Verfemte Autoren: Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre [Reprint 2015 ed.] 9783110921144, 9783484660403

Among the works discovered by German theatre directors shortly before and after the Wende, texts by Russian authors vict

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German Pages 179 [188] Year 2003

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Table of contents :
1. Einleitung
2. Zur Rezeption der russischen Neo-Romantik der 20er Jahre im deutschen Theater: Marina Cvetaeva
2.1. Zur Forschungslage
2.2. Phoenix als dramatischer Text
2.3. Der Traum von Casanova: Phoenix an der Schaubühne Berlin
3. Zur Rezeptionsgeschichte der russischen satirischen Literatur der 20er und 30er Jahre im deutschen Theater: Michail Bulgakov
3.1. Zur Forschungslage
3.2. Sojkas Wohnung als dramatischer Text
3.2.1. Das brisante Gespräch über die Freiheit: Paris, Paris am Deutschen Theater Berlin
3.3. Hundeherz als literarischer Text
3.3.1. Ein Exposé für das 20. Jahrhundert: Hundeherz am Gostner Hoftheater Nürnberg
3.3.2. Ein mißglücktes Experiment: Hundeherz am Ernst-Deutsch-Theater Hamburg
3.4. Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen als dramatischer Text
3.4.1. “Die Bretter, die die Welt bedeuten”: Moliere oder Die Verschwörung der Heuchler am Münchner Prinzregententheater
3.4.2. Eine Hommage an die Komödianten: Molière oder Die Kabale der Scheinheiligen am Schauspielhaus Neubrandenburg
4. Zur Rezeptionsgeschichte der russischen prä-absurden Literatur im deutschen Theater: Aleksandr Vvedenskij und Daniii Charms
4.1. Zur Forschungslage im Westen
4.2. Zur Forschungslage in Rußland
4.3. Weihnachten bei Ivanovs von Aleksandr Vvedenskij
4.3.1. Die literaturwissenschaftliche Rezeption
4.3.2. Die Struktur des Stückes und seine Fabel
4.3.3. Grand-Guignol: Weihnachten bei Ivanovs am Thalia Theater Hamburg
4.3.4. Zwischen metaphysischer Tragödie und satirischem Lachtheater: Weihnachten bei Ivanovs am Schauspielhaus Düsseldorf
4.3.5. Japanisches ‘Bunraku’ läßt grüßen: Weihnachten bei Ivanovs am Maxim Gorki Theater Berlin
4.4. Charms auf der deutschen Bühne
4.4.1. Zur Aufführungssituation der Werke von Charms in Deutschland
4.4.2. Ein Kaleidoskop grotesker Bilder: Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe am Zan Pollo Theater Berlin
4.4.3. Becketts Verwandschaft: Die rausfallenden alten Weiber an der Berliner Volksbühne
4.4.4. Elizaveta Bam als dramatischer Text
4.4.5. Eine Huldigung an das Oberiu-Theater: Elizaveta Bam auf der Studiobühne Bayreuth
4.4.6. Ein Blick auf die Aggressivität des heutigen Alltags: Rindviecher sollen nicht lachen auf der Studiobühne Köln
4.4.7. Eine Überlegung zum Wesen des Absurden: Es geht ein langer Mann auf der Studiobühne des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität München
5. Blick über die Grenzen
Abbildungsnachweis
Literaturverzeichnis
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Verfemte Autoren: Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre [Reprint 2015 ed.]
 9783110921144, 9783484660403

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5 ilwatron

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 40

Swetlana Lukanitschewa

Verfemte Autoren Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniii Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-66040-6

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1

2. Zur Rezeption der russischen Neo-Romantik der 20er Jahre im deutschen Theater: Marina Cvetaeva 2.1. Zur Forschungslage 2.2. Phoenix als dramatischer Text 2.2.1. Der Traum von Casanova: Phoenix an der Schaubühne Berlin

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3. Zur Rezeptionsgeschichte der russischen satirischen Literatur der 20er und 30er Jahre im deutschen Theater: Michail Bulgakov 3.1.

Zur Forschungslage

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3.2. Sojkas Wohnung als dramatischer Text 3.2.1. Das brisante Gespräch über die Freiheit: Paris, Paris am Deutschen Theater Berlin

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3.3. Hundeherz als literarischer Text 3.3.1. Ein Expose für das 20. Jahrhundert: Hundeherz am Gostner Hoftheater Nürnberg 3.3.2. Ein mißglücktes Experiment: Hundeherz am Ernst-Deutsch-Theater Hamburg

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Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen als dramatischer Text 3.4.1. "Die Bretter, die die Welt bedeuten": Moliere oder Die Verschwörung der Heuchler am Münchner Prinzregententheater 3.4.2. Eine Hommage an die Komödianten: Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen am Schauspielhaus Neubrandenburg

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4. Zur Rezeptionsgeschichte der russischen prä-absurden Literatur im deutschen Theater: Aleksandr Vvedenskij und Daniii Charms 4.1. 4.2.

Zur Forschungslage im Westen Zur Forschungslage in Rußland

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4.3.

Weihnachten bei Ivanovs von Aleksandr Vvedenskij

4.3.1. Die literaturwissenschaftliche Rezeption 4.3.2. Die Struktur des Stückes und seine Fabel 4.3.3. Grand-Guignol: Weihnachten bei Ivanovs am Thalia Theater Hamburg 4.3.4. Zwischen metaphysischer Tragödie und satirischem Lachtheater: Weihnachten bei Ivanovs am Schauspielhaus Düsseldorf 4.3.5. Japanisches'Bunraku'läßt grüßen: Weihnachten bei Ivanovs am Maxim Gorki Theater Berlin 4.4.

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Charms auf der deutschen Bühne

4.4.1. Zur Aufführungssituation der Werke von Charms in Deutschland 4.4.2. Ein Kaleidoskop grotesker Bilder: Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe am Zan Polio Theater Berlin 4.4.3. Becketts Verwandschaft: Die rausfallenden alten Weiber an der Berliner Volksbühne 4.4.4. Elizaveta Bam als dramatischer Text 4.4.5. Eine Huldigung an das Oberiu-Theater: Elizaveta Bam auf der Studiobühne Bayreuth 4.4.6. Ein Blick auf die Aggressivität des heutigen Alltags: Rindviecher sollen nicht lachen auf der Studiobühne Köln 4.4.7. Eine Überlegung zum Wesen des Absurden: Es geht ein langer Mann auf der Studiobühne des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität München

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5. Blick über die Grenzen

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit entstand während der Jahre 1997-2001 als Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Lehrer Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer herzlich bedanken, für die Anregung zu dieser Arbeit und die kritischen Kommentare sowie für all die Unterstützung, die der in Moskau großgewordenen Doktorandin zuteil wurde. Ohne ihn wäre das Entstehen dieses Buches undenkbar. Ich danke den Herausgebern der Reihe Theatron für die Aufnahme meiner Arbeit. Mein aufrichtiger Dank gilt Frau Maria Stadler-Fiawoo für die Korrekturen dieses Textes und die Vorbereitung der Druckfassung. Bedankt seien auch die Mitarbeiter des Akademischen Auslandsamtes der Ludwig-Maximilians-Universität München für ihre liebenswürdige Hilfsbereitschaft. Außerdem bin ich sowohl den Regisseuren als auch den Theatermitarbeitern, die mir Aufiührungsmaterialien und Videokassetten zur Verfugung gestellt haben, sehr verbunden. Das sind Ilona Zarypow, Heinz Drewniok, Nikolai Sykosch, Karin Beier, Inka Neubert, Hans Rübesame (Deutsches Theater Berlin, Archiv), Sylvia Marquardt (Maxim Gorki Theater Berlin, Dramaturgie), Remmer Koch (EmstDeutsch-Theater Hamburg, Öffentlichkeitsarbeit) und Matthias Wolf (Schauspielhaus Neubrandenburg, Dramaturgie). Diese Arbeit ist meinen Eltern gewidmet.

1. Einleitung

Das Ende des 20. Jahrhunderts regt an, Bilanz zu ziehen in allen Bereichen der kulturellen Entwicklung, so auch im Bereich des europäischen Theaters als einer auf gesellschaftliche Veränderungen reagierenden Institution. In der vorliegenden Studie werden zwei europäische Theaterkulturen - die russische und die deutsche - , die Berührungspunkte haben und die sich gegenseitig im Laufe dieses Jahrhunderts stark beeinflußten, miteinander in Verbindung gebracht. Im Zentrum steht die Rezeptionsgeschichte des russischen Dramas in Deutschland. Erste grundlegende Ergebnisse brachte eine quantitative Analyse, d.h. die Beschäftigung mit den deutschen Spielplänen des 20. Jahrhunderts: In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und in der Zeit der Weimarer Republik war der Anteil der russischen Dramen im Repertoire der deutschen Bühne im Vergleich zu den anderen nichtdeutschsprachigen europäischen Theaterstücken gering. Den Kern des russischen Repertoires bildeten Werke von Klassikern aus dem 19. Jahrhundert, wie Puskin,1 Gogol', Ostrovskij, Dostoevskij, Turgenev, Cechov, und des zeitgenössischen Dramatikers Gor'kij. Keiner dieser Autoren zeigte sich aber in den ersten drei Jahrzehnten als Repertoirerenner.2 Die Werke der erwähnten Dramatiker tauchten zwar von Zeit zu Zeit im Spielplan auf, verschwanden dann aber wieder, manchmal sogar fur einige Jahre. Außerdem ließen sich seit 1914 einzelne Versuche mit den Dramen des im vorrevolutionären Rußland populären symbolistischen Dramatikers Leonid Andreev nachweisen,3 und seit Ende der 20er Jahre mit einigen Werken der zeitgenös1

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In der vorliegenden Arbeit werden die in der Slavistik gebräuchlichen Schreibweisen für russische Eigennamen und Originaltitel zitierter Werke verwendet, Zitate behalten aber die in den Quellen benutzte Schreibweise bei. Am häufigsten wurden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Stücke von Gor'kij auf die deutsche Bühne gebracht. Allein in Berlin wurden im Zeitraum zwischen 1902, dem Jahr der ersten Gor'kij-Premiere und 1926, dem Jahr der letzten Auseinandersetzung mit Gor'kij vor dem Krieg, insgesamt 5 Stücke des Schriftstellers auf der Bühne umgesetzt, darunter: Kleinbürger (1902 am Lessing-Theater und 1922 am Centrai-Theater), Nachtasyl (1903 am Lessing-Theater, 1916 und 1926 an der Volksbühne am Bülowplatz), Kinder der Sonne (1906 am Kleinen Theater), Feinde (1906 am Kleinen Theater, 1912 an der Freien Volksbühne und 1920 am Proletarischen Theater), Die Letzten (1910 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters). Vgl. die Chronik der Berliner Gor'kij-Inszenierungen bei Ilse Stauche: Maxim Gorki. Drama und Theater, Berlin 1968, S. 393-396. Andreev gehörte zu den Favoriten des russischen vorrevolutionären Spielplans. Unter den Häusern, die Andreev am meisten inszenierten, waren das Moskauer Künstlertheater, das Moskauer Nezlobin-Theater und das Petersburger Komissarzevskaja-Theater. Die bedeutendsten Auseinandersetzungen mit seinen Stücken sind zwei Inszenierungen von Das Leben des Menschen - 1907 am Komissarzevskaja-Theater St. Petersburg unter der Regie Mejerhol'ds und am Moskauer Künstlertheater unter der Regie Stanislavskijs - , die Inszenierung von Anathema am Künstlertheater unter der Regie Nemirovic-Danienkos 1909, von Katerina lvanovna am Künstlertheater 1912, von Der Gedanke auf derselben Bühne zwei Jahre später, und von Die Schwarzen Masken am Komissarzevskaja-Theater

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sischen Dichter Valentin Kataev,4 Sergej Tret'jakov und Nikolaj Erdman. Vergleicht man damit die Rezeptionsgeschichte der erwähnten Autoren in Rußland - mit Ausnahme von Tret'jakov und Erdman - , 5 so wird deutlich, daß die Etablierung ihrer Werke in den deutschen Spielplänen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in erster Linie durch ihren Erfolg auf der russischen Bühne, vor allem am Moskauer Künstlertheater, gefördert wurde. Die regelmäßigen Berichte der deutschen Korrespondenten über das Theaterleben in Rußland und auch zwei Gastspiele des Künstlertheaters in Deutschland 1906 und 1921/1922 inspirierten die deutschen Regisseure zur Auseinandersetzung mit den russischen Autoren, und trugen dazu bei, daß das russische Drama Schritt für Schritt zu einem integrierten Bestandteil des deutschen Spielplans wurde. Dies zeigt sich deutlich am Ende der Weimarer Republik. Der Spielplan der deutschen Bühne zwischen 1929 und 1933 bot, laut der von Thomas Eicher zusammengestellten Statistik, 53 Inszenierungen russischer Dramatiker des 19. Jahrhunderts, was etwa 0,5% des Gesamtspielplans ausmachte. 6 Nach 1933 verschwanden infolge der antisowjetischen Einstellung des NS-Regimes alle Werke russischer Dramatiker, mit Ausnahme einiger Komödien Gogol's, vom Spielplan, wurden aber nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im August 1939 wieder aufgenommen und blieben bis zum Anfang des Krieges mit der Sowjetunion im Juni 1941 im Repertoire.7 Von 1945 an, seit der Teilung Deutschlands, sind die Spielpläne in West und Ost getrennt zu diskutieren. Das Theater der Bundesrepublik zeigte nach dem Krieg überwiegend Interesse für das russische Drama des 19. Jahrhunderts. Bei der Auseinandersetzung mit den Klassikern behielt man, wie die Pressestimmen belegen, deren Erfolg bei Stanislavskij im Auge. 8 Im Zeitraum 1947-1975 wurden häufig

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St. Petersburg und Nezlobin-Theater Moskau, beide 1909. Vgl. Teatral'naja enciklopedija, Bd. I, Moskva 1961, S. 203. Die Quadratur des Kreises, das Lustspiel von Kataev, wurde schon 1928, im Jahr seiner Entstehung, auf die Bühne des Moskauer Künstlertheaters gebracht. Von den 30er bis in die 50er Jahre gehörte Kataev zu den im sowjetischen Theater häufig inszenierten Dramatikern und problemlos gedruckten Romanciers. Das Interesse für Sergej Tret'jakov erklärt sich einerseits durch seine Freundschaft mit Bertolt Brecht, der für die deutsche Bühne Tret'jakovs Komödie Ich will ein Kind haben aufbereitete, die 1930 am Deutschen Künstlertheater Berlin aufgeführt wurde, andererseits auch durch den großen Erfolg seines Dramas Brülle, China am Moskauer Mejerhol'd-Theater 1926, denn drei Jahre später wurde das Drama zur deutschsprachigen Erstaufführung am Schauspielhaus Frankfurt gebracht, und ein Jahr danach hatte es die Premiere am Stadttheater Mainz. Ebenso kam Das Mandat, eine Komödie von Nikolaj Erdman, 1927 auf die Bühne des Berliner Renaissance-Theaters als ein weiteres Erfolgsstück aus dem Repertoire des Moskauer Mejerhol'd-Theaters. Thomas Eicher: Spielplanstrukturen 1929-1944, in: Henning Rischbieter (Hg.): Theater im "Dritten Reich". Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, Seelze-Velber 2000, Teil Π, S. 279-488, hier S. 365. Ebd. So schreibt z.B. Henning Rischbieter über das Stück Raskolnikoff, eine neue Dramatisierung von Dostoevskijs Roman Schuld und Sühne, die bei den Berliner Festwochen am 20. September 1960 am Berliner Schloßparktheater ihre Premiere erlebte: "Stanislavskij, der Tschechovs Dramen durchsetzte, an ihnen seine Theatertheorie und Schauspiellehre entwickelte, hat, soweit ich sehe, als erster Dostojewskijs Romane auf die Bühne gebracht. Stanislawskijs zweite Arbeit als Regisseur war eine Dramatisierung von Dostojewskijs Novelle 'Das Dorf Stepantschikowo und seine Bewohner'. Seine Bühne, das Moskauer Künstlertheater, spielte die 'Brüder Karamasoff und später eine 'Dämonen'-

Stücke von Gogol' (seit 1947), Ostrovskij (seit 1950), Leo Tolstoj (seit den 50er Jahren) und Cechov, der seit 1958 zu einem der bedeutendsten Dramatiker im deutschen Spielplan avancierte, auf die Bühne gebracht.' In den 50er/60er Jahren läßt sich eine Tendenz zur Wiederentdeckung sowohl deutschsprachiger als auch fremdsprachiger Autoren der 20er/30er Jahre konstatieren. 10 Trotzdem blieb das russische Drama der 20er/30er Jahre - mit Ausnahme häufiger Inszenierungen von Gor'kij ab 1970, sowie von einigen Stücken Isaak Babel's und Vladimir Majakovskijs - praktisch unbekannt. Die Entwicklungslinie des Theaters in der sowjetisch besetzten Zone wurde, wie Petra Stuber in ihrer Studie zum DDR-Theater bemerkt, schon im September 1944 von den in der Moskauer Emigration lebenden Künstlern, Kulturschaffenden und Politikern bestimmt" und nach dem Ende des Krieges durch die sowjetische Besatzungspolitik kontrolliert. Zum Vorbild des neuen ostdeutschen Theaters wurde das sowjetische Theater, "seine Organisation, seine Geschichte und vor allem die Schauspielmethode Konstantin Sergeewitsch Stanislavskijs." 12 Am Beispiel der Berliner Bühnen im ersten Nachkriegsjahr kann man den Kreis der russischen Autoren, deren Werke den Spielplan gestalten sollten, eingrenzen. Das ist einmal Cechov, dessen Onkel Vanja das 'Deutsche Theater' - die ehemalige ReinhardtBühne - bereits im Dezember 1945 zeigte, dann der zum sowjetischen Klassiker gewordene Gor'kij mit dem Nachtasyl13 an der Volksbühne, der Symbolist Leonid Andreev mit dem Stück Der, der die Ohrfeigen kriegt an der Tribüne, sowie der moderne sowjetische Autor Leonid Rachmanov mit Stürmischer Lebensabend14 am Deutschen Theater. 15 1947 erlebten weitere zur Auffuhrung verordnete Stücke moderner sowjetischer Autoren ihre Berliner Premieren: Die Russische Frage von Konstantin Simonov 16 und Der Schatten von Evgenij Svarc.17 Die Repertoirepolitik

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Bearbeitung unter dem Titel TSTikolai Stawrogin', beide inszeniert von Nemiriwitsch-Dantschenko." In: Theater Heute 2, 10/1960, S. 3. Was spielten die Theater? Bilanz der Spielpläne in der Bundesrepublik Deutschland 1947-1975, hg. von Deutscher Bühnenverein, Köln 1978, S. 43. Das Magazin "Was spielten die Theater?" verweist auf den großen Erfolg von Kaiser (Höhepunkt 1958), Molnar (ab 1945 bis in die 70er Jahre), Hasenclever (Höhepunkt zwischen 1954 und 1960) und Bruckner (Schwerpunkt der Auseinandersetzungen liegt bis 1958). Wiederentdeckt wurden auch Stücke von Ernst Toller, Julius Hay, Carl Zuckmayer u.a. Aus den 30er Jahren kamen auf die Bühne Stücke von Canetti, Werfel, Horvath u.a. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung scheint auch das Interesse der deutschen Bühne für den als Vorläufer Ionescos geltenden polnischen Dramatiker Stanislav Ignacy Witkiewicz ab 1966 bemerkenswert (Was spielten die Theater? Bilanz, S. 46-50). Petra Stuber: Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, Berlin 1998, S. 12. Ebd., S. 13. 1946 kam Gor'kij an drei ostdeutschen Theatern zur Premiere. 1948 erschienen seine Stücke im Spielplan von 10 Bühnen (Stauche, Maxim Gorki, S. 439-443). Das zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution 1937 geschriebene Stück diskutiert die Rolle der Intellektuellen in der Politik: es handelt von einem renommierten russischen Professor, der nach der Oktoberrevolution auf die Seite der Bolschewiken übergeht (Walther Karsch: Was war - was blieb. Theaterspielzeit 1945-1946 in der Kritik, Berlin 1947, S. 34-36). Zum Berliner Spielplan 1945/46 vgl. Karsch, Was war - was blieb, S. 101-106. Die Russische Frage, das 1946 in Moskau uraufgefuhrte und kurz vor der Berliner Premiere 1947 mit dem Staatspreis gekrönte Theaterstück, polemisiert gegen die antisowjeti3

der russischen Besatzungsmacht bezüglich des russischen Dramas scheint also gut kalkuliert gewesen zu sein und ist leicht nachvollziehbar: Von den erwähnten russischen Autoren waren Cechov, Gor'kij und Andreev 18 die erfolgreichen Dramatiker des Künstlertheaters, deren Stücke geeignet für die Weiterfuhrung der Traditionen dieses Theaters erschienen, Rachmanov und Simonov präsentierten im Spielplan die politisch-erzieherische Linie, das Märchen von Svarc hatte ebenso einen didaktischen Gestus." Die Spielpläne der DDR-Bühne sind in den 50er-70er Jahren hinsichtlich der Ideologisierung, die zum entscheidenden Faktor bei der Bildung des Repertoires wurde, mit den Spielplänen des sowjetischen Theaters zu vergleichen. Jedes Ereignis, ob es der 'Prager Frühling' 1968 oder der 100. Geburtstag von Lenin 1970 war, fand seinen Reflex auf der Bühne in den Inszenierungen moderner sowjetischer Stücke mit Revolutionsthematik oder von Stücken zu demselben Thema aus den 20er/30er Jahren. Der Prager Aufstand 1968 wurde z.B. im folgenden Jahr mit Bolschewiken, dem Dokumentarspiel des modernen sowjetischen Dramatikers Michail Satrov über die Machtkämpfe im Kreml nach dem Attentat auf Lenin im August 1918, zur Diskussion gebracht. Die Premiere des Stückes fand im September 1969 am Berliner Maxim-Gorki-Theater statt.20 Das Lenin-Jahr 1970 feierte man mit Einstudierungen von russisch-sowjetischen Theaterstücken aus den 30er Jahren, die dem Anlaß entsprechend von der Revolution handelten:21 Avantgarde von Valentin Kataev, Optimistische Tragödie von Vsevolod ViSnevskij und Maria von· Isaak Babel'. Des weiteren verzeichnen die ostdeutschen Spielpläne aus dem Jahr 1970 Inszenierungen von Ostrovskij, Gor'kij und Evgenij Svarc.22 Der Spielplan der deutschen Bühne der Nachkriegszeit sowohl im Westen als auch im Osten zeigte also jahrzehntelang stabile Vorlieben, was das russische Drä-

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sche Politik der USA und nimmt die Atmosphäre des Kalten Krieges vorweg (vgl. dazu Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 35). Stauche, Maxim Gorki, S. 37. Dabei fallt ins Auge, daß von den Dramen des Symbolisten Andreev nur Der, der die Ohrfeigen kriegt, eines seiner letzten, in realistischer Manier geschriebenen Stücke aufgeführt wurde. Dafür spricht die Rezeptionsgeschichte seiner Märchen nach den Gebrüdern Grimm und Hans-Christian Andersen in der Sowjetunion unter Stalin und auch später. Obwohl Svarc in diesen Werken seine Gegenwart thematisierte und Kritik am Stalinismus übte, wurden sie erfolgreich im Kontext der aktuellen politischen Situation gelesen. Der Schatten z.B. rezipierte man als Enthüllung der faschistischen Doktrin. Theater heute zitierte im Zusammenhang mit dieser Inszenierung Michail Satrov, der in einem Interview erklärte, "er wolle mit seinem in der Nacht des 30. August 1918, nach dem Attentat auf Lenin spielenden Stück, gegen alle Versuche ankämpfen, die darauf gerichtet sind, den Marxismus zu entstellen und die Lehre Lenins zu mißbrauchen." In: Rolf Michaelis: Wie revolutionär ist das Theater der DDR?, in: Theater heute 12/1970, S. 36.

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Im Unterschied zum ostdeutschen Theater, das sich mit Svarc sofort nach dem Krieg auseinandersetzte, wurden seine Märchen im Theater der Bundesrepublik erst in den früheren 80er Jahren entdeckt. Anfang der 90er, als die Statistik das wiedervereinigte Deutschland erfaßt, findet sich Svarc unter den meistgespielten Autoren. So z.B. steht Svarc in der Spielzeit 1990/1991 nach der Zahl der Inszenierungen an Position 24, während Öechov die Position 22 einnimmt. Ein Blick auf die Theater, die Svarc rezipierten, zeigt, daß seine Stücke nach wie vor überwiegend an Ex-DDR-Theatern aufgeführt werden. Vgl. Teatral'naja enciklopedija, Bd. 5, Moskva 1967, S. 834.

ma betrifft. Die Bühne der BRD beschäftigte sich weiter mit der Rezeption der russischen Klassiker, vor allem Cechovs. 23 Die DDR-Bühne war von der sowjetischen Repertoirepolitik abhängig - nur die in der Sowjetunion zur Auffuhrung genehmigten russischen und sowjetischen Werke konnten hier auf die Bühne kommen. So setzte sich die DDR-Bühne neben den russischen Klassikern auch mit ideologisch gefärbten Stücken sowohl moderner sowjetischer Autoren als auch Dramatiker aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auseinander. Vor diesem Hintergrund ist das Auftauchen neuer Namen im Repertoire sowohl im Westen als auch im Osten besonders augenfällig. Als eine der bemerkenswertesten Entdeckungen des Theaters der BRD der 70er Jahre ist die Erstaufführung von Der Selbstmörder, einer Komödie von Nikolaj Erdman, im März 1970 in Krefeld zu bezeichnen. 24 Die scharfe Kritik an der sowjetischen Gesellschaft, die Erdman im 1930 entstandenen Stück übte, und die dem Stück das Etikett "antisowjetisch" einbrachte, was zur Absetzung seiner Proben im Mejerhol'd-Theater führte und schließlich zur Verhaftung und Verbannung des Dramatikers für drei Jahre nach Sibirien, sicherte 40 Jahre später den Erfolg des Stückes in Deutschland. 25

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Für die Jahrzehnte 1970 bis 1990 wurde stichprobenartig jede fünfte Spielzeit aufgezählt, fur das letzte Jahrzehnt wurden alle Jahrgänge erfaßt. Daraus ergibt sich, daß sowohl in den 80er als auch in den 90er Jahren Cechov zu meistgespielten Autoren des deutschsprachigen Raums gehörte. In den 80ern fiel der Höhepunkt des Interesses für seine Werke auf die Spielzeiten 1983/84, mit 9 Stücken auf 33 Bühnen erreichte er Platz 6 laut Werkstatistik des Deutschen Theaters, und 1984/85 kam er mit 35 Inszenierungen von 13 Stücken auf Platz 7. Noch zweimal gelangte Cechov in die oberen Ränge der Tabelle, auf Platz 6, nämlich in der Spielzeit 1989/90 mit 12 Werken auf 33 Bühnen, und 1994/95 mit 14 Stücken auf 56 Bühnen; die nächste Spielzeit brachte ihm Platz 8 ein. Gor'kij erscheint unter den meistgespielten Autoren der deutschsprachigen Bühne in den 80er und 90er Jahren dreimal, in der Spielzeit 1983/84 wurde er mit 5 Werken auf 11 Bühnen auf Platz 43 eingeordnet, 1986/87 auf Platz 44 mit 4 Stücken auf 11 Bühnen, 1993/94 auf Platz 5 mit 52 Inszenierungen von 11 Stücken, und mit 14 Inszenierungen von 6 Stücken in der Spielzeit 1992/93 nimmt er Platz 56 ein. Für Gogol' zeigte die deutsche Bühne dreimal erhöhtes Interesse. In der Spielzeit 1984/85 erscheint er auf dem 62. Platz, 1986/1987 auf Platz 42, 1991/1992 auf Platz 72. Außerdem schafft es die zeitgenössische russische Dramatikerin Ljudmila Razumovskaja mit Dorogaja Elena Sergeevna (Liebe Jelena Sergeewna), einem Theaterstück aus dem Leben modemer russischer Abiturienten, 1990/91 auf Platz 15, das Stück war auf 34 deutschen Buhnen zu sehen, in der nächsten Spielzeit war das Interesse der deutschen Bühne fur das Stück schon merklich schwächer (Platz 70), und in den nachfolgenden Spielzeiten wurde es immer seltener aufgeführt. Vgl. die einzelnen Jahrgänge von: Was spielten die Theater? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins, Köln 1981/82-1989/90; Wer spielt was? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins, Köln 1992ff. Seine deutschsprachige Erstaufführung und gleichzeitig die Uraufführung erlebte das Stück in Zürich im Februar 1970. Der Selbstmörder wurde zum Bestseller der Saison 1970/1971. 1971 wurde eine der am meisten in der Presse diskutierten Inszenierungen des Stückes - an den Münchner Kammerspielen (Regie August Everding) - ins Femsehen übernommen (vgl. Andrea Gotzes: Der Beitrag Nikolaj Erdmans zur russischen Komödie, Mainz 1994, S. 264-266). - Als Zeichen der großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im Osten kam Der Selbstmörder 1987 einige Monate nach der sowjetischen Premiere in Moskau zu seiner DDR-Erstaufführung im Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt. Das Stück erwies sich noch einmal als aktuell in der Spielzeit 1990/91 - es wurde auf 4 Bühnen gegeben. In den zwei folgenden Spielzeiten war Der Selbstmörder nur in einer Inszenierung zu sehen, 5

Ein bedeutender russischer Autor aus den 20er/30er Jahren, der in der Sowjetunion ebenso jahrzehntelang verfemt worden war, wurde ab 1972 auf den deutschen Bühnen rezipiert: Am Stadttheater Würzburg kam Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen zur Erstaufführung, ein Stück des in Deutschland seit Ende der 60er Jahre, seit der postumen Übersetzung und Veröffentlichung seines Romans Meister und Margarita, bekannten Schriftstellers Michail Bulgakov. 1973 erlebte Moliire... auch seine DDR-Premiere auf der Bühne des Wittenbergischen ElbeElster-Theaters.26 Eine weitere Auseinandersetzung mit Bulgakov fand 1986 statt, als das Leipziger Schauspiel die Dramatisierung von Bulgakovs Roman Meister und Margarita herausbrachte, - und im nachfolgenden Jahrzehnt kamen fünf weitere bedeutende Texte des Schriftstellers auf die Bühne.27 1983 erschien ein in der Sowjetunion ebenfalls tabuisierter Name im WestBerliner Spielplan: Das Künstlerhaus Bethanien brachte in Koproduktion mit den Berliner Festwochen Elizaveta Bam von Daniii Charms, einem Mitglied der in Leningrad Ende der 20er Jahre entstandenen avantgardistischen Gruppe "OBERIU", zur Aufführung. 1988 kam eine Collage von Erzählungen und Szenen Charms' auf die Bühne des Zan Polio Theaters in West-Berlin, und seit Anfang der 90er Jahre verging keine Spielzeit, in der nicht Charms gezeigt wurde.28 In der Berliner Theaterlandschaft tauchte 1990 ein anderer fur unseres Thema wichtiger Name auf: an der Schaubühne am Lehniner Platz gelangte das Versdrama Phoenix von Marina Cvetaeva, deren poetisches Werk in der Sowjetunion fast ein halbes Jahrhundert lang geächtet wurde, zur deutschsprachigen Erstaufführung. 1992 entdeckte das deutsche Theater Weihnachten bei Ivanovs von Aleksandr Vvedenskij, der mit Charms eng befreundet war und mit diesem zu den Gründungsmitgliedern der OBERIU zählte. Es wurde in Hamburg uraufgeführt und erlebte in den nachfolgenden Jahren noch drei Inszenierungen auf verschiedenen Bühnen Deutschlands.

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1994/95 in zwei und 1995/96 in einer weiteren. Vgl. Was spielten die Theater? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins. Die DDR-Premiere des Stückes kam der sowjetischen Premiere sogar ein Jahr zuvor. Die Aufnahme in den Spielplan des DDR-Theaters erklärt sich aus der Aufhebung des Tabus um dieses Stück in der Sowjetunion. Die sowjetische Aufführung fand nach 38jähriger Pause - die Uraufführung des Stückes war 1936 am Moskauer Künstlertheater - 1974 am Leningrader Bol'äoj Dramatischen Theater statt. 1 9 8 8 zeigte das Berliner Deutsche Theater unter dem Titel Paris, Paris die Inszenierung von Bulgakovs Komödie Sojkas Wohnung, im nächsten Jahr wurde an der Berliner Volksbühne Hundeherz, die Dramatisierung einer in der Sowjetunion bis 1987 verbotenen Erzählung Bulgakovs, aufgeführt, der zwei weitere Inszenierungen in Nürnberg (1990) und Hamburg (1991) folgten. Im April 1990 fand die DDR-Erstaufführung von Bulgakovs Stück Adam und Eva im Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt statt, ein Monat später die bundesrepublikanische Erstaufführung am Dortmunder Schauspielhaus. 1992 inszenierten die Magdeburger Freien Kammerspiele Don Quijote, Bulgakovs Dramatisierung des berühmten Romans von Servantes, 1995 kam Bulgakovs Ivan Vasil'evic zur Premiere im Berliner Maxim-Gorki Theater. Das Interesse für Charms kulminiert in der Spielzeit 1994/95 - seine Texte sind in 6 Inszenierungen zu sehen, die insgesamt 93 Aufführungen erlebten - und 1995/96: 6 Bühnen zeigen insgesamt 82 Aufführungen. In der Spielzeit 1997/98 ist Charms auf 5 Bühnen insgesamt 50mal gezeigt worden, und in der nächsten Spielzeit auf 4 Bühnen 28mal.

Aus der hier dargestellten Übersicht über deutsche Spielpläne kann man schließen, daß sich mit den Versuchen, Werke der in der Sowjetunion verfemten Autoren auf der Bühne umzusetzen, schon am Anfang der 70er Jahre eine neue Tendenz im deutschen Theater abzeichnet. Diese Tendenz ist von besonderer Bedeutung, weil im gesamten Kontext der Rezeption des russischen Dramas im deutschen Theater des 20. Jahrhunderts, der oben skizziert wurde, eine neue Durchsetzungsstrategie deutlich wird. Im Unterschied zum Drama des 19. Jahrhunderts, zu den Werken von Goridj, oder zu Stücken der anderen hier erwähnten Autoren, deren Etablierung auf der deutschen Bühne vor allem durch deren Erfolg im russischen Theater selbst inspiriert war, handelt es sich im Falle der vom Sowjetstaat nicht kanonisierten Werke um praktisch noch nie aufgeführte Texte, d.h. um eine reine Entdeckungsleistung des Theaters. Diesen Entdeckungen geht die Untersuchung im folgenden nach. Für eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Zweig der Theaterrezeption der in d a Sowjetunion tabuisierten Texte sprechen verschiedene Gesichtspunkte: Zum einen sind die Stücke an sich wegen ihrer politisch-kulturellen Aussage beachtenswert. Zum zweiten wurden ihnen spektakuläre Produktionen an deutschen Bühnen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewidmet, die die moderne Theaterlandschaft merklich prägten. Schließlich sind die Inszenierungstexte, d.h. die Inszenierungen in ihrer Gesamtheit, bis jetzt kaum diskutiert worden, obwohl eine intensive Beschäftigung der westlichen Literaturwissenschaft mit den zugrunde liegenden russischen Stücken seit mehr als zwanzig Jahren erfolgt, und dabei unter anderem die Frage nach der Bühnenwirksamkeit dieser Texte aufgeworfen worden war. Da im Schwerpunkt der deutschen theaterwissenschaftlichen Forschung, wenn es um die Theaterrezeption der russischen Dramatik ging, bis heute hauptsächlich die Namen von Cechov und Gor'kij standen, versteht sich die vorliegende Arbeit als ein neuer Beitrag zu der Rezeptionsgeschichte des russischen Dramas auf der deutschen Bühne. Aufgrund der Ergebnisse, die ein Überblick über die deutsche Bühnenstatistik29 und die danach folgende Sichtung der vorhandenen Auffuhrungsmaterialien brachten, wurde die Untersuchung auf vier Autoren eingegrenzt: Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniii Charms.30 Gegenstand der Arbeit sind Analysen von ausgewählten Inszenierungen ihrer Texte. Zeitlich umfaßt die Untersuchung die Jahre 1988 bis 2000 - d.h. kurz vor und nach der 'Wende' - , in denen die bedeutendste Auseinandersetzungen deutscher Theatermacher mit diesen Autoren stattfanden. Die Auswahl der Inszenierungstexte für diese Analyse erfolgte nach zwei Kriterien: die bemerkenswerten Besprechungen der Inszenierungen in der Presse und das Vorhandensein ausreichender Materialien - Videoaufzeichnungen, Photos, Regiebücher, Programmhefte, Rezensionen - für die Rekonstruktion des Regiekonzeptes.

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Für die vorliegende Arbeit wurde eine ausfuhrliche Statistik der Inszenierungen russischer Autoren auf der deutschen Bühne im Zeitraum 1989-1999 erstellt, die in der Bibliothek des Instituts für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München eingesehen werden kann. Nikolaj Erdman, mit dessen Stück Der Selbstmörder sich das deutsche Theater seit Anfang der 70er Jahre auseinandersetzt, wird hier nicht berücksichtigt, weil die Frage der deutschen Erdman-Theaterrezeption ausfuhrlich in der Dissertation von Andrea Gotzes "Der Beitrag Nikolaj Erdmans zur russischen Komödie" (vgl. Kap.l, Anm. 25) behandelt wurde.

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Der erste Teil der Arbeit ist dem russischen neo-romantischen Theater der frühen 20er Jahre, präsentiert durch Marina Cvetaeva, gewidmet. Im Mittelpunkt steht die Analyse der bis heute einzigen Theaterrezeption Cvetaevas - Klaus Michael Grübers Inszenierung ihres Dramas Phoenix an der Berliner Schaubühne. Da Phoenix ein Versdrama ist, gilt die besondere Aufmerksamkeit den Klangqualitäten der Sprache der Dichterin und der Übertragung dieser Qualitäten auf die Bühne, sowie dem Problem der Übersetzung der poetischen Sprache in eine Fremdsprache. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der deutschen Theaterrezeption der satirischen Werke von Michail Bulgakov. Für die Untersuchung wurden fünf Inszenierungen von drei bedeutenden Texten Bulgakovs ausgewählt, die insgesamt ein eindrucksvolles Bild der Bulgakov-Rezeption in Deutschland ergeben: Das sind Paris, Paris nach Bulgakovs Stück Sojkas Wohnung in der Regie von Frank Castorf am Berliner Deutschen Theater, Hundeherz nach der gleichnamigen Erzählung am Nürnberger Gostner Hoftheater durch Heinz Drewniok und am Hamburger ErnstDeutsch-Theater durch den russischen Gastregisseur Valerij Griäko, sowie Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen am Münchner Residenztheater unter der Regie von Irmgard Lange und am Schauspielhaus Neubrandenburg unter der Regie von Horst Hawemann. Der dritte Teil dieser Arbeit widmet sich dem russischen prä-absurden Theater der 20er Jahre, dem Theater OBERJU, vertreten durch die zwei Autoren Daniii Charms und Aleksandr Vvedenskij. Hier werden drei Inszenierungen von Weihnachten bei Ivanovs von Vvedenskij diskutiert, sowie drei Inszenierungen von Szenen und Erzählungen Daniii Charms' und eine Interpretation seines Stückes Elizaveta Bam. Das Schlußkapitel bietet einen Blick auf die Inszenierungsstatistik der erwähnten Autoren in den Ländern Westeuropas. Da, wie bereits erwähnt, alle Texte, von denen in dieser Arbeit die Rede ist, schon unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht wurden, sollen die Textvorlagen nur so weit diskutiert werden, wie es zur Analyse des Inszenierungstextes erforderlich ist.31 Das Problem der Übersetzung wird nur in dem Teil der Arbeit, der dem Phoenix von Cvetaeva gewidmet ist, berührt, weil es sich hier um einen Verstext handelt, bei dessen Übertragung in eine andere Sprache einige Klangqualitäten verlorengehen. Die jeweilige Forschungsliteratur, welche die zur Diskussion stehenden Werke beleuchtet, wird in den entsprechenden Teilen der Arbeit überblicksweise behandelt.

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Wenn die Textvorlage ein nichtdramatischer Text ist, wird in dem entsprechenden Kapitel auch auf die Dramatisierung eingegangen - auf die im Vergleich zum Original unternommenen Veränderungen.

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Zur Rezeption der russischen Neo-Romantik der 20er Jahre im deutschen Theater: Marina Cvetaeva

2.1. Zur Forschungslage Den Anfang der Cvetaeva-Renaissance machte die 1966 in den USA veröffentlichte Dissertation von Simon Karlinsky. 1 Er "faßte zusammen und interpretierte das, was bis zu diesem Zeitpunkt im Westen über Marina Zwetajewa bekannt war," 2 so Maria Razumovsky in ihrer Jahre später erschienenen Cvetaeva-Biographie. Bekannt war damals nicht besonders viel: fragmentarische und oft widersprüchliche Informationen über das Leben Cvetaevas im Berliner, Prager und Pariser Exil der 20er und 30er Jahre, die aus den schriftlich noch nicht fixierten Erinnerungen von in Europa und Amerika lebenden Freunden der Dichterin mühsam zusammengestellt werden mußten, einige in den 20er Jahren in Europa herausgegebene Sammelbände mit Cvetaevas Gedichten, Versdramen und autobiographischer Prosa sowie einzelne Publikationen in europäischen Zeitschriften und diverse Manuskripte in privaten Archiven. 3 In den auf die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung folgenden zwei Jahrzehnten ist Cvetaeva eine im Westen bestens erforschte russische Dichterin des 20. Jahrhunderts geworden. Ihr Leben und ihr Werk wurden zum Thema von mehreren Monographien, 4 Artikeln, 5 sowie internationalen Symposien und Konferenzen. 6 Mit den Jahren gab es immer weniger Lücken in der Biographie der

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Vgl. Simon Karlinsky: Marina Cvetaeva. Her Life and Art, Berkley, Los Angeles 1966. Maria Razumovsky: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1989, S. 316. Vgl. Karlinsky, Cvetaeva. Her Life and Art, S. 290. Maria Razumovsky: Marina Zwetajewa. Mythos und Wahrheit, Wien 1981; Dies.: Zwetajewa. Biographie; Simon Karlinsky: Marina Cvetaeva. The Woman, her World, and her Poetry, Cambridge 1985; Jane A. Taubman: A Life Through Poetry. Marina Tsvetaeva's Lyric Diary, Ohio 1989; Elaine Α. Feinstein: Captive Lion: The Life of Marina Tsvetaeva, London 1987; Viktorija Sveicer: Byt i bytie Mariny Cvetaevoj, Paris 1988; Michael Makin: Marina Tsvetaeva. Poetics of Appropriation, Oxford 1993; Lily Feiler: Marina Tsvetaeva. The double beat of heaven and hell, Durham u. London 1994; Claude Delay: Marina Tsvetaeva. Une ferveur tragique, Plön 1997; Veronique Lossky: Chants de femmes. Anna Akhmatova. Marina Tsvetaeva, Oxford 1993; Veronique Lossky: Marina Tsvetaeva. Un itineraire poetique, Paris 1987. In den 80er/90er Jahren erschienen einige Sonderbände in der Reihe Wiener Slawistischer Almanack, die den literarischen Nachlaß Cvetaevas analysieren. Siehe "Wiener Slawistischer Almanach": Marina Cvetaeva. Studien und Materialien, Sbd. 3, 1981; Der Rattenfanger, hg. von Marie-Luise Bott, Sbd. 7, 1982; Faryno, Jerzy: Mifologism i teologism Cvetaevoj, Sbd. 18, 1985; Svetlana El'nickaja: Poetiöeskij mir Cvetaevoj, Sbd. 30, 1990; Marina Cvetaeva. Stat'i i teksty, hg. von L. A. Mnuchin, Sbd. 32, 1992. Internationales Kolloquium im französischen Montgeron 1981; erstes internationales Symposium in Lausanne 1982 (Die Beiträge erschienen in der Reihe "Slavica Helvetica", Vol. 26, Berlin, Bern u.a. 1991); zweites internationales Symposium in Northfield, Ver9

Dichterin, die Forscher entdeckten neue Details sowohl in Cvetaevas Leben im Exil als auch nach ihrer Rückkehr 1939 in der Sowjetunion bis zu ihrem Selbstmord im Jahre 1941. 7 Die literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem dramatischen Werk von Cvetaeva, das sechs Versdramen, die sie selbst als "romantisch" bezeichnete, und zwei Tragödien in der Stilform des französischen Klassizismus umfaßt, 8 sind im Vergleich zu den Analysen ihrer Lyrik nicht sehr zahlreich und haben zum größten Teil nur peripheren Charakter. Der kurzen Periode im Leben Cvetaevas, als sie intensiv fur das Theater schrieb, widmen sich einzelne Kapitel der Monographien von S. Karlinsky, J. Taubman, M. Makin 9 und A. Saakjanc, 10 die eine Darlegung der Fabel sowie einen kurzen Überblick über die historischen Quellen, die Cvetaeva in ihren Stücken bearbeitet, anbieten. Des weiteren muß man die Artikel, die sich mit einzelnen Stücken der Dichterin beschäftigen, erwähnen: Das sind die exemplarischen Analysen der Tragödien Ariadna von Andrew Kahn" und Fedra von R. D. B. Thomson, 12 die sowohl die Struktur als auch die Motivik und Poetik beider Stücke behandeln. Das sind der Artikel von Peter Scotto über Phoenix,13 der die Quellen, auf denen die Fabel des Dramas basiert, diskutiert, der Artikel von Ηέΐέηε Henry zu den Dramen Das Abenteuer und Phoenix,14 der ebenso die Sujets und deren Quellen behandelt, der Artikel von R. D. B. Thomson über Modulating Meters in the Plays of Marina Cvetaeva,15 der linguistischen Charakter hat und eine ausführliche Analyse der Versmaße in allen acht Theaterstücken der Dichterin bietet, sowie der Kommentar von Rose Lafoy zu ihrer Übersetzung der Tragödie Ariadna

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mont 1991 (Die Vorträge wurden in einem Band in der Reihe "Norwich Symposia on Russian Literature and Culture" veröffentlicht: Vol.11: Marina Tsvetaeva. 1892-1992, Northfield, Vermont 1992); Internationales Symposium in Amherst, Massachusetts 1992 (Die Materialien des Symposiums erschienen in einem Band der Reihe "Modern Russian Literature and Culture", Vol. 32, Berkley 1994). Siehe Irma Kudrova: Gibel' Manny Cvetaevoj, Moskva 1995. Im Laufe eines Jahres (1918-1919) entstanden sechs Versdramen: Cervonnyj Valet (Der Karobube), Metel' (Der Schneesturm), Prikljucenie (Das Abenteuer), Fortuna (Die Fortuna), Kamennyj angel (Der Steinengel) und Feniks (Phoenix). Außerdem hat die Dichterin auch drei weitere Stücke - Dmitrij Samozvanec (Der Usurpator Dmitrif), Babuska (Die Großmutter) und Ucenik (Der Schüler) - begonnen, die unvollendet blieben und nach ihrem Tod verlorengingen. Während ihrer Prager Emigration griff Cvetaeva das dramatische Genre wieder auf, dieses Mal versuchte sie sich in der tragischen Gattung. Nach antiken Stoffen schrieb sie zwei Tragödien: Ariadna (1924) und Fedra (1927). Vgl. Kap. 2, Anm. 4. Anna Saakjanc: Marina Cvetaeva. Stranicy zizni i tvoriestva (1910-1922), Moskva 1986. Andrew Kahn: Chorus and Monoloque in Marina Tsvetaeva's 'Ariadna'. An Analysis of their Structure, Versification and Themes, in: Marina Tsvetaeva: One Hundred Jears, Papers from the Tsvetaeva Centenary Symposium, Modem Russian Literature and Culture Vol. 32, Oakland 1994, S. 162-193. R. D. B. Thomson: Tsvetaeva's Play 'Fedra': An Interpretation, in: The Slavonic and East European Review, Vol. LXVII (3/1989), S. 337-352. Peter Scotto: Toward a Reading of Tsvetaeva's Feniks, in: Marina Tsvetaeva: One Hundred Years, S. 194-201. Helene Henry: Tsvetaeva: Le cycle dramatique de Casanova, in: Marina Tsvetaeva. Un chant de vie, S. 347-356. R. D. B. Thomson: Modulating Meters in the Plays of Marina Cvetaeva, in: Russian Literature and Culture, Vol. XXV (4/1989), S. 525-549.

ins Französische,16 der die Interpretation des antiken Mythos in diesem Stück zur Sprache bringt. Die auffallige Vernachlässigung des dramatischen Werkes Cvetaevas durch die Forscher kann man mit der Kürze der Periode, in der sie sich intensiv mit dem Theater beschäftigt, erklären. Rnapp ein Jahr reichte für die Dichterin nicht aus, um im Drama richtig Fuß zu fassen. Ihre ersten dramatischen Versuche - Der Karobube, Der Schneesturm und Der Steinengel, drei Stücke mit erdichteter und abstrakter Fabel - waren noch unsichere Nachahmungen des symbolistischen Dramas.17 Danach folgten drei Versdramen, in denen sie historische Stoffe verarbeitete - Die Fortuna, das Drama über den Herzog Lauzun, einen französischen Politiker vom Ende des 18. Jahrhunderts, und zwei Dramen über Casanova, Das Abenteuer und Phoenix - die semantisch und strukturmäßig von bedeutenden Schritten der Dichterin in der Beherrschung der Sprache des Dramas zeugen. Dabei ist das letzte Drama, Phoenix, das stärkste und eindrucksvollste, ein Beweis dafür, daß Cvetaeva sich mit der Zeit zu einer eigenständigen Dramatikerin hatte entwickeln können. Sie gab aber ihre dramatischen Experimente auf, genauso plötzlich wie sie sie angefangen hatte. Die 'Liaison' der Dichterin mit dem Theater, inspiriert durch die Bekanntschaft mit den jungen Schauspielern des Dritten Studios des Moskauer Künstlertheaters, Sonecka Holliday und Aleksandr Zavadskij, die den Personen ihrer Dramen Konturen verliehen haben, war von Anfang an zwiespältig. Einerseits schrieb sie ein Drama nach dem anderen, in denen sie ihre Begeisterung für die erwähnten Schauspieler zum Ausdruck brachte, andererseits äußerte sie sich in ihren Tagebüchern bezüglich des Theaters sehr skeptisch und zog eine scharfe Grenze zwischen Schauspieler und Dichter. "Der Dichter ist ein Zurückgezogener, die Bühne ist fur ihn ein Schandpfahl. Seine Gedichte mit der Stimme (der allervollkommensten aller Leitungen!) darbringen, Psyche für den Erfolg benutzen?! [...] Anders - der Schauspieler. Der Schauspieler - das ist das Wiederholte. Ebensosehr wie der Dichter das etre, so ist der Schauspieler das paraitre. Der Schauspieler ist ein Vampir, der Schauspieler ist ein Plüsch, der Schauspieler ist ein Polyp. [...] Der Dichter ist in Gefangenschaft von Psyche, der Schauspieler will Psyche in Gefangenschaft nehmen." 18

Und als Rechtfertigung für diese wenig schmeichelhafte Tirade zitierte sie Heinrich Heine, der sich ebenso pessimistisch in bezug auf das Theater äußerte: "Das Theater ist nicht günstig für Poeten", schrieb er, "und Poeten sind nicht günstig für das Theater."19 16

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Rose Lafoy: Ariane. Tragedie de Marina Cvetaeva, traduite et commentee, ClermontFerrand 1981. Der Karobube zeigt in seinem Sujet und im Figurenbau den Einfluß des Dramas Balagancik von Blok. Vgl. dazu Saakjanc, Stranicy iizni, S. 169; Makin, Marina Tsvetaeva, S. 65. - Der Schneesturm läßt an Die Unbekannte von Blok zurückdenken. Vgl. dazu Karlinsky, Cvetaeva. The Woman, S. 89. - Im Steinengel erkennt man den Einfluß von Maeterlincks Das Wunder des St. Antonius, das Evgenij Vachtangov 1918 in seinem Studio aufgeführt hat. Die erfolgreiche Inszenierung beschäftigte die Gedanken Cvetaevas einige Zeit, vor allem wegen des Protagonisten Jurij Zavadskij, von dem sie laut ihren Tagebuchnotizen fasziniert war. Vgl. dazu Makin, Marina Tsvetaeva, S. 80. Marina Zwetajewa: Auf eigenen Wegen, Frankfurt/M. 1987, S. 154-155. Ebd.

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Das Mißtrauen der Dichterin dem Theater gegenüber ist in erster Linie mit der Musikalität ihrer Sprache, die zu interpretieren sie dem Schauspieler nicht zutraute, zu erklären. Da Cvetaeva in ihren Verstexten mit Worten musikalische Harmonie zu erreichen versuchte - "Mein Problem", schrieb sie, "besteht in der Unlösbarkeit der Aufgabe, z.B. mit Worten [...] den Seufzer 'a-a-a' wiederzugeben, [...] damit in den Ohren nur 'a-a-a' bleibt"20 - , beurteilte sie auch die akustische Darstellung ihrer Werke nach musikalischen Kriterien. Dabei schien ihr die Stimme des Schauspielers ein zu diesem Zweck nicht genügend sensibles Instrument zu sein. Der Konflikt, der sich aus der Skepsis der Dichterin hinsichtlich des Erfolges der schauspielerischen Interpretation ihrer Verse entwickelt, fällt ins Auge beim Vergleich der visuellen Ebene mit der Lautebene ihrer Dramen. Die visuelle Manifestation der Handlung spielt eine periphere Rolle, der Handlungsablauf tendiert zur Statik. Im Gegensatz dazu enthält die Lautebene der Stücke eine große Dynamik, die durch verschiedene Reimarten und Modulationen der Metren erreicht wird. Die Beschäftigung mit den Lautqualitäten von Cvetaevas Dramen wirft eine Frage auf, die in der Forschung noch nie diskutiert wurde, nämlich die Frage nach theatralischen Potentialen dieser Texte. Die bis heute einzige Inszenierung eines der Versdramen Cvetaevas in Deutschland - von Phoenix - in der Regie von Klaus Michael Grüber bietet dabei reichen Stoff für die theaterwissenschaftliche Analyse, in deren Schwerpunkt die Semantik und Klangpartitur des Inszenierungstextes im Vergleich zum Original stehen soll. Grübers Inszenierung stellt ein untersuchungswertes Phänomen auch deswegen dar, weil der Regisseur nicht mit dem Originaltext, sondern mit einer Übersetzung gearbeitet hat, in der einige wichtige Klangqualitäten des Originals verlorengegangen sind, d.h. daß in diesem Falle von der vollwertigen Übertragung der Lautebene des Originals nicht die Rede sein konnte. Dabei ist es Grüber gelungen, eine bemerkenswerte Klangpartitur des Textes herauszuarbeiten. Die Inszenierung von Grüber bestätigt also die dominante Rolle der Lautebene und entspricht damit gewissermaßen der Intention Cvetaevas, die Semantik des Geschehens akustisch zu vermitteln.

2.2. Phoenix als dramatischer Text Als unmittelbare Anregung zu Phoenix nennen fast alle literaturwissenschaftlichen Analysen den Freitod von Aleksej Stachovic, Schauspieler am Zweiten Studio des Moskauer Künstlertheaters und eines der Objekte von Cvetaevas Verehrung auf der Moskauer Bühne, am 11. März 1919. Das Versdrama Phoenix - im August 1919 vollendet - war die zweite Hinwendung der Dichterin zu Casanovas Biographie. Das erste Casanova-Drama Abenteuer entstand bereits im Frühjahr 1919 und handelte von einer der unzähligen Liebesaffaren Casanovas, der im ersten Bild des Stückes dreiundzwanzig und im Schlußbild sechsunddreißig Jahre alt ist. Phoenix ist dagegen dem Lebensabend des legendären Venezianers gewidmet, den er nach langem Umherirren durch die Welt, seinen Ruhm überlebend und verarmt in sei-

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Zit. nach Pietro Zveteremich: Ob otnosenii mezdu fonemoj i grafemoj ν poezii M. Cvetajevoj, in: Marina Tsvetaeva, Slavica Helvetica 26 (1991), S. 285 [Üs.: SL],

nem Altersexil, Schloß Dux in Böhmen, als Bibliothekar des Schloßherren Graf Waldstein verbrachte. In der Geschichte der Wandlung Casanovas vom begehrten Frauenhelden zum einsamen Gnadenbrotesser sah Cveteva eine Parallele zum Schicksal Stachovics: der Aristokrat und mondäne Gardist, der erst im reifen Alter erfolgreich zur Bühne gewechselt war, hatte durch die Revolution sein Vermögen verloren und im nachrevolutionären Leben keinen Platz für sich gefunden. So wurde Phoenix zu einer Art Abschied der Dichterin von dem alten adligen Schauspieler. Gleichzeitig zollte sie mit dem Drama auch, wie Peter Scotto in seinem Phoenix gewidmeten Artikel bemerkt,21 dem damals wiedereinsetzenden Interesse europäischer Intellektueller für Casanovas faszinierende Persönlichkeit Tribut. Fast zur selben Zeit, als die Dichterin Versdramen über Casanova schrieb, inspirierte dessen Person noch zwei weitere Autoren: 1918 verfaßte Guillaume Apollinaire die Komödie in drei Akten Casanova, comedie parodique, 1919 veröffentlichte Arthur Schnitzler das Lustspiel Die Schwester oder Casanova in Spa.22 Cvetaevas Stück fiel also, wie Peter Scotto bemerkt, in einen regelrechten europäischen 'Casanova-Boom', der ein Teil einer europäischen Casanova-Renaissance war, die bereits in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts mit einer Casanova-Hommage begonnen hatte, mit dem Buch Affirmations des britischen Sexologen Havelock Ellis, und im Jahre 1931 mit der Casanova-Huldigung in Stefan Zweigs Drei Dichters ihres Lebens: Casanova, Stendhal, Tolstoj endete. Die Entwicklung eines Casanova-Kultes zu dieser Zeit findet ihren Nährboden, so Scotto, in der 'sexuellen Anarchie' im Europa der Jahrhundertwende. "Resurgent feminism", schreibt Scotto, "newly minted Freudianism, homosexuality and lesbianism (now open or imperfectly repressed), the franker representation of eroticism, homoeroticism and autoeroticism in literature and the arts, the panic over syphilis, the provision of women with contraceptives that detached copulation from procreation - these and more combined to shatter then to bury the foundations of mid-nineteenth-century Victorian morality."23 Das Rußland der Jahrhundertwende steht dabei bezüglich der sexuellen Freizügigkeit dem Rest Europas nicht nach - und Casanova manifestiert sich hier ebenso als eine Kultfigur. Die Anziehungskraft von Phoenix als dramatischer Text besteht in erster Linie, so Anna Saakjanc, in seiner "doppelten Wahrheitstreue": 24 Cvetaeva bezieht sich auf die historischen Fakten, in die sie Ereignisse ihres eigenen Alltags projiziert, was die Handlung lebendig macht und Phoenix von ihren zwei anderen dramatischen Bearbeitungen historischer Quellen, Das Abenteuer und Die Fortuna,25 unterscheidet. Reizvoll ist auch Cvetaevas Art des Umgangs mit dem historischen Stoff. Das Geschehen des ersten und des zweiten Bildes basiert auf zwei dem Leben Casanovas in Dux gewidmeten Fragmenten aus den Memoiren des Fürsten de Ligne, des mit Casanova befreundeten Onkels des Schloßherren, sowie auf Äußerungen Casanovas bezüglich dieser Periode in seinen Lettres ecrites au sieur Faulkircher.26 21 22 23 24 25 26

Siehe Scotto, Tsvetaeva's Feniks, S. 194f. Ein Jahr früher verfaßte und veröffentlichte Schnitzler die Novelle Casanovas Heimfahrt. Es gibt kein Beweis dafür, daß Cvetaeva eines der erwähnten Werke kannte. Scotto, Tsvetaeva's Feniks, S. 196. Saakjanc, Stranicy zizni, S. 182 [Üs.: SL]. Vgl. dazu S. 11 dieser Arbeit. Makin, Marina Tsvetaeva, S. 91. 13

Dabei werden die Informationen, die diese Texte enthalten, praktisch unverändert in die erwähnten Bilder transponiert, was diesen eine naturalistische Grundstimmung verleiht. Die Fabel des dritten Bildes ist dagegen von der Dichterin erfunden worden. Sie ist romantisch aufgeladen und enthält eine stark ausgeprägte Symbolik. Auch die Struktur der zwei ersten Bilder und des dritten Bildes ist unterschiedlich. Das ganze erste Bild und ein Großteil des zweiten bestehen aus Dialogen mehrerer Nebenpersonen, deren Charaktere nur schwach skizziert oder gar nicht angedeutet sind. Das dritte Bild läßt sich, obwohl im Laufe seiner Handlung zwei Nebenpersonen kurz auftreten, als ein Zweipersonenstück bezeichnen, in dem die Charaktere plastisch und lebendig dargestellt sind.27 Einige Auswertungen von Phoenix, die den Text mit den seiner Fabel zugrunde liegenden Quellen vergleichen, bringen eine Reihe interessanter Schlüsse zur Diskussion, auf die hier kurz eingegangen werden soll. So z.B. interpretiert Simon Karlinsky die im zweiten Bild geschilderte Situation - die Demütigung Casanovas durch die adligen Gäste im Speisesaal des Schlosses - als eine Anlehnung an Griboedovs Komödie Verstand schafft Leiden (1823), deren Protagonist Cackij während eines Balls ebenso von der hohen Gesellschaft verhöhnt wird. Obwohl die beiden Konstellationen auf den ersten Blick ähnlich erscheinen - sowohl Cackij als auch Casanova werden als Parias behandelt - ist die These von Karlinsky in diesem Falle nicht überzeugend genug wegen der semantischen Differenz der Ausgangssituation in beiden Stücken. Cackij findet keinen Platz in seiner Umgebung wegen der revolutionären Weltanschauung, die seiner Zeit voraus ist, was Griboedov in den gesellschaftskritischen Monologen Cackijs zum Ausdruck bringt. Casanova paßt nicht zu seiner Umgebung, weil er zur Vergangenheit, zum ausgehenden galanten 18. Jahrhundert gehört. So blickt Griboedov in seiner Komödie in die Zukunft und sehnt sich nach Erneuerung und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Cvetaeva dagegen idealisiert eine längst vergangene Kulturepoche. Motiviert erscheint der Rezeptionsvorschlag von Helene Henry, die in der Szene des 'Abendmahles', des festlichen Abendessens in Phoenix Parallelen zu Die Feier während der Pest, einer der Kleinen Tragödien von Puskin, findet.28 Die Personen der Tragödie PuSkins feiern während einer Pestepidemie mit dem festlichen Essen und Tafelreden ihren Übergang ins Jenseits. Das 'Abendmahl' in Phoenix scheint ebenso als ein Abschied Casanovas vom Leben deklariert. Als 'Pest', die Casanova plötzlich heimsuchte, wird hier ironisch das Alter bezeichnet. "Bist plötzlich da. Wer rief dich, wer? Du selbst! / Nein, nicht von selbst kamst du; auch Zeus war's nicht, / der dich entsandte: Durst, Arrest und Pest! / Der großen Nemesis erzürntes Walten, des Teufels Ausgeburt bist du: ο Alter!"29 lauten die Zeilen des Sonettes,

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Der merkliche Kontrast zwischen den zwei ersten und dem dritten Bild des Stückes läßt die Forscher vermuten, daß Cvetaeva zuerst das dritte Bild, das Casanovas Ende heißt, als selbständiges Stück verfaßte und etwas später zu diesem Bild, in dem sie kleine Veränderungen unternahm, noch zwei Bilder dazu schrieb und das Ganze mit Phoenix betitelte. Vgl. dazu Karlinsky, Cvetaeva. Her Life and Art, S. 243; Makin, Marina Tsvetaeva, S. 82. Siehe Henry, Le cycle dramatique de Casanova, S. 352f. Der Text von Phoenix wird im folgenden zitiert in der Übersetzung von Ilma Rakusa nach der Ausgabe: Marina Zwetajewa, Phoenix, Frankfurt/M. 1990, S. 61.

das Casanova den Gästen rezitiert, und das an Tafelreden aus der Tragödie von Puäkin denken läßt. Helene Henry nennt einen weiteren vermutlichen Prototypen Casanovas - den Petersburger Dichter Michail Kuzmin.30 Dafür spricht eine frappante Ähnlichkeit des Äußeren Casanovas, wie es Cvetaeva in den Regieanweisungen zum Stück beschreibt, mit dem Portrait Kuzmins, das sie in ihrem diesem Dichter gewidmeten Essay Der Abend nicht von dieser Welt zeichnet: Ihr Casanova hat dieselben, wie zwei schwarze Sonnen glühenden Augen, dieselbe dunkle Hautfarbe. Simon Karlinsky versucht einige Sujetkonstellationen des Stückes an die Verhältnisse in Kreisen der russischen Literaten der 20er Jahre anzuknüpfen und konstatiert dabei eine Anspielung auf die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen literarischen Gruppen. So z.B. deutet Karlinsky den im zweiten Bild entbrannten Konflikt zwischen Casanova und Viederole, dem Hauspoeten des Grafen Waldstein, als "Cvetaeva's answer to the younger Futurists and the new Proletarian poets who in the early years of the Revolution clamored for the overthrow of Bal'mont, Blok, and Brjusov." 3 ' Sowohl die Semantik der Verse, die Viederole und Casanova vor den Gästen improvisieren - der erste liest ein Rondeau, der zweite ein Sonett - als auch die Deklamationsart der beiden - Viederole schneidet beim Lesen "die verschiedensten Grimassen",32 Casanova "liest mit großer Theatralik"33 - erinnern tatsächlich an die Polemik zwischen den 'literarischen Rowdies' und den 'Ästheten' - Futuristen und Symbolisten - , wie sie die Literatur wiedergibt. Alle Interpreten des Textes setzen sich also mit dem Problem der literarischen Quellen des Stückes auseinander und diskutieren den Prototypen der Hauptperson, dagegen werden die Einflüsse der Literatur der russischen Moderne auf die Semantik des Dramas nicht aufgegriffen, was jedoch sowohl für die Deutung des Textes als auch für die Analyse seiner szenischen Übersetzung geboten scheint. Obwohl Cvetaeva selbst in ihren Tagebuchnotizen und Essays ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder zu einer Strömung der zeitgenössischen russischen Literatur bestritt, wird in der Cvetaeva-Forschung oft von den symbolistischen Wurzeln ihrer Weltanschauung und vom hohen Grad ihrer Übereinstimmung mit der russischen symbolistischen Kultur gesprochen.34 Diese These kann man auch am Beispiel des Verstextes von Phoenix verifizieren, in dem sich einige zentrale Elemente des symbolistischen Motivsystems konstatieren lassen.35 Außerdem 30 31 32 33 34

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Henry, Le cycle dramatique de Casanova, S. 354f. Karlinsky, Cvetaeva. Her Life and Art, S. 246. Phoenix, S. 51. Ebd., S. 59. Vgl. dazu Zbigniew Maciejewski: Priem mifizacii personazej i ego funkcija ν avtobiografiöeskoj proze M. Cvetaevoj, in: Marina Tsvetaeva. Actes du 1er colloque international (Lausanne, 30.06.-03.07.1982), Slavica Helvetica, Vol. 26, 1991, S. 131-141; Omry Ronen: Casy uieniiestva Mariny Cvetaevoj, in: Marina Cvetaeva 1892-1992, Norwich Symposid on Russian Literature and Culture, Vol. Π, Nortfield 1992, S. 89-99; Oleg Kling: Poetiäeskij stil' M. Cvetaevoj i priemy simvolisma: pritjaienie i ottalkivanie, in: Voprosy literatury 3, 1992, S. 74-93; Irina Sevienko: Simvoliieskie archetipy ν cvetaevskom samosoznanii, in: Marina Tsvetaeva. Un chant de vie, S. 332-340. Es scheint, daß der Symbolismus, dessen Untergang 1910 mit dem ersten poetischen Auftritt Cvetaevas (Erscheinen des Abendalbums, eines Sammelbands ihrer frühen Gedichte) zusammenfiel, unter allen Strömungen der russischen Literatur der Moderne Cvetaevas Poetik und ihre Auffassung der Welt am meisten beeinflußt hatte. Dazu hat auch

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artikuliert Cvetaeva hier mehrere Topoi, Symbole und Mythen, die auch oft in der symbolistischen Lyrik erscheinen und die sie ganz im Sinne der Symbolisten interpretiert. Die Anlehnung an das symbolistische Gedankengut ist vor allem in der Rezeption des Phönix-Mythos sichtbar, die Cvetaeva im Drama anbietet. Die symbolistischen Dichter, in erster Linie Ivanov und Bal'mont, griffen in ihren Gedichten einige Male den archaischen Mythos von dem Zaubervogel auf, der, als er sein Ende spürt, sich im Feuer verbrennt und aus der Asche zu neuem Leben erhebt. Dabei verlegten sie den Phönix-Mythos in die geistig-seelische Sphäre und präsentierten den Feuer-Vogel als Symbol "der Wiedergeburt und der Auferstehung der GeistSeele aus der Asche irdischer Materialität".36 Cvetaeva gestaltet in den ersten zwei Bildern des Stückes einen Konflikt zwischen dem Irdisch-Materiellen und dem Geistigen, um diesen Konflikt im dritten Bild durch die Wiedergeburt und die Auferstehung des Geistes zu lösen. Eine strenge Aufteilung der Personen des Stückes in Repräsentanten der geistigen Welt - Casanova - und der materiellen Welt - Casanovas Umgebung - läßt sich schon im Raumkonzept vermuten. Wie schon erwähnt, spielt die Handlung des Stückes im böhmischen Schloß Dux: das erste Bild, das Das Gesinde heißt, in der Schloßküche, das zweite - Der Hochadel - im Speisesaal und das dritte - Casanovas Ende - in der Bibliothek. So haben die 2wei ersten Räume, in denen Casanovas 'Beleidiger' agieren, mit dem Essen, mit dem 'Ergötzen des Fleisches' und mit irdischer Materialität zu tun, die Bibliothek - der Bereich des Bibliothekars Casanova - symbolisiert das Leben des Geistes. Den archaischen Phönix-Mythos verbindet Cvetaeva mit einem weiteren Mythos, dem von Casanova als Symbolfigur des 18. Jahrhunderts. Die Dichterin läßt ihren Casanova im Unterschied zum historischen Casanova, der 1798 mit 73 Jahren stirbt, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, genauer bis zum letzten Schlag der Uhr, der den Beginn des neuen Jahrhunderts verkündet, leben. Er ist "ganz eine Formel des 18. Jahrhunderts,"37 betont sie in der Bühnenanweisung zum dritten Bild des Dramas, und artikuliert damit einen von ihr entwickelten Topos: "der Mensch des 18. Jahrhunderts", der sich im Kontext ihrer autobiographischen Prosa als Inbegriff der geistigen Schönheit und des Edelsinns deuten läßt.38 Das erste Bild des Stückes schildert das Verhältnis Casanovas zur Schloßdienerschaft. Er selbst tritt in diesem Bild nicht auf, er ist aber das Gesprächsthema des Schloßpersonals: Das Gesinde lästert über den alten Mann, seine abgetragene Kleidung und seinen zänkischen Charakter, der Hausdichter und der Haushofmeister spinnen gegen ihn Intrigen. Die Gegner Casanovas im zweiten Bild, dessen Handlung im Speisesaal des Schlosses während eines abendlichen Festmahles spielt, sind die adligen Gäste, die dem alten Mann deutlich ihre Abneigung zeigen.

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ihre Freundschaft mit dem Theoretiker des russischen Symbolismus, Lev Ellis, und mit dem symbolistischen Dichter Maksimilian Voloäin, der zu ihrem geistigen Mentor wurde, beigetragen. Aage A. Hansen-Löve: Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive; Bd. 2: Mythopoetischer Symbolismus, Wien 1998, S. 506. Phoenix, S. 85. Die Semantik dieses Topos hängt mit dem Kult um die galante Epoche in der russischen Literatur und in der bildenden Kunst um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zusammen.

An der großen Tafel findet sich für ihn kein Platz, und er muß sich mit einem separaten kleinen Tisch zufriedengeben. Die Damen lachen über sein altmodisches Kostüm und seine nicht mehr zeitgemäßen Manieren, der Hausdichter Viederole spottet über Casanovas nichtadlige Herkunft und beschimpft ihn mit "Köter" und "Narr", und schließlich verlassen alle Gäste den Raum während Casanovas Erzählung von seiner Kindheit und der Heilung durch die Zauberkraft einer Hexe, mit der das Bild endet. In dieser Situation, die uns die ersten zwei Bilder präsentieren, erkennt man auch die Anlehnung an den im Symbolismus gängigen Topos des dämonischen Dichter-Demiurgen, des Herrschers "über seine eigene Phantasiewelt",39 der die Welt als ein Gefängnis empfindet, aus dem ihn nur der Tod befreien kann. Das dichterische, künstlerische Wesen von Casanova wird hier verbal deklariert: "Ihr Tischnachbar / ist allem Anschein nach ja Dichter?"40 fragt eine der Damen den neben Casanova sitzenden Fürsten de Ligne, worauf Casanova antwortet: "So ist's, Durchlaucht. Und dieser Bund / wird durch die Jahre nicht zunichte. Die Muse hat als einzige / Geliebte keine Angst vorm Alter."41 Und in seinem großen Monolog zum Schluß des zweiten Bildes deutet Casanova seinen Pakt mit dem 'Bösen' an. Er erzählt, er sei in seiner Kindheit todkrank gewesen, seine Großmutter habe ihn aber gerettet, indem sie ihn mit einer Gondel nach Murano zu einer Hexe gebracht habe. Diese "spuckt dreimal in die Hände sich / und bläst mir dreimal in die Nase / - die Alte stinkt, so stinkt selbst der / Gehörnte nicht - entreißt den Armen / der Oma mich - und in die Truhe / kopfvoran!"[...]",42 so schildert Casanova das magische Ritual, das die Hexe mit folgenden Geleitworten beendet habe: "Jetzt gelten andere Gesetze: / er ist zum zweiten Mal getauft! / [...] Fest vereint / wie Rauch und Feuer, Hand und Finger, / wie Roß und Reiter, sind dein Blut / und dieses Bündel. Wieder wirst / du blühen, allen Liebe bringen. / Nur schlafe rücklings, rat ich dir. / Und wisse: eine Dame wird / dich einst besuchen durch den Schornstein."43 Auf das dämonische Wesen von Casanova im Sinne der Symbolisten verweist auch der Ausruf des Fürsten de Ligne: "Lebt wohl, Ihr Ahasver der Liebe!",44 mit dem er sich von Casanova im dritten Bild verabschiedet. Hier wird eines der von Symbolisten häufig verwendeten Stereotypen zitiert: Der dämonische Dichter tritt als 'ewiger Jude', 'Ahasver', 'Kain' auf, d.h. als deijenige, der "selbst nicht zu Ruhe findet",45 der weder leben noch sterben kann.

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Aage A. Hansen-Löve: Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive, Bd. I: Diabolischer Symbolismus, Wien 1989, S. 348. - Aage A. HansenLöve bietet in seinem Buch eine neue, sich von der traditionellen Gliederung des Symbolismus in zwei Phasen - "älterer" und "jüngerer" Symbolismus - unterscheidende Gliederung in drei Phasen. Die erste Phase bezeichnet er als "diabolischen Symbolismus", im Zeitraum zwischen 1890 und 1900, die zweite Phase des Symbolismus nennt HansenLöve "den mythopoetischen Symbolismus" und ordnet ihn zwischen 1900 und 1907 ein. Die dritte Phase wird als "grotesk-kamevalistischer Symbolismus" definiert, der im Jahre 1907 beginnt und "Ausläufer bis in die Zwanziger Jahre" hat (ebd., S. 16-24). Phoenix, S. 59. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd., S. 109. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. I, S. 350. 17

Im dritten Bild des Stückes - Casanovas Ende - läßt sich die enge Verbindung Cvetaevas zum symbolistischen Kosmos am deutlichsten spüren. Eine Zeile aus dem Gedicht des symbolistischen Dichters Innokentij Annenskij Unmöglich (Nevozmozno) - "Doch liebe ich eins nur: unmöglich",46 - die sie als Motto zu diesem Bild anführt, spielt auf die in der ersten Phase des Symbolismus deutlich in Erscheinung tretende "Negation aller positiven Qualitäten"47 an, bei der auch Glück, Leidenschaft, Kreativität in die Kategorie "Unmögliches" eingeordnet werden. Cvetaeva läßt das Unmögliche geschehen. Sie erschafft hier ihren eigenen Mythos von Casanova, einen Mythos, der mit den historischen Quellen nichts zu tun hat. Ihr Casanova darf nicht so ruhmlos sterben, wie es in Wirklichkeit der Fall war. Deswegen läßt die Dichterin in der Schloßbibliothek, wo Casanova sich in der letzten Silvesternacht des 18. Jahrhunderts auf die Abreise aus dem Schloß vorbereitet, das dreizehnjährige Mädchen Franziska erscheinen, das dem alten Mann eine Liebeserklärung macht. Dabei thematisiert Cvetaeva Motive, die von den Symbolisten häufig interpretiert worden sind: 'Erinnerungs'-Motiv und 'Leben-Traum'-Motiv.48 Casanovas langer Monolog am Beginn des Bildes setzt das Geschehen unter das Zeichen des Erinnerns: Casanova liest die alten Liebesbriefe und wirft sie ins Feuer. Sein Versenken in die Vergangenheit wird durch einen kurzen Auftritt des Fürsten de Ligne unterbrochen, der Casanova zum Silvesterabendessen einlädt. Casanova teilt dem Fürsten seine Abreisepläne mit, und nachdem sie sich verabschiedet haben, wendet er sich wieder den Briefen zu. Als er mit den letzten Erinnerungen an die Liebe geendet hat, nimmt er einen Band von Ariost vom Tisch, aus dem ein Brief herausflattert. Das ist der Brief seiner Geliebten Henriette, der einzigen Frau, die er, seinen Memoiren zufolge, sein ganzes Leben nicht vergessen konnte. Cvetaeva zitiert im Text des Briefes eine Passage aus Abenteuer, ihrem ersten Drama über Casanova, das der Begegnung des Venezianers mit Henriette gewidmet ist. Henriette hatte dem dreiundzwanzigjährigen Casanova prophezeit, daß er an seinem Lebensabend "in einem gottverlaßnen Schloß im Nirgendwo",49 wenn er einsam, lächerlich 46 47 48

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Phoenix, S. 85. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. I, S. 174. Da die russischen Symbolisten oft auf das romantische Motivspektrum zurückgreifen, z.B. mit dem 'Leben-Traum'-Motiv, und die Grenzen zwischen Romantik und Symbolismus oft verschwommen scheinen, entwickelt sich schon im ersten Jahrzent des 20. Jahrhunderts in der Literaturwissenschaft eine heftige Diskussion über das Verhältnis des Symbolismus zur Romantik, die von Hansen-Löve in seiner Symbolismus-Studie zusammengefaßt wurde. Einige Forscher wie S. A. Vengerov (1914-1916) behaupten, so Hansen-Löve, daß "die gesamte symbolistische Moderne unter dem Zeichen der 'NeoRomantik'" stehe. M. Pratz (1933) betrachtet "die Dekadenz des fin de siecle als eine der Entwicklungsformen der Romantik (bzw. als eine 'zweite Romantik')." Unter anderem stellt Hansen-Löve den Standpunkt von I. P. Smirnov (1971) zur Diskussion, der die Unterschiede zwischen Romantik und Symbolismus "grundsätzlich auf der Ebene der semiotischen 'Tiefenprogramme'" sah (Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. I, S. 36-37). - Auch Zbigniew Maciejewski, der auf die Beziehung Cvetaevas zu den Symbolisten eingeht, konstatiert innerhalb der symbolistischen Strömung des fin de siecle "ein wiederauflebendes Interesse an der Romantik, sowohl an den Theoretikern des Mythos (J. Herder, F. Schlegel, F. Schelling), als auch an Dichtern und Prosaikern mit NovaIis an der Spitze, die den Mythos in ihren Werken thematisieren." (Maciejewski, Zbigniew: Priem mifisacii, in: Marina Tsvetaeva, Slavica Helvetica, Bern u.a., 1991, Vol. 26, S. 131, [Üs.: SL]). Phoenix, S. 111.

und "mit aller Liebe quitt"50 sein werde, eine Frau wie sie träfe. In dem Moment, als Casanova die letzten Zeilen des Briefes liest, erscheint auf der Schwelle der Bibliothek "ein Wesen in Mantel und Stiefeln",51 das er für eine Vision Henriettes hält. So setzt Cvetaeva das 'Leben-Traum'-Motiv52 in Szene, das im Laufe der Handlung immer wieder artikuliert wird: "Ist das ein Traum, Ihr - Henriette?"53 richtet Casanova seine erste Frage an Franziska. "Lieg ich im Fieber, träum ich?" wiederholt er seine Frage, und "hält die Hand in die Kerzenflamme".54 Auf die Liebeserklärung Franziskas antwortet er: "Dann träum ich also. - Habe Dux verlassen. / Der gute Jacques hat mir die Beine mit / dem Mantel zugedeckt. - Wie schmeichelhaft! - / So schlaf ich nun der Schneesturm heult - und träume."55 Immer erneut kommt Casanova auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Traum zu sprechen, selbst als er dem Mädchen dafür dankt, daß sie heimlich seine Hemden geflickt hat: "Mag es auch / ein Traum sein - es ist rührend. In Wirklichkeit / kommt's keinem in den Sinn, sie mir zu stopfen!"56 Der Ausdruck der Bewunderung für Franziska nimmt die Formulierung ebenfalls auf: "Wenn du mich schon im Traum / bezauberst, wie dann in Wirklichkeit?"57 Im Bild findet sich auch eine reiche Motivik des Verbrennens, in deren Rezeption Cvetaeva auf die Vorgaben des Symbolismus zurückgeht. Die symbolistischen Dichter verstanden das Verbrennen "einmal als destruktive Selbstauflösung, Vernichtung, als Tod in diabolischer Sicht und zum anderen als kreative Neu- und Wiedergeburt durch die Katharsis der Flammen, als Verglühen all jener negativtriebhaften Energien und materiellen Fesseln, die sich auflösen müssen, um die Seele aus ihrer irdischen Gefangenschaft zu befreien [...].1,58 Die Einstellung Cvetaevas zur Macht des Feuers ist ebenso ambivalent. Die rothaarige Franziska bezeichnet sie im Personenregister als 'Kind' und gleichzeitig als 'Salamander1 - ein mythisches Tier, das als Inkarnation des Feuers gilt. Franziskas Zugehörigkeit zum Feuerelement wird auch in einer ihrer Sprechpartien angedeutet: "Wo schon die Holzfäller mich foppen" - beklagt sie sich bei Casanova - '"Du setzt den Wald in Brand!' - 'Husch, in den Fluß!' / Wenn ich durch Dorf geh, tönt's: 'Es brennt, es brennt!'"59 Sie soll dem Casanova-Phönix das Feuer schenken, das er für seine Entflammung und kathartische Reinigung braucht, repräsentiert auf diese Weise also die lebensschafTende Funktion des Feuerelementes. Gleichzeitig provoziert das dynamische Brennen aber die Vernichtung des Lebens. Auf den zerstörerischen Aspekt des Feuers verweisen Textpartien, in denen Franziska vom Tod spricht, so

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Ebd. Ebd., S. 113. Aage A. Hansen-Löve diskutiert das romantische 'Leben-Traum'-Motiv unter den Schlußmotiven, die in der ersten Phase des Symbolismus, im "diabolischen Symbolismus", dominant sind und auch in der zweiten Phase, im "mythopoetischen Symbolismus", erscheinen. Als Beispiele analysiert er Gedichte von Sologub, Bal'mont, Gippius und Brjusov, bei denen dieser Topos verschiedene Nuancen gewinnt (s. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. 1, S. 268-280). Phoenix, S. 113. Ebd. Ebd., S. 115. Ebd., S. 117. Ebd., S. 119. Hansen-Löve, Der russische Symbolismus, Bd. 2, S. 275. Phoenix, S. 121.

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z.B. in der Passage, die ihrer stürmischen Liebeserklärung folgt: "Mir ist es in / der Brust so eng ... wenn der Tod in meinen Karten stünde."60 Oder bald darauf: "Anstatt nach Eurem Weggang mich zu Tod / zu grämen, kopfvoran mich in ein Loch / zu stürzen bin nicht dumm!-, entschied ich frisch: / Ihr reitet fort, ich bin dabei."61 Und sogar auf Schritte hinter der Tür, die ihr Rendezvous unterbrechen, reagiert sie mit: "So sterb ich ohne Euch geküßt zu haben!"62 In der Konstellation Franziska Casanova ist er deijenige, der das tödliche Verbrennen auslöst. Seine schwarzen Augen vergleicht Franziska einige Male mit dem Feuer. "Was Ihr für Augen habt! Ein finstres Feuer!"63 begeistert sie sich, und etwas später heißt es: "Ach, Euer Blick / schmeckt köstlicher, glüht heißer in der Kehle."64 Aber die vernichtende Wirkung eines solchen Brennens wird schon am Anfang des Bildes, im Brief Henriettes, für deren Vision Casanova zuerst Franziska hält, vorhergesagt: "[...] Doch seh / ich deine Augen, Augen, ja dieselben, / die alles niederbrannten, die mein ganzes Leben / in Schutt und Asche legten...".65 Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des Stückes, auf das wir im Zusammenhang mit der Inszenierungsanalyse eingehen müssen, ist seine Lautpartitur, deren Übertragung in eine andere Sprache und auf die Bühne ein wagemutiges Unternehmen ist. Um einen Eindruck von Phoenix als poetischem Stoff zu gewinnen, soll auf zwei weitere Elemente der poetischen Sprache, die die Lautpartitur des Verstextes bestimmen - Reim und Metrum - eingegangen werden,66 die Cvetaeva reichlich variiert, sowie auf die volkstümlichen und archaischen Wörter und Phrasen, die im ersten Bild des Stückes atmosphärebildende Funktion haben. Der Reim gehört neben dem Metrum zu den in der Forschungsliteratur häufig diskutierten linguistischen Aspekten von Cvetaevas Werk. "Der Reim", schreibt Günther Wytrzens, "war fur Marina Cvetaeva ein unabdingbares Konstituens für jegliche Versdichtung." Cvetaeva steht damit, so Wytrzens, "in einer bis heute fortwirkenden ungebrochenen Tradition, die die russische Versdichtung vom übrigen europäischen Kontext abhebt."67 Die Linguistin Poljakova bemerkt bezüglich Cvetaeva, daß ihre Metrik alle existierenden Reimarten kenne: Anfangsreim, Schlagreim, übergehender Reim, Binnenreim, die in Kombination mit dem traditionellen Endreim "verwickelte Lautornamente [bilden], die für die Schreibart Cvetaevas kennzeichnend sind".68 In Phoenix dominiert der Endreim. Cvetaeva verbindet verschiedene Formen dieses Reimes: reicher Reim, identischer Reim, erweiterter Reim, grammatischer Reim. 60 61 62 63 64 65 66

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Ebd., S. 123-125. Ebd., S. 125. Ebd., S. 131. Ebd., S. 129. Ebd., S. 143. Ebd., S. 113. - Vgl. dazu auch S. 18f. dieser Arbeit. Der Reim und das Metrum gehören zu den meisterforschten Charakteristika von Cvetaevas Poetik. Über die Rolle des Reimes bei Cvetaeva vgl. Günther Wytrzens: Zur Struktur von 'Novogodnee' - Rhythmus und Reim, in: Marina Tsvetaeva; Slavica Helvetica, Vol. 26, Bern u.a. 1991, S. 262-271; zu Cvetaevas Metrik vgl. R. D. B. Thomson: Modulating Meters in the plays of Marina Cvetaeva, in: Russian Literature XXV, 1989, S. 525-549; Efim Etkind: Strofika Cvetaevoj. (Logaediieskaja metrika i strofy), in: Slavica Helvetica, S. 307-331. Wytrzens, Zur Struktur von 'Novogodnee', S. 267. S. Poljakova: Iz nabljudenij nad poetikoj Cvetaevoj, in: Marina Cvetaeva. Stat'i i teksty, Wiener Slawistischer Almanach, Sbd. 32, 1992, S. 85 [Üs.: SL],

Die Dichterin greift auch zu den sich nach ihrer Position in der Versfolge unterscheidenden Reimtypen. Eine kleine Monologpartie enthält oft mehrere Reimtypen, die einander folgen, z.B. diese von Casanova: Net, s iudesämi Κόηδεηο, - pogäs. Ostälos' veku - poliasä, A mne, byt' mözet iäs. Utknülas' löbikom ν ple£o, I dyäit goijaio. Bros'! Ibo ty esce niötö, Α ja - uze nicto. Uz v'jügi sävan mne pijadüt, Pijadüt... Godä projdüt, Käk mesjacy oni projdüt, Ditjä, - käk dni projdüt... I s nimi uplyvet, käk dym, Dym sizyj näd koström Νόί' novogödnjaja s sedym 69 Veneciänskim l'vom.69

Nein. Vorbei die Wunder, - ich bin erloschen. Bald geht zu Ende das Jahrhundert. Auch meine Stunde schlägt. Du legst die Stirn an meine Schulter und atmest heiß. Laß das! Denn du bist jetzt noch nichts, und ich bin schon nichts mehr. Der Schneesturm webt mein weißes Leichenhemd, er webt... Die Zeit vergeht. Wie Monate vergehn die Jahre, mein Kind, vergehn wie Tage... Mit ihnen löst sich auf wie Rauch, wie blauer Feuersqualm, die Neujahrsnacht mit den ergrau70 ten Löwen von Venedig.70

Der Monolog beginnt mit einer vierzeiligen kreuzartig gereimten Versgruppe. Cvetaeva reimt: (Sudesami - polöasa und pogas - Cas. Der Reim 'cudesami - polcasa' ist ein ungenauer Reim, der die rhythmisch-euphonische Ordnung stört. Die Schlußwörter der ersten zwei Zeilen der nächsten vierzeiligen Versgruppe bilden einen Paarreim: pleco - gorjafio. Das zweite Paar Zeilen sind entgegen der Erwartung 'identisch' gereimt. Diese Zeilen enden mit demselben Wort: nicto. So wird die Euphonie wieder gebrochen. Die ersten zwei Zeilen der dritten Versgruppe sind 'paargereimt': prjadut - projdüt. Das Wort 'projdüt' wird auch zum Schlußwort der nächsten zwei Zeilen. So bildet das dreimal wiederholte Wort 'projdüt' einen identischen Reim. Die letzte vierzeilige Versgruppe wird 'kreuzgereimt'. Dieses Beispiel belegt, wie Cvetaeva durch Verwendung verschiedener Reimtypen die Melodie des Verses variiert, und solche Variationen lassen sich im gesamten Text des Stückes konstatieren. Die Klangexperimente Cvetaevas betreffen neben dem Reim auch das Metrum, das sie moduliert, und durch den Wechsel der Rhythmen der Verszeilen erzeugt sie akustische Reflexe der seelischen Verfassung der Personen. R. D. B. Thomson, der eine Analyse der Metrik sowohl der Versdramen Cvetaevas als auch ihrer Tragödien vornimmt, konstatiert, daß Cvetaeva in Phoenix, im Unterschied zu ihren weiteren fünf Versdramen, in denen sie mehrfach Metren wechselt und dadurch ihren Rhythmus im Laufe der Handlung immer wieder moduliert, den vierfüßigen Jambus bevorzugt: von 1528 Versen, die das Drama enthält, sind 1122 im jambischen Tetrameter geschrieben, 289 im jambischen Pentameter und 117 Verse sind zwei- und 69

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Phoenix, S. 178. - Das Zeichen ['] zeigt in der zitierten Verspassage die realen, gesprochenen Wortakzente. Hier muß angemerkt werden, daß in russischen Versen die natürliche Betonung der Wörter nicht immer mit den rhythmischen Betonungen der Versmaße zusammenfallt. Obwohl diese Zeilen als ein syllabotonisches Metrum gelesen werden könnten, stimmen weder die Wortbetonungen noch das Akzentuieren der Worte durch einen Interpreten notwendig mit einem solchen Metrum überein. Für Marina Cvetaeva ist eine solche Ambivalenz charakteristisch. Ebd., S. 179. 21

dreifußige Anapäste und andere Metren." Als Beispiel der Virtuosität Cvetaevas in der Modulation der Metren führt Thomson die Schlußszene des Stückes an. Die Spannung der Handlung, die in den vorigen im jambischen Tetrameter geschriebenen Szenen ihren Höhepunkt erreicht hatte, sinkt hier. Franziska, die nach ihren stürmischen Liebeserklärungen Casanova gegenüber müde geworden ist, wird hier plötzlich schläfrig. Casanova nimmt sie auf seinen Schoß und lullt sie ein. Cvetaeva ändert an dieser Stelle folglich den Rhythmus des Textes. Die zwei Verse der Sprechpartie von Franziska sind in dreifüßigen Anapästen geschrieben. Die Sprechpartie Casanovas, der Franziska wiegt, hat den Rhythmus von zweifüßigen Anapästen, was beruhigend wirkt und rhythmisch an ein Wiegenlied erinnert: FRANZISKA

FRANZISKA

- Casanova, mne choietsja spät' Pokacäjte menjä nä kolenjach!

Casanova, bin müde. So wiegt mich auf dem Schoß in geruhsamen Schlaf!

CASANOVA [...]

CASANOVA [...]

Növyj göd Növyj vek, Gde-to sneg ... gde-to svet... Ktö-to trön ustupäet, Α Franziska zasy-päet. 72

Neues Jahr - neue Zeit. Hier der Schnee - dort das Licht. Von dem Thron tritt er ab. Und Fran-ziska entschlummert.73

Eine weitere wichtige akustische Charakteristik des Textes ist die Stilisierung der Volkssprache im ersten Bild, dessen Handlung in der Schloßküche spielt. Der Sprachduktus der Personen hat hier raumbestimmende und stimmungsbildende Funktion. Die Regieanweisung zu diesem Bild enthält keine Beschreibung des Ortes der Handlung. Sie lautet lapidar: "Küche im Schloß des Grafen Waldstein in Dux. Spätabends. Sommer 1799."74 Cvetaeva verzichtet auf visuelle Details, sie läßt den Raum klingen und konstruiert diesen dadurch akustisch. Außerdem setzt der Sprachduktus die Küche, also den Bereich des Gesindes, in Kontrast zu dem Raum im zweiten Bild, zum Speisesaal, dem Bereich der adligen Gäste, wo eine gehobenere Sprache gesprochen wird. Die Übertragung der akustischen Ebene des Stückes, die eigentlich seine ganze Eigentümlichkeit und seinen ganzen Reiz ausmacht, in eine andere Sprache erweist sich als sehr problematisch. Sogar solch ein Übersetzer wie Paul Celan hat es nicht gewagt, Cvetaevas Verse zu übersetzen: "... Mais combien est-il done difficile de traduire Marina Cvetaeva! (Aber wie schwer ist es doch, Marina Zwetajewa zu übersetzen!)"75 schrieb er in einem Brief an den amerikanischen Slawisten und Herausgeber Gleb Struwe. In bezug auf die Übersetzbarkeit von Cvetaevas Versen gibt es verschiedene Meinungen. Einige Übersetzer, wie die schwedische Slawistin Annika Bäckström, verweisen auf die Nichttransponierbarkeit der poetischen Sprache Cvetaevas in eine andere Sprache, was Bäckström mit der Spezifik der Lautqualitäten der Verse erklärt: "Im Falle von Cvetaeva werden die Schwierigkeiten, auf die

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Siehe R. D. B. Thomson: Modulating Meters in the plays of Marina Cvetaeva, in: Russian Literature XXV, 1989, S. 525-550. Phoenix, S. 182. Ebd., S. 183. Ebd., S. 13. Zit. nach: "Fremde Nähe" - Celan als Übersetzer, hg. von Axel Cellhaus, Marbach am Neckar 1997, S. 289.

der Übersetzer stößt, extrem. Sie verbindet systematisch den Sinn der Wörter mit ihrem Klang. [...] Dabei wird der Klang offensichtlich bevorzugt."76 Der italienische Übersetzer Pietro Zveteremich ist in puncto der Übertragung von Cvetaevas Verstexten gegensätzlicher Meinung. Er geht vom Postulat der Übersetzbarkeit von Poesie aus und bemerkt, daß gerade die Spezifik der Poesie Cvetaevas - Zveteremich bezeichnet die Verstexte von Cvetaeva als "Stenographie des Lautes, der eine bestimmte Bedeutung hat"77 - ermöglicht, "was auf den ersten Augenblick unmöglich scheint,"78 nämlich die Lautaspekte des Originals, wenn nicht identisch, dann wenigstens adäquat zu transponieren. Zveteremich formuliert zwei Hauptherangehensweisen in der Übertragung der Verstexte, an die der Übersetzer sich halten sollte: Die Übersetzung konzentriert sich entweder auf die Übertragung der Lautebene des Originals, seiner Musikalität, oder auf die Semantik des Verstextes.79 Wenn man davon ausgeht, so Zveteremich, daß die Poesie nur durch ihre Lautebene bestimmt ist, d.h. sie mit Musik zu vergleichen ist, dann braucht man keine Übersetzungen, weil die Musik unübersetzbar ist. Folglich bewährt sich nach Zveteremich nur die semantische Übersetzung, bei der allerdings ein Kompromiß gefunden werden sollte: Die Musikalität des Originals kann in einen anderen Sprachsystem imitiert werden, für die Semantik des Originaltextes aber muß man ein genaues Äquivalent finden. Ilma Rakusa, die Schweizer Slawistin und Publizistin, die im Auftrag der Berliner Schaubühne Phoenix ins Deutsche übersetzte, wählte den zweiten Weg. Sie konzentrierte ihre Übersetzung auf die genaue Übertragung der semantischen Ebene des Stückes, was ihr gelungen ist. Die von Zveteremich postulierte Annäherung an die Lautqualität des Originals wurde allerdings nicht ganz erreicht. Wie sich die Übersetzerin selbst bezüglich ihrer Methode im Nachwort zu ihrem Text äußert, versteht sie ihre Übertragung des Stückes als Nachdichtung, "wobei das Originalmetrum beibehalten, auf den Reim in der Regel aber verzichtet wurde."80 Die Übersetzung von Phoenix läßt erkennen, daß der Text seinen Rhythmus durch die Erhaltung des Metrums behielt, aber gleichzeitig, zumindest teilweise, seine Musikalität durch Verzicht auf den Reim einbüßte. Außerdem ging der Sprache durch die Übersetzung der volkstümlichen und archaischen Phrasen und Wörter im ersten Bild ins Hochdeutsche ihre raumbestimmende und stimmungsbildende Funktion verloren.

2.3. Der Traum von Casanova: Phoenix an der Schaubühne Berlin Die deutsche Erstaufführung des Stückes fand am 5. März 1990 an der Berliner Schaubühne unter der Regie von Klaus Michael Grüber statt. Der Regisseur insze76

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Annika Bäckström: Zametki ο perevode Cvetaevoj, in: Marina Tsvetaeva, Slavica Helvetica, Vol. 26, Bern u.a., S. 445 [Üs.: SL], Pietro Zveteremich: Ob otnoäenii mezdu fonemoj i grafemoj ν poezii M. Cvetaevoj, in: Marina Tsvetaeva, Slavica Helvetica, Vol. 26, Bern u.a. 1991, S. 287 [Üs.: SL]. Ebd., S. 291 [Üs.: SL], Pietro Zveteremich: Vystuplenie na diskussii ο probleme perevoda., in: Marina Tsvetaeva, Slavica Helvetica, Vol. 26, Bern u.a. 1991, S. 448. Phoenix, S. 190.

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nierte Phoenix als Hommage an Bernhard Minetti, der kurz nach seinem funfundachtzigsten Geburtstag in der Rolle des alten Casanovas auf die Bühne trat. Ohne Einfügung von fremden Texten in die Spielfassung ließ es der Stoff des Stückes zu, einige bedeutende Rollen Minettis aus den letzten Jahrzehnten zu zitieren. In der Casanova-Gestalt holte der Schauspieler, wie Sigrid Löffler in der Wiener Zeitschrift Profil bemerkte, "all die alten Männer zur Hilfe, die er in seinem reichen Bühnenleben gespielt hat, den Lear, den Faust, den Weltverbesserer und all die anderen Bernhard-Greise".81 "Bernhard Minetti spielt den Casanova wie eine fortsetzende Variante seiner Darstellung des Krapp in Becketts Letztem Band, das Grüber vor zwei Jahren mit ihm in Frankfurt aufgeführt hatte [...]", so Peter Iden in der Frankfurter Rundschau,82 Das interessante Rollenangebot für den Jubilar war wohl nicht der einzige entscheidende Faktor bei der Wahl des Stückes. Die zentralen Motive von Phoenix gehören zu denen, die Grüber immer wieder in seinen Produktionen aufgreift: Erinnerungs- und Traummotiv, Todesmotiv und auch das Motiv der Reise, das im dritten Bild des Stückes deutlich anklingt und das Peter Iden als "ein Strukturprinzip aller Arbeiten"83 Grübers bezeichnet. Diese Motive werden durch die zahlreichen Streichungen im Text der Spielfassung hervorgehoben und im Vergleich zu Cvetaevas Drama sogar verstärkt. Das Thema der kathartischen Reinigung durch das Verbrennen im Liebesfeuer dagegen, das die Peripetie des dritten Bildes bestimmt, ist durch den Verzicht auf die entsprechenden Textstellen verschwunden. Vom ersten Bild bleiben in der Spielfassung nur ein paar Sätze, die der alte Kammerdiener des Fürsten de Ligne spricht, erhalten. Da Casanova selbst in diesem Bild nicht erscheint, und der Text in der Übersetzung einige seiner wichtigen Klangqualitäten verloren hat, verzichtete Grüber im Inszenierungstext auf dieses Bild ganz. Diesen Streichungen entsprechend wird die Personenliste der Inszenierung um neun Personen aus diesem Bild - Koch, Gärtner, Schneider und weiteres Gesindepersonal - kürzer. Das zweite und das dritte Bild sind in der Spielfassung auch merklich verknappt. Im zweiten Bild betreffen die Kürzungen in erster Linie die Konversationspartien der Tischgesellschaft, die aus französischen, polnischen und Wiener Damen, zwei Prinzessinnen, ihrer Gouvernante, zwei hohen Persönlichkeiten, dem Kaplan, sowie dem Hausdichter Viederole, dem Grafen Waldstein und dem Fürsten de Ligne besteht. Dadurch wird verdeutlicht, daß der Regisseur alle Personen nur als Hintergrund für Casanova versteht, auf den sich die Aufmerksamkeit konzentrieren soll. Im thematischen Zentrum dieses Bildes steht der lange Monolog Casanovas zum Schluß des Bildes, in dem er den Schloßgästen die Geschichte seiner Heilung durch Hexenzauber erzählt. Das ist die einzige Textpassage Casanovas, die Grüber ungekürzt in die Spielfassung übernommen hat, um damit das Motiv des Erinnerns hervorzuheben. Im Unterschied dazu wird der zweite lange Monolog Casanovas am Anfang des dritten Bildes - er liest alte Liebesbriefe - von sechs Seiten auf ein Dutzend Sätze reduziert. Obwohl der gestrichene Text der Briefe eigentlich auch unmittelbar zum Thema des Erinnerns gehört - es sind kurze Erinnerungen an das

81 82 83

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Profil, 11./12.03.1990. Frankfurter Rundschau, 08.03.1990. Peter Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979, München u. Wien 1979, S. 58.

vergangene Glück wird er in der Spielfassung nicht beibehalten, was sich aber in erster Linie mit der Absicht, dem 85-jährigen Schauspieler die Anstrengung beim Sprechen langer Passagen abzunehmen, erklären läßt. Aus den Dialogen Casanova - Franziska werden die Stellen, die den Annäherungs- und Verliebens-Prozeß fixieren, weggelassen. So ist z.B. nicht in die Spielfassung übernommen Casanovas Frage an Franziska: "Wenn du mich schon im Traum / bezauberst, wie dann erst in Wirklichkeit?"84 Es wird auf Casanovas Bemerkung verzichtet, die er auf sein Herz zeigend macht, nachdem Franziska zum Beweis, daß er nicht träumt, seine Hand gebissen hat: "Wenn's nur beißen wäre! / Hier schmerzt's."85 Aus der Spielfassung werden die Passagen eliminiert, die von Berührungen begleitet werden, oder die Berührungen zur Folge haben, z.B. diese: CASANOVA:

faßt nach ihrer Mütze Ist dir nicht heiß in dieser dicken Kappe? Leg ab sie, zeige mir dein schönes Haar! [...] FRANZISKA

berührt ihn leicht Ach, Euer Blick schmeckt köstlicher, glüht heißer in der Kehle.86

Oder diese kurze Dialogpartie: FRANZISKA

Darf ich näher zu Euch rücken? CASANOVA

rutscht zur Seite, macht ihr auf dem Sessel Platz Hier - so? FRANZISKA

Nein, näher. CASANOVA

Hier also! setzt sie mit einem Ruck auf seinen SchoJ?1

Auch die Dialogpassage, im Laufe derer Casanova galant mit Franziska flirtet, und die damit endet, daß das Mädchen sich an Casanovas Brust wirft, wird weggelassen: CASANOVA

Scheherezade, sage "du" zu mir! [...] FRANZISKA

nimmt ihren ganzen Mut zusammen Gut: du! CASANOVA

zärtlich Noch mal! FRANZISKA

geht auf ihn zu Zu dir! 84 85 86 87

Phoenix, Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.

S. 119. 121. 143. 165.

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CASANOVA

noch zärtlicher Noch mal! FRANZISKA

näher kommend Mit dir! CASANOVA

kaum hörbar Noch mal! FRANZISKA

wirft sich ihm an die Brust Dich!!! 88

Bemerkenswert ist eine Verknappung, die Grüber in der Liebeserklärung Casanovas macht, und auf die bei der Analyse der Inszenierung näher eingegangen wird. Im Stück wird die Liebeserklärung dadurch provoziert, daß Franziska sich plötzlich die Kappe vom Kopf reißt und Casanova ihre roten, über die Schulter fallenden Haare sieht: CASANOVA

Bin blind vor Glanz! Ich... FRANZISKA

mit ihren Haaren Blind?

beschäftigt

CASANOVA

Ich liebe Euch, Francesca. 89

Grüber verzichtet auf die 'Aktion' mit den Haaren. Entsprechend wird auch die Äußerung Casanovas von der 'Erblindung' gestrichen. Die Erklärung "Ich liebe Euch, Francesca" klingt hier spontan und im Unterschied zum Text des Dramas unmotiviert. Sie folgt auf Franziskas naives Angebot an Casanova, ihn mit der Pistole vor Wölfen und Soldaten zu beschützen, falls er sie mit auf seine Reise nähme. Wenn also im Zentrum des dritten Bildes des Stückes Casanovas geistige Auferstehung durch das Verbrennen im Liebesfeuer steht, was eigentlich dem mythischen Sujet von Phoenix, auf das Cvetaeva mit dem Titel des Stückes anspielt, entspricht, so zeigt die Spielfassung, daß diese 'Auferstehung' in der Inszenierung nicht stattfindet. Cvetaevas romantisches Streben nach einem Wunder, das sie im Stück ins Bild setzt, widerspricht Grübers Auffassung vom Leben, die er in seinen Arbeiten zum Ausdruck bringt. Seine Inszenierungen sind, wie Peter Iden bemerkte, "von einem Klima des Endes, des Abschieds, des Versiegens der Kräfte bestimmt, nicht von hellen, bunten, lockenden Farben."90 Bereits aus dem Programmheft der Inszenierung kann man schließen, daß Grüber seinen theatralen Text unter das Zeichen des Erinnerns stellt. Als Motto stehen hier die Worte des Dichters Osip Mandel'Stam, eines Zeitgenossen Cvetaevas: "Erinnern heißt - ganz allein in einem ausgetrockneten Flußbett zurückgehen müssen."9' Das Programmheft enthält den Text von Phoenix, einen kurzen Artikel von

88 89 90 91

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Ebd., S. 163. Ebd., S. 171. Iden, Die Schaubühne, S. 58. Programmheft der Inszenierung, Schaubühne Berlin.

Ilma Rakusa über die 'Liaison' Marina Cvetaevas mit dem Theater, sowie eine kurze Biographie der Dichterin. Besondere Aufmerksamkeit zieht eine Zeile auf sich, mit der Grüber das Personenregister schließt: "Mädchen am Klavier der jungen Marina Z...". 92 Hier klingt das Thema des Erinnerns noch einmal an - zum Objekt des Erinnerns wird die Dichterin selbst. Katrin Dasch in der Maske von Marina Cvetaeva, deren Gesicht von der Titelseite des Programmheftes emst und konzentriert blickt, sitzt am Flügel auf der Vorderbühne und eröffnet die Inszenierung mit der traurig-langsamen Klaviermusik Opus 133 - Gesänge der Frühe von Robert Schumann, die den Auftakt zum weiteren Bühnengeschehen gibt. In die Klänge dringt eine alternde Stimme ein. Die Worte fallen langsam, im Takt der Musik: "Doch ich, ihr Leute, muß euch sagen: / Ich dien' bei Herrschaften seit je / und brau nicht Bier in Brauereien - / ihr irrt: er ist ein guter Herr! / Ist nicht in Bauernstiefeln groß / geworden. Und daß er jetzt kein Geld hat, / entehrt ihn nicht, ein Unglück ist's. / Doch besser so, wo alles stiehlt / und selbst Magnaten liebedienern. / Er buckelt nicht wie ein Kamel / für Brot - er gibt das eigne her! / Mein Herr und er - das sind Magnaten! / Die andern aber: pfui!" 93 Dieser kurze Monolog des alten Kammerdieners, der aus der Tiefe der in völliger Dunkelheit versunkenen Bühne gesprochen wird, ist die einzige Textpassage aus dem ersten Bild, die in den Inszenierungstext übernommen wurde. So manifestiert Grüber schon zu Beginn der Inszenierung sein "Theater der Stimme", in dem "die Stimme der Nach-Klang des Geschehens" ist.94 Die Regie-Idee, die Semantik des Textes durch Lautbilder zu vermitteln, wird durch das Raumkonzept betont. Die Handlung sowohl des ersten als auch des zweiten Bildes der Inszenierung spielt auf der abgedunkelten Bühne, die Konturen des Raumes sind schwer zu erkennen. Im ersten Bild öffnet die Bühne den Blick auf die lange, mit kaltem gelb-blauen Licht beleuchtete Tafel mit Früchten, Gläsern, Flaschen und Kerzen (Bühnenbild Francis Biras), an der das Dutzend Gäste in Rokoko-Kostümen (Kostüme Moidele Bickel) und gepuderten Perücken zu Abend ißt. Im zweiten Bild wird nur eine kleine Insel in der Mitte der Bühne beleuchtet. Hier steht der Tisch mit einer Schatulle, zwei Kerzen, einem Bücherstoß und aufgefalteten Briefen, der Lehnstuhl, in dem Casanova sitzt, und etwas weiter rechts ein geöffneter Schrankkoffer. Im Hintergrund ist ein halbrundes Fenster zu sehen, und rechts in der Tiefe der Bühne erkennt man die Treppe, die zum Dach führt und im Dunkel verschwindet. So nähert sich Grübers Raumkonstruktion Cvetaevas Sicht des Raumes, die sie in den Regieanweisungen formulierte: Im zweiten Bild bezeichnet sie den Saal, in dem das abendliche Mahl stattfindet, als "das finstere Zimmer", 95 die Bibliothek im dritten Bild ist ebenfalls "ein dunkles, finsteres Gemach". 96 Der Konflikt des zweiten Bildes des Dramas besteht, wie schon erwähnt, im Antagonismus von adliger Gesellschaft und Casanova. Cvetaeva artikuliert diesen Konflikt sowohl visuell als auch verbal durch Casanovas altmodische Kleidung, über die die Schloßgäste spotten. Der Regisseur dagegen verzichtet auf die Akzen92 93 94 95 96

Ebd. Phoenix, S. 27. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 128. Phoenix, S. 39. Ebd., S. 85. 27

tuierung des Konfliktes durch das Kostüm - Casanova trägt in diesem Bild ein blauseidenes Kamisol mit Spitzenmanschetten und Jabot und ist so durch das Kostümzeichen von den anderen auf der Bühne Anwesenden nicht zu unterscheiden. Auch mehrere Äußerungen der Personen, die die Nuancen dieses Konfliktes vermitteln, sind nicht in die Spielfassung übernommen worden. Das semantische Gewicht des zweiten Bildes wird durch die Stimmodulationen der Schauspieler zum Ausdruck gebracht. Die Stimmen der Darsteller der Adligen klingen gekünstelt und bilden einen Kontrast zu der Stimmpartitur Casanovas. Die Adligen sprechen ihre Textpartien im Kopfregister, geziert, monoton, in der Manier von Rezitativen. Die Gestik der Schauspieler entspricht der akustischen Wirkung ihrer Stimmen: sie ist sparsam und marionettenhaft. Sie sitzen im Laufe der Handlung starr da wie große Wachspuppen, und nur von Zeit zu Zeit wenden sie sich langsam mit dem Kopf in die Richtung ihres aktuellen Gesprächspartners. Die sparsame Choreographie unterstützt gleichzeitig die Idee des Regisseurs, Kost für die Ohren, nicht fur die Augen anzubieten. Minettis Stimme als Casanova klingt im Gegensatz zu denen seiner Umgebung tief, in der Modulation seiner Stimme erkennt man die kleinsten Nuancen der Gemütsverfassung Casanovas: Enttäuschung, Schmerz, Zorn, Ironie, Hohn. Die Chronologie der Handlung des Stückes wird in der Inszenierung beibehalten. Casanova erscheint aus der linken Kulisse, macht eine kurze Verbeugung und bleibt einige Augenblicke im blauen Scheinwerferstrahl stehen, während die 'Wachspuppen' an der Tafel sich über sein Aussehen amüsieren. Dann schreitet er majestätisch über die Bühne und nimmt Platz am 'Katzentisch' an der Vorderbühne rechts, wohin ihm der Fürst de Ligne (Walter Schmidinger) folgt. Casanova beklagt sich bei dem Fürsten in einer kurzen Monologpartie über seine Lage als 'Gnadenbrotesser'. Danach verlagert sich die Handlung an die Tafel. Der Hausdichter Viederole (Udo Samel) steht auf, nimmt eine affektierte Pose ein und improvisiert ein Rondeau. Sein Wortduell mit Casanova, das kurz darauf beginnt, wird zum Höhepunkt dieser Szene: Die Auseinandersetzung ist nicht verbal auf die Bühne gebracht, weil Grüber Viederoles Sprechpassagen, in denen er Casanova verspottet, um ein Drittel reduziert hat, sondern wird akustisch vermittelt, durch den Kontrast der beiden Stimmen - die unangenehm gezierte Stimme Viederoles gegen die tiefe Stimme Casanovas. Darauf löst sich die Spannung der Handlung etwas. Casanova wird an die Tafel zur feinen Gesellschaft gebeten und vertieft sich in seine Erinnerungen: seine Stimme klingt dumpf und scheint einer anderen Dimension anzugehören. Das zweite Bild beginnt mit der Szene des Lesens der alten Liebesbriefe, die Assoziationen mit Becketts Letztem Band hervorruft: Casanova sitzt starr im großen Lehnstuhl und rezitiert aus den Briefen, die er dann zerknüllt auf den Boden wirft. Der langsame Rhythmus der Inszenierung nimmt erst an Geschwindigkeit zu, wenn auf der Treppe in der Tiefe der Bühne Franziska (Karoline Eichhorn) erscheint, die Stufen hinunterrumpelt, auf den Sessel zuhuscht und Casanova temperamentvoll ihre Liebe erklärt. Grüber fügt einige Veränderungen in die von Cvetaeva mit den Regieanweisungen vorgegebene Bewegungsregie und Gestik sowohl Casanovas als auch Franziskas ein, die im Stück den Annäherungs- und Verliebensprozeß fixieren und gleichzeitig von der 'Auferstehung' des berühmten Verfuhrers zeugen. Die gestische 28


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Ebd., S. 29. Ebd. Weihnachten bei Ivanovs, S. 376f. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 49. Neue Rhein Zeitung, 09.05.1994.

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auf die Uhr verzichtet hat, läßt sich das Rad, wenn es sich in einigen Szenen langsam dreht, als ein Symbol der Zeit und gleichzeitig als gnadenlose Maschinerie, in die Leute hineingeraten und die ihr Leben vernichtet, deuten. Bemerkenswert unter den Gegenständen, die im Laufe der Handlung einige Male im meist leeren Raum erscheinen, ist die Zinkbadewanne, die im ersten Bild fürs Waschen der Kinder bereit in der Mitte der Bühne steht, und die wegen ihrer Echtheit grotesk und provokant wirkt. Unter den Kostümen der Darsteller (Entwurf Maria Roers) muß man in erster Linie das groteske Kostüm der Amme (Christiane Lemm) erwähnen. Sie trägt eine rote Bluse, ein blaues Trägerkleid mit Rokoko-Krinoline darunter sowie eine Rotarmistenmütze mit rotem Stern. Ebenso grotesk trotz seiner Einfachheit wirkt im Kontext der Handlung das Kostüm des 1jährigen Petja (Horst Mendroch). Er ist seinem Alter entsprechend gekleidet, mit kurzer grauer Strickhose und weißem Hemdchen. In dieser Figur kommt die von Bachtin formulierte "Eigenart der Struktur der Karnevalsgestalt"" 1 am deutlichsten zum Ausdruck. Er vereint in sich Geburt und Tod, Jugend und Alter - "beide Pole des Werdens oder beide Glieder einer Antithese", 112 die mehrmals im Text des Stückes auf der Sprachebene angedeutet sind. "Bekommen wir einen Tannenbaum? Ja. Und plötzlich bekommen wir keinen. Plötzlich werde ich sterben", 113 sagt der Einjährige am Anfang des Stückes. "Was kann mich in meinem Alter noch verwundern", 114 ist Petjas Antwort auf die Frage des Hundes Vera, ob er sich darüber wundere, daß der Hund sprechen könne. Und in der letzten Szene des Stückes resümiert er: "Das Leben geht so schnell vorüber. Bald werden wir alle sterben." 115 Das karaevalistische Wesen Petjas wird in der Inszenierung sowohl durch das Kostüm akzentuiert, das mit den tiefsinnigen, philosophischen Aussprüchen dieses 'Kindes' kontrastiert, als auch durch die Diskrepanz zwischen dem Äußeren des Schauspielers und seinen Gesten und Körperhaltungen: Petja ist ein kräftiger, im Baß sprechender, ausgewachsener Mann, der, während er über Leben und Tod philosophiert, am Daumen lutscht. In den Szenen, in denen Petja nicht mitwirkt, läßt die Regisseurin den Schauspieler mit gespreizten Beinen sitzen und die Handlung beobachten oder etwas mit Kreide auf dem Boden zeichnen. Eine groteske Anspielung auf das Baby-Alter von Petja wird im dritten Bild gemacht: Die Amme trägt ihn auf dem Arm, er umhalst sie, seine Beine hinter ihrem Rücken verkreuzt, und verbirgt sein Gesicht auf ihrer Brust, nach seinem kurzen Dialog mit der Mutter. Die Zugehörigkeit der anderen 'Kinder' zu der karnevalistischen Welt wird durch die Maske angedeutet. Sonja (Caroline Ebner) hat eine rote Kunststoffkappe auf dem Kopf, unter der zwei rote Zöpfe hervorschauen. Das Kunststoffmaterial wirkt in Verbindung mit den Haaren der Perücke provokant. Die 8jährige Nina (Petra Redinger) trägt ebenfalls eine Kunststoffkappe, diesmal in Blau, unter der ihre eigenen kastanienbraunen Haare zu sehen sind. Auf dem Kopf des 76jährigen Miäa (Peter Albers) soll die fleischfarbene Kappe einen kahlen Kopf imitieren. Zur Verstärkung des grotesken Effektes ist Miäas Gesicht mit einer schwarzen Brille 111 112 113 114 115

Bachtin, Literatur und Karneval, S. 49. Ebd., S. 83. Weihnachten bei Ivanovs, S. 376. Ebd., S. 394. Ebd., S. 401. 113

'geschmückt', auf deren oberen Rand graue Augenbrauen 'wachsen'. Auf dem Kopf der 82jährigen Dunja (Karin Pfammatter) sitzt eine graue Perücke mit Zöpfen. Grotesk sieht auch Dunjas Kostüm aus. Sie trägt ein verblichenes rosa T-Shirt, das eng an ihrem Körper anliegt und bei dem sich bis zum Bauch hängende Brüste abzeichnen, und graue Leggins. Im Ganzen gesehen scheint die Regisseurin die Aufmerksamkeit der Zuschauer im ersten Bild nicht auf die Kleidung der Kinder lenken zu wollen, denn fast alle Kostüme - außer die von Dunja und Petja - sind unauffällig. Sonja ist in ein kurzes ärmelloses weißes Nachthemd gekleidet, Misa in ein weißes Hemd und eine weiße Unterhose, Nina in ein weißes Kleidchen und Volodja in ein blaues T-Shirt und eine weiße knielange Unterhose. Das zentrale Ereignis des Stückes - der Mord an Sonja - wird karnevalistisch grotesk auf der Bühne umgesetzt: Die Amme beugt sich über die Zinkbadewanne, aus der schon alle Kinder außer Sonja gestiegen sind, sie holt mit der Axt aus und läßt sie auf Sonja niedersausen, die dabei auf den Boden der Wanne rutscht und einige Male mit Armen und Beinen in der Luft zappelt. Wenn Sonjas Glieder plötzlich erstarren, zieht die Amme einen der Schauspielerin nachgebildeten blutverschmierten Kopf an den Zöpfen aus der Badewanne und bleibt mit diesem Kopf in der einen und mit der Axt in der anderen Hand stehen. Um das Publikum zu provozieren, führt die Regisseurin ein naturalistisches Detail ein: Die in den ersten Reihen sitzenden Zuschauer können während des Mordes an dem Mädchen beobachten, wie das Blut aus dem Wannenausguß auf den Boden fließt und eine Lache bildet. Diese Blutlache bleibt als unheilvolle Erinnerung an die begangene Missetat bis zum Ende der Aufführung auf der Bühne zu sehen. Der Polizist (Matthias Leja), der sofort nach dem Mord an der Stelle des Verbrechens im direkten Sinne 'aus dem Boden auftaucht', genauer gesagt aus der Bodenöffnung, trägt eine russische Offiziersuniform der Vorkriegszeit. Sein Mund, mit knallroter Farbe dick geschminkt, 'brennt', was seinem Gesicht einen grotesken Ausdruck verleiht - eine weitere Anlehnung an die Theorie der Groteske, laut derer "für die groteske Gestalt des Leibes nur Mund und Nase wesentlich"' 16 sind. Die Regisseurin setzt in ihrer Inszenierung aber nicht nur optische, sondern auch akustische Effekte ein: Sein schweres, röchelndes Atmen läßt den Polizisten einem Bluthund ähnlich werden. Während des Sprechens marschiert er in der Bodenöffnung an Ort und Stelle, seine Sprechpartie mit den Tritten der Stiefel rhythmisierend. Die bedrohlich stampfenden Klänge, die man in mehreren Szenen hört, werden zum akustischen Leitmotiv der Inszenierung und erinnern an das in Treppenhäusern oder in Gefängniskorridoren widerhallende Stampfen von Soldatenstiefeln. Diese Anspielung auf die Massenverhaftungen der 30er Jahre wird noch einmal in der kurzen Sprechpartie des Polizisten artikuliert, wenn er der Amme mitteilt, daß sie "Fesseln und Ketten" kriegt, und dann im Boden verschwindet. Die groteske Atmosphäre - schon für die erste Szene der Inszenierung charakteristisch - , die sich im Laufe der Handlung immer mehr verdichtet, bis sie dann im achten Bild, im 'Totentanz' der Richter, ihren Höhepunkt erreicht, ist im zweiten Bild beträchtlich abgeschwächt. Die Regisseurin arrangiert hier einen der wenigen Ruhepunkte des ansonsten durch Aktionen in schneller Abfolge gekennzeichneten Inszenierungstextes: In der Tiefe der Bühne - vor dem Hintergrund der sich lang116

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Bachtin, Literatur und Karneval, S. 16.

sam drehenden roten Zahnräder - singen vier Holzfäller (Jost Grix, Caroline Ebner, Peter Albers und Matthias Leja) eine wehmütige Melodie halblaut vor sich hin, und singend treten sie in den Vordergrund. Die Holzfäller tragen graue Soldatenmäntel ohne Knöpfe, mit Stricken umgürtet, Pelzmützen und Soldatenstiefel. In der Hand hält jeder ein Holzscheit. Sie knien auf der Vorderbühne nieder und klopfen rhythmisch mit den Holzscheiten auf den Boden: ebenfalls eine akustische Erinnerung an die 30er Jahre. Petja, der auf der Vorderbühne sitzt und den Holzfällern zuschaut, schlägt im Takt der Holzscheit-Schläge mit den Handflächen auf den Fußboden. Die lyrische musikalische Untermalung der danach folgenden Sprechpartie des Holzfällers Fedor, in der er seinen 'stummen' Kollegen von seiner Braut, der Amme berichtet, gibt der ganzen Szene ein poetisches Flair. Das Bild endet mit einer Pantomime: Die Holzfäller treten in die Tiefe der Bühne zurück, hocken sich im Profil zu den Zuschauern nieder und verlassen so im 'Gänsemarsch' die Bühne. Petja legt sich auf den Bauch und streckt seine Arme nach den abtretenden Holzfällern aus. Der Pianist liest dazu die Regieanweisung, die erklärt, daß die Holzfäller sich auf den Schlitten setzten und auf diese Weise den Wald verließen. Die nächste Szene, in der die wilden Tiere auftreten, wirkt surrealistisch. Die Textpartien werden von vier Schauspielern vorgelesen, die im blauen Licht auf der Bühne auftreten. Die traumartige Atmosphäre des zweiten Bildes wird im dritten, dessen Handlung am Sarg Sonjas spielt, noch verstärkt. In der Tiefe der Bühne erscheint Sonjas 'Leiche' (Stefanie Purschier), im weißen Gewand mit entblößter linker Brust, einer antiken Statue gleich, ihren blutverschmierten Kopf an den Zöpfen in der Hand haltend. Der Kopf der Schauspielerin ist mit einem schwarzen Tuch verdeckt, wodurch er im dunklen Raum unsichtbar wird. Petja, der bis zu diesem Moment auf der Bühne geblieben war, nähert sich Sonja, betrachtet sie neugierig und verschwindet in der Dunkelheit. Anschließend taucht Vater Puzyrev (Mat Ador) auf, der mit getragener Stimme in Manier der antiken Tragödie, mit hoch aufgehobenen Armen, seine Textpartie spricht. Ihm folgt Mutter Puzyreva (Nicole A. Spiekermann), die ihre Sprechpartie ebenfalls pathetisch rezitiert. In der Hand hält sie plötzlich eine Schale mit Puder, den sie dick auf ihr Gesicht auflegt und dabei den Raum in eine weiße Wolke hüllt. Daraufhin kommt sie zum Vater, drückt ihren Körper an seinen und tanzt mit ihm einen grotesken Pas de deux, der den 'Vorweihnachts-Beischlaf der beiden symbolisiert. Beachtenswert sind in dieser Szene die Kostüme der beiden Darsteller. Die Mutter hat ein mit schwarzweißen Rhomben gemustertes Mini-Kleid mit Hosenrock an und eine rote Kunststoffkappe auf dem Kopf, die dem Haarschnitt der 20er/30er Jahre ähnelt. Im Kostüm der Mutter setzt die Kostümdesignerin Maria Roers eine ironische Bemerkung aus der entsprechenden Regieanweisung um, die das Äußere der Mutter Puzyreva folgendermaßen charakterisiert: "Sie trägt eine Frauenrüstung" - das Kleid der Schauspielerin 'schmückt' ein schwarzer Brustlatz. Ihre Gesichtszüge, besonders die Augen, sind durch eine futuristische Maske betont: mit Kajal gemalte Augenbrauen, eine dunkel abschattierte Augenpartie, und rote Lippen im weiß geschminkten Gesicht. Der Vater Puzyrev trägt einen schwarzen Frack und ein weißes Hemd, dazu einen weißen Schal und einen Zylinder, unter dem eine weiße Kunststoffkappe zu sehen ist. Das kurze Gespräch des Körpers des ermordeten Mädchens mit ihrem Kopf, mit dem Vvedenskij das dritte Bild schließt, stellt einen der interessantesten Einfalle

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dar, die Karin Beier in dieser Inszenierung erfunden hat. Aus dem dunklen Kosmos der Bühne taucht Petja Perov auf, der in dieser Szene die Sprechpartie des 'Körpers' übernimmt. Er kommt von hinten zu der mit dem Kopf in der Hand stehenden 'Leiche' Sonjas und umarmt sie. Die beiden unterhalten sich kurz miteinander: Die Darstellerin der 'Leiche' spricht dabei als der 'Kopf und Petja als 'Körper', worauf der 'Körper' Petja Sonjas 'Leiche' auf den Arm nimmt und mit ihm die Bühne verläßt. Im vierten Bild erscheinen auf der Bühne zwei Mini-Büros - zwei Bürostühle auf Rollen und zwei Rolltischchen mit dem ganzen Bürobedarf, mit Büchern und sogar mit der Zeitung 'Pravda' und einer Flasche Wodka darauf. An diesen Tischen sitzend rollen der Schreiber (Mat Ador) und der Wachtmeister (Karin Pfammater). Die beiden haben graue Militärmäntel an mit weißen Flecken, die Schneeflocken darstellen - eine groteske Anspielung auf die Winterzeit. Das Gesicht des Schreibers ist durch einen grotesken spärlichen Spitzbart 'ausgezeichnet'. Auf dem Kopf hat er eine Militärmütze, während der Wachtmeister eine Pelzmütze trägt. Den zusammenhangslosen Dialog der beiden, die aneinander vorbei sprechen, unterbricht der Auftritt des Polizeihauptmanns (Peter Albers), der mit einer russischen Vorkriegsmilitäruniform mit Medaillenschmuck und einer Militärmütze mit rotem Band bekleidet ist. Er demonstriert eine bis ins Groteske überzogene militärische Haltung und schreitet im Stechschritt, seine Beine hoch wie im Ballett werfend. Das Bild, das als Slapstick beginnt, gewinnt bald durch die Choreographie und akustische Effekte tragische Töne. Der Polizeihauptmann meldet den Auftritt der 'Mörderin', die unter Kettengerassel erscheint, die Arme durch einen Strick gebunden und hoch über den Kopf erhoben, in Begleitung von Männern in schwarzen Hosen, weißen Hemden und Westen, und eines Kochs in blutverschmierter Schürze - die Umsetzung der Regieanweisung von Vvedenskij: "Soldaten, Diener, Köche, und Griechisch- und Lateinlehrer schleppen die Amme herein [...]."" 7 Die Prozession führt Petja Perov an. Der Schauspieler hält in der linken Hand eine preußische Pickelhaube, auf die er mit einem Stock schlägt. Diese bedrohlichen Schläge, das Gerassel der Ketten, die stakkato-artige Klaviermusik und die Choreographie, in der die Amme sich bewegt - sie läuft unter den freudigen Ausrufen des Polizeihauptmanns: "Man wird Sie hinrichten. Bei Gott, man wird Sie hinrichten!" hastig hin und her - , das alles ruft eindeutige Assoziationen mit einem Lager oder einem Gefängnis hervor. Den Übergang zum fünften Bild im Irrenhaus deutet eine Kakophonie von Klängen an, die der Pianist, chaotisch auf die Klaviertasten hämmernd, produziert, von Stockschlägen Petjas auf den Helm, den er sich jetzt auf den Kopf gesetzt hat, und dem Gekicher der Anwesenden, die sich synkopisch zuckend über die Bühne bewegen. Die Männer, die die Amme am Anfang der Szene auf die Bühne geführt haben, ziehen sich bis auf die Unterhose aus, heben die Amme hoch und verlassen mit ihr die Bühne. Der Regisseurin gelingt es, die Absurdität der Situationen, die jedem Bild des Stückes zugrunde liegen, virtuos auf die Bühne umzusetzen und sogar zu verschärfen. Das fünfte Bild beginnt mit einem exzentrischen Einfall. Da die Regieanweisung zu diesem Bild mitteilt, daß der Irrenarzt "an der Brustwehr steht" 118 und mit der Pistole auf einen Spiegel zielt, wird in der Inszenierung das

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Weihnachten bei Ivanovs, S. 387. Ebd., S. 388.

im Hintergrund der Bühne bis zur Hälfte hervorschauende Rad als Spiegel verwendet: Es ist mit glänzender Folie bespannt. Wenn der Irrenarzt (Peter Albers) auf diesen 'Spiegel' schießt, zerreißt die Folie, und aus dem Loch tritt der 'steinerne Sanitäter', Horst Mendroch, sonst der Darsteller Petja Perovs. Er trägt dieselbe Strickhose wie Petja, auf dem Kopf hat er die Pickelhaube, mit der der Schauspieler schon im vorhergehenden Bild hantierte, seine Beine stecken in 'eisernen', bis auf die Oberschenkel reichenden und an zwei Urnen erinnernden Stiefeln, und in der Hand hält er eine Lanze. Die Amme kriecht mit homerischem Gelächter auf der Bühne umher, von hohen Trillern am Klavier begleitet. Gleichzeitig erscheint Sonja in der Tiefe der Bühne und beginnt mit einem Springseil zu hüpfen. Das Seil schlägt dabei immer schneller auf den Boden, und diese Schläge wirken akustisch wie Peitschenhiebe. Die Amme bedeckt ihren Kopf mit der Schürze, als ob sie sich vor den Hieben schützen wolle. Sie steht auf, ihr Gesicht verzerrt sich vor Schmerz, und die Schläge werden noch stärker und erbarmungsloser. Als der Arzt den Gesundheitszustand der Amme begutachtet, untermalt chaotisches Hämmern auf die Klaviertasten die Szene. Die Inszenierung setzt einige im Text des Stückes vorhandenen Metaphern um, was das Groteske des Bühnengeschehens verschärft. Auf eine solche Illustration stößt man z.B. schon im dritten Bild, in dem die Darstellerin einen schwarzen Brustlatz als "Frauenrüstung" über dem Kleid trägt. Eine weitere gelungene Illustration weist die Schlußszene des fünften Bildes auf, in der der Arzt seine Diagnose, die Amme sei gesund, damit motiviert, daß sie eine 'Gesichtsfarbe' habe. Dabei streicht der Arzt der Amme mit der Hand über das Gesicht und färbt es rot, dann schickt er sie zur Hinrichtung. In dieser Szene wird die enge Verbindung zwischen Komischen und Tragischen besonders augenfällig, und es kommt der wahre Sinn des Geschehens zum Ausdruck. Hinter den komischen Einfällen steckt die Geschichte der Folter und der allmählichen Vernichtung eines Menschen durch die verschiedenen staatlichen Instanzen. Die Zugehörigkeit des Irrenarztes zur großen Unterdrückungs-Maschinerie des Staates verdeutlicht sein Kostüm: Unter dem Ärztekittel trägt er eine grüne Militärhose und Stiefel. Als weiterer Ruhepunkt der Inszenierung kann das sechste Bild gelten. Ihm zugrunde liegt eine Situation, die sich schwerer als alle anderen Situationen des Stückes in einen logischen Zusammenhang einordnen läßt. Fedor, der Bräutigam der Amme, erscheint mit "aus unerfindlichen Gründen" 119 verbundenen Augen, in einen Frack gekleidet und mit einer Schachtel Pralinen in der Hand beim Dienstmädchen der Puzyrevs, und erst nach einem Liebesakt mit ihr stellt er fest, daß sie gar nicht seine Braut ist und klagt, daß deswegen für ihn jetzt die ganze Welt uninteressant geworden sei. Als Heilmittel für seine Frustration beschließt er, Latein zu lernen und Lehrer zu werden. In der Inszenierung ist dieses Bild gekennzeichnet durch den Versuch, die Anti-Logik des Geschehens zu korrigieren. Fedor (Matthias Leja) erscheint auf der Bühne mit einer schwarzen Augenbinde, bekleidet mit einem schwarzen Frack, unter dem ein weißes Hemd und eine rote Weste zu sehen sind, mit einem Zylinder auf dem Kopf. Statt der zum Frack gehörenden schwarzen Hosen trägt er weiße Shorts, die seinem ganzen Aussehen eine groteske Note verleihen. Karin Beier schafft es, mit einigen amüsanten und derben Slapsticks, die sie Ebd., S. 390. 118

in die Handlung eingebaut hat, die Unterhaltsamkeit dieses Bildes zu steigern. Sie läßt Fedor verbissen und mit ans Komische grenzender Langsamkeit die mehrfach in Zellophan eingewickelte' rote Pralinenschachtel mit entsprechendem Knistern auspacken. Als er die Schachtel endlich 'befreit' hat, macht er sie auf und bietet dem Dienstmädchen 'Pralinen' an, in der Schachtel liegt jedoch nur Würfelzucker. Er lockt sie mit diesem Würfelzucker, indem er auf dem Boden eine Linie damit legt, die aus der Tiefe der Bühne nach vorne fuhrt. Das Dienstmädchen (Caroline Ebner) - blauer knielanger Rock, weiße Strümpfe, weiße kurzärmelige Bluse, blonde lokkige Haare, die eine im Farbton zu den Haaren passende gelbe Plastikkappe 'schmückt', und mit rotem Lippenstift betonte Lippen - setzt sich über einen Würfel und rutscht, die Würfel nacheinander auf diese Weise 'vernaschend', zu Fedor, der mit dem Rest des Würfelzuckers, einen davon in den Zähnen haltend, auf der Vorderbühne sitzt. In ihrem Versuch, die Situation deutlich zu machen und das plötzliche Auftauchen Fedors im Schlafzimmer des Dienstmädchens zu motivieren, führt Karin Beier in diesem Bild, in dem nur zwei Personen - Fedor und das Dienstmädchen - wirken, auch die Amme, Fedors Braut, ein. Sie erscheint in Begleitung lyrischer Klaviermusik, in der Glöckchen zu hören sind, auf der Bühne, nimmt einen Zuckerwürfel vom Boden auf und verzehrt ihn mit Genuß. Fedor kommt zu ihr - immer noch mit verbundenen Augen - , und während das auf dem Boden sitzende Dienstmädchen nach ihm die Arme ausstreckt, küßt er die Amme lange auf den Mund, worauf sie wieder verschwindet. Er steht einige Augenblicke träumerisch still, und das Dienstmädchen fordert ihn, während sie ihre Bluse aufknöpft, auf, sich auszuziehen und sich auf sie zu legen. Die beiden machen auf dem Boden eindeutige erotische Bewegungen, worauf Fedor endlich das Band von den Augen abnimmt und feststellt, daß das Dienstmädchen nicht seine Braut ist. Dadurch, daß die Regisseurin in dieser Szene die Amme auftreten läßt, erklärt sie die ganze Situation und macht dieses Bild zur Situationskomödie. Die Verwechslung, die in diesem Bild geschieht, wird plausibel, wenn der Pianist am Anfang dieses Bildes folgende Regieanweisung liest: "Ein Korridor. Hier Türen. Und hier Türen. Es ist dunkel. Fedor, der Holzfäller, Bräutigam der Amme, die Sonja Ostrava erschlagen hat, geht im Frack, mit einer Schachtel Pralinen in der Hand den Korridor entlang. Aus unerfindlichen Gründen sind ihm die Augen verbunden." 120 Aus dieser Anweisung kann man schließen, daß Fedor sich mit verbundenen Augen in dem dunklen Korridor verläuft und das Dienstmädchen für seine Braut hält. Das siebte Bild wird in seinem Lakonismus der Farben und der Choreographie zu einem Augenschmaus. Der Hund Vera (Petra Redinger) tritt auf allen Vieren von links auf die Bühne, von hämmernder Musik begleitet, und rollt vor sich parallel zur Rampe einen roten Läufer aus. Ihm folgt Sonjas kopflose 'Leiche', die auf dem Läufer langsam entlang schreitet, bis sie die Mitte der Bühne erreicht, dann dreht sie sich zu den Zuschauern und bleibt stehen. Der Hund Vera kommt auf allen Vieren zur Leiche, setzt sich, den Zuschauern zugewendet, und singt mit hoher Stimme in der Manier eines Gassenhauers seine gereimte Sprechpartie, die hauptsächlich von einer Leiche und dem Tod handelt. Zu beiden gesellt sich Petja hinzu, der ebenfalls auf allen Vieren, mit einem Kopfkissen unter dem Arm, auf die Bühne herauskriecht, sich mit gespreizten Beinen, das Kissen umarmend, auf der Vorder120

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bühne mit dem Gesicht zum Publikum setzt und zu philosophieren anfangt. Beeindruckend sind in diesem Bild sowohl die Choreographie - die Schauspieler bewegen sich hauptsächlich auf dem roten Läufer, frontal zu den Zuschauern - als auch die Farbpalette, in der Weiß und Rot dominieren. 'Die Leiche' erscheint genau wie im dritten Bild in einem weißen Gewand. Der Hund Vera trägt ein bodenlanges ärmelloses rotes Abendkleid und eine rote Plastikkappe auf dem Kopf, auch sein Gesicht und die Arme sind rotgefärbt. Zum Höhepunkt der Karnevalisierung wird das neunte Bild der Inszenierung, dessen Handlung während einer Gerichtsverhandlung spielt. Unter kakophonisch hämmernder Klaviermusik, deren Rhythmus der Pianist mit einer Trillerpfeife angibt, erscheint auf der Bühne, auf der Stühle durcheinander stehen, die Amme mit gebundenen, hochaufgehobenen Armen im Begleitung von Petja Perov und fünf Richtern mit Krücken - eine Metapher aus der Regieanweisung zum achten Bild: "Richter in Krücken, Richter in Perücken", die die Regisseurin auf der Bühne umsetzt. Während Petja sich neben der Amme auf einen Stuhl stellt, einen anderen Stuhl nimmt und, die Stuhlbeine zu den Zuschauern haltend, unter die Sitzfläche mit Kreide ein Zifferblatt zeichnet, hinken um die beiden herum die Richter auf ihren Krücken in einem grotesken Totentanz. Ihre Kostüme und Masken lassen uns an futuristische Ästhetik denken: Sie tragen graue, rückwärts zu schließende, bodenlange Kittel, auf denen schwarze kyrillische Buchstaben gezeichnet sind, und Zylinder. Ihre Gesichter sind weiß geschminkt, die Augen und Augenbrauen mit schwarzem Kajal betont, ihr Kinn 'schmücken' schwarze Spitzbärte aus Papier. Zwei von den Richtern 'sterben' nacheinander, dabei auf den Boden fallend, stehen sofort wieder auf und fuhren ihren grotesken Tanz fort. In der Mitte der Bühne werden parallel zu Rampe sechs Stühle so aufgereiht, daß zwischen den drei linken und den drei rechten ein leerer Raum bleibt. Die Richter nehmen Platz, die Amme stellt sich im Hintergrund in die Lücke zwischen den Stühlen, und Petja setzt sich neben den Richtern auf den letzten Stuhl rechts. Die Gerichtsverhandlung beginnt mit der akustischen Umsetzung des nächsten Satzes der Regieanweisung: "Insekten hüpfen herum", die an einen der berühmten Lazzi der Commedia dell' arte erinnert. Petja Petrov beginnt zu summen, daraufhin verfolgen alle Richter mit den Augen ein imaginäres Insekt und versuchen es zu fangen. Gleich danach wird die Sache 'Koslov gegen Oslov' - als ein Gedicht in der Art eines Abzählreimes - vom Gerichtssekretär vorgelesen. Hier setzt die Regisseurin noch eine starke karnevalistische Note. Sie präsentiert einen karnevalistisch-grotesken Körper, indem sie die Rolle des Gerichtssekretärs von zwei Darstellern spielen läßt, die als siamesische Zwillinge gekleidet sind: Jost Grix und Karin Pfammatter, die in dieser Rolle auftreten, sind durch eine graue Jacke 'vereint'. Sie tragen identische Brillen und Frisuren, und durch die Schminke erhalten ihre Gesichter eine erstaunliche Ähnlichkeit. Die karnevalistische Welt, die uns in der Inszenierung präsentiert wird, ist verkehrt. Das erklärt auch, warum die von den Richtern zum Tode verurteilte Amme im neunten, letzten Bild, als ob nichts passiert wäre, wieder auf der Bühne erscheint. Die Regieanweisung zu diesem Bild wird von Petja Perov vorgelesen. Dabei zeichnet er wieder mit Kreide ein Zifferblatt, diesmal neben der Blutlache auf dem Bühnenboden, und verkündet damit das kollektive Sterben. Die Kinder treten von der Amme begleitet auf und warten auf den Tannenbaum, der - wie Godot im Stück von Beckett - nicht vorhanden ist. Trotzdem äußern sie ihre Bewunderung

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fur ihn, mit traurigen Stimmen. Die Mutter singt ein melancholisches Weihnachtslied, und alle nacheinander 'sterben': Die Darsteller erstarren mit offenen Mündern, herausfallenden Zungen und verzerrten Gesichtszügen, in grotesken Posen stehend und sitzend. Als einziger Lebender bleibt Petja übrig. Er geht zwischen den 'Leichen' umher und schaut jedem traurig ins Gesicht. Danach setzt er sich auf die Vorderbühne und liest einen Auszug aus einem philosophischen Essay von Vvedenskij: "Die Zeit geht über uns auf wie ein Stern. Sie verwandelt alles in Null. Die Zeit hat ihre Ereignisse verschlungen. Nicht einmal Knochen werden bleiben. Alles zerfallt in letzte sterbliche Teile. Die Zeit frißt die Welt auf. Ich würde für mein Leben gern sterben, schrecklich gerne. Jetzt. Jetzt." Mit disem Requiem an die Zeit endet die Inszenierung.

4.3.5. Japanisches 'Bunraku' läßt grüßen: Weihnachten bei lvanovs am Maxim Gorki Theater Berlin Zehn Tage vor Weihnachten 1995, am 14. Dezember, wurde das Weihnachtsstück von Vvedenskij auf der kleinen Studiobühne des Berliner Maxim Gorki Theaters in Koproduktion mit der Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch' durch zwei Regiestudenten, Tom Kühnel und Robert Schuster, aufgeführt. Die Regisseure boten mit ihrer Inszenierung wieder einen anderen Blick auf das Stück. Durch die Besetzung der Rollen der Kinder und der Tiere mit Puppen schlugen sie eine Brücke zur Zeit der Handlung des Stückes - die Jahrhundertwende und hatten dabei die gegen die naturalistische Ästhetik gerichteten Theaterexperimente im europäischen Theater Anfang des 20. Jahrhunderts im Blick: Führende abendländische Theatermacher suchten damals nach einem neuen theatralen Code, der es ermöglichen sollte, das in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene symbolistische Drama auf die Bühne zu transponieren, ohne es auf die naturalistische Fährte zu setzen. Einer der Schwerpunkte in der Diskussion über das Theater der Zukunft war der Schauspieler, der in der Lage sein sollte, das symbolistische Drama seiner Spezifik entsprechend über die Rampe zu bringen. Als idealer Darsteller wurde dabei die Marionette angesehen.121 "Die Zeit, die vom Tod beherrscht

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Zugunsten der Marionette äußern sich sowohl die symbolistischen Dramatiker als auch ihre Interpreten, die Regisseure. Maurice Maeterlinck schreibt drei Theaterstücke für Marionetten -Alladine und Palomides (1994), Im Innern (1894) und Der Tod des Tintagiies (1894). Lunge Poe, dem es gelingt, Maeterlincks Stücke für die Bühne zu gewinnen, eröffnet 1893 in Paris das Theatre l'CEuvre, in dem er eine Schauspielkunst proklamiert, der das Spiel von Marionetten und Pantomimen zugrunde liegen soll (vgl. Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas, Bd. 9, Salzburg 1970, S. 83). - Alfred Jarry bevorzugt ebenfalls die Marionette gegenüber dem Schauspieler, wenn es um die Bühnenumsetzung seiner Stücke geht. In seiner Ansprache zu den Mitwirkenden der Auffuhrung seines Stückes König Ubu im Theatre de l'CEuvre macht er Vorschläge, die dem Ensemble helfen sollen, zu einem richtigen Marionettentheater zu werden (Alfred Jarry: Ansichten über das Theater, Zürich 1970, S. 34). - Die Faszination der Kunst der Marionette nimmt auch einen wichtigen Platz in den Überlegungen Edward Gordon Craigs über das Theater der Zukunft ein. In der Ablösung des Schauspielers durch die Marionette sieht er den Weg zur weiteren Entwicklung der modernen Bühne, die durch die naturalistischen Darstellungsformen in eine Sackgasse geraten war (Edward Gordon Craig: Der Schauspieler und die Übermarionette, in: Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 51-73).

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wird, und der Raum, der aus dem Nichts ausgespart ist," schreibt Hans-Peter Bayerdörfer in seinem Artikel, der der Rolle der Marionette im symbolistischen Theater gewidmet ist, "läßt sie [die Figuren des symbolistischen Dramas - SL] zu Drahtpuppen werden, Chiffren einer Entpersonalisierung, einer restlosen Determination. Es ist nur folgerichtig, daß reale Aufführungen mit Marionetten versucht wurden." 122 Weihnachten bei Ivanovs von Vvedenskij läßt sich auch im Kontext des symbolistischen Dramas deuten. Man kann nicht ausschließen, daß Vvedenskij, als er sein Stück schrieb, dabei an Maurice Maeterlinck, einen der Hauptvertreter der symbolistischen Dramatik, gedacht hatte. Weihnachten... erinnert sowohl atmosphärisch als auch in einigen Strukturelementen und Sujetkonstellationen an Maeterlincks Dramen. Als Anspielung an die Entstehungszeit der frühen Dramen Maeterlincks kann man die Regieanweisung interpretieren, mit der Vvedenskij das Personenregister abschließt: "Das Stück spielt in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts". Die 90er Jahre sind die Entstehungszeit der frühen Theaterstücke Maeterlincks. Die Dramen von Maeterlinck gelten als Stücke "der Todeserwartung, deren einziges Geschehen die Ankunft des Todes bildet. Die Situation des Wartens wird dem Zuschauer symbolisch und emotional nahegebracht, in der Weise, daß eine ständig sich verdüsternde Atmosphäre zusammen mit einer zunehmenden inneren Erregung der Bühnenfiguren - mystische 'correspondances' von Unbewußtem und Kosmischem - auf den Eintritt des Unfaßbaren vorbereitet." 123 Die Todeserwartung ist auch das Leitmotiv von Weihnachten... V o m Tod wird bereits in der ersten Sprechpassage des Stückes gesprochen. "Bekommen wir einen Tannenbaum?" fragt der ljährige Petja Perov. "Ja. Und plötzlich bekommen wir keinen. Plötzlich werde ich sterben." 124 Das Warten auf den Tod läßt Vvedenskij in der ersten Szene des Stükkes in Erfüllung gehen - das Mädchen wird mit einem Beil erschlagen - , vom Tod ist die Rede in allen Bildern, und zum Schluß des Stückes kommt der Tod in Gestalt des Tannenbaums, unter dem alle Personen sterben. Auch Ort und Zeit der Handlung von Weihnachten... kann man als Parodie auf das symbolistische Drama betrachten. "Die Gestaltung von Ort und Zeit wie auch die der Personen ist von vornherein auf transzendierende Aussage, auf Ablösung von Aktion und Geschehen, insgesamt auf Abstraktion angelegt. Der Raum ist ein symbolisch präsentiertes Überall, der Zeithorizont verliert jede konkrete Datierbarkeit und läßt ein übergeschichtliches Jederzeit durchscheinen", 125 so charakterisiert Hans-Peter Bayerdörfer die ersten Dramen Maeterlincks. Ähnliche Tendenzen sind in Weihnachten... konstatierbar. Der Raum in Weihnachten... ist, trotz konkreter Gegenstände, mit denen er laut Regieanweisungen ausgestattet ist, aufgelöst, wie auch die Zeit, trotz konkreter Zeitangaben. Einige Stellen im Text kann man als Zitate aus dem in Rußland dank der Inszenierung am Moskauer Künstlertheater berühmt gewordenen Stück von Maeterlinck,

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Hans-Peter Bayerdörfer: Eindringlinge, Marionetten, Automaten. Symbolistische Dramatik und die Anfange des modernen Theaters, in: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Neue wissenschaftliche Bibliothek Literaturwissenschaft, Haustein 1981, S. 195. Ebd., S. 194. Weihnachten bei Ivanovs, S. 376. Bayerdörfer, Eindringlinge, Marionetten, Automaten, S. 194.

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seinem Märchen Der blaue Vogel, interpretieren. 126 Die Handlung von Weihnachten... beginnt genau wie Der Blaue Vogel am Weihnachtsabend. Vvedenskij macht den Holzfäller Fedor, den Bräutigam der Amme, zu einer der Nebenpersonen seines Stückes, was man als eine Anspielung auf Der blaue Vogel ansehen kann, denn der Vater der beiden Kindern Tyltyl und Mytyl ist auch Holzfäller. In der ersten Szene des Stückes, im Gespräch der Zauberin mit Tyltyl und Mytyl, stoßen wir auf eine weitere für uns interessante Sujetkonstellation. Die Kinder erzählen der Zauberin, daß sie sieben weitere Geschwister haben - drei Jungen und vier Mädchen - die alle aber gestorben sind. 127 Bei Vvedenskij werden ebenfalls sieben Kinder zu den handelnden Personen - drei 'Jungen' und vier 'Mädchen', die alle sterben. Zu den Nebenpersonen des symbolistischen Märchens von Maeterlinck gehören eine sprechende Katze und ein sprechender Hund. In Weihnachten... tritt in einigen Szenen der sprechende Hund Vera auf. Die Bezüge auf Maeterlinck im Stück von Vvedenskij lassen sich also leicht nachweisen. Das hat vermutlich auch die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster zu der Idee inspiriert, in der Inszenierung Puppen zu verwenden. In der Absicht, das Groteske des Stückes zum Ausdruck zu bringen, lassen die beiden Regisseure Puppen zusammen mit lebendigen Darstellern agieren, und tragen damit zu einem der interessantesten Kapitel des abendländischen Theaters bei. 128 Das Programmheft präsentiert auf den ersten Seiten Der Knabe bei Christus, eine düstere Weihnachtsgeschichte von Dostoevskij, die von Puppen, die an lebendige Kinder erinnern, von toten Kindern und von einem mystischen Weihnachtsfest erzählt, und wird so zu einer Einführung in die Atmosphäre der Inszenierung. Die Zahl der handelnden Personen der Berliner Inszenierung ist im Unterschied zu den zwei in diesem Kapitel analysierten Inszenierungen von Weihnachten... merklich gekürzt. Von sieben im Originaltext erscheinenden Kindern sind in der Berliner Produktion zwei gestrichen worden: die 17jährige Varja Petrova und der 25jährige Volodja Komarov. Statt drei Holzfällern tritt hier nur einer auf. Außerdem sind aus der Personenliste der Gerichtssekretär, der Polizist, der Sanitäter und die verrückten Patienten verschwunden. Während die Regisseure der Hamburger und Düsseldorfer Inszenierungen keine wesentliche Veränderung des Textes vorgenommen hatten, ist die von Tom Kühnel und Robert Schuster unter Mitarbeit von Dagmar Kresse verfasste Spielfassung der Berliner Produktion durch einige Streichungen und Veränderungen in der chronologischen Folge mehrerer Szenen gekennzeichnet. Alle Regieanweisungen werden, 126

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Maeterlinck gab die Rechte für die Uraufführung seines 1908 verfaßten Theaterstückes Der blaue Vogel an Stanislavskij, der das Stück am 30. September 1908 im Moskauer Künstlertheater zur Premiere brachte. Man kann fast mit Sicherheit annehmen, daß diese berühmte Inszenierung Vvedenskij bekannt war. Maurice Maeterlinck: Der blaue Vogel, Berlin 1910, S. 24. Die ersten Experimente im Zusammenwirken von Schauspielern und Marionetten auf der Bühne - sogenannte 'Mischform'-Inszenierungen - kommen in Deutschland in den 50er Jahren zustande. Die bedeutenden Arbeiten auf diesem Gebiet entstehen in den 70er Jahren. Als Beispiele dafür sind Peer Gynt unter der Regie von Peter Stein und die beiden Teile von Faust unter der Regie von Claus Peyman zu nennen. Zur Problematik des Zusammenwirkens von Puppe und Schauspieler in Theaterproduktionen siehe die Magisterarbeit von Sabine Schmidt: Dialogisches und gestisches Zusammenspiel von Schauspieler und Puppe, Ludwig-Maximilians-Universität München 1998. 123

- außer einigen Sätzen, die in die Sprechpartien der Personen eingearbeitet wurden, - aus der Spielfassung eliminiert. Mit den Regieanweisungen verschwinden auch die Uhrzeiten aus der Spielvorlage. Damit wird die symbolistische Undatierbarkeit des Zeithorizontes pointiert, die sich im Stück ursprünglich konstatieren läßt. Die Spielfassung hat keine Einteilung, weder in Akte noch in Bilder. Sie beginnt mit zwei Sätzen - der erste Satz ist aus der Regieanweisung zum ersten Bild, der zweite aus der Regieanweisung zum zweiten Bild des Stückes - , die vom ersten und zweiten Koch gesprochen werden. Der erste Koch verkündet die Zeit der Handlung: "Es ist Heiligabend", und der zweite teilt mit, daß die Holzfäller im Wald Tannenbäume schlagen. Dann verlegen die Regisseure die Handlung des Stückes auf das Polizeirevier. Der Schreiber und der Wachtmeister sprechen einige Sätze aus der Regieanweisung zum zweiten Bild im Wald, die das Vorweihnachtswetter beschreiben. Danach wird die Handlung in den Haushalt der Puzyrevs verlegt. Hier findet ein kurzer Dialog zwischen Petja und der Amme statt, mit dem in der Textvorlage das erste Bild beginnt, worauf der Ort der Handlung wieder wechselt: Die Holzfäller singen im Wald ihre Hymne. Nach der Hymne kehrt die Handlung ins Haus der Puzyrevs zurück. Die Regisseure behalten den ganzen Text des ersten Bildes bei, nehmen allerdings einige Veränderungen vor: sie gehen mit einzelnen Worten und Sätzen frei um - so wird z.B. der nah am Original übersetzten, gereimten Sprechpartie des Polizisten, der nach seiner Ankunft die Kinder fragt, was ihre Eltern im Theater ansehen, durch Vereinfachung der ursprüngliche Rhythmus und die ironische Färbung entzogen. In der dramatischen Vorlage, von Peter Urban übersetzt, steht: "Wie angenehm, wie nett, / wenn man doch immer nur / ein Publikum zu schützen hätt / mit solch einer Kultur."' 29 Die Spielfassung bietet hingegen folgendes: "Es ist sehr angenehm, / Gebildete Leute zu sehen." 130 Der folgende Text des zweiten Bildes bleibt bis auf die Szene, in der die wilden Tiere erscheinen, fast unverändert. Der Auftritt der Tiere wird ans Ende des Schlußbildes der Inszenierung übertragen. Nach dem Abtreten der Holzfäller spielt die Handlung für einige Augenblicke im Polizeirevier. Der Schreiber spricht zwei Sätze aus der Regieanweisung zum dritten Bild, dessen Handlung neben Sonjas Sarg spielt: "Nacht. Den Fluß hinab schwimmen Lichter." 131 Darauf folgt die Dialogpassage zwischen Vater und Mutter Puzyrev aus dem dritten Bild, die mittendrin durch die Dialogpassage aus dem vierten Bild zwischen dem Schreiber und dem Wachtmeister unterbrochen wird, in der wiederum ein Satz 'auftaucht', den die Mutter Puzyreva, während sie sich dem Vater Puzyrev auf der Sofa hingibt, spricht. Danach wird der Dialog zwischen dem Schreiber und Wachtmeister fortgesetzt. Die im Original vorgegebene Chronologie des Textes wird gebrochen durch die Unterbrechung der Dialogpassagen eines Bildes mittels Passagen oder einzelner Sätze aus einem anderen Bild - eine für die Spielfassung charakteristische Tendenz. Die Bühne (Bühnenbildner Jan Pappelbaum) erinnert an ein Puppenhaus mit fünf Fenstern, in denen sich fünf verschiedene Schauplätze befinden: Ein größeres Fenster in der Mitte und vier kleinere - zwei links und zwei rechts übereinander montiert. Das mittlere, größere Fenster ist am Anfang der Inszenierung mit einem 129 130 131

Weihnachten bei Ivanovs, S. 378. Spielfassung Maxim Gorki Theater Berlin, S. 5. Ebd., S. 7.

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Vorhang, auf dem eine Couch gezeichnet ist, verdeckt. Im oberen Fenster links stehen zwei Tische, am linken sitzt der Schreiber mit einer aufgeschlagenen Zeitung. An der Tür im Hintergrund hängt eine Polizeimütze - hier ist das Polizeirevier untergebracht. Die Stube links unten ist mit weißen Kacheln verkleidet. Dort steht am Anfang der Inszenierung ein Mann im weißen Kittel mit einer Spritze, der den von oben herunterhängenden weißen Vorhang zuzieht und sich damit von den Zuschauern isoliert. Man kann vermuten, daß sich in dieser Stube das Irrenhaus befindet. Rechts oberhalb des zentralen Fensters ist eines mit einem Richtertisch und einer Anklagebank: Es stellt den Gerichtssaal dar. Im Fenster rechts unten stehen zwei verschneite Tannenbäume, unter denen die zwei Holzfäller in gesteppten grauen Jacken und Ohrenklappenmützen sitzen: Das soll der Winterwald sein. Unter den Gegenständen in den Fenstern gibt es keine Uhr. Nicht nur die Zeitangaben, die im Originaltext eine verwirrende Funktion haben, sondern auch jede visuelle Erinnerung an den Zeitverlauf ist aus dem Inszenierungstext eliminiert worden war. Die Aufführung wird damit angekündigt, daß der Vorhang im Mittelfenster hochgeht und den Blick auf einen 'Salon' im Hause Puzyrev freigibt: In der Mitte steht eine Badewanne, im Hintergrund befindet sich eine Tür, links von dieser Tür ist die Hälfte eines Sofas zu sehen. In der rechten Wand dieses Zimmers ist eine weitere Tür, daneben ein hoher Hocker mit einer Schüssel. Wenn der Vorhang hochgezogen wird, sitzt der Nachwuchs der Puzyrevs - Dunja, Misa, Nina und Sonja, vier urkomisch drollige Puppen (Puppenentwurf Suse Wächter) - in der Badewanne, zur Waschzeremonie bereit. Sonja streichelt den rechts neben der Wanne sitzenden Hund Vera. Die nackten Kinder haben schmale Körper und große Köpfe mit grotesk greisenhaften, melancholischen Gesichtern. Der Hund sieht aus wie eine englische Bulldogge. Die Szenen, in denen neben den Schauspielern Puppen wirken, sind 'dicht bevölkert'. Die Puppen werden von Puppenspielern gefuhrt, die ihnen auch ihre Stimmen leihen. Alle Puppenspieler sind von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet, sie tragen schwarze Hemden, schwarze Hosen und schwarze Masken, die ihre Gesichter verbergen. Hier läßt sich eine Inspiration durch das japanische 'Bunraku' konstatieren. 132 Die Handlung beginnt im Mittelfenster. Während die Kinder ihre Köpfe drehen und voll Neugier gegenseitig ihre Körper betrachten, erscheint aus der Tür rechts der erste Koch (Frank Seppeier), der den Hund erst streichelt, ihn dann aber vom Boden aufhebt und aus dem Zimmer trägt. Der zweite Koch (Pascal Lalo) kommt aus der rechten Tür mit zwei Hühnern herein und verschwindet links, in Richtung des Sofas. Den gleichen Weg geht der aus der Tür rechts auftretende erste Koch, der in der Hand ein Beil trägt. Von links, wo die Köche sich aufhalten, ist Gackern zu hören, das plötzlich durch zwei Schläge des Beils unterbrochen wird. Die Köche erscheinen wieder, dabei wischt der eine seine Hände an einem Handtuch ab, der andere das Beil. Die beiden bücken sich über die Wanne und verkünden dabei den 132

Die Puppenspieler im 'Bunraku'-Theater tragen schwarze Kimonos, ihre Köpfe sind mit schwarzen Kapuzen aus durchsichtiger Gaze bedeckt. Eine Puppe wird von drei Spielern bedient: von dem Haupt- (omozukai), den Linkehand- (hidarizukai) und dem Fuß-Puppenspieler (ashizukai) (Japanisches Theater. Tradition und Gegenwart, hg. von Sang-Kyong Lee, Wien 1990, S. 59-72). - Im Gegensatz zum 'Bunraku' wird in Weihnachten... eine Puppe von nur einem Puppenspieler geführt. In der Waschszene bedienen drei Spieler vier in der Badewanne sitzende Kinder.

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Kindern, daß Heiligabend sei, und daß die Holzfäller Tannenbäume im Wald schlügen. Die Köche erstarren, und das Bild links oben belebt sich fur kurze Zeit. Durch die Tür kommt der Wachtmeister (Atif Hussein) in das Polizeirevier. Er hängt seine Polizistenmütze an die Tür und nimmt am Tisch Platz. Zwischen ihm und dem Schreiber findet ein kurzer Dialog über Schnee und Tannenbäume statt, worauf sie erstarren, und die Handlung wird wieder zu den Puzyrevs verlegt. In der Badeszene wirkt in der Inszenierung nicht nur die Amme (Winnie Böwe), sondern auch das Dienstmädchen (Katja Kolm) mit. Sie kommt aus der Tür links mit Petja auf dem Arm herein, setzt ihn in die Schüssel und beginnt ihn zu waschen. Die Amme tritt von links auf und stellt sich hinter die Badewanne. Die beiden Frauen tragen ähnliche bodenlange Dienstbotenkleider mit schwarzweißen Streifen, das Dienstmädchen hat über dem Kleid eine weiße und die Amme eine schwarze Schürze. Nach dem kurzen Dialog zwischen Petja und der Amme erklingt eine Ziehharmonika, worauf alle Anwesenden im Hause Puzyrevs erstarren, und Fedor und ein anderer Holzfäller, die unter den Tannenbäumen im Fenster rechts unten sitzen, beginnen die Hymne zu singen. Nach dem Gesang erstarren sie, die Handlung bei Puzyrevs wird fortgesetzt und der Text des ersten Bildes wird bis zum Ende ohne weitere Unterbrechungen gespielt. Die Schlüsselszene des ersten Bildes der Mord an Sonja - wird in der Inszenierung zu einem Gag. Die Amme beugt sich über die Puppe und schlägt sechs Mal mit dem Beil auf den Hals. Die Schläge werden hinter der Kulissen mit Schlägen auf einen Holzstamm 'vertont', was die Zuschauer zum Lachen bringt. Der abgeschlagene Kopf der Puppe bleibt auf dem Boden neben der Badewanne liegen. Danach folgt sofort der Auftritt des Polizeihauptmanns (Matthias Hörnke), der durch die Tür rechts ins Zimmer stürzt. Die Dialoge zwischen den Kindern und dem Polizeihauptmann werden ohne Musikbegleitung halb gesungen, halb rezitiert. Die Amme legt ihr Schuldbekenntnis mit Sopranstimme ab. Im Unterschied zu den zwei anderen Inszenierungen von Weihnachten... ist die Berliner nur wenig musikalisch unterlegt. Eine auf einem Akkordeon gespielte Melodie (Musik Christine Schulz-Wittan) erklingt auf der Bühne drei Mal, von dieser Melodie werden die Hymne der Holzfäller, das Lied des Hundes Vera und das Weihnachtslied, das die Mutter Puzyreva zum Schluß der Inszenierung singt, begleitet. Dabei hat die Musik im ersten und im zweiten Fall Nebenfunktion, sie begleitet den Gesang, und im dritten Fall, in der Schlußszene, wird sie zur grotesken Attraktion. Als sich die Tür im Hintergrund des 'Salons' der Puzyrevs öffnet, sitzt die Mutter am Klavier, der Vater steht hinter ihr, und hinter beiden ist ein Tannenbaum. Der Vater kündigt den Kindern an, daß die Mutter spielen wird, danach hört man Akkordeonmusik. Die Inszenierung versucht, die Grenze zwischen Schauspieler und Puppe zu nivellieren, was ebenfalls groteske Effekte erzeugt. Die Annäherung des Schauspielers an die Puppe wird durch die Bewegungsregie erreicht. 133 Die Bewegungen der Darsteller sind sehr sparsam, ihre Körper statisch. Die betonte Statik der Handlung ist durch die Bühnenbildkonstruktion bestimmt. Die kleinen Zellen des Bühnenbildes lassen den Schauspielern sehr wenig Bewegungsfreiheit. Die Bühne erzeugt die Illusion, daß die in fünf Fenstern präsentierten Räume nur zweidimensional sind 133

Die Gesichter der Schauspieler bleiben dabei ungeschminkt. Keiner von ihnen trägt eine Maske, durch die die Ähnlichkeit mit der Puppe verstärkt sein könnte.

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und die Guckkastentiefe hier vermieden wurde. Die Schauspieler bewegen sich meistens auf einer Linie, was an das Jahrmarktstheater erinnert, in dem die Puppen vor einem Wandschirm agieren. Die Statik fuhrt dazu, daß jede Bewegung im Blickfeld der Zuschauer bleibt, und jede Unterbrechung dieser Statik als Gag aufgenommen wird. Zu einer solchen Unterbrechung gehört der 'Weg' der unglückseligen Amme, die zu allen Stationen ihres 'Leidenswegs' - dem Polizeirevier, dem Irrenhaus und dem Gericht - von zwei Köchen durch das Fenster rechts unten, durch den 'Wald', geschleppt wird. Die Puppe kann nicht nur als vollberechtigter Partner des Schauspielers in der Inszenierung mitwirken. In der Szene im dritten Bild, in der die Eltern Puzyrev neben dem Sarg Sonjas Totenwache halten, wird die Puppe zum Spielobjekt für die Schauspieler, was das Groteske der Szene steigert. Auf den Sarg wird in der Inszenierung verzichtet, die geköpfte Puppe liegt in der Badewanne, der Kopf liegt daneben auf dem Boden. Die Eltern (Dieter Wien und Monika Hetterle) erscheinen in der Tür links. Die Kostüme der beiden Schauspieler zeigen die für die Inszenierung allgemeine historisierende Tendenz. Die Mutter trägt ein weißes, bodenlanges Kleid mit Stehkragen und Rüschen am Rocksaum, der Vater einen schwarzen Frack, ein weißes Hemd und eine Fliege. Der Vater hebt Sonjas Kopf auf und betrachtet ihn verzweifelt, während die Mutter zu Wanne geht, den Stöpsel herauszieht und das Wasser 'ausläßt'. Dann nimmt sie Sonjas Körper aus der Wanne heraus und hilft dem Vater, den Kopf auf dem Körper zu befestigen, worauf die beiden die 'reparierte' Sonja in die Badewanne zurücklegen und wie Marionetten hinter der Wanne niederknien, ihre Hände im Gebet zusammenlegend. Die Grenze zwischen Schauspielern und Puppen fällt endgültig zum Schluß der Inszenierung, in der apokalyptischen Szene des gemeinsamen Sterbens. Die Puppen und die Schauspieler werden hier grotesk im Tod 'vereint'. Die Regisseure lassen nicht nur wie im Stück die Mitglieder der Familie Puzyrev 'sterben', sondern alle handelnden Personen. Die Leichen sind in allen fünf Fenstern zu sehen. Im Mittelfenster liegen die Kinder, das Dienstmädchen und die Köche - Puppen und Menschen durcheinander - auf dem Boden, die Eltern hängen vom Klavierdeckel herunter; im oberen Fenster links sitzen der am Tisch 'gestorbene' Wachtmeister und der Schreiber und auf dem Boden liegt der Polizeihauptmann; im linken Fenster unten liegt der 'gestorbene' Irrenarzt auf dem Sofa; über den Richtertisch im rechten Fenster oben läßt der 'tote' Richter seinen Kopf hängen; die 'Leichen' des Holzfällers Fedor und der Amme liegen im Wald unter den Tannenbäumen. Nur die von ihren schwarzgekleideten Begleitern geführten wilden Tiere - Giraffe, Wolf, Löwe und das "schweinische Ferkel" - bleiben am 'Leben'. Sie übernehmen die Herrschaft über alle fünf Schauplätze. Sie laufen zwischen den Leichen herum, heulen gedehnt, beschnuppern sie und sprechen dabei auch ihre kurzen absurden Sprechpartien, die von Zeit und Tod handeln - ein Schluß, der an die mystischen Schlüsse der symbolistischen Dramen erinnert.

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4.4. Charms auf der deutschen Bühne 4.4.1. Zur Aufführungssituation der Werke von Charms in Deutschland Im Gegenteil zu dem Drama von Vvedenskij, das in den großen deutschen Theaterhäusern aufgeführt wurde, erlebten Charms' Miniszenen, Erzählungen und sein Theaterstück Elizaveta Bam ihre Premiere hauptsächlich auf freien und Studiobühnen. 134 Das deutsche Theater beginnt Charms im Jahre 1983 zu entdecken. Am West-Berliner Künstlerhaus Bethanien findet die deutsche Erstaufführung des Stückes Elizaveta Bam im Rahmen der 38. Berliner Festwochen statt. 1986 setzt sich die Bochumer Sezession mit Charms' Texten auseinander und bringt einzelne Szenen des Dichters auf die Bühne. Wurde die erstgenannte Inszenierung in der Kritik positiv bewertet, 135 so fand die zweite keine Resonanz in der Presse. 136 Von den Rezensenten gefeiert wurde Charms erst 1988, mit der Inszenierung seiner Texte durch Ilona Zarypow am West-Berliner Zan Polio Theater. Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe, eine Montage aus Charms' Kurzerzählungen, Briefentwürfen, Dialogen, Gedichten, Gesprächsauszügen und auch einer Szene aus dem dramatischen Fragment Die Komödie der Stadt Petersburg, die die Regisseurin auf der Bühne realisierte, wurde von der Presse als eine "sensationelle Theaterarbeit", 137 eine der besten Produktionen der Berliner Theaterlandschaft' 38 und "Theaterereignis der Saison" 139 verzeichnet. Es war ein Durchbruch, der zur weiteren Etablierung Charms' im deutschen Theater führte. Obwohl Charms' Werke in den 90er Jahren nicht zu Repertoirerennern geworden sind, ist sein Name im Spielplan der deutschen Bühne pro Spielzeit zweimal oder häufiger 140 präsent. Inszeniert werden hauptsächlich seine Kurzerzählungen und Szenen. In der vorliegenden Forschung soll durch die Analyse der besonders erfolgreichen Bühneninterpretationen von Texten Charms' gezeigt werden, wie weit

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Die Statistik der ersten Charms-Inszenierungen zeigt, daß seine Texte zuerst in WestDeutschland ihre Zuhause fanden. Vgl. Was spielten die Theater? Bilanz der Spielpläne in der Bundesrepublik Deutschland 1947-1975, Deutscher Bühnenverein, Köln 1978. "Ein Theaterexperiment, das jedenfalls nicht langweilt", bemerkt Günther Grack bezüglich der Auffuhrung im Berliner Tagesspiegel (Der Tagesspiegel, 17.09.1983). Der Kritiker Hartmut Krug erinnerte einige Jahre später an die Produktion der Bochumer Sezession in seinem Artikel über eine weitere Charms-Inszenierung in der Berliner Lokalzeitung Zitty und bezeichnete die Bochumer Inszenierung als "dürftige[s] Ergebnis" (Zitty, 03.-16.11.1988). Die Wahrheit, 07.10.1988. TaZ, Berlin, 02.02.1989. Friedenauer Bote, Nr. 31, Juli 1990. Laut der deutschen Werkstatistik "Was spielten die Theater?" wurde Charms in der Spielzeit 1991/1992 zweimal auf die deutsche Bühne gebracht. Die Aufmerksamkeit der Regisseure galt seinem Stück Elizaveta Bam und der Kurzerzählungen Fälle. In der nächsten Spielzeit erschienen im Repertoire drei weitere Inszenierungen: eine von Elizaveta Bam und zwei von Fälle. In der Spielzeit 1993/1994 wurde Charms dreimal aufgeführt. Das Rampenlicht sahen seine Fälle und einige Miniszenen. In der Spielzeit 1994/1995 wurde Charms sechsmal auf der Bühne umgesetzt - einmal Elizaveta Bam und fünfmal Kurzprosa. Die nächste Spielzeit bringt noch drei neue Inszenierungen von Charms' Fälle und Miniszenen. In der Spielzeit 1996/1997 wurde Elizaveta Bam einmal und die Erzählungen zweimal inszeniert.

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diese Texte den Ansprüchen der modernen 'postdramatischen1 Bühne entsprechen und wo der Reiz dieser Texte heute liegt.

4.4.2. Ein Kaleidoskop grotesker Bilder: Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe am Zan Polio Theater Berlin Die Inszenierung von Ilona Zarypow aus dem Jahre 1988, Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe, wurde zum ersten Theatererfolg des dem deutschen Publikum praktisch unbekannten russischen Autors. "Diese Inszenierung ist ein Ereignis", schrieb nach der Premiere Hartmut Krug, der Rezensent der Berliner Zeitung Zitty. "Hier lacht man, ohne verstanden zu haben. Hier versteht man, ohne zu lachen. Hier versteht man nichts und kapiert eine Zeit. Hier lernt man irritiert."141 "Charms' 'sinnlose' Gedichte und Texte haben neue Aktualität gewonnen, sind doch hinter dem scheinbaren Unsinn Absurditäten des realen Alltags zu erkennen. Und bühnenwirksam sind diese grotesken Einfälle allemal - besonders, wenn sie so verblüffend in Szene gesetzt werden wie am Zan Polio Theater. Tempo und akrobatischer Einsatz, der bis zu Slapstick-Einlagen fuhrt, schräge Musik und präzise Choreographie, vom Revolutionsmarsch bis zum albern parodistischen Tanz des Frühlingsgottes, zeichnen die Inszenierung aus",' 42 berichtete Ortrun Egelkraut im Berliner Volksblatt. "Oft kurz und schmerzhaft, wie ein Schlag ins Gesicht, ein Tritt zwischen die Beine - so sind die Geschichten von Charms, die Ilona Zarypow für fünf verrückte Spieler arrangiert hat,"'43 faßte Rüdiger Schaper seinen gesamten Eindruck von der Inszenierung in der Berliner tip zusammen. Die Spielfassung der Inszenierung, von Ilona Zarypow zusammengestellt, schließt insgesamt 42 Texte von Charms ein. Die Collage beginnt mit einem Auszug aus Charms' Stück Die Komödie der Stadt Petersburg von 1926 und endet mit Texten vom Ende der 30er Jahre, unter ihnen der Monolog Die Rehabilitierung - einer der letzten Texte von Charms, mit 10. Juni 1941 datiert. So bietet die Spielvorlage die Möglichkeit, die Entwicklung der Poetik des Dichters zu verfolgen - von der Gründung der OBERIU-Gruppe bis zu Charms Verhaftung und seinem Tod. Das Zan Polio Theater hat keine traditionelle Guckkastenbühne. Der kleine Raum ist durch einen schwarzen Vorhang diagonal geteilt: Das Dreieck hinten steht den Schauspielern zur Verfugung, hier wird gespielt. Von der 'Bühne' durch einen schmalen Gang getrennt, sitzen die etwa einhundert Zuschauer, die das Theater fassen kann. Eine Wand des dreieckigen 'Bühnenraums' ist aus Metall, mit einer Tür, die andere ist rosarot tapeziert und hat ebenfalls eine Tür in der Mitte (Bühne Peter Schöttle). Die Ausstattung des Raums ist sehr sparsam: ein schwarzer Tisch, drei schwarze Bugholz-Stühle, zwei Hocker und ein Samowar. Trotz der Collageform der Spielvorlage stellt das Bühnengeschehen eine ununterbrochene Handlung dar. Die Mitwirkenden einer gerade gespielten Szene verwandeln sich sofort, oft ohne die Bühne zu verlassen, in die Personen der nächsten Geschichte und spielen weiter. So erinnert die Inszenierung in ihrer Struktur an die Dramen von Charms, bzw. an sein Stück Elizaveta Bam. Die Episoden, aus denen 141 142 143

Zitty, 03.-16.11.1988. Volksblatt Berlin, 26.10.1988. Tip, Nr.26, 1988.

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Elizaveta Bam besteht, haben genauso wenig einen logischen Zusammenhang und eine innere Entwicklung.144 Die Texte von Charms, die die Spielvorlage präsentiert, reflektieren die Stimmung in der Gesellschaft während der stalinistischen Diktatur von ihren Anfängen bis zu den Massenrepressionen und Morden Ende der 30er Jahre. Zum Schluß werden sie immer bitterer, immer brutaler, immer hoffnungsloser. Die Verdichtung der Atmosphäre auf der Bühne wird durch das Licht erreicht. Ist der Bühnenraum am Anfang der Inszenierung voll ausgeleuchtet, was dem Geschehen eine 'helle', optimistische Note verleiht, so wird die Beleuchtung in den letzten Szenen bis auf ein Minimum reduziert. Die Personen Charms' sind von zwei weiblichen und drei männlichen Schauspielern dargestellt: Friederike Lüers, Marliese Sodermann, Bernhard Leute, Ralf Räuker und Bernd Raucamp. Außerdem engagierte die Regisseurin die Tänzerin Alexandra Esche für zwei Tanzeinlagen. Die Gesichter der Schauspieler sind blaß geschminkt, die Augen und Augenbrauen werden durch schwarze, die Münder durch rote Farbe betont, was eine besondere Ausdruckskraft der Mimik bewirkt. Gleichzeitig läßt die Maske der Schauspieler an futuristische Theaterexperimente und Stummfilme zurückdenken. Ilona Zarypow fängt ihre Inszenierung, wie schon erwähnt, mit der ersten Szene des ersten Aktes aus dem Theaterstück Die Komödie der Stadt Petersburg an. In dieser Szene wirken der Zar Peter der Große, der letzte russische Zar Nikolaus II., ein gewisser Scepkin, ein Komsomolze und ein Sänger mit. Das Sujet der Szene ist genau wie das Sujet des Stückes nicht nacherzählbar. Christine Müller-Scholle, die sich mit der Rezeption dieses Stückes befasst, bezeichnet es "als die Darstellung eines Verfolgungswahns, der 'überall Bösewichter' vermutet". "Schauplatz dieses inneren Dramas", schreibt Müller-Scholle, "wäre das Bewußtsein Nikolaus' II., der Rußland 'in der Faust des Teufels' sieht."145 Der erste Akt der Komödie der Stadt Petersburg beginnt mit einer Monologpartie von Peter dem Großen, der an die Gründung von Petersburg erinnert. Der folgt ein Monolog des letzten russischen Zaren Nikolaus II., in dem er sich pathetisch an Peter wendet: Du Peter warst der Zar. / Ο Ruhm vergangener Tage! / Flieg auf als Flamme lodernd in die Höhe. Ich / ich gehe. Gehe fort von hier den grausen Sümpfen, / ο Rußland lebe wohl! leb wohl für immer! / Doch nein hier bin ich hier wie der Kanonenofen wie der Teufel. / [...] Nur, ich hab keine Kraft mehr Peter keine Kraft / ob ich den Dom durchschreite den Palast / stets sehe ich den Reiter auf dem wilden Felsen / du Peter fiihllos Denkmal - du bist der Zar!!! 146

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Die Struktur der Spielvorlage und ihre weitere Bühnenumsetzung als ein ununterbrochenes Geschehen läßt den Rückgriff auf ein Element der Poetik des OBERIU-Theaters vermuten, das das OBERIU-Manifest im Zusammenhang mit Elizaveta Bam erläutert: "Das dramaturgische Sujet des Stückes ist durchschossen von vielen, scheinbar nebensächlichen Themen, die den Gegenstand hervorheben als ein einzelnes, mit dem übrigen keinen Zusammenhang bildendes Ganzes; deshalb entsteht das dramaturgische Sujet vor Augen des Zuschauers nicht als deutlich erkennbare Sujetfigur, es brennt gleichsam im Rücken des Geschehens. An seine Stelle tritt das szenische Sujet, das elementar aus allen Elementen unserer Aufführung hervorbricht." (OBERIU - Vereinigung der Realen Kunst. Manifest, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 39, 1992). Müller-Scholle, Das russische Drama, S. 144. Spielfassung Zan Polio Theater Berlin, S. 1.

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Nach dieser Passage wird Nikolaus von einem Komsomolzen gefesselt und verspottet. Am Ende dieser Szene fiigt die Regisseurin eine kurze Regieanweisung in die Spielfassung ein, die effektvoll auf die Bühne transponiert wird: "Kanonendonner, Rauch, rote Fahnen wehen, es schneit, Musik: Revolution." 147 Die Idee der Regisseurin läßt sich leicht nachvollziehen. Sie verdeutlicht den Zuschauern, daß am Anfang der tragischen Ereignisse der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Charms in seinen Texten in grotesker Form reflektierte, die Revolution steht. Bei der Bühnenumsetzung dieser Szene zitiert die Regisseurin die Ästhetik der Agitproptruppen: Das Geschehen erinnert an eine satirische Polit-Revue, welche die Verspottung des Zaren und den Sieg des Proletariats thematisiert. Auf der Bühne speisen an einem gedeckten Tisch mit zwei brennenden Kerzen, hinter dem an der Wand ein Bild mit dem berühmten Petersburger Denkmal des "Ehernen Reiters" hängt, drei Personen: der in einen weißen Waffenrock gekleidete Nikolaus II. mit einem grotesk langen Schnurrbart, ein Mädchen im braunen Kleid mit weißem, runden Kragen und zwei weißen Schleifen im Haar, und eine als Mann verkleidete Frau in einer schwarzen Jacke, mit einem Schnurrbart und einer grauen Pelzmütze auf dem Kopf. Der Darsteller des Zaren Peter tritt nicht auf der Bühne auf, seine Stimme klingt aus dem Off. Nikolaus reißt seinen Säbel aus dem Gürtel, springt auf den Tisch auf und deklamiert pathetisch seine Sprechpartie. Während des Sprechens steigt er hinunter, macht ein paar Schritte hin und her und wird von zwei Männern mit roten Fahnen - einer im Soldatenmantel, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, und ein zweiter in weißem Hemd und knielangen Hosen - , die durch verschiedene Türe erscheinen, verhaftet. Als er sich weigert, mit den beiden zu sprechen, zwingt man ihn, über die Fahnenstange zu springen, während einer der beiden Männer dazu singt. Die Szene endet mit einem grotesken 'Totentanz': Das Licht erlöscht plötzlich, und im Dunkel sind Kanonendonner und Detonationen zu hören. Als der Bühnenraum wieder beleuchtet wird, tanzen alle fünf Darsteller in Rauchschwaden mit roten Fahnen im Kreis zu bedrohlich dröhnender Musik. Der groteske Umzug verläßt die Bühne durch eine der Türen, Nikolaus erscheint gleich wieder auf allen Vieren, mit dem auf seinem Rücken reitenden Mädchen. Plötzlich bricht er 'tot' zusammen und sein Gesicht wird mit der Fahne zugedeckt. Die Skurrilität des Geschehens steigert sich in der Inszenierung von Episode zu Episode. In den ersten Szenen wirkt die Handlung noch kindlich-spielerisch, z.B. im Dialog Der Streit, der in seiner Semantik an die Unterhaltung von Kinder erinnert. 148 Der Text beginnt damit, daß einer namens Kuklov dem anderen, der Bogadelnev heißt, verkündet, daß er ein Prinz sei. Darauf erwidert Bogadelnev, daß er Kuklov mit der Suppe vollspritzen würde. Die beiden beginnen einander zu beschimpfen. Kuklov wirft Bogadelnev fehlende innere Haltung vor. Bogadelnev vergleicht die Nase von Kuklov mit einem Trog und bezeichnet seinen Hals als spindeldürr. Kuklov nennt Bogadelnev ein Schwein, worauf Bogadelnev seinem Gegner androht, ihm die Ohren abzureißen. Danach kehrt der Dialog zum Ausgangspunkt zurück: Kuklov nennt sich einen Prinz, und Bogadelnev möchte ihn dafür mit der

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Ebd., S. 3. Dieser Dialog kann als Beispiel der Verkindlichung der Sprache gelten, die Charms in seinen Texten oft aufgriff.

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Suppe vollspritzen. So weist der Dialog eine Ringstruktur auf - ein Verfahren, auf das Charms oft in seinen Texten zurückgreift. Die Regisseurin inszeniert Der Streit als ein groteskes Duell mit akrobatischen Elementen. Die beiden Männer treten von verschiedenen Seiten mit Tellern und Löffeln in der Hand auf die Bühne und setzen sich einander gegenüber am Tisch nieder. Kuklov trägt einen schwarzen Anzug, um den Kragen seines weißen Hemdes ist ein Schlips geschlungen, Bogadelnev hat eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln an, das vorne aus der Hose herausschaut, außerdem Hosenträger und eine Krawatte. Während sich Kuklov majestätisch eine weiße Serviette in den Kragen steckt, taucht Bogadelnev seine Krawatte in die Suppe ein, windet sie aus, dabei seinen Blick unverwandt auf Kuklov gerichtet. Dann beginnen die Schauspieler ihren Text zu sprechen. Die Handlung wird immer spannender. Die Regisseurin steigert das Tempo dieser eigentlich ziemlich monotonen Szene von langsam bis zu atemberaubend schnell am Ende. Die beiden stehen synchron vom Tisch auf, Bogadelnev nimmt zwei Suppenteller in die Hand und greift Kuklov an. Kuklov reißt den Löffel aus einem der Teller, macht einen Ausfall und sticht mit dem Löffel, als ob er ein Degen wäre, in den Bauch Bogadelnevs, worauf Bogadelnev auf den Tisch kippt. Kuklov stellt einen Stuhl so auf den Tisch, daß der Körper Bogadelnevs zwischen den Stuhlfussen gekreuzigt liegt, und setzt sich auf diesen Stuhl. Bogadelnev wirft Kuklov ab, springt auf den Boden, woraufhin die beiden Gegner synchron wiederum auf den Tisch springen und einander an der Krawatte ziehen. Danach landen sie wieder auf dem Boden, auf verschiedenen Seiten des Tisches, und gehen mit dem Tisch aufeinander los. Die beschriebene Bewegungspartitur begleitet das Wortgefecht der beiden Männer. Diese witzige Szene ist Teil einer Collage, die eine drastische Karikatur auf die stalinistische Zeit darstellt. Eine weitere Szene präsentiert eine absurde Versammlung: Zwei Frauen an einem mit einer roten Fahne bedeckten Tisch unter dem Portrait Lenins an der Wand streiten miteinander: "Was zuerst kommt - die Sieben oder die Acht." Die Schauspielerinnen sprechen dabei den Text der Kurzerzählung Sonett.149 Nach der heftigen Diskussion, die zu keiner Lösung des Problems fuhrt, schließen sich den beiden drei Männer an, die die Szene Der Vortrag spielen. Einer der Männer hält einen Vortrag über die Eigenschaften des weiblichen Geschlechtes. Nach jeder These bekommt der Redner von seinem Zuhörer "eine in die Fresse",150 bis er zu Boden stürzt. Diese zwei aufeinander folgenden Szenen sind ein Beispiel für die Thematisierung der Kommunikationsstörung zwischen den Personen, wie sie Charms schon zwanzig Jahre früher als die westlichen Dichter des Absurden in seinen Texten entwickelt hatte.

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Bertram Müller sieht einen wesentlichen Berührungspunkt von Sonett mit Warten auf Godot von Beckett darin, daß die beiden Texte auf die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten hinweisen. Dabei stellt Müller heraus, daß dieser Hinweis in Sonett die Funktion einer zeitkritischen Anspielung "auf die kommunistische Ideologie [hat], die davon ausgeht, daß prinzipiell alles im Leben erklärbar ist." (Müller, Absurde Literatur, S. 56) - In der Inszenierung wird diese Anspielung durch das Bild Lenins und die rote Fahne auf dem Tisch verstärkt. Spielfassung, S. 26.

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In einer anderen Episode klagt ein Mann mit 'Stummfilmpathos' darüber, daß ihm seine Frau weggelaufen sei, und präsentiert nebenbei das satirische Bild des sowjetischen Pseudointellektuellen: "Ich interessiere mich fur alles, sogar Sprachen. Ich kann auf Französisch zählen und weiß, was auf deutsch 'zivot' heißt. Der Magen. [...] Gib mir einen Grafen, und ich unterhalte mich mit einem Grafen. Gib mir einen Baron, und ich unterhalte mich mit einem Baron. Bei mir weißt du nie sofort, woran du bei mir bist." 151 Eine weitere Szene: Ein Mann in einem grauen Mantel liegt auf dem Boden, neben ihm stehen zwei Frauen - die eine Frau in einem grünen Morgenrock und mit einem lila Turban auf dem Kopf, die andere in einem braunen Morgenrock und ein Mann in einem schwarzen Hausmantel. Die Frau in Grün raucht, die zweite Frau bedroht den Liegenden mit einem Messer, und der Mann leuchtet dem Liegenden mit Streichhölzern ins Gesicht: Alle wollen so den Liegenden zwingen aufzustehen, was er aber nicht tut. Die Stehenden rufen daraufhin die Miliz. Ein Mann im Ledermantel - der Milizionär - , der aus dem Dunkel auf der Bühne auftaucht, versucht die Ursache des Konfliktes aufzuklären. Es stellt sich heraus, daß der Liegende nicht nur auf dem Boden liegt, sondern dort 'lebt1, also dort sein Zuhause hat, weil er dieser Wohnung "zugeteilt wurde", alle Zimmer aber schon besetzt waren. Die Stehenden - die Mieter dieser Wohnung - berichten dem Milizionär, daß sie, um sich von dem Auf-dem-Boden-Lebenden zu befreien, ihn schon einmal mit Kerosin überschüttet hatten und verbrennen wollten. Der Milizionär kann auch keine Lösung der Situation finden und tritt ab. Der stehende Mann befiehlt dem Liegenden noch einmal aufzustehen, der Liegende weigert sich erneut. Mysins Sieg heißt diese Szene, die eine zynische Parodie auf sowjetische Wohnungsverhältnisse darstellt. Der Ausgang des Konfliktes ist schon im Titel der Szene vorweggenommen. Der Auf-dem-Boden-Lebende, Mysin nämlich, siegt über seine Mitbewohner, indem er trotz aller Drohungen weiterhin auf dem Boden lebt. Ilona Zarypow hat den Schluß der Szene noch verschärft: Der neben dem Liegenden stehende Mann nimmt aus der Hosentasche Streichhölzer und zündet eines an, während eine der Frauen den auf dem Boden Liegenden aus einer Flasche mit Wodka begießt. Die Szenen wechseln wie Bilder in einem Kaleidoskop. Eine zeigt wiederum einen liegenden Mann. Der Schauspieler liegt auf der rechten Seite, die Beine angezogen, und spricht den Text Die Truhe, eine der Erzählungen aus dem Zyklus Fälle, in die Charms im Frühjahr 1937 seine existenzielle Angst und das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens projizierte. 152 Dieser kafkaesk-düstere Text handelt von 151 152

Ebd., S. 24. Der Zyklus Fälle, der 30 Kurzerzählungen und Miniszenen beinhaltet, entstand in der Periode zwischen 1933, dem Jahr vom Charms' Rückkehr nach Leningrad aus der Verbannung in Kursk, und 1941. Jean-Philippe Jaccard bezeichnet das Jahr in der Verbannung (1932), während dem Charms den endgültigen Verlust aller Hoffnungen erlebte, als den Wendepunkt in seinem Schaffen. "A partir de ce moment-lä en effet, la vie du poete devient une lonque descente en enfer, qui le mene ä une crise grave en 1937", schreibt Jaccard (Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 200). - Jaccard erwähnt, daß zur Vertiefung dieser Krise die Auseinandersetzung des Dichters mit dem Verlag 'Detgis' beigetragen hat, in dem er seine Werke für Kinder veröffentlichte und dadurch sein Lebensunterhalt sicherte. Er wurde auch hier nicht mehr gedruckt und verlor damit die letzte Existenzgrundlage. Charms hungerte und litt unter Neurasthenie, wovon seine Briefe aus dieser Periode zeugen. "Zur Zeit bin ich so tief gefallen, wie noch nie", notierte Charms in sei-

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einem Mann mit dünnem Hals, der sich in eine Truhe verkroch, den Deckel über sich zuklappte und zu ersticken drohte. Das Licht, das den auf dem Boden zusammengekrümmten Schauspieler beleuchtet, bildet um seinen Körper ein helles Rechteck, während die Bühne völlig im Dunkel bleibt. Der Schauspieler berichtet liegend den Zuschauern von den Empfindungen eines Menschen, der langsam und qualvoll erstickt. Der Schluß der Erzählung kann als eine Parodie auf die optimistischen Schlüsse der Werke des sozialistischen Realismus verstanden werden: Der Mann fangt an zu singen und stellt plötzlich fest, daß er j a auf dem Boden seines Zimmers liegt und daß das Leben über den Tod gesiegt hat. In der Inszenierung werden dem Schluß jedoch die optimistischen Töne entzogen. Obwohl 'die Lebensbedingungen' der Rolle sich verändert haben, wird diese Veränderung weder durch das Licht noch durch einen Wechsel der Körperstellung des Schauspielers verdeutlicht. Der Schauspieler bleibt im Dunkel der Bühne liegen, und seine Stimme, die vom Sieg des Lebens über den Tod berichtet, klingt dennoch traurig. Ein anderes Mal erscheinen in dem schwarzen Rechteck der Türe die Köpfe von fünf Darstellern, die wie eine Beschwörungsformel das Gedicht Wie schrecklich schwinden unsere Kräfte eines unbekannten Autors, in einer ebenfalls aus dem Jahre 1937 stammenden Übersetzung von Charms, halb singend, halb sprechend, rezitieren: "Wie schrecklich schwinden unsre Kräfte, / wie schrecklich! wie schrecklich! / Wie schrecklich schwinden unsre Kräfte, / Ogott jedoch hört unsre Bitten, / Ogott jedoch hört unsre Bitten, / und plötzlich steigt Ogott herab, / und plötzlich steigt Ogott herab zu uns." 153 Eine der Szenen, die fast zum Schluß der Inszenierung gespielt wird und Die Störung heißt, macht anfanglich den Eindruck, als ob sie die Stimmung, die von Szene zu Szene immer trüber wird, etwas aufhellen könnte. In der Tür erscheinen eine Frau und ein Mann. Der Mann überreicht der Frau eine Blume und bemerkt, daß sie sehr schöne Strümpfe habe. Die Frau fragt, warum ihm ihre Strümpfe gefallen, und hebt dabei ihren Rock hoch. Als die Frau noch anmerkt, daß sie keine Unterhose trage, und ihren Rock dabei immer höher hebt, und der Mann daraufhin niederkniet und anfängt, ihre Beine zu küssen, werden plötzlich die Erwartungen der Zuschauer, die sich schon auf eine banale Verführungsszene vorbereitet hatten, enttäuscht: Es klopft, und als die Frau die Tür aufmacht, erscheint ein Mann in schwarzem Ledermantel und hohen Stiefeln, fragt die Anwesenden nach ihren Namen, befiehlt ihnen mitzukommen und verbietet jede Unterhaltung zwischen den beiden. Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloß, die Bühne versinkt im Dunkel.

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nem Tagebuch am 7. August 1937. "Ich kann an nichts denken. Völlig von den Häschern zerzaust. Gefühl des völligen Ruins. Der Körper schlaff, der Bauch ragt vor. Der Magen zerrüttet, die Stimme heiser. Schreckliche Zerstreutheit und Neurasthenie. Nichts interessiert mich, keinerlei Gedanken, oder wenn mir irgendein Gedanke aufscheint, dann ein träger, schmutziger oder verzagter." (Daniii Charms: Die Kunst ist ein Schrank, Berlin 1992, S. 221) - Zwei Monate später, am 23. Oktober 1937, trug Charms ins Tagebuch ein: "Mein Gott, ich habe nunmehr eine einzige Bitte an Dich: vernichte mich, zerschlage mich endgültig, stoße mich in die Hölle, laß mich nicht auf halbem Wege stehen, sondern nimm von mir die Hoffnung und vernichte mich schnell, in Ewigkeit." (Ebd., S. 225) Der Zynismus und die Brutalität, die die Grundstimmung in Charms' Texten aus dieser Periode bilden, sind die Reflexion der seelischen Verfassung des Dichters. Spielfassung Zan Polio Theater Berlin, S. 46. 135

im W H ·

Abb. 12: "Sie haben sehr schöne S t r ü m p f e an..." Störnn,i> mit Marlene Sonderniann und Bernd R a u c a m p . Der Glyzeriimiler

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oder Wir sind keine Ilei'inge.

/.an Polio Theater Berlin

Die letzten Episoden der Szenencollage werden in fast völliger Dunkelheit gespielt. Die Körper der Schauspieler sind schwer unterscheidbar. Dadurch wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die sarkastischen, von Brutalität und Tod handelnden Texte konzentriert, und das Bild der Zeit, in der sie geschrieben wurden, gewinnt scharfe Konturen.

4.4.3. Becketts Verwandschaft: Die rausfallenden Berliner Volksbühne

alten Weiber an der

Die unbestreitbare Nähe Charms' zum absurden Theater hat im September 1993 die Berliner Volksbühne unter Beweis gestellt. Der Hausherr des Theaters, Frank Castorf, hatte sich vorgenommen, Samuel Beckett, den großen Meister des Absurden, zu würdigen, und so kündigte die Volksbühne Beckett Late Nights an, die sie drei Nächte lang, vom 17. bis 19. September 1993, feierte. Für dieses Projekt lud Castorf die Darsteller seiner am Basler Theater entstandenen Inszenierung von Becketts Katastrophe zum Gastspiel nach Berlin ein und inszenierte exklusiv für Beckett Late Nights ein weiteres Stück des irischen Literaturnobelpreisträgers, Bruchstück I. Des weiteren brachte der Schauspieler Herbert Fritsch Becketts Stück Nicht ich auf die Bühne und dazu die Kurzerzählung Die rausfallenden alten Weiber von Charms, in der er ästhetische und atmosphärische Überschneidungen mit dem erwähnten Stück Becketts entdeckt hatte. Diese Kurzerzählung paßte ja thematisch zu dem von Beckett formulierten philosophischen Satz: "Nichts ist komischer als das Unglück", der auch als das Motto über den Projekt hätte stehen können. Das Obdachlosen-Theater "Ratten" hatte für den Theaterabend noch Klammer auf Klammer zu, ein neues, durch Beckett inspiriertes Stück unter der Regie von Roland Brus vorbereitet. Dem Unternehmen wurde das ganze Theaterhaus zur Verfugung gestellt. Die Spielorte reichten von der Großen Bühne bis zur Kantine, vom Heizungskeller bis zum Roten Salon. Während Frank Castorf seine Inszenierungen in der Kantine und im Heizungskeller zeigte, waren die Regiearbeiten von Herbert Fritsch auf der Großen Bühne zu sehen und die Inszenierung vom Obdachlosen-Theater in den 'Eingeweiden' des Theaters unter der Drehbühne. Jeder der drei Theaterabende begann laut Programm auf der Großen Bühne an mit dem Stück Nicht ich um 21.00 Uhr. Eine Stunde später mußten sich die Zuschauer für eines von drei Stücken entscheiden, die parallel auf drei verschiedenen Schauplätzen liefen. Einige von ihnen wurden in die Kantine geschickt, wo sie zu Zeugen der Katastrophe gemacht wurden, andere konnten im Heizungskeller das Bruchstück I sehen und wieder andere durften Klammer auf Klammer zu unter der Drehbühne genießen. Um 23.00 Uhr wurden die Gäste des Hauses in den Großen Saal eingeladen, wo sie die Möglichkeit bekamen, den 'alten Weibern' "beim Herausfallen' aus dem Fenster zuzuschauen. Um Mittemacht wurden das Bruchstück I und die Katastrophe wiederholt, und im Roten Salon des Theaters Das letzte Band mit Curt Bois in der Hauptrolle als Film gezeigt. Die den Beckett Late Nights zugrunde liegende Idee, "Theater aus der Improvisation, dem Nebenbei, entstehen zu lassen", 154 kam zum Ausdruck schon im 'Vor154

Presseinformation der Berliner Volksbühne vom 2. September 1993. 137

spiel', das die Zuschauer vor Beginn der eigentlichen Inszenierungen vor den Pforten des Theaters zu sehen bekamen. Auf den Treppenstufen zum Theatereingang stießen sie auf eine in Decken gehüllte 'Leiche', unter der hervor eine Blutlache auf das Pflaster flöß. Daneben stand ein Rettungswagen mit blinkendem Blaulicht, und Sanitäter mit Taschen, Geräten und Lebensrettungsschläuchen waren mit dem 'Toten' beschäftigt, - eine brutale Provokation und eine gute Vorbereitung auf das weitere Geschehen, unter anderem auf den Fenstersturz der todessehnsüchtigen alten Frauen Charms'. Charms' Geschichte von den 'rausfallenden alten Frauen' ist ein kürzerer seiner Fälle. Die Erzählung besteht aus vier Sätzen und läßt sich im Unterschied zu den meisten Geschichten und Dialogen des Dichters leicht wiedererzählen. Eine alte Frau fällt aus lauter Neugierde aus dem Fenster und bricht sich das Genick, ihrem Weg folgen nacheinander noch fünf alte Frauen. Mit dem Herausfallen der sechsten endet die Erzählung. Diese kurze Geschichte inspirierte Herbert Fritsch zu einem spannenden, eine dreiviertel Stunde dauernden Stegreifspiel, das trotz einer gewisser Brutalität und des Zynismus des ihm zugrunde liegenden Themas denjenigen der Zuschauer, die vor kurzem in der Kantine die Katastrophe erlebt hatten, 155 Entspannung bringen konnte. Wenn Charms seiner Erzählung mit dem Herausfallen der sechsten Alten aus dem Fenster ein Ende macht, so findet Herbert Fritsch es nicht ausreichend, nur die sechs Stürze zu inszenieren. Er beschäftigt in seiner Inszenierung das ganze Ensemble - funfunddreißig Männer und Frauen - die sich mittels Kostüm und Maske in funfunddreißig urkomische Alte verwandelt. Der Bühnenbildner Werner Lorenz gestaltet auf der Bühne einen kitschigen, spießig ausgestatteten, bürgerlichen Salon: dunkelrote, mit Blumen tapezierte Wände, an der rechten Wand ein Bild in bronziertem Rahmen, ein Spiegel und eine Wanduhr, vor der Wand ein Tischchen mit einem Telephon und einer Vase mit Blumen, daneben eine Kommode mit Büchern. Im Raum stehen im Durcheinander ein Samtsessel, eine Marmorstatuette und mehrere Bodenvasen mit Blumen. In der Wand rechts ist eine Flügeltür, und links ein kleiner Nebeneinlaß über einem Treppchen, durch den die alten Damen erscheinen, und im Hintergrund zwei große Fenster, aus denen sie purzeln. Jede von den Alten bleibt nur eine Minute auf der Bühne. In dieser Zeit fuhrt der Spieler oder die Spielerin den Zuschauern eine Reihe von Albernheiten vor oder präsentiert einen grotesken Charakter, erzählt wortlos, mit Körpersprache, eine Geschichte. Die Alten treten schweigend oder singend auf die Bühne, etwas Unzusammenhängendes vor sich hin sinnierend oder lachend. Ihre Masken verraten den Zuschauern die Nationalität der Alten, ihre schrulligen Klamotten ihre soziale Stellung, ihre Mimik 155

Die Presse berichtete vom 'Tatort' der Auffuhrung die naturalistischen Details der Katastrophe, die von Castorfs Absicht zeugen, in seiner Regiearbeit unter anderem auch den Titel des Stückes den Zuschauer näher zu bringen: "Drei Personen zerschlagen das Inventar, Flaschen, Teller, Gläser zerspringen, Flüssigkeiten überschwemmen eimerweise den Raum, Kartoffelsalat allüberall. Der Kampf des Kochs mit dem Ober und der Kellnerin: ein unbeträchtliches Stündlein kreist der Reigen durch die Küche, Flur und Gaststätte; Kühlschränke fressen Menschen, Ketschupflaschen scheiden aus, Schlachtermesser stoßen zu. Besudelt mit ekligsten Zutaten stürzen sich die Spieler in die Zuschauer, verschenken Whisky, daß kaum Fuß noch Kehle trocken bleiben, und am ersten Tisch ganz vorne sitzt Rolf Hochuth Aschenbechersplittergetroffen und blutet, als hätte er sich die Pulsadern aufgeschnitten." (Kulturtext Hamburg, 20.09.1993).

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und Bewegungen ihre Lebensweise u n d selbstverständlich das Alter. Alle zusammen bilden sie eine groteske Galerie seltsamer Gestalten. Die Schwarze und die Japanerin, die Modedame und die Nonne, die Kindfrau und die Ballettänzerin gehen denselben Weg: Sie tauchen aus dieser oder jener Tür auf, sie nähern sich humpelnd oder tänzelnd, hastend oder schlurfend dem Fenster und stürzen sich raus. Bei Charms fallen die Alten aus lauter Neugierde aus dem Fenster, wie er selbst am Anfang der Erzählung bemerkt. Die Schauspieler aber präsentieren fünfunddreißig verschiedenen Gründe, die die alten Weiber 'zwingen', sich aus dem Fenster zu stürzen. Die alte Ballettänzerin z.B. erschrickt über ihr Abbild im Spiegel, zu dem sie trippelt, als sie die Bühne betritt. In ihrer Verzweiflung versucht sie einen Ballettschritt zu machen, verliert dabei aber das Gleichgewicht, fällt auf die Blumenvasen, sammelt die Blumen, auf allen Vieren kriechend, wieder zusammen, steht auf, drückt rückwärts gehend die Blumen an die Brust, schließt dabei die Augen, um sich an ihren vergangenen Ruhm zu erinnern, und fällt so schließlich aus dem Fenster. Die Japanerin erscheint mit dem Photoapparat in der Hand, photographiert den Zuschauerraum und die Gegenstände im Zimmer, dabei immer wieder "very, very nice" stöhnend, begeistert sich für die Aussicht aus dem Fenster, macht ein Photo und kippt dabei über das Fensterbrett. Eine andere Alte erscheint mit einer Tüte vom Kaufhof, wühlt in ihr, zieht einen schwarzen Hut heraus, zeigt ihn den Zuschauern, küsst ihren tollen 'Kauf, setzt den Hut auf den Kopf, schaut zuerst aus einem der Fenster, dann aus einem anderen, bis der 'Wind' den Hut wegweht. Verzweifelt steigt sie auf das Fensterbrett, streckt die Arme nach dem weggeflogenen Hut aus und fällt mit einem Schrei hinaus. In der Inszenierung ließ der Regisseur fur Charms' Philosophie und seine Ängste, die der Dichter in dieser kurzen Groteske thematisierte, 156 wenig Platz. Statt dessen bot er den Zuschauern einen "Katalog sämtlicher klamottigen Scherze, die sich dem Thema 'Fenstersturz' abgewinnen lassen konnten",' 5 7 was jedoch mit großem Erfolg aufgenommen wurde.

4.4.4. Elizaveta Bam als dramatischer Text Die Struktur des Stückes wurde in der Forschungsliteratur schon oft besprochen. Dabei diskutierte man in erster Linie die Ringform des Textes 158 - das Stück endet mit derselben Szene, mit der es anfängt - und der splitterhafte Charakter des Geschehens: Elizaveta Bam besteht aus neunzehn, logisch nicht miteinander verknüpften Szenen, von denen Charms jede mit einer eigenen Überschrift versehen hat. Die Analyse des Textes zeigt, daß die Überschriften nichts anderes als ein Verwirrspiel mit dem Leser sind. Sie haben, wie Christine Müller-Scholle bemerkt,

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Jean-Philippe Jaccard, der kurz auf die Herausfallenden alten Weiber eingeht, findet in der Erzählung ein für die Werke Charms' wesentliches Thema, das er als "die Angst vor der Leere" oder "die Angst vom Fallen" bezeichnet. Dieses Thema hängt nach Jaccard eng mit der Problematik der Zeit und des Todes zusammen, die Charms in seinen Texten oft thematisiert (Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 185). Berliner Zeitung, 20.09.1993. Müller, Absurde Literatur, S. 84; Müller-Scholle, Das russische Drama, S. 142; Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 249; Martini, Retheatralisierung des Theaters, S. 154f.

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"keine inhaltliche, s o n d e r n d e k o r a t i v e Funktion". 1 5 9 E i n i g e der Ü b e r s c h r i f t e n verm i t t e l n d e n Eindruck, daß der A u t o r d i e s e S z e n e n n a c h e i n e m b e s t i m m t e n Gatt u n g s m u s t e r a u f g e b a u t hat, d i e w e i t e r e B e k a n n s c h a f t m i t d e m T e x t verrät aber, daß die Ü b e r s c h r i f t e n d e m Inhalt der S z e n e n n i c h t e n t s p r e c h e n . 1 6 0 S o lautet d i e Ü b e r schrift der ersten S z e n e "Stück R e a l i s t i s c h e s M e l o d r a m " , der z w e i t e n "Realistischk o m ö d i a n t i s c h e s Genre", der dritten " U n s i n n i g k o m i s c h - n a i v e s Genre" u n d der v i e r t e n " M i l i e u - K o m ö d i e realistisch". 1 6 1 In den Ü b e r s c h r i f t e n v o n vier w e i t e r e n S z e n e n w i r d "Radix" Tribut g e z o l l t - d e m i m H e r b s t 1 9 2 6 in L e n i n g r a d g e g r ü n d e ten Theater, 1 6 2 d e s s e n Ä s t h e t i k s e i n e z w e i M i t b e g r ü n d e r V v e d e n s k i j und C h a r m s ein Jahr später i m OBERIU-Theater w e i t e r e n t w i c k e l t e n : das s i n d die f ü n f t e S z e n e " R h y t h m i s c h ( R a d i x ) R h y t h m u s d e s Autors", die s e c h s t e S z e n e " M i l i e u - R a d i x " , d i e s i e b t e S z e n e "Feierliches M e l o d r a m , durch R a d i x unterstrichen" und d i e d r e i z e h n t e , die s c h l i c h t "Radix" heißt. E i n i g e Ü b e r s c h r i f t e n s i n d abstrakt formuliert u n d z i e l e n nur darauf, d i e Z u s c h a u e r z u p r o v o z i e r e n : d i e a c h t e S z e n e " U m s c h i c h t u n g der H ö hen", die n e u n t e "Stück Landschaft", die z e h n t e " M o n o l o g ä part. S t ü c k a u f z w e i Ebenen", d i e e l f t e "Ansprache", d i e s e c h z e h n t e

"Glockenspiel", d i e

achtzehnte

"Realistisch nüchtern". In der Ü b e r s c h r i f t der z w ö l f t e n S z e n e w i r d die O B E R I U G r u p p e g e w ü r d i g t : "Stück Oberiu". D i e Ü b e r s c h r i f t e n der v i e r z e h n t e n , f ü n f z e h n t e n und s i e b z e h n t e n S z e n e präsentieren Arten d e s Pathos: " K l a s s i s c h e s Pathos", "Ball a d e s k e s Pathos" u n d " P h y s i o l o g i s c h e s Pathos". D i e letzte, n e u n z e h n t e Ü b e r s c h r i f t

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Müller-Scholle, Das russische Drama, S. 142. Die Szenenüberschriften sind ein Beispiel für Umsetzung der dramentheoretischen Thesen des OBERIU-Manifests in die Praxis: "Wenn sie zu uns kommen," richten sich die Oberiuten an die Zuschauer, "vergessen Sie alles, w a s sie in allen Theatern zu sehen gewohnt sind. Vieles wird Ihnen vielleicht unsinnig erscheinen. Wir nehmen das Sujet dramaturgisch. Es entwickelt sich anfangs einfach, wird dann plötzlich von scheinbar nebensächlichen, offenkundig sinnlosen Momenten unterbrochen. Sie sind erstaunt. Sie wollen die gewohnte, logische Gesetzmäßigkeit wiederfinden, die Sie im Leben zu sehen vermeinen. Aber die wird es hier nicht geben. Warum nicht? Weil der Gegenstand und die Erscheinung, aus dem Alltagsleben auf die Bühne übertragen, ihre 'Lebens'-Gesetzmäßigkeit verlieren und eine andere erlangen, die des Theaters. Erklären werden wir sie nicht. U m die Gesetzmäßigkeit einer Theatervorstellung zu begreifen, muß m a n sie sehen. Wir können nur sagen, unsere A u f g a b e besteht darin, auf der Bühne eine Welt der konkreten Gegenstände in ihren Wechselbeziehungen und ihren Konfrontationen zu zeigen. An der Lösung dieser Aufgabe arbeiten wir in unserer Inszenierung von Elizaveta Bam." (OBERIUManifest, in: Schreibheft 39, S. 15). Angela Martini versucht in ihrer Analyse der Überschriften des Stückes die Hypothese, die Peter Urban in dem Nachwort zu der Charms-Ausgabe Fälle aufstellt, nämlich, d a ß der Aussagewert des Verfahrens, die herkömmlichen Gattungsbegriffe zu ironisieren, parodistisch ist, zu erweitern. Dabei k o m m t sie zu dem Schluß, daß "die Transposition und Versetzung von Gattungsmerkmalen in neue Kontexte und Kombinationen [...] ihrerseits eine Multiperspektive [evozieren], die nicht nur die Aussagemöglichkeiten ausweitet, sondern auch zur Theatralisierung des Theaters tendiert." (Martini, Retheatralisierung des Theaters, S. 156f.). D i e 'Radix' zugrunde liegende Idee erläuterte der Regisseur und Mitbegründer dieses Theaters, Georgij Kacman, Jahre später in seinen Memoiren: "'Radix' war als 'reines Theater', als Experimentaltheater gedacht, das sich nicht nach d e m Ergebnis und nach d e m Zuschauer orientierte, sondern nach dem, wie die Schauspieler eine reine theatrale Handlung erleben. [...] 'Radix' war ein Konglomerat von verschiedenen Arten der Kunst der Theateraktion, der Musik, des Tanzes, der Literatur und der Malerei. Beim Aufgreifen verschiedener Kunstarten spielt das Element des Parodierens eine große Rolle." (Zit. nach Mejlach, Ο "Elizavete B a m " Daniila Harmsa, S. 164f., [Üs.: SL]).

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erinnert an eine Regieanweisung: "Schluß der Oper. Bewegung der Kulissen, Gegenstände, der Rückwand und Menschen." 163 Die 'durchgehende Handlung 1 von Elizaveta Bam - das Warten - läßt an Beckett denken. Wenn die Personen Becketts aber auf einen gewissen Godot warten, so wartet die Titelperson des Stückes von Charms auf ihre Verhaftung, obwohl sie kein Verbrechen begangen hat.164 Müller-Scholle 165 und Jaccard 166 stellen fest, daß die im Stück angebotene Situation derjenigen ähnelt, die Kafka am Anfang seines Romanes Prozeß konstruiert. "Gleich, eh ich mich versehe, geht die Tür auf und sie kommen herein... Sie kommen bestimmt, um mich zu fangen und vom Erdboden zu vertilgen. Was habe ich angestellt. Was habe ich angestellt. Wenn ich es nur wüßte...1,167 - mit dieser Sprechpartie von Elizaveta Bam fängt das Stück an. Trotz der im Stück vorhandenen konkreten Situation läßt sich das Sujet nicht nacherzählen, weil es absurd ist. Nach Jaccard ist die Absurdität die Folge des Brechens der Postulate der 'normalen Kommunikation' im Text, 168 was Elizaveta Bam mit der Kahlen Sängerin von Ionesco verwandt macht. Als eines der Beispiele fuhrt Jaccard die Zerstörung des ersten dieser Postulate - des Determinismus oder der kausalen Reihenfolge - am Beginn von Die kahle Sängerin an. '"La cantatrice chauve' s'ouvre sur une rupture de la chaine causale, puisque c'est parce qu'ils habitent dans les environs de Londres et parce que leur nom est Smith que les personnages ont bien mange," 169 schreibt Jaccard und bemerkt weiter, daß Elizaveta Bam nach demselben Prinzip aufgebaut ist. "On vient arreter l'heroi'ne (effet) pour un crime (cause) qu'elle n'a pas commis. Toute la piece est orientee vers le retablissement de la chaine causale, c'est-ä-dire qu'il faut un crime. Celui-ci sera finalement commis par le pere. Mais ce changement de la cause n'aura aucune repercussion sur l'effet, puisque c'est quand meme Elizaveta Bam qu'on vient arreter ä la fin.1,170 Jaccard stellt in der Verhaftung von Elizaveta Bam ein Paradoxon fest: Der Mord fuhrt nicht unbedingt zum Todesfall des Ermordeten. Petr Nikolaevic, wegen dessen Ermordung Elizaveta Bam angeklagt wird, kommt persönlich zu ihr, um sie zu verhaften. Und Elizaveta Bam wird vor Gericht gestellt werden, ohne jemanden getötet zu haben. Im Stück wirken sechs Personen mit: Das sind Elizaveta Bam, ihre Verfolger Ivan Ivanovic und Petr Nikolaevic, ihre Eltern 'Papasa' und 'MamaSa' und der Bett163

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Zur Interpretation der Überschriften siehe Martini, Retheatralisierung des Theaters, S. 155f. In der Forschung wird vermutet, daß in der Angst vor Verhaftung, die Charms in den Monologen von Elizaveta Bam am Anfang und am Ende des Stückes artikuliert, sich die Inhaftierung Grigorij Kacmans am 16. April 1927 widerspiegelt, des Regisseurs von 'Radix' und engen Freundes des Dichters. Siehe dazu Mejlach, Ο "Elizavete Bam" Daniila Harmsa, S. 197; Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 242. Müllcr-Scholle, Das russische Drama, S. 137. Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 242. Der Text des Stückes wird im folgenden zitiert in der Übersetzung von Peter Urban nach: Elizaveta Bam, in: Fehler des Todes, S. 291-318, hier S. 291. Das sind das 'Postulat des Determinismus', das 'Postulat des kollektiven Gedächtnisses', das 'Postulat der Informativität', das 'Postulat der Identität', das 'Postulat der Reduzierung' und das 'Postulat des semantischen Zusammenhanges' (Vgl. Jaccard, La fin de l'avantgarde russe, S. 250-255). Jaccard, La fin de l'avant-garde russe, S. 247. Ebd., S . 2 4 7 f .

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ler. Alle Personen des Stückes sind entindividualisiert. Angela Martini rezipiert die Figuren als Marionetten, die nur "auf rhythmisierte Bewegungsabläufe"171 reduziert sind und denen sowohl eine Vergangenheit als auch eine Zukunft fehlen. In der Personengestaltung ist auch eine der absurden Techniken augenfällig, die sich in der "ständigen Identitätsverwandlung"172 zeigt. So verwandelt sich Elizaveta Bam im Laufe der Handlung, wie Müller in seiner Analyse des Stückes bemerkt, mindestens fünf mal: In der ersten Szene erscheint sie als Angeklagte, in der zweiten Szene wird aus der Angeklagten eine Anklägerin - sie bezichtigt Ivan Ivanovic der Gewissenlosigkeit in der dritten Szene verwandelt sie sich in eine Bewunderin von Ivan Ivanovic. In der Sprechpartie der Elizaveta in der sechsten Szene wird angedeutet, daß sie eine verheiratete Frau ist, und gleichzeitig präsentiert sie sich während des Fangenspiels mit ihren Verfolgern als Kind.173 In der achten Szene tritt sie in der Rolle einer Verrückten auf. "Danach wird ihr Verhalten wieder rationaler", schreibt Müller, "sie kehrt schließlich in die Rolle der Verfolgten zurück."174 Eine ähnliche Entwicklung konstatiert Müller bei Petr Nikolaevic. In der dritten Szene verwandelt er sich aus dem Verfolger von Elizaveta Bam in einen Clown, in der sechsten "übernimmt er ein Kennzeichnungsmerkmal von Ivan Ivanovic, den Schluckauf', 175 in der siebten ist er ein Geschichtenerzähler, in der vierzehnten wird er zu einem Philosoph, in der fünfzehnten kämpft er als 'Recke' gegen Elizavetas Vater, in der achtzehnten ist er wieder der Verfolger von Elizaveta. In der Gestalt des Petr Nikolaevic, des zweiten Verfolgers von Elizaveta, stellt Müller ähnliche Transformationen fest. In der dritten Szene wird er ebenfalls vom Verfolger zum Clown, danach spielt er wieder die Rolle des Verfolgers. Die Handlungen von Petr Nikolaevic, ab der fünften Szene beginnend, bezeichnet Müller als "die Phase der Verrücktheit",176 die mit kurzen Unterbrechungen in der siebten Szene, in der er die Rolle von Petr Nikolacvic übernimmt,177 und der fünfzehnten, in der er als der Ansager für das Duell zwischen Elizavetas Vater und Petr Nikolaevic auftritt, bis zur achtzehnten Szene andauert, in der er zu seiner ursprünglichen Rolle des Verfolgers zurückkehrt. Der Ort der Handlung erlebt ebenfalls eine Metamorphose. Die Handlung der ersten acht Bilder spielt im Zimmer von Elizaveta, bis die Regieanweisung am Ende des achten Bildes den Wandel der Dekoration in eine Landschaft ankündigt, die sich am Ende des siebzehnten Bildes wieder in ein Zimmer zurückverwandelt. Müller-Scholle konstatiert in der Ausgangssituation des Zimmers "eine der frappierendsten Analogien des Stückes zum absurden Theater des Westens"178 und zieht Parallelen zwischen Elizaveta Bam, Endspiel von Beckett und Stücken von Harold 171 172 173

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Martini, Retheatralisierung des Theaters, S. 158. Müller, Absurde Literatur, S. 85. Thomas Grob konstatiert die Verkindlichung aller Personen von Elizaveta Bam, die sowohl durch ihre Sprache als auch durch ihre Handlungen zum Ausdruck kommt. Vgl. Thomas Grob: Charms' unkindliche Kindlichkeit, Phil. Diss. Bern 1992. Müller, Absurde Literatur, S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Wolfgang Kasack interpretiert die mehrmalige Verwendung der Technik des Rollentauschs im Werk von Charms als ein Versuch, "die Nichtigkeit des Einzelnen" zu versinnbildlichen (Kasack, Absurde Kunst, S. 77). Müller-Scholle, Das russische Drama, S. 135.

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Pinter, vor allem seinem Erstling The Room, in denen die "Enge von vier Wänden Kulisse zur Darstellung beschädigter Menschen"179 ist. Die Sprache von Elizaveta Bam hat, wie Wolfgang Kasack bemerkt, keine Kommunikationsfähigkeit. Das ist "die Addition unverbindbarer Glieder, das Aufheben anfänglicher Behauptungen, das sinnlose Wiederholen von Gesagtem, die pseudologische Verknüpfung von Satzteilen oder Rede mit Gegenrede und das Verkünden banaler Sentenzen."180 Und Angela Martini sieht die Sprachexperimente von Charms als Fortsetzung der "tragedie du langage", "die sich um die Jahrhundertwende in den Dramen Cechovs, Maeterlincks u.a. abzeichnete."181 Bertram Müller stellt die Zerstörung der kommunikativen Funktion der Sprache im Stück ab der siebten Szene fest:182 Auf die plötzliche Behauptung von Elizavetas Vater, daß Kopernikus der große Gelehrte gewesen sei, antwortet Ivan Ivanovic, daß er auch Haare auf dem Kopf habe. Diese Beobachtung Müllers bedarf einer Korrektur, weil schon viel früher Momente der Auflösung der Sprachkommunikation nachweisbar sind. Als Beispiel kann eine kurze Dialogpartie zwischen Elizaveta Bam und ihren beiden Verfolgern Petr Nikolaevii und Ivan Ivanoviö, mit der Charms das zweite Bild schließt, genannt werden: ELIZAVETA B A M :

Die Arme sind zu kurz! PETR NIKOLAEVIC:

Wessen Arme, meinen Sie meine? IVAN IVANOVIC:

Ja doch, Ihre. Sagen Sie, Sie meinen doch seine? Ivan Ivanovic zeigt auf Petr Nikolaevii. ELIZAVETA B A M :

Ja, seine. PETR NIKOLAEVIC:

Elizaveta Bam, sie dürfen nicht so sprechen. ELIZAVETA B A M :

Warum nicht? PETR NIKOLAEVIC:

Weil Sie jede Stimme verloren haben. Sie haben ein widerwärtiges Verbrechen verübt. Sie haben mir Frechheiten zu sagen. Sie sind eine Verbrecherin. ELIZAVETA B A M :

Warum? PETR NIKOLAEVIC:

Was warum? ELIZAVETA B A M :

Warum ich eine Verbrecherin bin? PETR NIKOLAEVIC:

Weil Sie jede Stimme verloren haben. IVAN IVANOVIC:

Einfach jede Stimme verloren. 179 180 181 182

Ebd., S. 136. Kasack, Absurde Kunst, S. 77. Martini, Retheatralisierung des Theaters, S. 162. Müller, Absurde Literatur, S. 88. - Die siebte Szene im Exemplar von Elizaveta Bam, das Müller während der Arbeit an seiner Dissertation zur Verfügung hatte, entspricht der sechsten Szene in der späteren Edition des Textes, die zur Vorlage für die Inszenierungen wurde, und die Michail Mejlach als einzigen autorisierten Text bezeichnet. Die in den 70er/80er Jahren im Westen erschienenen Ausgaben des Textes und ihre Übersetzungen sind nach Mejlach unvollständig (Mejlach: Ο "Elizavete Bam" Daniila Harmsa, S. 194f.).

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ELIZAVETA BAM:

Ich hab sie nicht verloren. Das können Sie an der Uhr ablesen.183 Die Zerstörung der verbalen Kommunikation wird auch in der dreizehnten Szene arrangiert durch die als Silbenwiederholung imitierten Klänge von Musikinstrumenten, die hier handelnde Personen sind, durch die Auflösung der Wortstruktur und die unzusammenhängende Laute, die die Schauspieler von sich geben: PFITRNLKOLAEVLC:

Zerbrochen bist du, zerbrochen dein Stuhl. VIOLINE:

Na na ni na na na ni na PETR NIKOLAEVIC:

zerbrochen die Kutsch, und alle warn futsch. VIOLINE:

Na na ni na na na ni na [...] PETR NIKOLAEVIC:

Die Fetzen flogen Woche um Woche PFEIFE UND TROMMEL:

Via-a bum, bum via-a bum.184 Und ein weiteres Beispiel aus dem neunten Bild: IVAN IVANOVIC springt auf einen Stuhl: Wohlstand den Cowboys von Pensylvaaa-a-a! ELIZAVETA BAM springt auf einen Stuhl Ivan Iva-a-a-a! PAPASA:

Ein Schächtelchen aus H-o-o-o. Er zeigt eine Schachtel vor. IVAN IVANOVIC: v o n S t u h l :

Zei-ei-ei-ei. PAPASA:

Laß seeeee... MAMASA:

Lu-u-u-u-u... ELIZAVETA Β AM:

Ich habe einen Birkenpi-i-i-i... IVAN IVANOVIÖ:

Gehen wir an den See. PAPASA:

Huhu-u-u-u-u-u!185 Die Auseinandersetzung mit der Struktur und dem Inhalt von Elizaveta Bam und die deutlichen Parallelen zum europäischen absurden Drama, die das Stück zeigt,

183 184 185

Elizaveta Bam, S. 294. Ebd., S. 307f. Ebd., S. 303f. 145

werfen die Frage auf nach den theatralen Rezeptionen dieses Textes, auf die sich der nächste Abschnitt der Arbeit konzentriert.

4.4.5. Eine Huldigung an das OßERiu-Theater: Elizaveta Bam auf der Studiobühne Bayreuth Von den drei Inszenierungen des Stückes, die auf der deutschen Bühne der 90er Jahre zustande kamen, sind Rezensionen und Videoaufzeichnungen nur von der Inszenierung in Bayreuth erhalten,' 86 was diese Produktion gut analysierbar macht. Die Premiere fand am 2. Februar 1995 auf der Studiobühne unter der Regie von Birgit Franz statt. Das Programmheft der Inszenierung stellt ein zweifach zusammengelegtes Plakat dar, dessen Inhalt sechs Textfragmente bilden. Das ist einmal ein Auszug aus dem OßERiu-Manifest, der den Zuschauern mitteilt, daß sie während einer O b e r i u Aufführung alles vergessen müssen, was sie "in allen anderen Theatern zu sehen gewohnt waren," 187 dann zwei während der Proben entstandene Äußerungen des Darstellers des Petr Nikolaevic, Marcus Leclaire, bezüglich Bühne und Publikum, die deutlich von der Poetik Charms' inspiriert sind; des weiteren der Text des russischen Liedes Katjusa, das russisches Kolorit vermitteln soll und zu dessen Motiv Petr Nikolaevic seinen Monolog in der fünfzehnten Szene, als Recke im Kampf gegen Elizavetas Vater, singt, und schließlich kurze Informationen über die O b e r i u Gruppe und über die Kostümdesignerin Ljubov' Popova, 188 deren Kostüme in der Inszenierung zitiert werden. 189 Zwischen den erwähnten Textpassagen ist eine Zeichnung untergebracht, auf der ein bärtiger Mann mit einem Holzhäuschen auf dem Buckel zu sehen ist - eine die Pogrome der Zarenzeit thematisierende Phantasie Marc Chagalls aus dem Jahre 1914, die er Die Erinnerung nannte. Die Regisseurin greift auf diese Zeichnung in der dritten Szene der Inszenierung zurück, indem sie den Vater von Elizaveta wie Chagalls Mann mit einem Häuschen auftreten läßt. Die Rückseite des Plakates, die, wenn man es zusammenlegt, den Umschlag des Programmheftes bildet, zeigt den Anschlagzettel der Uraufführung des Stückes im Leningrader Dom pecati (Haus der Presse) im Januar 1928. Die Inszenierung beginnt im Dunkeln mit den Schlägen eines Metronoms, dem Kratzen auf den Saiten eines Ε-Basses und dem geflüsterten Text: "Sie ist eine Verbrecherin! Hinter der Tür steht eine Frau. Sehen Sie sie genau an." Danach er-

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Außer in Bayreuth wurde das Stück am 8. Februar 1992 am Volkstheater Rostock und am 5. Juni 1993 am Mecklenburgisches Landestheater Parchim auf die Bühne gebracht. OBERIU-Manifest, in: Schreibheft, S. 15. Zu Popova siehe M j u d a Jablonskaja: Russische Künstlerinnen, London 1990, S. 9 9 - 1 1 6 ; vgl. auch Kap. 4, Anm. 91. Eine Notiz zu Popova im Programmheft erläutert die Idee des Kostümentwurfes zur Inszenierung; sie beschreibt ein in den 20er Jahren berühmt gewordenes Schauspielerkostüm nach dem Entwurf von Popova: "blauer Anzug mit rotem Gürtel, schwarzer Mütze und schwarzen Stiefeln." Außerdem können die Zuschauer einen Eindruck von "Prosodezda" von Popova gewinnen - ein Kostüm "mit offenem Kragen, aufgerollten Ärmeln und weiten Stiefelhosen", das den Schauspieler nicht nur als Arbeiter auswies, sondern ihm auch die von der Mejerhol'ds 'Biomechanik' verlangte Bewegungsfreiheit gab (vgl. Programmheft der Inszenierung).

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klingt die von Gerald Schmidt komponierte Ouvertüre, in deren Begleitung die auf der Bühne stehenden Darsteller das Gedicht von Charms Es ging ein Mensch aus seinem Haus... als Lied singen, und erst wenn sie die letzte Zeile mehrere Male wiederholen, wird die Bühne beleuchtet. Das Bühnenbild besteht aus schwarzen Kulissen, die die Wände des Zimmers von Elizaveta darstellen sollen (Bühne Ronald Kröpf und Birgit Franz).'90 Auf einer Kulisse ist mit weißer Farbe eine Tür gezeichnet, auf einer anderen ein Fenster. Wenn die Schauspieler am Ende der zweiten Szene im Kreis laufen, bringen sie auch die Kulissen in Bewegung. Dabei stellt sich heraus, daß die Kulissenkonstruktion einem Karussell ähnelt, ein Gestänge mit Vorhängen teilt die Bühne in drei Segmente. Im Laufe der Handlung macht das Bühnenbild nur einen einzigen Wandel durch. Am Ende der achten Szene verwandelt sich laut Regieanweisung im Text, wie schon erwähnt, "die Dekoration [...] aus dem Zimmer in eine Landschaft."191 Diese Transformation wird dadurch erreicht, daß die Schauspieler jeden Vorhang mit einem Bindfaden zusammenraffen. So spielt die Handlung der nächsten sieben Szenen auf der leeren Guckkastenbühne. In der fünfzehnten Szene, nach dem 'Kampf der zwei Recken' - Petr Nikolaevic gegen den Vater Elizavetas - werden die Vorhänge von den Bindfäden befreit und das Bühnenbild sieht wieder wie am Anfang der Inszenierung aus. Die Requisiten, mit denen im Laufe der Handlung gespielt wird, kann man an einer Hand abzählen: vier Stühle - die am meisten verwendeten Gegenstände ein kleiner Holzhandkarren mit Kartoffeln, mit dem in der dritten Szene die 'Mamasa' auf der Bühne erscheint, und zwei Stöcke, in ihrer Form an riesige Streichhölzer mit roten Köpfen erinnernd, mit denen die 'Recken' in der fünfzehnten Szene kämpfen. Mit der Maske der Darsteller und ihren Kostümen (Kostümentwurf Heike Betz und Angela Kühn) wird eine Brücke in die 20er Jahre geschlagen. Die Schminkästhetik ist futuristisch, die Overalls der Schauspieler lassen an die Entwürfe von Popova zurückdenken. Das Gesicht Elizavetas (Johanna Rönsch) ist weiß geschminkt, mit roten Lippen, schwarzen Augenbrauen und dunklen Augenhöhlen. Ihr Kostüm besteht aus einem blauen Hemd, einem weißen, mit Blumen gemusterten Küchentuch, das die Schauspielerin um die Hüfte geschlungen trägt über blauen

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Der Bühnenbildentwurf von Birgit Franz läßt eine Anlehnung an die Dekoration Ivan Bechterevs, des Co-Regisseurs und Bühnengestalters der Leningrader Uraufführung des Stückes 1928 vermuten, der das Prinzip der verschiebbaren Kulissen zugrunde lag. Michail Mejlach, der sich mit der Rekonstruktion dieser Inszenierung beschäftigte, beschrieb das Bühnenbild aufgrund des überlieferten Regieexemplars Charms', der in dieser Produktion als weiterer Regisseur auftrat, folgendermaßen: "Die von I. Bechterev entworfene Bühnenausstattung wurde mit Hilfe von gegenstandslosen Elementen links und rechts auf der Bühne konstruiert. Sie bestand aus kleinen Kulissen mit bizarr in der Art von Zinnen ausgeschnittenen Konturen. Diese Kulissen wurden auf 'Schi' gestellt: Dadurch konnten sie in die Tiefe fahren, wie es am Anfang der dritten Szene passiert, die Gegenstände (der Tisch in der sechsten Szene) und die Menschen (Papaäa und Mamaäa in der achten, siebzehnten und weiteren Szenen) entblößen und verbergen, sowie die Bühne 'aus einem Zimmer in eine Landschaft' (siebte Szene) und 'aus einer Landschaft in ein Zimmer' (siebzehnte Szene) verwandeln." (Mejlach, Ο "Elizavete Bam" Daniila Harmsa, S. 181 [Üs.: SL]). Elizaveta Bam, S. 303. 147

Stiefelhosen, schwarzen Gummistiefeln und einem weißen Kopftuch, unter dem blonde Korkenzieherlocken herausstehen. Die Gesichter der zwei Verfolger Elizavetas sind auch weiß, die Augen durch blauen Lidschatten betont. Petr Nikolaevic (Marcus Leclaire) hat einen schwarzen Schnurrbart aus Werg, Ivan Ivanovics (Björn Blank) Kinn schmückt ein kleines Stückchen schwarzen Fells, das wie ein grotesker Stutzbart aussieht. Die beiden tragen blaue Overalls und Soldatenstiefel. Ihre Zugehörigkeit zur Staatsmacht wird durch Schulterklappen, goldene Knöpfe und zwei Orden bei Petr Nikolaeviö, einen Gürtel mit goldener Schnalle und einen Revolver an der Seite bei Ivan Ivanovic angedeutet. Auf dem Kopf Petr Nikolaevics sitzt eine Militärmütze, Ivan Ivanovics eine Perücke, die an den Haarschnitt der berühmten finnischen Rock-Gruppe "Leningrad Cowboys" erinnert, deren Schöpfe die Form eines grotesken Vogelschnabels haben - ein Gruß der modernen Avantgarde an die Avantgarde der zwanziger Jahre. Der Arm Petr Nikolaeviis steckt bei seinem ersten Auftritt in einer Schlinge. Ivan IvanoviCs Kopf ist vom Kinn nach oben mit einem weißen Tuch verbunden. So setzt die Regisseurin die Regieanweisung in Szene, die das erste Erscheinen der beiden, nachdem Elizaveta die Tür öffnet, beschreibt: "Ivan Ivanovic steht auf Krücken gestützt, Petr Nikolaevic sitzt auf einem Stuhl, die Wange verbunden."' 92 Die Maske der in der dritten Szene auftretenden Eltern PapaSa und Mamasa ist besonders grotesk. Augenhöhlen, Augenbrauen und Schnurrbart von Papaäa sind mit schwarzer Farbe auf der weißen Grundierung gemalte symmetrische Dreiecke. Außerdem trägt er einen langen schwarzen Teppichbart. Das Gesicht von Mamasa ist auch schwarzweiß bemalt. Dicke schwarze Linien betonen ihre Stirn- und Lachfalten, ihre Augen sind schwarz umrandet. Mit schwarzer Farbe sind auch einige Zähne Mamasas lackiert, so daß ihr Mund fast zahnlos wirkt. Für das Äußere Papasas hat sich die Regisseurin vom schon erwähnten Bild Marc Chagalls inspirieren lassen. Der Vater trägt einen blauen Overall, eine schwarze Schirmmütze und hat ein hölzernes Häuschen auf dem Rücken. Mamasa hat über dem blauen Overall eine graue Schürze, um ihren Kopf ist ein schwarzes Kopftuch gebunden, an dem ein Büschel grauer Haare klebt. Neben den fünf erwähnten Hauptpersonen, deren Beziehung zueinander nachvollziehbar ist - eine Frau, ihre Verfolger und ihre Eltern - taucht in der sechsten Szene des Stückes ein Bettler auf, der Elizaveta um Almosen bittet, und dessen Funktion sich mit der Auflösung des Raums erklären läßt, ein Verfahren, das bei der Analyse von Vvedenskijs Weihnachten bei Ivanovs bereits diskutiert wurde. Spielt in Elizaveta Bam die Handlung der ersten acht Bilder im Zimmer Elizavetas, an dessen Türe man klopfen muß, um hinein zu kommen, wie es Ivan IvanoviC und Nikolaj Nikolaevic am Anfang des Stückes machen, so wird mit dem plötzlichen Erscheinen eines Bettlers im Zimmer die Raumkategorie aufgelöst. Die Regisseurin hat den Bettler durch eine Kakerlake ersetzt. 193 Diese einzige Abweichung von der 192 1,3

Elizaveta Bam, S. 294. Die Kakerlake wird im Stück fünfmal erwähnt. Dreimal wird das Insekt von Petr Nikolaevic als ein Bewohner seines Häuschen in den Bergen präsentiert, einmal wird der Name des Insekts bei der Bildung des Vaternamens von Elizaveta verwendet - Ivan IvanoviC spricht sie mit 'Elizaveta Kakerlakovna' an, - und einmal spricht Elizaveta selbst in ihrem Schlußmonolog von der Kakerlake, nachdem sie verhaftet wird: "Und in dem Häuschen auf dem Berge brennt schon Licht. Die Mäuse zwirbeln ihre langen Schnurrbärte. Und auf

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Personenliste kann als Versuch, den Zuschauern die im Text verschlüsselten politischen Vorgänge nahe zu bringen, verstanden werden. Dabei geht Birgit Franz von einem assoziativen Wortspiel aus: Kakerlake - Wanze. Da die Kakerlake auch im Stück als ein Symbol des Bösen erscheint und die Staatsgewalt vertritt, versucht die Regisseurin diese Funktion ins Bild zu setzen und die Zuschauer an 'Wanzen' Abhörgeräte - zu erinnern. Die Kakerlake taucht zweimal auf der Bühne auf. In der sechsten Szene, wenn Ivan IvanoviC und Petr Nikolaevic Elizaveta Bam suchen und sie hinter einer der Kulissen versteckt finden, öffnen sie plötzlich eine andere Kulisse, hinter der die Kakerlake (Christian Reschke) - blauer Overall, schwarze Maske, die Kopf und Gesicht bedeckt, schwarze Stiefel und ein Kakerlakenpanzer - auf dem Rücken liegt und mit den Füßen zappelt. Sie bittet Elizaveta um eine kleine Spende, wird aber von Petr Nikolaevic mit Fußtritten hinter die Kulisse gejagt. Zum Schluß der Inszenierung, wenn Elizaveta durch Ivan Ivanovic und Petr Nikolaevic verhaftet und abgeführt wird, erscheint die Kakerlake wieder. Sie läuft zum Stuhl, auf dem die rote Nelke liegt, die Elizaveta in einer der Szenen Petr Nikolaevic geschenkt hatte und die er auf dem Stuhl liegen ließ, und frißt sie auf. Zwei Musik-Einfügungen im Text des Stückes, die Charms in den Regieanweisungen 'fordert' - einmal wird eine kurze Passage in der dritten Szene von Mamasa gesungen, ein anderes Mal singt der Chor in der zwölften Szene "zur Musik nach dem Motiv der Ouvertüre"194 - ersetzt die Regisseurin durch zwei Lieder, die Gerald Schmidt exklusiv für die Inszenierung vertont hat. Mamasa erhält ein Lied, dessen Text aus improvisativ erarbeiteten Sätzen absurden Inhaltes besteht, der Chor summt das Gedicht Es ging ein Mensch aus seinem Haus... wie am Anfang der Inszenierung. Weitere kleinen Streichungen, die sich beim Vergleich der Spielfassung mit dem Text des Stückes konstatieren lassen, haben keine semantische Bedeutung, weil der Text absurd ist, und lassen sich nur mit der Sprechbarkeit der Textpassage erklären. Die neunzehn Szenen der Inszenierung kann man bedingt in drei Kategorien einordnen: Szenen, in denen Choreographie dominiert, Szenen, in denen die Regisseurin der Klangkulisse den Vorzug gibt, und dramatische Etüden. Die für Personen erfundene Choreographie zeigt einerseits die Anlehnung an Mejerhol'ds Biomechanik, andererseits läßt sie sich als ein Versuch, die dramentheoretischen Thesen des OBERiu-Manifestes195 in der Praxis zu erproben, deuten. So wird z.B. die Identitätsveränderung von Petr Nikolaevic und Ivan Ivanovic in der dritten Szene von Verfolgern Elizavetas zu Clowns als Spiel mit einem Stuhl arrangiert. Die beiden Darsteller nehmen dabei verschiedene Posen ein, steigen synchron zusammen auf den Stuhl und machen gymnastische Bewegungen mit Armen und Beinen, springen auf den Boden, hocken sich hin und heben dabei den Stuhl an den hinteren Stuhlbeinen hoch.

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dem Ofen sitzt die Kakerlake Tarakan Tarakanoviö im Hemd mit einem roten Kragen, die Axt in der Hand." (Elizaveta Bam, S. 317). - In diesem Monolog fungiert die 'Kakerlake' als Henker, was sie im Kontext der Handlung zum Symbol des Bösen macht. MüllerScholle interpretiert die Kakerlake als eine der im Stück verschlüsselten Metaphern des Todes (Müller-Scholle, Das russische Drama, S. 138). Elizaveta Bam, S. 306. OBERJU-Manifest, in: Schreibheft, S. 15.

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Der Stuhl wird in vier weiteren Szenen zum Objekt für Manipulationen. In der fünften Szene fungiert er als Instrument der Gewalt: Ivan Ivanovii und Petr Nikolaevic, die hier als betrunkene Männer auftreten, 'spielen' eine Vergewaltigung: einer liegt auf dem Boden, und der zweite macht über ihm mit dem Stuhl die eindeutigen Bewegungen des Sexualaktes. In der sechsten Szene, während des Versteckspiels Elizavetas mit ihren zwei Verfolgern, tauchen auf der Bühne zwei weitere Stühle auf. In der achten Szene, deren Text aus einzelnen Wörtern, Silben und Vokalen besteht, die Elizaveta und Ivan Ivanovic miteinander wechseln, funktionieren die Stühle als Turngerät: Elizaveta steigt während des Sprechens mit Hilfe von Ivan Ivanovic, der ihr die Hand reicht, auf die in einer Linie stehenden Stühle und fuhrt dabei gymnastische Übungen aus. Am Anfang der neunten Szene schreiten Ivan Ivanovic, Elizaveta und Papasa einige Male über die Stuhllehnen und sprechen danach ihre Texte. In der elften und der zwölften Szene wird der Text von rhythmischen Bewegungen begleitet. Der Text der elften Szene besteht aus einem kurzen, Monolog von Ivan Ivanovic, in dem er Mamasa, Papasa und Elizaveta mitteilt, daß seit seiner Geburt "38 Jahre vergangen" 196 seien, daß er ein Haus habe, und daß zuhause seine Frau mit 10 Kindern sitze. Seine Sprechpartie wird durch "Hurra!"Zwischenrufe der Anwesenden unterbrochen, und zum Schluß der Szene zählt die Mamasa ihre Kinder namentlich auf. Während sie ihren Text sprechen, springen die Schauspieler auf der Bühne im Kreis und verdeutlichen ihre Worte durch entsprechende Bewegungen. In der Choreographie der zwölften Szene folgt die Regisseurin demselben Prinzip: die Schauspieler springen und laufen im Kreis, dabei den Text sprechend, der zum Teil aus Fragen besteht, die die Anwesenden einander stellen: "Ißt du Brot?", "Ißt du Fleisch?", "Ißt du Mehl?", "Ißt du Kohl?", "Ißt du Hammelfleisch?", "Ißt du Bouletten?" 197 Die dreizehnte Szene, in der Petr Nikolaeviö einen zusammenhangslosen Dialog mit Musikinstrumenten führt - mit Violine, Trommel und Pfeife erweist die Dominanz des Rhythmus. Die Szene beginnt mit der kurzen 'Unterhaltung' des Petr Nikolaevic mit der Violine: PETRNIKOLAEVIC:

Zerbrochen bist du, zerbrochen dein Stuhl. VIOLINE:

N a na ni na na na ni na. PETR NIKOLAEVIC:

Zerbrochen die Kutsch, und alle warn futsch. VIOLINE:

N a na ni na na na ni na. 1 9 8

Dem Sprechen dieser Passage gehen Schläge der Stiefelabsätze der im dunklen Hintergrund der Bühne marschierenden Schauspieler, sowie einen Trommelwirbel und ein Pfeifen von Zeit zu Zeit voraus. Aus dem Violine-Text machen die Dar-

196 197 198

Elizaveta Bam, S. 305. Ebd. Ebd., S. 307.

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steller eine Stimmübung - sie singen die Silben in verschiedenen Registern. Petr Nikolaevic spricht seine kurzen Partien, während er seine Beine im Stechschritt über die Bühne reißt, mit einem imaginären Gewehr in der Hand. Alle weitere Mitwirkenden dieser Szene schlagen den Takt mit den Stiefelabsätzen und klatschen in die Hände. In diese rhythmisierte Klangkulisse dringt ein Militärmarsch ein. Der Rhythmus wird einmal gebrochen: die Schläge der Stiefel, das Händeklatschen und die Musikklänge vermischen sich und bilden eine Kakophonie. Petr Nikolaevic läuft auf der Bühne hin und her, wirft sich auf den Boden, als ob er sich vor einem Geschoß schützen wolle, erhebt sich auf die Knie, zuckt zusammen und weicht mit dem Körper zurück, als sei er von einer Kugel in die Brust getroffen, greift sich ans Herz, flüstert: "Helft mir!" und fällt 'tot' um. So fuhrt die Regisseurin in diese Szene das Thema des Krieges ein. Die dritte Szene, in der die Mamasa mit einem kleinen Holzhandkarren voll Kartoffeln auf der Bühne erscheint, Kartoffeln mit einem Messer schält und dabei ein Wiegenlied summt, wird zur dramatischen Etüde. Eine weitere ist in der fünften Szene eingebaut. Elizaveta lädt Ivan Ivanovic und Petr Nikolaevic ein, sich zu setzen. Die kurze Regieanweisung, die diese Episode in der Textvorlage begleitet, lautet: "Schweigen. Sie essen Suppe." 199 Die Regisseurin parodiert hier das realistische Theater. Die Darstellerin der Elizaveta und ihre zwei 'Gäste' setzen sich langsam und würdevoll auf gegenüberstehende Stühle. Die Szene ist durch den Klang von Trinkpokalen, Lachen, abgerissene Worte, die mehrere Stimmen hinter der Bühne sprechen, und Gitarrenakkorde akustisch unterlegt, was die Atmosphäre einer gemütlichen Abendgesellschaft vermittelt. Daraufhin wechseln die Schauspieler miteinander einzelne Worte, und die Handlung wird wieder zum absurden Spiel. Auch die erste und die letzte Szene der Inszenierung sind als dramatische Etüden rezipiert. Der Text des Stückes hat ja, wie schon erwähnt, eine Ringstruktur, er beginnt und endet mit derselben Szene: Elizaveta Bam wartet auf die Männer, die sie verhaften und vernichten wollen. Die Bewegungsregie dieser beiden Szenen ist im Vergleich zu denjenigen, in denen Elemente der Biomechanik Mejerhol'ds verwendet werden, sparsam, die Gestik der Darstellerin nicht überzeichnet. Elizaveta spricht ihre Monologe dramatisch-pathetisch und demonstriert dabei den 'Glauben an die Lebensbedingungen' der Rolle nach Stanislavskijs System. Insgesamt macht das Bühnengeschehen den Eindruck eines Schauspielertrainings, des Versuchs, verschiedene Elemente des Theaters in der Praxis zu erproben und ihre Wirkung auf das Publikum zu prüfen. Dabei wird deutlich, daß sich die Regisseurin mit ihrer Idee an die Thesen anlehnt, die Charms selbst Elizaveta Bam betreffend in dem OBERiu-Manifest formulierte: "Das dramaturgische Sujet des Stückes", lautet das Manifest, "ist durchschossen von vielen, scheinbar nebensächlichen Themen, die den Gegenstand hervorheben als ein einzelnes, mit dem übrigen keinen Zusammenhang bildendes Ganzes; deshalb entsteht das dramaturgische Sujet vor Augen des Zuschauers nicht als deutlich erkennbare Sujetfigur, es brennt gleichsam im Rücken des Geschehens. An seine Stelle tritt das szenische Sujet, das elementar aus allen Elementen unserer Aufführung hervorbricht. Ihm vor allem gilt unsere Aufmerksamkeit. Zugleich aber haben bestimmte Einzelelemente der Auffuhrung für uns ihren eigenen Wert und Reiz. Sie führen ein Eigenleben, ohne sich 199

Ebd., S. 300. 151

dem Ticken des Theatermetronoms unterzuordnen. Hier ragt die Ecke eines Goldrahmens hervor - er lebt als Kunstgegenstand; dort wird das Fragment eines Gedichtes gesprochen - es ist in seiner Bedeutung selbständig und treibt gleichzeitig - wider eigenen Willen - das szenische Sujet des Stückes voran. Bühnenbild, Bewegung des Schauspielers, eine weggeworfene Flasche, der Zipfel eines Kostüms sind ebenso Akteure wie die Schauspieler, die den Kopf schütteln und verschiedene Wörter und Sätze sprechen."200 4.4.6. Ein Blick auf die Aggressivität des heutigen Alltags: Rindviecher sollen nicht lachen auf der Studiobühne Köln Am 19. Januar 1997 bekamen auch Kölner Theaterliebhaber die Möglichkeit, die absurde Welt von Daniii Charms kennenzulernen. Die Regisseurin Inka Neubert arrangierte für drei Schauspieler (Birgitta Weizenegger, Severin von Hoensbroech und Christian Schramm) auf der Studiobühne eine Komposition aus vierzehn Erzählungen und Szenen des russischen Oberiuten, die sie mit einem provokanten Satz aus dem Text Charms' Über das Lachen - "Rindviecher sollen nicht lachen" betitelte. Die Wahl der Regisseurin fiel vor allem auf Charms' Prosa von 1940, seinem vorletzten Lebensjahr, in dem die durch die Lebensumstände des Dichters beeinflußte Brutalität des Gedankenablaufs und sein schwarzer, an Sadismus grenzender Humor in besonders scharfer Form zum Ausdruck kamen. Im Unterschied zu Ilona Zarypow, die mit ihrer Berliner Inszenierung einen 'Sprung' in die russische Geschichte gemacht hat, um die Zuschauer an einige tragische Ereignisse zu erinnern, was ja im Jahre 1988, im Zusammenhang mit der Annäherung von Ost und West, brandaktuell war, nähert sich Inka Neubert den absurden, düsteren Texten Charms', indem sie die darin angebotenen Situationen in den heutigen Alltag projiziert. Sie setzt die Probleme in Szene, die die Zuschauer am Ende des 20. Jahrhunderts am meisten belasten: der harte Rhythmus des modernen Tagesablaufes und die Gefahr, sich selbst zu verlieren beim Versuch, mit diesem Tempo Schritt zu halten, die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Menschen, der Streß im Beruf und im Privatleben. Vom Bezug des Regiekonzeptes von Inka Neubert zum modernen Alltagsleben zeugen sowohl die Kostüme der Schauspieler - Birgita Weizenegger trägt blaue Jeans und eine schwarze Bluse, Severin von Hoensbroech und Christian Schramm moderne graue Anzüge (Kostüme Carola Brandes) - als auch die Bewegungsregie, die frei von Überzeichnungen ist im Unterschied zu den schon diskutierten CharmsInszenierungen, und die keine Anlehnung an die avantgardistischen Theaterexperimente der 20er und 30er Jahre zeigt. Der Bühnenraum (Alireza Varzandeh) wirkt surrealistisch. Die Spielfläche ist rechts von einer mit abstrakten Figuren bemalten Kulissenwand begrenzt, links von drei Rechtecken. Auf zwei davon sind antike Säulen gemalt, auf die dritte eine Palme. Im Laufe der Handlung werden die Rechtecke einige Male gedreht, offenba-

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OBERiu-Manifest, in: Schreibheft, S. 15.

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ren sich dabei als Prismen und bringen mit den neuen Bildern und Installationen, die ihre Seiten präsentieren, Abwechslung in die Bühnenlandschaft. Den Auftakt der Inszenierung bildet der Text: "Wenn ich einen Menschen sehe, habe ich Lust, ihm eine in die Fresse zu hauen", der von drei Stimmen - einer weiblichen und zwei männlichen - in wechselnden Rhythmen mehrere Male gesprochen wird und den dunklen 'Kosmos' des Bühnenraums akustisch ausfüllt. Ein schwacher Scheinwerferstrahl fällt auf die drei menschlichen Körper, denen diese Stimmen gehören: Der weibliche Körper wälzt sich im Lichtfleck, einer der Männer sitzt daneben, der zweite schreitet am Rande dieses Flecks entlang - bald taucht er in der beleuchteten Zone auf, bald verschwindet er wieder in der Dunkelheit. Der sitzende Mann fangt an, sich zuerst um die Frau herum zu wälzen, dann steht er auf und läuft um sie herum, bis der Raum sich plötzlich erhellt. In diesem Augenblick kommen die Schauspieler zur Vorderbühne und setzen den Text den Zuschauern zugewandt fort: "Ich sitze in meinem Zimmer und tue nichts. Da kommt mich jemand besuchen; er klopft an meine Tür. Ich sage: 'Herein!' Er kommt herein und sagt: 'Guten Tag! Wie schön, daß ich Sie zu Hause antreffe!' Und ich haue ihm eine in die Fresse und trete ihm dann noch mit dem Stiefel in die Weichteile. Mein Gast fällt vornüber von dem schrecklichen Schmerz. Und ich ihm mit dem Stiefelabsatz in die Augen!"201 Dieser unter die drei Schauspielern verteilte Text wird mal solistisch, mal chorisch, mal um die Wette rezitiert. Mit der Brutalität, die die Erzählung durchdringt, wird die Verzweiflung eines modernen jungen Menschen über die Zerrissenheit der Welt und über den Streß, den er jeden Tag erleben muß, auf die Bühne gebracht. Fallen, eine weitere Erzählung der Bühnenkomposition, die davon handelt, wie zwei Menschen vom Dach eines vierstöckigen Neubaus fallen, 202 rezipiert die Re-

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Spielfassung Studiobühne Köln, S. 1. Michail Jampol'skij setzt sich mit dem Motiv des Fallens im Werk Charms' auseinander. Dabei stellt er fest, daß das Fallen bei Charms den physikalischen Gesetzmäßigkeiten widerspricht: "Seine Körper", schreibt Jampol'skij, "nehmen sich beim Fallen Zeit, als ob sie keiner Beschleunigung ausgesetzt wären." (Jampol'skij, Bespamjatstvo kak istok, S. 102 [Üs.: SL]). - Als ein Beispiel fuhrt Jampol'skij die Erzählung Fallen an. Die Verlangsamung des Fallens wird hier besonders augenfällig. Die Ausgangssituation bildet das Fallen zweier Menschen von einem Dach. Dieser kurzen Information folgt die ausführliche Beschreibung der Reaktionen zweier Frauen mit dem identischen Namen Ida Markovna, die im Haus gegenüber dem Unfallort wohnen und das Fallen beobachten. Die groteske Auflösung der Zeitkategorie beim Fallen zweier Körper stellt sich heraus, wenn Charms eine Kette von Handlungen der beiden Ida Markovnas beschreibt, die sie unternehmen, um die Fallenden besser zu sehen. Die erste reißt sich z.B. "das Hemd vom Leib und wischt damit die beschlagene Fensterscheibe." (Die Erzählung Fallen zit. nach Daniii Charms: Alle Fälle, Zürich 1995, S. 415). - Charms weist auf die Verlangsamung der Fallgeschwindigkeit hin, indem er Ida Markovna beim Ausziehen sofort auf den Gedanken kommen läßt, daß die Fallenden sie nackt sehen könnten und "sonstwas von ihr denken" werden. Nach der ersten Ida Markovna bemerkt das Fallen auch die zweite, die nur zwei Treppen unter der ersten wohnt. Daraus kann man schließen, daß die Fallenden die Strecke zwischen den zwei Stockwerken, die die beiden Frauen trennen, sehr langsam hinter sich bringen. Diese zweite Ida Markovna möchte nicht versäumen, wie "die beiden Fallenden auf der Erde aufschl(a)gen." (Ebd.) Deswegen versucht sie, das Fenster, das unten zugenagelt ist, zu öffnen, bekommt es nicht auf und holt ihr Handwerkzeug. Es gelingt ihr, mit Hilfe der Zange das Fenster zu öffnen, und sie sieht, "wie die beiden vom Dach Fallenden pfeifend auf die Erde zusausten." (Ebd.) Das groteske Bild des langsamen Fallens wird in der letz-

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gisseurin als eine Diskussion von Unfallzeugen. Neubert teilt den Text in kurze Dialogpartien für die beiden männlichen Darsteller. Einer der Männer erscheint auf der Bühne mit einem Stuhl und der russischen Zeitung 'Izvestija' in der Hand, geht zur Vorderbühne, setzt sich, schlägt die Zeitung auf und spricht die ersten Zeilen des Textes, als ob er sie im Nachrichtenteil lesen würde: "Zwei Menschen fielen vom Dach. Beide fielen vom Dach eines vierstöckigen Neubaus. Einer Schule offenbar. Sie waren sitzend das Dach bis zum Dachrand hinuntergerutscht, und von da hatten sie zu fallen begonnen."203 Der zweite Darsteller bringt aus den Kulissen ebenfalls einen Stuhl, geht zur Vorderbühne, setzt sich neben den ersten und spricht zu ihm eine weitere Passage des Textes, die davon handelt, wie die zwei Ida Markovnas auf diesen Vorfall reagierten. Der erste Darsteller schlägt die Zeitung zu und übernimmt das Erzählen. So teilen die beiden einander weitere Einzelheiten des Vorfalls mit. Dabei wird der Tonfall der Gesprächspartner immer aggressiver, die Stimmen immer lauter, bis einer die Zeitung in seiner Hand zerknüllt und den anderen vom Stuhl auf den Boden stößt. Auf diese Weise setzt die Regisseurin den letzten philosophischen Satz der Erzählung um: "So schlagen zuweilen auch wir, wenn wir von den erreichten Gipfeln fallen, in dem trübseligen Käfig unserer Zukunft auf."204 Die Agressivität in der Beziehung der Personen zueinander steigert sich in der nächsten Szene, der die Erzählung In einer Straßenbahn saßen zwei Männer zugrunde liegt. Zum Diskussionsthema wird dieses Mal die Wahrscheinlichkeit des Lebens nach dem Tod. Der vom Stuhl gefallene Darsteller springt vom Boden auf, geht auf seinen 'Beleidiger' los und spricht mit drohender Stimme: "Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tode. Für ein Leben nach dem Tode gibt es keine realen Hinweise [...]".205 Der Dialog entwickelt sich zu einem heftigen Wortgefecht, während dem es zu einem Handgemenge kommt. Die beiden werden von der auf der Bühne erschienenen Darstellerin getrennt: "Ich habe Ihr Gespräch gehört und, Verzeihung, würde gern eines wissen: Wie ist es nur möglich, daß zwei noch junge Menschen ernsthaft erörtern, ob es ein Leben nach dem Tode gibt oder nicht?"206 Die Regisseurin beendet diese Szene mit einer ironischen Note: Die zwei Darsteller duellieren sich. Die Frau legt jedem der Männer eine aus Sperrholz gesägte Pistole ten Textpassage noch verschärft. C h a m s läßt die zwei Körper nur dann 'zu Ende' fallen, wenn sich auf der Straße, die Charms als der "Ort des zu erwartenden Geschehens" bezeichnet, ein Menschenauflauf gebildet hat und die zwei Ida Markovnas es endlich geschafft haben, "eine im Kleid, die andere nackt", sich aus dem Fenster zu lehnen. Nur dann schlagen "die beiden Fallenden, mit ausgebreiteten Armen und weit aufgerissenen Augen, dumpf auf dem Erdboden a u f ' (Ebd., S. 416). Jampol'skij konstatiert eine mögliche Parallele zwischen dem in die Länge gezogenen Fallen bei Charms und dem langsamen Fallen von Alice in Alices Abenteuer im Wunderland, dem Märchen von Lewis Carroll. Auch Alice gelingt es, während ihres Fallens "ein Glas mit Konfitüre ins Regal" zu stellen, "einen Knicks" zu machen und sogar zu schlafen (Jampol'skij, Bespamjatstvo kak istok, S. 103f.[Üs.: SL]). - Von der möglichen Inspiration Charms' durch das Märchen von Carroll zeugt eine Notiz im Tagebuch des Dichters vom 14. November 1937. Er zählt Lewis Caroll neben Gogol', Prutkov, Meyrink, Hamsun und Edward Lear zu seinen Lieblingsschriftstellern (Charms, Die Kunst ist ein Schrank, S. 228f.). 203 204 205 206

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Spielfassung, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd.

in die Hand. Die Männer stehen sich auf der Vorderbühne gegenüber, richten ihre Waffe aufeinander, 'schießen' aber plötzlich beide auf die in der Tiefe der Bühne stehende Frau und 'vertonen' diesen Schuß mit dem Wort 'pusch!', und als die Frau zu Boden fallt, 'schießen' die Männer aufeinander und brechen ebenfalls zusammen. Diese Szene geht ohne Pause in eine weitere über, die eine klassische absurde Situation präsentiert: die Kommunikation zwischen den Leuten ist zerstört und sie versuchen, sie wiederherzustellen, gleichzeitig sind sie aber nicht bereit, aufeinander zu hören. Deswegen endet ihre Unterhaltung in zusammenhangslosen Gesprächen. Die 'Leichen' leben auf, lachen, wiederholen noch einmal 'pusch!' und summen immer noch liegend zuerst einige Takte aus dem russischen Lied Katjusa, dann die Melodie des ebenfalls russischen Liedes Schwarze Augen. Der Rhythmus der Handlung ist bemerkbar verlangsamt. Die Frau erhebt sich vom Boden und geht in die Tiefe der Bühne, zu einem der Prismen, das nun ein Fenster mit Sperrholzflügeln darstellt. Sie macht langsam die Flügel des Fensters auf und zu und versucht dabei mit einem der liegenden Männer das Gespräch anzuknüpfen: "Was sagt man dazu, Fadej Ivanovic, dauernd regnet es." Die beiden wechseln einige Sätze aus dem Dialog Was sagt man dazu, die vom schlechten Wetter handeln, worauf das Thema erschöpft ist und die Kommunikation 'stirbt'. Der Mann, der gerade sprach, steht auf, geht hinter die Kulissen, bringt ein Tablett, bietet dem auf der Bühne liegenden ein 'Gläschen Tee' an und stellt das Tablett neben ihm auf den Boden. Der Schauspieler und die Schauspielerin treiben sich summend noch eine Weile auf der Bühne herum, bis die Schauspielerin plötzlich ein weiteres Thema für ein Gespräch findet. "Und Olga schreibt nicht", sagt sie langsam. "Sie schreibt nicht und schreibt nicht." "Wie wer schreibt nicht?" fragt der Darsteller. "Ich sage, Olga schreibt nicht", versucht die Frau den Mann ins Gespräch einzubeziehen und wird wieder gefragt: "Was heißt welche Olga?" "Na Olga! Wie, du kennst Olga nicht?" fuhrt sie das sinnlose Gespräch weiter. "Ach Olga?" Na, und was ist mit ihr?" fragt er. "Na, sie schreibt nicht, sage ich", antwortet sie und er bedauert: "O je ο je." 207 So wird mit diesem absurden Text die Fremdheit der Menschen untereinander und die Langeweile, die daraus entsteht, thematisiert. Ein weiteres Thema, das die Regisseurin in der Inszenierung behandelt, ist die Brutalität, die die Kinder heutzutage durch verschiedene Medien kennenlernen. Während die Männer die links auf der Bühne stehenden Rechtecke drehen und sie zum Bild eines Kamins zusammenschieben, bringt die Schauspielerin vier aus Pappe ausgeschnittene Kinder, die sie auf dem Boden um den Kamin herum anordnet. Daraufhin taucht sie mit einem großen Buch auf, setzt sich inmitten der 'Kinderschar' und fangt an, mit einschmeichelnder, sanfter Stimme die Erzählung Ritter zu lesen: "Es war einmal ein Haus voller alter Frauen. Die alten Frauen strichen den ganzen Tag durchs Haus und schlugen mit Papiertüten nach Fliegen." 208 Der Text, der anfänglich wie ein Märchen klingt, entwickelt sich bald zu einer Horrorgeschichte: Eine der Alten namens Swjakina fällt auf den Boden und bricht sich dabei die Kinnlade. Der Arzt, der von den anderen Alten geholt wird, stellt fest, daß die Frau zu alt sei, "um mit einer Heilung ihrer Kinnlade rechnen zu können." 209 Er

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Ebd., S.6. Ebd., S. 11. Ebd. 155

verlangt "einen Hammer, einen Meißel, eine Zange und einen Strick", dann bittet er die anderen Frauen, sich zu entfernen, fesselt seine Patientin mit dem Strick, setzt den Meißel an ihr Kinn und bearbeitet den Meißel mit dem Hammer. "Als der Arzt ihre Kinnlade aufgemeißelt hatte," lautet der weitere Text, "nahm er die Zange und riß damit die Kinnlade heraus. Das Blut flöß in Strömen, und die Swjakina heulte, schrie und röchelte. Doch der Arzt warf die Zange und Swjakinas herausgerissene Kinnlade auf den Fußboden, zog den Kittel aus, wischte sich damit die Hände ab, ging zur Tür und öffnete sie."210 Diese Textpassage liest die Schauspielerin freundlich lächelnd und wendet sich dabei bald zum einen, bald zum anderen Kind. Die Stimme der Schauspielerin bleibt bis zum Ende des Vorlesens zärtlich, als ob sie eine interessante und lehrreiche Geschichte vorgelesen hätte. Zum Schluß erzählt sie den Kindern, daß nach dem Besuch des Arztes die Alten "wieder Fliegen klatschen" gehen und Swjakina reglos und still liegen bleibt. "Wahrscheinlich war sie gestorben", liest die Schauspielerin fröhlich den letzten Satz der Erzählung, worauf die Bühne ins Dunkel versinkt. Zwei weitere Erzählungen der Bühnenkomposition sind Störung und Die Truhe, auf die in dieser Arbeit schon im Zusammenhang mit der Inszenierung von Ilona Zarypow eingegangen wurde. 2 " Die beiden Texte thematisieren Existenzängste der Sowjetbürger unter dem totalitären Regime - die Angst vor Verhaftung und die Platzangst, die durch verschiedene Verbote entstand. Die erste Erzählung beginnt mit einer Verfuhrungsszene zwischen Frau und Mann. Sie werden plötzlich gestört von einem Mann im schwarzen Mantel, der sich in ihre Wohnung drängt, nach ihren Namen fragt und die beiden schließlich verhaftet. Die zweite Erzählung handelt von einem Mann 'mit dünnem Hals', der in einer Truhe mit geschlossenem Deckel langsam zu ersticken droht, plötzlich aber feststellt, daß er ja nicht in einer Truhe, sondern auf dem Boden seines Zimmers liegt, und dann den Sieg des Lebens über den Tod verkündigt. Inka Neubert interpretiert die Störung nicht als plötzliches Eindringen der Staatsmacht in die Privatsphäre der Menschen, sondern als Geschlechterkampf. Der Mann und die Frau bleiben, als sie die ersten Sätze ihres Dialoges sprechen, auf Distanz. Er steht im Dunkel auf der Vorderbühne, sie im Licht im Hintergrund. "Sie haben sehr schöne Strümpfe an," sagt er. "Ihnen gefallen meine Strümpfe?" fragt sie. "O ja. Sehr," antwortet er. "Und warum gefallen ihnen meine Strümpfe?" folgt eine neue Frage. "Weil sie so glatt sind."212 Die Worte fallen langsam, jedes Wort scheint genau kalkuliert und wirkt wie ein strategischer Spielzug. Wenn das Gespräch sich von Strümpfen weg den Beinen und den Hüften der Frau zuwendet, beginnt der Schauspieler langsam zu der Schauspielerin zu gehen, schaut sie taxierend an, ohne sie zu berühren. Die beiden wechseln noch ein paar Sätze miteinander: "Warum knien sie?" fragt die Frau. "Darum," antwortet der Mann. "Warum heben Sie meinen Rock noch höher? Ich sagte doch, ich habe keine Unterhosen an,"213 sagt sie, und die beiden setzen ihren Dialog tangotanzend fort. Den Tanz begleiten Schläge eines Metronoms und rhythmisches Schnalzen. Der Nebentext dieser Er-

210 211 2,2 213

Ebd. Siehe S.134f. dieser Arbeit. Spielfassung, S. 16. Ebd.

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zählung, der über das Auftreten eines Mannes in einem schwarzen Mantel und dessen weiteren Handlungen informiert, wird von den beiden Darstellern während ihres Tanzes gesprochen. Dabei gehen der Haupt- und der Nebentext als ununterbrochener Text ohne Intonationsunterschied ineinander über: Hier zählt nicht der Inhalt, sondern der Ton, in dem die Sätze vorgetragen werden. Die Sprache wird in diesem Fall zum Mittel des Kampfes zwischen einem Mann und einer Frau. Die Truhe ist der vorletzte Text der Spielfassung. Einer der Männer wendet sich plötzlich seinen Bühnenpartnern zu mit dem ersten Satz der Erzählung: "Ein Mann mit einem dünnen Hals kletterte in eine Truhe, Schloß den Deckel über sich und begann zu ersticken." Danach geht er langsam zur Vorderbühne, und während die Bühne im Dunkel versinkt, setzt er seinen Monolog, im schmalen Strahl des Scheinwerfers stehend, fort. Die Regisseurin entzieht auch diesem Text den politischen Unterton und rezipiert ihn als Alptraum eines modernen Menschen, der mit seinem Tagesstreß nicht fertig wird. Wenn der Mann über die letzten Krämpfe eines erstickenden Menschen philosophiert, wechselt seine Stimme plötzlich in Schreien, er fällt auf den Hintern und rutscht so rückwärts in die Tiefe der Bühne. Daraufhin wird die Bühne wieder beleuchtet. Der Schauspieler steht auf, entdeckt seine Kollegen und wendet sich an sie mit der Textpassage, die seine Handlungen kommentiert: "Der Mann mit dem dünnen Hals erhob sich von Fußboden und sah sich um. Nirgends war eine Truhe. Auf den Stühlen und auf dem Bett lagen die Sachen aus der Truhe, aber die Truhe war nirgends. Der Mann mit dem dünnen Hals sagte: 'Das heißt, das Leben hat mit einer mir unbekannten Methode den Tod besiegt.'"214 Der Mann und die Frau, die den Sprechenden beobachten, wechseln erstaunte Blicke, worauf der Mann sich dem Sprechenden nähert und ihn fragend anschaut. Dann stieben alle drei auseinander und sprechen nacheinander einen Satz, den die Regisseurin der Spielfassung hinzugefugt hat: "Ein überaus kluger Mensch ging in den Wald und er verlief sich dort." So bringt sie eine ironische Note in die Handlung und bereitet die Zuschauer auf diese Weise auf Die Vierbeinige Krähe, die letzte Szene der Bühnenkomposition vor. 215 Diese Erzählung ist witzig, die Sprache ist verkindlicht. Die Schauspieler sammeln sich auf der Vorderbühne und erzählen den Zuschauern von einer vierbeinigen Krähe, die eigentlich "sogar fünf Beine hatte", die einmal Kaffee kaufte und als sie nachdachte, was sie damit machen soll, einen Fuchs traf. Der Fuchs sprach sie mit "Du Krähe" an, sie empfand aber diese Anrede als eine Beleidigung, erwiderte, "Selber Krähe", bekam von ihm "Und du, Krähe, bist ein Schwein" zurück und verschüttete "vor Ärger den ganzen Kaffee". Der Fuchs lief davon und die Krähe ging 214 215

Ebd., S. 20. Die vierbeinige Krähe (1938) ist einer der in Märchenform geschriebenen Texte von Charms: Die Erzählung beginnt mit dem für Märchen typischen Satz "Es war einmal...", die handelnden Personen sind sprechende Tiere. Thomas Grob stellt im Werk von Charms ab Mitte der 30er Jahre eine zunehmende Tendenz zu Märchenelementen fest, was er mit der Situation in der sowjetischen Literatur dieser Zeit verbindet. "Nach langen Jahren der Polemik gerade gegen das Märchengenre, das angeblich von der Realität ablenke und das Kind erschrecke," schreibt Grob, "ist um 1935 eine Wende festzustellen, die neben einer Märchenwelle eine Renaissance von traditionellen, 'niedlichen' Kinderversen, aber auch eine Unmenge von Übertragungen aus vermeintlich kindgerechten Stoffen der europäischen Literaturtradition mit sich bringt." (Grob, Daniii Charms' unkindliche Kindlichkeit, S. 91 f.).

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"auf ihren vier, genauer, auf ihren fünf Beinen in ihr armseliges Haus". 216 Die Körpersprache der Schauspieler entspricht dem Inhalt des Textes, sie schneiden beim Sprechen Grimassen und zeigen einander die Zunge. Nach dem letzten Satz drehen sie sich mit dem Rücken zum Publikum und gehen nach hinten. Dabei setzen sie die Diskussion wieder fort: Hatte die Krähe eigentlich nur vier oder doch fünf Beine ...

4.4.7. Eine Überlegung zum Wesen des Absurden: Es geht ein langer Mann auf der Studiobühne des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität München Die Münchner Bühne rezipierte Charms dreimal. 1997 wurde eine Komposition aus Szenen und Erzählungen des Dichters unter dem Titel Charms in Betten auf die Bühne des Theaters am Sozialamt (TamS) gebracht. Zwei Jahre später, im Frühjahr 1999, fand auf der Studiobühne des Instituts für Theaterwissenschaft der LudwigMaximilians-Universität der Charms-Abend Es geht ein langer Mann statt. Im November 2000 kündigte das Theater 'Blaue Maus' die Premiere von Schmutzige Persönlichkeiten oder Die Schamlosen nach Charms' Kurzprosa an. Die Originalität der Regie-Idee sowie der Enthusiasmus und das Engagement, die die jungen Darsteller in der im Rahmen eines Bühnenpraktikums entstandenen Produktion gezeigt haben, rechtfertigen es, von den drei Münchner Charms-Interpretationen diejenige auf der Studiobühne für die Analyse zu wählen. Die einundzwanzig Dialoge und Monologe, die die Regisseurin Katrin Kazubko der Spielfassung zugrunde gelegt hat, sind handlungsarm oder haben gar keine Handlung. Sie wirken wie Textpassagen, die aus einem nicht nachvollziehbaren Kontext herausgerissen sind, ohne Anfang und ohne Ende. Jean-Philippe Jaccard erklärt diese Struktur von Charms' Texte mit dem Bruch der "Postulate des normalen Erzählens", der sich in erster Linie darin zeigt, daß der Erzähler nicht fähig ist, die Geschichte zu erzählen, und schon gar nicht fähig ist, sie zu vollenden. 217 Auch das Brechen eines der Postulate der 'normalen Kommunikation', nämlich des 'Postulates der Informativität', 218 das sich im Charms' Werk oft konstatieren läßt, trägt zu dem Eindruck bei, daß diese Texte unvollendet sind. 216 217

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Spiclfassung, S. 21. Jaccard konstatiert in der Unvollendetheit der Texte Charms' auch eine der Überschneidungen seiner Werke mit der Literatur des Absurden, vor allem mit den Stücken von Beckett, bei dem das Thema der Unvollendetheit immer wieder erscheint. "Ses textes sont aussi mourants que ses personnages", bemerkt Jaccard bezüglich Beckett, und führt als Beispiele seine Theaterstücke Cascando, Cendres und Fin de partie an. "La vie n'est qu'une 'vieille fin de partie perdue', dans laquelle les partenaires ne servant qu1 ä 'donner la replique'", faßt Jaccard seine Beobachtungen über diese Stücke zusammen, "car il faut parier pour ne pas mourir. Les textes de Beckett sont tous, toujours, a la limite du nonetre, mourants" (Jaccard, La fin de l'avantgarde russe, S. 262). Die Unvollendetheit seiner Texte macht Charms nach Jaccard nicht nur zum Vorgänger von Beckett, sondern auch zum Nachfolger von Gogol', bei dem oft "la narration se perd dans le brouillard" (Ebd., S. 263). Jaccard fuhrt eine Reihe von Verfahren an, die das 'Postulat der Informativität' auslösen. Das sind "la tautologie ou la repetition pure et simple", "emploi de lieux communs (parfois syntaxiquement justes mais semantiquement absurdes), de choses evidentes (par ex-

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Schon der erste Blick auf die Bühne läßt vermuten: Die Zuschauer werden zu Zeugen eines absurden Durcheinanders. An Gummileinen von der Decke hängen verschiedene Requisiten - zwei Löffel und zwei Teetassen, zwei Telefonhörer, zwei Bücher, ein Spiegel, eine Gießkanne, ein geöffneter Regenschirm, eine Teekanne. Die Spielfläche, die nur ein paar Meter Fußboden vom Publikum trennen, ist in Quadrate aufgeteilt, von denen fünf entfernt wurden. So hat der Bühnenboden in der Mitte drei Öffnungen - zwei kleine quadratische und eine große, einen Winkel aus drei Quadraten bildende Öffnung. Diese Art der versenkten Konstruktion des Bühnenbodens bietet den Schauspielern zusätzliche Bewegungsmöglichkeiten.· Sie können, in der Grube sitzend, ihren Rand als einen Tisch verwenden, sie können in die Vertiefung springen oder über sie hinwegschreiten. Der Regie von Katrin Kazubko folgen dreizehn Darsteller, die sich in die sonderbaren Personen der irrwitzigen Dialoge und Szenen von Charms verwandeln, und eine Cellistin, die die Handlung musikalisch begleitet. Die Aufführung beginnt im Halbdunkel. Auf einer Leiter, die rechts im vorderen Teil der Spielfläche nahe am Publikum steht, sitzt ein Mann und raucht. Daneben hat sich auf einem Koffer eine Frau mit einem Buch in der Hand niedergelassen. Eine weitere Frau liest ein Buch im Stehen. Ein Mann hat in der Bühnenöffnung vor einer auf der Bodenfläche stehenden Schreibmaschine Platz genommen. Ein paar Schritte von ihm entfernt, links, beugt sich eine Frau mit einem Beil über einen Hackklotz. Zwei Frauen sitzen rechts im Hintergrund der Bühne an einem Tisch. In der Tiefe der Bühne links ist noch eine stehende Frau zu sehen, die sich in einem Handspiegel betrachtet. Vor der Wand in der Tiefe sitzt mit dem Rücken zu den Zuschauern eine Cellistin. Die Schauspieler sind nach der Mode der 20er Jahre gekleidet - die einzige Anspielung an die Entstehungszeit der Texte in der Inszenierung. Der Bühnenraum erinnert an eine Mehrfamilien-Wohnung sowjetischen Stils, hier allerdings ohne Wände, in deren verschiedenen 'Räumen' sich das Alltagsleben abspielt. Die Figuren beleben sich. Die auf dem Koffer sitzende Frau rezitiert die Abfahrtszeiten der Züge, die Frau, die stehend ein Buch liest, zählt laut, die Cellistin entlockt ihrem Cello Töne, der Mann in der Bodenöffhung beginnt auf der Schreibmaschine zu tippen, die Frau mit dem Beil schlägt auf den Hackklotz. Für einige Augenblicke versinkt der Raum in der Kakophonie verschiedenartiger Klänge. Die Handlung geht von einer Gruppe zur anderen über. Keiner der Darsteller verläßt im Laufe der Inszenierung die Bühne. Die Schauspieler, die gerade agieren, werden vom Scheinwerfer beleuchtet, während alle anderen im Dunkel erstarrt bleiben. A u f diese Weise erreicht die Regisseurin das im Programmheft proklamierte "unmittelbare Nebeneinander der Darsteller", das "bei der gleichzeitig unüberbrückbaren Distanz an sich schon etwas absurdes hat." 219 U m ein Beispiel zu geben, wie Katrin Kazubko "das Wesen des Absurden wie von Charms aufgeschrieben" 220 auf die Bühne umsetzt, wird hier auf drei Szenen

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emple dire ce qu' on est en train de faire) ou de proverbes (parfois deformes): chaque personnage emet une phrase sans lien aucun avec la replique precedente et s'enferme dans sa propre parole." Und "desagregation de la parole au point que les personnages n'emettent plus que des sons" (Ebd., S. 251). Das Programmheft der Inszenierung. Ebd. 159

der Inszenierung - Was sagt man dazu und Sie wissen! Ja? Sie wissen! sowie Der Streit221 - eingegangen. Der Dialog Was sagt man dazu präsentiert mehrere aufeinanderfolgende Versuche dreier Personen, miteinander zu kommunizieren, von banal bis widersinnig, die alle scheitern. Am Anfang reden Elena Ivanovna und Papasa, handelnde Personen dieser Szene, über das Wetter. Als die beiden nichts mehr zu diesem Thema äußern können, bemüht sich Elena Ivanovna vergeblich, die Kommunikation zu retten, indem sie dem Papasa Tee nachschenkt. Charms betont 'das Ersterben' der Kommunikation mit der folgenden Regieanweisung: "Pause. Papasa hat den Tee getrunken und ist eingeschlafen."222 Danach folgt ein zweiter Versuch, ein Gespräch anzuknüpfen. Elena Ivanovna weckt Papasa mit der neuen Feststellung auf, daß 'Olga nicht schreibt'. Dabei ist Papasa genauso wie der Leser dieses Dialoges oder der Zuschauer irritiert: welche Olga, und was ist mit ihr los? Als auch diese Chance zur Kommunikation verspielt ist, läßt Charms eine dritte Person, Rachtanov, auftreten. Dieser verlängert dem Gespräch für einen Augenblick 'das Leben', indem er bemerkt, daß Sergej Olga einen Heiratsantrag gemacht hat. Nach dem vergeblichen Versuch Papasas, Olga, 'die nicht schreibt', und Sergej in einen logischen Zusammenhang zu bringen, erreicht die Kommunikation ihren Gefrierpunkt, wird aber von Rachtanov wiederbelebt durch die Bemerkung, daß Kolja "das Metallsofa eingedrückt"223 hat. Aus dieser Nachricht entwickelt sich jedoch kein weiteres Gespräch: Papaäa entsetzt sich flüchtig über das Vergehen Koljas, Elena Ivanovna ärgert sich, daß Kolja "nichts Eiligeres zu tun [hat], als es einzudrücken". Rachtanov versucht zum letzten Mal die Kommunikation voranzutreiben. Er teilt den Anwesenden mit, daß Kolja "am Dienstag das Haus aufgegessen" hat. Diese absurde Information wird von Elena Ivanovna als Streich aufgenommen, den sie schon öfter erleben mußte. "Auch das noch",224 bemerkt sie unzufrieden. Was sagt man dazu wird auf der Studiobühne von Teresa Grenzmann und Jörg Hertenstein gespielt, die an einem Tisch in der Tiefe der Bühne sitzen. Der Gesichtsausdruck und die Körperhaltung der Schauspieler sowie die Geschwindigkeit ihrer Rede, die akustisch dem Sprechen in der Phase zwischen Wach- und Schlafzustand gleicht, illustrieren, was auf der verbalen Ebene vermittelt wird: tödliche Langeweile. Die Frau hat ihren Kopf zurückgeworfen, ihre Augen verdreht und ihren Mund verzogen. Der Mann hat die Augen geschlossen und stützt seinen Kopf auf die Hände. Dabei äußern sich die beiden zu einem Thema, das selbst schon als Inbegriff der Kommunikationsprobleme gilt: Die beiden reden über das Wetter. Nach dieser Textpartie stürzt der Dialog ins Absurde: jetzt wird von Olga, die nicht schreibt, gesprochen. Der Moment, an dem die Logik plötzlich gebrochen wird, wurde in dem Inszenierungstext folgendermaßen visualisiert: Die Schauspielerin steigt plötzlich auf den Tisch, fängt die in der Luft 'schwebende' Tasse und die Teekanne und bietet dem Mann Tee an. So wird die Grenze zwischen Realität und Ab221

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Auf das Sujet von Was sagt man dazu wurde in der vorgelegten Arbeit schon im Zusammenhang mit der Kölner Inszenierung von Inka Neubert eingegangen, auf das Sujet des Streites im Zusammenhang mit der Berliner Inszenierung von Ilona Zarypow. Was sagt man dazu, in: Daniii Charms, Theater, übersetzt u. hg. von Peter Urban, Frankftirt/M. 1997, S. 101. Ebd., S. 103. Ebd.

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surdem nivelliert. Das Überschreiten dieser Grenze macht alles, was weiter passieren wird, zur Selbstverständlichkeit, sogar die Information, daß ein gewisser Kolja das Haus aufgegessen hat. Sie wissen! Ja? Sie wissen!, ein weiterer Dialog, ist ein typisches Beispiel fur das Verfahren, das Jaccard als "une poetique du begaiment narratif' 225 (die Poetik erzählenden Stotterns) bezeichnet. Die Szene stellt ein Gespräch zwischen zwei Klatschtanten dar. Mindestens die Hälfte des Dialoges besteht aus identischen Fragen, die Nina, eine der beiden, an Varvara Michajlovna, die andere, stellt. Die Komik und die Absurdität dieses Textes bestehen darin, daß, obwohl der Dialog ohne Unterbrechung weiter gefuhrt wird, zwischen beiden keine Kommunikation entsteht, weil die erste der zweiten nicht auf der verbalen Ebene vermitteln kann, was sie so aufregt. "Sie wissen! Ja? Sie wissen? Nein haben Sie schon gehört? Ja?" beginnt Nina die Unterhaltung. "Nein, denken Sie nur! Varvara Michajlovna! Denken Sie nur!" lautet ihr zweiter Einwurf. "Stellen Sie sich vor, Varvara Michajlovna! Stellen Sie sich vor!" wendet sie sich zu ihrer Gesprächspartnerin noch einmal. "Nein, hören Sie, Varvara Michajlovna! Ha-ha-ha," kann sie sich nicht beruhigen. Auf alle diese verbalen Eskapaden antwortet Varvara Michajlovna mit einem kurzen: "Was denn? Was denn?" 226 Erst wenn Nina in der zweiten Hälfte des Dialoges zwei Personen erwähnt - Elizaveta und Obernibesov - und dazu Varvara Michajlovna mitteilt, daß Obernibesov sich in Elizaveta verliebte, entsteht ein Gespräch zwischen beiden Frauen. Zum Schluß der Szene kommen die Frauen sogar zu einer Übereinstimmung, da sie beide nicht fassen können, daß alle Männer verrückt nach dieser Elizaveta sind. Katrin Kazubko akzentuiert die Absurdität dieses Dialoges, wenn sie Flora Meszaros und Stefanie Kaschner, die diese Szene spielen, die in der Luft schwebenden Telefonhörer fangen und durch diese Hörer den ganzen Text sprechen läßt. Dadurch, daß die Hörer nur auf Gummileinen von der Decke hängen und auf keine Weise miteinander verbunden sind, wird die Störung der Kommunikation visualisiert. Eine weitere Szene, in der durch das Spiel mit Gegenständen die Absurdität ins Bild gesetzt wird, ist Der Streit, ein Dialog zwischen Kuklov und Bogadelnev. Der Konflikt wird durch die Behauptung Kuklovs provoziert, daß er ein Prinz sei. Danach beschimpfen die beiden Gesprächspartner einander: Bogadelnev droht Kuklov, ihn mit Suppe vollzuspritzen, bezeichnet seinen Hals als spindeldürr und seine Nase als einen Trog. Kuklov nennt Bogadelnev "ein Schwein", worauf der Dialog von vorne anfängt. Die zwei Männerrollen sind in der Inszenierung durch Frauen besetzt, Amalia Altenburg und Mona Kraushaar, folglich wird in der Spielfassung das Wort "Prinz" durch das "Prinzessin" ersetzt. Zum Angelpunkt bei der Umsetzung dieser Szene macht Kazubko die Ringstruktur des Textes und die Monotonie der Handlung. Die beiden Frauen sitzen am Tisch in der Tiefe der Bühne und löffeln während des Sprechens synchron aus den Tellern mit Löffeln, die an Gummileinen von der Decke hängen. Die Löffel werden in dem Moment, als der Streit seinen Höhepunkt erreicht, mit einem Schnalzen aus der Hand gelassen und bleiben schaukelnd in der Luft hängen. Die Szene wird im Laufe der Inszenierung drei Mal von Anfang an durch225 226

Jaccard, La fin de l'avantgarde russe, S. 260. Sie wissen! Ja? Sie wissen!, in: Charms, Theater, S. 103. 161

gespielt. Jedesmal nehmen die Schauspielerinnen die Löffel aus der Luft und wiederholen das rhythmische, synchrone Löffeln während des Sprechens des Textes. Die Münchner Inszenierung ist die einzige der in dieser Arbeit analysierten Interpretationen Charms', die den Zuschauern nicht den zynischen und sarkastischen Charms, sondern einen ironischen präsentiert. Die Produktion beweist, daß die freien Spielräume, die Charms' Texte anbieten, auch mit der Lebensfreude und Selbstironie, die junge Darsteller bei der Annäherung an die Texte Charms' zeigen, ausgefüllt werden können. Die selbstironische Einstellung der Schauspieler zu ihrer Arbeit, die sie im Laufe der Handlung mehrmals offenlegen, wird in der Mißglückten Vorstellung, der letzten Szene des Abends, in der alle Mitwirkenden hintereinander auf der Bühne auftreten, artikuliert. Der Text besteht aus abgerissenen Sätzen, die die verschiedenen Leute, die kurz auf der Bühne auftauchen, nicht vollenden können, weil sie sich übergeben und sofort abtreten. Was hier eigentlich passiert, erklärt ein kleines Mädchen, das als letzte auf der Bühne erscheint. Sie teilt dem Publikum mit: "Papa hat mich gebeten, Ihnen allen auszurichten, das Theater wird geschlossen. Uns wird allen übel!"227 So setzt Katrin Kazubko, im Unterschied zu Charms, der seine Texte unvollendet ließ, einen Schlußpunkt in ihrem Inszenierungstext.

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Mißglückte

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Vorstellung, in: Charms, Theater, S.192.

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5. Blick über die Grenzen

Die langerwartete positive Veränderung in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa zeigte sich im Kulturbereich besonders fruchtbar. Sie brachte die Auseinandersetzung mit den aus ideologischen Gründen unterdrückten und verschwiegenen Schichten der Kultur in Schwung und führte damit zu reizvollen Entdeckungen. Da Deutschland das Aufeinanderprallen zweier jahrzehntelang voneinander isolierten Welten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems besonders intensiv erlebte, war auch die Entdeckungsarbeit hier im Vergleich zu anderen Ländern Westeuropas sehr aufschlußreich, was das deutsche Theater mit Inszenierungen von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniii Charms belegte. Um die Größenordnung der Rezeption dieser Autoren im deutschen Theater und gleichzeitig ihre Bedeutung im westeuropäischen Kontext zu verdeutlichen, genügt es, einen Blick in die Werkstatistik der deutschsprachigen Schweiz und Österreichs, sowie außerhalb der Grenzen des deutschsprachigen Raumes in die Statistiken des italienischen, englischen, niederländischen und französischen Theaters zu werfen. 1 Das stabile Interesse des deutschen Theaters für die hier diskutierten Autoren Marina Cvetaeva ausgenommen - im Zeitraum der letzten zwölf Jahre teilte weder die schweizerische noch die österreichische Bühne. Das schweizerische Theater lenkt im Unterschied zum deutschen Theater seine Aufmerksamkeit nur einmal im Jahre 1972 auf Bulgakov - die am Stadttheater Luzern zur deutschsprachigen Erstaufführung gebrachte Komödie Die Purpurinsel wird nach acht Vorstellungen vom Spielplan abgesetzt; sie hat offenbar die schweizerischen Regisseure zu keinen weiteren Auseinandersetzungen mit dem Werk des Schriftstellers inspiriert. Marina Cvetaeva taucht auf dem schweizerischen Spielplan zweimal auf, beide Male aber in französischer Sprache. 2 Dreimal setzt sich das schweizerische Theater mit Sze-

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Im folgenden werden die Bühnenwerkstatistiken verwendet, die mir die Mitarbeiter der Schweizerischen Theatersammlung in Bern, des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Wien, der Biblioteca del Burcardo in Rom, des Theatre Museum in London, des Theater Instituut Nederland in Amsterdam und des Centre national du Theatre in Paris liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. " Dabei zeigen die Regisseure nicht für dramatische Werke der Dichterin Interesse, sondern fur ihre Lyrik: 1999 bereitet die Compagnie Angledange aus Genf Sur ςα. Une generation dans l'ouragan vor, eine 'plastisch-musikalische' Komposition, der eine Reihe von Gedichten verschiedener Dichter der russischen Moderne einschließlich Marina Cvetaeva zugrunde liegt. Im selben Jahr bringt das Vidy Theatre, Lausanne in Koproduktion mit dem Theater Les Federes, Montlufon, dem Hebbel Theater, Berlin und dem Theater De Antwerpen Le gars, ein Melodram von Lukas Hemleb nach einem Gedicht Cvetaevas, heraus. 164

nen und Erzählungen von Daniii Charms auseinander3 und einmal mit Weihnachten bei Ivanovs von Aleksandr Vvedenskij. 4 Der Werkstatistik des österreichischen Theaters zufolge wurde Bulgakov in Österreich viermal rezipiert, ausschließlich in den 90er Jahren. Aus seinen Werken wählten die Theatermacher Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen, Hundeherz, Sojkas Wohnung und Der Meister und Margarita,5 Die beiden Oberiuten waren auf der österreichischen Bühne jeder nur einmal präsent.6 Damit ist die Liste der Theaterauseinandersetzungen mit dem Werk der vier hier diskutierten Dichter in der Schweiz und Österreich erschöpft. So kann man im Falle der beiden Nachbarländer Deutschlands nicht von einer kontinuierlichen Rezeption dieser Autoren sprechen, sondern nur von vereinzeinten Inszenierungen. Im italienischen und englischen Theater sind die verfemten russischen Autoren auch nicht etabliert. Neben einer Inszenierung von Bulgakovs Purpurinsel im Frühjahr 1969 am Piccolo Teatro di Milano kommt es in Italien nur zu punktuellen Inszenierungen Cvetaevas in den 90er Jahren.7 Das englische Theater beschäftigt sich einmal, Mitte der 80er Jahre mit Daniii Charms8 und einige Male mit Michail Bulgakov. In England kommen vier Werke von Bulgakov auf die Bühne: darunter die Dramatisierungen der Romane Die weiße Garde9 und Der Meister und Margarita1" sowie der Stücke Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen" und Die Flucht}2 3

Im Jahre 1984 findet die deutschsprachige Erstaufführung der Fälle am Züricher Theater an der Winkelwiese statt, 1993 zeigt das Stadttheater Bern den Kabarettabend Das ist eigentlich alles nach Texten von Charms und 1996 fuhrt das Theater Basel die Textcollage Es gibt nur gar kein Gleichgewicht in der Welt auf. 4 Die Premiere des Stückes zeigt das Theater am Neumarkt, Zürich 1993. Adelheid Müther, die Regisseurin der Inszenierung wiederholt diese Produktion vier Jahre später ohne wesentliche Veränderungen am Staatstheater Kassel. 5 1991 fanden in Wien zwei Bulgakov-Premieren statt: Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen am Ensemble Theater - Treffpunkt Petersplatz und Hundeherz am Theater Brett mit Schauspielern des Jura Soyfer Theaters. Meister und Margarita wurde 1994 am Wiener Theater zum Fürchten aufgeführt, und Sojkas Wohnung ein Jahr später an der Salzburger Elisabethbühne. 6 Charms durch die Inszenierung Theaterfallen im Foyer des Wiener Burgtheaters 1992, und Vvedenskij durch Eine gewisse Anzahl Gespräche am Wiener Teatro Caprile 1995. 7 Das sind zwei Produktionen aus dem Jahre 1990 - eine Hommage an Marina Cvetaeva am Teatro Spazio Uno, Rom, und Hotel des ämes, ein dramatischer Text von Enrico Groppali, in dem unter Verstexten anderer russischer Dichter der Moderne die Gedichte von Cvetaeva eingearbeitet sind, am Centro Teatrale Bresciano - sowie die dem berühmten Briefwechsel zwischen Cvetaeva, Pasternak und Rilke gewidmete Inszenierung II settimo sogno im Rahmen des Festivals Ville Tuscolane in Frascati 1992 und schließlich die Inszenierung von Phoenix am Piccolo Teatro di Milano 2001. 8 1985 kommt am Theatre de Complicite, London, in einer Koproduktion mit dem Royal National Theatre eine Collage nach Charms' Erzählungen zu Premiere. 9 Dabei wurde Die weiße Garde schon in den 30er Jahren für die Bühne adaptiert - die Premieren fanden auf drei Londoner Bühnen statt: 1931 am Kingsway Theatre, 1934 am Ambassadors Theatre und 1938 am Phoenix Theatre. Wiederentdeckt wurde der Roman 1979 vom Londoner Aldwych Theatre. 10 Die Dramatisierung des Romans wurde erst 1992 aufgeführt, gleichzeitig auf drei Londoner Bühnen - in Battersea Arts Centre, Lyric Hammersmith Studio Theatre und Almeida Theatre. " Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen erlebte seine Premiere 1992 am Theatre Clywd Mold, North Wales. 1993 transponierte das Stück das Londoner Barbican Pit 165

In den Niederlanden scheinen den Regisseuren besonders die absurden Texte der Oberiuten nahe zu liegen. Weihnachten bei Ivanovs von Vvedenskij wird hier zweimal auf der Bühne umgesetzt. 13 Produktionen nach Charms' Szenen und Erzählungen sind in den Niederlanden wenigstens siebenmal zu sehen. 14 Außerdem grif das niederländische Theater zweimal Elizaveta Bam auf.15 Bulgakov rief dagegen nur viermal das Interesse der niederländischen Theatermacher hervor: Zur Inszenierung gelangten Der Meister und Margarita,16 Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen17 und Hundeherz.xi Mit Cvetaeva setzte sich das niederländische Theater einmal auseinander.19 Gemessen an der Häufigkeit der Auseinandersetzungen mit den hier diskutierten Autoren liegt Frankreich vor der Schweiz, Österreich, Italien, England und den Niederlanden. Im gesteigerten Interesse fur Charms in Frankreich, was man in der Heimat des europäischen absurden Theaters fast als Gesetzmäßigkeit betrachten könnte, ist ein Paradoxon zu entdecken: erst 1994, d.h. elf Jahre später als Deutschland und einige Jahre später als die anderen hier diskutierten europäischen Länder wendet sich das französische Theater Charms' Texten zu. 20 In den nachfolgenden Jahren steht Charms einmal pro Jahr auf dem Spielplan der französischen Bühne. 21 Vvedenskij wird vom französischen Theater nur einmal interpretiert.22 Seit der ersten Hinwendung des französischen Theaters zum Werk von Bulgakov im Jahre 1970 - das Theatre des Amandieres, Nanterre zeigte die Premiere der Komödie Die Flucht - wurde Bulgakov in Frankreich weitere zehnmal inszeniert. 23 Von seinen

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Theatre in einer Koproduktion mit der Royal Shakespeare Company aus Stratford-uponAvon auf die Bühne. Die Flucht war in England in drei Inszenierungen zu sehen: zweimal im Jahre 1987 - am Theatre Royal in Bristol und auf der Bühne der Royal Shakespeare Company in Stratfordupon-Avon, und einmal am Londoner Lyric Hammersmith Studio Theatre im Jahre 1993. 1991 durch die Theatergruppe Orkater, Amsterdam und vier Jahre später durch das Ensemble des Theaters Bis, Hertogenbosch. 1990 am Toneelschuur, Haarlem, 1991 am Theater Frascati, Amsterdam, 1992 in der Inszenierung von der Theatergruppe Azart, Amsterdam, 1994 und 1996 am Theater De Vorst, Tilburg, 1997 am Chamber Theatre, Amsterdam, 1998 am Theater Artemis, Hertogenbosch. Das Stück kommt 1983 am Grand Theatre, Groningen und 1990 am Theater Bellevue, Amsterdam zur Premiere. Die Dramatisierung des Romans wird 1990 am Theater aan de Haven, Gravenhage und 1993 am Het Vervolg Theater, Maastricht aufgeführt. 1984 am Theater aan de Rijn, Amhem. Die Erzählung bearbeitet für die Bühne und inszeniert die Theatergruppe t'Barre Land, Utrecht. Eine Produktion, der Gedichte Cvetaevas zugrunde liegen, zeigte 1997 das Kindertheater Z1D, Amsterdam. Für 1994 handelte es sich um folgenden Bühnen: Theatre Du Fust, Montelimar, Le Lieu unique, Nantes, Theatre Firmin Gemier, Antony und Theatre de la Renaissance, Oullins in Koproduktion mit der Compagnie Lhore Dana, Lyon. Die Ausnahme bilden das Jahr 1998 - Charms wird zweimal auf die Bühne gebracht und das folgende Jahr, in dem Charms von französischen Theatermachern unbemerkt bleibt. 1997 präsentiert das Pariser Odeon-Theätre de l'Europe eine Produktion, deren Spielvorlage neben Vvedenskijs Stücken auch Texte von vier weiteren Mitglieder der OBERIU - Charms, Lipavskij, Vaginov und Druskin - enthält. Zur Rezeption Bulgakovs im französischen Theater vgl. S. 36f. dieser Arbeit.

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Theaterstücken wurden Die Purpurinsel,24 Adam und Eva,25 Moliere oder Die Kabale der Scheinheiligen26 und von den nichtdramatischen Texten der Roman Der Meister und Margarita27 sowie die Novellen Die Aufzeichnungen eines jungen Arztes28 und Hundeherz29 auf die Bühne gebracht. Marina Cvetaeva wurde im Spielplan der französischen Bühne mit einer Inszenierung des Versdramas Phoenix,,30 der autobiographischen Prosa Die Erzählung von Sonecka31 und mit mindestens vier Gedichtkompositionen präsent. Die Zahlen der hier dargstellten Werkstatistik fuhren deutlich vor Augen, daß in der Intensität der Beschäftigung mit Bulgakov, Charms und Vvedenskij Deutschland unter den westeuropäischen Ländern an der Spitze liegt. Auch das Spektrum der Werktitel ist im Vergleich zu den erwähnten Ländern die größte, was einen fast planmäßigen Charakter der deutschen Rezeption erkennen läßt. Ein weiterer charakteristischer Zug der Etablierung der hier diskutierten Werke im deutschen Theater ist die hohe Einschätzung der Produktionen in der Öffentlichkeit durch Presse und Auszeichnungen. Der Glyzerinvater oder Wir sind keine Heringe, die Charms-Collage Ilona Zarypows am Berliner Zan Polio Theater, wurde 1988 als 'Theaterereignis der Saison' und als eine der besten Produktionen der Berliner Theaterlandschaft gefeiert. Hundeherz in der Regie von Heinz Drewniok erkor man zur besten Inszenierung der Spielzeit anläßlich der Bayerischen Theatertage im Frühling 1991. Die deutschsprachige Erstaufführung von Weihnachten bei Ivanovs durch Nikolaj Sykosch am Hamburger Thalia Theater 1992 galt laut der Kritik als 'Entdeckung'. Weihnachten bei Ivanovs in Düsseldorf brachte der Regisseurin Karin Beier die Auszeichnungen 'Entdeckung des Theaterjahres 1994' und 'ein neuer Regie-Stern'. Weihnachten bei Ivanovs am Berliner Maxim-Gorki-Theater bekam 1995 den Friedrich-Luft-Preis als beste Berliner Sprechtheater-Inszenierung. Den Kölner Theaterpreis 1997 erhielt die Charms-Komposition von Inka Neubert in Köln, Rindviecher sollen nicht lachen. Einmal entdeckt in den späten 80ern, im Kontext der Annäherung der beiden Teile Deutschlands, landeten die Werke der in der Sowjetunion unter Stalin verfemten Autoren nicht im Laufe der Zeit in den Theaterarchiven, wie es oft mit Zeitstücken 24

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1980 am Theatre du Gymnase, Marseille in Koproduktion mit dem Theatre national, Paris. 1993 am Theatre de la Manufacture, Nancy. Das Stück kam zweimal zur Premiere: 1980 am Theatre nationale de Bretagne, Rennes und 1998 am Theatre Toursky, Marseille in Koproduktion mit dem Moskauer Theater am Pokrovka. Die Dramatisierung des Romans stand 1997 auf dem Spielplan des Theatre nationale de Toulouse, in Koproduktion mit dem Le Parvis-Scene nationale Tarbes-Pyrenees, Ibos und 2000 am Spielplan des Theatre de Sartrouville in Zusammenarbeit mit dem Theatre Jean Vilar, Vitry-sur-Seine. 2001 erschien am Spielplan des Theo-Theätre, Paris eine Produktion mit dem Titel Variation Faust, die Auszüge aus Meister und Margarita und Goethes Faust verbindet. Die Erzählung wurde 1992 für die Bühne adaptiert und in der Comedie de Caen, Nerouville St. Clair uraufgeführt. Die Werkstatistik verzeichnet zwei Inszenierungen: 1998 am Theatre populaire de Lorraine, Thionville und 1999 in der Comedie de Saint-Etienne. 1994 am Pariser Odeon-Theätre de l'Europe. 2000 am Theatre Studio-Compagnie Christian Benedetti, Alfortville.

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geschieht, wenn sich die politische und gesellschaftliche Situation, die sie reflektieren, verändert hat. Im Gegenteil: Sie gehören heute, auch wenn sie nicht neben Werken von Cechov und Gor'kij zu den im deutschen Theater am meisten inszenierten Theaterstücken zählen, doch zum klassischen russischen Repertoire, dem sich die deutschen Regisseure immer wieder zuwenden und - so steht zu hoffen zuwenden werden. 32

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Ein deutlicher Beweis dafür sind die Produktionen, die in der Spielzeit 2001/2002 herauskamen, und auch die noch im Entstehen sind. Im Dezember 2001 erscheint Die Alte von Charms (Regie Leopold Altenburg) auf dem Spielplan des Theaterlabors Bielefeld und fast gleichzeitig bringt Frank Castorf Die Flucht von Bulgakov in Stockholm auf die Bühne. Im Februar 2002 findet die Premiere von Poe & Charms (Regie Peter Ender) - eine Collage aus Szenen und Geschichten der amerikanischen und russischen Meister des Grauens - am Münchner Theater Schauburg am Elisabethplatz statt, in demselben Monat kommt am Magdeburger Puppentheater Falle, Fälle - eine Mord(s)geschichte (Regie Frank Soehnle), eine Produktion nach Charms' Kurzerzählungen heraus, im März 2002 wurden Der Meister und Margarita (Regie Andrej Woron) am Theater am Goetheplatz Bremen und Elizaveta Bam (Regie Oleg Myrzak) am bat-Studiotheater der Hochschule fur Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin auf die Bühne gebracht. Im Juni 2002 setzt sich Frank Castorf wieder mit Bulgakov auseinander, dieses Mal inszeniert er Der Meister und Margarita mit dem Ensemble der Volksbühne Berlin anläßlich der Wiener Festspielwochen. Ilona Zarypow probt Elizaveta Bam von Charms (im Sommer 2002) und Heinz Drewniok beschäftigt sich noch einmal mit Hundeherz von Bulgakov.

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Abbildungsnachweis

1: Ruth Walz; 2: Ilse Buchs und Jürgen Remmler, Fotoarchiv Münchner Theatermuseum; 3: Wolfhard Theile; 4: Michael Matejka, Bildredaktion Nürnberger Nachrichten; 5: Günter Wolfson; 6: Winfried E. Rabanus; 7, 8: Aram Radomski; 9: KayUwe Rosseburg; 10: Sonja Rothweiler, Fotoarchiv Düsseldorfer Theatermuseum; 11: Foto: Wilfried Boing; 12: Ilona Zarypow; 13: Gregor; 14: Reiner Josef Klein, Institut für Theaterwissenschaft, München.

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