemäß dem bisher dargelegten Konzept – überhaupt kann sie nie Ergebnis oder Vollzug sein, denn dann wäre sie schon vorbei und zerstört. Eher wäre sie eine Form des Vorspiels zu einem erhofften Ziel. Gemäß Baudrillard ist Verführung gerade diejenige Dynamik, die eine Strategie aussetzt und verunmöglicht. Seine Überlegungen geben Hinweise auf etwas, worüber nachzudenken Damötas und Phyllis, aber auch La petite maison dringlich machen: Die als vorläufig deklamierte Definition von Strategie nun ein zweites Mal zu beleuchten. Denn hier wurde zwar zu Anfang ein Plan ausgearbeitet, doch hat er mit Friktionen zu kämpfen, bevor er an sein Ziel kommt.
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Timo Skrandies weist darauf hin, dass Strategien mit Potentialitäten zu rechnen haben bzw. dass letztere geradezu in sie eingewoben sind.68 Diese Erfahrung machte auch Trémicour von de Bastide. Ist sein Plan, Mélite zu erobern, noch so ausgetüftelt, gibt es doch Unwägbarkeiten wie ihr Starrsinn, auf die er, will er erfolgreich sein, kurzfristig reagieren muss. Nun gibt es Strategiemodelle, die solche Flexibilität schon von vornherein einkalkulieren, weil sie keine starren, sondern relativ offene Strukturen haben, genauer gesagt: Sie haben keine lineare, sondern eine komplexe Struktur, die Platz lässt für Emergenzen.69 Damit sind Phänomene und Ereignisse gemeint, die unvorhersehbar auftreten, ohne dass ihr Ursprung ersichtlich wäre. Sie können entstehen, wenn das Zusammenspiel von Elementen eines Systems Phänomene, Dynamiken, Konstellationen o.ä. neu herausbildet. ‚Strategie‘ ist in diesem Sinne die Bezeichnung für die rationale Ausformung eines Aktionsplans auf der Basis von zukunftsbezogenen, zielgerichteten Überlegungen. Es handelt sich um einen Plan, der, wenn nötig, auf spontan auftretende Ereignisse reagieren kann, d.h., etymologisch, ‚auf eine Wirkung anspricht‘. Ein Beispiel hierfür bietet Gellert. Damötas hat einen zielgerichteten Plan gefasst, dessen Realisierung jedoch hapert. Die Konstellation um ihn und Phyllis vollzieht sich geradezu in arabesken Schleifen, die verhindern, festzulegen, wer wen verführt. Nichtsdestotrotz handelt Damötas nach einem Strategieschema – eben einem, das plötzliche Ereignisse berücksichtigen kann. Ein weiteres, in dieser Hinsicht extremeres Modell ist dasjenige, das Strategie versteht als ein aus Relationen performativer Prozesse entstehendes System, das sich aus deren Zusammenspiel emergent herausbildet, ohne dass ein Ursprung oder vorab angelegtes Muster auszumachen wäre. 70 Das folgende Gedicht von Kurt Drawert gibt Anlass, sogar von einem autopoietisch funktionierenden Modell zu sprechen, in dem gar kein intentional agierendes Subjekt vorausgesetzt ist.
68 Vgl. Skrandies, Timo (2010): Arbeit und Ästhetik I – Künstlerische Strategien. Habilitationsschrift Trondheim/Düsseldorf. Unveröffentlichtes Manuskript, 83. 69 Vgl. etwa Malik, Fredmund (2008): Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme, Bern: Haupt. 70 Vgl. etwa Henry Mintzberg, einer der bekanntesten Theoretiker im Bereich der Managementtheorie. Mintzberg, Henry (2007): Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements. Heidelberg. Redline Wirtschaft, 23f. Dass sich eine Strategie entfalten kann, ohne dass man ihr ein Subjekt an die Seite stellen muss, betont auch Michel Foucault in: Dispositive der Macht (1978). Berlin: Merve, 132f.
220 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Kontakte 1
Ich sah sie, hinter den Scheiben, sprechen, sah, daß sie allein war, und daß sie mich nicht sah,
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und sprach. Hinter ihrem Fahrzeug, am Straßenrand, zwei zueinander geneigte, sehr nackte Platanen,
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dahinter die tote Fabrik, darüber der Mond, etwas gesplittert vom Winter. Dann fuhr ich weiter,
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und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.71
Der Sprecher des Gedichts befindet sich auf einer Straße in einem Wagen, der vor demjenigen einer Frau steht, die er im Rückspiegel entdeckt. Er sieht sie hinter der Windschutzscheibe sitzen, augenscheinlich in ein Telefonat vertieft. Wenn er an ihr vorbeiblickt, durch die Heckschutzscheibe ihres Wagens, erkennt er Platanen mit abgeblättertem Stamm, dahinter eine leere Fabrik, darüber den Mond. Es ist Abend, es ist Winter. Der Automatismus einer Autofahrt, die doch in den meisten Fällen mit einem Zweck und einem Ziel verbunden ist und nur in den seltensten als bloßer, zielloser Zeitvertreib herhält, ist plötzlich suspendiert zugunsten des stillgestellten Moments. Die Sinne des Autofahrers in Drawerts Gedicht sind abgelenkt von der Verkehrslage, auf die sie eigentlich konzentriert sein sollten, und auf eine Frau gerichtet. Nicht nur gerichtet, sondern ihm ist der Kopf nicht nur im metaphorischen, sondern auch im sprichwörtlichen Sinne verdreht, denn das, was ihn in den Bann gezogen hat, befindet sich räumlich hinter ihm – wobei offen bleibt, ob er sich tatsächlich umdreht oder sie lediglich durch den Rückspiegel seines Wagens wahrnimmt. Geradezu absurd kommt jedoch der Titel Kontakte daher angesichts der Distanz zwischen beiden Fahrern, die von einer bloß einseitigen und damit im eigentlichen Sinne des Wortes gescheiterten Kontaktaufnahme zeugt. Denn die Frau nimmt den vor ihr Fahrenden gar nicht wahr.
71 Drawert, Kurt (2002): Frühjahrskollektion. Frankfurt/M: Suhrkamp, 27.
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Nichtsdestotrotz hat der kurze Augenblick, in dem das lyrische Ich wohl an einer Ampel halten muss, einen starken Effekt auf ihn. „Ein flüchtiger Blick genügt – und der Raum des Alltags ist verlassen und ein Glücksversprechen blitzt auf. [...] [U]nd obwohl sich nichts ereignet, hat sich für das Ich einige erfahrungsprägende Momente lang die Welt verändert“72, so notiert der Lyrikkritiker und Herausgeber Michael Braun über das Gedicht. Ziel und Zweck der Autofahrt werden dem Protagonisten nebensächlich; auch die Frau nimmt er nicht in ihrer Funktion als Verkehrsteilnehmerin wahr, auf die er mit seinem Fahrverhalten reagieren muss und umgekehrt. Noch die Platanen im Hintergrund stehen nicht bloß nebeneinander, sondern sind einander zugeneigt, nackt auch noch; und der Mond, der doch unabhängig über der Welt steht, ist stark gezeichnet von der Situation, „gesplittert vom Winter“. Die Frau hinter der Windschutzscheibe wird für den Protagonisten zum ästhetischen und gar erotischen Objekt. Ihre Wirkung lässt ihn die Umgebung anders wahrnehmen. Der Autofahrer erfährt sich selbst als Wahrnehmenden, spürt seinem eigenen Wahrnehmungsvollzug nach und merkt, dass die Fahrerin diesen nicht teilt: „Ich sah sie, hinter den Scheiben, sprechen, sah, daß sie allein war, und daß sie mich nicht sah“ und zuletzt: „Dann fuhr ich weiter, / und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.“ Das Präteritum illustriert den nachhaltigen Eindruck, den die Frau hinterlassen hat. Obwohl oder gerade weil keine Gefühlsregungen beschrieben werden, wird deutlich, von welcher Intensität ihre Nähe für ihn ist, sodass sogar sein Gedächtnis von dieser Begegnung überschrieben ist. Das alles geschieht, ohne dass die Frau überhaupt für ihn erreichbar wäre: Nicht nur physisch bleibt sie ihm entzogen, getrennt durch die verschiedenen Räume, an die sie wegen des Straßenverkehrs gebunden sind – denn jeden Moment wird die Ampel umspringen und der Verkehr ins Rollen kommen –, sondern auch, weil sie seine Anwesenheit nicht einmal registriert hat, geschweige denn das, was sie in ihm auslöst. Sie agiert nicht in Bezug auf den Fahrer des vor ihr stehenden Wagens, sie verhält sich nicht zu ihm, sie ist für ihn unverfügbar. Dennoch oder deswegen hat sie eine derart starke Wirkung auf ihn. Sie verführt seine Sinne, so lässt sich mit Fug und Recht behaupten, lenkt ihn ab von seiner verantwortungsvollen Rolle am Steuer eines Wagens und bringt ein ‚Kopfkino‘ in Gang, sofern man die „zueinander geneigte[n]“ (7), nicht nur nackten, sondern „sehr nackte[n] Platanen“ (9) in diese Richtung deuten will. Wie aber kann von Verführung gesprochen werden, wenn das, was hier geschieht, nur im lyrischen Ich seismographisch messbar ist? Wie kann eine Fahrerin als ‚Ver-
72 Braun, Michael und Buselmeier, Michael: Der Augenblick des Begehrens. In: Dies. (Hg.) (2009): Der gelbe Akrobat. Leipzig: poetenladen, 197-198, hier 197.
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führerin‘ bezeichnet werden, ohne dass sie eine Strategie, eine Handlungsabsicht an den Tag legt oder zumindest ein Bewusstsein über das eigene Tun vorhanden ist? Die Frage stellt sich hinsichtlich eines Strategiebegriffs, der an einem Konzept von Handlung festhält, das diese ausschließlich intentional agierenden Subjekten vorbehält. „Wenn Handeln a priori auf das beschränkt ist, was Menschen ‚intentional‘, ‚mit Sinn‘ tun, so ist kaum einzusehen, wie ein Hammer, ein Korb, ein Türschließer, eine Katze, eine Matte, eine Tasse, eine Liste oder ein Etikett handeln können.“73 Angesichts der Tatsache, dass diese Dinge unser Leben und unser Handeln darin massiv beeinflussen, ist eine solche Annahme jedoch nicht haltbar. Stattdessen, so postuliert Bruno Latour, für den im Gegensatz zur klassischen Handlungstheorie Intentionalität keine Voraussetzung für eine Handlung darstellt, sei der Blick zu öffnen für zahlreiche Akteure, die agieren können und zwar auch nichtintentional. So kann er das Spektrum von Handelnden um nicht-menschliche Entitäten erweitern und stellt sogar fest, dass „Handeln unter verschiedenen Handlungsträgern aufgeteilt wird, von denen nur die wenigsten den Menschen gleichen“74. Akteur ist von nun an „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht“75. Wenn Latour fordert, man müsse den Akteuren folgen, so gilt es, in obigem Beispiel im wahrsten Sinne des Wortes den Blick des Autofahrers mitzugehen. Der Rückspiegel ist in diesem Versuch einer Kontaktaufnahme ein immens wichtiger nicht-menschlicher Akteur, der eine zentrale Rolle im Handlungsgefüge einnimmt. Menschliche und nicht-menschliche Akteure sind gleichberechtigt. Das zeigt sich schon an der Tatsache, dass ohne den Rückspiegel die Verführung nicht beginnen könnte. Er fängt den Blick auf, lenkt ihn, spiegelt ihn, übermittelt ihn, wirft ihn zurück und gibt die Sicht frei auf das, was hinter dem Wagen liegt. Bei Drawert zeigt sich par excellence das, was Latour mit seinem Begriff des Akteur-Netzwerks mahnen will: Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass Handeln ein „Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen [ist], die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muß“76. Ohne das nun in dem Maße zu tun, wie Latour es sich erhoffen würde, wird doch, vor allem in der Szene an der Kreuzung, auf den ersten Blick deutlich, dass durchaus zahlreiche Akteure dazu beitragen, die Situation zu derjenigen zu machen, als die wir sie wahrnehmen: Die Ampel mit ihrem roten Warnlicht, von dem nicht explizit die Rede ist, das aber aller Wahrscheinlichkeit nach leuchtet, den Wagen überhaupt erst zum Stillstand bringt und damit paradox-
73 Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp, 123. 74 Ebd., 88. 75 Ebd., 123. 76 Ebd., 77.
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erweise die Handlung in Gang setzt; der Rückspiegel und die Windschutzscheibe; das Handy am Ohr der Frau, das ihr Sprechen ermöglicht; die Gangschaltung; das Gas- und das Bremspedal und vieles mehr. Latour fordert, den Spuren dessen zu folgen, was den Autofahrer in Bewegung versetzt hat. Sicher ist es eine bestimmte emotionale Verfasstheit, die Sehnsucht ausgelöst hat (ist man an weiterschweifenden Interpretationen interessiert, so könnte man spekulieren, dass der gesplitterte Mond und die tote Fabrik auf das Gefühlsleben des Fahrers verweisen). Zweifellos ist es die Frau, die das lyrische Ich dazu bringt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Sie löst Emotionen in ihm aus, sie perturbiert seine Sinne. Der Autofahrer selbst aber ist es, der das Objekt seiner Begierde zu einem agierenden Subjekt macht. Er also bringt sie erst zum Handeln unter den Auspizien der Verführung – gleich, ob sie dies wollte oder nicht, und trotz der Tatsache, dass sie dies nicht einmal merkt, sich dessen also nicht bewusst ist. Sie wird zur Handelnden und zwar zur Verführerin, weil sie ebendiesen Effekt auf den Autofahrer hat. Es ist dies ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Akteur ist, wer zum Handeln gebracht wird.77 In dieser Formulierung ist schon ein rekursives und reversibles Verhältnis angelegt, das für Verführungskonstellationen konstitutiv ist. Beide konstituieren einander gleichzeitig als Verführerin und Verführten. Dafür bedarf es nicht der Intentionalität. „‚Dazu bringen‘ ist nicht dasselbe wie ‚verursachen‘ oder ‚tun‘: Im Zentrum dieser Tätigkeit gibt es eine Verlagerung, eine Verdoppelung, eine Übersetzung, die sofort das ganze Argument modifiziert. Vorher war es unmöglich, einen Akteur mit dem zu verknüpfen, was ihn zum Handeln brachte, ohne dafür angeklagt zu werden, ihn zu ‚beherrschen‘, ‚einzuschränken‘ oder zu ‚versklaven‘. Dies ist nicht länger der Fall.“78
Der Verführer ist hier nicht mehr dominierendes, mitunter gar manipulierendes Subjekt, das eine Reaktion verursacht. „[Z]wischen voller Kausalität und schierer Inexistenz [können] viele metaphysische Schattierungen existieren“79. Mit „voller Kausalität“ etwas verursachen – das entspräche etwa der Art und Weise, wie Werbeschaffende zielsicher agieren, um Konsumenten zum Kauf zu verleiten, oder wie ein Don Juan das Objekt seiner Begierde manipuliert. Und hier zeigt sich nun, wie in den Präliminarien angedeutet, dass in diesem Sinne nur begrenzt von Verfüh-
77 Vgl. ebd., 81. 78 Ebd., 374. 79 Ebd., 124. „Außer zu ‚determinieren‘ und als bloßer ‚Hintergrund für menschliches Handeln‘ zu dienen, könnten Dinge vielleicht ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindert, autorisieren, ausschließen und so fort.“
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rung zu sprechen ist. Baudrillard ist diesbezüglich radikal. Für ihn stellt Intentionalität nicht nur eine Variable dar, sondern ist ein Ausschlusskriterium für Verführung, so weiß sein Interpret Falko Blask: „Der Verführer selbst weiß nicht um das Rätsel der Verführung. Er kann infolgedessen auch keine bewusste Strategie entwickeln, sondern ist selbst den regelinduzierten, aber letztlich zufälligen Verkettungen der Zeremonie ausgeliefert. Das Geheimnis bleibt in jedem Fall bestehen – das ist der Preis und das Risiko der Verführung. Sobald das Geheimnis gelüftet wird, droht die Verführung in Banalität zu versinken.“80
Das emphatische Fehlen von Intentionalität ist für Baudrillard also Voraussetzung für die Entstehung einer Verführungssituation. Wir wussten bisher schon, dass die Re-aktion auf eine Verführung nicht bewusst lenkbar und kontrollierbar ist (das hatte sich beispielsweise schon bei der Poetischen Differenz gezeigt). Wenn wir das Prinzip der Reversibilität ernst nehmen, dann gilt dies auch für die Aktion – sei es, dass sie von einem Ding oder von einem Menschen ausgeht. Mehr noch: Die dichotomischen Begriffe ‚Aktion vs. Reaktion‘, ‚Subjekt vs. Objekt‘, ‚Macht vs. Ohnmacht‘ werden reversibel oder gar aufgelöst. Stattdessen zeigt sich am Beispiel von Drawerts Gedicht, dass der Verführung, bar jeder Kausalität und Intentionalität, Momente der Gelassenheit inhärent sind. Latours Formulierungen ‚zum Handeln bringen‘ und ‚einen Unterschied machen‘, ohne dass dieser kausal verursacht sein muss, hegen dies handlungstheoretisch ein. Aus dem Gesagten resultiert die Erkenntnis, dass sich eine Verführung beinahe autopoietisch aus den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Akteuren ergeben kann, ohne dass die beteiligten Akteure intentional vorgehen, was jedoch den Parameter der Strategie nicht aushebelt, sondern im Gegenteil das poetisch realisiert, was die Theorie schon weiß: Dass es Strategien jenseits subjektiver Pläne gibt. Fasst man Verführung etwa als Widerfahrnis auf – Röttgers nennt sie „Gelegenheit“81, eine Gelegenheit, wie sie sich dem Williams’schen lyrischen Ich bietet, als es in den Kühlschrank schaut –, so wird deutlich, warum wir uns in unseren lebensweltlichen Begegnungen und Verhältnissen so häufig in Verführungssituationen eingebunden finden. In einem Nachtrag zu den in diesem Kapitel schon einige Seiten zuvor angesprochenen „Attraktoren“ lässt sich nun präzisieren: Dass Objekte als Akteure Andere zum Handeln bringen, wusste in den 1990er Jahren schon Baudrillard, der diesen
80 Blask, Falko (2002): Jean Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius, 59. 81 Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 442 und 460.
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Umstand auf den Begriff des attracteur étrange brachte.82 Als attracteur étrange besitzt das Objekt aktive Handlungskraft und wird nicht mehr nur ‚behandelt‘ und zugerichtet. Es ist fähig, Strategien von Subjekten zu evozieren, zu beeinflussen und zu durchkreuzen. Es provoziert Gesten, wie wir gesehen haben. Anders gesagt: Eine Geste, so zeigt der attracteur étrange, ist die Antwort auf den Ruf eines Objekts. So etwa bei der Frau in Rosts Pflaumen, die die Früchte bewusst, als Nachricht, eingesetzt hatte, wohl um die Begierde des Mannes von sich selbst abzulenken. Die Pflaumen sind diejnigen, die die Frau erst zu einem strategisch handelnden Subjekt machen. Ebenso, aber mit der gegenteiligen Intention, geschieht es bei Williams, wo die Mitbewohnerin plant, die Pflaumen vor dem Appetit des lyrischen Ichs zu bewahren, und sie deswegen in den Kühlschrank stellt. Die Pflaumen jedenfalls werden zu einem bestimmten Ziel nutzbringend verwendet, sind aber rekursiv diejenigen, die ein agierendes Subjekt allererst konstituieren. Die Reversibilität betrifft mithin sogar Subjekt-Objekt-Verhältnisse, dynamisiert sie, tauscht sie, setzt sie aus. In diesem Kapitel lässt sich also eine in zwei Richtungen laufende bzw. aus zwei gegensätzlichen Richtungen kommende Dynamik verfolgen: Zuerst die gestische Bewegung der Sprache bzw. des Subjekts auf die Erfüllung des Versprechens hin, sei es ein in Aussicht gestellter Zustand, ein Ereignis oder ein Objekt; und zum anderen die Anziehungskraft des attracteur étrange, der eine Geste des Subjekts oder der Sprache provoziert.
„S EE ,
HERE IT IS “.
K EATS ’ T HIS
LIVING HAND
This living hand 1
This living hand, now warm and capable Of earnest grasping, would, if it were cold And in the icy silence of the tomb, So haunt thy days and chill thy dreaming nights
5
That thou would wish thine own heart dry of blood So in my veins red life might stream again, And thou be conscience-calm’d. See, here it is – I hold it towards you.83
82 Baudrillard, Jean (1990): La Transparence du Mal. Paris: Éditions Galilée: 178-180. 83 Keats, John (1978): The Poems of John Keats. Hg. von Jack Stillinger. London: Heinemann, 503.
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Das Objekt als attracteur étrange hat die Fähigkeit, zu verführen. In dem vielleicht bekanntesten Gedicht von John Keats, This living hand, wird vorgeführt, wie es sich der symbolischen Ordnung entzieht, indem sein Geheimnis – die unheimliche Überkreuzung von Leben und Tod – bewahrt bleibt.84 Das Gedicht ist vermutlich um 1819 entstanden, wurde aber erst 1898 publiziert. Es gibt einen Einblick in die Wirkmacht lyrischer Sprache, der sich das „you“ des Gedichts nicht zu widersetzen vermag. Es gelingt dem Text, zu diesem eine Beziehung herzustellen, indem es aus dem sprachlichen Material eben This living hand heraustreten lässt. Die letzten beiden Verse „See, here it is -/ I hold it towards you“ stellen eine der eindringlichsten Apostrophen dar, die lyrisch hervorgebracht wurden. Sie schließt den Kreis zum Anfang des Gedichts, der mit dem bestimmten Artikel „This living hand“ (Hervorhebung J.V.) die Gegenwart einer bestimmten lebendigen Hand evoziert. Zusammen mit dem letzten Vers des Textes ist es also eine, oder eher diese eine Hand, von der in den folgenden Zeilen des Gedichtkörpers die Rede sein wird, die das lyrische Ich einem ‚Du‘ vor Augen hält: „This living hand [...] – I hold it towards you“ (1 und 8). Keats’ Gedicht produziert bzw. provoziert ein Ereignis. Es wagt, mit der Zeit zu spielen – und es gelingt ihm, sie sich untertan zu machen. Es macht sich die eigentlich unüberwindliche Grenze von Leben und Tod gefügig und zwar indem es sich des Verhältnisses von Gegenwart, in welcher der Zeitpunkt des Erzählens situiert ist, und Zukunft, in welcher die Szenerie situiert ist, bemächtigt, die hier mittels des Konjunktivs entworfen wird. Eine Zukunft, die eigentlich fern und bloß virtuell ist, hier jedoch plötzlich in die Gegenwart geholt wird. Ziehen wir eine rezeptionsorientierte Lesart in Betracht, wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gedicht dies vornehmlich getan hat85, so kann man sa-
84 Das Objekt gibt, laut Baudrillard, sein Geheimnis nie vollständig preis – im Gegensatz zur Ware, die obszön ist insofern sie als Gut an ein semiotisches System des Werts gekoppelt, Ergebnis des Prinzips der Produktion ist und als solches „ihre sichtbare Essenz, nämlich ihren Preis, stets zum Ausdruck” bringt. Das hat schon Marx erkannt, der den Grund dafür in dem Prozess der ‚Vergleichbarmachung‘ der Waren sieht. (Baudrillard, Jean (1987): Das Andere selbst. Wien: Passagen, 19.) Vgl. zur ‚Ware‘ auch das letzte Kapitel dieser Studie. 85 Vgl. etwa Culler, Jonathan (1981): The Pursuit of signs. Ithaca: Cornell University Press sowie Hopkins, Brooke (1989): Keats and the Uncanny: ‚This living hand‘. In: The Kenyon Review. Vol. 11, 4. 28-40, hier 37.
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gen, das Gedicht ermächtigt sich des Verhältnisses von Erzählzeit und Rezeptionszeit oder von der Zeit des Schreibens und der Zeit des Lesens. Es lässt also, so gesehen, die Zeit des Erzählens und die Zeit des Lesens in eins fallen. Der Satz, oder eher die Deixis This living hand, now warm and capable (1; Hervorhebung J.V.)
behauptet, das Jetzt des Artikulationsmoments sei das gleiche Jetzt wie das des Leseakts. Anders gesagt, die Hand sei zum Zeitpunkt des Erzählens ebenso warm wie sie zum Zeitpunkt des Lesens ist. Denn dass es der Rezipient ist, dem die Apostrophe gilt, kann zwar aus den Aussagen des Gedichts nicht geschlossen werden, doch ist es notwendig, dies mindestens als eine Option in Betracht zu ziehen, und sogar unwiderstehlich, sie als besonders plausibel anzunehmen und sich angesprochen zu fühlen. Die rezeptionsbezogene Lesart ist also keinesfalls die einzig mögliche, jedoch erscheint es mir nicht nur legitim, sondern notwendig, diese Variante zu diskutieren, wenn ein Gedicht dies explizit einfordert, wie hier durch das Stilmittel der Apostrophe. Es gibt lyrische Texte, zu denen auch Rilkes Archaïscher Torso Apollos gehört (ausführlicher dazu das vorletzte Kapitel dieser Studie), deren Apostrophe mit einer solchen Kraft agiert, dass es schier unmöglich ist, sich als Leser nicht angesprochen zu fühlen. Grund dafür ist die Behauptung – und darin besteht die Evokation und Provokation des oben angedeuteten Ereignisses –, die Hand werde dem Leser in dessen realer Welt vor Augen gehalten. Dass es sich hierbei um eine Tatsache im eigentlichen Sinne handle, scheint unwahrscheinlich, und doch ist es zutreffend, denn es gelingt dem Gedicht, vor dem von Zeile zu Zeile gehenden Blick die Hand zu evozieren. Nun ist es der verschachtelten Komplexität des Textes geschuldet, dass auch diskursiv, jenseits der Rezeptionsdimension mit mehreren semantischen Zeitebenen gespielt wird. Betrachten wir das Gedicht Vers für Vers, so ist zunächst im Titel und in der ersten Zeile die Rede von einer lebendigen Hand, This living hand eben. Diese bestimmte Hand ist eine lebendige, das heißt, durch sie fließt Blut, sie wird eine rosige Farbe haben, warm sein, einen fühlbaren Puls haben, sie wird der Bewegung fähig sein. Dies ist das Setting des Gedichts im poetischen Präsens (vgl. „now“, 1), das seinen eigenen Gesetzen folgt. Jedoch wird sogleich im zweiten Vers, über ein Enjambement im Übrigen, der Konjunktiv eingeführt:
Tim Armstrong weist darauf hin, dass über das metapoetische Motiv der Hand das Schreiben des Autors thematisiert wird. Armstrong, Tim (1988): Final Gestures. In: Modern Language Quarterly. 49,4. 362-377.
228 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK This living hand, now warm and capable Of earnest grasping, would, if it were cold (1-2; Hervorhebungen J.V.)
Die Zeilen beschreiben also eine Hand, die im Moment des Niederschreibens sowie im Moment des Lesens lebendig und warm ist – dies ist die ‚faktische‘ Situation in der ersten Zeile, doch wird sie sogleich in Frage gestellt: Im zweiten Vers wird eine andere Situation angenommen, nämlich die theoretische Simulation, die Hand würde, wenn sie kalt wäre „haunt thy days and chill thy dreaming nights“ (4). Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass kein Ist-Zustand zur Diskussion steht, sondern Blankvers für Blankvers, „with layer afters layers of syntax and significance“86, wie Joel Brower in seiner Besprechung des Gedichts formuliert – und dabei im Übrigen den Verlauf des Textes betont, wie ich dies im Sinne des sens-Begriffs Latours vorgeschlagen hatte –, wie also Vers für Vers ein hypothetisches Szenario entworfen wird. Die Rede ist davon, was passieren würde, wenn die Hand tot wäre. Wenn die Hand also nicht lebendig ist, wie zuerst behauptet, sondern tot wäre, dann würde sie die Tage und Nächte des angesprochenen Dus spukend heimsuchen. In der nächsten Zeile wird genauer ausgeführt, von welcher Art dann die Wirkung der toten Hand wäre. Sie würde derartigen Spuk betreiben, „That thou wouldst wish thine own heart dry of blood“ (5). Fassen wir bis hierher die Aussagen des Gedichts zusammen, so ist die Rede von einer lebendigen Hand, jetzt warm und zur Berührung fähig, die – wäre sie kalt und in der Eisesstille einer Gruft verortet – den Leser des Tags wie des Nachts heimsuchen würde, und sie würde von solcher Unheimlichkeit sein, dass dieser sich selbst den Tod wünschte, seinen Platz mit ihr tauschen würde. Es wird also durchgespielt, was geschehen würde, wenn die Hand nicht lebendig wäre. Das Gedicht wäre allerdings nicht von derartiger Wirkmächtigkeit, wenn dieses Gedankenspiel so einfach abzutun wäre mit dem Hinweis auf den Konjunktiv und die Tatsache, dass dank des ersten Verses eindeutig ist, dass die Hand lebendig sei und deren Tod nicht mehr denn als Imagination thematisiert werde, dass also in der Diegese des Textes die Hand lebendig und ihr Tod nurmehr virtuell ist. Stattdessen jedoch, in der nächsten Volte, sind die oben zitierten und paraphrasierten Worte von solch großem Effekt, dass sie die Hand tatsächlich als tot plausibilisieren. Entgegen also der Ankündigung des Titels und der ersten Zeile sowie in Missachtung des Konjunktivs, der die Irrealität des Gesagten anzeigt, scheint die Hand, um die sich alles dreht, eine tote, kalte, blutleere zu sein, und eine von den Toten wiederkehrende, spukende zumal. In diesem Sinne wäre die Stimme, die spricht, die eines
86 Brower, Joel: Commentary of John Keats’s „This living hand“. www.rc.umd.edu/editi ons/poets/prose_commentary/brouwer. (9.9.2015)
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Toten. Erhält dieser seine Stimme nur durch die des Lesers? So zumindest gibt Brooke Hopkins zu denken: „[T]he phenomenology of that relationship (die zwischen Sprecher und Leser, J.V.) gets complicated (as almost everything about this extraordinarily simple poem does [...]) when one recalls that the poem's "speaker," the poem's "I" is dead, that it is only the reader's reading that provides him with a "voice." It is that act that is represented in the poem by the transfusion of "blood," a transfusion embodied in the very act of reading itself.“87
Hopkins geht sogar noch weiter: „Once alive in the act of writing, those words are now dead and can only be brought back to life by the reader in the act of reading. But that only serves to recall the reader to a consciousness of his own dying.“ Sie zieht eine Analogie zwischen dem Gedichtkörper und dem des Dichters: „It appears to threaten the life of the reader as well, making him wish his "own heart dry of blood" so that the same blood can flow in the veins of another. It is as if the poem itself has become the poet's body, something that can be reanimated only through a transfusion of life from the reader, the reanimation of the words on the page.“88
Folgt man dieser Argumentation, so muss man die Hand also als diejenige eines wiederkehrenden Toten auffassen. Noch hier jedoch ist der Text komplizierter. In einer, in den letzten drei Versen des Gedichts ansetzenden, weiteren Wendung nun ist diesem Tod ‚ein Schnippchen geschlagen‘, wenn das lyrische Ich sagt So in my veins red life might stream again, And thou be conscience-calm’ d. See, here it is – I hold it towards you. (6-9)
Der Tod, der uns zuvor noch als unheimlich und bedrohlich suggeriert wurde, wird durch die Evokation der lebendigen Hand überwunden. Das Gedicht spielt in doppelter Hinsicht mit der Fiktion: Einerseits ist die lebendige, präsente Hand eine Fiktion, denn der Satz „See, here it is“, hat keinen Referenten in der ‚realen‘ Welt – heißt, da ist keine tatsächliche, pulsierende, lebendige Hand greifbar, sobald man das Gedicht liest –; andererseits ist deren Tod eine Fiktion, worauf uns der Konjunktiv aufmerksam macht. Es ist der Ausruf „See, here it is“ (7), der die distanzie-
87 Hopkins, Brooke (1989): Keats and the Uncanny: ‚This living hand‘. In: The Kenyon Review. Vol. 11, 4. 28-40, hier 37. 88 Ebd., 38.
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rende, semiotische Materialität der Wortkörper zurück- und stattdessen die der Hand schier sichtbar und greifbar hervortreten lässt. Die Hand behauptet sich als Präsenz. Die Worte „This living hand“ fungieren nicht mehr, wie die Semiotik noch dachte, als Träger für den Referenten, sondern dieser wird instauriert, gleichsam performativ zur Existenz gebracht und behauptet sich in seiner eigenen, in hohem Maße affizierenden Dichte, die sinnlich erfahrbar wird. In diesem unwahrscheinlichen, ja unerhörten Ereignis, das sich die Realität untertan macht indem sie die eindeutige, scharfe Grenze von Fiktionalität und Faktualität verwischt, ballt sich die gesamte Kraft der lyrischen Sprache. Die Hand scheint ihre sprachliche Konsistenz zu ignorieren, und – man denke an Walt Whitmans Vers „I spring from the pages into your arms“89 – sich in der Realität zu instaurieren. Das Dargestellte hier ist für die Zeit der Immersion real, die Hand tritt aus der Sprachmaterialität, in der sie eingebunden ist und der sie ihr Sein verdankt, heraus. Ihre Materialität ist nicht mehr die fiktionale, sprachliche, klangliche, sondern sie hat eine körperlich-sinnliche Dichte, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und die der Realität perturbiert. Wenn die lesenden Augen am Ende des letzten Verses angelangt sind und die äußere, rechteckige Gestalt des Gedichts in seiner Gesamtheit wieder in das Blickfeld rückt, samt dessen Versform, samt dem Schwarzdruck der Buchstaben; und wenn das Papier, auf dem es geschrieben steht, raschelt, sich von einem Rotweinfleck wölbt, den vertrauten Papiergeruch verströmt oder der Stuhl, auf dem der Leser sitzt, unter ihm knarzt, dann kommt es zum erneuten Bruch, in dem die Artifizialität des Gedichts wieder dringlich wird, die Materialität der Schrift wieder in den Vordergrund tritt – und doch, so meine ich, kann angesichts der Evokationskraft lyrischer Sprache eine sichere Eingemeindung in bisherige dichotomische Modelle von Faktualität versus Fiktionalität, von Präsenz versus Absenz, von Leben und Tod nicht mehr ohne Friktionen erfolgen. Weder der irreale, noch aber auch der reale Charakter der besungenen Hand können gänzlich abgestreift werden; sie zeigt sich und entzieht sich doch, sie vereinnahmt das angesprochene Subjekt, belässt es nicht auf seinem distanzierten, äußerlichen Rezeptionsstandpunkt, sondern affiziert es – und hält es doch ein Stück weit auf Distanz. Der Existenzstatus der Hand – und damit der des Gedichts – bleibt von unauflösbarer, zwischen den Dimensionen changierender Eigenartigkeit. Jonathan Culler fasst diese Überlegungen folgendermaßen zusammen: „[R]eaders do temporarily sacrifice their sense of reality in allowing the poem to create for them a temporality in which the hand lives and is held towards them. The poem predicts this
89 Whitman, Walt (1965): Leaves of Grass. New York: New York University Press, 505.
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mystification, dares us to resist it, and shows it to be irresistible. It is a tour de force that shows what lyric is [,] can do and why it is memorable.“
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Keats’ Gedicht ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass Lyrik nicht nur Positionen zu verschieben vermag, wie wir bisher schon mehrmals gesehen haben, sondern diese in Relationen verwandelt. Eine solche etabliert das Gedicht, wie wir gesehen haben, z.B. zum Leser. Mit einem herkömmlichen rezeptionsästhetischen Ansatz, der von einem selbstsicheren Subjekt ausgeht, das entscheidet, einen fiktionalen Text zu lesen, und der sich dann für die entstehenden Empfindungen interessiert, ist das Potential von This living hand gleichwohl nicht mehr einzuholen. Statt eines Rezipienten, der der Sprache äußerlich ist, und der die Entscheidungsmacht hat, sich auf eine Relation zum Text, welcher ein passives Objekt sei, einzulassen oder nicht, und in der Folge bestimmte Wahrnehmungen und Empfindungen hat, die zu untersuchen das Interesse der Rezeptionsästhetik ist – statt eines solchen, recht stabil außerhalb der lyrischen Sprache installierten Subjekts wirkt Keats’ Gedicht vielmehr subjektkonstituierend insofern die Apostrophe „See, here it is -/ I hold it towards you (7-8) den Leser erst evoziert, oder eben zur Existenz provoziert, und dieser sich der Verführung durch die lyrische Sprache nicht mehr entziehen kann. 91 Der Leser ist ein Akteur innerhalb des Raumes der lyrischen Sprache, der mit den Worten „thy“ (4), „thou“ (5), „thine“ (ebd.), erneut „thou“ (7), und schließlich das an prominenter, allerletzter Stelle platzierte, weniger formale, sondern vertrautere „you“ (8) gleichsam die Bühne der lyrischen Welt betritt. Der Rhythmus des Textes, der mit einer tatsächlichen Gegebenheit beginnt – „This living hand, now warm and capable“ (1) –, sodann ein hypothetisches Szenario entwirft – „would, if it were cold“ (2) –, und zum Schluss nicht auflöst, was von beiden in der diegetischen Welt, noch in der realen wahr ist, baut sich anschwellend auf, bietet keine Möglichkeit, auch nur Luft zu holen, bis zu den Worten „See, here it is -/ I hold it towards you.“ Diese letzten Verse schleudern mit aller lyrischsprachlichen Kraft die Unerbittlichkeit des Todes und die Macht des Lebens zugleich in den Raum. Da keine Aufklärung der Situation mehr folgt, endet das Gedicht mit dieser starken Verführungsgeste. Mary Anne Myers schlägt in ihrer Lektüre von Keats’ Gedicht vor: „We might read the poem as the octave of an unrhymed sonnet whose sestet remains to be written.“92 Entstehungsgeschichtlich ist dies nicht belegt, auch wenn es in der unvollen-
90 Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge: Harvard University Press, 197. 91 Vgl. zum Begriff der Subjektkonstitution die Auseinandersetzung mit Agambens Dispositivbegriff im Kapitel zu Fiktionalität – Faktualität dieser Studie. 92 Myers, Mary Anne (2013): Keats and the Hands of Petrarch and Laura. In: KeatsShelley-Journal 62, 99-113, hier 113.
232 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK
deten Satire The Cap and the Bells gefunden wurde.93 Welche Gründe auch immer zu der jetzigen Form des Gedichts geführt haben, aus eben dieser, mit einem nicht verifizierbaren Statement schließenden Form, resultiert in der vorgeschlagenen Lesart die Verführungskraft der Hand, deren Materialisierung Resultat der sprachlichen Verführungskraft ist. Sie geschieht zwischen Text und wie auch immer besetztem Subjekt. Freilich setzt dieser Ansatz die Annahme voraus, der Text sei ein Akteur im Sinne Latours – und diese theoretische Präliminarie war im Auftakt als für die gesamte Studie grundlegend angesetzt worden. In der Kulmination „I hold it towards you“ (8; Hervorhebung J.V.), wird also das Subjekt vollends instauriert, das zuvor schon Vers für Vers mehr ins Leben gerufen wurde. Eigentlich müsste man betonen: „I hold it towards you“ um zu zeigen, das ebenso erst das Wahrnehmen der Hand von einem affizierten, empfindenden, spürenden Subjekt die tatsächliche, unwahrscheinliche Lebendigkeit der Hand verifiziert. Beide Akteure geraten durch die Erfahrung des anderen in eine existentielle Disposition. In einer solchen wechselseitigen Relation ist das Subjekt für konstitutiv für die Hand wie die Hand konstitutiv für das Subjekt ist. In Bezug auf die außertextuelle Welt, in welcher der Rezipient situiert ist, gelingt es dem Gedicht, von Vers zu Vers mehr und kulminierend in dem Ausruf „See, here it is“, eine Hand zu evozieren, die dank der Intensität der Sprache eine nicht mehr sprachliche, fiktionale, sondern geradezu reale Existenz erhält. „The poem baldly asserts what is false“, schreibt Jonathan Culler, „that a living hand, warm and capable, is being held towards us, that we can see it.“94 Die Materialität der Schrift, die Druckerschwärze, das Stück Papier, das von anderer Beschaffenheit ist als die Hand, mahnen, dieser Fiktion zu widerstehen, doch ohne Erfolg. Sie steht dem Leser regelrecht vor Augen. „This is the kind of effect which the lyric seeks, one whose successes should be celebrated and explained“95, so fordert Culler. Vor dem Hintergrund der oben explizierten semantischen Verschachtelung wird deutlich, dass jedoch nicht nur ein potentieller Leser verführt wird, sondern vor die Besetzung der Subjektposition mit dem Leser zurückzugehen ist. Denn diese kann auch anderweitig besetzt werden, etwa wäre ebenso die Selbstansprache des Dichters in Erwägung zu ziehen; ein anderer, innerfiktionaler Adressat; die Ansprache könnte ebenso Keats’ Verlobter Fanny Brawne gelten oder einer völlig anderen Person. Mehrere Lektüren sind möglich, schließlich zeigt sich die Unzuverlässigkeit des Textes nicht nur in Bezug auf die reale Welt – nämlich durch die Unverfrorenheit, die Hand ‚wirklich‘ werden zu lassen –, sondern sie herrscht noch innerhalb der diegetischen Welt. Sogar hier ist offen, was der Fall ist: Entweder handelt
93 Vgl. ebd.,100. 94 Culler, Jonathan (1977): The Pursuit of signs. Ithaca: Cornell University Press, 154. 95 Ebd.
G ESTE – A TTRAKTOREN
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es sich um die Hand eines bereits Verstorbenen, aber das Gedicht evoziert sie derart, dass sie lebendig und präsent wird und den Tod überlistet. Eine autorzentrierte Lesart würde in diesem Sinne davon ausgehen, dass Keats die Geschwister ‚Leben‘ und ‚Tod‘ mit seinem Dichterschicksal verknüpft und seinen eigenen, bevorstehenden Tod vorwegnimmt, der zu einem Zeitpunkt geschieht, als noch niemandem die Bedeutung des Dichters bewusst war. Oder aber innerhalb der diegetischen Welt wird die Hand als lebendig postuliert und das Bild des Todes stellt eine Vorahnung dar, worauf der Konjunktiv anstelle des Indikativs hinweist. Hier könnte eine biographische Lesart behaupten, es sei die Hand von John Keats, der früh an Tuberkulose erkrankte, die sich u.a. in stark geschwollenen und deformierten Händen bemerkbar macht, und antizipiert, dass seine geniale Hand eines Tages aus seinem Grabe herausgreifen und die Leser heimsuchen würde, wenn die Rezeption seiner zu Lebzeiten kaum beachteten Werke einsetzt. In diesem Sinne wäre die Hand nicht bloß Synekdoche des Körpers des Schriftstellers, dem dann auch die Sprecherrolle zukommen würde. Die Geste wäre vielmehr physisch zu Lebzeiten ausgeführt, aber könnte ihre Wirkung erst in einem Zeitraum entfalten, in dem der Tod des Verfassers geschehen ist, und durch den Leseakt aktualisiert wird. Der Vers „So in my veins red life might stream again“ (6) jedenfalls drückt die Hoffnung des lyrischen Ichs aus, seine Hand könne den Angesprochenen derart umtreiben, dass dieser sich wünsche, er könne den Platz des Lebenden gegen den des Toten eintauschen. Lyrikhistorisch mindestens ungewöhnlich, dass der Dichter nicht den Platz mit einem geliebten Verstorbenen tauschen möchte, den er oder sie in seiner Dichtung besingt, nein, das lyrische Ich hofft, dass es, wenn es tot ist, die Lebenden derart umtreiben wird, dass diese ihr Leben gäben um das lyrische Ich im Gegenzug wieder lebendig zu machen, das heißt die ausgestreckte Hand zu ergreifen und sie zurück ins Leben zu ziehen. So ist die Hand eine Geste, die in zweierlei Richtung nicht ‚ankommt‘, nicht erreicht, worauf sie zielt. Weder ist eindeutig, dass sie in der Welt der Toten zu verorten ist, noch, dass sie tatsächlich lebendig ist. Sie bewegt sich in einem Zwischenraum, in dem das Objekt, auf das sie abzielt, noch nicht erreicht ist, denn das Gedicht endet mit den Worten „I hold it towards you“. Es wird keine nächste Zeile mehr angeboten, in der aufgeklärt wird, ob das „you“ die Hand ergreift, sie also ihr Ziel erreicht oder nicht. Hier ist es wieder, das Begehren, von dem Blanchot sprach, verbildlicht in der Geste der ausgestreckten Hand, die greifbar zu sein scheint und es doch nicht ist, die ihrerseits suchend greift und gefasst werden will, um zurück in die Welt der Lebenden gezogen zu werden, aber vergebens. Die Hand erhält einen Objektstatus, der eine Relation zum Sprecher des Gedichts sowie zum Adressaten etabliert, welche Identität dieser auch immer haben mag. Die Kraft des Gedichts resultiert gerade aus der Offenheit des Settings, nämlich der Unklarheit, was in der diegetischen Welt nun der Fall ist, ob die Hand des lyri-
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schen Ichs die eines bereits Toten oder noch Lebendigen ist, sowie die Frage, an wen sich die Apostrophe richtet. So resümiert der Lyriker Joel Brouwer in seinem Kurzkommentar zu Keats’ Gedicht: „Keats has managed, in this short poem, to make that extended hand a figure for both warm life and cold death, but above all for the understanding that the two are inextricable. Finally, the poem’s last line. Is it confident, or desperate? I can hear it both ways.“96 Um mit Hamacher zu resümieren: Wenn die Bedeutung weg ist, bleibt das Gestische der Sprache. So gesehen ist die Keats’sche Hand die verführerische Geste der Lyrik.
96 Brower,
Joel:
Commentary
of
John
Keats’s
„This
www.rc.umd.edu/editions/poets/prose_commentary/brouwer. (9.9.2015)
living
hand“.
Fiktionalität – Faktualität
A UFTAKT Wenn Sarah Kirsch in ihrem Gedicht Trauriger Tag aus dem Band Landaufenthalt von 1967 anhebt mit den Worten „Ich bin ein Tiger im Regen“1 oder Rilke 1907 in der Reihe der Neuen Gedichte ein lyrisches Ich sagen lässt „Ich bin die Laute“2, so scheint es keinen Zweifel darüber zu geben, dass wir es mit fiktionalen Texten zu tun haben. Auch die Verse „Eine Nixe auf dem Steine / flocht dort ihr goldnes Haar, /sie meint', sie wär' alleine, /und sang so wunderbar“3, die das lyrische Ich in Eichendorffs Der stille Grund auf einem Stein im See sitzen sieht, gleich neben einem halb versunkenen Kahn, von dessen Bootsmann anzunehmen ist, dass er vom Singen der Nymphe und vom Flüstern der Natur angelockt wurde, Schiffbruch erlitten hat und ertrunken ist – auch dieses Gedicht weist durch die Einführung einer nichtexistierenden und daher fiktiven Figur, der Nixe, darauf hin, dass es sich um eine Fiktion handelt, die dort entfaltet wird. Frank Zipfel differenziert aus, was unter dem aus der Narratologie stammenden Begriff der Fiktion verstanden wird: „Fiktionale Erzählungen unterscheiden sich von faktualen dadurch, dass sie in bestimmter Weise nicht die Referenz- bzw. Behauptungsregeln normalsprachlicher Kommunikation befolgen müssen.“ 4 Diese Abweichung betrifft insbesondere die erzählte Geschichte und die Art des Erzählens. Zipfel erklärt, als fiktiv werde dasjenige Dargestellte bezeichnet, das in litera-
1
Kirsch, Sarah (1967): Landaufenthalt. Gedichte. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 10.
2
Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M: Insel, 519.
3
Eichendorff, Joseph von (1971): Werke. Hg. von Rasch, Wolfdietrich. München: Hanser, 300f.
4
Zipfel, Frank (2011): Lyrik und Fiktion. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Stuttgart: Metzler, 162.
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rischen Texten erfunden ist und nicht auf tatsächlichen Geschehnissen beruht, auch wenn fiktionale Werke wirkliche Elemente enthalten können. „Die dargestellten Gegenstände, Personen, Orte, Sachverhalte oder Ereignisse haben keine Entsprechung in der Realität und werden deshalb als nicht-wirklich bezeichnet“5, so die gängige Definition. Hinsichtlich der Art des Erzählens ist die Fiktionalität bedingt durch den Einsatz eines fiktiven Erzählers bzw. Sprechers, der den Text darbietet, auch wenn ein realer Autor diesen produziert hat. Eine solche Unterscheidung liegt auch zwischen dem fiktiven Adressaten und dem realen Leser vor. Wie Zipfel braucht auch Dieter Burdorf die Wirklichkeit als Orientierung für seine Definition von Fiktion: „Fiktionalität meint eine spezifische Form von NichtWirklichkeit, von suspendierter Wirklichkeit [...], die dennoch einen Bezug zur Wirklichkeit besitzt, indem die Fiktionen ‚als Wirklichkeit erscheinen‘.“6 In der Fiktion sei der Wahrheitsanspruch, der in der Realität besteht – nur so etwa können Lügen und Irrtümer als solche aufgefasst werden – außer Kraft gesetzt. Unter Verweis auf die relative Kürze, das Eigengewicht bzw. die Selbstreflexivität bildlicher und sprachlicher Ausdrucksmittel, angesichts derer die inhaltliche Dimension in den Hintergrund trete, schmälert Burdorf die Bedeutung der Fiktionalität für die Gattung Lyrik: „Grundsätzlich ist es berechtigt, die Lyrik als diejenige Gattung anzusehen, in der die Fiktionalität, die Ebene fiktiver Figuren und Handlungen, eine geringere Bedeutung hat als in der Epik und Dramatik. [...] [D]as Lesen eines Gedichts [erlaubt] nur selten das ‚Eintauchen‘ in eine fiktive Welt: In der Lyriklektüre bleibt die Künstlichkeit des sprachlichen Gebildes viel präsenter als beim ‚Verschlingen‘ eines Romans.“
7
Dem ist erstens die bemerkenswerte Tatsache entgegenzuhalten, dass, obwohl die Materialität des Mediums – also die Buchstaben, die Druckerschwärze, das Papier usw. – wahrnehmbar sind und bleiben, lyrische Techniken und Operationen eine Fiktionsvergessenheit provozieren können. Darauf wird zurückzukommen sein. Zweitens sei auf Zipfel verwiesen, der betont, der anhand narrativer Texte gewon-
5
Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 14. Seine umfassende Studie bietet eine differenzierte Diskussion von Fiktionskonzepten. 2001 kann Zipfel noch, ohne dass Latours Modes d’ existence bereits geschrieben wäre, davon ausgehen, dass fiktive Welten immer auf die Realität bezogen sind (Ebd., 82f.). Hier, in dieser Darstellung, wird das ‚Reale‘ oder die ‚Wirklichkeit‘ als die außertextuelle Welt verstanden, in der etwa der Leser aus Fleisch und Blut situiert ist.
6
Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse, 168. Er bezieht sich auf Käte Hamburgers Logik der Dichtung.
7
Ebd., 170.
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nene Fiktionsbegriff sei durchaus auf Lyrik ausweitbar, insofern auch hier dieselben Fragen relevant sind wie „Ist das Dargestellte fiktiv? Sind die Darstellungsstrukturen fiktional? Soll der Text im Rahmen der Konventionen der institutionalisierten Praxis ‚Fiktion‘ produziert und rezipiert werden?“8 Eben diese Fragen stellen sich auch am Beispiel des Werks von einem der bekanntesten zeitgenössischen deutschen Lyrikern: Durs Grünbeins Den Teuren Toten, Gedichte nach dem Vorbild antiker Epitaphe. Die Umstände ihrer Existenz sind ungeklärt, schließlich stilisiert das Nachwort Grünbein zum Herausgeber, der die literarischen Zeugnisse des Todes auf einem Dachboden gefunden habe, gesammelt und signiert von einem gewissen Pseudonymus No. 13. Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen Aufrecht vorm Fernseher, der lief, den Blick Gebrochen. Im Fernsehn gab ein Fernsehkoch Den guten Rat zum Kochen.9
So lautet der Anfang des ersten Gedichts aus der Sammlung. Die Poetische Differenz markiert auch hier die lyrische Existenzweise, wie bereits festgestellt wurde, und als solche zeigt sie u.a. auch an, dass ein Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität ausgetragen wird. Die vorangestellte Ortsangabe suggeriert, dass es sich um eine Zeitungsnachricht handelt. Jedoch ist die sachliche Information gebrochen durch die poetische Sprache, die sich vor allem durch die Syntax und die Reime bemerkbar macht (vgl. „an dreizehn Wochen“ statt ‚dreizehn Wochen lang‘; „vorm Fernseher, der lief“ anstelle von ‚vor dem laufenden Fernseher‘ u. dgl. m.). Die Folge ist, dass wir die Teuren Toten weder eindeutig als Gedichte noch als Zeitungsartikel bestimmen können, vielmehr handelt es sich um Hybridformen. Sie provozieren Glauben an und in ihre Faktizität, weil sie dokumentarisch zu sein scheinen und, schenken wir dem Nachwort Glauben, teilweise auch sind, doch die Entfaltung der Fakten geschieht in poetischer Sprache, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und nicht denen der Wirklichkeit, welcher die Zeitung verpflichtet ist. Das heißt, um obige Fragen von Zipfel wieder aufzunehmen: Die Darstellungsstrukturen sind teilweise fiktional, das Dargestellte jedoch nicht. In dem hier aufgezeigten Widerspruch manifestiert sich die Unzuverlässigkeit der Lyrik, aufgrund derer nicht pauschal ausgemacht werden kann, ob wir es mit Fiktion zu tun haben oder nicht.
8
Zipfel, Frank (2011): Lyrik und Fiktion. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Stuttgart: Metzler, 162.
9
Grünbein, Durs (1994): Den Teuren Toten. Frankfurt/M: Suhrkamp, 8.
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Diese Problematik tritt in Lyrik alles andere als selten auf. Bei Sarah Kirsch etwa finden sich nicht wenige Gedichte, die Zweifel aufkommen lassen, ob wir es tatsächlich und ausschließlich mit einem Stück Fiktion zu tun haben. So in den Zeilen „Eine Schlehe im Mund komme ich übers Feld / sie rollt auf der Zunge stößt Zähne an wenn ich geh“10, zumal das Gedicht auch noch mit einem Datum (einem Datum?), nämlich „2.9.66“ versehen ist; oder „Morgens füttere ich den Schwan abends die Katzen dazwischen / gehe ich über Grass passiere die verkommenen Obstplantagen“11. Wer ist das Ich, das hier spricht? Handelt es sich um Erfahrungen der Person Sarah Kirsch oder um eine Fiktion, die sie einem lyrischen Ich in den Mund legt? „Der Inhalt dieser Verse“, so schreibt Dieter Burdorf, „scheint durch und durch ‚real‘ zu sein, den Alltag des hier sprechenden Ichs ‚authentisch‘ darzustellen. Das liegt daran, dass keine signifikanten Merkmale der Abweichung von vertrauten Wirklichkeiten festzustellen sind.“12 Freilich stehe außer Frage, dass in analytischer Auseinandersetzung mit dem Text die „voreilige Gleichsetzung des Ich mit der empirischen Autorin [...] in jedem Fall vermieden werden“13 müsse, doch in Gedichten sind immer wieder sprachliche Operationen und Phänomene festzustellen, die so wie hier, dazu verlocken, wenn auch nur für einen Moment, an ihrer Fiktionalität zu zweifeln. Grünbeins Gedichtband und Kirschs Verse machen offenkundig, wie problematisch es ist, an einer strikten Trennung beider Dimensionen festzuhalten, und pauschal festzulegen, ob die Gattung Lyrik fiktional oder nicht-fiktional ist. In diesem Kapitel wird daher die strikte Trennbarkeit beider Dimensionen bestritten und damit die Annahme, man könne Lyrik prinzipiell der einen oder anderen Seite zuschlagen. In exemplarischen Analysen wird gezeigt, dass die für die Künste wichtige Leitdifferenz in der Lyrik nicht durchgehalten wird. Vielmehr wird die These verfolgt, dass hier ein Changieren zwischen beiden Dimensionen vor sich geht und dass dies eine weitere verführerische Qualität von Lyrik darstellt. Das Anliegen des Kapitels ist es, zu untersuchen, durch welche lyrischen Phänomene und Praktiken dies geschieht.14
10 Kirsch, Sarah (1967): Landaufenthalt. Gedichte. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 62. 11 Ebd., 33f. 12 Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse, 171. 13 Ebd., 172. 14 Dabei wird es im Folgenden v.a. um im engeren Sinne sprachliche Dynamiken gehen, doch dürfen die kulturellen und institutionalisierten Praktiken nicht außer Acht gelassen werden, die Teil der Frage nach der Fiktionalität oder Nicht-Fiktionalität sind. Der Buchhandel etwa organisiert sich mittels Dichotomien und verwendet die Einteilung ‚Bellet-
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Zunächst werden, um den hybriden Raum, den Lyrik eröffnet, genauer zu kennzeichnen, verschiedene gedankliche Figuren gebraucht, nämlich die Schwelle, die Passage und die Metalepse. Diese Perspektivierungen ermöglichen es, zu beschreiben, wie die fiktionalen und nicht-fiktionalen Räume oder Existenzweisen in Relation stehen. Am Beispiel weiterer lyrischer Phänomene, nämlich anhand von Tempusstrukturen und der Figur des lyrischen Ichs, werden die abstrakten Konzepte von Fiktionalität und Faktualität operationalisierbar gemacht. Sodann wird ein literaturwissenschaftliches Paradigma, der Biographismus, unter der Figur des Poetischen Pakts diskutiert, wobei das Werk Jürgen Beckers im Fokus steht. Schließlich gilt es, das mit der Frage nach dem fiktionalen oder nicht-fiktionalen Status von Lyrik befasste Theoriepanorama um Bruno Latour zu erweitern – mit weitreichenden Konsequenzen.
P ERSPEKTIVEN
AUF DEN HYBRIDEN
R AUM
Der Paratext „Verzeih.“ in Rosts Gedicht Pflaumen, die papierne Notiz aus Williams’ This is just to say, und sogar die in Keats’ This living hand evozierte Hand, mit der wir uns im vorigen Kapitel beschäftigt haben, teilen eine Gemeinsamkeit, die ihre Materialität betrifft: Sie sind nicht nur immaterielle Phänomene, deren Existenz auf die Fiktion des Gedichts beschränkt ist, sie sind nicht mehr bloße Motive, sondern sie formen sich heraus, werden gegenständlich, ragen von einer ontologischen Ebene in eine andere hinüber, und erhalten auf unterschiedliche Weise faktuale, gleichsam ‚reale‘ Qualitäten. Dieser Formungsprozess ist auf die Instaurationsfähigkeit lyrischer Sprache zurückzuführen. Dies hatte die Besprechung des Keats’schen Gedichts gezeigt, in dem die poetische Sprache es vermochte, die Hand momenthaft aus der Fiktion herauszubilden und in die Welt des innerdiegetischen Adressaten sowie die des Lesers hineingreifen zu lassen. Mit jedem Vers des Gedichts formt sie sich mehr heraus, verdichtet
ristik‘ und ‚Sachbuch‘, vgl. etwa die Bestsellerliste des Spiegel. Gedichtbände tragen häufig die unter dem Autornamen und Titel gesetzte Bezeichnung ‚Gedichte‘, die als gattungstypologische Bestimmung fungiert und gemeinhin als Fiktionssignal aufgefasst wird. Wir begeben uns hier auf die Spur eines grundlegenden Problems in den Künsten. Dass sich die Dichotomie von Fiktionalität und Faktualität auch in anderen Künsten nicht durchhalten lässt, steht zu vermuten, wenn wir uns etwa fragen, ob der Notizzettel eines Künstlers, weil er als Artefakt ausgestellt wird, der Fiktionalität zuzuordnen ist oder nicht. Die hier angestellten Überlegungen müssen sich jedoch auf die Lyrik beschränken.
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sich, bis sie mit den Worten „See, here it is -/ I hold it towards you“ vor Augen steht. Dieser Erscheinungsmodus der Hand, also die Art und Weise, in der sie sich vergegenständlicht, kann mit dem Begriff der Präsenz nach Gumbrecht qualifiziert werden. Seine Theorie der Präsenz meint das Entstehen bzw. eher: das plötzliche Dasein oder Entstanden-Sein einer körperlich-sinnlichen Beziehung, der ein Entstehungsprozess zugrunde liegt – eine Tatsache, die jedoch erst retrospektiv bemerkbar wird. Der letzte, eindringliche Vers, der das innerdiegetische Subjekt des Textes und das außerdiegetische, den Leser, affiziert, zeigt an, dass diese Produktion von Präsenz schon geschehen ist. Die Subjekte werden von der Hand sinnlich ‚berührt‘. Die Hand ist ein Akteur, der eine Beziehung zu ihnen aufmacht, und zwar eine räumliche Beziehung: Sie ragt aus der Fiktion in eine andere Dimension hinein – in die des Textsubjekts, in die des Lesers – und wird dessen Leib nah. Das Ereignen von Präsenz ist das, was geschehen kann in Momenten der Berührung von etwas, das nicht mit Erfahrung abgeglichen werden kann. Denn eine rationale Erklärung gibt es nicht für diese Überschreitung der ontologischen Grenzen, für die Manifestation der Hand, die nicht anders als im Nachhinein beobachtbar ist und die dem Subjekt keine Möglichkeit gelassen hatte, den Vorgang zu antizipieren, zu kontrollieren oder auch nur zu bemerken, was ihm geschieht. Erst mit den letzten Worten des Gedichts steht die Hand plötzlich vor Augen – in voller Präsenz, unübersehbar, drängend und zum Greifen nah. Gumbrechts Konzept von Präsenz kommt von seinem Produktionsbegriff her (er spricht von „Produktionen von Präsenz“15) und weist auf dessen räumliche Implikationen hin. Dabei bezieht sich Gumbrecht nicht auf das semantische Feld des Herstellens, Bauens, Schöpfens o.ä., sondern auf das lat. ‚producere‘ in der Bedeutung von ‚aufführen‘, ‚darstellen‘, ‚vorführen‘ oder ‚in den Vordergrund rücken‘, sich auffallend benehmen‘.16 Demensprechend „würde die Formulierung ‚Produktion von Präsenz’ herausstreichen, daß der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit auch ein in ständiger Bewegung befindlicher Effekt ist. Mit anderen Worten, die Rede von einer ‚Produktion von Präsenz’ impliziert, daß der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der (räumlichen)
15 Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M: Suhrkamp, 32. 16 Vgl. Pfeifer, Wolfgang, et al. (Hg.) (1989): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Buchstaben H-P. Berlin: Akademie Verlag. Stichwort „produzieren“, 1322.
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Greifbarkeit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflußt wird.“
17
Wenn Gumbrecht also argumentiert: „Was uns ‚präsent‘ ist, befindet sich (ganz im Sinne der lateinischen Form prae-esse) vor uns, in Reichweite unseres Körpers und für diesen greifbar“18 , so liefert die Keats’sche Hand hierfür ein Beispiel par excellence. Die Präsenz der Hand ist tatsächlich, wie Gumbrecht schreibt, von „zunehmender oder abnehmender“ Nähe und Intensität – dies lässt sich im Versverlauf nachverfolgen, je nach Einsatz von Tempus und Modus. Der conditional mode, wie er im Bedingungssatz der zweiten Zeile („would, if it were cold“) oder in Vers 5 („would wish thine own heart dry of blood) verwendet wird, bewirkt eine geringere Nähe und Intensität als der Indikativ Präsens der letzten beiden Zeilen („See, here it is -/ I hold it towards you“; alle Hervorhebungen J.V.), wo die Präsenz der Hand in höchster Intensität kulminiert. Die Williams’sche Notiz This is just to say, samt dem nachfolgenden Geständnis über den Konsum der Pflaumen hat eine Doppelrolle inne: Zum einen ist sie an eine innerfiktionale Figur gerichtet, bei der sich das lyrische Ich entschuldigt, dass es den Pflaumen nicht widerstehen konnte – das ist das innerdiegetische ‚Du‘ des Textes. Es ist zum anderen zu verstehen als Notizzettel, der an den außerfiktionalen Leser adressiert ist, dem extradiegetischen ‚Du‘ des Textes, d.h. als konkretes, vergegenständlichtes Konstrukt in unserer ‚Wirklichkeit‘, in der Dinge berührbar sind. Denn das Gedicht ist ja ‚da‘, es ist vorhanden, materialisiert. Es existiert in der ‚Realität‘, sonst könnten wir nicht darüber sprechen. Williams sagt: „The poem is the item.“19 Das Gedicht ist ein Gegenstand. Wenn wir es auch nicht als Notizzettel auf dem Küchentisch liegen oder an eine Pinnwand geheftet sehen, so existiert es doch auf Papier gedruckt in Williams’ Gesammelten Werken. Möglich, dass Williams’ Gedicht ein sogenanntes found poem ist, d.h. dass ‚aufgefundene‘ Elemente eines schon existierenden Texts zu einem Gedicht umgearbeitet werden, etwa aus einem Zeitungsartikel, einer Rede, einem Werbeslogan, oder eben auch einer Notiz, die zu nicht mehr gedacht war denn als rasch formulierte Entschuldigung für die eigene Willensschwäche. Das Ausmaß der Umarbeitung variiert hierbei. So könnte This is
17 Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M: Suhrkamp, 32f. 18 Ebd., 33. 19 Grünbein, Durs /Böttiger, Helmut (2002): Benn schmort in der Hölle. Ein Gespräch über dialogische und monologische Lyrik. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) text + kritik. Durs Grünbein. Heft 153, Januar 2002. München: Ed. text + kritik, 72-84, hier 78.
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just to say die in Versform gegossene Notiz auf dem Küchentisch darstellen oder das Re-Enactment des Sündenfalls aus der Bibel.20 Der Paratext „Verzeih.“ aus dem Rost’schen Gedicht Pflaumen ist ein ebensolcher Hybrid, der sich gleichzeitig auf die beiden ‚realen‘ Personen, den Rezipienten wie auch William Carlos Williams, bezieht und auf die schlafende Figur in der Wohnung des lyrischen Ichs, deren Silhouette sich unter dem Bettlaken abzeichnet. Durch den Paratext wird die Grenze zwischen innerdiegetischer und extradiegetischer Welt brüchig, denn er macht nicht nur Rost selbst, sondern auch Williams zu einer Figur des Textes. Die umfänglichste Auseinandersetzung mit Paratexten stammt nach wie vor von Gérard Genette. Als Paratext bezeichnet er das Beiwerk eines Werks, zu dem Vorwort, Illustrationen, Widmungen u. dgl. m. zählen. Dabei handle „es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle“, die „keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist.“21 In einem mit Verführung? überschriebenen Abschnitt weist Genette auf die lockende Funktion von Paratexten hin. So macht er bzgl. eines Buchtitels u.a. „ein gewisses Maß an Dunkelheit und Mehrdeutigkeit“22 als dienlich aus, um die Neugier zum Kauf und zur Lektüre zu wecken ohne sie schon gleich zu stillen. Verführung sei eine von mehreren Funktionen eines Titels, die stets vorhanden, aber nicht immer die dominante ist, und auch nicht zwangsläufig erfolgreich. Hier allerdings interessiert uns für dieses Mal weniger der Titel als vielmehr ein Paratext wie er bei Rost zu finden ist. Ein Paratext, der mit Genettes Terminologie schwer zu systematisieren ist, am ehesten noch könnte er als Motto, Widmung oder als Anmerkung fungieren. Spielen wir diese Möglichkeiten einmal durch: Dass Rosts „Verzeih. / W. C. Williams“ ein Motto darstellt, kann ausgeschlossen werden, schließlich ist ein Motto gemäß der Genette’schen Definition ein Zitat, das vor ein Werk gestellt wird. Die Funktion einer Widmung, also die eine Huldigung implizierende Zueignung, sieht Genette in der „Zurschaustellung einer (wie auch immer gearteten) Beziehung zwischen dem Autor und irgendeiner Person, Gruppe oder Entität. [...] Erwähnt man als Auftakt oder Schlußakt eines Werkes eine Person oder eine Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen“. Dass Williams Rost zu seinem Gedicht inspiriert hat, können wir an-
20 Es gibt meines Wissens keine gesicherten Erkenntnisse über die Provenienz des Williams’schen Gedichts. 21 Genette, Gérard (1989): Paratexte. Frankfurt/M: Campus Verlag, 10. 22 Ebd., 93.
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nehmen, jedoch gibt uns der Text, in Ermangelung eines ‚für‘, keinen Anlass Williams als vorrangigen Adressaten anzunehmen. Insbesondere ist das voranstehende „Verzeih“ eine Bitte und kein Dank. Vor diesem Hintergrund würde sich Genettes Ergänzung, „[d]er Adressat einer Zueignung ist gewissermaßen immer verantwortlich für das ihm zugeeignete Werk“23, geradezu paradox ausnehmen, schließlich bittet Rost Williams um Verzeihung, gerade weil dieser sich von letztem losgemacht hat und sich selbst in der Verantwortung für die Umarbeitung bzw. die Neuversion des Gedichts sieht. Das Feld der Anmerkung ist weit gehalten, sodass unser Beispiel darunterschlüpfen kann. Wenn Genette jedoch deren Funktion z.B. in einer Erklärung, Ergänzung oder Abschweifung von Seiten des Autors sieht, dann erschöpft sich Rosts Paratext auch darin nicht. Jedoch hat er Qualitäten von allen drei Kategorien, von Widmung, Motto und Anmerkung: Ersteres insofern er Williams eine besondere Stellung (die eines Schirmherren oder einer Muse?24) zubilligt. Zweiteres insofern durch die Bitte um Verzeihung die Evokation von Williams Urtext im folgenden Gedichtkörper stets mitschwingt; und von einer Anmerkung in aller Allgemeinheit wäre zu sprechen insofern der Paratext durchaus weiterführende Informationen bietet, wie es für eine Anmerkung nach Genette nötig ist. Er gibt nämlich an, dass Pflaumen in einer Beziehung steht zu Williams This is just to say. Rosts Paratext ist mit Genettes Instrumentarium nicht vollständig zu erfassen, schließlich berücksichtigt dieser nicht die Bitte, mit der das Wort „Verzeih“ am treffendsten beschrieben ist. Eine Bitte, die sich höchstwahrscheinlich an Williams richtet, wenn auch nicht zu vermeiden ist, dass der Leser sich möglicherweise ebenfalls angesprochen fühlt – sprachlogisch jedenfalls wäre diese Annahme durchaus gerechtfertigt. Soviel scheint festzustehen: Rosts Paratext, Williams’ Notiz und Keats’ Hand sind Phänomene, die von einem Existenzmodus in den anderen wechseln, und als solche fordern sie, die scharfe Grenzziehung zwischen Fiktionalität und Faktualität als getrennte Ebenen zu reflektieren. Als ein Beschreibungsvorschlag für diese Dynamik soll der Begriff der Schwelle ins Spiel gebracht werden.25 Paratext, Notiz und Hand
23 Ebd., 133. 24 Vgl. ebd. 25 Auch Genette bringt den Begriff der Schwelle für den Paratext ins Spiel: „Dabei [beim Paratext, J.V] handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle oder – wie es Borges anläßlich eines Vorwortes ausgedrückt hat – um ein ‚Vestibül‘, das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet; um eine ‚unbestimmte Zone‘ [...] zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text)
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als Schwellenphänomene zu betrachten, ermöglicht eine kritische Revision starrer Kategorien der Textanalyse. „Überall dort, wo Konflikte, Widersprüche und Aporien anzutreffen sind, wissen wir, dass wir die hermeneutischen Kategorien, die einen scharfen Gegensatz zwischen Innen und Außen, oder Inklusion und Exklusion voraussetzen, neu definieren müssen“26, so schreiben Borvitz/Ponzi. Dementsprechend definiert das Konzept der Schwelle Realität oder Fiktion nicht mehr als Dichotomien, die durch eine harte Grenze konstituiert werden, sondern vereint diese in sich als Realität und Fiktion. Zwar unterscheidet sie beides, aber sie flicht zugleich auch deren Ununterscheidbarkeit ein. Schwellen sind keiner binären, exkludierenden Logik verpflichtet, sondern sind Phänomene, die Übergänge möglich machen. „Innerhalb der Schwelle beobachten wir eine konstante Verschiebung von einem Zustand zu einem anderen; dennoch ist keiner dieser Zustände je klar fixierbar.“27 Vielmehr ist eine Bewegung der Oszillation zu verzeichnen. Die untersuchten Schwellenphänomene von Rost, Keats und Williams machen die Gedichte zu Räumen, in denen Fiktionalität und Faktualität in ein dynamisches, oszillierendes Verhältnis gebracht werden, ohne dass je eine verlässliche, dauerhafte Stabilisierung zugunsten einer der beiden Pole feststellbar ist. In diesem hybriden Raum, den sie eröffnen, herrschen eigene Gesetze. Es mag sein, dass sich dort Fiktionales als Faktuales darstellt und umgekehrt; es mag sein, dass die Trennlinie zwischen beiden verschoben und brüchig wird oder es gar keine mehr gibt; es mag sein, dass beide einander widersprechen; dass keine Gesetze auszumachen sind, die eine verlässliche Orientierung darüber böten, was denn nun in der Welt, die das Gedicht aufmacht, ‚der Fall ist‘ und eine Einschätzung erlaubte, welchen Aussagen des Gedichts ‚zu trauen‘ sei. Als Schwellen stiften die besprochenen Phänomene zu Verhandlungen über alternative Denkmodelle jenseits solcher gesetzter Dichotomien an. Sie illustrieren das Changieren zwischen Zuständen, ohne je ein Zustand im eigentlichen Sinne zu werden, ohne sich also je zu verfestigen, und dynamisieren so das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität. Bei Rost tut sich durch den vor dem eigentlichen Textkörper stehenden Paratext eine Schwelle auf, durch die der empirische Autor in die geschaffene Welt eintritt und dabei noch eine reale, empirische Person, nämlich Williams, und sogar den Leser mitnimmt – um sodann, sobald das Gedicht anhebt, wieder zurückzugleiten. Ähnliches geschieht bei Williams’ Gedicht, insofern das Gedicht einerseits ein materialisiertes Konstrukt ist, das sichtbar ist in der auf einem berührbaren Tisch liegenden Anthologie, deren Seiten
aufweist“. Genette, Gérard (1989): Paratexte. Frankfurt/M und New York: Campus Verlag, 10. 26 Borvitz, Sieglinde und Ponzi, Mauro (2014): Schwellen. Ansätze für eine neue Theorie des Raums. Düsseldorf: dup, 10. 27 Ebd., 8.
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rascheln, wenn sie umgeblättert werden, und zugleich innerhalb der Diegese ein ‚immaterieller‘ Notizzettel, der in der fiktiven Welt auf einem nur mehr imaginären Tisch liegt. Keats Hand kann man als Schwellenfigur betrachten, insofern sie durch die dichte Beschreibung geradezu dreidimensional wird, die ihr angestammte fiktive Welt verlässt, in die des Lesers eintritt und dort gleichsam ihre körperlichsinnliche Präsenz behauptet. Das Gedicht so schräg von Annemarie Zornack bringt eine andere Figur zur Beschreibung von Räumen auf den Plan: Die Passage. Sie schreibt „der mond / hing so schräg / überm küchentisch / daß ich ihn // versehentlich // als melone / anschnitt“28. Während Schwellen Übergänge darstellen, in denen Räume sich vereinen, ist eine Passage ein eigener Raum, der zwei getrennte Räume, die für sich bestehen bleiben, miteinander verbindet. Sie werden nicht hybridisiert wie bei der Schwelle. Architektonisch betrachtet – wenn wir etwa an das Paris Walter Benjamins denken – ist die Passage eine Ermöglichung, von einer Seite auf die andere zu gelangen. Einen solchen Durchgang von einem Raum zu einem anderen innerhalb der diegetischen Welt eröffnet der Mond bzw. die Melone: Von der Küche, in der das lyrische Ich am Tisch arbeitet, zum Nachthimmel außerhalb des Hauses, der durch das Fenster zu sehen ist, entsteht ein Passagenraum, den das lyrische Ich durchquert. Der räumlichen Konstruktion nach können beide, Küche und Nachthimmel, in keinem Verhältnis des Orts stehen; ihre gemeinsame Form jedoch macht eine Passage von einem Raum zum anderen möglich. Von einer Passage zwischen inner- und außerdiegetischem Raum könnte man in Hofmannsthals Gedicht Der Kaiser von China spricht: von 1897 reden. Der Titel trägt einen Doppelpunkt, der als Ankündigung und Hinweis auf die Sprechsituation fungiert. Der Doppelpunkt, mit dem die Überschrift endet, zeigt Durchgänge zwischen verschiedenen Ebenen an, die nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Im Gegensatz zum Titel ist der Gedichtkörper in der ersten Person Singular gehalten, ein lyrisches Ich spricht von sich selbst. Der chinesische Kaiser stellt seine Macht zur Schau: „In der Mitte aller Dinge / Wohne Ich, der Sohn des Himmels. / Meine Frauen, meine Bäume, / Meine Tiere, meine Teiche / Schließt die erste Mauer ein. [...] Bis ins Herz der Welt hinunter / Dröhnt das Schreiten meiner Hoheit“29 – so beginnt das Gedicht. Zahlreiche Pronomina wie „Ich“, „Mein“ und „Mich“ werden verwendet, um die Größe seiner Macht und seines Besitztums kenntlich zu machen. Wer ist das ‚Ich‘? Und wer spricht die Ankündigung? Handelt es sich um
28 Zornack, Annemarie (1999): Strömungsgefahr. Düsseldorf: Eremiten-Presse, 205 (Kursivsetzung des Titels im Original). 29 Hofmannsthal, Hugo von (1963): Gesammelte Werke. Gedichte und Lyrische Dramen. Hg. von Steiner, Herbert. Frankfurt/M: Fischer, 32f.
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den Autor Hofmannsthal? Um einen fiktiven Sprecher? Um den realen Kaiser von China? Da wir wissen, dass Hofmannsthal und der chinesische Kaiser nicht identisch sind, kommt dieser nicht als lyrisches Ich in Frage, höchstens als derjenige, der dessen Rede ankündigt. Ob es sich bei dem lyrischen Ich jedoch um einen fiktiven Sprecher handelt oder den tatsächlichen, in unserer historischen Wirklichkeit existierenden chinesischen Kaiser, ist auf der Grundlage des Textes nicht zu beantworten. Wegen der durch den Doppelpunkt angezeigten direkten Rede öffnen sich mindestens zwei Räume: Zum einen fungieren Doppelpunkt, Präsens und erste Person Singular („In der Mitte aller Dinge/ Wohne Ich, der Sohn des Himmels“) als Marker für die Faktualität des Geschehens, d.h. dafür, dass der Sprecher des Gedichts der Kaiser von China ist. In diesem Sinne öffnet der Doppelpunkt eine Passage zur (wenn auch historischen) Realität. Doch nicht nur zur Realität. Zum anderen öffnet sich auch ein Durchgang in den fiktionalen Raum, insofern der Doppelpunkt als Hinweis auf ein Rollenspiel fungiert. So gliche der Titel samt Doppelpunkt einer Regieanweisung und wäre als solches ein Zeichen für eine fiktive Figur, die dort spricht. Für diese Annahme spricht, dass das, was der Kaiser von China sagt, verschriftlicht ist und nicht mündlich vorgetragen, selbst wenn es sich um die Niederschrift einer historischen Rede von ihm handelt. Der Kaiser von China spricht also, entgegen der Ankündigung, nicht im Hier und Jetzt in Person, obwohl dies behauptet wird. Ob es sich um die Abschrift einer tatsächlichen Rede eines Kaisers von China handelt oder um die Rede einer fiktiven Gestalt, die als solcher bezeichnet wird, das ist auf Grundlage des Textes also nicht mit Sicherheit entscheidbar, sofern wir die Worte ernst nehmen, die es zu lesen gibt.
Um den hybriden Raum zu kennzeichnen, sind die bisher betrachteten Denkfiguren der Schwelle und Passage, zumal im literaturtheoretischen Diskurs, als letztes um das Phänomen der Metalepse zu erweitern. Die Metalepse zeichnet sich aus durch die Überschreitung von Diegesegrenzen, wie sie sich kaum je im Roman vollzieht, jedoch noch viel seltener in der Lyrik. Vertraute, jedoch deswegen nicht minder effektvolle Metalepsen aus der Prosa kennen wir aus Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, der mit den Worten anhebt: „Du schickst dich an, den neuen Roman ‚Wenn ein Reisender in einer Winternacht‘ von Italo Calvino zu lesen.“30 Hier werden der Autor Italo Calvino und der Leser explizit angesprochen und in die Diegese, über die Grenze von Fiktionalität und Faktualität hinweg, einbezogen. Ein anderes Beispiel stammt von Jürgen Becker, der in Die folgenden Seiten. Journalgeschichten schreibt:
30 Calvino, Italo (1983): Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München: Carl Hanser, 7.
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„Draußen im Garten gibt es übrigens immer etwas zu tun. Der Erzähler sollte das wissen, wenn er mich so fragend anschaut. Er denkt nach über die Zeit, die jetzt kommt und in der alles hier zu Ende geht. Er sagt, was soll ich tun, ich bin dann ja arbeitslos. Ich sage, so oft ist er hier ja nun nicht beschäftigt worden, eher Teilzeit, Aushilfe und so. Dennoch, er macht sich Sorgen, und ich kann ihm auch nicht sagen, wie es weitergeht. Er schaut hinaus in den Garten; ich sage, er kann hierbleiben oder auf die Seite zweihundert mit hinüberwechseln.“31
Becker zieht hier nicht den Leser in die Diegese hinein, sondern eröffnet eine weitere Erzählebene. Eine Instanz, vermutlich er selbst, die Person Jürgen Becker, unterhält sich mit dem Erzähler und gibt ihm zu verstehen, dass er möglicherweise nicht mehr gebraucht wird, wenn sich auch die Frage stellt, wer dann an seine Stelle tritt. Eine weniger komische als vielmehr für die Person des Lesers höchst beunruhigende metaleptische Erzählkonstruktion stammt aus der Feder Julio Cortázars. Die Kurzgeschichte Park ohne Ende erzählt das Schicksal eines Mannes, der von einer Person des Romans ermordet wird, den er gerade liest. Metalepsen brauchen gemäß der herkömmlichen Theoriebildung per definitionem zwei strikt voneinander getrennte Ebenen, Fiktionalität und Faktualität. Dementsprechend weisen sie auf die Existenz getrennter, essentieller Bereiche auf beiden Seiten der Grenze hin, wie etwa Genette dies tut. Die Tatsache, dass sie in der Lyrik rar sind, ist freilich den Eigenheiten der Gattung geschuldet, die ihr aufgrund ihrer tendenziellen Kürze nur selten erlauben, über Längen narrativ zu verfahren und eine Handlung auszubreiten, Personen und Rollen zu entwickeln und eine fiktive Welt zu formen. Dabei ist die Trennung zwischen Realität und Fiktionalität Voraussetzung für eine Metalepse, genauer gesagt, für die Verschachtelung von Erzählebenen, die Problematisierung des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit und für die Perturbation von Diegesegrenzen, aus der diese Figur resultieren kann. Nichtdestotrotz können wir auch hier vereinzelte Beispiele finden, die eine Vermischung von Textebenen vorführen. So etwa in Kirschs Juninovember:
1
Die Nacht als der Regen auf das Gedicht fiel es Aufaß
5 Vergehen Tage vergehen
31 Becker, Jürgen (2006): Die folgenden Seiten. Journalgeschichten. Frankfurt/M: Suhrkamp, 199.
248 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Nächte sie läuft im Mondlicht Zwischen Himmel und Erde
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Weniger als mit einer Passage oder einer Schwelle haben wir es hier mit einem harten, metaleptischen Bruch zwischen der Welt des Gedichts und der Welt, in der das Gedicht existiert, zu tun. Der Titel montiert zwei Monate und zwei Jahreszeiten in einem Neologismus zusammen, die kaum weiter voneinander entfernt sein könnten. Mindestens zwei Lesarten sind im Text angelegt. Der ersten nach thematisiert das Gedicht den Sachverhalt, dass ein Gedicht durch den innerdiegetischen, auf es fallenden nächtlichen Regen aufgeweicht wird. Der zweiten Lektüremöglichkeit nach lenkt der Text den Fokus auf seinen Status als Artefakt. So läge eine selbstreflexive Wendung vor, in der das Gedicht, welches die fiktive Welt instauriert, zugleich Objekt innerhalb unserer realen Welt ist. Demnach wäre das Gedicht, welches vor uns liegt, sichtbar in Kirschs Lyrikanthologie auf Seite 412, dasjenige, auf das es geregnet hat. Dies ist nicht geschehen, zumindest nicht in der Ausgabe der Kölner Universitätsbibliothek, die vor mir liegt, und nichtsdestotrotz vermag der Text es, einige Verse lang die Grenze einer geschlossenen fiktiven Welt aufzubrechen und zu überschreiten, indem die Künstlichkeit, das Gemacht-Sein des Gedichts ausgestellt wird. In diesem Sinne vollzieht sich eine metaleptische Bewegung in Kirschs Gedicht. Die Verschachtelung von der diegetischen und der extradiegetischen Ebene ist undurchsichtig; es stellt sich die Frage, ob von einer Ebene außerhalb des Textes überhaupt noch zu reden ist. Das Lustvolle, aber auch Beunruhigende an einer Metalepse „liegt sicherlich in dieser inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d.h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören“33. Wir haben bis hierher verschiedene Denkfiguren bzw. Perspektivierungen – die Schwelle, die Passage, die Metalepse – gebraucht, um lyrische Phänomene – die Hand, den Paratext, das Gedicht als Notiz – zu beschreiben, die den hybriden, an Diegesegrenzen uninteressierten Raum genauer kennzeichnen. Sie sind Akteure, die
32 Kirsch, Sarah (2005): Sämtliche Gedichte. München: DVA, 412. 33 Genette, Gérard (1998): Die Erzählung. München: Fink, 169. In einem Interview sagt Durs Grünbein, Lyrik sei für die Meisten so schwierig, weil sie nicht sicher sein könnten, ob diese sich überhaupt an sie wendet. Dass sie das tut – wie Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos zu denken nahe legt – erweist sich als nicht weniger beunruhigend. (Grünbein, Durs / Böttiger, Helmut (2002): Benn schmort in der Hölle. Ein Gespräch über dialogische und monologische Lyrik. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.) text + kritik. Durs Grünbein. Heft 153, Januar 2002. München: Ed. text + kritik, 72-84, hier 72.)
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an der Produktion der Beziehung von Realität und Fiktion beteiligt sind – ein Verhältnis, das in der Lyrik eines der Oszillation ist. Es gilt nun, die Praxen weiterer solcher Akteure zu untersuchen.
D AS
LYRISCHE
P RÄSENS
Wegen der Eigenschaft von Lyrik, nicht nur bzw. sogar tendenziell weniger mimetisch und repräsentational denn performativ zu funktionieren, zählen zu solchen Operationen auch spezifische Tempusstrukturen. Gemeint ist die Tatsache, dass ein Gedicht ein Ereignis ist anstatt dass es nur eines beschreibt. So ist etwa „I sing of brooks, of blossoms, birds and bowers“ (Herrick) ein Performativ im Sinne J. L. Austins, d.h. mit den Äußerungen werden Handlungen vollzogen, das Gesagte wird im Moment des Sagens und durch das Sagen realisiert.34 Aber auch im erweiterten Sinne, über ein eigentliches Performativ im Austinschen Sinne hinaus, spricht Jonathan Culler der Literatur eine „general performativity“ zu, d.h. „the bringing into being for literary purposes of characters and situations that did not previously exist“ 35 . Diese Fähigkeit führt er v.a. auf ein Tempus zurück, über das die englische Sprache verfügt: Im simple present oder non-progressive present, z.B. in „I wander through each chartered street“ (Blake) oder „I wake and feel the fell of dark, not day“ (Hopkins), sieht Culler ein distinktes Merkmal für einen lyrischen Text, denn im ‚gewöhnlichen‘ Sprachgebrauch müsse progressive present tense stehen (‚I am wandering‘). So stellt Culler fest:
34 Vgl. Austin, John L. (2010): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam, sowie darin: Savigny, Eike von (2010): J. L. Austins Theorie der Sprechakte, 10f. 35 Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press, 127. Ebenso wie ich ist auch Culler, Autor der aktuellsten mir bekannten Lyriktheorie, die aus dem historischen Blickwinkel Gattungsspezifika aufzeigen will, überzeugt, dass Lyrik die Fähigkeit hat, „to entice readers“ (Ebd., viii (Preface); vgl. auch 352). Es gilt, „to explore [...] the different sorts of seductive effects that lyric may achieve“ (viii). Auch wenn die Figur der Verführung selbst nicht weiter bei Culler thematisiert wird, so steht diese Überzeugung doch hinter seinem Interesse, das das Gleiche ist wie meins: Charakteristika von Lyrik aufzuspüren, die „a system of possibilities“ konstituieren (6), wenn auch meine Studie auf das spezifisch verführerische Potential von Lyrik fokussiert. Weitere aktuelle bzw. einflussreiche Lyriktheorien stammen von Rüdiger Zymner (2009/2013), Klaus Hempfer (2014), Eva Müller-Zettelmann (2000) sowie nach wie vor von Dieter Burdorf (1995, Neuauflage 2015) und Dieter Lamping (1993). Relevante Sammelbände stammen insbesondere von Müller-Zettelmann (2005) und Völkel (2000).
250 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK „Blake’s ‚I wander through each chartered street’ does seem to have something of that [performative, J.V.] quality, of implying that through the poem I am making this a discursive event. There may be hints of performativity in a range of lyric presents.“
36
Er fragt weiter, „might [...] it be the case that the sort of wandering at issue here, different from ‚I am wandering‘ can be conceived as that which I do through this poem? Does ‚I wake and feel the fell of dark, not day‘ not imply something like ‚I hereby feel the fell of dark‘ by virtue of this incantation or articulation?”
37
Solche verschiedenen Präsensformen existieren im Deutschen nicht, doch lässt sich festhalten, dass der Gebrauch des Präsens, unabhängig von der Landessprache, überhaupt ein charakteristisches, wenn freilich auch kein distinktes Merkmal von Lyrik darstellt, während es relativ selten in der Epik auftritt. Doch auch in Gedichten gilt: „Erzählen ist Erzählen von Vergangenem. Erzähler berichten [...] von Ereignissen, die vor dem Erzählakt stattgefunden haben. So ist die Vergangenheitsform das sprachlogische Tempus der Narration.“38 So argumentiert stellt das Präsens mithin eine sprachlogisch unmögliche Situation dar angesichts der Medialität, also der schriftlichen Verfasstheit von Gedichten. Erzähllogisch wäre also schon das Präsens ein Anzeichen für die Fiktionalität des Geschriebenen. Umso paradoxer ist sein Effekt, den man als Wahrheitskonstituierend oder Realitätsinstaurierend bezeichnen könnte.39 Es entsteht die Illusion, dass Erleben und Erzählen bzw. Niederschrift zugleich stattfinden. Verbformen im Indikativ Präsens in der Lyrik haben den Effekt, das, wovon sie sprechen, zweifellos zu konstatieren oder gar zu instaurieren. Sie suggerieren Zuverlässigkeit dahingehend, dass die Aussagen innerhalb der diegetischen Welt unzweifelhaft wahr sind. So in dem folgenden namenlosen Gedicht des zeitgenössischen Dichters Jürgen Becker:
36 Culler, Jonathan (2014): The Language of Lyric. In: Thinking Verse. Vol. IV, issue I, 160-176, hier 169. 37 Ebd. 38 Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Berlin: Erich Schmidt, 159. 39 Dazu wird Latour sagen: „Nichts geht ihnen [den fiktionalen Werken, J.V.] voraus, weil sie, wie die Redewendung lautet, ‚ausgehend von nichts‘ alles existieren lassen können. Ein Schild auf der Bühne ‚Hier fängt Asien an‘ – und schon fängt Asien an... Eine komische Weise, Existenz zu machen.“ (Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. 349f. Hervorhebung im Original)
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Mittwochs sind die Brombeeren reif
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Früh schiebt
der Wind Kornfelder hinab durch die Ebene rollen 5
die Morgenlinien grüner Straßenbahnen Angestellte joggen zwischen Erdbeeren am Zubringer schieben Arbeiter den alten VW-Bus ins Brennnesselfeld
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Schwalben
umfliegen die Überlandleitung im Wechsel mit Schloten und Pappelreihen
Der rote Traktor
biegt vor der Schranke ab in den Feldweg fürs Mittelgebirge 15
gehustet
Abgas
Nachts haben die Kühe wieder
Ping Pong haben die Bauernjungen gespielt40
„[D]urch die Ebene / rollen / die Morgenlinien grüner Angestellte / joggen / zwischen Erdbeeren am Zubringer“ – hier wird ein Setting mit Angaben über Raum, Zeit und beteiligte Akteure konstatiert, das anzuzweifeln es keinen Grund gibt. Mit wenigen Worten entsteht eine Welt, die qua ihrer Postulierung ‚wahr‘ ist. Daran ändert nicht einmal die ungewöhnliche Form des Gedichts etwas, wie sie charakteristisch ist für die Texte der Reihe Sommerfilm aus der Sammlung Odenthals Küste. Der Verzicht auf Interpunktion und die Lücken zwischen Worten und Versen, die durch deren scheinbar zufällige Anordnung entsteht, produzieren Enjambements mit dem Effekt, dass ein Satzglied zugleich das Ende eines Verses und der Anfang eines neuen sein kann. So ist auf der Grundlage des Textes nicht zu entscheiden, ob es heißt: „Früh schiebt der Wind Kornfelder hinab durch die Ebene“ oder „[H]inab durch die Ebene rollen die Morgenlinien grüner Straßenbahnen“; ob es heißt „Angestellte joggen zwischen Erdbeeren am Zubringer“ oder „[Z]wischen Erdbeeren am Zubringer schieben Arbeiter den alten VW-Bus ins Brennnesselfeld“. Die blank spaces, die Zeilenbrüche und (fehlenden) Satzzeichen perturbieren eine eindeutige Semantik und eröffnen mehrere, gleichberechtigte Bedeutungsmöglichkeiten. Die Materialität des Textes betont die Disparität des Geschehens (eine Straßenbahn fährt; Brombeeren sind reif; Kühe haben gehustet), die gleichwohl nicht an Banalität entbehrt. Die Verse wirken wie rasch notierte Bilder eines Kaleidoskops, aus dem einige Eindrücke herausgegriffen und für einen Moment still- und nebeneinandergestellt sind. Mit ihrer unaufgeregten, unaufdringlichen, aber feinen und exakten
40 Becker, Jürgen (1986): Odenthals Küste. Frankfurt/M: Suhrkamp, 70.
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Sprache steht das Gedicht programmatisch für das Werk Beckers. Bis auf den letzten Vers ist es durchgängig im Präsens gehalten. „Angestellte joggen“: Meint das Präsens des Gedichts den Zeitpunkt des Diskurses, betont es die Regelmäßigkeit des Geschehens – denn die Angestellten joggen nicht nur jetzt, sondern sie tun es öfters, vielleicht ‚gewöhnlich‘ oder immer dann, wenn die Sonne scheint –, oder das ‚Jetzt‘ des Lesers, der es mit jeder Rezitation aktualisiert? Letzteres geschieht durch eine Verknüpfung der beschriebenen Zeit bzw. der Zeit des Sprechers mit der des Lesers. In dem Moment, in dem dieser ein Verb im Präsens rezitiert, vollzieht sich eine Verschiebung der Zeit von der des Diskurses hin zu der des Lesers, der die Rolle des lyrischen Ichs einnimmt. Damit entsteht die seltsame Situation, dass die Zeit des Äußerungsakts zugleich sowohl die des Diskurses bzw. des lyrischen Ichs als auch die des Rezipienten ist. Mittels des Präsens wird das Geschehen nicht nur aktualisiert, es wird ereignishaft. Ähnliches geschieht, wenn Ortsangaben wie ‚hier‘, ‚dahinten‘ o.ä. auftreten oder Zeitangaben wie ‚jetzt‘ und ‚heute‘. In der Rezeption entsteht ein Amalgam von eigentlich unvereinbaren Zeit- und Räumlichkeiten: Der des Schreibens und der des Lesens. So etwa in Beckers Gartenbild: „Den Ball hat mein Enkel / in die Regentonne geworfen. Danach / ist der Regen gekommen; stundenlang / hat es nur so geprasselt. Jetzt / ist die Regentonne randvoll, und / auf der Wasserfläche schwimmt der Ball.“ Worauf bezieht sich das „Jetzt“? Bezöge es sich auf die Situation des Autors, so wäre es Teil einer Wirklichkeitsaussage und zum Zeitpunkt der Rezeption immer schon vergangen; bezöge es sich auf den Leser, dann würde es in jedem Leseakt neu aktualisiert; bezöge es sich auf die Zeit des Sprechers, die auch die Zeit des Diskurses ist, dann stünde es außerhalb der realen Zeit, ist unabhängig von ihr. Es ist ein Tempus, das iterativ-präsentistisch, evokativ und dadurch in gewisser Weise zeitlos ist.41 Nimmt man die Gegenständlichkeit des Textes ernst, so hat er eine von seinem Verursacher (Autor) und seinem Leser losgelöste Existenz und damit auch eine der poetischen Welt immanente, eigene Temporalität. Im Unterschied zu einem Zeitungsartikel stehen Zeitangaben in poetischen Texten außerhalb der realen Zeit, sie vergehen nicht, sind der Vergänglichkeit enthoben. Das zeigt sich daran, dass die Aussage „Jetzt ist die Regentonne randvoll“ nicht falsch wird, nur weil es kein Äquivalent in der Realität gibt, sprich eine in diesem Moment volle Regentonne. Die Richtigkeit poetischer Aussagen lässt sich nicht anhand der Wirklichkeit überprüfen; diese ist für sie irrelevant. Lyrik hat die Fähigkeit zur Evokation von Welten und wenn sie diese nutzt, so geschieht das mit einer verblüffenden Autorität und
41 Vgl. zu diesem Aspekt Culler, Jonathan (2014): The Language of Lyric. In: Thinking Verse. Vol. IV, issue I, 160-176, hier 175f.
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Souveränität, die keiner Ergänzung oder Beweisführung bedarf.42 Culler bekräftigt, das lyrische Präsens „is [...] offering a particulary rich sense of time, of the impossible nows in which we, reading, repeat these lyric structures. It contributes to the sense of lyric as an event, not the fictional representation of an utterance nor as the projection of a fictional world, but an event that occurs in our world, as we repeat these lines.”43
Culler hält „the lyric present“ für ein gattungsdistinktives Merkmal, an dem sich die Spannung zeige zwischen fiktionalen und ritualistischen Elementen, die er für nicht-fiktional hält. Weniger als kleine Geschichten mit fiktiven Figuren seien Gedichte vielmehr wie „pop songs whose lyrics people learn by heart and repeat to themselves, and allow to structure their experience.“44 Ich stimme nicht überein, dass fiktionale Elemente keine ritualistischen Qualitäten haben können bzw. dass ritualistische Elemente wie Rhythmus, Klang, Melodie per se nicht-fiktional sind, jedoch bin auch ich auch der Meinung, dass beide Dimensionen in einer Beziehung stehen, und zwar genauer gesagt in einer des Oszillierens.45 In Gedichten gehen Prozesse vonstatten, die ihnen fiktionale und nicht-fiktionale, performative und repräsentative Qualitäten verleihen können, d.h. dass innerhalb der vielfältigen Prozesse, die ein Gedicht konstituieren, ‚ontologische Stabilisierungen‘ entstehen, die durch sprachliche Operationen hervorgerufen werden. Aussagen wie „Ich bin ein
42 Coleridge bezeichnet eine solche Haltung als poetic faith (Coleridge, Samuel Taylor (2009): Biographia Literaria. Auckland: The Floating Press, 239). Allerdings sieht diese Suspension of disbelief eine willentliche Bereitschaft vor, sich auf die Diegese einzulassen. Mich interessieren dagegen die Momente, in denen der Leser nicht mehr die Kontrolle darüber hat, dies bewusst zu entscheiden, sobald er begonnen hat, zu lesen. Plötzlich findet man sich, um mit Latour zu sprechen, in einer Ontologie wieder – und so geht es im Übrigen nicht nur dem Leser, der zu einem ‚diegetischen Wesen‘ wird, sondern auch Francesca, Mélitte, dem von den Pflaumen verführten lyrischen Ich usw. – ohne, dass man die Kontrolle hatte, zu entscheiden, ob man dorthin möchte, noch bemerkt hatte, wie dies geschieht. D.h. dass die Verführung aus dieser Perspektive nachträglichen Ereignischarakter hat. 43 Culler, Jonathan (2014): The Language of Lyric. In: Thinking Verse. Vol. IV, issue I, 160-176, hier 174. 44 Ebd., 176. 45 Wenn Culler unter die Rubrik der ritualistischen Elemente auch Anredestrukturen fasst, so werden die Kriterien dieser Einteilung nicht klar und wird die Unterscheidung in fiktionale und nicht-fiktionale Elemente diskussionswürdig (siehe Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press, 8).
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Tiger im Regen“ sind beschreibbar als eine solche temporäre fiktionale Verdichtung. Da das lyrische Ich (bzw. der rezitierende Leser, der als solches fungiert) kein sprechender Tiger sein kann, können wir auf die Fiktionalität des Gedichts schließen. Und doch wird diese Feststellung sogleich prekär, denn es lockt die andere, die faktuale Seite: Sprachlogisch ist nämlich in dem Moment, in dem „Ich“ gesagt wird, dieses Ich der Urheber seines Satzes. So wäre der Leser also doch ein „Tiger im Regen“. Eine solche uneindeutige Konstellation ist, negativ formuliert, eine Aporie; sie ist aber ebenso, positiv-emphatisch betrachtet, eine Verführung.
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SPRICHT ?
„Die Diskussion über die Fiktionalität von lyrischen Texten gehört zu den ältesten Kontroversen der Literaturtheorie“46, weiß Frank Zipfel, der sich in seiner Studie zu Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität jedoch hauptsächlich, und für die Forschungslage bezeichnend, mit Erzähltexten und nur auf sechs von mehreren Hundert Seiten mit Lyrik beschäftigt. Um die Bandbreite der Positionen zu skizzieren, die sich in der lyriktheoretischen Reflexion herausgebildet haben, seien zwei Extrempositionen genannt: Auf der einen Seite die Annahme, Lyrik sei nicht fiktional. Diese speist sich v.a. durch das romantische Modell, nach dem ein Gedicht der Ausdruck subjektiver Erfahrung sei. Großen Anteil daran hat das in der Lyrik dominante Liebesmotiv. Hier fällt es besonders leicht, die emotionale Intensität der Verse darauf zurückzuführen, dass der Autor die Zeilen schreibt – oder diese sogar nur zu schreiben vermag, weil er sich in dem beschriebenen Zustand befindet, also verliebt ist, Sehnsucht oder Liebeskummer hat, und seine Zeilen ‚Herzensergüsse‘ sind. Die bekannteste theoretische Konturierung der These von der NichtFiktionalität von Lyrik stammt von Käte Hamburger. Sie postuliert, „Aussage ist immer Wirklichkeitsaussage, weil das Aussagesubjekt wirklich ist, weil, mit anderen Worten, Aussage nur durch ein reales, echtes Aussagesubjekt konstituiert wird“47. Ihre logische Schlussfolgerung ist, dass Lyrik, im Gegensatz zu den anderen literarischen Gattungen, nicht fiktional sei – eine Einschätzung, die von der Forschung als problematisch erachtet wird insofern in ihrer Konstruktion entscheidende Ungenauigkeiten ausgemacht werden können. Wie ist schlüssig zu begründen, dass in manchen Gedichten Nicht-Reales dargestellt wird? Das Beispiel der Rollengedichte, an deren Textstruktur eine Trennung von Autor und Sprecher so-
46 Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 299. 47 Hamburger, Käte (1977): Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Klett-Cotta, 45.
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fort ersichtlich und unbestreitbar ist, pflegt Hamburger als Sonderform in ihre Argumentation ein. Dagegen spricht jedoch die schiere Anzahl solcher ‚Sonderformen‘, die unleugbar macht, dass die Darstellung nicht-realer Sachverhalte gängige Praxis in der Lyrik ist – weswegen die Forschung Hamburgers Theorie kritisch betrachtet.48 In Hamburgers Richtung geht nichtsdestotrotz, auf Seiten der lyrischen Praxis, die poetologische Aussage Gottfried Benns: „[E]in Gedicht wird gemacht.“49 Das lyrische Ich stellt für ihn keine Textinstanz dar, sondern „die Inkarnation alles dessen, was an lyrischem Fluidum in dem Gedichte produzierenden Autor lebt“50. Etwas früher als Benn kam jedoch mit dem Konzept des lyrischen Ichs durch Margarete Susmann von 1910 und der postulierten Trennung von empirischem Autor und Sprecher des Gedichts eine gegensätzliche Position auf. Sie betont, dass das lyrische Ich „kein gegebenes, sondern ein erschaffenes Ich“51 sei, das vom realempirischen Dichter unterschieden werden muss. Seitdem halten sich auf der anderen Seite Konzeptionen, nach denen lyrische Texte stets fiktional seien. Zipfel macht hier bei einem Großteil der sich mit der Frage nach der Fiktionalität von Literatur im Allgemeinen beschäftigenden Autoren die Tendenz aus, dies implizit vorauszusetzen, ohne ausdrückliche Begründung.52
48 Vgl. etwa Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 300f. 49 Benn, Gottfried (2000): Probleme der Lyrik. In: Lyriktheorie. Hg. von Völker, Ludwig. Stuttgart: Reclam, 359. 50 Benn, Gottfried (2001): Sämtliche Werke. Prosa Bd. 4. Hg. von Benn, Ilse et al. Stuttgart: Klett-Cotta, 441. 51 Susman, Margarete (1910): Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart: Strecker & Schröder, 18. 52 Als einer der Wenigen, die explizite Argumente für die Fiktionalität von Lyrik geben, führt Zipfel Monroe Beardsley an. Dieser verweist unter Bezug auf ein Sonett von Gerard Manley Hopkins auf die grundsätzliche Dissoziation von Autor und Sprecher: „Even if it is true, and we know it to be true, that the sentiments of this speaker and the sentiments of Hopkins coincide in certain respects – which is what we learn from studying the extant documents of Hopkin’s life and comparing them with his poem – this will not, by itself, permit us to identify the speaker with the author. They remain two, not one – comparable, and perhaps in some respects contrastable, but distinct. I want to argue that to regard them as the same person would lead to absurd and unacceptable consequences.“ (Beardsley, Monroe C. (1981): Fiction as representation. In: Synthese 46, 291-313, hier 302. Hervorhebung im Original) Weiter führt er aus, dass „the presence of formal features is a criterion of fictionality (Ebd., 304). Die Gedichtform also fungiert als Fiktionsindiz; die Begründung für das Kriterium bleibt allerdings im Dunkeln.
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Die meisten Auseinandersetzungen über die Frage nach der Fiktionalität oder Faktualität von Lyrik teilen den Wunsch, grundsätzliche und pauschale Aussagen über den ontologischen Status treffen zu können, was darauf zurückzuführen ist, dass über dieses Kriterium eine Annäherung an jene große, die Lyriktheorie nach wie vor umtreibende Frage ‚Was ist Lyrik (im Gegensatz zu Prosa)?‘ erhofft wird. Zipfel bildet eine Ausnahme, wenn er nüchtern zusammenfasst, Gedichte könnten, wie andere Sachverhaltsdarstellungen, sowohl fiktional als auch nicht-fiktional sein.53 In der Beschäftigung mit Lyrik hat sich erstere Auffassung, nach der Lyrik fiktional sei, durchgesetzt – das zeigt sich etwa an der allgemein akzeptierten, wenn auch in letzter Zeit nicht unkritischen Verwendung des lyrischen Ichs als fiktive Figur eines Gedichts. Wolfgang Müller weist allerdings darauf hin, „dass die Beziehung zwischen Autor und Werk in der Lyrik im Allgemeinen enger und intensiver ist als in der Erzählkunst oder dem Drama“54, so wichtig die Trennung beider Instanzen auch sei; und hält außerdem für denkbar, dass die Position des lyrischen Ichs auch mit dem Leser besetzt werden könne.55 Woran liegt es also, dass obwohl die Trennung von Sprecher und empirischem Autor prinzipiell unstrittig und fest etabliert ist – immer wieder aufs Neue auffallend viele Gedichtbeispiele dazu verleiten, ihre fiktionale Verfasstheit, zumindest für die Zeit des Lesens oder sogar nur für die Dauer eines Verses, in Frage zu stellen?
53 Vgl. Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 304. 54 Müller, Wolfgang (2011): Das lyrische Ich. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Stuttgart: Metzler, 56-58, hier 56. Weiterführend zur Figur des lyrischen Ichs, das neuerdings auch als ‚poetisches Ich‘ oder ‚Textsubjekt‘ konzeptioniert wird, u.a.: Susman, Margarete (1910): Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart: Strecker & Schröder; Charpa, Ulrich (1985): Das poetische Ich – persona per quam. In: Poetica 17. München. 149-169; Winko, Simone und Borkowski, Jan (2011): Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff ‚lyrisches Ich‘ und zu seinen Ersetzungsvorschlägen. In: Bleumer, Hartmut et al. (Hg.): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin: De Gruyter, 43-77; Martínez, Matías (2002): Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs. In: Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart: Metzler, 276-389; Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler, 194ff. Booth, Wayne C. (2000): Der implizite Autor. In: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam. 55 Ein Vertreter dieser Position ist etwa Lehnert, Herbert (1966): Struktur und Sprachmagie. Stuttgart: Kohlhammer.
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Das vorliegende Kapitel in dieser Studie plädiert dafür, von verallgemeinernden Aussagen abzusehen, und stattdessen von Gedicht zu Gedicht und gar von Vers zu Vers zu beobachten, in welchem ontologischen Raum eine Stabilisierung produziert wird. Konsequenterweise gilt es, anzuerkennen, dass gerade das Changieren zwischen beiden Polen eine konstitutive und verführerische Qualität von Lyrik ist. Mein Interesse ist also nicht, über die ‚Klärung‘ des ontologischen Status von Gedichten eine Antwort auf die große, die Lyriktheorie nach wie vor umtreibende Frage ‚Was ist ein Gedicht?‘ zu finden mit dem Ziel, eine valide Gattungsbestimmung in Abgrenzung zu Prosa und Drama zu leisten. Ich gehe vielmehr hinter dieses Anliegen der Lyriktheorie zurück und frage, wie und wodurch dieses ontologische Oszillieren samt seiner kurzzeitigen Stabilisierungen überhaupt erst hervorgerufen wird, welches dann Theoretikern wie Hamburger, Beardsley, Culler u.a. erlauben, essentialistische Aussagen über die Fiktionalität oder Faktualität von Gedichten zu treffen.
„D ER F ISCHER SANG DIES L IEDCHEN , / A LS OB ICH ' S SELBER WÄR '“ – B RENTANOS ‚L YRISCHES I CH ‘ Im ersten Teil dieser Studie war auf die Figur der Loreley als eine der bekanntesten weiblichen Verführerinnen hingewiesen worden (vgl. dazu ausführlicher das Kapitel Positionalität – Relationalität) Neben Heine und Eichendorff ist es v.a. Clemens Brentano, der mit seinem Gedicht Auf dem Rhein zur Popularität der Figur beiträgt. „Ein Fischer saß im Kahne, / Ihm war das Herz so schwer“56 – mit diesen Worten beginnt das Gedicht, in dem wir eine auffällige Personenkonstellation bzw. Sprechersituation vorfinden: Zunächst ist ein in das Geschehen nicht involvierter Sprecher festzustellen, der berichtet, wie einem trauernden Fischer die verstorbene Frau des Nachts auf dem Rhein erscheint. Sie schwebt zu ihm in seinen Kahn, der zuerst ruhig auf dem Wasser liegt, dann immer schneller im Wind treibt. Bis hierher sind die Figuren eindeutig benannt: Der Fischer aus dem ersten Vers, der im Laufe des Textes auch als ‚Knab‘ oder mit dem Personalpronomen ‚Er‘ bezeichnet wird, trifft auf seine verstorbene Geliebte, von der als ‚Feinsliebchen‘, ‚Mägdlein‘ oder ‚sie‘ gesprochen wird. Im Morgengrauen beobachtet der Fischerknabe, wie seine Geliebte immer blasser und schläfriger wird bis sie schließlich verschwunden ist. Daraufhin hört der Fischer auf zu Rudern und treibt weiter in die Strömung hinein. „Der Knabe liegt im Kahne / Läßt alles Rudern sein“ (Hervorhebung J.V.) heißt es in selbigem Gedicht noch im drittletzten Abschnitt. Dessen nächste Zeile lautet: „Ich
56 Brentano, Clemens (2007): Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Bohnenkamp, Anne et al. Bd. 1, Gedichte 1784-1801, 142f.
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schwamm im Meeresschiffe /Aus fremder Welt einher, / Und dacht' an Lieb und Leben, / Und sehnte mich so sehr. // Ein Schwälblein flog vorüber, / Der Kahn schwamm still einher, / Der Fischer sang dies Liedchen, / Als ob ich's selber wär'“57 (alle Hervorhebungen J.V.). Was hat es mit diesem abrupten Sprecher- und Perspektivwechsel auf sich? Waren zuvor noch eindeutige Akteure und Positionen auszumachen, so taucht unvermittelt in der vorletzten Strophe ein „Ich“ auf, von dem nicht erklärt wird, um wen es sich handelt. Ist es der Fischer, der durch einen Sprecherwechsel nicht mehr bloß durch ein lyrisches Ich beobachtet wird, wie es bis zu dieser Strophe der Fall war, sondern nun selbst zum lyrischen Ich wird? Handelt es sich um eine zweite Figur, die an dieser Stelle der Handlung ins Spiel gebracht wird? Dies scheint plausibel, weil es heißt, dass das „Ich“ „Aus fremder Welt einher“ schwebt – doch wieso sehnt es sich ebenso sehr nach Feinsliebchen wie der Fischer es tut? Handelt es sich um den empirischen Autor Brentano, der sich zu einer Figur dieser Handlung stilisiert, sich also selbst in sie einschreibt? In letzterem Fall läge eine metaleptische Bewegung vor von der extradiegetischen, faktualen Realität in den fiktionalen Text hinein. Brentano wäre somit eine empirisch-reale und fiktive Figur zugleich, die es vermag, ontologische Ebenen zu durchqueren. Auf dem Rhein löst die Frage der Sprechersituation nicht auf. Ganz im Gegenteil – in der letzten Strophe wird sie noch verkompliziert, wenn es heißt „Der Fischer sang dies Liedchen, / Als ob ich’s selber wär’. Die Formulierung „Als ob ich’s selber wär“ entlarvt dank des „Als ob“ samt Konjunktiv „wäre“ zwar die Identifikation von „Ich“ und „Fischer“ als Trugschluss, doch das Rätsel, wer das „Ich“ ist, das so fühlt wie der Knabe, wird nicht aufgelöst. Respektiert man die Mehrdeutigkeit des Gedichts hinsichtlich seiner Figurenkonstellation, so muss man – anstatt für ein Gedicht als Ganzes, und zumal für die Lyrik als Gattung von Vornerein festzulegen, ob sie eine fiktionale oder faktuale Existenzweise hat – von momentanen Stabilisierungen sprechen. Stabilisierungen, die sodann in der nächsten Zeile wieder in die andere Richtung changieren können. Wenn zu Anfang die Rede ist von der Geliebten des Fischers, die, obwohl tot, ihm des Nachts erscheint, so wissen wir, dass es sich um eine fiktive Figur in einem fiktionalen Text handelt, den ein fiktiver Sprecher spricht. Sodann jedoch verfällt jener Sprecher in die Ich-Perspektive. Hatte er zuvor noch die Gefühle des Fischers beschrieben („Ihm war das Herz so schwer“), so drückt er jetzt seine eigenen aus („Ich schwamm im Meeresschiffe /Aus fremder Welt einher, / Und dacht' an Lieb und Leben, / Und sehnte mich so sehr“58) bis er im letzten Vers die metapoetische Wendung vollzieht: „Als ob ich’s selber wär’.“ Sprachlogisch kann das Ich in die-
57 Ebd. 58 Ebd.
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sem Moment eine fiktive Figur sein ebenso wie der empirische Verfasser Brentano oder jeder, der den Text spricht und ‚Ich‘ sagt, also auch der Leser. Brentanos Text zeigt mindestens zweierlei: Zum einen, dass die Figur des lyrischen Ichs eine der Operationen der Sprache ist, welche die scharfe Trennung zwischen Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität prekär machen. Dies wird deutlich, zweitens, weil hier die Entstehung beider Bereiche zu beobachten ist, die die Forschung als voneinander strikt getrennte Schemata definiert und zu sehen gelehrt hat. Statt also vorab existierende, stabile Entitäten anzunehmen, die als normative Muster dienen – etwa das, nach dem es eine Realität gibt, von der wir dann die Fiktionalität als Abweichung bestimmen können –, werden diese erst durch und im Gedicht gebildet. Bei Brentano eben durch die Rolle des lyrischen Ichs, d.h. durch die Verwendung des Personalpronomens „Er“, das sodann in der letzten Zeile in „Ich“ umschlägt. In diese Richtung scheint auch Oliver Jahraus zu zielen, wenn er betont, „dass der Begriff der Fiktion gar nicht anders als durch Rückgriff auf die Ebene der Sprache und die des Zeichens zu leisten ist. Fiktionalität ist also kein unmittelbares Kriterium, das für den literarischen Text in Anschlag gebracht werden kann, und damit teilt der Begriff das Schicksal des Begriffs des Ästhetischen. Fiktionalität entsteht entweder durch eine entsprechende Sprechhandlung oder durch eine bestimmte Bezeichnung oder Referenz.“
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Lyrische Fiktionalität und Faktualität realisieren sich nicht anders als durch die je spezifische lyrische Sprache im einzelnen Gedicht, so lassen sich die bisherigen Ausführungen zusammenfassen.60 Bis hierher hatten wir Tempusstrukturen, Personenkonstellationen und Figuren der Grenzüberschreitung untersucht, die das Changieren und deren temporäre Stabilisierung evozieren wie sie zum Beispiel in der Aussage „Ich bin die Laute“, der Ankündigung „Der Kaiser von China spricht:“, der Formulierung „Als ob ich’ s selber wär’“, dem Paratext „Verzeih.“, „als der / Regen auf das / Gedicht fiel“ usf. geschehen. Solche ontologischen Verdichtungen veranlassen die Lyriktheorie, essentialistische Schlüsse auf den fiktionalen oder nicht-fiktionalen Status von Gedichten und von der Gattung Lyrik zu ziehen. Andere Beispiele für Praktiken, die als Kriterium solcher Zuschreibungen fungieren, könnte man etwa der institutionellen Dimension zuordnen (Exponate eines Museums beispielsweise stehen unter der Ägide des Fiktionalen; die Verlagsbranche pflegt, einen Text mit dem Signum ‚Sachbuch‘ oder ‚Belletristik‘ zu bezeichnen); dem künstlerischem Tun (z.B. die Praxis des Aufspannens und Bemalens einer
59 Jahraus, Oliver (2004): Literaturtheorie. Tübingen und Basel: Francke, 121. 60 Dass aus dieser These ein close reading der Untersuchungsgegenstände resultieren musste und weiterhin muss, ist bloße logische Konsequenz.
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Leinwand) der Religion o.ä. Wir werden uns im Folgenden jedoch weiterhin auf den Bereich der im engeren Sinne sprachlichen Operationen beschränken, anhand derer beobachtbar ist, wie die Felder Realität und Fiktion entstehen, stabilisiert werden, wie sie sodann wieder in Bewegung geraten und unsicher werden. So gilt es im Folgenden, die Problemstellung Wer spricht im Gedicht? noch einmal eingehender zu untersuchen.
„ EIN R EH STAND UNTERM K IRSCHBAUM “. B ECKERS K ALEIDOSKOPE Anhand von Mittwochs sind die Brombeeren reif haben wir einen ersten Einblick in das Werk Jürgen Beckers erhalten, dessen Texte von einer hohen, bisweilen mikroskopischen Aufmerksamkeit für Einzelheiten zeugen. Präzise Beobachtungen und detaillierte Handlungsbeschreibungen sind eingeflochten in konkrete, reale Orte und historische Ereignisse. Handelt es sich um Erinnerungen und vergangene Erfahrungen oder um entrückte, fiktive Imaginationen? Wer ist der Beobachter, der mitunter auch explizit als lyrisches Ich auftritt? Dies sind Fragen, die Beckers Werke immer wieder evozieren. Es sind Themen wie Kriegserfahrungen (Erzähl mir nichts vom Krieg); Verweise auf das Medium, mit dem Becker lange Zeit gearbeitet hat und das ihm „das nächste“61 war – das Radio – etwa in Sendezeit; Überschriften mit Ortsangaben wie Im Sommer in der Eifel, wo Becker sich nachweislich aufhält, der Bandtitel Odenthals Küste oder der Gedichttitel Am Strand von Rodenkirchen – beide Orte beziehen sich auf Beckers Wohnorte Odenthal und Köln –, sowie Gedichttitel mit Zeitangaben wie Ende Februar; Fernsehen, 1972; Kindheit; Sommer in den Fünfzigern; 25.11.74 oder Samstagmorgen, kurz vor dem Frühstück, die den Verdacht aufkommen lassen, dass keine erfundenen, fiktiven Ereignisse, Sachverhalte, Gegenstände, Personen usw. dargestellt werden, sondern reale, und zwar von einem Sprecher, der mit dem Autor Becker zu identifizieren ist. Nicht nur die Nähe zu dessen Lebenswelt, die dem bezüglich der Biographie informierten Leser auffällt, sondern auch metapoetische Formulierungen wie in Was ich noch sagen wollte und Vom Wandern der Gedanken übers Papier provozieren die Annahme einer Kongruenz zwischen beiden Instanzen, zumal wenn ein sprechendes ‚Ich‘ als solches auftaucht wie
61 Scheck, Denis (2014): ‚Ich arbeite sehr visuell.‘ Jürgen Becker im Gespräch mit Denis Scheck. (16.2.2016)
http://www.deutschlandfunk.de/lyriker-becker-ich-arbeite-sehr-visuell.700.de
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in einem titellosen Gedicht aus der Reihe Ausschnitte in Das englische Fenster. Dort heißt es 1
Es war Abend, und es sah aus, als sei kein Staub in der Luft. Ich sah meine Frau telefonieren; ich stand auf der Wiese.
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Jemand pfiff durch die Zähne; hochschauend sah ich den Nachbarn auf der anderen Seite der Straße, wie er winkte, bevor er ins Haus ging. Es war Abend. Es wurde ein Fenster langsam
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von innen zugemacht. Das Beil fand sich, wo es nicht hingehörte, unter dem Gartentisch. Hinab in die Stadt zu fahren, war es zu spät; ein Reh stand unterm Kirschbaum, und
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der Tank des Jeeps vor der Scheune war leer.
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Einmal mehr verblüfft hier die schmucklose, unprätentiöse, ja profane Alltäglichkeit des Beschriebenen. Ein Augenblick ist eingefangen, der so belanglos ist, dass er sich an jedem beliebigen Abend im Sommer auf dem Land zutragen könnte. Nicht nur das Wahrgenommene, sondern auch der Vorgang der Wahrnehmung wird thematisiert: Das lyrische Ich beschreibt, was es sieht oder auch nicht sieht, es ist nicht allwissend, sondern hat eine perspektivische Wahrnehmung. „Jemand“ (5) zum Beispiel, der zuerst nicht weiter bestimmt wird bis der Sprecher aufblickt und seinen Nachbarn erkennt. Hier wird keine hochpoetische Sprache verwendet, keine Metaphern, kein Reimschema, kein festes Metrum, nicht einmal Wortwiederholungen werden vermieden, was ein Leichtes gewesen wäre („sah“; 1, 2, 6 und „es“ 1, 9, 11, 13). Es gibt, wie so oft bei Becker, keinen Anlass, die Dinge anders als sie sind, wahrzunehmen. Abwegig scheint es, das Beil oder Reh als Symbol zu interpretieren; die Dinge haben keine metaphorische Verweisfunktion. Stattdessen geht es um sie selbst, sie stehen nicht für etwas, sondern sind sie selbst. Allessamt konstatierende Sätze, entsteht ein Kaleidoskop von zusammenmontierten, in ihrer Alltäglichkeit real erscheinenden Eindrücken. Es scheint plausibel, dass es sich um die schriftliche Wiedergabe eines Bildes handelt, das sich Becker dargeboten hat, als er
62 Becker, Jürgen (1995): Die Gedichte. Frankfurt/M: Suhrkamp, 616. Erstdruck in Das englische Fenster.
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vor seinem Odenthaler Haus auf der Wiese steht. Das Gedicht wäre das Resultat einer intensiven Erinnerung an einen vergangenen Sommertag. Jedoch gibt es zugleich semantische Elemente, die unwahrscheinlich und dadurch erfunden klingen. Die Betonung, dass es aussah, als läge kein Staub in der Luft (wäre, zumal auf dem Land, nicht bloß das Gegenteil der Erwähnung wert?), das Auftauchen eines Rehs unter dem Kirschbaum (ob sich ein Reh so nah an ein Haus heranwagen wird?); schließlich ein Beil, das verschwunden war und sich unter dem Tisch wiederfindet und der (angesichts des Orts unwahrscheinliche?) vollständig leere Tank eines Autos, das auf dem Land steht und unabdingbar ist, um in die Stadt zu kommen – all dies wird mit einer durch das Semikolon bedingten collagenartig wirkenden Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit erzählt, die über die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens (würde man tatsächlich als Paar im fortgeschrittenen Alter ohne jegliches Benzin bleiben an einem Ort, der zu weit von der nächsten Stadt entfernt ist, als dass man diese ohne Auto erreichen könnte?) beinahe, aber nicht vollständig hinwegtäuschen kann. Es macht sich eine tiefe Unsicherheit breit, die sich durch das gesamte Werk Beckers zieht, hinsichtlich der Frage, wer das lyrische Ich ist. Handelt es sich um die empirische Person Jürgen Becker, die ihre Erlebnisse und Erinnerungen aufschreibt? Im Folgenden wird ein Beschreibungsangebot für die Verlockung, Becker nicht nur als Verfasser, sondern auch als lyrisches Ich der Gedichte anzunehmen, diskutiert.
D ER P AKT „Zu den vielen Vorurteilen über Lyrik, die bis heute kursieren“, so schreibt Carolin Fischer, „gehört auch das folgende: In Abgrenzung zu den epischen Gattungen wird behauptet, dass Gedichte keine Handlung hätten“ und verweist dabei auf die Lyriktheorie in der Folge von Hamburger, die auch in der heutigen Theoriebildung noch präsent ist. „In moderner Terminologie wird der Poesie weniger das Epische als die Fiktionalität zumindest partiell abgesprochen. Ob Lyrik überhaupt ‚als fiktionale Literatur anzusehen ist, ist in der Forschung strittig’“. Sie stellt fest, wie schwierig es der Forschung fällt, „Gedichte, zumal Liebeslyrik in der ersten Person Singular, als Fiktion anzuerkennen“63. Als Konsequenz aus der Absprache der Fik-
63 Fischer, Carolin (2011): Lyrik als Mimesis: Die Inszenierung von verbaler und nonverbaler Kommunikation im Sonett. In: Nickel, Beatrice (Hg.): Die Poesie und die Künste als inszenierte Kommunikation. Tübingen: Stauffenburg, 131-150, hier 131. Fischer hält dagegen: „Die Tatsache [...], dass in Texten der Gattung Lyrik schon aufgrund ihrer relativen Kürze der detaillierten Schilderung von Figuren und Handlungsabläufen gerin-
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tionalität macht sie Tendenzen der Forschung aus, biographistischen Versuchungen64 zu erliegen und folglich anzunehmen, Gedichte seien der ‚echte‘, emotionale Ausdruck ihrer Verfasser. Es scheint, dass zahlreiche lyrische Beispiele zu finden sind, die Anlass zu solcher Verwirrung geben, zumal aus dem Bereich der Liebesdichtung, weil hier der Sprecher – in Fischers Terminologie: Der ‚poeta‘, der Begriff eine Anleihe aus der altphilologischen Forschung – gleichzeitig immer auch der ‚amator‘ sei und angenommen wird, dass der Autor die Zeilen schreibt, weil er sich in dem beschriebenen emotionalen Zustand befindet. Das Ich hat demgemäß in der Liebeslyrik also eine Doppelfunktion, die des Liebenden und die des Schreibenden. „[D]ie in der Altphilologie gebräuchliche Benennung des Ich als ‚poeta/amator‘ [...] verweist auf die klassische Doppelrolle des Ich in der Liebeslyrik, das per definitionem als Liebender, als ‚amator‘ auftritt, häufig aber auch als Verfasser der jeweiligen Verse, als ‚poeta‘. Letzteres bedeutet, dass das Ich im Text genau die Rolle innehat, die der Autor des Textes in der Realität einnimmt. Die Verquickung beider Ebenen scheint eine logische Konsequenz aus 65
diesem Tatbestand zu sein.“
Die Verknüpfung resultiert daraus, so wäre des besseren Verständnisses halber zu ergänzen, dass Liebesdichtung als Ausdruck persönlichen und subjektiven Erlebens gilt. Hier hatte sich die Überzeugung gebildet, der Autor bringe eigene Empfindungen und Erlebnisse zum Ausdruck und nicht die einer zweiten, sprachlich konstituierten Instanz. Die Ineinssetzung von Autor und Sprecher, und damit die Annahme, Lyrik sei dementsprechend nicht-fiktional, wäre demzufolge die logische Konsequenz. Die Versuchung, Autor und Ich in eins zu setzen, ist außerdem groß, wenn das Thema des Gedichts ein poetologisches ist. Die Gründe liegen auf der Hand, schließlich thematisiert das Ich das eigene Tun oder realisiert dieses gleichsam performativ, und sein Tun ist von der gleichen Art und Weise wie das des empirischen Autors. „Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet /Und des Hexame-
gerer Raum zur Verfügung steht als beispielsweise in Romanen oder Dramen, darf nicht dazu verleiten, ihnen den fiktionalen Charakter absprechen zu wollen.“ (Ebd., 132) 64 Vgl. Fischer (2007): Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik von Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire. Heidelberg: Winter, 12. 65 Ebd. (Hervorhebung im Original) Insofern die Liebe durch Jahrhunderte hinweg der favorisierte Topos der Lyrik ist, kann Fischer behaupten, mit diesen Begriffen ein Erklärungsmodell für biographistische Tendenzen in der Liebesgedichtanalyse und, induktive Schlüsse ziehend, in der Gedichtanalyse überhaupt anzubieten.
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ters Maß leise mit fingernder Hand / Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer“66 – Goethes Fünfte Römische Elegie ist wohl die in Deutscher Dichtung bekannteste Darstellung einer ars scribendi als ars amadi. Aufgrund der Ineinssetzung von Schreib- und Liebesakt ist es naheliegend, die Kongruenz zwischen lyrischem Ich und Dichter anzunehmen. Folglich wäre die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es sich bei dem ‚Ich‘ um Goethe handelt, der in den Armen seiner Liebsten dichtet, den Schreibakt als Liebesakt inszenierend. Denn nicht nur der empirische Verfasser Goethe schreibt die Zeilen, die wir hier lesen, sondern, auf innerfiktionaler Ebene, auch das poetische Ich, das sich durch die Lektüre von Dichterkollegen („Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten“) bildet, die Nacht nutzt für die Ausbildung von Gedanken („Überfällt sie der Schlag, lieg ich und denke mir viel“) und seine schriftstellerische Produktion von ‚empirischen Studien‘, die er an seiner Geliebten vornimmt, profitiert („Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? / Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche“). Es scheint, als würde das lyrische Subjekt, das gleich im ersten Vers auf sich aufmerksam macht, die Zeilen in der Situation, die es schildert und in der es sich im Moment der Abfassung befinden, spontan produzieren, ohne dass es eine eingesetzte Instanz gibt, die die Verse erst im Nachhinein, retrospektiv niederschreibt oder imaginiert. Das Gedicht als Ausdruck von persönlichen und intimen Gefühlen des Dichters aufzufassen, ist das Einfallstor für die Gleichsetzung von empirischem Autor und auftretendem Sprecher, vor allem, wenn dieser durch ein explizit artikuliertes ‚Ich‘ von sich Reden macht. Jedoch greift dies bisweilen zu kurz, muss doch stets mitbe-
66 Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Die Gedichte I. München: Goldmann, 174. Ein ähnliches Beispiel bieten die folgenden Eröffnungsverse aus Ovids Amores: „Waffen in wuchtigen Rhythmen besingen und blutige Kriege / Wollt’ ich, es sollte zum Stoff passen die metrische Form. / Gleich war dem ersten Vers der zweite. Da lachte, so sagt man, / Amor, und einen Fuß stahl aus dem Vers er mir weg.“ (Ovidius Naso, Publius (1999): Amores. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 9) Amor durchkreuzt das Vorhaben des lyrischen Ichs, einem Dichter, einen Hexameter zu produzieren und macht durch die Wegnahme eines Versfußes aus diesem ein Distichon, in dem die Amores selbst gehalten sind. Wenn im zweiten Vers verlangt wird, dass dem Stoff die Form entspräche, so scheint es im übertragenen Sinne nötig, dass der über Liebe Dichtende sich mit der Materie auskennt, mithin selbst liebt, sozusagen von Cupidos Pfeil getroffen ist. Und tatsächlich nennt sich Ovid im ersten Distichon selbst als „Naso“. (Ebd.) (Weiterführend zu biographistischen Tendenzen in den Amores: Fischer, Carolin (2007): Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik von Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire. Heidelberg: Winter, 119-160)
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dacht werden, dass die Annahme beider Identitäten das Ergebnis einer besonders gelungenen Fiktion sein kann. Wenngleich die Forschung also dazu tendiert, eine klare Trennung zwischen empirischem Autor und Sprechinstanz vorzunehmen, und die Instanz des lyrischen Ichs grundlegendes analytisches Handwerkszeug dafür bietet, stellen wir fest, dass die Lyrik viele Angebote unterbreitet, diese nicht zu machen, sondern die Ebenen zugunsten einer biographistischen Lesart zu hybridisieren. Eine davon ist mit dem „Poetischen Pakt“67 betitelt. Damit spezifiziert Fischer das Verhältnis von Leser, Autor und sprechendem Ich dahingehend, dass Autor und Leser unbewusst in eine Verabredung einwilligen hinsichtlich der Art und Weise, wie Autor und lyrisches Ich zueinander stehen. Funktioniert der Poetische Pakt, so scheinen die Aussagen und Empfindungen des innerfiktionalen lyrischen Subjekts die des empirischen Autors zu sein. Der Biographismus sei eine Versuchung, die von vielen Werken seit der Antike ausgehe, und zwar eine berechtigte, schließlich sei die Ineinssetzung von Autor und lyrischem Ich in vielen Werken angelegt, so Fischer. Auf welche Techniken und Strategien ist dies zurückzuführen? Erstens auf die sprachlogische Funktion des lyrischen Ichs, die das Gedicht erst zu generieren scheint, sie also hervorbringt. Ein Ich, das als solches spricht, ist sprachlogisch der Produzent des Satzes, den es sagt. Zweitens steht bis auf wenige Ausnahmen über oder unter einem Gedicht bzw. der Anthologie, deren Teil es ist, der Name des Verfassers geschrieben, und wenn dann im Textkörper das Personalpronomen „Ich“ erscheint, so entbehrt es nicht einer gewissen Logik, beide Personen miteinander zu identifizieren. Wenn dann noch metapoetische Reflexionen angestellt werden oder sogar die Signatur, ein Bild des Autors zu sehen ist oder der Dichter sich selbst nennt wie Ronsard dies tut in seinem Voeu, so entwickelt er in besonders hohem Maße die Illusion, die Liebe des lyrischen Ich sei die seine, es handle sich um sein persönliches Erleben, das lyrische Ich sei er selbst. „Kaum ein Leser wird sich diesem poetischen Pakt entziehen können“, konstatiert Fischer68, die Identifizierung des lyrischen Ich mit der empirischen Person Ronsard erfolgt beinahe unweigerlich. Werfen wir einen Blick auf Petrarca, dem es in seiner Gedichtsammlung Canzoniere auf besonders hartnäckige und nachhaltige Weise gelingt, „seine Leser durch den poetischen Pakt ähnlich intensiv an die Fiktion des Textes [zu] binden wie Amor durch seine Pfeile den Liebenden an Laura“69. Dadurch bleibt der fiktio-
67 Fischer, Carolin (2007): Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik von Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire. Heidelberg: Winter. 68 Ebd., 81. 69 Ebd., 99.
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nale oder nicht-fiktionale Status des Werks im Ungewissen. Seine Laura hat wie keine andere Frauenfigur die romanische, angelsächsische und deutsche Liebeslyrik geprägt. Wie erfolgreich der poetische Pakt der Canzoniere Petrarcas ist, zeigt die nimmermüde Suche der Wissenschaften nach Lauras Identität.70 Es gelingt Petrarca, mit dem Leser einen Pakt zu schließen über die vermeintliche Authentizität seiner Angebeteten, womit der Anschein erzeugt wird, es handle sich bei seiner Gedichtsammlung um Dokumente seines (Innen-)Lebens. Dies geschieht durch mehrere Operationen. Und zwar „indem er vom ersten Sonett an die beiden Rollen des Ich [die des Liebenden und die des Schreibenden, J.V.] [...] eng miteinander verquickt“71, das lyrische Ich also als poeta/amator auftritt; sondern auch dadurch, dass er eine scheinbar chronologische Entwicklung erzählt, die suggeriert, es handle sich bei dem Canzoniere um eine Art Tagebuch72; indem er seiner Dichtung den Eindruck spontaner Gefühlswallungen verleiht; indem Laura zwar über die Breite seines Oeuvres das Zentrum seiner Dichtung einnimmt, er den Leser jedoch zu wenig über sie erfahren lässt, als dass das Rätsel um ihren faktischen oder fiktionalen Status endgültig zu lösen wäre; und zuletzt indem er metapoetische Reflexionen in seine Texte einfließen lässt. So heißt es in Gedicht 73 der Canzoniere: „Laß sehnend sich mein Herz im Lied ergießen“ und „Weil mehr und mehr ich mich entzünde / Im Reden“ oder „Ich schmelze hin bei meiner Worte Klange“.
70 Vgl. ebd., 13. Zur Forschungsdiskussion über die Frage nach Lauras realer Existenz siehe Ebd., 161f. Fischer macht den poetischen Pakt als Grund dafür aus, dass, im Gegensatz zu anderen literarischen Figuren aus der Prosa wie Felix Krull oder Emma Bovary, der Status von Laura immer wieder diskutiert wird. Der poetische Pakt verführe eben dazu, „das poetische Ich mit dem Autor gleichzusetzen, was wiederum keinen anderen Schluss zulässt, als die geliebte Figur für das reale Ziel der Sehnsüchte des Autors zu halten.“ (Ebd., 174) Vgl. Fischers Habilitationsschrift ebenfalls für grundlegende Untersuchungen zu biographistischen Tendenzen aufgrund eines poetischen Pakts bei Ovid, Shakespeare und Ronsard. 71 Ebd., 13. 72 Vgl. Grote, Hans (2002): Nachwort. In: Francesco Petrarca: Canzoniere. Triumphe. Verstreute Gedichte. Hg. von Förster, Karl und Grote, Hans. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 726. Der Eindruck, es handle sich um eine Art Tagebuch, „hat Generationen von Deutern dazu verführt, die fiktiven Ereignisse des literarischen Textes als historische Fakten anzusehen, also externe Chronologie des Dichtens und interne Zeitlichkeit der Dichtung nicht voneinander zu trennen. Manch einer der deutschen Romantiker des ‚Zweiten Petrarkismus‘ ließ sich von diesem Gedanken verführen, Petrarcas Gedichte als subjektive Bekenntnislyrik eines unglücklich Liebenden zu lesen“ (Ebd.). Wenig später konstatieren Grote und Förster: „Es kann – mehr noch: es darf – keine endgültige Antwort auf die Frage, geben, wer die im ‚Canzoniere‘ besungene Laura ist“ (Ebd., 728).
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In seinem Nachwort zu Petrarcas Werken konstatiert dessen Herausgeber Grote: „Es ist unerheblich, ob sich hinter dem Namen ‚Laura‘ eine historisch nachweisbare Person verbirgt, ob sie eine von Petrarca erfundene Figur ist oder ob sie als allegorische Verkörperung abstrakter Sachverhalte gemeint ist. Entscheiden ist, daß keine dieser Möglichkeiten 73
ausgeschlossen werden kann“ .
In meiner Argumentation ist es zwar nicht „unerheblich“, ob Laura eine fiktive Figur oder eine reale Person ist, aber meine Fürsprache fordert auch nicht ein, dieses Rätsel zu lösen. Vielmehr ist es mir darum zu tun, emphatisch anzuerkennen, dass gerade die Unbestimmtheit hinsichtlich Lauras Existenz, die zum jetzigen Stand der Forschung nicht mit Sicherheit beantwortet werden kann, ein gewichtiger Grund für die Faszination ist, die vom Canzoniere Petrarcas ausgeht. Das sich um Laura rankende Mysterium speist sich entscheidend durch die Unbestimmtheit der lyrischen Ontologie (Vgl. zu Petrarca die Überlegungen in Positionalität – Relationalität). Bei Becker resultiert die Verlockung, Verfasser und Sprecher des Gedichts gleichzusetzen, erstens aus der Tatsache, dass Beckers Name auf dem Cover der Anthologie steht; zweitens daraus, dass, selten genug in seinem Werk, die Personalpronomina „mein“ (3) und „Ich“ (3; 6) verwendet werden, die zunächst einmal signalisieren, dass das Ich sprachlogisch als Produzent des Textes fungiert, es diesen also hervorbringt. Drittens aus der Thematisierung wenig exzentrischen, sondern alltäglichen Stoffs, der wie in einem „Wahrnehmungs-stenogramm“74 aufgezeichnet wirkt. Ist dann noch das Gesamtwerk Beckers bekannt, dessen Teile mitunter mit Journal überschrieben sind, wobei schon die Gattung Hinweis auf faktuale Anteile gibt, und außerdem Interviews, in denen Becker über sein Schreiben spricht, von seinen Gedichten als „Aufzeichnung“ spricht, oder „als Beschreibung dessen, was der Autor von Tag zu Tag mit seinen Sinnen wahrnahm“75, so ist die Verlockung einer biographistischen Lesart nachvollziehbar. Zuletzt resultiert die Verlockung, Becker als poetisches Ich anzunehmen, aus Wissen über biographische Zusammenhänge76 – etwa, dass er nachweislich einen persönlichen Bezug hat zu
73 Ebd., 723. 74 Diesen Begriff verwendet Burkhard Meyer-Sickendiek in: „Von der freien zur notwendigen Rhythmik des Gedichts: Walter Höllerers Poetik und die Alltagslyrik von Becker, Brinkmann und Kiwus.“ In: Ders. et al. (Hg.): Fluxus und /als Literatur. Zum Werk Jürgen Beckers. München: edition text + kritik, 87-107, hier 107. 75 Becker, Jürgen (2009): Poesie und Praxis. Jenauer Vorlesung. In: Böhmer, Paulus et al. (Hg.): Poesie und Praxis. Sechs Dichter im Jahr der Wissenschaft. Jena: Verlag IKS Garamond, 89. 76 Eines der prominentesten Beispiel für die Verlockung einer biographistischen Lektüre ist
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Köln, Odenthal oder Thüringen – Orte, die häufig in seinen Texten auftreten –; dass er verheiratet ist, einen Enkel hat usw. Möglich also, dass Becker in Mittwochs sind die Brombeeren reif seine persönliche Situation schildert, die sich so zugetragen hat, zu der Tageszeit, an diesem Ort, auf dem Land: Ein Fenster wird am Abend geschlossen; der Nachbar grüßt; die Ehefrau telefoniert. Es ist hier, wie so häufig bei Becker, eine fast dokumentarische Nähe zur Wirklichkeit zu verzeichnen. Gehen wir aber über die Semantik hinaus, so zeigt sich durch die äußere und innere Gestalt der Gedichte par excellence, was auch für die bisherigen Versuchsanordnungen in diesem Kapitel gilt: All das oben Angeführte ficht die Fiktionalität des Gedichts nicht grundsätzlich an. Denn schon die Kompilation der Ereignisse zeugt von einem Gestaltet-Sein, von einer künstlichen Formung, wie die Realität sie nicht aufweist. Die Medialität der Sprache nämlich, in die die Ereignisse gefasst sind, ist durchaus wahrnehmbar: Die Vers- und Strophenform, die Wiederholungen („Es war Abend“); die Leerstellen und Enjambements, die das Geschehene zerlegen und nicht wieder zusammensetzen; die Ballung, Überlappung, Gleichzeitigkeit oder Zersetzung der Geschehnisse suggerieren, entbehren eines Zusammenhangs, der nicht anders als mittels der Imagination hergestellt werden kann. Es ist in Lyrik mithin keine ausschließliche Fiktionalität und keine ausschließliche Faktualität festzustellen. Das Verführerische an Beckers Texten ist, dass die Differenz zwischen beiden mal kleiner und mal größer wird. Diese Dynamik entsteht durch verschiedene Prozesse und Techniken ästhetischer Gestaltung – etwa, wenn Becker von seiner lebensweltlichen Realität, also seiner Frau oder seinem Sohn spricht, wenn er alltägliche Themen auswählt, historische Orte und Ereignisse beschreibt oder Umgangssprache verwendet; oder aber durch die Materialität der Sprache, wenn er auch meist nicht stark mit Klängen und Rhythmen spielt, so aber doch beispielsweise mit Kursivsetzungen, durch die Verwendung der Strophenform, Wiederholungen („Es war Abend“; 1, 9) oder die durch Zeilensprünge zusammenmontierten Elemente. Die Struktur der beiden hier vorgestellten titellosen Texte Beckers, d.h. einmal die linksbündige Versform mit den drei Leerzeilen zwischen den Strophen, sowie die auffällige, durch zahlreiche Lücken gebrochene Binnenstruktur, verweisen eindrücklich auf die bewusste ästhetische Formung des Textes und rufen dadurch einen Widerspruch zu dessen Semantik hervor: Die hier ge-
Else Lasker-Schülers Gedicht Georg Trakl, das da lautet: „Georg Trakl erlag im Krieg von eigener / Hand gefällt. / So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn / lieb.“ Es ist in der Forschung nicht eindeutig entschieden, welcher Art die Beziehung von LaskerSchüler und Trakl war, doch steht fest, dass sie einander kannten, sodass zumindest eine Übereinstimmung zwischen den Empfindungen des lyrischen Ichs und denen der empirischen Autorin Lasker-Schüler anzunehmen ist. Nichtsdestotrotz kann diese (vermeintliche) Kongruenz trügerisch sein.
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schilderten Eindrücke sind so beiläufig und alltäglich, dass es kontraintuitiv scheint, sie als fiktional aufzufassen. Dieser Eindruck wird jedoch sogleich prekär angesichts der idiosynkratischen Form und Grammatik des Gedichts, welche die Artifizialität des Textes hervorkehrt. Ist die vermeintliche Unmittelbarkeit Unmittelbarkeitsfiktion? Ist die Authentizität so beeindruckend, weil hoch artifiziell? Für beide Möglichkeiten gibt es gewichtige Textbelege, die zu überzeugen vermögen – jedoch jeweils nur für einen Moment.
P OSTMODERNE Ö FFNUNGEN Die Berufung auf den Autor als wichtigste Bezugsgröße für das textliche Verstehen, also die Annahme, Leben und Werk eines Autors könnten Aufschluss über die Bedeutung eines Textes bieten, die in biographistischen Modellen wie dem Poetischen Pakt kulminiert, ist in der Literaturtheorie hoch umstritten, auch wenn – wie gesehen – Gedichte zahlreiche Signale für die Annahme eines solchen Bedingungsund Begründungsverhältnisses aussenden können. Dogmatisch gesprochen sind in der Debatte vor allem zwei Positionierungen auszumachen, die einmal aus der hermeneutischen und einmal aus der postmodernen Richtung stammen. Zu ersterer wären Namen wie Iser, Dilthey oder Schleiermacher zu zählen; zu letzterer etwa Barthes, Foucault, Derrida oder auch Intertextualitätstheorien etwa nach Kristeva. Der Tod des Autors ist das pathetisch-revolutionäre Schlagwort für eine Denkrichtung der 1960er Jahre, in der der Autor als Schöpfer von Bedeutung angegriffen, ja aufgelöst wird.77 Der Poetische Pakt als Modell zur Erklärung biographistischer Tendenzen setzt voraus, dass der Autor eines Werks eine empirische Person ist. Diese Setzung kann etwa mit Michel Foucault hinterfragt werden. Für Foucault ist der Autor nicht mehr Stifter von Bedeutung, sondern eher Unterdrücker von diskursiven Möglichkeiten. Die Instanz des Autors sei ein Konstrukt, das als Ordnungsmechanismus fungiert,
77 Auch die postmodernen Positionen werden inzwischen kritisch reflektiert. So hat sich um die Frage Wer spricht? eine komplexe Theorielandschaft entwickelt, die beide Lager diskutiert. Jannidis et al. machen in der Theoriebildung um das Jahr 2000 eine erneute Rückwendung zur Instanz des Autors aus, die unter dem Stichwort „Rückkehr des Autors“ firmiert. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg). (2000): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, 25. Vgl. auch vom selben Herausgeberkollektiv (1999): Die Rückkehr des Autors. Tübingen: Niemeyer sowie Wilson, Adrian (2004): Foucault and the ‚Question of the author‘: A critical exegesis. In: The Modern Language Review. April 2004, Volume 99, Part 2, 339-363.
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etwa zur Gruppierung und Abgrenzung von Texten. Ein Mechanismus, der jedoch Verknappungen und Ausschlüsse produziert indem er die Vieldeutigkeit eines Textes jenseits seiner Beziehung zum Autor zähmt oder gar ignoriert. Die Annahme der Kongruenz zwischen Autor und realer Person gleichen Namens nämlich bedingt die Erwartung, dass dieser den Schlüssel gebe für den Inhalt seines Werks. Foucault schreibt, man verlange, „daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufügen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfü78
gung in das Wirkliche gibt.“
Foucault jedoch „ist bekannt, daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers, das Personalpronomen in der ersten Person, das Indikativ Präsens, die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen Distanz zum Schriftsteller verschieden groß und im selben Werk auch variieren kann.“79
Als jenes „alter ego“ macht Foucault die „Funktion Autor“ aus, die weder beim „wirklichen Schriftsteller“, also dem empirischen Autor, noch beim fiktionalen Sprecher zu suchen sei. Vielmehr vollziehe sich die Funktion Autor gerade in dieser Trennung.80 Die Autorfunktion weist vier Merkmale auf: Sie zeigt zum einen eine Eigentumsbeziehung an, die juristisch fixiert ist; sie ist zweitens historisch kontingent, d.h. es sind Geltungsschwankungen je nach Zeit und Diskurs zu verzeichnen – so gab es eine Zeit, in der literarische Texte nicht auf ihre Autoren zurückgebunden wurden, sehr wohl aber naturwissenschaftliche Werke, während sich dies ab dem 17. oder 18. Jahrhundert umkehrte: Heute befragt man „jeden Poesie- oder Fiktionstext [...] danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchem Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung,
78 Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M: Fischer, 21. 79 Foucault, Michel (2000): Was ist ein Autor? (Verschriftlichter Vortrag von 1969). In: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg.) (2000): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 198-229, hier 216. Hervorhebung im Original. 80 Ebd., 216f.
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die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man ihm beimisst, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet.“81
Des Weiteren weist Foucault darauf hin, dass die „Funktion Autor“ eine Konstruktion darstellt, die nicht spontan, sondern durch komplexe Operationen allererst entsteht, als deren Beispiele die Bibelexegese genannt wird. Zuletzt führt er an, die Autorfunktion gebe mehreren Egos Raum, die von verschiedenen Individuen besetzt werden können. Während im Modell des Poetischen Pakts eine Identitätsbeziehung zwischen Person und Funktion angenommen wird, ist eine solche biographistische Interpretation ausgehebelt, wenn wir Foucaults Ansatz für die Lektüre Beckers beherzigen. Brüche oder Distanzen in dem vermeintlichen Identitätsverhältnis werden sichtbar, wenn wir uns vorstellen, dass eine verstorbene Person immer noch als Autor fungieren, oder dass eine einzelne Person verschiedene Autorfunktionen inne haben kann. Für das spezifische Beispiel Beckers können wir im Foucault’schen Sinne schlussfolgern, dass die empirische Person Jürgen Becker nicht das Ich seiner Texte ist, denn die „Funktion Autor“ „verweist nicht einfach auf ein reales Individuum“82. Es ist die Autorfunktion, die aus dem Menschen Becker, die im Telefonbuch zu finden ist, den Autor Becker macht. Unter dem Autornamen Becker ist es mit Foucault möglich, Werke über Gattungs- und Stildifferenzen hinweg zu gruppieren, in Bezug zueinander zu setzen und von anderen abzugrenzen. „Becker“ ist hier eine Funktion, an die wir Texte binden können, ohne dass die Versuchung entsteht, sie an die reale Person Becker samt seiner Biographie zu koppeln. Hinter dem Ansatz, der Sprecher eines Gedichts sei identisch mit dem Verfasser, tätige also ‚wahre‘ Aussagen und sei somit nicht fiktional, steht die Annahme, über das Gedicht wäre ein quasi-direkter Zugang möglich zu einem Außerhalb des Textes – die Realität, zum Verfasser usw. Eine Gegenposition hierzu bieten beispielsweise Intertextualitätskonzepte, die sich mit literarischen Echos beschäftigen ohne den Raum der Literatur zu verlassen, oder andere postmoderne Ansätze wie jener von Jacques Derrida, nach dem es kein Text-Äußeres, kein Außerhalb des Textes gebe. Wenn alles Text ist, dann gibt es kein Ding an sich und aus der Welt der Zeichen und der Schrift führt folglich kein Weg auf den sicheren Boden der ‚Tatsachen‘. Die Lektüre kann daher „nicht über den Text hinaus- und auf etwas anderes als sie selbst zugehen, auf einen Referenten (eine metaphysische, historische, psycho-biographische Realität) oder auf ein textäußeres Signifikat, dessen Gehalt außerhalb der Sprache [...] seinen Ort haben könnte“83. Der Außenraum des
81 Ebd., 213. 82 Ebd., 218. 83 Derrida, Jacques (1974): Grammatologie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 274.
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Textes bietet kein stabiles letztgültiges Signifikat als Ursprung und Stifter von Bedeutung; Zeichen verweisen nur auf Zeichen innerhalb des Systems. Bezogen auf unsere hier ausgeführten Gedankengänge würde Derrida also zugunsten einer radikalen Textimmanenz verneinen, dass ein Gedicht Zugang zum empirischen Autor bietet. Vielmehr ist es eine in sich geschlossene Figur, die beschützt wird von einem Schibboleth oder den Stacheln eines Igels.84 Die Nähe zu Beckers Lebenswelt anzunehmen und seine Biographie als Erklärungsmodell für sein Werk zu nutzen, ist also nicht mehr möglich, wenn man Foucault oder Derrida ansetzt. Der Poetische Pakt ist mithin nur eine mögliche Herangehensweise, die es kritisch zu reflektieren gilt. Erweitern wir sie um andere Theorieangebote, so werden Operationen möglich, die den Blick heben und differenziertere Perspektiven eröffnen.85
P LURALITÄT DER E XISTENZWEISEN A RCHAÏSCHER T ORSO A POLLOS
IN
R ILKES
In der traditionellen Literaturtheorie nach Wolfgang Iser braucht die Fiktion eine Stabilisierung durch die Realität, weswegen diese als Bezugspunkt immer präsent bleibt. Er fasst die Fiktion als Gegenpol zur Wirklichkeit auf. Deren Opposition von Wirklichkeit und Fiktion gehöre „zu den Elementarbeständen unseres ‚stummen
84 Zu diesen Figuren sei verwiesen auf Derrida, Jacques (1986): Schibboleth. Wien: Passagen, und Ders. (1990): Was ist Dichtung? Berlin: Brinkmann & Bose. 85 Legt man Foucault an, so entbehrten also die lyriktheoretischen Debatten um die Identifizierung des lyrischen Ichs, in die auch die autobiographistische Frage nach der Position des Autors hineinspielt, ihrer Grundlage. Einen Schritt in diese Richtung macht Dieter Burdorf mit seinem (in der Lyriktheorie aktuellsten) Vorschlag des „Textsubjekts“, wenn auch nicht so radikal wie Foucault (Burdorf, Dieter (2015): Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler, 195). Hier hat sich das Gedicht zwar vom empirischen Verfasser als eigenständiges Konstrukt abgelöst, dieser ist aber mit seinem lebensweltlichen Hintergrund, den er als empirische Person hat – Burdorf spricht z.B. von der „Äußerungsabsicht“ des Autors – als strukturierende Instanz in den Text eingegangen. Das Textsubjekt sei der Platzhalter des empirischen Autors. Diese Instanz war bereits als impliziter oder abstrakter Autor bezeichnet worden (Vgl. z.B. Booth, Wayne C. (2000): Der implizite Autor. In: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam). Mit dem Textsubjekt entwirft Burdorf eine analytische Kategorie, die flexibel eine große Nähe oder eine große Ferne zum empirischen Autor annehmen kann. Im Gegensatz zu Foucault lässt er also die empirische Person als Urheber eines Textes bestehen.
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Wissens‘“86. Jedoch reiche die strikte Dichotomie von Realität und Fiktion nicht mehr aus. „[Es] regen sich Zweifel, ob die im ‚stummen‘ Wissen vorausgesetzte Opposition von Fiktion und Wirklichkeit zur Beschreibung fiktionaler Texte noch tauglich ist. Denn die in solchen Texten erkennbaren Mischungsverhältnisse von Realem und Fiktivem bringen offensichtlich Gegebenes und Hinzugedachtes in eine Beziehung. Folglich kommt in diesem Verhältnis mehr als nur eine Opposition zum Vorschein, so daß es sich empfiehlt, die Zweistelligkeit von Fiktion und Wirklichkeit durch eine dreistellige Beziehung zu ersetzen.“87
Ziel ist es, das Fiktive näher beschreiben zu können, was mit dem bisherigen Begriffsinstrumentarium nicht möglich sei, „denn offensichtlich gibt es im fiktionalen Text sehr viel Realität, die nicht nur eine solche identifizierbarer Wirklichkeit sein muß, sondern ebenso solche der Gefühle und Empfindungen sein kann. Diese gewiß unterschiedlichen Realitäten sind ihrerseits keine Fiktionen, und sie werden auch nicht zu solchen, nur weil sie in die Darstellung fiktionaler Texte eingehen.“88
Als Ergänzung für die ontologisch und erkenntnistheoretisch unzureichenden Kategorien Wirklichkeit und Fiktion schlägt Iser das Imaginäre vor. Das Fiktive nun konzeptionalisiert er als das Zusammenspiel von Realem und Imaginärem, also der Erfahrungswelt des Lesers mit seinen Interessen, Anschauungen und Erfahrungswerten. Literatur entsteht so durch das spielende Hin und Her von Fiktion, Realität und Imaginärem. Iser geht zwar davon aus, dass Fiktion und Realität nicht mehr durchgängig klar voneinander zu trennen sind („Sind fiktionale Texte wirklich so fiktiv, und sind jene, die man nicht so bezeichnen kann, wirklich ohne Fiktionen?“89), sondern Hybridisierungen auszumachen sind. Jedoch bleibt Iser in einem dichotomischen Denken verhaftet, wenn er von zwei gesetzten essentiellen Bereichen – Wirklichkeit und Fiktion – ausgeht, die prästabile Entitäten darstellen, die dann durch das Imaginäre in einem sekundären Prozess in Bezug zueinander gesetzt werden. Für die Fiktion, im Gegensatz zum grenzen- und referenzlosen Imaginären, bleibt so die Realität immer als stabilisierender Bezugspunkt präsent.
86 Iser, Wolfgang (1993): Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt/M: Suhrkamp, 18. 87 Ebd. 88 Ebd., 19f. 89 Ebd., 18.
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In einer solchen auf vorab existierenden Dichotomien basierenden Fiktionstheorie macht Bruno Latour eine Bifurkation aus zwischen der materiellen, gemeinhin als ‚Realität‘ begriffenen Welt und der symbolischen, aus Zeichen bestehenden. Eine Folge dieser Aufspaltung bestehe darin, dass letztere „jedes ontologischen Gewichts beraubt worden [ist], denn die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ situierte sich auf der anderen Seite“90. Latours Gegenvorschlag in Modes d’ existence sieht eine Pluralität von Existenzweisen vor, die sich mitunter überkreuzen können. Er identifiziert derer fünfzehn, darunter z.B. Technik, Religion, Recht, aber auch die Fiktion. Diese Existenzmodi entlarven u.a. die Bifurkation zwischen dem, was existiert und ihrer Repräsentation als unterkomplex und unpräzise angesichts der Diversität, Heterogenität, Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit des Seins. Die Wirklichkeit und ihre Repräsentationen sind nicht mehr in einer hierarchischen Beziehung verhaftet zu denken, in der das Reale das einzig Wirkliche ist, sondern als verschiedene, aber gleichberechtigte Modi des Seins. Die Frage, was das Ding und seine Repräsentation voneinander unterscheidet, zum Beispiel die Stadt Bororo in Bolivien und die detaillierte Beschreibung Bororos in Lévi-Strauss Traurige Tropen, wäre mit Latour nicht mehr unter Hinweis auf Original und Abbildung, von Gegenstand und Darstellung zu beantworten, sondern mit dem Hinweis auf verschiedene Existenzweisen. Wenn also die Realität nicht mehr ordnungsstiftend ist, dann können alle Existenzmodi gleichermaßen ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sein und verfügen über ihre je eigene Weise der Verifizierbarkeit. Insofern hat die Fiktion ihre Eigenwirklichkeit, die sich nicht mehr als bloße Abweichung von der präskriptiv gesetzten Realität bestimmt: Es handelt „sich wirklich um eine Realität [...], die voll und vollständig in ihrer Art ist, mit ihrem eigenen Typ von Wahrsprechen, von Transzendenz und Sein“91. Wenn die Fiktion ein „ganz eigene[s] Gewicht von Realität“92 habe, dann gilt es, dieses zu schätzen, zu respektieren und sich darauf affektiv einzulassen.93 Und dies ist teilweise auch geschehen: „Man hat niemals, zumindest in unserer Tradition, aufgehört, ihre Spezifizität auszuarbeiten, anzuerkennen, zu feiern und zu analysieren.“94 Dass die Wesen der Fiktion ‚echt‘ sind, macht Latour nicht mehr, wie Iser, an ihrem Verhältnis zur Realität fest, sondern daran, dass sie fähig sind zur Attraktion, d.h. eine Haltung der Zuneigung, ja der Leidenschaft für die Fiktion provozieren: „Sie kommen in unsere Phantasie, nein, sie bieten eine Phantasie, die
90 Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 334. 91 Ebd., 339. 92 Ebd., 337. 93 Vgl. ebd., 338. 94 Ebd., 338.
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wir ohne sie niemals gehabt hätten. [...] Das Werk engagiert uns, macht uns engagiert“95, wir gewinnen durch es unsere Subjektivität.96 Und doch fehlte die Konsequenz, ihre Ontologie ‚für voll zu nehmen‘. Latour fordert, die adverbiale Zuschreibung ‚fiktiv‘ als Ankündigung zu verstehen, das Folgende als in einer bestimmten Art und Weise stehend aufzufassen, ohne dass die Realität als Beurteilungsgröße angelegt wird. Als ein Seinsmodus eben, der seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Unter dieser Prämisse kommt es einer falschen Schlussfolgerung gleich, die Fiktion mit Maßstäben anderer Existenzweisen zu bewerten, denn deren Ergebnis wäre zwangsläufig Aussagen der Art ‚Die Figuren wirken, als wären sie real‘ sowie Zuschreibungen mit Attributen wie ‚imaginär‘, ‚irreal‘, ‚nicht objektiv‘, ‚der Phantasie entsprungen‘, und „der Wahrheit nicht fähig, da sie ja gerade nur ‚Fiktion‘ sind“97. Eine solche Attribuierung, so mahnt Latour, würde auf einem logischen Fehler beruhen, der aus der Annahme falscher Voraussetzungen resultiert – nämlich der Applikation von Gelingens- und Mißlingensbedingungen, die einer anderen ‚Existenzweise‘ zugehörig sind. Im Fall der Religion beispielsweise wird rasch verständlich, dass hier eigene, auf dem Glauben basierende Gesetzmäßigkeiten herrschen, die von denen anderer Existenzweisen, etwa der des Rechts, vollkommen verschieden sind. Wenn es noch einen Orientierungspunkt braucht, so ist es nicht mehr die Realität als Normativ, sondern die sogenannten ‚Präpositionen‘ – Interpretationsschüssel, die dazu dienen, Kategorienfehler zu vermeiden, oder die, vereinfacht gesagt, Hinweise geben, welchen Gesetzmäßigkeiten die jeweilige Ontologie folgt. Latour nimmt also keine präexistenten essentiellen Sphären an wie dies der Fall ist in der binären Konstellation ‚Fiktion versus Realität‘ oder in der dreistelligen Konstruktion von Iser, in der Fiktion sekundär zur Realität ist. Wenn also im Folgenden – so ist die Konsequenz aus dem Gesagten – die Attribute ‚fiktiv‘ oder ‚fiktional‘ verwendet werden, so unter anderen als den herkömmlichen Vorzeichen, nämlich nicht mehr im Vergleich zur Realität, die normativ gesetzt ist und an der Fiktion sekundär, nämlich abweichend oder oppositionär teilhat, sondern voraussetzungslos, d.h. ohne dass damit eine wertende Aussage vorgenommen würde. Das Theorieangebot Latours erlaubt es mir, mich von einem semiotischen Epistem zu lösen, in dem das Material Träger von Bedeutung ist und in dem Repräsentationen den Dingen nachgängig sind. Vielmehr nutze ich es, um die Fiktion als eigenständige Seinsweise aufzufassen, die nicht mehr die Stabilisierung durch die
95 Ebd., 340f. 96 Vgl. ebd., 341. Fiktion ist folglich nicht fragil, weil sie abhängig ist von der in verschiedenen Modi sich alterierenden Realität, „sondern weil es genügt, daß die Erschütterung derer, die es mitreißt, aufhört, damit das Werk gänzlich verschwindet.“ (352) 97 Ebd., 339.
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Realität braucht. Fiktion ist nicht fiktiv im Gegensatz zur Realität, sondern sie ist schlichtweg. So erst kann Fiktion ernst genommen werden. Latour liefert damit das theoretische Fundament um die Blackbox zu öffnen und sichtbar zu machen, mit welchen Operationen Existenzweisen entstehen, sich überkreuzen und oszillieren. Dies haben wir bereits in den bisher besprochenen Gedichten an je spezifischen Praxen und Techniken getan, und auch anhand von Rilkes Archaïscher Torso Apollos ist es möglich, die praktische Beteiligung von Akteuren – hier vor allem der Apostrophe – bei der Produktion der Ontologien ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ zu beobachten.98 Archaïscher Torso Apollos 1
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schatten, nur zurückgeschraubt,
5 sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. 10 Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; 15
und brächte nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
98 Latour verwendet den Begriff der Realität nicht mehr. Stattdessen würde er an dieser Stelle zum Beispiel von den Existenzweisen „Metamorphose“, „Technik“, „Bindung“ u.a. sprechen. Das heißt jedoch nicht, dass wir den Begriff ebenfalls vermeiden müssen. Es soll nicht negiert werden, dass es eine ‚Realität‘ gibt bzw. einen Unterschied zwischen dem empirischen Leser einerseits, der in einer Weise berührbar ist, wie das Papier, auf dem diese Zeilen geschrieben stehen, und andererseits fiktiven Figuren wie Effie Briest oder Madame Bovary. Diesen Unterschied bestreitet auch Latour nicht. Was hier v.a. nutzbar gemacht wird, ist der Ansatz Latours, Wirklichkeit und Fiktion nicht als prästabile Entitäten aufzufassen und deren Beziehung nicht mehr als hierarchische Abbildungsbeziehung zu betrachten – was die Literaturtheorie größtenteils beides bisher tut.
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die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.99
Das lyrische Ich spricht in Rilkes Gedicht, das den Zyklus Der Neuen Gedichte Anderer Teil von 1908 eröffnet, aus einer Gruppe heraus, der es sich zugehörig zählt, wovon gleich das erste Wort des Sonetts, „Wir“ (1), zeugt. Die ersten beiden Verse sind als einzige im Präteritum gehalten („kannten“ und „reiften“), danach folgt das Indikativ Präsens („glüht“) sowie, von der zweiten Strophe an bis kurz vor Ende des Gedichts, der Konjunktiv II. Jener Konjunktiv („könnte“ (6, 8), „stünde“ (11), „bräche“ (15)) wird durch die Konjunktion „sonst“ eingefordert, die Bedingungen formuliert. So entsteht eine Argumentation in der Form von Wenn-Dann-Sätzen: Der Torso glänzt sehr hell, andernfalls könnte er nicht blenden (7) und flimmern wie ein Katzenfell (13). Er kann „dich“ vollständig sehen (16-17), denn er strahlt hell und umfassend wie ein Stern (16). Anders als ein „entstellter Stein“ (11) ist der Torso von hoher Ausstrahlung, die im Gedicht durch die Nennung verschiedener Charakteristika beschrieben wird: „Unerhört“ (1) ist das Haupt des Torsos wahrscheinlich wegen der Größe seiner Augen (sie reifen groß wie Äpfel; 2) und weil er die Leuchtkraft eines Kerzenleuchters hat. Die Sehkraft der Augen steht im gesamten Text im Vordergrund, wenn auch in der zweiten Strophe der Mund angesprochen wird, der sich zu einem Lächeln verzieht. Die Anspielung auf die „Mitte, die die Zeugung trug“ lässt auf ein befriedigtes Lächeln schließen. Das zuvor erwähnte Glühen wird nun als Glanz (6) und geschmeidiges Flimmern wie von einem Raubtierfell im Licht (13) präzisiert. Seine Eindrücklichkeit wird durch Assonanzen untermalt („der Bug / der Brust dich blenden“ (6-7), „im leisen Drehen / der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen“ (7-8); „Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz / unter der Schultern durchsichtigem Sturz“ (11-12; alle Hervorhebungen J.V.)). Der eigentlich tote, verstümmelte Körper steht der lebendigen Fülle des Sprachmaterials, wie es sich hier zeigt, in nichts nach. Der Text gibt keine Information, warum der Torso – Fragment eines Toten – noch lebendige Züge tragen kann. Er bezieht ein großes Maß seiner Eindrücklichkeit aus der Beschreibung der fehlenden Körperteile (v.a. des Kopfes, aber auch der Lenden bzw. des Phallus). Er, der kein Haupt, keine Augen hat, ist von solcher Vollkommenheit, dass er es vermag, den schaulustigen Betrachter zu blenden und zwar derart, dass jener nun selbst zum Objekt prüfender Blicke wird. Prüfender, beurteilender und allmächtiger Blicke wie der des Riesen Argos, dem aufgrund der Vielzahl seiner Augen nichts entgeht: „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht“. Die Funktion der Augen als Sehorgane am Kopf nehmen die „Stellen“ am Torso ein. Es ist außergewöhnlich, dass es keinen blinden Fleck gibt. Dieser verfügt somit über eine Allsichtigkeit, die es dem „Du“ unmöglich macht, sich zu verstecken. Er scheint es vollständig zu durch-
99 Rilke, Rainer Maria (2006): Die Gedichte. Frankfurt/M: Insel, 483.
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schauen, darauf lässt eine der prominentesten lyrischen Schlusszeilen überhaupt schließen, denen Sloterdijk ein „Eigenleben“100 attestiert: „Du mußt dein Leben ändern.“ (17) Verblüffend ist die Plötzlichkeit dieser Aufforderung, die am Ende des Gedichts steht, sodass kein Raum für Widerspruch ist. Wer ist der Sprecher und wo ist er verortet? Wer ist angesprochen? Welche Rolle spiele ich als Leser? Wieso fühle ich mich angesprochen? Wendet sich der Text, der doch fiktional ist, mir zu? In der Apostrophe wird der Leser erzeugt und in Relationen eingebunden. Er wird Teil der Diegese. In diesem Moment entsteht, um mit der Latour’schen Terminologie zu sprechen, eine Kreuzung zwischen der fiktionalen Ontologie und jener, in der der Leser aus Fleisch und Blut verortet ist. War dieser sich dank der visuellen und sprachlichen Exzentrizität von Lyrik – die Sonettform, die umarmenden und gekreuzten Reime, der durch die Blockform produzierte auffällige Satzspiegel, der es als Gedicht ausweist – gewiss, dass hier die Fiktion beginnt, so bricht das Gedicht plötzlich mit dieser eindeutigen Differenz, die es mit seiner sinnlichen Gestalt und seiner in wechselnder Reimform gehaltenen poetischen Sprache gezogen hat. Der Leser wird unversehens in eine Figur des Textes verwandelt. Der vielleicht berühmteste lyrische Appell hat jedoch nicht wenige Interpreten ratlos zurückgelassen. Denn er kann, er muss nicht nach außen gehen. Es ist plausibel, dass das lyrische Ich den Appell an eine innerfiktionale Person richtet, einen impliziten Adressaten, über den nichts zu erfahren ist, schließlich hat jede Existenzweise ihre eigene Metaphysik, d.h. auch ihre eigenen Signifikate und Referenten, die freilich nicht mehr als solche zu bezeichnen wären. Genauso plausibel ist, dass das lyrische Ich zu sich selbst spricht wie in einer Glossolalie. Eine Glossolalie, in der Gedanken in den Kopf – und in den Mund – gelegt werden, produziert durch eine Instanz, die außerhalb der Diegese des Textes verortet sein kann wie der Autor, oder innerdiegetisch, also eine Figur des Textes sein kann, zu welcher nun auch der rezitierende Leser wird. In dem Moment, in dem der letzte Vers rezipiert wird, entsteht automatisch eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Adressaten, die sich nicht mehr auflöst. Der Rezipient nämlich fühlt sich ebenfalls unweigerlich angesprochen – und zwar nicht nur wegen des Personalpronomens „Du“, das ihn direkt anredet, sondern wohl auch aufgrund des Versinhalts, denn in wessen Leben gibt es keinen Aspekt, dem es nicht gut zu Gesicht stünde, geändert zu werden? Eine solche Apostrophe an den Leser ist recht selten. Zu den prominentesten Beispielen zählen Baudelaires Au lecteur aus den Fleurs du Mal und das Eröffnungsgedicht aus Petrarcas Canzoniere. Hier spricht Petrarca nicht nur den Leser an, mit seinen metapoetischen Versen „Die ihr, wie sie durch
100 Sloterdijk, Peter (2012): Du musst dein Leben ändern. Frankfurt/M: Suhrkamp, 43.
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meine Reime gehen, / Den Seufzern lauscht, womit mein Herz sich nährte“101 verleitet er auch zu einer biographistischen Lektüre. Das Rilke’sche „Du“ dagegen ist mysteriöser, ähnlich dem aus Goethe’schen Ausruf: „Warte nur, balde / Ruhest Du auch“102 . Wir können nur Vermutungen darüber anstellen, wem es gilt – der Beantwortung dieser Frage ungeachtet ist es jedoch trotzdem unmöglich, sich als lesendes Ich dieser Ansprache zu entziehen. Culler schreibt: „Often that ‚you‘ is expressed – the ‚you‘ of the beloved, or God, the wind, a flower [or the reader, J.V.]. But sometimes it is not, and lingers as a spectral presence, a yearning, something like love.“103 In der Apostrophe zeige sich die „poetic power“104 , was Culler dazu bringt, die Apostrophe als eines der wichtigsten, ja sogar als gattungskonstitutives Merkmal von Lyrik anzunehmen: „Indeed, one might be justified in taking apostrophe as the figure of all that is most radical, embarrassing, pretentious, and mystificatory in the lyric, even seeking to identify apostrophe with lyric itself. [...] This suggests that if we would know something of the poetics of the lyric we should study apostrophe, its forms and meanings.“105
Als Funktion der Apostrophe macht Culler das Pathos, die Verstärkung, ja Leidenschaft aus; die Evokation von Etwas, das absent ist – vergangen oder verloren, wie etwa in der Elegie; die gezielte Ansprache von Jemandem; die Anrufung unbelebter Gegenstände, auf dass sie zu Akteuren werden: „A primary force of the apostrophe is to constitute the addressee as another subject.“106 Dadurch werde auch das sprechende ‚Ich‘ bestärkt, denn ein ‚Du‘ reflektiere zurück auf ein ‚Ich‘, das allererst ‚Du‘ sagen kann – die Apostrophe würde in diesem Sinne also lyrische Subjekte überhaupt produzieren. Die Apostrophe ist, so gedacht, nicht in eine Ausdrucksstruktur eingebunden, in der sie auf etwas verweist, sondern sie bringt performativ ein Subjekt hervor.
101 Petrarca, Francesco (2002): Canzoniere. Triumphe. Verstreute Gedichte. Hg.: Förster, Karl und Grote, Hans. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler, 11. 102 Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Ein Gleiches. In: Ders.: Die Gedichte I. München: Goldmann, 78. 103 Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press, 243. 104 Culler, Jonathan (1981): The Pursuit of signs. Ithaca: Cornell University Press, 150. 105 Ebd., 137. 106 Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press, 223.
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B ILDAKT Solch einen Prozess der Subjektwerdung können wir in der Apostrophe beobachten. Der eigentlich leblose Torso des römischen und griechischen Gottes Apollo, u.a. Beschützer der Künste, ist interpretierbar als einer der Gegenstände, denen Rilke in seinen ‚Dinggedichten‘ Aufmerksamkeit schenkte.107 Nun aber glüht, blendet, lächelt er, pocht vor Lebendigkeit und vermag, sein Gegenüber zu sehen. In einem komplexen, reversiblen (vgl. zu diesem Begriff von Baudrillard das entsprechende Kapitel im ersten Teil dieser Studie) Verhältnis aus Blicken, die zuerst die Betrachter, die im Gedicht als „Wir“ (1) bezeichnet werden, dem Torso zuwerfen, und mit denen dieser sodann seine Betrachter bedacht und dadurch die Beziehung umkehrt, wird der Torso zu einem Subjekt. Anders formuliert: Der Torso hatte zunächst qua seiner Vollkommenheit und seines Glanzes das „Du“ des Textes dazu verleitet, ihn anzublicken. Dadurch, dass ihm zugesprochen wird, dass er schaue, wird er rekursiv zum Akteur. Als solcher nun vermag er, Blicke zu erwidern und zu sehen. Mit dem Begriff des Bildakts bietet Horst Bredekamp bildwissenschaftliche Überlegungen an, die fruchtbar sein können für die Beschreibung dessen, was hier passiert. Wenn er von einer „im Artefakt selbst ruhende[n] Latenz“ spricht, „die auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Aktionsform umzuspringen und den Beobachter und Berührer mit einem Gegenstand zu konfrontieren vermag, das er nicht nur nicht beherrscht, sondern das ihn in die leonardeske Gefangenschaft zu führen vermag“108, so räumt er dem Bild einen Handlungsspielraum und eine Handlungspotentalität ein, die entscheidend über den auf es gerichteten Blick hinausgehen. Damit spielt Bredekamp an auf die Notiz von Leonardo, mit der sich ein verhülltes Werk an seinen potentiellen Betrachter wendet und ihn mahnt: „Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Antlitz ist Kerker der Liebe.“109 Mit
107 Es steht zu vermuten, dass Rilke mit seinem Gedicht auf eine der Plastiken Auguste Rodins Bezug nimmt, bei dem er 1905 bis 1906 angestellt war. Der neuen Gedichte anderer Teil ist denn auch mit „Mon grad ami Auguste Rodin“ überschrieben. Rilke, Rainer Maria (1949): Auguste Rodin. Wiesbaden: Insel. Siehe auch Körner, Hans (1998): Blickende Leiber, lebendige Farbe und die Krise erotischer Kunst. Rilkes Sonett Archaïscher Torso Apollos im Kontext. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Bd. 43/1. Bonn: Bouvier, 56-76. 108 Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Berlin: Suhrkamp, 17. 109 Ebd. Bredekamp zitiert Leonardo da Vinci. Vgl. Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Berlin: Suhrkamp, 17 und 337. Das Originalzitat von da Vinci lautet: „Non iscoprire se llibertà / t`è cara ché ’l volto mio / è characiere d’ amore“. Leonardo da Vinci (1934): Bd. 3 Fol 10V, 16.
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diesem Zitat wird abgehoben auf die (durch die Praxis, Bilder zu verhüllen und nur an hohen Festtagen für Blicke freizugeben, historisch verbürgte) Kraft eines Gemäldes, den Betrachter derart zu fesseln, dass dieser seiner Freiheit und Autonomie beraubt wird. Bredekamp weiß, dass jene Kraft des Bildes auf die Tradition der enárgeia aus der Rhetorik zurückzuführen ist (vgl. dazu auch das Kapitel zu Geste – Attraktoren), die das sinnlich-plastische ‚Vor-Augen-Stellen‘ eines Elements durch seinen Kontrast zur Umgebung beschreibt, als wäre es lebendig.110 Sein Konzept des Bildakts fundiert Bredekamp durch den Rückgriff auf eine linguistische Theorie, nämlich Austins Sprechakttheorie. Deren Grundgedanke ist, dass nicht mehr der Sprecher den Akt macht, sondern die Worte im Rahmen einer Handlung (daher auch der Untertitel „How to do things with words“). Mit dem performativen Sprechakt werden illokutionäre Akte vollzogen, d.h. fallen Sprache und Ereignis zusammen; Sprache ist Ereignis – etwa wenn eine Taufe durch die Worte ‚Ich taufe dich‘ – freilich in einem spezifischen Kontext und unter bestimmten Umständen – vollzogen wird; wenn mit dem Satz ‚Ich warne dich‘ eine Warnung ausgesprochen und getätigt ist; wenn mit der Zusicherung ‚Ich verspreche dir‘ ein Versprechen vollzogen ist. „Der Name [„Performativ“] stammt natürlich von ‚to perform‘, ‚vollziehen‘: man ‚vollzieht‘ Handlungen. Er soll andeuten, daß jemand, der eine solche Äußerung tut, damit eine Handlung vollzieht – man faßt die Äußerung gewöhnlich nicht einfach als bloßes Sagen auf.“111 Um die Bildaktivität zu differenzieren, typologisiert Bredekamp drei, nicht unbedingt klar und einleuchtend voneinander abgegrenzte und abgrenzbare Akte, den schematischen, den substitutiven und den intrinsischen Bildakt, die allesamt latente Wirkungen bezeichnen, d.h. es geht „um die Latenz des Bildes, im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich aus eine eigene, aktive Rolle zu spielen“112. Im schematischen Bildakt äußere sich die Wirkkraft des Bildes durch dessen Verlebendigung. Zu dieser Kategorie zählt Bredekamp die Tableaux vivants. Dem substitutiven Bildakt liegt der Austausch von Bild und Körper zugrunde, also die Annahme, Körper und Bild seien identisch und substituierbar, worauf etwa Bilderstürme basieren. Die dritte Wirkkraft des intrinsischen Bildakts resultiert aus der Selbstreflexivität der Form, woran etwa der Blick auf und der Blick von Medusa denken lässt. Mit dem Theorieangebot des Bildakts kann auch der Archaïsche Torso Apollos, die Skulptur, konturiert werden, die nun nicht mehr passiver Gegenstand und bloßer Dulder von Betrachtungen ist, sondern handelt. Bredekamp selbst erwähnt den Torso von Milet, auf den sich Rilkes Gedicht vermutlich bezieht, im Zuge seiner Aus-
110 Vgl. Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Berlin: Suhrkamp, 22f. 111 Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam, 29f. 112 Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Berlin: Suhrkamp, 52.
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führungen zum intrinsischen Bildakt. Nicht nur der Torso jedoch wird zum Akteur, sondern, in einer weiteren analytischen Wendung, auch der lyrische Text, der den Torso beschreibt. So gesehen ist ein zweifacher Chiasmus auszumachen, in dem sich nicht nur der Blick des Betrachters mit dem des Torsos kreuzt, sondern auch der Blick des Lesers mit dem Gedicht. War es bis dahin der Leser, der das bis dato passiv erscheinende Gedicht anschaute, so wird nunmehr mit dieser Zeile das Gedicht zum Akteur, das plötzlich den Betrachter ansieht, und nicht umgekehrt – im gleichen Maße wie der Torso aktiv wird und seinen Betrachter anschaut. „In diesem Positionswechsel“, so Bredekamp, „geht es um die Latenz des Bildes, im Wechselspiel mit dem Betrachter von sich aus eine eigene, aktive Rolle zu spielen“113 und so also aus der Latenz ins Handeln zu überzuspringen. Weil es die Subjekt-ObjektBeziehung umkehrt, kann es schließlich mit dem fordernden, anmaßenden, gebieterischen, jedenfalls absoluten Imperativ fordern: „Du mußt dein Leben ändern“. Sowohl der Torso als auch das sich um ihn drehende Gedicht führen den Bildakt aus und werden somit zu Urhebern psychophysischer Prozesse.
D ISPOSITIVE Die rekursive Schleife, in der sich die den Torso Betrachtenden und der sie wiederum betrachtende Torso bewegen, denkt poetisch das vor – im Sinne von Cullers emphatischem Ausruf, die Dichtung sei vor der Theoriebildung da gewesen (und ohne Zweifel kann letztere noch viel von ihr lernen): „The poets though, were here first“114 –, was Latour theoretisch nachvollzieht: Ein Akteur wird erst zu einem solchen durch andere Akteure und Aktanten eines Netzwerks, die ihn zum Handeln bringen.115 Die Schaulustigen sind es, die ihn in die Lage versetzt haben, nun seinerseits seine Betrachter anzuschauen, sie geradezu zu durchschauen und von ihnen zu fordern, sie müssten ihr Leben ändern. Um diese Subjektkonstituierung theoretisch zu konturieren, können wir auf Agambens Dispositivbegriff zurückgreifen. In dem Versuch, der Genealogie des Foucault’schen Dispositivkonzepts auf die Spur zu kommen, konstatiert Agamben, dass „Dispositive immer einen Subjektivierungsprozeß ein[schließen], da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen müssen“116 . Mit dem Ziel, Foucault weiter zu entwi-
113 Ebd. 114 Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric, 242. 115 Vgl. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp, 81. 116
Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich: Diaphanes, 23f. Zum Dispositivbegriff Foucaults s. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Frank-
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ckeln, schlägt er „nichts Geringeres vor [...] als eine allgemeine, recht grobe Aufteilung des Vorhandenen in zwei große Gruppen oder Klassen: Einerseits die Lebewesen (oder die Substanzen), andererseits die Dispositive, von denen sich jene unablässig gefangennehmen lassen.“117 Er präzisiert, als Dispositiv fasse er all das auf, was fähig ist, das Verhalten, die Gestik, die Meinungen und Reden von Lebewesen zu beeinflussen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen usw. Damit geht er über Foucault hinaus, der Diskurse, Institutionen, Gesetze, moralische Vorgaben einer Gesellschaft etc. als Dispositiv bezeichnet hatte, und macht die Dispositive schier zahllos – zumal angesichts des Hochkapitalismus, in dem wir leben. Denn seiner Argumentation nach zählen auch die vielen uns umgebenden Gegenstände wie das Handy, der Computer, Schreibwerkzeug u.ä. dazu – ja, man muss fragen, was dann nicht mehr als Dispositiv zu gelten hätte. Wollte man die Vielzahl gruppieren, so bräuchte man jedenfalls zahlreiche Kategorien, von denen eine die ästhetische sein würde. Entscheidend ist nun, dass Agamben zwischen die beiden aus Lebewesen und Dispositiven bestehenden Klassen die Subjekte setzt. Diese resultieren aus dem Verhältnis oder, in Agambens Worten, aus „dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven“118. Es sind ständig zahlreiche, mannigfaltige und heterogene, einander nicht ausschließende Subjektivierungsprozesse im Gang, schließlich kann der Sternekoch zugleich Globalisierungsgegner, Konsument, Fußballfan, Liebender, ‚Wutbürger‘ und Islandreisender sein. Das liegt zum einen daran, dass er in Kontakt mit verschiedenen Dispositiven ist, und zweitens, dass ein und dasselbe Dispositiv verschiedenste Subjektivierungsprozesse auslösen kann. Als schlüssiges Beispiel für einen solchen führt Agamben die Beichte an, die den Gläubigen zu einem neuen, von seinen Sünden gereinigten Subjekt konstituiert. Agambens Denkangebot kann helfen, die intrikate Situation in Rilkes Gedicht auf andere Weise als dies bisher in der wissenschaftlichen Analyse geschehen ist, zu beschreiben. Zum einen lässt sich mit Agamben beobachten, dass die Schaulustigen – die im Gedicht als „Wir“ bezeichnet sind – verführt sind. D.h. die Relation von Lebewesen und Gedicht bzw. Figuren und Torso ist immer schon entstanden, wenn man liest, bzw. der Text setzt ein, wenn sie bereits dazu verführt worden sind. Verführt, den Torso gebannt zu betrachten, der sie so beeindruckt. In Agambens Terminologie wären die Betrachter als Lebewesen zu beschreiben, die durch den Kontakt mit dem Torso bzw. mit dem Gedicht – einem ästhetischen Dispositiv – zu
furt/M: Suhrkamp; Ders. (1978): Dispositive der Macht. Berlin: Merve; und Ders. (1991): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M: Fischer. 117 Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich: Diaphanes, 26. 118 Ebd., 27.
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Subjekten, nämlich zu verführten Subjekten geworden sind, ohne dass darauf Einfluss zu nehmen war. Allein, dieses latente Verhältnis wird erst durch die Apostrophe ereignishaft. Von der anderen Seite her betrachtet, wird auch der Torso erst durch die auf ihm lastenden Blicke zu einem Subjekt. Wenn Agamben ebenfalls auf Entwicklungen der Desubjektivierung hinweist, so ist es meiner Ansicht nach gar nicht nötig, sie v.a. im Kapitalismus zu verorten, sondern sie scheinen mir permanent zu geschehen wie in einer Pumpbewegung, die eine Verdichtung und Auflösung bewirkt. Eine Subjektkonstituierung zieht sich zusammen zu einer ontologischen Stabilisierung – die ich bei Rilke eben als ‚verführtes Subjekt‘ zu beschreiben vorschlage –, die in diesem Moment andere Subjektivierungsformen ausschließt wie etwa diejenige des rationalen Gutachters, der den Torso mit einer nüchternen Musterung untersucht oder jene des desinteressierten, gleichgültigen Vorbeihastenden, der den Torso bloß flüchtig registriert, bevor sich die Verdichtung sodann wieder löst und neue Subjektivierungsprozesse beobachtbar sind. Rilkes Gedicht stellt in diesem Sinne den Prozess aus, in dem es sowohl zu Verdichtungen wie auch zu Entkrampfungen oder Öffnungen kommt. Das Subjekt also ist der Schrift nicht äußerlich. Es wird im Raum des Gedichts erzeugt, genauer gesagt, geht es hier aus dem Dialog mit anderen Akteuren wie dem Torso hervor, aber auch aus der Relation zu im engeren Sinne sprachlichen Akteuren und hier wäre eben insbesondere die Apostrophe nennen. In dieser Konstellation von handelnden Figuren – Verfasser, Sprecher des Gedichts, Torso, Gedicht, Leser – werden immer Berührungspunkte mit anderen ontologischen Feldern produziert. Auch wenn wir Latour nicht darin folgen müssen, den Begriff der Realität prinzipiell nicht mehr zu verwenden – denn es ist hier nicht von Interesse zu negieren, dass es Wirklichkeit gibt – so ist es durchaus nützlich, die apostrophische Hinwendung zum Leser auszudifferenzieren. Was hier geschieht, ist eine ‚Metamorphose‘, in die der Leser begriffen ist, weil er zu einer Figur des Textes, zu einem „Wesen der Fiktion“119, man könnte auch sagen: zu einem diegtischen Wesen wird. Die Apostrophe ist außerdem eingebunden in das Netzwerk ‚Technik’, insofern der Rezipient auf einem aus Holz gebauten Stuhl sitzt vor dem auf einem Tisch liegenden Gedicht, welches mit Tinte auf Papier gedruckt ist mithilfe einer Druckerpresse usw. Darüber hinaus findet sich eine Verknüpfung mit der Existenzweise ‚Bindung‘, schließlich nimmt er der Literatur gegenüber eine Haltung des Begehrens, der Leidenschaft und der Offenheit für Alterierung ein. Über Emma Bovary wird nicht weniger lebhaft diskutiert als über die Nachbarin aus Fleisch und Blut,
119 Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt/M: Suhrkamp 331ff.
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auch wenn niemand nach ihrer Geburtsurkunde suchen würde. Zwischen diesen Ontologien vollziehen sich Oszillationsbewegungen: Als verführtes Subjekt sind wir ‚diegetische Wesen‘ und gleichzeitig Leser. Dabei ist die Materialität keineswegs ein Hindernis. „Noch der suggestivste Zauber, den ein Bild auszulösen vermag, die noch so verführerische Simulation ernährt sich doch daraus, dass wir die Farbe und die Faktur, die Chemie der Malerei stets mitsehen können“120 , so betont Gottfried Boehm. Einem diegetischen Wesen wird die Medialität der Schrift, die den Leser auf Distanz gehalten hat, durchlässig, weil es einbezogen wird in die Welt, deren Teil er wird. Sie wird überwunden etwa durch die Apostrophe bei Rilke oder Hölderlin; durch das Rauschen des Wassers bei Eichendorf; durch die schmatzenden Geräusche des giersch, der sich den Garten und das Gedicht einverleibt. Der Leser hört sie eine Zeit lang mit, indem er sich zum ‚diegetischen Wesen‘ verwandelt. Dies geschieht temporär, bis, vielleicht schon in der nächsten Zeile, die Druckerschwärze der Buchstaben herausstechen, das harte Holz des Stuhls im Rücken spürbar wird, der Geruch des Papiers, auf dem das Gedicht steht, dessen artifziell gestaltete Sonettform erkennbar wird usw. „Es ist nicht dasselbe, von einer Metro transportiert zu werden und von der Schönheit einer Erzählung mitgerissen zu werden. Man hätte gleichwohl nicht recht, wenn man sagte, daß die eine einen ‚wahrhaft‘ transportiert und die andere ‚nur scheinbar‘.“
121
Der Grund für die Ebenbürtigkeit der Lyrik liegt darin, so können wir nach der Lektüre von Rilkes Gedicht das Zitat von Latour zusammenfassen, dass sie ebenso wirksam ist wie die Realität. Sie berührt uns, affiziert uns: Deswegen ist sie real. Sie ist nicht weniger wirklich, sie hat lediglich eine andere Materialität als die Wirklichkeit. Sie ist auf ihre Weise und gemäß ihrer Gesetzmäßigkeiten echt. Das wissen wir, weil sie uns verführt, eine bestimmte Haltung einzunehmen, weil sie uns Dinge tun macht. Innerhalb des skizzierten Theoriepanoramas, das Latour aufmacht, ist meines Erachtens für die Beschäftigung mit Lyrik erstens seine Akteurstheorie relevant, die es aufgrund ihrer Berücksichtigung nicht-menschlicher Akteure und der damit einhergehenden Relativierung anthropologischer Herrschaftsvorstellungen erlaubt, Gedichte als Netzwerke von gleichberechtigten Akteuren zu betrachten. Akteur ist,
120 Boehm, Gottfried (2011): Ikonische Differenz. Glossar. Grundbegriffe des Bildes. In: Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik. Basel: Eikones, 175. 121 Latour, Bruno (2014): Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 352.
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wer zum Handeln gebracht wird. Der Torso sieht, weil er angeblickt wird. Lyrik hat, so haben wir festgestellt, Handlungsmacht. Zweitens nutzen wir seinen Hinweis auf die Subjektwerdung durch die Fiktion. Statt als Rezeptionsästhetik, die von einem Leser als vorgegebene Entität ausgeht, der sich einen Text aneignet und diesem eine Bedeutung zuschreibt, können wir die Latour’sche Theoriekonstruktion als Beschreibungsangebot für das Wechselverhältnis von Leser und Text auffassen, durch das der Leser im Raum des Gedichts erst erzeugt wird. Drittens verleiht Latour der Fiktion als eigenständige Existenzweise einem der Realität ebenbürtigen Status. Die Fiktionsontologie zwingt dazu, zu bedenken, dass die reale Ontologie auch eine Präposition hat wie alle anderen Modi. Damit bietet Latour eine Konstruktion, nach der das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion neu gedacht werden muss: Während es in der Theoriebildung weitreichend Setzungen gibt wie ‚Das Reale‘ und ‚Das Fiktive‘, geht Latour nicht mehr von präexistenten Bereichen und Grenzen aus. Vielmehr geht es darum, zu beobachten, durch welche Operationen diese Entitäten und Grenzen entstehen und prekär werden. Mit Latour lässt sich also eine Alternative zu gängigen Fiktionstheorien denken, insofern eine Fiktionsontologie nicht mehr einer prästabilen, normativen statischen Dimension namens Realität untergeordnet ist, zu der sie einem mimetischen Abbildungs- oder Abweichungsverhältnis steht. Latour muss jedoch dahingehend erweitert werden, dass Lyrik sich aufgrund ihrer fiktionalen und nicht-fiktionalen ontologischen Stabilisierungen nicht ohne Weiteres in den Bereich der Fiktionsontologie einordnen lässt. Es wurden in diesem Kapitel exemplarisch anhand von Figuren der Übergänglichkeit, Personen- und Sprecherkonstellationen, Tempusstrukturen, Biographismus oder der Apostrophe sprachliche Operationen und Praxen sichtbar gemacht, durch die das Oszillieren zwischen Existenzmodi in Gang kommt. Sie produzieren temporäre ontologische Verdichtungen. Fallen diese zugunsten der einen Seite aus, so lockt doch, manchmal gleich im nächsten Vers, je wieder die andere. Es bleibt, die Konsequenz zu ziehen, dass es erstens nicht möglich ist, eine für die Gattung allgemeingültige Aussage darüber zu treffen, ob Lyrik fiktional oder nicht-fiktional ist, wie der Großteil der Theoriebildung dies versucht. Zweitens schlage ich vor, diese Ambiguität emphatisch anzuerkennen als eine weitere verführerische Qualität von Lyrik. Aus dem Gesagten resultiert die folgende wichtige Konsequenz: Wenn Lyrik nicht in der Existenzweise ‚Fiktion‘ aufgeht, so müssen wir dies als Hinweis auf ihre eigene Ontologie nehmen, um die Latours Panorama zu erweitern wäre. Eine solche Existenzweise namens ‚Lyrik‘ würde eben konstituiert werden durch Praktiken wie sie in dieser Studie beispielhaft untersucht wurden und werden. Die Postu-
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lierung ihres Existenzmodus ist also die logische Konsequenz aus einer Praxis, die ohnehin die Grundlage dieser Studie war und für die Latour die theoretische Unterlage anbietet: Lyrik als eigenständige Dimension ernst zu nehmen. So erst ist es möglich, ihre spezifischen Qualitäten zu berücksichtigen, von denen eine die Fähigkeit zur Verführung ist, etwa neben jener der Unterhaltung und der Information – und ich vertrete freilich hier die These, dass sie die dominante ist.122
122 Im Latour’schen Theoriegerüst könnte man die Verführung (neben z.B. der Information und der Unterhaltung) als „Trajektorie“ beschreiben (Ebd., 79ff.). Mit diesem aus der Physik stammenden Begriff versucht Latour, die Prozesslogik einer Existenzweise zu erfassen. Es ist das, was ihr eine Richtung gibt und sie in Bewegung versetzt; die Art und Weise oder Tonalität, in der ein Existenzmodus verläuft. Hat man darüber keine Kenntnis, so entsteht die Ungewissheit, in welchem Modus man sich befindet und mithilfe welcher Parameter man sich in ihm orientieren und bewegen kann. Ganz im Sinne der physikalischen Bedeutung der Trajektorie hat jede Existenzweise ihren eigenen Verlauf. Verführung als Trajektorie der Lyrik zu beschreiben, hieße, emphatisch anzuerkennen, dass zuverlässige Orientierungsmöglichkeiten ausgehebelt werden.
Das Andere in Arbeit: Verführung
A UFTAKT Im Laufe dieser Studie haben wir immer wieder in Verführungskonstellationen Versuche beobachten können, strategisches, gewinnorientiertes, zweckgebundenes Handeln durchzusetzen, das dem Nützlichkeitsprinzip verpflichtet ist, etwa durch Werbemaßnahmen in der Minne, das gezielte Ausbilden von Begierden wie bei Damötas und Phyllis oder die rücksichtslose Proliferation wie in Wagners giersch. Diese Anlage und Orientierung des Handelns kann man als paradigmatisch für ein klassisch-ökonomisches Produktionsparadigma auffassen, wie es sich im Zuge der Moderne in der politischen Ökonomie mit Protagonisten wie Adam Smith und Karl Marx konstituiert hat. Es ist nicht weit hergeholt, dass in solchen ökonomischen Zusammenhängen Dynamiken der Verführung eine Rolle spielen bzw. kalkuliert eingesetzt werden, wie in der Werbung, mit dem Ziel, die sinnliche Wahrnehmung des Konsumenten anzusprechen, sein Kaufbegehren zu wecken, ihn hinsichtlich seiner Bedürfnisse zu manipulieren o.ä. Der Mechanismus der Verführung als funktionalisiertes, zweckgebundenes Instrument ist ein wesentlicher Motor des kapitalistischen Kreislaufs aus Produktion, Distribution und Konsumtion mit dem Ziel des Wachstums und des Gewinns.1 Vor allem aber hatte sich in verschiedenen Perspektiven offenbart, dass Verführung sich dem Nützlichkeitsprinzip immer wieder sperrt. Im Sinne Baudrillards stellt sie sich als Gegenspieler zu oder Störenfried in einem auf Produktion – von Eindeutigkeit, von Sichtbarkeit, von Verfügbarkeit, von Zweckhaftigkeit usw. – ausgerichteten System heraus. „Die Verführung schien mir sämtliche Formen zu betreffen, die sich einem System der Akkumulation und der Produktion entzie-
1
Vgl. Packard, Vance (1965): Die Geheimen Verführer. Frankfurt/M: Ullstein sowie Brand, Horst (1978): Die Legende von den ‚Geheimen Verführern‘.
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hen“2, so Baudrillard. Sie subvertiert eindeutige Verhältnisse, durchkreuzt Strategien, ent-wendet Pläne. In scheinbar aufgehenden Kreisläufen wirkt sie als widerständige, ent-setzende, afformative Dynamik (weiterführende Überlegungen zum Afformativ finden sich im Kapitel Geste – Attraktoren). Hegt man diesen Umstand diskursgeschichtlich ein, so hat sich zum einen in den 1960er bis 1990er Jahren mit Jacques Derrida und Georges Bataille der Gedanke ausgeprägt, dass die Vorstellung von äquivalenten Verhältnissen ein Mythos ist, dass ökonomische Tauschbeziehungen nicht vollständig harmonisch aufgehen, dass immer ein Rest bleibt. Derrida hat dies über den Begriff der Gabe konzeptionalisiert, Bataille mit dem Begriff der Verausgabung bzw. des Überschusses. In den 2000er Jahren ist diese Theorieschleife im gesellschaftlichen und theoriepolitischen Diskurs wieder aktuell geworden hinsichtlich der auf das Paradigma der Arbeit zugespitzten Frage nach dem gesellschaftlichen Konzept von Produktivität, Disziplinierung, Funktionialisierung des Körpers, Aktivierung und Produktivmachung von Kreativität, Selbstmanagement und –optimierung, Überforderung, (Aus-) Nutzung usw. In dieses Feld hat sich ein Diskurs eingeflochten, der weniger ein Gegendiskurs ist, insofern er keine schlichten Gegenmodelle zu ‚Arbeit‘ entwickelt, sondern in Form eigener, positiver Begriffe Dynamiken in Arbeit sichtbar macht, die ihr widerständig sind. Herausgebildet haben sich hier v.a. die Begriffsangebote „Muße“3, „Genuss“4, „Gelassenheit“5 oder das „I would prefer not to“6 von Melvilles Bartleby, also das Nicht-Tun, das Sich-Der-Handlung-Enthalten.
2
Baudrillard, Jean (2002): Paßwörter. Berlin: Merve, 24.
3
Schäfer, Martin Jörg (2013): Die Gewalt der Muße. Berlin: Diaphanes.
4
„[E]ine Öffnung ohne Zweckmäßigkeit ist niemals das Werk, noch sonst irgendein Produkt: sie ist der Genuß“. (Nancy, Jean-Luc (2003): Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung. Berlin: Diaphanes, 54) Nancy verweist hier auf Marx.
5
Hamacher, Werner (2002). Arbeiten, Durcharbeiten. In: Baecker, Dirk (Hg.): Archäologie der Arbeit. Kadmos: Berlin, 155-200. Vgl. auch Skrandies, Timo (2008): Medienästhetische Implikationen von Arbeit. In: Denana, Malda (Hg.): Blick. Spiel. Feld. Würzburg: Königshausen & Neumann, 55-68 sowie Ders. (2007): Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit. In: Ders. et al.: Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken. Bielefeld: transcript, 215-251.
6
Melville, Herman (1946): Bartleby. Zürich: Verlag der Arche. Vgl. auch Agamben, Giorgio (1998): Bartleby oder die Kontingenz. Berlin: Merve.
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Ich schlage in diesem Kapitel vor, ‚Verführung‘ als Begriffsangebot zu diesem Panorama hinzuzunehmen, und dieser Vorschlag wird aus dem spezifischen Einsatzpunkt der Lyrik heraus unterbreitet.7
F OLGE
DEM WEISSEN
K ANINCHEN
„When I make a word do a lot of work like that, I always pay it extra“8, sagt Humpty Dumpty in Lewis Carrolls Alices Adventures in Wonderland, wo das Mädchen Alice von einem weißen Kaninchen dazu verführt wird, in dessen Bau hinabzuklettern, und so in eine phantastische Welt gelangt.9 In Goethes Ballade Der Fischer von 1778 finden sich einige Worte und Verse, die sehr viel Arbeit leisten, die ‚Mehrarbeit‘ an den Tag legen, die über ihr eigentliches Soll hinaus produktiv sind und also, nach Auffassung Humpty Dumptys, einen Lohnzuschlag verdient hätten. Doch was will das heißen, was ist ihr ‚Soll‘, das überschritten wird? Und was hat es mit dem Begriff der ‚Arbeit‘ in einem Erzählgedicht auf sich, das eine einzige Verführungsszene darstellt? Ein genauer und ein neuer Blick auf den kanonischen Text ist vonnöten. Der Fischer 1
Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, Ein Fischer saß daran, Sah nach dem Angel ruhevoll, Kühl bis an’s Herz hinan:
5
Und wie er sitzt und wie er lauscht, Teilt sich die Flut empor, Aus dem bewegten Wasser rauscht ein feuchtes Weib hervor.
7
Dies schlägt auch Timo Skrandies vor in: Gelehrigkeit und: Verführung? Arbeit als Kippfigur. In: Nebulosa – Figuren des Sozialen. 07/2015: Prinzessinnen. Berlin: Neofelis, 117-125.
8
Carroll, Lewis (1992): Alice in Wonderland. Through the Looking-Glass. Norton & Company. New York, 164.
9
Im Übrigen ist es auch in Matrix, jenem Science-Fiction- bzw. Dystopiefilm der Wachowski-Geschwister von 1999, ein weißes Kaninchen, das Neo lockt, ihm in die Matrix zu folgen.
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Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm: Was lockst du meine Brut Mit Menschenwitz und Menschenlist Hinauf in Todesglut? Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist
15
So wohlig auf dem Grund, Du stiegst herunter wie du bist, Und würdest erst gesund. Labt sich die liebe Sonne nicht,
20
Der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenatmend ihr Gesicht Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, Das feucht verklärte Blau?
25
Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Tau? Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, Netzt’ ihm den nackten Fuß,
30
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll, Wie bei der Liebsten Gruß. Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; Da war’s um ihn geschehn: Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
35
Und ward nicht mehr gesehn.10
Eines dieser vielbeschäftigten Worte, das Humpty Dumpty (aus-)nutzt und Alice verdutzt, ist in dieser Ballade von Goethe das durch alle Strophen hindurch omnipräsente und onomatopoetische Verb ‚rauschen‘ in seiner Flexionsform „rauscht“ (1, 7, 28). Das Rauschen, dieses diffuse, unmelodische Geräusch, das weder Sprache noch Musik zuzuordnen ist, scheint auf den ersten Blick oder besser: auf das erste Hören hin keine Bedeutung zu tragen, und stattdessen mit seiner Materialität überflutende Reize auf die Sinne des Fischers auszuüben. Und doch transportiert es Bedeutung; transportiert sie nachgerade buchstäblich, schließlich ist es doch das Medium, das die Nymphe hervorbringt und in das sie wieder verschwindet. Als sol-
10 Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Die Gedichte I. München: Goldmann, 124f.
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ches stellt das kurze Verb „rauscht“ den „fruchtbaren Augenblick“11 dar, aus dem heraus sich die Handlung des Textes entwickelt, in dem die Personenkonstellation konfiguriert, das Setting in der Natur topographisiert wird. Allen voran ist das Rauschen ein Medium, das mit seinen dichotomischen Parametern Klang oder Stille, Fließen oder Versiegen, Bewegung oder Stillstand, Wasser oder Luft Entscheidungsbefugnis über Leben und Tod hat. So auch über das Schicksal des Fischers. Wenn zu Beginn die Rede ist vom „kühlen Herz“ des Fischers (4), der in einer „ruhevoll[en]“ Idylle (3) „sitzt“ und „lauscht“ (5), dann ist die Welt oberhalb der Wasseroberfläche die des Lebens. Im Rauschen, das die Präsenz der Nymphe als Stellvertreterin für das Leben in der Unterwasserwelt evoziert, artikuliert sich eine erste semantische Umkehrung. Deren Stigmatisierung der Welt oberhalb des Wassers als „Todesglut“ (13) steht der Beschreibung der Meereswelt als „wohlig“ (15), „gesund“ (17) und „wellenatmend“ (21) gegenüber. Ob das Rauschen zu einer weiteren, für den Fischer fatalen Umkehrung führt, bleibt offen: Den Tod des Fischers zu vermuten, gibt die Ballade ebenso Anlass, wie zu hoffen, er friste, verwandelt in ein Wasserwesen, fortan sein Dasein im Reich der Nymphe. Gerade durch das Hervorkehren seiner Materialität, also des diffusen, undurchdringlichen Zusammenspiels von Missklängen, ist das Rauschen radikale Ansprache der sinnlichen Wahrnehmung. Bald als Wechsel der Sinne, bald als Verwirrung der Sinne, entfaltet es eine geradezu be-rauschende Wirkung auf den Fischer. So beginnt die Ballade mit dem Vers „Das Wasser rauscht'“ (1) und spricht den Hörsinn an, gefolgt von der Ansprache des visuellen Sinns mit dem Vers „Sah nach dem Angel ruhevoll“ in der dritten Zeile. Nach einem Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens folgt sogleich in dem Kreuzreim von „rauscht“ und „lauscht“ (5, 7) sowie im ersten Vers der zweiten Strophe „Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm“ eine erneute Wendung zum akustischen Sinn, bevor sodann mit der Schönheit des Gesichts und dem Blau des Himmels wiederum die visuelle Wahrnehmung angesprochen wird. In der letzten Strophe schließlich („Netzt` ihm den nackten Fuß“, 29) steht der Tastsinn, das Fühlen auf der bloßen Haut, im Vordergrund, gefolgt von der wiederholten Ansprache der Nymphe, die teils aus Gesang, teils aus Sprache besteht. Wenn das Rauschen sich hier darstellt als ein Moment, das nicht nur die Nixe hervorbringt (im doppelten Bezug des Ausdrucks), sondern auch den Fischer, indem es ihn zuerst zur passiven Kontemplation anregt, angezeigt durch die Verse Ein Fischer saß daran, Sah nach dem Angel ruhevoll,
11 Lessing, Gotthold Ephraim (1974): Werke. Bd. 6. Kunsttheoretische und Kunsthistorische Schriften. Hg. von Göpfert, Herbert G. München: Hanser, 25.
294 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK Kühl bis ans Herz hinan: Und wie er sitzt und wie er lauscht […] (2-5),
dann zur Aktion durch emotionale Re-Aktion, veranschaulicht in den Versen Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll, Wie bei der Liebsten Gruß […] (30-31),
und ihn schließlich, kulminierend in der Zeile „Da war`s um ihn geschehn“ (33), zur Hingabe bewegt, zur Anheimgabe an die Nymphe, an sein Gefühl, an das Schicksal – wenn das Rauschen den Fischer also zum Handeln bringt, so ist es ein Akteur bzw. Aktant im Sinne Bruno Latours. Die Nixe laboriert mit und an den Sinnen des Fischers. Ihre Ansprache berührt ihn affektiv, sein kühles Herz wird empfänglich für die Avancen der Nymphe, er wird neugierig, gar sehnsüchtig. Es ist daher nicht übertrieben, vom Rauschen als Konstituens der Ballade zu sprechen, aus dem die Nymphe hervorkommt, aus dem heraus sich der plot, die Verführungskonstellation des Textes, überhaupt erst entwickelt.12 Das Rauschen bringt also gerade durch die Friktionen seiner Materialität Bedeutung hervor.13
12 Michel Serres liest das Rauschen als „wesentliches Moment der Kommunikation“. In: Ders. (1991): Hermes I, 49. Weiterführend dazu: Hiepko, Andreas et al. (Hg.) (2001): Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung; Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. 223-253; Menke, Bettine (2000): Prosopopöiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. Barthes, Roland (2006): Das Rauschen der Sprache; Liebau, Eckart und Zirfas, Jörg (2013): Eine Ästhetik des Risikos. Lust, Rausch und Ekstase. 13 Dieser Auftakt meiner Beschäftigung mit Goethes Langgedicht ist deutbar als die populärste Zugangsweise, nach der der Fischer zu den bekanntesten naturmagischen Balladen gehört mit dem Waldes- und Wasserrauschen als verheißungsvolles, erotisches Geflüster des Numinosen. Interpretiert wird das Wasserweib hier für gewöhnlich als ein mit ambivalenten Kräften ausgestattetes übermenschlichen Wesen, das halb faszinierend, halb bedrohlich ist. Der Fischer wird demgegenüber zum verstandesnüchternen Aufklärer, der nichts gegen die seine Seele bewegenden, mit der Ratio nicht zu bändigen Naturkräfte auszurichten vermag, was ihm zum Verhängnis wird (Rainer Wild fasst diese Deutungstradition zusammen in: Ders. (1996): Der Fischer. In: Witte, Bernd et al. (Hg.): Goethe Handbuch. Bd. I, 211). Die Gegenüberstellung von ‚kühler‘ Vernunft, die dem Mann zugeschlagen wird, und der mystifizierten, ungebändigten Wildheit, die als Ausdruck des Weiblichen gedeutet wird, „reproduziert die Dichotomie Mann/Kultur – Frau/Natur, wie sie sich im 18. Jh. als männliche Projektion ausformt“ (Inge Wild (1999): Fischer, Der.
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Was also ist das Soll eines Wortes? Mit dem bloßen Hinweis auf seine Bedeutung können wir nicht mehr antworten. Es löst sich nicht mehr in eine semiotische Trennung auf, sondern im Körper des lautmalenden Wortes treten ‚Immaterielles‘ und ‚Materielles‘ zusammen, ja werden sogar unentscheidbar.
F ORMEN
DES
P RODUKTIVSEINS
Das bis hierhin vielbeschworene Rauschen ist freilich nicht der einzige Akteur in Goethes Ballade. Was tun die Protagonisten der Geschichte, namentlich Wasserweib und Fischer? Die Handlungen und (Seelen-)zustände ausdrückenden, auffällig gehäuften Verben (‚Tu-Worte‘) sowie der prominente vorletzte Vers „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ verleihen der Frage nach dem Tun oder eher: nach der Verhandlung verschiedener Art und Weisen des Tuns, die Nixe und Fischer an den Tag legen, großes Gewicht. Was also tut der Protagonist zu Anfang, wenn er im Boot oder am Ufer sitzt? Er fischt. Er sitzt in einem Boot, ruhig, entspannt oder gar regungslos, nämlich „kühl[en]“ Gemüts (4) auf das Wasser lauschend. Zwei mögliche Zuschreibungen sind naheliegend: Er fischt um des Fischens willen und geht damit einer Freizeitaktivität nach, die der Naturkontemplation frönt, die Stille, Abgeschiedenheit, Ruhe vor der Zivilisation, den Rückzug in die Natur schätzt. Und doch tut er noch etwas anderes: Er wartet auf einen Fang, möchte etwas aus der Tiefe des Wassers an die Oberfläche locken, möchte etwas ködern. Möglich, dass das Fischen sein Beruf ist, ist es doch nicht zuletzt eine Tätigkeit, die das elementare Bedürfnis des Hungers stillt. Möglich also, dass der Fischer arbeitet.14
In: Jeßing et al. Goethe Lexikon, 146-147, hier 147) und symbolisiert dessen „Sehnsucht nach der verlorenen Einheit mit der Natur“ (Ebd.). Diese Deutung ist auch für unsere Lesart mit dem Fokus auf die Verführung wichtig. In der hier vorgeschlagenen Re-Lektüre von Goethes Ballade soll jedoch eine Verschiebung des Fokus vorgenommen werden, die das Tun – und zwar das verführerische Tun – der Protagonisten und der Sprache in den Blick nimmt. Dies erfordert die Loslösung von einer vorherigen gattungstheoretischen Einordnung. 14 Dass der Fischer arbeitet, stellt auch Rainer Wild fest und betont, dies werde ansonsten in der Forschung nicht erkannt. Wild, Rainer (1991): Der Narziß und die Natur. Bemerkungen zu Goethes Ballade Der Fischer. In: Lenz Jahrbuch 1/1991, 168-187, hier 171 und Fußnote 38 auf Seite 185f.
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Gleichviel, ob sein Tun als Hobby oder Arbeit plakatiert wird, es ist eines, das Qualitäten jener theoretischen Ausdifferenzierung hat, die auf Aristoteles zurückgeht. Dieser unterscheidet in seiner Nikomachischen Ethik Tätigkeiten in solche der poiesis und solche der praxis. Der größere Kontext dieser zwei Arten des Tuns ist die Auseinandersetzung mit der ethischen Ausgangsfrage nach der bestmöglichen Lebensführung des Individuums und des Kollektivs und spezifischer die Besprechung der Vernunfttugenden, darunter die Wissenschaft. Im Anschluss setzt Aristoteles an: „Was anders sein kann, ist teils Gegenstand des Herstellens, teils des Handelns. Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) sind zweierlei“15. Während die poiesis auf einen außer ihrer selbst liegenden Zweck ausgerichtet ist, sie also darauf abzielt, etwas herzustellen, fallen in der praxis die Handlung und das Ziel der Handlung in eins. Das Ziel ist also schon in der Handlung selbst enthalten, sie ist mithin Selbstzweck.16 In ihr handeln wir also um ihrer selbst willen, was Aristoteles dazu führt, sie als die gute oder gar beste, da freie Art des Tätigseins, zu bestimmen. Als Signatur der poiesis könnte man das ‚Hervorbringen‘ benennen; als solche der praxis das ‚Handeln‘. Goethes Fischer nun wirft das Netz oder die Angel aus, um etwas anzulocken – was genau, bleibt unausgesprochen. Das Fischen ist zum einen eine Freizeitaktivität, der man praxeologische Züge zusprechen kann, insofern sie um ihrer selbst willen getätigt wird. Für den Genuss der freien Zeit, die mit ihr einhergeht, für die Dauer des Wartens, für die damit zusammenhängende Ruhe und Entschleunigung. Ein freies Handeln, ein Tun um seiner selbst willen. Das Fischen ist zum anderen ein hervorbringendes Handeln, das das Ziel des Fangs in sich trägt, um zum Beispiel am Abend eine Mahlzeit zubereiten zu können. Es ist insofern ein zweckgebundenes Handeln, das eine Verwandtschaft pflegt mit den Begriffen des Arbeitens, des Herstellens und des Produzierens. Ob der Fischer nun einer Freizeitbeschäftigung oder Arbeit nachgeht: Das Fischernetz ist zusammen mit seinem Körper Mittel zur Produktion, gleichsam das ausführende Instrument, das dazu dient, einen Fang zu machen. Durch diese Unterscheidung der zwei Handlungsmodi zeigt sich nun, etwa im Tun des Fischers, dass Arbeit mehr sein kann als die Einengung auf ein auf Zweckrationalität konzentriertes, Mehrwert schaffendes Hervorbringen durch die klassische ‚Maloche‘ mit einem messbaren Ziel, etwa einem materiellen Produkt, das
15 Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Hg. von König, Burghard. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 200, Vers 1139b. 16 Vgl. „Das Ziel der Herstellung (poiesis) ist von dieser selbst verschieden, das der Handlung nicht.“ In Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Hg. von König, Burghard.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 200, Vers 1140b.
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seinerseits abtrennbar ist von der Tätigkeit, dessen Ergebnis es ist. Mit Karl Marx indes wird genau diese Form als ‚Arbeit‘ populär, gilt doch diejenige als produktiv, die einen möglichst großen Mehrwert schafft – das Ziel der kapitalistischen Produktion. Mehrwert ist der Überschuss, den der Lohnarbeiter über den Einsatz seiner eigentlich für den Arbeitsgegenstand notwendigen Arbeitskraft und der nötigen Produktionsmittel hinaus erarbeitet. Unproduktive Arbeit erwirtschaftet keinen solchen Mehrwert. Vor Marx nimmt aber schon Adam Smith um 1776, dem Erscheinungsjahr von Der Wohlstand der Nationen, eine Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit vor, was übrigens zur Folge hatte, dass zahlreiche Tätigkeiten, die bei Aristoteles hohes Ansehen genossen, etwa die Bekleidung politischer Ämter, fortan zur Kategorie der unproduktiven Arbeit gehörten. Produktiv sei Arbeit, sofern sie wertbildend ist, so Smith. Dies treffe zwar beispielsweise auch für die Arbeit eines Dienstboten zu, „doch manifestiert sich die Arbeit des Fabrikarbeiters in einem einzelnen Werkstück oder einer käuflichen Ware, so daß sie auch noch eine Zeitlang nach der Bearbeitung fortbesteht“17. Und weiter: „Die Arbeit eines Dienstboten dagegen wird „nirgends sichtbar, weder in einem Werkstück noch in einem käuflichen Gut. Im Allgemeinen geht seine Leistung im selben Augenblick unter, in dem er sie vollbringt, ohne eine Spur oder einen Wert zu hinterlassen“18. In diese Kategorie gehören Dienste wie die der Juristen, Geistlichen, Schriftsteller, Clowns, Opernsänger und –tänzer. Smith bewertet sie nicht pejorativ, sondern würdigt deren Tätigkeiten als wichtig und bedeutend, jedoch „vermag selbst der Ehrenwerteste und der Nützlichste unter ihnen nichts zu liefern, womit man später einen gleichen Dienst kaufen oder besorgen könnte“19. Smith bezeichnet also diejenige Arbeit als produktiv, die gleichsam angesammelt und gespeichert werden kann, um sie zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen zu können, um sie, „falls erforderlich, bei anderer Gelegenheit wieder zu verwenden.“20 Die Unentscheidbarkeit, ob des Fischers Produktivsein nun der Seite des Hobbys oder der Arbeit zuzuschlagen ist – und die auf einen Begriff zu bringen im Übrigen auch nicht Ziel dieses Kapitels ist, das darin besteht, über das Tun verschiedener Akteure zu reflektieren und nicht, es eindeutig benennen zu können –, spiegelt eine grundsätzliche Problematik in der modernen und aktuellen Auseinandersetzung mit
17 Smith, Adam (1974): Der Wohlstand der Nationen. München: Beck, 272. Weiterhin verwiesen sei auf das gesamte dritte Kapitel „Bildung von Kapital oder produktive und unproduktive Arbeit“ des zweitens Buchs. 18 Ebd., 272f. 19 Ebd., 273. 20 Ebd.
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Theoriefiguren wie der Arbeit oder der Produktivität wider. Solcherlei Auseinandersetzung, die ein so zahlreiches wie vielfältiges Angebot an Beschreibungs-, Erklärungs- und Definitionsversuchen in sich integriert, fokussiert in all ihrer Heterogenität immer auch auf die Abgrenzung, Andersheit und Alterität dieser Theorien. Jenes oben skizzierte, wohl das wirkmächtigste ‚Konzept‘ von Arbeit, beschreibt sie als eine Form des Produktiv-Seins, das mit Mehrwert und der Erzeugung eines Ergebnisses verknüpft ist, und dessen Fehlen mit Unproduktivität, Verweigerung und Nutzlosigkeit. Zwar würde Freizeit dann eine zeitbegrenzte physische und im Idealfall auch geistige Trennung des arbeitenden Körpers und der arbeitsamen Psyche von der normalerweise ausgeführten Arbeit darstellen, jedoch unterliegt sie immer noch deren Logik, ist also freie Zeit von der Arbeit. Das Arbeitsparadigma ist der Referenzpunkt, von dem aus präskriptiv bestimmt wird, was ihm entspricht oder von ihm abweicht. Abwesenheit von Arbeit wäre somit eben als Arbeitslosigkeit immer nur ex negativo bestimmbar als Mangel, den es zu füllen gilt und der aber selbst ein solcher stets nur in Abhängigkeit des Normativs ‚Arbeit‘ sein kann. So kommentiert etwa Walter Benjamin, noch dem Müßiggang seien die Züge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in welcher er gedeiht, eingegraben.21 Jenes als Normativ fungierende Arbeitsparadigma nach Adam Smith und Karl Marx misst Produktivität an einem Ergebnis, bindet es mithin an das Erreichen eines Ziels, an die Herstellung eines Guts. Einem solchen verengten Begriff von Produktivität fällt auch der Kaiser in Goethes Faust II anheim: Hat etwas Wert, es muß zutage kommen. […] Die Töpfe drunten, voll von Goldgewicht: Zieh an dem Pflug, und ackre sie ans Licht.22
Wie aber kann eine positive, emphatische, wertigende Alternative zu produktiver Arbeit, zu einem Anderen als Arbeit formuliert werden, das nicht allein über deren Absenz definiert ist?23 Diese Frage ist v.a. im Zuge der Entwicklung des Arbeitspa-
21 Vgl. Benjamin, Walter (1982): Passagenwerk. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 968. 22 Goethe, Johann Wolfgang (2001): Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Vers 5034. 23 Vgl. Timo Skrandies zu der Überlegung, wie (Nicht-)Arbeit anders als Arbeit geschieht – die Formulierung ist eine Anleihe bei Emmanuel Lévinas. Skrandies, Timo (2007): Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit. In: Ders. et al.: Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken. Bielefeld: transcript, 215-251, hier 216 und insbesondere 242f. Sein Vorschlag, ebenso wie der von Etzold/Schäfer, geht zurück auf Werner Hamachers Umkreisung der Heideggerschen Gelassenheit. Dazu später mehr. Siehe Skrandies in obigem Aufsatz von 2007, 241ff. sowie
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radigmas der letzten Jahrzehnte, insbesondere ab den 1970er Jahren, vom industriellen Sektor zur sogenannten Dienstleistungsgesellschaft dringlich geworden, in dessen Folge die Feststellung einer ‚Absenz‘ von Arbeit in vielen Fällen kaum mehr möglich ist. Nicht mehr, da die moderne Realität des Arbeitens und des Nicht-Arbeitens sich in Nuancen auffächert, die uns entgehen, wenn wir sie mit einem Konzept betrachten, das körperliche Tätigkeit, industrielle Produktion, Handwerk, Fabrikarbeit als klassische Arbeit erachtet. Gleichwohl hat sich diese Idee von Arbeit aber – dies ist bei allen folgenden Monita nicht zu vergessen – bis in die Moderne hinein als ein probates, gangbares, nicht nur nützliches, sondern auch zutreffendes und als das dominante Beschreibungsmodell erwiesen, bietet es doch Einsatzpunkte für Diskussionen um Entfremdung, Prekarisierung, ÜberDisziplinierung, Ausbeutung, biopolitische Eingriffe in das Leben des Subjekts o.a. Keineswegs also überflüssig geworden24, verfehlt es jedoch Auffächerungen von Arbeit, die in einer solchen Beschreibung nicht aufgehen, die mehr oder Anderes tun als das Vorgeschlagene, entweder zusätzlich noch Weiteres oder aber davon völlig Verschiedenes – oder auch das Gleiche auf andere Weise. Mag das Angeln des Fischers noch beschreibbar sein mit den herkömmlichen Begriffen von Arbeit und Nicht-Arbeit, so wird deren Unzulänglichkeit spätestens dann deutlich, wenn wir das Tun der Nixe zu erfassen versuchen. Unnötig, darauf hinzuweisen, dass auch sie etwas produziert, doch ist es schwerer zu benennen. Beobachten wir daher zunächst, was geschieht: In seinem Boot sitzt ein Mann mit seinem Netz und fischt, als eine Nixe aus der Tiefe emporkommt. Sie wirft ihm das Eindringen in ihre Welt vor und reagiert mit Wut und Tadel, schließlich fasst sie das Fischen als Versuch auf, sie und ihresgleichen in den Tod zu locken (11-13). Sodann folgt in den beiden mittleren Strophen ihre Fürsprache für ein Leben in der Unterwasserwelt mit dem Appell, ihr dorthin zu folgen. Neben dem Sprecher – man mag ihn gar ‚Erzähler‘ nennen, weil er eine, so scheint es, beobachtende Position
Ders. (2012): ArbeitslosR. In: Netzwerk Körper (Hg.): What can a Body do? Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Campus, Frankfurt am Main, 19-25, und Etzold, Jörn und Schäfer, Martin Jörg (2011): Zum Geleit. In: Dies. (Hg.): Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken. Verlag der Bauhaus Universität. Weimar, 7-13, hier: 12. Außerdem Hamacher, Werner (2002): Arbeiten Durcharbeiten. In: Baecker, Dirk (Hg.): Archäologie der Arbeit, 155-200, hier 198. 24 So tut Skrandies „quasi-romantische“ Erscheinungsformen einer solchen Arbeit auf im Geruch frischen Teers an einer Baustelle oder den Spuren ungetrockneter Farbe, die sich auf den Sitz der S-Bahn abfärben, nachdem ein Anstreicher in Arbeitskleidung dort Platz genommen hatte. (Skrandies, Timo (2007): Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit. In: Ders. et al.: Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken. Bielefeld: transcript, 215-251, hier 225)
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hat und nicht selbst involviert ist –, der die erste und letzte der vier Strophen spricht, hat alleine die Nixe eine Stimme, denn der zweite und dritte Abschnitt sind Figurenrede. Die Sinne des Fischers sind vom Sprechen der Nymphe derart betört, dass seine räumliche Wahrnehmung durcheinandergerät: Die logische Ordnung dessen, was oben (Himmel) und was unten (Meeresgrund) ist, wird durch die Spiegelung von Sonne, Mond und seinem eigenen Antlitz unentscheidbar und verrückt dem Fischer den Kopf.25 Das Handeln des Wasserweibs illustriert auf poetische Weise eine folgenschwere Entwicklung im Produktionsparadigma der letzten Jahrzehnte. Veränderungen von Produktionsarten, Umstrukturierungen der Arbeitswelt vom Primär- und Sekundärsektor hin zum tertiären und quartären haben spätestens seit den 1970er Jahren den Fokus von der materiellen Ware zur immateriellen verrückt. In der sogenannten ‚immateriellen‘ oder ‚affektiven‘ Arbeit geht es vor allem um Dienstleistungen, Service, Kommunikation, Informationsgewinnung und -transfer, Wissensgenerierung und -distribution. Wertschöpfung entsteht durch Tätigkeiten, Prozesse und Fähigkeiten, die in kein sichtbares Gut münden. Kreativität, kognitive Fähigkeiten, kommunikative Interaktion, Empathie und Fürsorge werden zur Ware. Der italienische Philosoph Maurizio Lazzarato schreibt: „Immaterial labour involves a series of activities that are not normally recognized as "work" — in other words, the kinds of activities involved in defining and fixing cultural and artistic standards, fashions, tastes, consumer norms, and, more strategically, public opinion.“26
Friederike Sigler ergänzt: „Labour can’t be measured anymore in physical powers or material outcome, but in categories such as communication, flexibility and creativity. The immaterial worker doesn’t do 9 to 5 jobs, but instead works all the time. And if there’s nothing particular to do, the ideal worker just works on her- or himself. “Self-management” and “self-optimization” are the keywords for the new worker to be. But when communication and creativity are labour, can everything become labour? Can we still talk about labour then? Or should we rather replace it with “life”?”27
25 Vgl. Wild, Inge (1999): Fischer, Der. In: Jeßing, Benedikt et al. (Hg.): Metzler Goethe Lexikon. Stuttgart: Metzler, 146-147, hier 147. 26 Lazzarato, Maurizio (1996): Immaterial labor. In: Virno, Paolo und Hardt, Michael (Hg.): Radical thought in Italy: A potential politics. Minneapolis: University of Minnesota Press, 133-147, hier 133. 27 Ich danke Friederike Sigler für die Bereitstellung ihres unveröffentlichten Manuskripts zur Einführung in das Panel Working Traces bei der Tagung You were not expected to do
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Die Arbeit, die bei Marx bereits zu Gallerte wird, in der die einzelne, subjektive Leistung nicht mehr erkennbar ist, wird vollends unsichtbar, solange sie erstens an einem materiellen Output orientiert ist, und zweitens weil sich Arbeit und NichtArbeit nicht mehr merklich trennen lassen. Paradox, dass Arbeit dennoch, in einem System, das den Einzelnen der Entfremdung unterwirft, zur Grundbedingung des Subjekt-Werdens in der Gesellschaft wird.28 Der klassische Arbeitsbegriff vermag Wertschöpfung durch immaterielle Arbeit – das heißt eine Arbeit, in der mit immateriellen Gütern agiert wird, aber auch ihr Handeln mit Kapitalströmen, die stets virtuell bleiben – kaum noch zu beschreiben. Charakteristisch für immaterielle Arbeit ist gerade, dass ihr Output ein anderer ist: Als Ware gilt nicht mehr nur ein fassbarer Gegenstand als Ergebnis eines Herstellungsprozesses, sondern immaterielle Güter, etwa Wissen, Information oder zwischenmenschliche Interaktion – also die Produktion und das Management von und der Umgang mit Affekten. Die Arbeit an und mit Emotionen hat ihr die Bezeichnung der „affektiven Arbeit“29 eingebracht. Diese ist eine der Ausprägungsformen der immateriellen Arbeit.30 Michael Hardt und Antonio Negri subsumieren unter affektiver Arbeit solche, die es vermag, Wohlbefinden, Leidenschaft, Erregung, Befriedigung und verwandte Gefühle und Befindlichkeiten hervorzurufen.31 Als eben solche kann auch das Tun der Nixe aufgefasst werden, ruft sie doch eine Mischung aus Wohlbehagen und Sorge, Neugier, Lust und Leidenschaft hervor. Indem sie ihre Waren einsetzt – etwa ihren Körper, die Schönheit der Natur – produziert sie
this – On the Dynamics of Production. Graduiertenkolleg Materialität und Produktion, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 4. April 2014. 28 Für Marx ist Produktivität eine anthropologische Konstante. Er geht davon aus, dass der Mensch die Welt macht – und das durch Arbeit. Arbeit im kapitalistischen System jedoch hat die Entfremdung des Menschen zur Folge. Vgl. zur Subjektwerdung durch Disziplinierung, die mit Arbeit einhergeht, auch Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Frankfurt/M: Suhrkamp. 29 Hardt, Michael (2002): Affektive Arbeit. In: Subtropen. Kritik und Versprechen. Jungle World. Supplement. 9, 2002. Sowie Lazzarato, Maurizio (1996): Immaterial Labor. In: Hardt, Michael und Virno, Paolo (Hg.): Radical Thought in Italy. A potential politics. Minneapolis: University of Minnesota Press, 133-147. 30 Vgl. Hardt, Michael: „Die affektive Arbeit ist eine Seite jener Arbeit, die ich „immaterielle Arbeit“ nennen möchte und die gegenüber den anderen Formen von Arbeit in der globalen kapitalistischen Ökonomie eine dominante Position eingenommen hat.“ Ders. (2002): Affektive Arbeit. In: Subtropen. Kritik und Versprechen. Jungle World. Supplement. 9, 2002. 31 Vgl. Hardt, Michael und Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M: Campus, 304.
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Immaterielles im Fischer, nämlich Affekte, die sie dann für ihre Zwecke verwerten will. Affektive Arbeit hat also als eine Komponente der emotionalen Berührung, die sich in der Reaktion des Fischers – „Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll“ (30) – verbalisiert. Um das zu erreichen, vertraut die Wasserfrau jedoch nicht auf ihr Glück, stattdessen geht sie strategisch vor – im Sinne eines herkömmlichen Strategiebegriffs. Hierhin zeigen sich im Übrigen erneut Implikationen des sich etablierten Konzepts von ‚Arbeit‘, die stets ein wie auch immer geartetes Ziel ins Auge fasst, dem sie sich mittels eines rational und intentional geformten Prozesses nähert. Die Wassernixe lenkt den Fischer von seiner bisherigen Tätigkeit ab, verwirrt mindestens seinen Orientierungssinn, indem sie die Zuschreibungen von ‚Oben’ und ‚Unten’ verkehrt, und schürt in ihm Emotionen. Letzteres ist durchaus eine Tätigkeit, die ein Ergebnis vorzuweisen hat – allein es ist nicht sichtbar wie ein zappelnder Fisch an der Angel. Das Wasserweib wirkt auf ihn ein, bewegt ihn, „bearbeitet“ seine Gefühlswelt. Ihr Ziel ist es, den Fischer derart zu betören, dass er sie in die Unterwasserwelt begleitet. Dazu folgt sie einer Strategie, deren Gerissenheit sich darin zeigt, dass gerade sie dem Fischer „Menschenwitz und Menschenlist“ (12) vorwirft und damit vertuscht, dass eigentlich sie einen Plan verfolgt. Sie nutzt den hypothetischen Konjunktiv, eingeleitet durch eine pathetische Interjektion: Ach wüßtest du, wie‘ s Fischlein ist So wohlig auf dem Grund, Du stiegst herunter wie du bist, Und würdest erst gesund (14-17; Hervorhebung J.V.),
Damit betont sie die Kluft zwischen der momentanen, aus ihrer Sicht negativ konnotierten Situation des Fischers und der zukünftig möglichen, positiven. Wenn er ihr in die Unterwasserwelt folgt, dann, und nur dann, werde ihm „wohlig sein“, kann er „gesund“ werden. Diese Unterstellung in Form einer konditionalen Satzverbindung hebt ab auf ein Ereignis oder eher auf einen dauerhaften Zustand – denn den stellt sie ja in Aussicht – der nur dann zustande kommt, wenn eine bestimmte Bedingung erfüllt ist. Diese Bedingung ist das Vertrauen in die Worte der Nymphe und die daraus folgende ‚Anheimgabe‘ an das Wasser. Des Weiteren arbeitet die Nixe mit den Suggestivfragen Labt sich die liebe Sonne nicht, der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenatmend ihr Gesicht Nicht doppelt schöner her? Lockt Dich der tiefe Himmel nicht, Das feucht verklärte Blau?
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Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew`gen Tau? (19-26)
Die dritte Strophe besteht vollständig aus diesen rhetorischen Fragen – Scheinfragen recht eigentlich, die eine ablehnende Reaktion des Fischers gar nicht erst in Betracht ziehen. Die Nymphe spekuliert mit den Metaphern von Sonne und Mond darauf, logische Ungereimtheiten, zum Beispiel die Gleichzeitigkeit von Sonne und Mond am Himmel, produktiv zu machen. Mit den Metaphern macht sie sich einen rhetorischen Kniff zunutze, den auch Marx mitunter verwendet. Der erste Satz im Kapital lautet: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘ [...], die einzelne Ware als seine Elementarform“32. Marx nähert sich seinem Gegenstand über dessen Erscheinungsform, d.h. über das, als was er im übertragenen Sinne auftritt. Das eigentlich Gemeinte tritt im Kleid eines Anderen auf. Reichtum artikuliert sich in der Warenform als Ungeheuer, als monströse, wilde, unkontrollierbare Ansammlung, die Ware als Metamorphose, die mit Spuk und Zauber behaftet sei.33 Mit solchen Metaphern operiert Marx in seiner Beschreibung selten, aber doch immer wieder. Ein Ding steht für ein anderes, etwas zeigt sich in anderem als seinem eigentlichen Gewand, etwas offenbart sich und versteckt sich doch zugleich, weil es in ein anderes Bild verschoben wird. Daraus können, wie Gottfried Boehm gezeigt hat (vgl. das Kapitel zur Poetischen Differenz), sowohl auf ähnlichen Eigenschaften basierende Gemeinsamkeiten resultieren, aber auch Brüche in der Übertragung aufgrund mangelnder Analogie. Diese taktischen Winkelzüge dienen der Nixe dazu, ihr Ziel zu erreichen. Sie unternimmt den Versuch, aus einer Situation (nämlich der, dass der Fischer ihre Welt in Unruhe versetzt und sie an die Oberfläche gelockt hat), Gewinn zu erzielen (nämlich, sein Herz zu erobern oder doch zumindest seine Neugier und schließlich seine Begleitung zu gewinnen, also Beute mit ihm zu machen). Dieses Ziel will sie durch Einsatz ihres Kapitals erzielen. Das ist vor allem ihr feuchter, glitzernder, agiler34 Körper mit seiner süßen Stimme als das physische, somatische Mittel, um Begehren erst hervorzurufen, das sodann gestillt werden will und – so ihr Versprechen – in der Tiefe des Wassers auch gestillt werden wird. Weiterhin dienlich sind ihr die Schönheiten der Natur wie die Farbe des Himmels und der verlockende
32 Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 49 (Hervorhebung J.V.). 33 Vgl. ebd., 88. 34 Vgl. zum Begriff der ‚Agilität’ Maurizio Lazzaratos Begriff der ‚Lebendigen Arbeit‘. Lazzarato, Maurizio (2002): Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus. Berlin: b-books.
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Klang des Wassers. Was sie sich von der Begleitung des Fischers erhofft, wozu er ihr nutzt, ob sie wohlgesonnene oder fatale Absichten hegt, bleibt offen. Betrachtet man ihr ausgeklügeltes Vorgehen genauer, so zeigt sich, dass sie auf einen für den Kapitalismus grundlegenden Mechanismus abzielt. Es handelt sich um den vom Begehren, dessen Befriedigung und erneutem Begehren. Kapitalistische Wertproduktion basiert zu großen Teilen auf dem Schüren von Begierden, die jeder Einzelne zwar auf verschiedene Weise entwickelt, die aber im Austausch gegeneinander befriedigt werden wollen – und in der Warenzirkulation auch befriedigt werden können. Zumindest kurzzeitig – macht die Konsumtion doch eher hungrig als satt und schürt rasch neues Verlangen.
B EGIERDEN
ALS
M OTOR
Auch die Nymphe begehrt etwas, nämlich den Fischer. Dafür bietet sie abstrakte Größen an. Sie glaubt, vielleicht weiß sie auch, dass der Gewinn, so sie den Fischer überzeugen kann, höher ist als die Summe ihrer eingesetzten Mittel. In Marxens Terminologie kann man dieses Anliegen als ein beispielhaft Kapitalistisches betrachten. „Der sogenannte Kapitalist“, schreibt Timo Skrandies, „will erstens einen Gebrauchswert produzieren, der einen Tauschwert hat („Ware“), und zweitens eine Ware produzieren, ‚deren Wert höher [ist] als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft, für die er sein gutes Geld auf dem Warenmarkt vorschoß‘.“35
Ergänzen könnte man drittens, dass der profitorientierte Kapitalist den erwirtschafteten Mehrwert wieder investieren, also in Kapital verwandeln bzw. in Marx’ Terminologie: akkumulieren wird, um es nicht nur zu halten, sondern zu vergrößern. Diese Beschreibung meint, anders gesagt, das Streben, aus Situationen Gewinn zu erzielen, Kapital zu ziehen, das sich je aufs Neue möglichst produktiv einsetzen, also investieren lässt, zwecks weiteren Profits. Es ist der Konsum von Waren, dem Marx unter Rückgriff auf Nicolas Barbon eine Kraft zuspricht, die in Körper und Geist des Menschen Bedürfnisse und Begierden hervorrufen36 und stillen kann: „Wo ein Verlangen ist, ist ein Bedürfnis; es
35 Skrandies, Timo (2007): Das Paradigma der Arbeit in Kulturtheorie und medialer Öffentlichkeit. In: Ders. et al.: Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken, 234. 36 „Erstens quantitative Erweiterung der bestehenden Konsumtion; zweitens Schaffung neuer Bedürfnisse dadurch, daß vorhandne in einem größren Kreis propagiert werden;
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ist der Appetit des Geistes und ebenso natürlich wie der Hunger für den Körper… Die meisten Dinge haben ihren Wert daher, daß sie die Bedürfnisse des Geistes befriedigen.“37 Dies jedoch nur für kurze Zeit, wie das Verhältnis von Ware und Begierde nach Hartmut Böhme zeigt: „Die Unerschöpflichkeit der Waren und die Unersättlichkeit des Begehrens stehen in fortdauernder Spannung.“38 Nach der Marx’schen Wert- und Mehrwerttheorie ist eine Ware ein Ding, das einen Gebrauchs- und einen Tauschwert hat. Der Gebrauchswert eines Dings besteht in seiner Nützlichkeit, also darin, dass es wie immer geartete Bedürfnisse befriedigt. Der Gebrauchswert tritt also in der Verwendung oder der Konsumtion in Augenschein. Dagegen ist der Tauschwert der Ausdruck oder die messbare, wenn auch, wegen verschiedener Faktoren wie Zeit und Raum, variable Erscheinungsform des Gebrauchswertes.39 Der Tauschwert ist also das quantitative Verhältnis, nach dem verschiedene Waren verglichen und getauscht werden können. Betrachtet man eine Ware für sich, ist immer nur ihr Gebrauchswert erkennbar; den Tauschwert nimmt man erst wahr, wenn man sie mit anderen Gütern vergleicht. Im klassischen kapitalistischen Stoffwechsel geschieht die Produktion von Gebrauchswerten vor allem um des Tauschwerts, also letztlich des Profits willen. Wenn die Gebrauchswerte von Dingen beliebig verschiedener Art sind, so haben sie dennoch einen gemeinsamen Kern, der sie vergleichbar macht. Das ist die Tatsache, dass beide Produkte menschlicher Arbeit sind. Genauer gesagt: Das Quantum der zu ihrer Herstellung durchschnittlich notwendigen und aufgewendeten Arbeit. Auch wenn diese sich in verschiedenen Tätigkeiten konkretisiert (z.B. Weben und Backen), werden beide Arbeitsformen als abstrakte Arbeit vergleichbar. Dieser Vergleich und die damit einhergehende Bewertung von verschiedenen Produkten ist jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht problematisch, da arbiträr: Mit dem Ziel, eine Vergleichbarkeit zu erzeugen, muss in der kapitalistischen Warenzirkulation eine Operation – die im Übrigen ebenfalls eine rhetorische ist – vorgenommen werden, die eine Vergleichbarkeit von Waren durch das Einebnen ihrer Alleinstellungsmerkma-
drittens: Produktion neuer Bedürfnisse und Entdeckung und Schöpfung neuer Gebrauchswerte.“ (Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. 1857/58. Berlin: Dietz, 312) 37 Barbon, Nicolas (1696): Eine Erörterung über die Ausprägung des neuen Geldes mit leichtem Münzgewicht, als Antwort auf Herrn Lockes Erwägungen… London 1696, 2 f. Zitiert nach Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 49. 38 Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg: Rowohlt 349. 39 Vgl. Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 50.
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le ermöglicht. Es ist dies die synekdochische Abstraktion und Reduktion auf ein einzelnes Teil, das für das Ganze repräsentativ einsteht. Sie ermöglicht es, die verschiedenen Waren durch das Verwischen ihrer Differenzen in Relation zueinander zu setzen. Eine ähnliche Reduktion geschieht mit der Arbeitskraft des Einzelnen. Arbeit verwirklicht sich nur in singulären Praktiken, in „konkreter“ im Gegensatz zu „abstrakter“ Arbeit, und entbehrt damit einer Vergleichbarkeit. Die Folge ist eine Entfremdung von der eigenen Arbeit bzw. dem eigenen hergestellten Produkt, die Marx unter anderem anprangert, weil das, was der Einzelne individuell hervorbringt, nicht vergleichbar ist, aber im Warenkapitalismus als abstrakte Größe vergleichbar gemacht und damit reduziert, in seiner Einzigartigkeit nicht wert geschätzt wird. Der Arbeiter geht im Kapital auf, oder eher: unter, denn er verschwindet. Nicht nur hat er keinen Zugang zum Kapital, denn im kapitalistischen Metabolismus besteht nach Marx eine herrschaftsförmige Kluft zwischen Kapital und Lohnarbeit, sondern viel grundlegender: Werte werden unter den Bedingungen des Kapitalismus entsubstantialisiert und relativiert. Dann erfolgt eine Neubesetzung durch ein transzendentales Signifikat.40 Ein zweites System setzt sich also darüber, das dem Menschen erstens suggeriert, das von ihm hergestellte Produkt habe von Natur aus Eigenschaften (z.B. einen bestimmten Wert), das es zur Ware macht. Vergessen ist, dass es sich um die Vergegenständlichung ihrer Arbeit, also um ein hergestelltes Produkt, handelt, dem Eigenschaften (nochmals: z.B. ein bestimmter Wert) zugeschrieben werden. Zweitens vertuscht es, dass die Wertbeziehung zwischen zwei Produkten ergo arbiträr ist. Es ist dies ein System, das der Mensch vollständig verinnerlicht als natürliche, statt gesellschaftliche Form der Produktion. Marx nennt es den Fetischcharakter der Warenproduktion, der die im einzelnen Produkt steckende individuelle Arbeit verschleiert. Dieser setzt die durch verschiedene Arbeitspraxen entstandenen Waren gleich, womit sie austauschbar werden. Es erfolgt eine Reduktion auf eine vermeintliche Gleichwertigkeit, die die Produkte ihrer individuellen Qualitäten beraubt und die Anstrengungen, Mühen und Verausgabungen verdunkelt, die doch eigentlich in deren Herstellung eingegangen sind. Anders formuliert: Die subjektive Arbeit wird auf ihren Waren produzierenden Gebrauchswert reduziert, der messbar und vergleichbar ist. Dass Wert jedoch aus einem Verhältnis resultiert und nicht die dingliche Eigenschaft von Waren ist, verschleiert der Fetisch. Das Federkleid der Ware scheint ihr natürliches Gesicht zu sein. Der Fetischismus ist mithin nicht eine bloße Form der Verblendung oder Irrationalität, die durch Bewusstwerden ablegbar ist. Der Schein wird wahr, konstituiert ein neues Sein, der Fetisch ist die systematische Verschleierung, die „Nebelkappe“,
40 Marx zieht eine Analogie zwischen dem einem Warenfetisch anhängenden Konsumenten und dem religiösen Menschen, der nicht an diese Welt glaubt, sondern an eine jenseitige.
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die sich der Mensch „tief über Aug und Ohr“ zieht.41 Ein fetischisiertes Objekt wird zu einem solchen, weil es vom Menschen aufgeladen ist mit Eigenschaften, die dann aus ihm herausstrahlen. So scheint es, als seien diese Eigenschaften ihm nicht äußerlich, sondern in ihm angelegt. Als Träger einer vermeintlich selbstständigen Kraft vermag das Objekt den Menschen zu affizieren, die den es umgebenden Schein nicht nur für real halten. Stattdessen, obiger Logik entsprechend, ist er für sie real. So verschleiert der Fetischismus, dass die Waren produziert, also gemacht sind und zwar durch menschliche Arbeitskraft. Dieses Prinzip hat der Mensch so verinnerlicht, dass er seine eigene Entfremdung besiegelt. Nicht zuletzt der Fetischismus, der in der kapitalistischen Welt, wie Marx sie beschreibt, am Werk ist, ist ursächlich dafür, dass es sich um „keine durchsichtige Welt […] der Zweckrationalitäten [handelt], sondern [um] eine Welt voller wundersamer Verwandlungen und Metamorphosen, die dem aufklärerischen Blick wie eine Theaterbühne erscheint, auf der verstellte und maskierte Mächte auftreten, mit der Absicht, den Betrachter zu täuschen.“42
Die Ware wird zu einem „sinnlich übersinnliche[n] Ding“43, einem „multiple[n] Gewebe aus visuellen, aber auch auditiven, taktilen, olfaktorischen, geschmacklichen wie semantischen Repräsentationen“44 und damit auch wesentlich zu einem ästhetischen. Die Ware verführt zum potentiellen Konsum und dabei ist der Fetisch besonders dienlich, ist es doch im Geschäftsinteresse der Ökonomie, die Attraktionskraft von Dingen zu erhöhen und die Verzauberung des Menschen voranzutreiben. Böhme macht mit sinnlich-erotischem Vokabular anschaulich, dass „der Fetischismus […] aufgrund seines mobilen erotischen Appeals […] nahezu alle Waren mit Begehrlichkeiten auflädt und zu magischen Attraktoren verwandelt“45. Der Fetischismus webt ein trügerisches Netz gleichartiger Beziehungen zwischen verschiedenen Kapitalformen, nämlich der menschlichen Arbeitskraft, den hergestellten Waren und Geldwerten – ein Netz, das suggeriert, Kapital und Waren seien selbstständig, ihrerseits produktiv und hätten Wirkkraft, statt bloß passiv und
41 Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort zur ersten Auflage. Hamburg: Nikol, 36. 42 Scholz, Leander (2006): Der doppelte Körper des Untertanen. In: Schröter, Jens/Schwering, Gregor/Stäheli, Urs (Hg.): media marx. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript, 61-74, hier 61. 43 Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 83. 44 Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg: Rowohlt, 348. 45 Ebd., 349.
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fabriziert zu sein. Die in erzeugte Dinge investierte Arbeitskraft strahlt zurück als ureigene Kraft der Dinge selbst. Solche raffiniert agierenden magischen Dinge, zu denen Gegenstände werden, sobald sie Warenform erlangen, entlarven Dynamiken in der Ökonomie als keineswegs vornehmlich zweckrational46, sachlich, berechnend und frei von metaphysischen Tiefen, sondern als irrational, geradezu wundersam, geheimnisumwoben, manchmal trügerisch.47 Derartig ‚belebte‘ Waren haben vielfältige Fähigkeiten. Sie vermögen, die Eigenwahrnehmung des Menschen auf den Kopf zu stellen und ihre Position auf dem Kapitalmarkt sowie ihren Arbeitsprodukten gegenüber zu romantisieren: „Das durch diese Bedingungen [der kapitalistischen Warenproduktion] entfremdete und beherrschte (objektivierte) Individuum sieht sich und die anderen dementsprechend nicht als solches, sondern verkauft (sich) die fetischisierende Warenproduktion als Freiheit, als freien Tausch“48.
46 Ich operiere hier mit Charakteristika, die auf die Definition von Zweckrationalität von Max Weber zurückgehen und berechnendes, zielorientiertes, kühles, affektunterdrückendes Verhalten bezeichnet: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschieden möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional) noch traditional handelt.“ Weber, Max (1922): Grundriss der Sozialökonomik. Wirtschaft und Gesellschaft. Bd 3. Tübingen: Mohr /Siebeck, 13. 47 Die einflussreichsten wirtschaftswissenschaftlichen Analysen ökonomischer Geschehnisse folgen noch immer dem Siegeszug des Rationalismus. D.h. sie gehen davon aus, dass okönomische Abläufe größtenteils logischen, zweckmäßigen, vernünftigen Prinzipien folgen – wie übrigens auch die Modelle, Theorien und Kritik, die zu ihrer Erklärung und ‚Zähmung‘ aufgeboten werden, versuchen, Zusammenhänge kausal, einer inneren Logik folgend, zu beschreiben. Märkte werden also als Schauplätze von scheinbar harmonisch funktionierenden Ausgleichprozessen (vgl. Vogl, Joseph (2010/12): Das Gespenst des Kapitals. Berlin: Diaphanes, 21f., 27f.), anstatt von chaotischen Vorgängen aufgefasst. Dies ist schon dahingehend problematisch, insofern diese Annahme eines Marktes, der gleichsam natürlich (bzw. gelenkt von der unsichtbaren Hand nach Adam Smith) zu Gleichgewicht, Kontinuität und Stabilität tendiert, keine einleuchtenden Erklärungsmodelle für irreguläre Ereignisse wie der schwarze Schwan bietet (vgl. Vogl, Joseph (2010/12): Das Gespenst des Kapitals, 18 und Nassim Taleb, Nicolas (2008): The Black Swan. London: Random House). 48 Skrandies, Timo (2003): Echtzeit – Text – Archiv – Simulation. Die Matrix der Medien und ihre philosophische Herkunft. Bielefeld: transcript, 267.
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Waren ‚kommunizieren‘ mit dem Konsumenten, üben eine solche Anziehungskraft auf ihn aus, dass dieser sich nicht mehr für den Gebrauchswert interessiert, sondern für ihren Besitz. Marx stellt fest, „daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben […]. An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfach Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten.“49 Nicht die körperliche Präsenz eines Dinges vermag also, nach Marx, unsere Sinne zu berühren, sondern nurmehr der Besitz, der eine eigentlich ‚sinnliche‘ Teilhabe an der Welt jedoch aussetze und verunmögliche. Diesen Mechanismus vertuscht der Fetisch und potenziert ihn noch, indem er in das Verhältnis von Konsument und Ware ein hohes Maß an Sinnlichkeit überhaupt einspeist. Der Konsument hat nicht die Macht, den Fetisch zu verwerfen, der ihm in einem uneinholbaren Begehren vorausgeht, sondern ist in seinem Bann. „Der forcierte Kapitalismus begünstigte ein Besitzstreben […]. Niemals zuvor war die dingliche Umwelt vergleichbar dicht, mannigfaltig, verlockend, künstlich, faszinierend.“50 Die Entfremdung, die Marx bekannterweise am Werk sieht – mindestens im Verhältnis des Arbeiters zum Erzeugnis seiner Arbeit, im kleinteiligen Produktionsvorgang, in der zwischenmenschlichen Beziehung; Selbstentfremdung auch durch die eingeschränkte freie, schöpferische Entfaltung –, enthält ihre Verklärung, „ihre energetische Sättigung, ihre soziale Bindekraft, ihr Faszinosum“51 zu großen Teilen durch den Fetischismus. Die fetischisierte Ware verspricht Befriedigung, Glück, Nutzen, Lust, Sinn, ja, sie verspricht diese externen Qualitäten nicht nur, sondern hat sie aus Sicht des Konsumenten inkorporiert. Sie trägt eine Aura um sich, die den Konsumenten fasziniert und in ihren Bann zieht, ihn eigentlich aber nachgerade verschlingt. Für den Kreislauf aus Begehren, Konsum und erneutem Begehren festzuhalten ist zum einen, dass Dingen eine Kraft zugesprochen wird, mittels derer sie es vermögen, wie ein Magnet den menschlichen Geist anzuziehen. Zum anderen, dass sich, nach Barbon und Marx, der auf ihn zurückgreift, der Wert der Dinge danach bemisst, inwiefern sie die „Bedürfnisse des Geistes“52 befriedigen. Zum dritten, dass die kapitalistische Produktion zu einer Entwicklung von neuen Bedürfnissen und
49 Zitiert nach Lotter, Konrad et al. (1984): Marx Engels Begriffslexikon. Stichwort „Sinnlichkeit“. München: Beck, 317-320, hier 319. 50 Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg: Rowohlt, 18. 51 Ebd., 318. 52 Barbon, Nicolas (1696): Eine Erörterung über die Ausprägung des neuen Geldes mit leichtem Münzgewicht, als Antwort auf Herrn Lockes Erwägungen… London 1696, 2 f. Zitiert nach Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 49.
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Begierden im Konsumenten führt. Diese Erweiterung der Bedürfnisse verkomme „unter den Bedingungen des Privateigentums zum Mittel der Manipulation und der Beherrschung des Menschen“53. Derartige Manipulation besteht für Marx darin, den Menschen in Abhängigkeiten zu versetzen und ihn „zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten“, dergestalt, dass eine „fremde Wesenskraft“ über ihn herrsche.54 Der Besitz des begehrten Produkts steht an oberste Stelle, und ergo seine Aneignung durch Konsumtion oder Gebrauch. So seien die Sinne des Menschen entfremdet, ersetzt durch den einen Sinn des Habens. Begehrlichkeiten vermögen die Dinge zu wecken, weil sie ästhetische Qualitäten haben. Wenn Marx von unverzuckerten, unvergoldeten Waren spricht55, von deren „Metamorphose“56, vom „Goldleib“57 und dem „Salto mortale“58 der Ware, von den „Liebesaugen“59 der Preise, vom „Wertkristalle“60, von der „Goldchrysalide“61, vom „Weg alles Fleisches“62, den die Ware wandere, und schreibt, „die Ware liebt das Geld, aber ‚nie rann der Strom der teuren Liebe sanft‘“63, dann wird exemplarisch deutlich, welch bildlicher Sprache sich Marx bedient, um die ästhetischen Seiten der Ware hervorzukehren. Doch nicht nur sinnliche, die Sinne ansprechende Eigenschaften, sondern schlechterdings einen übersinnlichen Charakter hat ein Gegenstand, sobald er Ware wird. „[J]ene scheinbar rationale Welt, die in jedem Augenblick von der ‚Rationalität‘ der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Wirtschaftssystems zu zeugen
53 Zitiert nach Lotter, Konrad et al. (1984): Marx Engels Begriffslexikon. Stichwort „Bedürfnis“. München: Beck, 62-66, hier 62. 54 Ebd., 65. Diesen pessimistischen Befund muss man nicht teilen. So ist der Konsument statt als passives Opfer von Manipulation auch als Nutznießer, sinnstiftender Akteur und als den eigenen Konsum in hohem Maß reflektierende und bewusst einsetzende Person vorstellbar. Vgl. etwa Illouz, Eva (2007): Der Konsum der Romantik. Frankfurt/M: Suhrkamp. 55 Vgl. Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol, 112. 56 Ebd., 112. 57 Ebd., 113. 58 Ebd., 113f. 59 Ebd., 118. 60 Ebd., 119. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., 115.
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scheint, - diese Welt erweist sich als eine absurde Welt von Mythen und irrationalen Illusionen, beherrscht von Fetischen, die angebetet werden.“64 Der am Markt teilhabende, weniger rationale als passionale Mensch65 wird beherrscht von „Appetit und Aversion, von Anziehung und Abstoßung“66, die ihn dazu bringen, Begierden auszubilden. Anders als bei Marx, für den Begierden das Einfallstor für manipulative Eingriffe sind, können diese Emotionen und Affekte auch produktiv eingehegt werden, etwa von Bernard Mandeville, der in seiner Bienenfabel konstatiert, gerade die maßlosen, heftigen, ungezügelten Leidenschaften seien die eigentlich produktiven, die sich gegenseitig vorteilhaft ausgleichen und entscheidend zum Funktionieren der gesellschaftlichen Ordnung beitragen.67 Nicht nur seine Ratio, sondern auch seine Leidenschaften machen den Menschen also zu einem Konsumenten, der an der Zirkulation von Waren auf dem Markt teilhat. Jedoch stehen Ratio und Leidenschaft hier nicht zwangsläufig in einem Verhältnis des gegenseitigen Ausschlusses, vielmehr sind auch die exzessivsten Begierden von einem Interesse an Nutzen und eigenem Vorteil getrieben, das einer rationalen Logik nicht entbehrt. Und zwar nicht nur einer persönlichen, sondern eben auch der des Marktes. Auf noch andere Weise pflegt Adam Smith die Begierde als nutzbringendes Moment ins ökonomische System ein, wenn er in seiner Metapher von der Unsichtbaren Hand davon ausgeht, dass solch individuelles, egoistisches Interesse an der bestmöglichen Befriedigung von Bedürfnissen und Begierden gleichzeitig untergründig, aber providentiell das Marktgeschehen reguliert und zwar dergestalt, dass der Allgemeinheit damit ebenfalls bestmöglich gedient ist, ohne dass die Einzelperson altruistische Intentionen gehabt hätte.68
64 Godelier, Maurice (1972): Warenökonomie, Fetischismus, Magie und Wissenschaft. In: Pontalis, Jean-Bertrand (Hg.) (1972): Objekte des Fetischismus. Frankfurt/M: Suhrkamp, 312. 65 Vogl, Joseph (2010/12): Das Gespenst des Kapitals. Berlin: Diaphanes, 44. Für die Konstituierung des ökonomischen Menschen als vornehmlich rational ist unter anderem ausschlaggebend sein Interesse an der Funktionalisierung von Waren, also weniger am qualitativen Wesen der Dinge als Waren, sondern vielmehr an ihrem Wert hinsichtlich einer möglichen Tauschbarkeit. Vgl. Mog, Paul: Ratio und Gefühlskultur (1976). Tübingen: Niemeyer, 49. 66 Vogl, Joseph (2010/12): Das Gespenst des Kapitals. Berlin: Diaphanes, 34. 67 Vgl. Mandeville, Bernard de (1980): Die Bienenfabel oder private Laster, öffentliche Vorteile. Frankfurt/M: Suhrkamp. 68 Vgl. Smith, Adam (1974): Der Wohlstand der Nationen. München: Beck, 371.
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Der Motor des Kapitalismus ist also zu großen Stücken ein Begehren, das in Wellen auftritt und nur kurzzeitig, aber nie endgültig gestillt werden kann. Dessen Aufkeimen beruht auf der Verführung der Sinne, die der Ausbildung von Begierden vorausgeht, auch wenn sie erst bemerkbar wird, wenn es schon ‚zu spät‘ ist, wenn man ihr schon verfallen ist, wenn man schon in ihren Fängen verstrickt ist, ohne dass man es gemerkt hätte. Diese Triebkraft kennt auch Barbon: „Die Dinge haben eine innerliche Kraft […], wie der Magnet das Eisen anzuziehn.“69 Wenn man angezogen ist von einer Ware, wenn man ein Begehren nach ihr verspürt, dann ist man bereits von ihr in den Bann gezogen worden, dann ist die Verführung bereits geschehen. Um den Fischer hierhin zu bekommen, ohne dass er ihre Durchtriebenheit durchschaut, hat die Nymphe einen strategischen Plan entwickelt: Sie konstruiert einen Mangel, um Begehren im Fischer zu schüren, indem sie ihm suggeriert, ihm fehle zum einen Wissen; Wissen darüber, wie gut es den Lebewesen in der Tiefe des Wassers gehe (15-15). Sie konstatiert ihm zum anderen das Fehlen von Gesundheit (17), ja, die Erfahrung, was ‚Gesundheit‘ überhaupt bedeutet („Und würdest erst gesund“ (17; Kursivsetzung J.V.). Sie kreiert also Leerstellen, die, so suggeriert sie, gefüllt werden müssen und gefüllt werden können. Sie lockt den Fischer mit gesteigerter sinnlicher Wahrnehmung – Schönheit, Wohligkeit, intensive Farben (das tiefe Blau des Himmels) –, mit der Aussicht auf Heilung von seiner ‚Krankheit‘ und mit seinem eigenen Angesicht. In ihrer Kalkulation bleibt offen, ob der Fischer das in Aussicht Gestellte tatsächlich auch bekommen wird. Darüber jedoch weiß sie kunstfertig hinwegzutäuschen. Sie verhehlt, dass sie nicht viel Handfestes vorzuweisen und einzutauschen hat im Gegenzug zur Begleitung des Fischers. Sonne und Mond stünden zugleich am Himmel – diese logische Unplausibilität weiß sie rhetorisch geschickt zu kaschieren. Wohlbefinden, Gesundheit, Erkenntnis seiner selbst und Unsterblichkeit, so man Vers 26 in diese Richtung deuten möchte, hat sie zwar nicht zur Stelle, aber stellt sie in der Zukunft in Aussicht. Ob sie weiß oder nicht, wie es dem Fischer in ihrer Welt ergehen wird, bleibt dahingestellt. Feststeht, dass sie so tut, als habe sie genaue Kenntnis darüber, dass er sein Glück finden wird. Allein, sie hat nichts in der Hand zum Beweis dessen. Sie muss daher geschickt agieren, muss gleichsam wuchern mit etwas, das sie noch nicht vorweisen kann, das sie noch nicht besitzt. Darin gleicht sie den zwei Gesellen aus der gleichnamigen Fabel um den Bären, von Jean de la Fontaine, die, aus Geldnot,
69 Barbon, Nicolas (1696): Eine Erörterung über die Ausprägung des neuen Geldes mit leichterem Münzgewicht, als Antwort auf Herrn Lockes Erwägungen… London, 2-3. Zitiert nach Marx, Karl (2011): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort zur ersten Auflage. Hamburg: Nikol, 49.
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[v]erkauften Nachbar Kürschner eine Bärenhaut. Zwar hatten sie den Bären nur geschaut, Doch meinten sie, vom Fang sei's nicht mehr weit. […] Sie lobten ihren Bären dergestalt, Als hätten sie ihn schon zur Stell.70
Über die Umstände der Handlungen der Nymphe, sei‘s aus Not, sei‘s aus Gefallen, sei‘s aus der sich bietenden Gelegenheit heraus, können wir nichts wissen. Doch preist sie selbstsicher Sonne, Mond und tiefblauen Himmels an; Naturphänomene, auf deren Erscheinen oder Vergänglichkeit sie doch eigentlich keinen Einfluss nehmen kann, ebenso wenig wie auf das subjektive Empfinden von Schönheit, mit dem sie wuchert (22). ‚Wuchern‘, so lehrt es das Grimmsche Wörterbuch, meint erstens das übermäßige Wachsen von etwas, seien es Pflanzen, sei es das ungehemmte Ausschweifen der Phantasie.71 ‚Wuchern‘ meint, zweitens, im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen auch die Praxis, etwas fruchtbar machen und zum Wachsen bringen, sodann, aus etwas Gewinn zu erzielen, – zunächst ohne Wertung.72 Und ‚Wuchern‘ meint, drittens, seit dem Frühneuhochdeutschen das ungerechtfertigte Vorgehen des gewinnerheischenden Missbrauchs.73 Es zielt darauf, sich unter „Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen“74 einen vorteilhaften, unverhältnismäßig hohen Gewinn zu verschaffen, der in einem Missverhältnis zur Leistung steht. Da keine Aussagen über die Intentionen der Nymphe zu finden sind, verbürgt sich Goethes Langgedicht weder für die eine, wertende, noch die andere, wertfreie Bedeutung. Zum eigenen Vorteil arbeitet hier jeder, die Nixe ebenso wie der Fischer, das ist ohne Zweifel. Und in Übereinstimmung mit der obigen ersten Bedeutung darf man mit Fug und Recht mindestens feststellen, dass das feuchte Weib ihr materielles – ihren Körper – sowie immaterielles Kapital, von dem sie nur so tut, als besitze sie es, obwohl es eigentlich jedoch virtuell bleibt, übermäßig ‚wachsen lässt‘, es also größer macht als es tatsächlich ist.
70 Fontaine, Jean de la (2015): Fabeln. Norderstedt: Books on demand, 66. 71 Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch. Lexem „Wuchern“. Bd. 30. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1707, 1711 und 1713. 72 Vgl. Ebd., 1708 und 1710. 73 Vgl. Ebd., 1710. 74 Palandt et al. (2010): Bürgerliches Gesetzbuch. 69. Auflage München: Beck. §138 „Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher“.
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Ihre ausgeklügelte Strategie (vgl. zum Strategiebegriff die Abschnitte Über Strategien I und II) beinhaltet eine wohlüberlegte Kommunikation mit dem Fischer. Damit verfolgt sie das Ziel, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen ihnen zu installieren als Voraussetzung dafür, dass er ihren Worten Glauben schenken und darauf vertrauen wird, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es ihm tatsächlich ‚wohl tut‘, sich auf ihre Verführungsversuche einzulassen, groß ist. Die Beziehung zwischen ihnen hat also an sich schon Wert, ist ein immaterielles Gut. Ob es sich dabei um eine unredliche, bösartige Absicht handelt oder nicht, weiß der Leser nicht und – im Sinne eines Baudrillard’schen emphatischen Verführungsbegriffs – ebenso wenig die Protagonisten. Zunächst scheint es, als hätte die Nixe eindeutig die Kontrolle über die Situation, die sie strategisch formt – d.h. an dieser Stelle: rational kalkulierend und in Hinsicht auf einen Nutzen agierend. Jedoch sind in diese strategische Handlungsanlage reversible, und zwar perturbierende Dynamiken eingewebt. Schließlich war es der Fischer, der sie allererst geködert hat. Durch sein Eindringen in die Unterwasserwelt ist sie überhaupt auf der Bildfläche erschienen, hat sodann die Lage umgekehrt und das Heft in die Hand genommen, bis zum Schluss die undurchsichtige Konstellation auf die Worte „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ gebracht wird. „Er, der Netze auswirft und Fische fängt, verfängt sich selbst in den Netzen, wird gefangen“75, so schreibt die Interpretin Edith Zeile. Es zeigen sich also auch in dieser Verführungskonstellation reversible Qualitäten, die sich sprachlich in den chiastischen Versen „Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“, „Sie sang zu ihm, sie sprach zum ihm“ und sodann „Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm”, „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“ zeigen, aber auch in der beinahe oxymorotischen Verknüpfung „wellenatmend” (21). Die lyrische Sprache führt vor, dass sie die Kraft hat, Dinge zu spiegeln und umzukehren ebenso wie sie es vermag, das gespiegelte Angesicht des Fischers im Wasser zu evozieren. Schon das Setting basiert auf Umkehrungen: Ist aus der Perspektive des Fischers die Unterwasserwelt mit dem Tod gleichzusetzen, so bezeichnet die Nymphe im Gegenteil den Bereich oberhalb des Wassers als „Todesglut” (13). Durch die Spiegelung von Sonne und Mond verkehren sich ‚Oben‘ und ‚Unten‘. Was tiefer Himmel ist, was tiefes Wasser, ist nicht mehr zu unterscheiden. Zuletzt ist es der offene Ausgang der Ballade, der reversibel ist. Beinahe alle Textinterpretationen halten den Tod des Fischers für gesetzt und hinterfragen ihn nicht. Schauen wir jedoch in die Ballade, so gibt sie keine gesicherte Auskunft darüber. Es gilt also, das ernst zu nehmen, was dort geschrieben steht – und gerade der offene Ausgang ist ein Hinweis auf die Reversibilität der Verführung. Die Ballade
75 Zeile, Edith (1974): Goethes Ballade „Der Fischer“. Eine Interpretation. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Hg. von Buchloh, Paul G. et al. Bd. VIII Heft 1, 76-87, hier 84.
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unter diesen Auspizien zu lesen, ermöglicht es, die Offenheit des Ausgangs zu respektieren und in seiner Ungewissheit produktiv zu machen. Der Text ist uneindeutig und muss analytisch dementsprechend behandelt werden. Während also viele wichtige und bereichernde Deutungen den Text mittels der Dichotomien von Leben und Tod, Frau und Mann, Natur und Kultur in einer eingebürgerten Bedeutung einzufangen suchen, zeigt der Fokus auf die Verführung mit ihren reversiblen Qualitäten gerade, dass eine Festlegung auf Gegensatzpaare wirkungsvoll ausgesetzt wird – und so neue Erkenntnisse erlaubt werden.76
O SZILLIEREN
DER
R EDEPERSPEKTIVEN
Das reversible Prinzip – wonach etwas auch ‚anders‘ sein kann als es ist bzw. zu sein scheint –, ist auch hinsichtlich der Rede- bzw. Erzählsituation virulent. Die Ballade ist mindestens auf drei Weisen lesbar. Zum einen als Schilderung eines ins Geschehen nicht involvierten Beobachters, der in der ersten Strophe auch Sprecher ist. Dieser berichtet dort und in der zweiten Strophe vom Gesang und vom Sprechen der Nymphe. In dieser Lesart würde er mit dem Satz „Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:“ (10) darauf hinweisen, dass er im Folgenden die Rede der Nixe zitiert. Der Doppelpunkt unterstreicht den Bruch zwischen der ankündigenden Beschreibung und den folgenden Sätzen des Wasserweibs, zu denen sie sodann an-
76 Vergleiche etwa „[D]er Erzähler läßt keinen Zweifel daran, daß die (vermeintlichen?) Worte des Elementarischen nur eine trügerische List darstellen und ein Verschwinden nicht der Beginn einer neuen, schöneren Existenz, sondern Untergang und Tod ist.“ (Wilpert, Gero von (1998): Der Fischer. In: Ders.: Goethe-Lexikon. Kröner, Stuttgart, 324-325, hier 324). In die gleiche Richtung geht Reiner Wild (1996): Der Fischer. In: Otto, Regine und Witte, Bernd (Hg.): Goethe Handbuch. Bd. I. Metzler, Stuttgart, 209-212, hier 210, wenn er schreibt: „[U]nd so erweist sich auch ihr [der Nymphe, J.V.] Versprechen einer Gesundung als Betrug: Der Fischer geht, der Verlockung erliegend, in den Tod.“ Und weiter: „Der Erzähler […] lässt außerdem keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Fischer den Tod findet“ (211). Dagegen betont Inge Wild (1999) in ihrem kurzen Lexikonbeitrag zum Fischer den Ausgang der Ballade als ‚ungewiß‘ und ‚offen‘. In: Jeßing, Benedikt et al. (Hg.): Metzler Goethe Lexikon, 146-147, hier 147. Zu unterscheiden ist zwischen dem, was de facto im Gedicht geschieht, und der vermuteten Bedeutung und Konnotation des Ausdrucks „Halb sank er hin / Und ward nicht mehr gesehen“ (31-32). Unter den Auspizien der Verführung ist nicht ohne Weiteres vom Tod des Fischermanns auszugehen. Schauen wir, was geschrieben steht, so finden wir Andeutungen in mehrere Richtungen, aber keine konkreten Aussagen.
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hebt. Jene spricht er in seiner Stimme, aber mit den Worten der Nymphe, er rezitiert also das, was er gehört oder beobachtet hat. Er gibt das Geschehen in ihren Worten, mit seiner Stimme wieder. Ebenso kann er die dritte Strophe sprechen, weil er die Worte der Nixe gehört hat und wiederholt. In der letzten Strophe, ebenso wie in der ersten, wird er wieder zum entfernten Beobachter, der nüchtern berichtet, was er sieht. Allerdings, so muss man hinzufügen, wäre in dieser Lesart die Möglichkeit nicht außer Acht zu lassen, dass der Sprecher keineswegs so unbeteiligt ist, wie es zunächst scheint, sondern dass er die Situation imaginiert hat. Hier würde eine Konstellation ähnlich dem Pygmalion-Mythos vorliegen: Der Erzähler produziert eine idealisierte Figur, verliebt sich in sie und seine Sinne gaukeln ihm die Anwesenheit der Nymphe vor. So wäre er der Verführte, der mit seiner eigenen Sprache die Nymphe evoziert und von ihr affiziert ist. Diese Lesart einer Ersetzung der direkten Rede der Nymphe durch die des beobachtenden, ihre Worte zitierenden Sprechers unterstreicht die beinahe phantastische Verwirrung von Sprache und ihren Sprechern. Sie setzt jedoch voraus, dass der Sprecher – der Deutlichkeit halber nenne ich ihn hier ‚Erzähler‘ –, dass also der Erzähler sich so sehr in die Sprechsituation der Nymphe hineinversetzen kann, dass er mit deren Impetus die Verse der zweiten und dritten Strophe rezitieren kann – oder aber, dass seine Imagination so lebhaft ist, dass sie ihn glauben macht, die Nymphe habe derart gesprochen. Ob die Unbestimmtheit im Beobachter oder in der beobachteten Figur liegt, ist nicht zu entscheiden. Zweitens ist es möglich, die Nymphe als Phantasma nicht des Sprechers, sondern des Fischers zu betrachten, aus dessen Sicht die beiden mittleren Strophen geschildert sind. In diesem Fall handelte es sich um zwei getrennte Erzählsituationen, in denen der Beobachter berichtet, was er sieht, aber nur der Fischer hört oder imaginiert, was die Nixe zu ihm sagt. Ob er tatsächlich der Nixe oder seiner eigenen Phantasie verfällt, bleibt offen und kann auch nicht entschieden werden, dient sich aber der Deutung des Gedichts als poetische Reflexion auf das Verhältnis von diegetischer ‚Realität‘ und Imagination an. Plausibler aber ist es, in dieser Lesart eine narzisstische Kongruenz von Sprecher und Fischer anzunehmen. So läge eine verschachtelte Variante des Narzissmythos vor. Der ursprüngliche Mythos besagt, dass Narziss alle Verehrerinnen abweist, unter ihnen auch die Nymphe Echo. Zur Strafe wird er verflucht, an den Qualen unerwiderter Liebe zu leiden. Daraufhin verliebt er sich in sein Spiegelbild und geht an seinem unerfüllten Begehren zugrunde. Hier läge keine bloße Umkehrung des Mythos vor – der Narziss, der sich sehr wohl in die Nymphe verliebt –, sondern eine narzisstische Verschiebung, der gemäß wir annehmen müssten, dass der Erzähler keine Nixe, sondern sich selbst im Wasser erblickt.
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Die dritte mögliche Lektüre ist die konventionelle, die davon ausgeht, dass die Ballade zwei Sprecher hat: Den unbeteiligten Erzähler und die Nymphe selbst. Demgemäß würde in der ersten und letzten Strophe der Erzähler seine Beobachtung schildern, während die zweite und dritte Strophe Figurenrede der Nymphe sind. Sie ergreift selbst das Wort, auch hier eingeleitet vom Erzähler durch den Satz „Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:“, worauf der Doppelpunkt die direkte Rede der Nymphe ankündigt, bloß, dass die Anführungszeichen fehlen, die dies sichtbar machen würden. Ihre Rede, gesprochen mit ihrer Stimme, dauert sodann bis zum Beginn der letzten Strophe, wo der Erzähler wieder das Wort ergreift und erneut aus seiner Beobachterposition heraus die Reaktion des Fischers schildert. Nun anzunehmen, die in aller Kürze skizzierten Lektüren wären grundverschieden, hieße, eine folgenschwere Unaufmerksamkeit zu begehen, nämlich einen entscheidenden Akteur in dieser Konfiguration außer Acht zu lassen. Um wen es sich handelt, wird sogleich aufgelöst. Zunächst ist festzuhalten, dass die erste Lesart eine starke Affizierung des Erzählers voraussetzt, während sie gleichzeitig die Figur des Fischers vollständig in den Hintergrund rückt und der Figur der Nymphe einen großen Teil ihrer Selbstständigkeit nimmt – und zwar ihre Stimme. Dass der Erzähler in das Geschehen hineingezogen wird, ist nicht auszuschließen. Jedoch scheint die erste Lektüre mindestens unplausibel, weil sie der Figur des Fischers nicht gerecht wird, dem doch, so suggeriert es der Titel der Ballade, eine prominentere Stellung zukommt, als die erste Lektüre sie ihm gewähren kann. Und doch ist es entscheidend, diese, die Involviertheit des Erzählers fokussierende Lesart, durchzuspielen, weil sie uns auf die Spur eines mächtigen Akteurs bringt, der richtiggehend im Hintergrund die Fäden zieht. Selbst wenn wir die gesamte Ballade alleine über die Stimme des Erzählers hören, dann kündigt der Doppelpunkt an, dass nun die Worte der Nymphe folgen, auch wenn der Fischer sie mit seinem Mund artikuliert. Überspitzt formuliert: Es ist für den Moment geschenkt, ob der Erzähler so affiziert ist, dass er die wörtliche Rede der Nymphe wiederholt (er also in der Funktion ist, für sie zu sprechen) oder ob sie diese selber spricht. Denn es ist jedesmal ihre wörtliche Rede, angezeigt durch das Possessivpronomen „meine“ (11). Die Nymphe ist jedes Mal Wortgeber, im ersten Fall ist der Erzähler ausführender Sprecher, im anderen Fall ist sie selbst es. Entscheidend ist, dass auch in der ersten Deutung nicht nur so getan wird, als spräche die Nymphe, sondern dass sie dies hier wie dort beide Male tatsächlich tut. Sie wird gehört – gleich, ob sie gesprochen oder nur eingebildet wird, gleich, ob sie nur vom Fischer vernommen wird oder auch vom Erzähler, und deswegen ist sie dort zugegen, sie existiert. Es ist dies ein Präsenzeffekt von lyrischer Sprache.77
77 Zum „Präsenzeffekt“ nach Hans Ulrich Gumbrecht siehe das Kapitel Fiktionalität – Faktualität in dieser Arbeit und Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik.
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Lyrische Sprache, wie sie sich hier zeigt, ist ein Akteur und ein mächtiger zumal. Sie generiert Sinn. Sie hat die Kraft, nicht nur den Erzähler in ihren Bann zu ziehen, den Fischer allemal, sondern vor allem Dinge, Ereignisse, Geschehen, Szenerien nicht nur zu entwerfen und zu schildern, sondern zu evozieren, ja, zu instaurieren. Sie verhilft ihnen zur Existenz. Die vermeintliche Unentschiedenheit zwischen Gesagtem und Erzähltem wird also eingeebnet, weil es hier wie dort die Worte der Nymphe sind, die zu hören sind und die das realisieren, oder, deutlicher formuliert, die das instaurieren, zum Leben bringen, was sie sagen.
A NLEITUNG ZUR V ERFÜHRUNG IN KAPITALISTISCHER H INSICHT Ambigue, reversible Dynamiken können eine Verführung im Baudrillard’schen Sinne in Gang setzen, die sich jeder Zielsetzung, jedem Mittel-Zweck-Kalkül, jeder Produktion (von Bedeutung, von Eindeutigkeit, von Sichtbarkeit, von Verfügbarkeit, von Gütern usw.) widersetzt. Reimende, metaphorische, ‚den Umweg nehmende‘ und mehrdeutige Sprache ist eigentlich nicht effizient, d.h. sie betreibt keine Sparsamkeit, sondern im Gegenteil eine Überbordung, eine Verschwendung von Ressourcen. Gerade diese Überschüsse produziert und nutzt die Verführung. Wie im ersten Teil dieser Studie besprochen, sieht Baudrillard Verführung vor allem in ökonomischen Zusammenhängen am Werk, als Gegenspieler zur Produktion. Von dort aus trägt er sie in die Semiotik. Diesem Zusammenhang bei Goethe weiter nachzuspüren lohnt sich zumal, wenn nicht mehr nur industrielles und handwerkliches, ein Produkt herstellendes Handeln, sondern im Zuge der Öffnung und Erweiterung des Arbeitsparadigmas auch informationelles, affektives, sinnliches Tun Formungen von Arbeit sein können und die, ebenso wie Marx‘ Warenästhetik, Qualitäten haben, die sich nur schwer in die kapitalistische Logik einfügen lassen, weil sie eben mit und an den Sinnen, Emotionen und Affekten werken. Gerade die aber werden höchst effektiv verwertet und sind Voraussetzung für Produktivität, wie sich auch bei Goethe zeigt. Innerhalb dieser Konfiguration affektiven Tuns als Form immaterieller Arbeit, wie Smith und Marx sie noch nicht kannten, hat das Verhältnis von Fischer und Nymphe durchaus seinen Platz. Oder, um ein letztes Mal Aristoteles zu bemühen: Die Verführung zeigt ihre Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit zwischen praxeologischen und poietischen Qualitäten. Sie schlägt sich wohl eher noch auf die Seite der praxis, des freien Handelns, und ver-
Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M: Suhrkamp und Ders. (2012): Präsenz. Frankfurt/M: Suhrkamp.
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weigert sich einer Unterordnung unter Zweckhaftigkeit. Und doch macht sie Anleihen bei einem Arbeitsparadigma, das Faserungen von Ziel- und Zweckorientierung in sich trägt, zumal beim affektiven. Dessen Ausprägungen sind hier kurz skizziert worden. Die Verführung wendet diese an, wendet sie um, stört sie, perturbiert sie, lässt sie ins Offene gleiten. Sie legt Strategien an den Tag, die sich Versatzstücken von immaterieller Arbeit bedienen, und führt sie doch zu gleichen Teilen ad absurdum. Die in diesem Kapitel vorgeschlagene Re-Lektüre entlarvt die Ballade oder doch zumindest als Anleitung zur emotionalen Bearbeitung des Fischers in Hinsicht auf ein nutzbringendes Ziel, überspitzt gesagt: Als Agenda zur Verführung in kapitalistischer Hinsicht. Das kühle Herz des Fischermanns mag man als Stigma des rationale Entscheidungen treffenden, unverklärten Menschen der Moderne lesen.78 Doch dann wird sein Herz berührt von den Reizen der Nymphe und ihrer Sprache. Diese präsentiert im folgenden Monolog ein Beispiel par excellence der emotionalen Überzeugung – schlechterdings ein Verkaufsgespräch, wollte man in der Arbeitsterminologie bleiben. So erheischt sie seine Aufmerksamkeit durch ihr plötzliches, geräuschvolles und eindrucksvolles Auftreten (1. Strophe). Mit einem vorwurfsvollen, ja anklagenden Ton fragt sie, warum er ihre Brut in Todesgefahr bringe, und bringt den Fischer damit in die Position des Schuldigen. Mit diesem ersten Schachzug betont sie ihre Unschuld und suggeriert dem Fischer, er halte die Zügel über die Situation in der Hand, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Zweifelsohne hat sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und seine volle Aufmerksamkeit gewonnen. In ihrer folgenden Rede appelliert sie an die Sinne des Fischers, führt ihm die Mängel seiner momentanen Existenz vor Augen, gekoppelt an die in Aussicht stehende Behebung derselben, und formuliert den sicheren Gewinn und Nutzen ihres Angebots (2. Strophe). Dazu dient ihr eine für den Menschen fatalen Umwertung, die sie glaubhaft zu machen weiß: Die Antithese von Luft gleich Leben und Wasser gleich Tod. Entweder gaukelt sie hier falsche Tatsachen vor oder aber sie ist selbst von der Richtigkeit ihrer Worte überzeugt (ebd.). In der Folge nutzt sie eine Fragetechnik, die mehr Behauptungen als Fragen aufstellt und weniger der Information als der Beeinflussung dient. Rhetorische Kniffe wie Bilder und Metaphern helfen ihr, für
78 Vgl. Wallwitz, Georg von (2013): Mr. Smith und das Paradies. Berlin: Berenberg, 48. Vgl. auch Remigius Bunia zum gesellschaftlichen Bild des Finanzspekulanten als amoralischer, skrupelloser Spieler auf Kosten der Existenz Anderer, und in diesem Sinne ein ‚kalter‘ Mensch. Bunia, Remigius (2013): Spekulation über Spekulation. Zu Joseph Vogls Das Gespenst des Kapitals und zur Spekulation in den Geisteswissenschaften. In: Pahl, Hanno und Sparsam, Jan (Hg.): Wirtschaftswissenschaft als Oikodizee? 197-209, hier 197.
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das zu werben, was er bekommen kann, sofern er ihr das gibt, was sie von ihm will (3. Strophe). Sein Vertrauen gewinnt sie nicht zuletzt durch Beispiele, die ihre Worte untermauern: Wohlige Fische, die sich labende Sonne und der schöne Mond legen nahe, dass ihrem Versprechen zu trauen sei. Ihre Werbung kulminiert in einer erneuten emotionalen Ansprache, deren Erfolg in dem Vers „Da wars um ihn geschehn“ (33) zur Schau gestellt wird. Jene Ungewissheit und Unsicherheit über die eigene Rolle, auf die hier angespielt wird, ist paradigmatisch für das Verführungsspiel, in dem sich die beiden Hauptakteure befinden. Der Fischer ist in eine Lage geraten, in der sein Urteilsvermögen und sein Willen massiv geschwächt sind. Er steckt in den Fängen der Nymphe, von der man vermuten kann, dass sie vor allem am eigenen Vorteil interessiert ist. Er erhält die Aussicht auf Erfüllung seiner Sehnsucht, auf Glück, auf Gesundheit, auf ewiges Leben (26), die er aber durch ebendas, nämlich sein Glück, seine Gesundheit, sein Leben verzinsen und also aufs Spiel setzen muss. Und das zu einem hohen Preis, ist doch das Risiko, das er eingeht, nicht kalkulierbar. Ebenso wenig weiß die Nymphe, wissen also beide nicht, ob das, was sie einzusetzen haben, tatsächlich weniger wert ist als das, was sie bekommen, ob sich also der Einsatz im Vergleich zum Ergebnis lohnt. So unklar wie das, was auf dem Spiel steht – vielleicht das Leben, zumindest aber die Sicherheit, die Vernunft oder das Maß, die Kontrolle, die Selbstbeherrschung – so nebulös ist das, was sie im Gegenzug bekommen und so diffus die Frage, ob ihr Einsatz unter oder gewinnbringend über ihrem Wert an den Anderen anheim gegeben wird. Der Kapitalist würde hier wohl Risiko und Nutzen ein weiteres Mal kalkulieren in dem Bemühen, die Beziehung zwischen Nymphe und Fischer in eine des Wertes, letztlich des Preises, zu übertragen. Angesichts der offenen Variablen, die ein kluges Kalkül unmöglich machen, würde er gegebenenfalls zurückzucken. Der Verführte mag zu Anfang noch auf einen Gewinn spekulieren, doch ist er erstmal in die Fänge der Verführung geraten, so verlässt ihn die Ahnung, was er eigentlich wollte, welches Ziel er sich erhofft hatte, was Gewinn wäre und was nicht. Der Fortlauf der Handlung illustriert von Strophe zu Strophe die affektive Evolution des Fischers. Als rationaler Kopf und resistent gegenüber Emotionen wird des Fischers Herz zu Beginn von Goethes Text beschrieben. Ein „kühl[er]“ (4) Mensch ist ungerührt von sinnlicher Ansprache, immun gegen Affektion, geflissentlich bemüht, einer möglichen Verführung durch Sinnlichkeit zu widerstehen, oder schlichtweg von ihr unberührt. Er ist zunächst nüchtern agierendes Subjekt. Nach den ersten fünf Zeilen jedoch büßt er an Aktivität ein zugunsten der Nymphe, deren Handlungen sich sowohl verbal, eindrucksvoll in ihren rhetorischen Fragen als auch physisch konkretisieren, denn sie rauscht hervor, sie singt, sie spricht. Demgegenüber bleibt dem Fischer zunächst eine bloß passive Rolle bis zur letzten
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Strophe, in der er hinsinkt. Mit dieser Bewegung wird deutlich, dass sein Herz noch ansprechbar ist. Etwas geschieht mit ihm, deutlicher formuliert: Etwas geschieht ihm, er wird zum passiven Empfänger. Seine anfängliche Gemütsruhe, Gefühlskälte oder auch Selbstkontrolle wird im Verlauf der Geschichte brüchig, prekär und geht schließlich verloren, spätestens in dem Moment, in dem sein Fuß vom Wasser benetzt wird (29). Hat er zunächst noch die Angel ausgeworfen, um einen Fang zu machen, so ist er letztlich derjenige der anbeißt. Er ist affiziert, verbildlicht in der physischen Bewegung von Resistenz einerseits – er muss von ihr gezogen werden, ist ihrer Zuneigung also teilweise körperlich widerständig –, und Hingabe andererseits, manifestiert in Form des Sinkens, an dem sein Körper ebenso wie seine Sinne beteiligt sind. In dieser letzten Bewegung der Aufgabe, oder eher: Anheimgabe, manifestiert sich der Kontrollverlust des Fischers, der paradigmatisch für eine Verführungssituation ist. Der Fischer hat nicht die Macht über das, wovon er affiziert wird. Die Passivkonstruktion in Vers 30 – „Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll“ –, ist strukturanalog zu „Netzt’ ihm den nackten Fuß“, und verdeutlicht, dass etwas mit ihm geschieht, dass ihn etwas überwältigt – etwas, das ihm die Kontrolle über das Geschehen nimmt. Er wird sehnsüchtig. Jenes ‚Etwas‘ in Form eines Kompendiums aus dem Körper der Nymphe und seiner Stimme, seinem feuchten Glanz, dem Rauschen des Gewässers, übernehme, so David Wellbery, die Macht über den Fischer, infiltriere ihn, ergreife Besitz von ihm.79 Die Formulierung „Da war‘s um ihn geschehn“ (30) ist so unpräzise und diffus wie effektvoll, denn es ist nicht klar, was es ist. Jenes Etwas gilt es genauer zu bestimmen. Auf den ersten Blick ist es einleuchtend, die Wirkung auf die Nixe zurückzuführen. Sie hat phantastische, überirdische Attribute, so taucht sie plötzlich und unkontrollierbar aus den Fluten auf. Die Anleihen beim Mythos der Sirenen nach Homer sind unübersehbar; auch hier geht die verführerische Aura der Wasserfrauen wesentlich auf ihre Unberechenbarkeit und Unbeherrschbarkeit zurück (zum Mythos der Wasserfrau – Sirene, Undine, Melusine – als prominente weibliche Verführungsfigur siehe auch das Kapitel Positionalität – Relationalität in dieser Studie). Verführung ist jedoch zu komplex, als dass die Rückführbarkeit auf ein einzelnes Element möglich wäre. Eine verführerische Situation wird zu einer solchen aufgrund einer Vielzahl von Komponenten, die zusammenspielen, die für den Verführten nicht differenziert werden können. Es zeigt sich, dass es mehr als die Summe von Einzelerscheinungen ist, die eine den Fischer in ihren Bann ziehende Stimmung kreieren und eine unkontrollierbare Sehnsucht in ihm hervorrufen.80
79 Vgl. Wellbery, David (1996): The specular moment. Goethe’s early lyric and the beginnings of romanticism. Stanford UP, 256. 80 Es wäre fruchtbar, wenn auch an dieser Stelle nicht möglich, die Begriffe ‚Stimmung‘ und ‚Atmosphäre‘ in Bezug auf den Topos der Verführung zu untersuchen. Hinweise ge-
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Diese besteht mindestens aus der Naturszenerie mit der schier magischen Anziehungskraft des Meeres angesichts der Kraft des Elements, dessen Gezeiten, daran sei erinnert, seinerseits in magnetischer Abhängigkeit stehen. Des Weiteren aus der teils aggressiv-anklagenden, teils süß säuselnden, schmeichelnden Attitüde der Nymphe – halb Gesang, halb Sprechen; ihrer Erscheinungsweise – feucht glitzernd; ihrer bildlichen Sprache, die, und darauf beruht ihre Wirkung, performative Kraft hat, weil sie den Fischer Sonne, Mond und sein Angesicht im Spiegel des Gewässers tatsächlich (sei es nur vor seinem inneren Auge oder tatsächlich in der diegetischen Welt des Textes) sehen lässt; sowie die dadurch ausgelösten Affekte, die seine Entscheidungsfreiheit in Fesseln legen. Außerdem die Neugier, was wohl geschehen wird, wenn er in die Unterwasserwelt geht; der Glaube, es handle sich um etwas Positiv-Erfüllendes; das Nervenkitzel des Risikos, das bleibt angesichts seines Unwissens. Mindestens diese Komponenten konstituieren die verführerische Wirkung, die die Situation auf den Fischer hat.
D IE A GENTIALITÄT
DER
S PRACHE
Der Fischer empfindet Sehnsucht, seine Selbstkontrolle schlägt um in Gefühlswallungen – es ist nichts Minderes als sein Herz, das bewegt wird, das sehnsuchtsvoll zu schlagen beginnt (30), er fühlt sich erinnert an seine „Liebste[]“ (31). Er ist so bewegt wie das Wasser, versinnbildlicht in den Versen „Das Wasser rauscht‘, das Wasser schwoll, / Netzt` ihm den nackten Fuß“ (28-29). Bewirkt hat das zuletzt der eindrücklich-bildliche Impetus der Nymphe in ihren Suggestivfragen der vorherigen dritten Strophe. Das Wasser berührt seinen Körper ebenso wie seine Seele und seine Sinne: Er kann es hören, sehen und spüren. Rhetorischen Fragen, wie denen in der dritten Strophe, ist eine große suggestive Kraft eigen, die keine Widerrede erlaubt. Folglich wird die Spiegelung von Sonne, Mond und Himmel nicht nur beschrieben, sondern geradezu evoziert, damit sie dem Fischer gleichsam vor Augen stehen. Dies ist umso faszinierender, als die Nymphe de facto nicht viel in der Hand hat. Was sie für den Moment zu bieten hat, entbehrt nicht logischer Verlegenheiten, kann sie doch Sonne und Mond schwerlich zugleich am Himmel ausmachen. Und doch funktioniert es. Ihre Strategie geht auf. Dass ihre Worte geradewegs performativ das umsetzen, was sie besagen, dass also in dem Moment ihrer Artikulation das Spiel von Sonne, Mond, Himmelsbläue und Antlitz
ben könnten etwa Rickenbacher, Sergej (2015): Wissen um Stimmung. München: Fink; Gumbrecht, Hans Ulrich (2011): Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München: Hanser; oder Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Frankfurt/M: Suhrkamp.
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des Fischers tatsächlich in den Meereswellen zu sehen ist, ist nicht ihren magischen Händen zu verdanken, sondern der Instaurationskraft lyrischer Sprache. Ihr vielleicht eigentümlichstes Charakteristikum ist der Rhythmus, ihr Klang, ihre Gebundenheit im Reim. Die aus vier Strophen zu einmal sieben-, ansonsten achtzeiligen jambischen Versen bestehende Ballade ist in variiertem Kreuzreimschema (‚Chevy-Chase‘) gehalten, mitunter ausgesetzt durch bloße Assonanz. Die klangliche Textur der dritten Strophe zeichnet sich durch schier perfekte Kreuzreime aus, die den Wellengang des Wassers imitieren. Ihre Binnenassonanzen („labt“ – „liebe“ (19); „Mond“ – „Meer“ (30) und „dich“- „nicht“ (23) haben eine zurückhaltende, beiläufige und zugleich beharrliche Wirkung im Ohr. Reiner Wild attestiert dem Gedicht: „In der Verbindung von rhythmischer Variation und Spiel der Reime und Assonanzen entsteht ein bezauberndes Klanggebilde, das in sich bedeutungstragend ist.“81 In die gleiche Richtung zielt David Wellbery: „[T]he sound texture takes on a suggestive, even seductive force“82. Die Beeinflussung der Wahrnehmung durch emotionale Berührung ist sprachlich vor allem durch Wiederholungen verschiedenen Typs umgesetzt. Folgende macht Edith Zeile aus: „[A]uf der Ebene der Laute (Alliteration, Lautmalerei), der Silben (Reim), der Akzente (Rhythmus), der Worte (Anapher, Epipher) und der Wortgruppen (Refrain).“83 Wie die Worte der Nymphe, die Reihung der Worte zu Reim oder Assonanz oder ihr Wechsel zwischen Singen und Sprechen den Fischer affizieren, zeigt sich in seiner Reaktion. Jedoch besteht darüber hinaus die Möglichkeit, dass der Beobachter aus der ersten und dritten Strophe ebenfalls vom Auftreten der Nymphe vereinnahmt ist, dass seine Beobachter- und/oder Wiedergabefähigkeit getrübt ist von seiner in die Irre geleiteten Wahrnehmung. Die Häufung der Verneinung „nicht“ in den Suggestivfragen der dritten Strophe und der Gleichklang von „nicht“ (19) und „Gesicht“ (21) und sodann, umgekehrt,
81 Wild, Rainer (1996): Der Fischer. In: Otto, Regine und Witte, Bernd (Hg.): Goethe Handbuch. Bd I. Metzler, Stuttgart, 209-212, hier 210. 82 Wellbery, David (1996): The specular moment. Goethe’s early lyric and the beginnings of romanticism. Stanford UP, 249. 83 Zeile, Edith (1974): Goethes Ballade „Der Fischer“. Eine Interpretation. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Hg. von Buchloh, Paul G. et al. Bd. VIII Heft 1, 76-87. Sie konstatiert, „durch das intensive Zusammenwirken zweier Klangelemente [werde] die sprachliche Magie der Verse begründet“ (Ebd., 79). Die zwei Klangelemente macht sie vor allem im Reim und in der Alliteration aus: „[E]in Reimvokal wird durchgängig gebraucht, das helle, liebliche, verführerische i. Nicht auf sinnlicher Fülle beruht seine Wirkung, sondern auf einer gewissen Flüchtigkeit, einer zarten Transparenz […]. So ist der lautmalerische Effekt (33 i-Laute in 16 Zeilen) vollkommen: wie silberne Lichter tanzen die Klänge des Lieds über dem Wasser“ (Ebd., 78f.).
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„Angesicht“ (25) und „nicht“ (23) deutet die Möglichkeit schon an, dass es sich bei dem Versprechen ebenso um ein Ver-sprechen handeln mag. Ein Hinweis darauf, dass die beschriebene Szenerie – die sich labende Sonne, das verschönerte Mondlicht, der tiefblaue Himmel, das gespiegelte Antlitz des Fischers – sowie dass die in Aussicht gestellte Gesundheit, Unsterblichkeit, das avisierte Wohlbefinden, vielleicht nicht eintreffen werden. Das Gegenteil des Ausgesprochenen, seine Negation potentiell mitzudenken, gibt die Sprache zweifellos Anlass. Das Spiel, von Möglichkeiten und Gewinn ebenso wie von Risiko, spiegelt sich hier also sogar in der Syntax und in der Wortwahl wider. Die Auflösung jedenfalls bleibt in der Verführung aufgeschoben. Nicht nur der Inhalt, den diese transportiert, hat eine derart starke Wirkung auf den Fischer, sondern auch ihre Struktur, Anordnung, der Rhythmus der gebrauchten Worte, ihre Bedeutungen, ihre Färbungen, ihre Konnotationen, ihre Assonanzen, Metaphern, Neologismen, Reime, Klänge u. dgl. m. Aus diesen, jeder für sich agierenden Akteure, entsteht ein libidinöses Kraftfeld, das um den Fischer – vielleicht auch um den Erzähler, vielleicht um die Nymphe selbst, vielleicht um den Leser – pulsiert, seine Sinne zum Vibrieren bringt und ihn so vereinnahmt. Die lyrische Sprache jedenfalls, so können wir resümieren, hat agency, sie ist diejenige, die als Verführerin agiert: Wie kann das Herz des Fischers anders als „ruhevoll“ (3) und sodann „sehnsuchtsvoll“ (30) auf das Wasser reagieren, das „schwoll“ (1, 28)? Der Zauber der Sprache hat das Spiel gegen die Logik gewonnen, „der Sinn ist den Sinnen erlegen“.84
S PIEGLEIN , S PIEGLEIN Die Reflexionen im Wasser gehören zu den wichtigsten Angeboten, mit denen das ‚feuchte Weib‘ um den Fischer feilscht. Sie zeigen die gespiegelten Planeten und das Firmament, außerdem das Gesicht des Fischers, welches wie in einem Spiegel reflektiert wird. Die Frage „Lockt dich dein eigen Angesicht / Nicht her in ew‘ gen Tau?“ (25-26), spricht zwar die Nixe aus, doch gibt sie die Handlung aus der Hand und verschiebt sie zum Fischer selbst: Er wird insofern nicht (nur) von der Nymphe angesprochen, sondern (auch) von sich selbst, von seinem eigenen Spiegelbild. Als wäre ein Teil von ihm bereits in der Unterwasserwelt und rufe ihn an. Willigt er ein, dorthin zu gehen, dann, so wird ihm suggeriert, finde er zu sich selbst, zu seiner Einheit. Er könne so seinen inneren Widerspruch (er lebt ja aus Sicht der Nixe in der falschen der beiden Welten), auflösen. Gesundung und Wohlsein (15, 17) sind
84 Politzer, Heinz (1968): Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart: Metzler, 23.
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auch in diesem Sinne zu verstehen. Und mehr noch, sofern man „ew‘ gen Tau“ als Anspielung auf Unsterblichkeit deutet, wird ihm ewiges Leben beschert. Dieses Versprechen mag aber ganz im Gegenteil auch tödlich enden, so wäre der Fischer Narziss, dem seine Selbstbefangenheit zum Verhängnis wird. Die Oberfläche des Wassers ist ein Spiegel, der die Fähigkeit zur wissenden Vorausschau hat. Indem er zurückreflektiert, gibt er den Blick frei auf das, was voraus liegt, was auf dem Meeresgrund wartet: Und das ist er selbst. Diese Voraussage wird ihm glaubhaft gemacht. Bloß, ob sie vertrauenswürdig ist, bleibt offen. Die Faszinationskraft des Wassers basiert auf seinen ambivalenten Eigenschaften als lebenswichtiges und lebensbedrohliches, da unbeherrschbares Element. Genauer gesagt, beruht sie auf der sinnlichen Präsenz des Wassers, nämlich der tiefblauen Farbe, seiner flüssigen, gleitenden Konsistenz, der Bewegung ihres auf- und abschwellenden Wellengangs, dem Schimmern und Glänzen dank der Reflexionsfähigkeit seiner Oberfläche, dem rauschenden Klang, seiner veränderlichen, auf Reize seiner Umgebung reagierenden Temperatur und der Eigenheit seiner visuellen (Un-)Durchdringlichkeit. Undurchdringlich, insofern das Wasser bei Goethe für den Blick zu tief ist, als dass es durchsichtig wäre. Und doch ist es zugleich durchlässig für Eindringlinge von außen, wie den Fischer, und solchen aus seinem Inneren, wie der Nymphe, der das Durchdringen der Oberfläche in die Welt der Menschen gestattet ist. Es ist also, soviel ist festzuhalten, zunächst seine Materialität auf der die Attraktivität des Wassers beruht. Die Materialität einer puren, ungebändigten, bewegten Naturkraft, die die Sinne des nüchternen Fischers berührt. Dies zeigt sich schon zu Beginn des Gedichts, wenn er in der Naturszenerie verortet wird als ruhiger, entspannter („ruhevoll“, 3) und nüchterner, unberührter („Kühl“, 4) Angler, der sodann, und hier liegt die erste Entwicklung der Figur vor, den Klang des Wasser wahrnimmt („und wie er lauscht“, 5) – der Moment, in dem er dies tut, ist jener, in dem die Handlung durch das Erscheinen der Nixe ins Rollen gebracht wird. Die Nymphe ihrerseits dann nutzt die sinnliche Präsenz des Wassers, illustriert in den Versen „Labt sich die Liebe Sonne nicht / Der Mond sich nicht im Meer? / Kehrt wellenatmend ihr Gesicht / Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, / Das feucht verklärte Blau?“ (19-24). Das reflektierende Material erwidert den Glanz von Sonne und Mond, verleiht ihrem Spiegelbild eine wellenförmige – und umso schönere – Kontur, macht sich die Himmelsbläue zu eigen, lässt sie feucht schimmern, ermöglicht eine narzisstische Selbstbespiegelung. Das sind geschickte Spiele mit der Materialität des Wassers, die die Nymphe taktisch einzusetzen weiß. Diese bis hierhin eingenommene Perspektive könnte man als materialitätstheoretisch bezeichnen. Jedoch ist die Attraktivität des Wassers aus diesem Blickwinkel
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nicht erschöpfend erfassbar, sondern geht außerdem auf das zurück, was sie, diesmal weniger als Spiegel, denn als Medium, verbirgt, worauf sie verweist, was sie, gleich einem Türsteher, hütet: Ein Geheimnis nämlich, das in der Tiefe des Wassers liegt, und das es zu heben gilt. Es handelt sich hierbei um eine Denkfigur, und mehr noch, ein Paradigma des abendländischen Denkens, auf dem die Technik der Hermeneutik beruht. Die hermeneutische Bewegung ist eine, die der Fischer am Ende des Gedichts, und ohne dass dessen Konsequenzen benannt werden, vollzieht, nämlich ein senkrechtes Eintauchen von der Oberfläche in die Tiefe. Eben hier, so die hermeneutische Annahme, verbergen sich immaterielle Werte wie Wahrheit, Bedeutung, Essenz. In semiotischer Übersetzung ist die Meeresoberfläche ein Träger, der – so wie die Schrift einen Sachverhalt be-zeichnet – auf eine darunterliegende Bedeutung verweist. In Saussures Terminologie ist sie ein materieller Signifikant, der für ein immaterielles Signifikat steht. In der europäischen Geistesgeschichte kam sie lange Zeit dem Deckel einer Schatztruhe gleich, der zwar hübsch geschmückt, sorgsam geschnitzt und ornamentbestückt sein mochte, jedoch vor allem in seiner Funktion als Verweis auf ein verborgenes Inneres relevant war. Es ist dies eine traditionsreiche Gegenüberstellung des Materiellen versus das Abstrakte, die lange Zeit mit einer Abwertung des Ersteren einherging. In ebendiesem Paradigma der versteckten Wahrheit, die es ans Licht zu bringen gilt, ist auch das vorliegende Erzählgedicht verhaftet. Denn was versprochen wird, ist historisch codiert. Die Ballade steht in einer Tradition, die die Suche nach ‚Wahrheit‘, deren Unverfügbarkeit und damit die Verlockung, die von ihr ausgeht, ästhetisch reflektiert. Schien die alleinige materialitätstheoretische Perspektive unzureichend, so hinterlässt die hier erfolgte zusätzliche Verortung in der hermeneutischen Tradition einen nicht minder schalen Beigeschmack, denn der Topos der Verführung webt einer solchen Dichotomie beider Paradigma auf raffinierte Weise Friktionen ein. Es ist gerade der Advocatus Diaboli namens ‚Materialität‘, der seiner vermeintlich ‚anderen Seite‘, der ‚Bedeutung‘ (dass diese Dichotomie eine, zumal unzuhaltbare, heuristische und keine ontologische ist, wurde im Laufe der Arbeit immer wieder deutlich) in die Hände spielt. Es verlockt mit seinem Äußeren – feucht, bewegt, wellenatmend, schön, verklärt – dazu, in die Tiefe zu blicken, es deutet eine reizvolle Wahrheit an. Im selben Augenblick aber weisen eben jene Attribute, feucht, bewegt, wellenatmend, schön, verklärt, darauf hin, dass das Kleid des Wassers vergänglich ist. Das Material ist in permanentem Wandel begriffen und unterliegt ständiger Veränderung. Und so auch sein Inhalt, muss man fragen? Treibt das Material, und zwar nicht nur das des Wassers, sondern genauso das Sprachmaterial mit seinen Metaphern, die ein Rätsel nur in das nächste verschieben, treibt dieses Material mit seiner schier magnetischen Wirkung ein Spiel mit der Wahrheit? Wäre die ‚Oberfläche‘ selbst schon ‚Tiefe‘, wäre das Material selbst insofern schon ‚Wahr-
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heit‘, als es immer nur reflektiert, andeutet und nie vollständig entlarvt, was darunter liegt? In seiner Selbstbezüglichkeit kann das Gedicht als Allegorie auf Kunst angesehen werden. Erfüllung ist es zumindest dahingehend, dass es verführt, indem es nicht durchlässig ist für den Blick auf das Darunterliegende. Der Genuss der Verführung besteht im Oszillieren zwischen der Ahnung, was sich unter der Oberfläche verbirgt, der (Neu-)Gier, das herausfinden zu wollen, und dem ästhetischen Erleben, das schon der bloße Akt der Artikulation evoziert, das schon das bloße, sinnlich wahrnehmbare Material hervorruft. Goethes Ballade ist als metapoetische Reflexion über den Zugang zu Wahrheit lesbar, insofern sie das Paradigma des Verhüllens und Enthüllens thematisiert. Zum Thema macht sie dies freilich auf metaphorische Weise, steht für den Schleier doch hier die Wasseroberfläche, unter der sich der ‚Schatz‘ versteckt. Zwar in ein anderes Material verpackt, bleibt die Geste aber die Gleiche. Das Versprechen der Nymphe bezieht sich darauf, dass der Schleier gelüftet wird und der Fischer Zugang zur Wahrheit erhält, wenn er sich auf ihre Avancen einlässt. Ebenso wie der Schleier schemenhaft andeutet, was sich unter ihm verbirgt, lässt die Wasseroberfläche durchblicken, was in der Tiefe wartet. Es zeigt sich also keine Suspension von Referenz, sondern Referenz gibt es sehr wohl. Schließlich besteht die, wenn auch unwahrscheinliche, Möglichkeit, dass der Fischer sein Glück in der Tiefe findet. Auch wenn die Gefahr des Trugschlusses besteht bleibt und ihm zum Verhängnis werden mag, gibt es mindestens die Illusion von Referenz. Und genau darum geht es: Um die Illusion von Referenz, die immer auch faktische, wenn auch subjektive Realität von Referenz beinhaltet, wie die Reaktion des Fischers zeigt. Das Material des Wassers ist ein vertracktes Ding: Mal durchlässig, konturiert es, was darunter liegt. Mal obskur, reflektiert es Sonne, Mond und des Fischers Gesicht. Im Rauschen des Wassers zeigt sich: Es ist in einem Abkehr von Bedeutung und zugleich bedeutsam als Störgröße. Zu allem Überfluss bringt es auch die Nymphe hervor, bringt sie in die Menschenwelt. Deren Rede in der zweiten und dritten Strophe umgarnt mit ihrem Klang, mit ihrem Reim und mit dem, was sie sagt. Beide Dimensionen, die phonetisch-syntaktische und die figurative, reflektieren einander ebenso wie das Wasser Sonne und Mond spiegelt, denn sie intensivieren die suggestive Kraft des jeweils anderen. Verführung, so illustrieren diese Beispiele, zieht ihre Wirkung aus dem ununterscheidbaren Ineinander von ‚Materialität‘ und ‚Bedeutung‘. Die exemplarischen poetischen Operationen illustrieren, was sich in dieser Studie als konstitutiv für Verführungskonstellationen herausgestellt hat: Andeutungen, keine Ausdeutungen. Verführung eröffnet einen Weg, ohne je an dessen Ende zu kommen. Sie ist das Vorspiel; der Weg, aber nicht das Ziel; Annäherung, aber keine Zusammenkunft.
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Daran hat die lyrische Sprache, wie soeben gesehen, den entscheidenden Anteil. Sie operiert mit dem Aufschub von Bedeutung und widersetzt sich einer semiotischen Bestimmung. Wir können die zur Verführung fähige Materialität lyrischer Sprache nicht mehr als Träger von Bedeutung oder Verweis auf einen Referenten erfassen. Die Verführung verlässt das semiotische Dispositiv, indem sie die Einlösung ihres Versprechens aufschiebt, aber sie ist fähig, die semiotische Bestimmung einer Situation zu verändern und ins Offene zu führen.85 Verführung arbeitet mit Kontingenz und ist deswegen ein Wagnis. Die Strategie der Ökonomie ist es, diese Offenheit, die Baudrillard als Flottieren der Zeichen beschrieben hat86, einzudämmen. „Verführerisch ist nämlich genau die verzögerte Annäherung, die Annäherung auf Umwegen. Und damit ist Verführung ein Moment des Kulturprinzips am Erotischen, während das Ökonomieprinzip gebieten würde, ohne Umschweife immer schnell zur Sache zu kommen“87, so schreibt Kurt Röttgers. Das hatte sich bei Goethe am Paradigma der Arbeit gezeigt, die – und sogar noch ihr Gegenteil – einen linearen und möglichst effizienten Weg nimmt, an dessen Ende sie ein greifbares Ergebnis liefert. Es gibt verschiedene Begriffsangebote, die Öffnung von Arbeit – genauer gesagt von einem Arbeitsparadigma, das der zweckhaften Nützlichkeit verpflichtet ist – zu denken. Georges Bataille konzeptionalisiert sie als Überschuss, und bindet ‚Arbeit‘ in den Komplex der ökonomischen, aber auch kultur-ökonomischen Produktion ein, die ihn eigentlich interessiert. Er weist auf die „Unzulänglichkeiten des klassischen Nützlichkeitsprinzips“88 hin angesichts der Tatsache, dass der Mensch ständig in unproduktive Verausgabungsprozesse verwickelt sei, wenn die Gesellschaft sich diese auch versage. Zu solchen Tätigkeiten der Verschwendung innerhalb eines Systems, das ausgelegt ist auf die Produktion und Konsumtion und angetrieben ist durch Nützlichkeit zu einem bestimmten Zweck, zählt Bataille solche, die nicht zweckhaftes Mittel für ein Ziel sind, sondern den Zweck in sich selbst haben. Sie „bilden eine Einheit durch die Tatsache, daß in jedem Fall der Akzent auf dem Verlust liegt, der so groß wie möglich sein muß, wenn die Tätigkeit ihren wahren Sinn erhalten soll. Dieses Prinzip des Verlusts, d.h. der bedingungslosen Verausgabung, widerspricht [...] dem ökono-
85 Ob die Verführung so eine Figur der Derrida’schen différance ist, bliebe zu untersuchen. 86 Vgl. Baudrillard, Jean (2005): Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz, 18. 87 Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 452. 88 Bataille, Georges (2001): Die Aufhebung der Ökonomie. Berlin: Matthes & Seitz, 9.
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mischen Prinzip der ausgeglichenen Zahlungsbilanz (bei dem jede Ausgabe durch eine Einnahme kompensiert wird), dem einzig rationalen Prinzip im engen Sinn des Wortes“89.
Poesie ist für Bataille das „Synonym von Verschwendung“90 (vgl. auch den Ausruf des Knaben Lenker im Faust: „Bin die Verschwendung, bin die Poesie“91) – dies wurde bei Goethe v.a. an den Metaphern, Bildern, Reimen, Wiederholungen und Chiasmen deutlich. Theoretisch reflektiert wird dies u.a. von Franco ‚Bifo‘ Berardi, der in The Uprising. On Poetry and Finance die These aufstellt, „[i]n symbolist poetry meaning does not come from the representation of [a] preexisting reality and from a correspondence with the referent, but from the evocative force of sound, and voice, and rhythm“92. Jedoch sind nicht nur die der semiotischen Verwertung widerständigen Klangstrukturen, und zumal nicht nur in symbolistischer Lyrik, ursächlich für den Exzess der Poesie, sondern verschiedenste, mannigfaltige Operationen und Strategien lyrischer Sprache, von denen die Klänge, Melodien und Rhythmen nur wenig, wenn auch einen nicht minder wichtigen Platz einnehmen. Wir haben in dieser Studie ein Bouquet solcher Phänomene exemplarisch beleuchtet, wie beispielsweise das lyrische Präsens (vgl. das Kapitel zu Fiktionalität und Faktualität), das fähig ist zur Instauration. Wir haben darüber hinaus zahlreiche Operationen untersucht, die das Prinzip der Andeutung auf je verschiedene Weise praktizieren und auf diese Weise ihre Repräsentationsfunktion aussetzen. Wegen des Entzugs des Referenten ist Poesie die ständige Produktion und Proliferation von Begehren eingeschrieben. So kann Joseph Vogl behaupten: „Die programmatische Nähe von Kreditökonomie und Poesie ergibt sich durch eine Zeichenform, für die das Bedeuten ein unabschließbarer, stets sich verzehrender Prozess geworden ist“93. Beide sind autoreflexiv, operieren ohne realen Referenten und haben gleichwohl einen hohen ‚Wirklichkeitskoeffizienten‘, also Impact in der Realität. Bataille verweist auf die Grundlagen der Ökonomie, die aber nicht, wie üblicherweise angenommen, in einem dem Äquivalenzprinzip verpflichteten Tausch aufgeht, sondern im Potlatsch, der darin besteht, ein Geschenk zu machen und da-
89 Ebd., 12f. (Hervorhebungen im Original). 90 Ebd., 15. 91 Goethe, Johann Wolfgang von (2001): Faust. Der Tragödie Zweiter Teil. Stuttgart: Reclam, 29 (Vers 5573). 92 Berardi, Franco ‚Bifo‘ (2012): The Uprising. On Poetry and Finance. Los Angeles: Semiotext(e), 29f. Eine Analogie zwischen Poesie und Finanzökonomie sieht Berardi in der Tatsache, dass auch in der Finanzspekulation der Referent zugunsten von flottierenden, immateriellen Zeichen, die nicht in einem realen, manifesten Referenten, einem materiellen Gut, aufgehen. 93 Vogl, Joseph (2002): Kalkül und Leidenschaft. Berlin: Diaphanes, 349f.
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mit den Rivalen zu verpflichten. Dieser ist durch die Annahme des Präsents herausgefordert, sich mit einem größeren Geschenk zu revanchieren, wodurch ein Wucher in Gang kommt.94 Wenn Wucher zuletzt zum ruinösen Verlust von Reichtum führen kann, welcher wiederum aber Voraussetzung für die Erlangung von Ruhm ist, dann wird deutlich, dass das Vermögen nicht den Zweck hat, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern das Ansehen des Gebenden zu erhöhen. Das Geschenk also produziert einen Überschuss, der durch das Verluste provozierende Gegengeschenk nicht kompensiert, sondern übertroffen wird. Dabei ist ein Überschuss das, was sich einer Zweckmäßigkeit nicht unterordnet, sondern über sie hinausschießt. So entsteht also kein auf dem herkömmlichen Tausch basierender Kreislauf, der aufgeht, sondern eine Spirale aus ständigen Exzessen. Batailles Plädoyer dafür, Überschüsse nicht gewinnbringend in den ökonomischen Kreislauf mit dem Ziel des Wachstums einzupflegen, würde ein Potlatsch entsprechen, der nicht erwidert wird. „[D]as menschliche Leben kann in keinem Fall auf die geschlossenen Systeme reduziert werden, auf die es nach rationalen Auffassungen gebracht wird. [...] Jedenfalls hat das, was es an Ordnung und Zügelung zuläßt, nur von dem Moment an einen Sinn, wo die geordneten und gezügelten Kräfte sich befreien und für Zwecke verlieren, die keiner Rechenschaft mehr unterworfen sind.“95
Auch Jacques Derrida führt vor, dass Ökonomie Kontingenz zwar ausschließt, sie ihr aber eingeschrieben bleiben muss. Er macht die Gabe aus als ein Phänomen oder eine Figur, auch eine Konstellation, die in ökonomischen und kulturellen Zusammenhängen in der Form eines Zirkels zu finden ist. Eingebunden in einen Kreislauf, entbehrt sie dessen, was sie eigentlich konstituiert: Ihre für sich stehende Selbstbezüglichkeit nämlich, die durch einen Tausch oder eine Gegengabe zunichte gemacht wird. Die Aporie der Gabe besteht darin, dass – damit Gabe möglich wäre, d.h. selbstloses Schenken ohne die Erwartung, etwas zurückzubekommen – kein Akt des Revanchierens, des Ausgleichens, des Zurückgebens erfolgen dürfte, was aber meist der Fall ist, weil der Beschenkte zumindest indirekt in eine ‚Schuld‘ eingebunden, d.h. verpflichtet wird, eine Gegengabe zu machen.96 Um wirklich ‚Gabe‘ zu sein, müsste diese Gegengabe immer aufgeschoben bleiben. „Die Gabe selber
94 Vgl. ebd., 17. Vgl. zum Potlatsch Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Frankfurt/M: Suhrkamp. 95 Bataille, Georges (2001): Die Aufhebung der Ökonomie. Berlin: Matthes & Seitz, 30. 96 In dieser Hinsicht muss der Bezug Derridas zu Baudelaires Erzählung La fausse monnaie paradox wirken, ist doch der Bettler, dem das falsche Geldstück gegeben wird, gerade von der Reziprozität, eine Gegengabe zu machen, befreit.
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[...] wird nie mit der Präsenz ihres Phänomens zusammenfallen.“97 Dass dieser Satz ebenso für die Verführung formuliert werden muss, sollte in dieser Studie deutlich geworden sein. So wäre die tatsächliche Gabe ein Phänomen der différance. Ein Überschuss und ein Rest, der sich dem Kreislauf aus Rückbezüglichkeiten und ausgleichenden Wiederholungen entzieht, der die Zirkularität unterbricht, sich ihr entzieht, sie subvertiert: Ein Geschenk, so könnte man resümieren. Der ökonomischen Zirkulation sind diese Eigenschaften der Gabe irreduzibel immanent, jedoch werden sie immer wieder durch eine Gegengabe in einen (Aus-)Tausch gebracht und in einen aufgehenden Austausch harmonisiert. Derrida schreibt: „Denn am Ende führt das Überborden des Kreises durch die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auf ein bloßes Außen, das völlig unsagbar, transzendent und bezuglos wäre. Sondern dieses Außen gerade gibt den Anstoß, setzt den Kreis und die Ökonomie in Gang, indem es (sich) einläßt in den Kreis und ihn (sich) drehen lässt“98 .
Derrida und Bataille treffen sich dort, wo „[d]as Problem der Gabe ursächlich verknüpft [ist] mit ihrer von vornerein exzessiven, a priori übertriebenen Natur“99. Die Überschreitung der Verführung – ökonomisch und semiotisch, wie wir jetzt wissen – besteht in einer Gabe, deren Gegengabe ins Unendliche aufgeschoben bleibt. Der Fischer hatte sein Netz ausgeworfen, damit die Nymphe an die Wasseroberfläche gelockt wird, die nun ihrerseits bemüht ist, ihre ‚Waren‘ feilzubieten – die Schönheit des Meeres, ihr feuchter, glitzernder Körper, ihre reimenden Worte, ihr Versprechen auf Gesundheit –, Waren, die sich jedoch auch als „Falschgeld“ (Derrida) erweisen können. Sie versucht also, ihre Verführungsqualitäten gewinnbringend und klug kalkulierend einzusetzen und in den ökonomischen Kreislauf von Produktion (von Begehren, von Werten) und Konsumtion (das ‚Sich-Einlassen‘) mit dem Ziel des Gewinns (seines Lebens? Zumindest seiner Begleitung auf den Meeresgrund) einzuspeisen. Damit jedoch beginnt eine Dynamik der Reversibilität, in dem Verführung sich eben als jener Zielsetzung widerständig erweist. Und als solche wäre sie erst das, was Baudrillard als ‚Verführung‘ bezeichnet: Das, was die Produktion von Bedeutung, von Eindeutigkeit, von Sichtbarkeit, von Verfügbarkeit, von Gütern o.ä. subvertiert. Während producere nicht nur erzeugen und hervorbringen bedeutet, sondern auch vorführen, sichtbar machen, geht die Etymologie von seducere in die entgegensetzte Richtung im Sinne eines weg-, ab-, woandershin-führen. Ver-
97 Derrida, Jacques (1993): Das Falschgeld. Zeit geben I. München: Fink, 43. 98 Ebd., 45. 99 Ebd., 55.
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führung ist somit diejenige Dynamik, die etwas aus der Ordnung des Sichtbaren entzieht: „Verführung ist das, wovon es keine Repräsentation gibt.“100 Sie widersetzt sich einem rationalen Kalkül, ergibt sich keiner Mittel-zumZweck-Relation, sondern perturbiert diese. Dies betrifft sowohl die Logik des Semiotischen wie auch, im Spezifischen, die des Ökonomischen. Mit einer Anleihe bei Joseph Vogl lässt sich resümieren: Goethes Fischer scheint ein Dokument des Geschäftig- und Tätigseins, des Tuns, Handelns, Produzierens zu sein, wie es vor, um und seit ungefähr 1800 verstanden und mit dem Begriff der ‚Arbeit‘ belegt wurde.101 Es scheint darüber hinaus sogar als Seismograph zu fungieren hinsichtlich der erneuten Entwicklung und Öffnung des Arbeitsparadigmas seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Es stellte sich – zum einen hier in Goethes Fischer, wie auch, zum anderen, in der theoriepolitischen Diskussion besonders verdichtet ab ungefähr der Jahrtausendwende – die Frage, was anders als Arbeit, d.h. was das Andere in Arbeit sein kann. Das war der Weg, der uns in diesem Kapitel auf die Spur der Verführung gebracht hatte. Eine Verführung, die von Seiten der Nymphe aus in den Dienst ihrer Ökonomie genommen werden sollte und sich demgegenüber als widerständig erwies. Denn die Ökonomie pflegt zur Verführung nicht nur einen funktionalen Zusammenhang, in dem diese als Marktprinzip zum Schüren von Begehrlichkeiten genutzt wird. In einer intrikaten Verflechtung ist die Verführung diejenige, die sich zugleich einem ökonomischen Nützlichkeitsprinzip widersetzt. Das tut sie, indem sie verspricht und die Einlösung ihres Versprechens ins Ungewisse aufschiebt. Ohne das Gegenteil von Arbeit zu sein, produziert sie so einen Umweg, eine Verzögerung, einen Aufschub und „zielt auf ein poietisch Anderes in Arbeit ab“102. Bataille und Derrida führen mit je eigenen Parametern – eben: ‚Überschuss‘ und ‚Gabe‘ – vor, dass Ökonomie eigentlich ein offenes System ist. Darin gleicht sie der Verführung. Ihr Eigenes Anderes ist ihr inhärent. Im Paradigma der Arbeit artikuliert es sich als „Gelassenheit“ (Hamacher), „Genuss“ (Nancy, Marx), „Muße“ (Schäfer), zu denen ‚Verführung‘ als ein weiterer Topos ergänzt werden könnte. Die Vorsilbe ‚Ver‘ in ‚Ver-führen‘ meint das Andere, wir erinnern uns an die Grimmsche Worterklärung „an einen anderen Ort führen“. Dieser verschiebende Eingriff lässt sich anhand von Goethes Fischer auf das Paradigma von Arbeit und
100 Baudrillard, Jean (2012: Von der Verführung. Berlin: Matthes & Seitz, 78. 101 Vgl. Vogl, Joseph (2002): Kalkül und Leidenschaft. Berlin: Diaphanes, 336. 102 Skrandies, Timo (2015): Gelehrigkeit und: Verführung? Arbeit als Kippfigur. In: Nebulosa – Figuren des Sozialen. 07/2015: Prinzessinnen. Berlin: Neofelis, 117-125, hier 123 (Hervorhebung im Original).
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Produktion wenden. Hier ist sie eine Öffnung in Arbeit hin zu „anders als Arbeit geschieht“ (Lévinas) ohne deren bloßes Gegenteil, Nicht-Arbeit, zu sein. Verführung, so lässt sich zusammenfassen, springt aus dem Ökonomischen heraus, wie sich in Goethes Ballade in dem ambiguen, reversiblen Verhältnis zwischen Fischer und Nymphe zeigt. Das Tun der Protagonisten nimmt Züge von Arbeit an, die entwendet, ent-setzt, verführt wird – ‚erneut‘ muss man sagen angesichts der christlichen Konzeptionierung von Arbeit als Strafe für den Sündenfall, also für das Erliegen der Verführung. Verführung ist, so gedacht, nicht die Negation oder das Gegenteil von Arbeit. Als Reflexionsfigur in und auf Arbeit werkt sie nicht gegen Arbeit, sondern inmitten von Arbeit. Sie gibt ein Versprechen, dessen Einlösung ungewiss, da aufgeschoben bleibt. Sie deutet an, nicht aus. Sie produziert eine Öffnung, die ins Offene geht: Ein Fingerzeig, ein Blick, die Frau im roten Kleid in Matrix – ein Versprechen, es könne anders sein als es ist, anders als heroben „in Todesglut“ (Goethe), anders „als in der bleiernen Zeit“ (Hölderlin), anders als in der kalten Wohnung, in der die Geliebte eine unnahbare Wölbung unter dem Laken bleibt (Rost), anders als „in the icy silence of the tomb“ (Keats).
Schluss und Ausblick
Lyrik ist eine eigenständige Existenzweise.1 Diese ist nicht von vornherein gegeben, sondern entsteht performativ im Gedicht als ein Resultat von produktiven Prozessen sprachlicher, bildlicher und lautlicher Art. Es wird wesentlich konstituiert durch eine Dynamik, die im Fokus dieser Studie stand: Verführung. Hierbei handelt es sich um ein ästhetisches Dispositiv, das – dies war die zugrundeliegende These – mit der Gattung Lyrik intrikat verbunden ist. Die Gedichtanalysen haben gezeigt, dass das Dispositiv sich durch das dynamische Verhältnis verschiedener Phänomene, Praktiken, Strategien der Sprache und in der Sprache materialisiert. Andeutung statt Ausdeutung, Annäherung statt Berührung, der Modus des Möglichen statt des Tatsächlichen, Ambiguität statt Eindeutigkeit, Metapher statt Literalität – dies sind Dynamiken, mit denen Verführung operiert und durch die sie allererst in Gang gebracht wird. Sie konkretisieren sich durch eine Verknüpfung von Motiv – das angesichts des von der Lyrik bevorzugten Topos der
1
Wollte man der Latour’schen Methodik und Taxonomie der Existenzweisen, nach der es nur Großkategorien gibt, getreuer folgen als dies hier geschehen ist, so müsste man auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Lyrik der Teilbereich eines Existenzmodus mit dem Titel Ästhetik wäre. Ein Existenzmodus des Ästhetischen – in dem der Begriff des Ästhetischen präziser zu bestimmen wäre als dies hier geschehen kann, wenn er sich auch auf die zu Beginn des zweiten Teils skizzierte Anlage von Martin Seel bezieht – würde freilich verschiedene Gattungen, Genres, Ereignisse, Dynamiken ästhetischer Art umfassen. Dazu bedürfte es weiterer als dieser kurzen Ausarbeitungen vom spezifischen Einsatzpunkt der Lyrik heraus. Fest steht indes, dass der Bereich des Ästhetischen in der Latour’schen Taxonomie ungenügend berücksichtigt wurde. Die spezifischen Merkmale und Eigenheiten der Lyrik lassen sich nicht in die bisher von Latour vorgeschlagenen Kategorien einhegen, ohne dass ihre Charakteristika – deren dominantes in dieser Studie vorgestellt wurde – übergangen werden.
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Liebe kein seltenes ist – und Materialität der Schrift in verschiedensten sprachmateriellen Phänomenen, Prozessen und Operationen, von denen einige in close readings von Gedichten exemplarisch beleuchtet wurden. Diese sind nicht genredistinktiv, doch genretypisch aufgrund der spezifischen Performanz lyrischer Sprache. Es zeigte sich, dass Verführung vielgestaltiger ist, als dass sie bloß auf eine erotische Paarbeziehung beschränkt wäre, in der die Rollen von Verführer und Verführter eindeutig verteilt sind und ersterer ein rationales, strategisches Vorgehen mit einem nutzbringenden Ziel verfolgt zuungunsten des Objekts seiner Begierde. Vielmehr ist sie auch am Werk in zahlreichen lebensweltlichen Prozessen, in denen die sinnliche Wahrnehmung, Empfindung und Erfahrung abgelenkt, verschoben, perturbiert wird und auf etwas fokussiert, dass ihr ereignishaft geworden ist. Die Gedichtanalysen des Hauptteils waren Perspektivierungen auf diese vielfältigen Facetten des Verführungsparadigmas, die mit jedem Gedicht ein wenig mehr entfaltet wurden. Ist nicht längst etwas geschehen, wenn wir angefangen haben, ein Gedicht zu lesen? Dies war die Ausgangsfrage zum Eröffnungsmoment der lyrischen Verführung, die mit dem Hinweis auf die Poetische Differenz beantwortet wurde: Ein Gründungsereignis des Lyrischen, das immer erst nachträglich bemerkbar ist, wenn es bereits geschehen und der Raum des Gedichts schon betreten worden ist. Ein Widerfahrnis im eigentlichen Sinne, das als solches nicht antizipierbar und nicht kontrollierbar ist. Es ist das Statthaben einer Alterität, die ereignishaft wahrgenommen wird, weil sie plötzlich (in) die Wahrnehmungskontinuität (ein)bricht und ihre Evidenz abrupt in der Manifestation des Gedichts offenbar wird. Zu diesem Zeitpunkt jedoch ist sie immer schon geschehen. Es ist daher notwendig, zu beobachten, welche Prozesse dazu geführt haben, dass sie sich ereignet. Die Poetische Differenz konstituiert die lyrische Existenzweise und macht sie als solche durch den Bruch zu ihrer Umwelt wahrnehmbar. Sie eröffnet Szenerien des Ästhetischen, die in jedem Gedicht individuell durch die Verknüpfung von Sprachmaterialität und Semantik realisiert und konkretisiert werden. Im Leseakt zieht sie sich zurück, die Materialität des Mediums wird durchlässig und eine Immersion in die diegetische Welt möglich. Die folgenden, im Hauptteil der Studie angesiedelten Gedichtanalysen differenzierten solche Szenerien des Ästhetischen weiter aus, indem jeweils spezifische Phänomene, Operationen und Strategien der Lyrik beleuchtet wurden. Die Analysen stellten Perspektiven auf lyrische Prozesse dar. So wurde zunächst die Topologie des Gedichts in den Blick genommen, deren Alterierung – neben dem Versprechen – einen konstanten Parameter der Verführung darstellt: Die Verunsicherung und Verschiebung von Positionen, die schon begriffsgeschichtlich angelegt ist, hat eine Alterierung der kartographischen, sinnli-
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chen und affektiven Haltung zur Folge. Sie kann bis hin zur Reversibilität eindeutiger, stabiler Positionen gehen, an deren Stelle dynamische Relationen etabliert werden. Solche Alterierung realisiert sich aber nicht nur motivisch, sondern schreibt sich material-semiotisch auch in das Medium des Textes ein, anders gesagt: Der Raum des Gedichts wird erschrieben. Er ist nicht vorgegeben, sondern wird durch die Inter- und bisweilen sogar Intrarelation von Semantik und Schriftmaterial produziert, durch Vers- und Strophenverläufe, Reime, Enjambements, den Satzspiegel usw. Die Ästhetik des lyrischen Textes materialisiert sich, d.h. sie ist das Resultat von Verführungsprozessen. In der Perspektive, die das Gestische der lyrischen Sprache in den Blick nahm, zeigte sich, dass Verführung solche Bestrebungen zur Auflösung bringt, die darauf zielen, eine dauerhafte Stabilität zu etablieren und Positionen zu essentalisieren. Dies vollzieht sich in der poetischen Sprache beispielsweise auf der Wortebene, die die Bedeutung des Textes in den Modus der Möglichkeit verschiebt. Hier materialisiert sich eine Bewegung des Körpers der Schrift: Bedeutungen werden angedeutet, gehen aber nicht auf, sondern bleiben in der Schwebe. Lyrische Sprache ist unzuverlässig hinsichtlich ihrer Bedeutung: Sie vermag mitunter zu ‚betrügen‘, indem sie vorgibt, vertraute Worte zu nutzen, die aber losgelöst von ihrer herkömmlichen Bedeutung sind und hermetisch bleiben. Poetische Sprache vollzieht Verführungsgesten, insofern sie sich über den Entzug und die Spannung dessen konstituiert, worauf sie sich hin entwirft, ohne es zu erreichen. Diese setzende und ent-setzende Dynamik ist für sie konstitutiv. Jedoch gilt es, anzuerkennen, dass in der Schwebe zwischen Wahrheit und Täuschung ihre kostbarste Kraft hervorkommt, eben die Verführung. Die Auflösung starrer Positionen zugunsten von Prozessualität und Relationalität hebt den Antagonismus von Verführer und Verführtem auf und sogar die Differenz zwischen Subjekt und Objekt, denn es ist das mit Anziehungskraft ausgestattete Objekt – der attracteur étrange (Baudrillard) –, durch welches das Subjekt allererst bedingt wird. In einer weiteren Perspektive wurde ein virulentes lyriktheoretisches Problem aufgegriffen, nämlich die Frage, ob die Gattung Lyrik fiktional oder nicht-fiktional sei. Anhand verschiedener Phänomene wie das Präsenstempus, die Figur des lyrischen Ichs oder die Apostrophe hat sich herausgestellt, dass die theoretischen Angebote, die Lyrik pauschal entweder dem fiktionalen oder dem nicht-fiktionalen Bereich zuordnen, unzureichend sind. Sie gehen fehl, weil sie erstens die Präexistenz beider Bereiche voraussetzen und diese Konzepte dann normativ auf Gedichte anlegen. Zweitens vergeben sie die Möglichkeit, emphatisch die spezifischen Qualitäten von Lyrik zu berücksichtigen und zu würdigen, die u.a. darin bestehen, dass sie zwischen Fiktionalität und Faktualität oszilliert. Beide Dimensionen werden performativ im Text gebildet – genauer gesagt, sie bilden sich aneinander, werden also in ihrer Intrarelationalität hervorgebracht.
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Aus dieser Tatsache muss die Theoriebildung den Schluss ziehen, dass in jedem Gedicht und innerhalb des Gedichts neu zu entscheiden sein wird, ob und in welcher Weise Lyrik ein Verhältnis pflegt zur Realität. Zuletzt hatte Goethes kanonisches Gedicht Der Fischer den Topos der Verführung für ökonomische Zusammenhänge evoziert – und hier für das Paradigma der Arbeit. In gegenwärtigen analytischen Diskursen werden Angebote gemacht, wie ein Anderes als Arbeit bestimmt werden könnte, ohne deren bloßes Gegenteil zu sein. Hier reiht sich Verführung in den Begriffsreigen von ‚Muße‘ oder ‚Gelassenheit‘ ein, die in Arbeit Einwendungen und Verschiebungen vornimmt. In diesem Kontext stellt sie sich als widerständig heraus gegenüber klassischen, an Produktivität orientierten ökonomischen Modellen und macht sichtbar, dass scheinbar aufgehenden Tauschverhältnissen, nutzenorientierten Wertschöpfungsprozessen, aufeinander abgestimmten Produktions- und Konsumtionskreisläufen stets ein Moment der Resistenz, der Perturbation, der Aussetzung, der Verharrens eingeschrieben ist. Das Paradigma der Arbeit, wie es sich mit den Protagonisten Marx und Smith in der Moderne als ‚klassisch‘ herausgeformt hat, würde so zu seinem eigenen Anderen verführt werden. Ziel dieser Studie war es, einen Beitrag zur Erforschung des ästhetischen Dispositivs ‚Verführung‘ zu leisten und den Vorschlag einer zur Gattungsdefinition alternativen Herangehensweise zu unterbreiten, um die Blackbox Lyrik zu öffnen. Mit diesem der Prozessontologie verpflichteten Ansatz wurde Lyrik als eigenständige Existenzweise begriffen, in der Relata und ihre Relationen (wie die von Text und Bild, von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Mensch und Welt, GenderVerhältnissen, Fiktion und Faktualität u.a.) nicht vorgegeben sind, sondern sich stets von Neuem konstituieren. Lyrik ist beides zugleich: eine Existenzweise, in der Relata und Relationen hervorgebracht und ‚prozessiert’ werden – und zugleich, indem das geschieht, erschafft sie ihre eigene Ontologie im Sinne einer Lehre von ihrem Sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Studie ein Anstoß sein kann, um, erstens, Lyrik prozessontologisch weiterzudenken und, zweitens, dem Panorama verführerischer poetischer Formen, von denen hier nur einige wenige aufgezeigt werden konnten, weitere hinzuzufügen. Zu denken wäre etwa an die mit Rhythmen, Melodien und Klängen einhergehenden rhetorischen Aspekte der Sprache, an den Topos des Blicks, an das Verhältnis von Latenz und Präsenz sowie Nähe und Distanz. Es gälte also, die Instrumente der Verführung, von denen in dieser Arbeit v.a. die Sinnlichkeit des Körpers und der Einsatz der Sprache angesprochen wurden, auszudifferenzieren. Der Weg über die Rhetorik könnte hierfür fruchtbar sein, wie Röttgers andeutet:
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„Im ‚Philebos‘ Platons wird von Gorgias gesagt, daß er die Rhetorik deswegen für die höchste aller Künste hielt, weil sie die Menschen gewinne, und zwar nicht durch Gewalt, sondern durch die Kraft der Worte, durch die die so Gewonnenen freiwillig tun, was sie sollen.“2
Der Blick könnte als weiterer Impulsgeber fungieren insofern v.a. das Geheimnisvolle, nicht Sichtbare, sondern Imaginierte verführerisch ist. Hier wäre beispielsweise die Praxis des Verhüllens und Enthüllens zu nennen, die vielfacher Gegenstand lyrischer Betrachtung geworden ist, etwa in Salomes Schleiertanz. Dazu weiß Sartre: „Verführen heißt, [...] mich seinem [dem des Anderen, J.V.] Blick aussetzen, mich von ihm anblicken zu lassen“.3 Baudrillard dagegen macht in einer anderen Hinsicht auf die Relevanz des Blickes aufmerksam, wenn er das Sichtbare der Ordnung der Produktion, und das, was sich der Sichtbarkeit entzieht, der Verführung zuordnet. Der Schleier ermögliche eine Distanznahme, weil er den Körper partiell dem Raum der Sichtbarkeit entzieht. „Der Schleier, der ahnen lässt, was sich hinter ihm verbirgt, ist verführerisch, nicht aber die Disposition über alles und jedes“4, so schreibt Röttgers, Baudrillard erklärend. Wenn dieser im Sinne von Baudrillards Konzept der Reversibilität davon spricht, dass der Verführer immer auch der Verführte ist und also der Verführte immer schon die Position des Verführers inne hat, dann führt die Metapher des Schleiers diese Dynamik vor: Der Verführte sieht nicht alles, sondern imaginiert, was sich hinter dem Stoff verbergen könnte, und ebenso hat die Verführerin einen durch den Stoff vor ihren Augen eingeschränkten Blick und sieht nicht, was mit ihr geschieht. Sie wird also weder gesehen noch sieht sie, wie sie betrachtet wird und welche Wirkung sie hat. Weiterhin verspricht das Derrida’sche Schaudern (frz. ‚frémissement‘) produktive Erkenntnisse, um das Moment des Zögerns und Verharrens in der Verführung zu fassen: „[E]s kann eine Gänsehaut sein, wenn das Schaudern Lust oder Genuß ankündigt. Moment des Übergangs; in der Schwebe gehaltene Zeit der Verführung. Ein Schaudern ist nicht immer etwas sehr Lastendes, es ist manchmal diskret, kaum spürbar, etwas in der Art eines E-
2
Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 410. Jonathan Culler verfolgt in seiner aktuellen Lyriktheorie v.a. den Ansatz, dass die ‚ritualistischen Elemente‘ von Lyrik wie Rhythmen und Melodien Verführungskraft besitzen. Vgl. Culler, Jonathan (2015): Theory of the Lyric. Cambridge, MA: Harvard University Press.
3
Zitiert nach Macho, Thomas (Hg.) (1995): Sartre, Jean-Paul. München: Dtv Taschenbuch, 167.
4
Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 455.
340 | V ERFÜHRUNG . E IN ÄSTHETISCHES D ISPOSITIV VON L YRIK piphänomens. Es bereitet eher das Ereignis vor, als daß es ihm folgt. Das Wasser, heißt es, schaudert [...], bevor es kocht, es ist das, was wir Verführung nannten: ein vorgreifendes Aufkochen an der Oberfläche, ein vorgreifendes und sichtbares Aufgeregtsein. Wie beim Beben der Erde oder wenn man an allen seinen Gliedern zittert, hat das Beben oder Zittern, zumindest als Signal oder Symptom, bereits stattgefunden.“5
Entscheidend ist, dass das Schaudern bei Derrida kein Effekt ist, sondern ein Vorgriff auf das, was kommen könnte. Röttgers ist denn auch verleitet, zu schreiben: „Dieses ‚Frémissement‘ ist damit die eigentliche Materialität der Verführung. Im Vorgefühl der Lust erschaudert der Körper.“6 Das Schaudern ist eine Manifestation des Wechselspiels von Latenz und Präsenz. Es ist ein Vor-Gefühl, es reagiert auf etwas, das sich noch unter der Oberfläche verbirgt, das noch nicht präsent geworden, aber nichtsdestotrotz da ist, sonst würde der Körper nicht so stark reagieren. Es hat sich anhand konkreter poetischer Umstände herausgestellt, dass eine Theorie der Verführung ihren Gegenstand nur umkreisen und nie greifbar machen kann. In ihrer Scheu gleicht sie dem diesem Buch als Motto vorangestellten Reh auf einer Lichtung, das sich entzieht, wenn es entdeckt und benannt wird. „Verführerisch ist [...] die verzögerte Annäherung, die Annäherung auf Umwegen“7, so hatte Röttgers festgehalten. Dieser Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass sie im Modus des Möglichen sich vollzieht. Sie gibt das Versprechen, dass ihre Realisierung möglich sei, löst es jedoch nicht ein, sondern schiebt es auf. In der Modalität dieser Haltung findet sich das Moment des ‚Vielleicht‘; räumlich korrespondiert ihm das Adverb ‚Beinahe‘; zeitlich das ‚Noch nicht‘; grammatikalisch wird es angedeutet durch den Konjunktiv „Könnte“. Sich diesen vier Modalitäten immer wieder mittels der verschiedenen Figurationen und Sprachformen, die Verhältnisse zwischen Nähe und Distanz verhandeln, zuzuwenden, war die Aufgabe der vorherigen Kapitel. Verführung braucht Distanz – und unendliche Nähe. Ein ontologischer Raum hierfür ist Lyrik.
5
Derrida, Jacques (1994): Den Tod geben. In: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin. Frankfurt/M: Suhrkamp, 331-445, hier 380f. Vgl. auch Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 465.
6
Röttgers, Kurt (2002): Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg: Scriptum Verlag, 465 in Bezug auf Derrida, Jacques (1999): Donner la mort. Paris: Galilée, 79.
7
Ebd., 452. Röttgers gibt dafür ein Beispiel: „Verführerisch ist allein die Schönheit, die soviel Distanz beinhaltet, daß der Blick noch möglich ist.“
EIN WEIßES REH, DEM GOLDGEWEIH VERLIEHEN, ERSCHIEN MIR EINST AUF GRÜNEN RASENFLÄCHEN, IN LORBEERSCHATTEN, ZWISCHEN ZWEIEN BÄCHEN, AM MORGEN, BEI DES LENZES ERSTERBLÜHEN. SO MILD UND STOLZ, DAß, UM IHM NACHZUZIEHEN, ICH JEDE ARBEIT EILTE ABZUBRECHEN, WIE GEIZIGEN, DIE SCHÄTZE SICH VERSPRECHEN, DER HOFFNUNG LUST VERSÜßET SORG UND MÜHEN. »NICHT RÜHR MICH AN!« STAND UM DEN HALS IN ZÜGEN VON DEMANT UND TOPASEN HELL ERHABEN, »MEIN CÄSAR HAT MICH BEFREIT MICH UND ENTBUNDEN!« DIE SONNE WAR ZUM MITTAG SCHON GESTIEGEN, MEIN AUGE MATT, DOCH GIERIG MEHR ZU HABEN; DA SANK IN FLUTEN ICH – ES WAR VERSCHWUNDEN. FRANCESCO PETRARCA
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Register der Gedichttitel oder -anfänge
Albanie (Christian Hofmann von Hofmannswaldau) | 25 Archaïscher Torso Apollos (Rainer Maria Rilke) | 276 Auf dem Rhein (Clemens Brentano) | 257 Auf einer Wanderung (Eduard Mörike) | 113 Auff den Mund (Christian Hofmann von Hofmannswaldau) | 158 Berlin. Ein Toter saß an dreizehn Wochen (Durs Grünbein) | 237 Damoetas und Phyllis (Christian Fürchtegott Gellert) | 53 Das Irrlicht (Wilhelm Müller) | 134 Der Fischer (Johann Wolfgang von Goethe) | 291 Der Gang aufs Land (Friedrich Hölderlin) | 84 Der Zauberer (Christian Felix Weisse) | 23 Die Insel der Sirenen (Rainer Maria Rilke) | 171 Die Lichtung (Hendrik Rost) | 7 Die Nacht (Friedrich Hölderlin) | 196 Es war Abend, und es sah aus, als sei (Jürgen Becker) | 261 Eva Filatrice (Durs Grünbein) | 35 Furor (Hendrik Rost) | 111 Gartentag (Hans Carossa) | 193 Giersch (Jan Wagner) | 103 Ich war ein unschuldiges Kind (Carmina Burana) | 32 Juninovember (Sarah Kirsch) | 247 Kontakte (Kurt Drawert) | 220 Legenden (Jürgen Becker) | 79 Lockung (Joseph von Eichendorff) | 125 Mittwochs sind die Brombeeren reif (Jürgen Becker) | 251 Nachtzauber (Joseph von Eichendorff) | 126 Orpheus. Eurydike. Hermes (Rainer Maria Rilke) | 138 Pflaumen (Hendrik Rost) | 213 Schlaflos (Günter Eich) | 210
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Schmollende Liebe (Bernart von Ventadorn) | 28 So soll der Purpur deiner lippen (Christian Hofmann von Hofmannswaldau) | 26 Sonett 100 (Francesco Petrarca) | 162 Sonnet. Beschreibung vollkommener Schönheit (Christian Hofmann von Hofmannswaldau) | 160 This is just to say (William Carlos Williams) | 213 This living hand (John Keats) | 225 Vineta (Wilhelm Müller) | 135 Von den Fontänen (Rainer Maria Rilke) | 84 Wald im Winter (Hans Carossa) | 186
Dank
„Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (Friedrich Rückert) – das mag und muss jedem Forscher geschehen. Meine Doktoreltern haben Acht gegeben, das zuzulassen, mich mit Helm, Meißel und Lampe ausgestattet, wenn ich einen neu entdeckten Pfad nicht auslassen konnte, und Sorge getragen, dass ich den Weg zurück finde. Prof. Dr. Timo Skrandies danke ich herzlich für zahllose bereichernde Gespräche, in denen er viele Male ahnte, worum es mir gehen würde, lange bevor ich die Worte fand, es zu beschreiben. Ich danke ihm für seine Sätze mit Bedacht, für seine kritische Weitsicht und sein beharrliches Hinterfragen – und damit für die mich fortan begleitenden Angebote, wie zu denken möglich wäre. Für eben dies, und dafür, dass sie ihre Liebe zur Lyrik mit mir geteilt hat, gilt mein herzlicher Dank nicht minder Prof. Dr. Vittoria Borsò. Ohne die großzügige Finanzierung der DFG hätte mein Projekt nicht in dieser Weise entstehen können. Der gemeinsamen Arbeit mit den DoktorandInnen und ProfessorInnen des Graduiertenkollegs Materialität und Produktion der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf verdankt es sehr viel. Ich danke Kathrin Wczasek für ihre geflissentliche Sorgfalt, mit der sie tage- und nächtelang jedes Komma, jedes Wort und jeden Satz begutachtet hat. Ebenso Friederike Sigler, Dina Schulte, Sophie und Florian Hirschmann sowie Matthias Conrads für ihre Lektüre und technische Unterstützung. Mattes hat darüber hinaus die letzten Jahre mit Leben gefüllt – Danke. Es gibt Menschen, die einen für mich frappierenden, weil unerschütterlichen Glauben an mich haben. So danke ich für ihre Zuversicht meiner Schwester Stefanie und meinen Eltern, Marlene und Günther Vomhof. Sie haben mir jede Tür geöffnet – immer und vorbehaltlos.
Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)
Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3
Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)
Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2
Stefan Hajduk
Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)
Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1
Tanja Pröbstl
Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0
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