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German Pages 427 Year 2010
CARL SCHMITT
Verfassungslehre
CARL SCHMITT
Verfassungslehre Zehnte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information D e r Deutschen Bibliothek D i e Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation i n der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind i m Internet über abrufbar.
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1928 1954 1957 1965 1970 1983 1989 1993 2003
Alle Rechte vorbehalten © 2010 Duncker & H u m b l o t G m b H , Berlin Neusatz auf Basis der 1928 erschienenen ersten Auflage Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei U n i o n G m b H , Berlin Printed in Germany I S B N 978-3-428-07603-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorbemerkung des Verlages zur 8. Auflage Carl Schmitts ,Verfassungslehre' erschien erstmalig 1928 und hat seitdem zahlreiche Neuauflagen erfahren. Die Schriftqualität der Nachdrucke wurde allerdings mit der Zeit gemindert, weshalb wir uns mit der hier vorgelegten Auflage zu einem Neusatz entschlossen haben. Dabei wurde der Seitenumbruch des arabisch numerierten Hauptteils unverändert belassen. Behutsam wurden bisher zum Teil nicht gegebene typographische Vereinheitlichungen vorgenommen; offensichtliche orthographische sowie grammatische Fehler wurden beseitigt. Stilistische Eigenheiten Schmitts blieben hingegen unberührt. Die erstmals eingefügten Kolumnentitel geben dem Leser eine sinnvolle Orientierungshilfe an die Hand. Berlin, im Juli 1993 Duncker & Humblot
Dem Andenken meines Freundes Dr. Fritz Eisler aus Hamburg gefallen am 27. September 1914
Vorbemerkung Die anhaltende Nachfrage nach dieser „Verfassungslehre" dürfte sich daraus erklären, daß sie den Typus einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung mit einer bis auf den heutigen Tag überzeugenden Systematik entwickelt hat. Das Buch behält deshalb, ohne Rücksicht auf die Weitergeltung der von ihm als Beispiel herangezogenen Verfassungsbestimmungen, seinen praktischen und theoretischen Wert, solange der Typus der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung positive Geltung hat. Das ist sowohl in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Ländern wie auch in den andern Staaten des demokratischen Westens der Fall. N u r an der Hand einer echten Systematik hat die Vergleichung und Veranschaulichung verschiedener Verfassungen einen guten Sinn, denn nur so ist eine rechtswissenschaftliche Erkenntnis der spezifischen Denkmodelle möglich. Ein Werk, dem diese Systematik gelungen ist, braucht nicht in einen Wettlauf mit den zahlreichen Verfassungstexten einzutreten, die sich im Lauf der Zeit ergeben, solange eben der Typus Bestand hat. Es kann sogar richtiger sein, hier Zurückhaltung zu üben, um den Typus klarer hervortreten zu lassen. So rechtfertigt sich der unveränderte Abdruck eines Buches, dessen erste Ausgabe im Jahre 1928 erschienen ist und das in dieser Gestalt im Inlande wie im Auslande bis auf den heutigen Tag Anerkennung gefunden hat. März 1954 Carl Schmitt
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist weder ein Kommentar noch eine Reihe monographischer Einzelabhandlungen, sondern der Versuch eines Systems. In Deutschland liegen heute zur Weimarer Verfassung ausgezeichnete Kommentare und Monographien vor, deren hoher Wert in Theorie und Praxis anerkannt ist und keines Lobes mehr bedarf. Es ist aber notwendig, sich außerdem auch um den systematischen Aufbau einer Verfassungstheorie zu bemühen und das Gebiet der Verfassungslehre als besondern Zweig der Lehre des öffentlichen Rechts zu behandeln. Dieser wichtige und selbständige Teil der Publizistik hat bei uns in der letzten Generation keine Ausbildung erfahren. Seine Fragen und Materien wurden entweder im Staatsrecht mit sehr verschiedenartigen öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten oder in der allgemeinen Staatslehre mehr oder weniger versprengt und beiläufig erörtert. Das erklärt sich geschichtlich aus der Lage des Staatsrechts der konstitutionellen Monarchie, vielleicht auch aus der Eigenart von Bismarcks Reichsverfassung, deren genialer Wurf elementare Einfachheit und komplizierte Unfertigkeit vereinigte, am meisten aber wohl aus dem politischen und sozialen Sicherheitsgefühl der Vorkriegszeit. Eine bestimmte Auffassung von „Positivismus" diente dazu, verfassungstheoretische Grundfragen aus dem Staatsrecht in die allgemeine Staatslehre zu verdrängen, wo sie zwischen Staatstheorien im allgemeinen und philosophischen, historischen und soziologischen Angelegenheiten eine unklare Stelle fanden. Es darf hier daran erinnert werden, daß auch in Frankreich eine Verfassungslehre sich erst spät entwickelt hat. I m Jahre 1835 wurde (für Rosst) ein Lehrstuhl des Verfassungsrechts in Paris errichtet, den man aber 1851 (nach dem Staatsstreich Napoleons III.) wieder beseitigte. Die Republik hat dann 1879 einen neuen Lehrstuhl geschaffen, aber noch 1885 beklagte es Boutmy (in seinen Etudes de Droit constitutionnel), daß der bedeutendste Zweig des öffentlichen Rechts in Frankreich vernachlässigt sei und keinen anerkannten Autor aufweise. Heute findet die Eigenart dieses Teiles des öffentlichen Rechts in berühmten Namen wie Esmein, Duguit y
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Vorwort
Hauriou , ihren Ausdruck. Es ist zu erwarten, daß die wissenschaftliche Behandlung der Weimarer Verfassung auch in Deutschland zur Ausbildung einer Verfassungslehre führt, wenn nicht außen- oder innerpolitische Störungen die ruhige und gesammelte Arbeit verhindern. Die öffentlich-rechtlichen Erscheinungen der letzten Jahre, besonders auch die Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, lassen diese Tendenz bereits erkennen. Wenn die Praxis einer richterlichen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen sich weiterentwickelt — wie es nach der heutigen Stellungnahme des Reichsgerichts zu erwarten ist — so wird das ebenfalls zu einer Beschäftigung mit der verfassungstheoretischen Seite aller Rechtsfragen führen. Schließlich darf ich noch erwähnen, daß auch die Erfahrungen, die ich seit 1919 in Vorlesungen, Übungen und Examen machen konnte, diese Ansicht von der Verfassungslehre als einem selbständigen, für sich zu behandelnden Gebiet des öffentlichen Rechts bestätigen. Schon jetzt dürfte ein großer Teil der UniversitätsVorlesungen über Allgemeine Staatslehre (Politik) in Wahrheit Verfassungslehre sein. Weil hier zunächst nur ein einfacher Grundriß entworfen werden soll, kam es nicht darauf an, die einzelnen Fragen des Staatsrechts monographisch zu erschöpfen und die Literatur bibliographisch aufzuzählen. Sowohl in den Kommentaren zur Weimarer Verfassung von Anschütz und von Giese, wie in dem Grundriß des Reichsund Landesstaatsrechts von Stier-Somlo finden sich übrigens gute Zusammenstellungen, so daß es nicht notwendig war, eine Aufzählung von Buchtiteln zu wiederholen. I n einer wissenschaftlichen Darlegung sind Zitate und Auseinandersetzungen allerdings unerläßlich. Doch sind sie hier in erster Linie als Beispiele gedacht und sollen die Stellung bestimmter Einzelfragen im System der Verfassungslehre verdeutlichen. Immer handelte es sich vor allem um die klare und übersichtliche, systematische Linie. Das muß betont werden, weil es gegenwärtig in Deutschland an systematischem Bewußtsein zu fehlen scheint und sogar schon in populärwissenschaftlichen Sammlungen (die ihre Rechtfertigung doch nur durch strengste Systematik erhalten können) die Weimarer Verfassung „in Form eines freien Kommentars", d. h. in Notizen zu den einzelnen Artikeln behandelt wird. Gegenüber der kommentierenden und glossierenden Methode, aber auch gegenüber der Auflösung in Einzeluntersuchungen, soll hier ein systematischer Rahmen gegeben werden. Damit sind weder alle Fragen des Staatsrechts noch alle Fragen der allgemeinen Staats-
Vorwort
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lehre beantwortet. Aber nach beiden Seiten, für die allgemeinen Prinzipien wie für manche Einzelfragen, dürfte das eine Klärung bedeuten, falls es wirklich gelungen sein sollte, eine Verfassungslehre in dem hier gedachten Sinne zu entwickeln. In der Hauptsache ist die Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaates dargestellt. Darin wird man keinen Einwand gegen das Buch finden können, denn diese Art Staat ist heute im allgemeinen noch vorherrschend und die Weimarer Verfassung entspricht durchaus seinem Typus. Deshalb schien es auch zweckmäßig, in den Beispielen vor allem auf die klassischen Ausprägungen französischer Verfassungen zu verweisen. Doch soll jener Typus keineswegs zu einem absoluten Dogma erhoben werden, dessen geschichtliche Bedingtheit und politische Relativität ignoriert werden müßten. Es gehört im Gegenteil zu den Aufgaben einer Verfassungslehre, nachzuweisen, wie sehr manche überlieferten Formeln und Begriffe ganz von früheren Situationen abhängig und heute nicht einmal mehr alte Schläuche für neuen Wein, sondern nur noch veraltete und falsche Etiketten sind. Zahlreiche dogmatisierte Vorstellungen des heutigen öffentlichen Rechts stecken noch ganz in der Mitte des 19. Jahrhunderts und haben den (längst entfallenen) Sinn, einer „Integrierung" zu dienen. Diesen von Rudolf Smend für das Staatsrecht fruchtbar gemachten Begriff möchte ich hier verwerten, um auf einen einfachen Sachverhalt hinzuweisen: damals, im 19. Jahrhundert, als die heute noch vorgebrachten Definitionen vom Gesetz und andern wichtigen Begriffen entstanden, handelte es sich um die Integrierung einer bestimmten sozialen Schicht, nämlich des gebildeten und besitzenden Bürgertums, in einen bestimmten, damals bestehenden Staat, nämlich die mehr oder weniger absolute Monarchie. Heute, bei völlig veränderter Sachlage, verlieren jene Formulierungen ihren Inhalt. Man wird mir erwidern, daß auch die Begriffe und Unterscheidungen meiner Arbeit von der Zeitlage bedingt sind. Aber dann wäre es doch schon ein Vorteil, wenn sie wenigstens in der Gegenwart ständen und nicht eine längst entschwundene Situation voraussetzten. Eine besondere Schwierigkeit der Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaates liegt darin, daß der bürgerlich-rechtsstaatliche Bestandteil der Verfassung sogar heute noch mit der ganzen Verfassung verwechselt wird, obwohl er in Wahrheit sich nicht selbst genügen kann, sondern zu dem politischen Bestandteil nur hinzukommt. Daß man — rein fiktiv — die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates mit der Verfassung überhaupt gleichstellt, hat dazu geführt, wesentli-
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Vorwort
che Vorgänge des Verfassungslebens außer acht zu lassen oder zu verkennen. A m meisten hat die Behandlung des Begriffes der Souveränität unter dieser Methode der Fiktionen und Ignorierungen gelitten. In der Praxis entwickelt sich dann die Übung apokrypher Souveränitätsakte, für die es charakteristisch ist, daß staatliche Behörden oder Stellen, ohne souverän zu sein, doch gelegentlich und unter stillschweigender Duldung Souveränitätsakte vornehmen. Die wichtigsten Fälle sind in der folgenden Darlegung an ihrem Platz erwähnt (S. 108, 150, 177). Eine ausführliche Erörterung dieser Frage würde in die Lehre von der Souveränität und damit in die allgemeine Staatslehre gehören. Auch die Auseinandersetzung mit der Souveränitätstheorie von H. Heller (Die Souveränität, Berlin, 1927) beträfe Fragen der Staatslehre und muß in einem andern Zusammenhang versucht werden. Hier war nur das zu behandeln, was zur Verfassungslehre im eigentlichen Sinne gehört. Die Lehre von den Staatsformen im allgemeinen wie die Lehre von der Demokratie, Monarchie und Aristokratie im besondern wurde aus dem gleichen Grunde auf das für eine Verfassungslehre (zum Unterschied von einer Staatslehre) Unumgängliche beschränkt. Übrigens ist selbst in dieser Beschränkung der vom Verlag vorgesehene Umfang des Buches bereits überschritten.
Während der Drucklegung erschienen eine Reihe von Schriften und Aufsätzen, die für das Thema einer Verfassungslehre von besonderem Interesse sind und deren große Zahl beweist, daß die spezifisch verfassungstheoretische Seite des Staatsrechts stärker hervortritt. Die Verhandlungen der deutschen Staatsrechtslehrer-Tagung 1927 sind nach dem Bericht von A. Hensel im Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. X I I I N . F. S. 97 f. zitiert, weil die vollständige Publikation (Heft 4 der Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, bei W. de Gruyter) erst im Dezember 1927 erschien. Während der Drucklegung wurden mir noch folgende Veröffentlichungen bekannt, die hier wenigstens erwähnt seien: Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (bei / . Springer), Walter Jellinek, Verwaltungsrecht (bei / . Springer), O. Koellreutter, Aufsatz „Staat" in dem von StierSomlo und A. Elster herausgegebenen Handwörterbuch der Rechtswissenschaft; die Aufsätze von G. Jèze, L'entrée au service public (Revue du droit public, X L I V ) , Carré de Malberg , La constitutionnalité des lois et la Constitution de 1875, Berthélemy, Les lois constitu-
Vorwort
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tionnelles devant les juges (Revue politique et parlementaire C X X X I I / I I I ) und W. Scheuner, Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems (Archiv des öffentlichen Rechts, X I I I ) . Für den Januar 1928 ist eine neue Auflage des Kommentars zur Reichsverfassung von Poetzsch-Heffter (bei O. Liebmann) angezeigt; leider war es nicht möglich, das neue Werk dieses hervorragenden Juristen noch heranzuziehen. Ferner ist ein Buch von Rudolf Smend über verfassungstheoretische Fragen angekündigt. Ich habe in meiner vorliegenden Arbeit versucht, mich mit seinen bisherigen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen und habe den Reichtum und die tiefe Fruchtbarkeit seiner Gedanken eigentlich erst in der Auseinandersetzung ganz erfahren. Deshalb bedauere ich es besonders, daß ich die zu erwartende verfassungstheoretische Darlegung nicht mehr kennenlernen und verwerten konnte. Bonn, Dezember 1927. Carl Schmitt
Inhaltsverzeichnis I. Abschnitt Begriff der Verfassung § 1 Absoluter Verfassungsbegriff (Die Verfassung als einheitliches Ganzes) I. Verfassung als Gesamtzustand konkreter Einheit und Ordnung oder als Staatsform („Form der Formen") 3. — oder als Prinzip der Bildung der politischen Einheit 5. II. Verfassung im normativen Sinne („Norm der Normen") 7. § 2 Relativer Verfassungsbegriff (Die Verfassung als eine Vielheit einzelner Gesetze) I. Auflösung der Verfassung in Verfassungsgesetze 11. II. Die geschriebene Verfassung 13. III. Erschwerte Abänderbarkeit als formales Kennzeichen des Verfassungsgesetzes 16. § 3 Der positive Verfassungsbegriff (Die Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit) I. Die Verfassung als Akt der verfassunggebenden Gewalt 21. II. Die Verfassung als politische Entscheidung 23. — Entscheidungen der Weimarer Verfassimg 23. — Praktische Bedeutung der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz (Verfassungsänderung, Unantastbarkeit der Verfassung, Grunarechte, Verfassungsstreitigkeiten , Eid auf die Verfassung, Hochverrat) 25. III. Der Kompromißcharakter der Weimarer Verfassung, echte und Scheinkompromisse (Schul- und Kirchenkompromiß) 28. § 4 Idealbegriff der Verfassung (in einem auszeichnenden Sinne, wegen eines bestimmten Inhalts so genannte „Verfassung") I. Vieldeutigkeit der Idealbegriffe, insbesondere Freiheit 36. II. Der Idealbegriff der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung 37. III. Die beiden Bestandteile der modernen Verfassung 40. § 5 Die Bedeutungen des Wortes „Grundgesetz", Grundnorm oder lex fundamentalis (Zusammenfassende Übersicht) I. 9 Bedeutungen des Wortes Grundgesetz 42. II. Verbindungen der verschiedenen Bedeutungen 43. III. Verfassung bedeutet im vorliegenden Buch Verfassung im positiven Sinne 44.
1 -121 3-11
11-20
20-36
36-41
42-44
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Inhaltsverzeichnis
S 6 Entstehung der Verfassung I. Eine Verfassung entsteht durch einseitige Entscheidung oder gegenseitige Vereinbarung 44. II. Geschichtliche Übersicht über die Entstehung der modernen europäischen Verfassungen (1. mittelalterlicher Feudal- und Ständestaat, insbesondere die Magna Carta; 2. Das deutsche Reich bis 1806; 3. Der Staat des absoluten Fürsten; 4. Die Revolution von 1789; 5. Die monarchische Restauration 1815-1830; 6. Die Julirevolution 1830; 7. Die konstitutionelle Monarchie in Deutschland; 8. Norddeutscher Bund 1867 und Deutsches Reich 1871; 9. Die Weimarer Verfassung 1919) 44.
44-60
5 7 Die Verfassung als Vertrag (Der echte Verfassungsvertrag) I. Unterscheidung des sog. Staats- oder Sozialvertrages vom Verfassungsvertrag 61. II. Der echte Verfassungsvertrag als Bundesvertrag. Unechte Verfassungsverträge innerhalb einer politischen Einheit 62. III. Der echte Verfassungsvertrag als Status-Vertrag (Kritik des Satzes: pacta sunt servanda) 66. IV. Verfassung und völkerrechtliche Verträge 71.
61-75
§8
Die verfassunggebende Gewalt I. Die verfassunggebende Gewalt als politischer Wille 75. II. Subjekt der verfassunggebenden Gewalt (Gott, Volk oder Nation, König, eine organisierte Gruppe) 77. III. Betätigung der verfassunggebenden Gewalt, insbesondere die demokratische Praxis (Nationalversammlung, Konvent, Plebiszit 82.
75-87
§9
Legitimität einer Verfassung I. Arten der Legitimität einer Verfassung 87. II. Leigitimität einer Verfassung bedeutet nicht, daß eine Verfassung nach früher geltenden Verfassungsgesetzen zustande gekommen ist 88. III. Dynastische und demokratische Legitimität 90.
87-91
$ 10 Folgerungen aus der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt, insbesondere der verfassunggebenden Gewalt des Volkes I. Ständiges Vorhandensein (Permanenz) der verfassunggebenden Gewalt 91. II. Kontinuität des Staates bei Verfassungsbeseitigung und -durchbrechung, sofern nur die verfassunggebende Gewalt die gleiche bleibt 93 III. Das Problem der Kontinuität bei Änderung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt (Verfassungsvernichtung) 94, insbesondere Kontinuität des Deutschen Reiches 1918/19 95. IV. Unterscheidung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes von jeder konstituierten, d. h. verfassungsgesetzlichen Gewalt 98. $ 11 Aus dem Begriff der Verfassung abzuleitende Begriffe (Verfassungsänderung, Verfassungsdurchbrechung, Verfassungssuspension, Verfassungsstreitigkeit, Hochverrat) I. Übersicht 99.
91-99
99-121
Inhaltsverzeichnis
II. Verfassungsgesetzliche Verfassungsänderungen (Verfassungsrevision, Amendement) 101, Grenzen der Befugnis zu Verfassungsänderungen 102, Verfassungsdurchbrechungen und apokryphe Souveränitätsakte 106, Verfassungssuspension 109. III. Verfassungsstreitigkeiten 112. IV. Die Verfassung als Angriffs- und Schutzobjekt bei Hochverrat 119.
II. Abschnitt Der rechtsstaatliche Bestandteil der modernen Verfassung
123-220
>12 Die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates 125-138 I. Unterscheidung des rechtsstaatlichen Bestandteils vom politischen Bestandteil der modernen Verfassung 125; die beiden Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates: Grundrechte (Verteilungsprinzip) und Gewaltenunterscheidung (organisatorisches Prinzip) 126. II. Der Begriff des Rechtsstaates und einzelne Kennzeichen (Gesetzmäßigkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Meßbarkeit aller staatlichen Befugnisse, Unabhängigkeit der Richter, Justizförmigkeit, Problem der politischen Justiz) 129. 113 Der I. II. III. IV.
rechtsstaatliche Gesetzesbegriff Recht und Gesetz im bürgerlichen Rechtsstaat 138. Der sog. formelle Gesetzesbegriff 143. Der politische Gesetzesbegriff 146. Die Bedeutung des generellen Charakters der Rechtsnorm 151.
138-157
, 14 Die Grundrechte 157-182 I. Geschichtliche Übersicht 157. II. Geschichtliche und rechtliche Bedeutung der feierlichen Erklärung von Grundrechten 161. III. Sachliche Einteilung und Unterscheidimg der Grundrechte 163. IV. Institutionelle Garantien sind von Grundrechten zu unterscheiden 170. V. Grundpflichten sind im bürgerlichen Rechtsstaat nichts anderes als verfassungsgesetzliche Pflichten 174. VI. Einteilung der Grundrechte hinsichtlich des Schutzes gegen Einschränkungen und Eingriffe 175. 115 Die Unterscheidung (sog. Teilung) der Gewalten I. Die geschichtliche Entstehung der Lehre von der Gewaltenunterscneidung 182. II. Trennung und Balancierung der Gewalten 186; Schema ihrer strengen Trennung 187; Schema einiger Balancierungen 197.
182-199
, 16 Bürgerlicher Rechtsstaat und politische Form 200-220 I. Die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates ist immer eine gemischte Verfassung 200; Die Staatsformen werden zu Formen unterschiedener und geteilter Gewalten (Legislative, Exekutive) 202.
XX
Inhaltsverzeichnis
II. Die zwei Prinzipien politischer Form (Identität und Repräsentation) 204. III. Begriff der Repräsentation 208. IV. Die moderne Verfassung als Verbindung und Mischung bürgerlich-rechtsstaatlicher Prinzipien mit politischen Formprinzipien 216.
III. Abschnitt Der politische Bestandteil der modernen Verfassung
221-359
§ 17 1. Die Lehre von der Demokratie, Grundbegriffe 223-238 I. Übersicht über einige Begriffsbestimmungen 223. II. Der Begriff der Gleichheit (allgemeine Menschengleichheit, substantielle Gleichheit) 226. III. Definition der Demokratie 234. § 18 Das Volk und die demokratische Verfassung I. Das Volk vor und über der Verfassung 238. II. Das Volk innerhalb der Verfassung (Wahlen und Abstimmungen) 239. III. Das Volk neben der verfassungsgesetzlichen Regelung (öffentliche Meinung) 242. IV. Übersicht über die Bedeutungen des Wortes „Volk" für eine moderne Verfassungslehre 251.
238-252
§ 19 Folgerungen aus dem politischen Prinzip der Demokratie I. Allgemeine Tendenzen 252. II. Der Staatsbürger in der Demokratie 253. III. Die Behörden (demokratische Methoden der Bestimmung von Behörden und Beamten) 256.
252-258
§ 20 Anwendungen des politischen Prinzips der Demokratie auf den einzelnen Gebieten des staatlichen Lebens 258-276 I. Demokratie und Gesetzgebung (insbesondere Volksentscheid und Volksbegehren) 258. II. Demokratie und Regierung (insbesondere Herstellung unmittelbarer Beziehungen von Regierung und Volk) 265. III. Demokratie und völkerrechtlicher Verkehr 269. IV. Demokratie und Verwaltung 271. V. Demokratie und Justiz 273. §21 Grenzen der Demokratie I. Grenzen des Prinzips der Identität 276. II. Grenzen aus der Natur des Volkes 277. III. Grenzen in der Praxis der heutigen Demokratie 277. IV. Kritik des Satzes: „Mehrheit entscheidet" 278.
276-282
§ 22 2. Die Lehre von der Monarchie I. Begründungen der Monarchie (theokratische, patriarchalische, patrimoniale, Beamten- und zäsaristische Monarchie) 282. II. Verfassungstheoretische Bedeutung der verschiedenen Rechtfertigungen der Monarchie 285.
282-292
Inhaltsverzeichnis
III. Die Stellung des Monarchen in der modernen Verfassung 288. IV. Der Staatspräsident in einer republikanischen Verfassung 290. [23 3. Aristokratische Elemente in modernen bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungen 292-303 I. Das aristokratische Prinzip als Mittel der Gewaltenunterscheidung 292. II. Idee und Rechtfertigung des Zweikammersystems 293. III. Die geschichtlichen Typen des Zweikammersystems (Oberhaus, Herrenhaus, Senat, Staatenhaus) 295. IV. Zuständigkeit und Befugnisse des Oberhauses 299. V. Unvereinbarkeit der Doppelmitgliedschaft 303. i 24 4. Das parlamentarische System I. Vieldeutigkeit des Wortes „Parlamentarismus", insbesondere die vier Unterarten (präsidentielles, Parlaments-, Premier- und Kabinett-System) 303. II. Die ideellen Grundlagen des parlamentarischen Systems (geschichtliche Lage des Bürgertums, Bildung und Besitz, öffentliche Diskussion) 307. III. Folgerungen aus dem Grundgedanken des parlamentarischen Systems (Repräsentation, Öffentlichkeit, Diskussion) 316. >25 Geschichtliche Übersicht über die Entwicklung des parlamentarischen Systems I. Wichtigste Daten der geschichtlichen Entwicklung in England 320. II. Die Entwicklung in Frankreich und Belgien 326. III. Die Entwicklung in Deutschland 330. i 26 Übersicht über die Gestaltungsmöglichkeiten des parlamentarischen Systems I. Entscheidender Gesichtspunkt: Übereinstimmung von Parlament und Regierung 338. II. Mittel, um die Übereinstimmung zu bewirken 338. III. „Fälle" der parlamentarischen Verantwortlichkeit („Kabinettsfälle") 339.
303-319
320-338
338-340
i 27 Das parlamentarische System der Weimarer Verfassung 340-353 I. Die Verbindung der vier Untersysteme 340. II. Übersicht 342. III. Die Praxis des parlamentarischen Systems der Weimarer Verfassung 1. Das Vertrauen des Reichstages (Art. 54 RV. Satz 1 und Satz 2) 343; 2. „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik" (Art. 56) 345; 3. Das Kabinettsystem 348; 4. Das präsidentielle System 350. 128 Die Auflösung des Parlaments I. Arten der Auflösung (monarchische, präsidentielle, ministerielle, Selbstauflösung, Auflösung auf Volksbegehren) 353. II. Das Auflösungsrecht des Reichspräsidenten 355.
353-359
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Inhaltsverzeichnis
IV. Abschnitt Verfassungslehre des Bundes § 29 Grundbegriffe einer Verfassungslehre des Bundes I. Übersicht über die Arten zwischenstaatlicher Beziehungen und Verbindungen (Völkerrechtsgemeinschaft, Einzelbeziehungen, Bündnis, Bund) 363. II. Folgerungen aus der Begriffsbestimmung des Bundes (Befriedung, Garantie, Intervention, Exekution) 367. III. Die rechtlichen und politischen Antinomien des Bundes und ihre Aufhebung durch das Erfordernis der Homogenität 370. § 30 Folgerungen aus den Grundbegriffen der Verfassungslehre des Bundes I. Jeder Bund hat als solcher eine politische Existenz mit einem selbständigen jus belli 379. II. Jeder Bund ist als solcher sowohl völkerrechtliches wie staatsrechtliches Subjekt 379. III. Jeder Bund hat ein Bundesgebiet 383. IV. Bundesrepräsentation, Bundeseinrichtungen und -behörden, Bundeszuständigkeit 384. V. Hochverräterische Unternehmungen gegen den Bund 387. VI. Demokratie und Föderalismus (insbesondere Art. 18 RV.) 388.
Register
361-391 363-379
379-391
392-404
Register der Artikel der Reichsverfassung 392. Namenregister 394. Sachregister 398.
Abkürzungen RV. = Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Verfassung) aRV. = Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (Bismarcks Verfassung) Prot. = Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Berichte Nr. 21) über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Carl Heymanns Verlag, Berlin, 1920) AöR. = Archiv des öffentlichen Rechts JöR. = Jahrbuch des öffentlichen Rechts JW. = Juristische Wochenschrift Die Hinweise auf die bekannten Veröffentlichungen (wie Anschütz, Kommentar; Poetzsch, Kommentar; Giese, Kommentar; Wittmayer, Weimarer Reichsverfassung; Meyer-Anschütz usw.) sowie die übrigen Zitierungen dürften ohne weiteres verständlich sein. L. Duguit, Manuel de Droit constitutionnel, ist gelegentlich nicht nach der neuesten Auflage (1923), sondern wegen der ausführlicheren geschichtlichen Darlegungen nach der ersten Auflage (190/) zitiert.
I. Abschnitt
Begriff der Verfassung
1 Schmitt, Verfassungslehre
§ 1 Absoluter Verfassungsbegriff (Die Verfassung als einheitliches Ganzes)
Das Wort „Verfassung" hat einen verschiedenen Sinn. In einer allgemeinen Bedeutung des Wortes ist alles, jeder Mensch und jedes Ding, jeder Betrieb und jeder Verein irgendwie in einer „Verfassung* und kann alles mögliche eine „Verfassung" haben. Daraus ergibt sich kein spezifischer Begriff. Das Wort „Verfassung" muß auf die Verfassung des Staates, d. h. der politischen Einheit eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Verständigung möglich sein soll. In dieser Beschränkung kann es den Staat selbst, und zwar den einzelnen, konkreten Staat als politische Einheit oder als eine besondere, konkrete Art und Form der staatlichen Existenz bezeichnen; dann bedeutet es den Gesamtzustand politischer Einheit und Ordnung. „Verfassung" kann aber auch ein geschlossenes System von Normen bedeuten und bezeichnet dann ebenfalls eine Einheit, jedoch keine konkret existierende, sondern eine gedachte, ideelle Einheit. I n beiden Fällen ist der Verfassungsbegriff absolut, weil er ein (wirkliches oder gedachtes) Ganzes angibt. Daneben herrscht heute eine Ausdrucksweise, welche eine Reihe von bestimmt gearteten Gesetzen Verfassung nennt. Verfassung und Verfassungsgesetz werden dabei als dasselbe behandelt. Auf diese Weise kann jedes einzelne Verfassungsgesetz als Verfassung erscheinen. Der Begriff wird infolgedessen relativ; er betrifft nicht mehr ein Ganzes, eine Ordnung und eine Einheit, sondern einige, mehrere oder viele besonders geartete gesetzliche Einzelbestimmungen. Die übliche Definition der Lehrbücher ist: Verfassung = Grundnorm oder Grundgesetz. Was „Grund" hier bedeutet, bleibt meistens unklar. Vielfach heißt es nur in einem schlagwortartigen Sinne etwas politisch besonders Wichtiges oder Unverbrüchliches, so, wie man auch unklar von „Grundrechten, „Verankerung" usw. spricht. Die verfassungstheoretische Bedeutung solcher Redewendungen wird sich aus der folgenden begrifflichen Untersuchung ergeben; vgl. die Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen von „lex fundamentalis", „Grundnorm", oder „Grundgesetz" unten § 5, S. 42. 1*
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I. Begriff der Verfassung
I. Verfassung im absoluten Sinne kann zunächst die konkrete, mit jeder existierenden politischen Einheit von selbst gegebene Daseinsweise bedeuten. 1. Erste Bedeutung: Verfassung = der konkrete Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates. Zu jedem Staat gehören politische Einheit und soziale Ordnung, irgendwelche Prinzipien der Einheit und Ordnung, irgendeine im kritischen Falle bei Interessen- und Machtkonflikten maßgebende Entscheidungsinstanz. Diesen Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung kann man Verfassung nennen. Das Wort bezeichnet dann nicht ein System oder eine Reihe von Rechtssätzen und Normen, nach welchen die Bildung des staatlichen Willens und die Ausübung staatlicher Tätigkeit sich regelt und in deren Befolgung die Ordnung erblickt wird, sondern eigentlich nur den konkreten einzelnen Staat — Deutsches Reich, Frankreich, England — in seiner konkreten politischen Existenz. Der Staat hat nicht eine Verfassung, „der gemäß" ein staatlicher Wille sich bildet und funktioniert, sondern der Staat ist Verfassung, d. h. ein seinsmäßig vorhandener Zustand, ein status von Einheit und Ordnung. Der Staat würde aufhören zu existieren, wenn diese Verfassung, d. h. diese Einheit und Ordnung aufhörte. Die Verfassung ist seine „Seele", sein konkretes Leben und seine individuelle Existenz. Diesen Sinn hat das Wort „Verfassung" oft bei den griechischen Philosophen. Nach Aristoteles ist der Staat (πολιτεία) eine Ordnung (τάξις) des natürlich gegebenen Zusammenlebens von Menschen einer Stadt (πόλις) oder eines Gebietes. Die Ordnung betrifft die Herrschaft im Staat und ihre Gliederung; kraft ihrer ist ein Herrscher (κύριος) da. Zu ihr gehört aber auch das lebendige, in der seinsmä£igen Eigenart des konkreten politischen Gebildes enthaltene Ziel (τέλος) dieser Ordnung (Politik Buch IV, Kap. I, 5). Wird diese Verfassung beseitigt, so hört der Staat auf; wird eine neue Verfassung begründet. So entsteht ein neuer Staat. Isokrates (Areopag. 14) nennt die Verfassung die Seele der Polis (φύχη πόλεως ή πολιτεία). Am besten wird diese Vorstellung von der Verfassung vielleicht durch einen Vergleich verdeudicht: Das Lied oder Musikstück eines Chores bleibt dasselbe, wenn die Menschen, die es singen oder aufführen, sich ändern oder wenn der Platz sich ändert, an welchem sie singen oder musizieren. Die Einheit und Ordnung liegt in dem Lied und in der Partitur, wie die Einheit und Ordnung des Staates in seiner Verfassung liegt. * Wenn Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 491, die Verfassung als „eine Ordnung, der gemäß der staatliche Wille sich bildet", hinstellt, so verwechselt er eine seinsmäßig vorhandene Ordnung mit einer Norm, der gemäß etwas gesetzmäßig und richtig funktioniert. Alle hier in Betracht kommenden Vorstellungen, wie Einheit, Ordnung, Ziel (τέλος), Leben, Seele, sollen etwas Seiendes, nicht etwas nur Normatives, richtigerweise Gesolltes angeben.
2. Zweite Bedeutung: Verfassung = eine besondere Art politischer und sozialer Ordnung. Verfassung bedeutet hier die konkrete Art
§1 Absoluter Verfassungsbegriff
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der Über- und Unterordnung, weil es in der sozialen Wirklichkeit keine Ordnung ohne Uber- und Unterordnung gibt. Hier ist Verfassung die besondere Form der Herrschaft, die zu jedem Staat gehört und von seiner politischen Existenz nicht zu trennen ist, z. B. Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, oder wie man die Staatsformen einteilen will. Verfassung ist hier = Staatsform. Dabei bezeichnet das Wort „Form" ebenfalls etwas Seinsmäßiges, einen Status, nicht etwas Rechtssatzmäßiges oder normativ Gesolltes. Auch in diesem Sinne des Wortes hat jeder Staat selbstverständlich eine Verfassung, denn er entspricht immer irgendeiner Form, in der Staaten existieren. Auch hier wäre es genauer zu sagen, daß der Staat eine Verfassung ist; er ist eine Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Räterepublik und hat nicht nur eine monarchische usw. Verfassung. Die Verfassung ist hier die „Form der Formen* 1, forma formarum. In diesem Sinne wird das Wort „status" (neben anderen Bedeutungen des vieldeutigen Wortes, z. B. Zustand im allgemeinen, Stand usw.) besonders im Mittelalter und im 17. Jahrhundert gebraucht. Thomas von Aqnin unterscheidet in seiner Summa theologica (I, II, 19, 10 c) als Staatsformen (status) im Anschluß an Anstoteles 1. den aristokratischen Staat (status optimatum), in welchem eine irgendwie ausgezeichnete und hervorragende Minderheit regiert (in quo pauci virtuosi principantur); 2. die Oligarchie (status paucorum), d. h. die Herrschaft einer Minderzahl, ohne Rücksicht auf eine besondere auszeichnende Qualität; 3. die Demokratie (den status popularis), in welchem die Menge der Bauern, Handwerker und Arbeiter herrscht. Bodinus (Les six livres de la République, 1. Ausgabe 1577, besonders im VI. Buch) unterscheidet nach solchen Staatsformen Volksstaat (état populaire), monarchischer Staat (état royal) und aristokratischer Staat. Bei Grotius (De iure belli ac pacis 1625) ist status, soweit der Ausdruck hier interessiert, die „forma civitatis" und damit auch Verfassung. In ähnlicher Weise spricht Hobbes (z. B. De cive 1642, cap. 10) von status monarchicus, status democraticus, status mixtus usw.
M i t einer erfolgreichen Revolution ist daher ohne weiteres ein neuer Status und eo ipso eine neue Verfassung gegeben. So konnte in Deutschland nach der Umwälzung vom November 1918 der Rat der Volksbeauftragten in einer Bekanntmachung vom 9. Dezember 1918 von der „durch die Revolution gegebenen Verfassung" sprechen (W. Jellinek y Revolution und Reichsverfassung, Jahrb. des öffentl. Rechts IX, 1920, S. 22). 3. Dritte Bedeutung: Verfassung = das Prinzip des dynamischen Werdens der politischen Einheit, des Vorganges stets erneuter Bildung und Entstehung dieser Einheit aus einer zugrundeliegenden oder im Grunde wirkenden Kraft und Energie. Hier wird der Staat nicht als etwas Bestehendes, ruhend Statisches, sondern als etwas Werdendes, immer von neuem Entstehendes
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Begriff der Verfassung
aufgefaßt. Aus den verschiedenen, entgegengesetzten Interessen, Meinungen und Bestrebungen muß die politische Einheit sich täglich bilden, nach dem Ausdruck von Rudolf Smend, sich „integrieren". Dieser Begriff von Verfassung steht im Gegensatz zu den vorigen Begriffen, welche von einem Status (in dem Sinne einer statischen Einheit) sprechen. Doch ist in der Vorstellung des Aristoteles das dynamische Element ebenfalls vorhanden, die scharfe Trennung von Statisch und Dynamisch hat etwas Künstliches und Gewaltsames. Auf jeden Fall bleibt dieser „dynamische" Begriff von Verfassung in der Sphäre des (werdenden) Seins und des Existierens; die Verfassung wird also noch nicht (wie nach dem unter I I zu behandelnden Verfassungsbegriff) zu einer bloßen Regel oder Norm, unter welche man subsumiert. Die Verfassung ist das aktive Prinzip eines dynamischen Prozesses wirksamer Energien, ein Element des Werdens, aber wirklich, nicht eine geregelte Prozedur von „Sollens"-Vorschriften und Zurechnungen. Lorenz von Stein hat diesen Verfassungsbegriff in einem großen systematischen Zusammenhang dargelegt. Er spricht zwar nur von den französischen Verfassungen seit 1789, trifft aber gleichzeitig ein allgemeines dualistisches Prinzip der Verfassungslehre, das besonders bei Thomas von Aquin (Summa Theol., I, II, 105, art. 1) deudich erkannt ist, indem zwei Dinge hervorgehoben werden (duo sunt attendenda): einmal die Beteiligung aller Bürger an der staatlichen Willensbildung (ut omnes aliquam partem habeant in principatu) und zweitens die Art der Regierung und Herrschaft (species regiminis vel ordinationis principatuum). Es ist der alte Gegensatz von Freiheit und Ordnung, der mit dem Gegensatz der unten (§ 16, II) zu entwickelnden politischen Formprinzipien (Identität und Repräsentation) verwandt ist. Für Stein sind die ersten Verfassungen der Revolution von 1789 (nämlich die Verfassungen von 1791, 1793, 1795) im eigentlichen Sinne Staats-Verfassungen im Gegensatz zu den StaatsOrdnungen, welche mit Napoleon (1799) beginnen. Der Unterschied liegt in folgendem: Die StaatsVerfassung ist diejenige Ordnung, welche die Ubereinstimmung der Einzel-Willen mit dem staatlichen Gesamtwillen herbeiführt und die einzelnen zu lebendigen Gliedern des staatlichen Organismus zusammenfaßt. Alle VerfassungsEinrichtungen und -Vorgänge haben den Sinn, daß der Staat „sich als die persönliche Einheit des Willens aller freien, zur Selbstbeherrschung bestimmten Persönlichkeiten erkennt". Die Staats-Ordnung dagegen betrachtet die einzelnen und die Behörden schon als Glieder des Staates und verlangt von ihnen Gehorsam. In der Staats-Verfassung steigt das staatliche Leben von unten nach oben; in der Staats-Ordnung wirkt es von oben nach unten. Die Staats-Verfassung ist freie Bildung des Staatswillens; die Staats-Ordnung ist organische Vollziehung des so gebildeten Willens (Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. I, Der Begriff der Gesellschaft, Ausgabe von G. Salomon , München 1921, Bd. I, S. 408 / 9; ferner Verwaltungslehre, I, S. 25). — Der Gedanke, daß die Verfassung das wirkende Grundprinzip politischer Einheit ist, hat in dem berühmten Vortrag von F. Lassalle, Uber Verfassungswesen, 1862, einen prägnanten Ausdruck gefunden: „Wenn also die Verfassung das Grundgesetz eines Landes bildet, so wäre sie . . . eine tätige Kraft. * Diese tätige Kraft und das Wesen der Verfassung findet Lassalle in den tatsächlichen Machtverhältnissen. Für das verfassungstheoretische Denken des deutschen 19. Jahrhunderts ist Lorenz von Stein die Grundlage gewesen (und gleichzeitig die Vermittlung, in welcher Hegels Staatsphilosophie lebendig blieb). Bei Robert Mohl,, in der Rechtsstaatslehre von Rudolf Gneist, bei Albert Haenel, überall sind die Gedanken von Stein zu erkennen. Das hört auf, sobald das verfassungstheoretische Denken aufhört, nämlich mit der Herrschaft der Methoden von Laband, die sich darauf beschränkten, an dem Text verfassungsgesetzlicher Bestimmungen die Kunst der Wortinterpretation zu üben; man nannte das „Positivismus".
§1 Absoluter Verfassungsbegriff
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Erst Rudolf Smend hat in seinem Aufsatz „Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform" (Festgabe für W. Kahl, Tübingen 1923) das verfassungstheoretische Problem wieder in seinem ganzen Umfang gestellt. Auf die Gedanken dieses Aufsatzes ist im folgenden noch öfters zurückzukommen. So, wie sie bisher — leider nur in einer Skizze — vorliegen, scheint mir die Lehre von der „Integrierung" der staatlichen Einheit eine unmittelbare Fortsetzung der Lehren von Lorenz von Stein zu enthalten.
II. Verfassung im absoluten Sinne kann eine grundgesetzliche Regelung, d. h. ein einheitliches, geschlossenes System höchster und letzter Normen bedeuten (Verfassung = Norm der Normen). 1. Hier ist Verfassung nicht ein seinsmäßiger Zustand, auch nicht ein dynamisches Werden, sondern etwas Normatives, ein bloßes „Sollen". Aber es handelt sich dabei nicht um einzelne, wenn auch vielleicht sehr wichtige, durch äußerliche Kennzeichen hervorgehobene Gesetze oder Normen, sondern um die Gesamtnormierung des staatlichen Lebens überhaupt, um das Grundgesetz im Sinne einer geschlossenen Einheit, um das „Gesetz der Gesetze". Alle anderen Gesetze und Normen müssen auf diese eine Norm zurückgeführt werden können. In einer solchen Bedeutung des Wortes wird der Staat zu einer auf der Verfassung als Grundnorm beruhenden Rechtsordnung, d. h. einer Einheit von Rechtsnormen. Hier bezeichnet das Wort „Verfassung" eine Einheit und Ganzheit. Es ist daher auch möglich, Staat und Verfassung zu identifizieren; aber nicht, wie bei der vorigen Bedeutung des Wortes, in der Weise, daß Staat = Verfassung ist, sondern umgekehrt: die Verfassung ist der Staat, weil der Staat als etwas normgemäß Sein-Sollendes behandelt wird und man in ihm nur ein Normensystem, eine „Rechts"Ordnung, sieht, die nicht seinsmäßig existiert, sondern sollensmäßig gilt, die aber trotzdem — weil hier eine geschlossene, systematische Einheit von Normen unterstellt und mit dem Staate gleichgestellt wird — einen absoluten Begriff von Verfassung begründet. Deshalb ist es auch möglich, die Verfassung in diesem Sinne als „souverän" zu bezeichnen, obwohl das an sich eine unklare Redensart ist. Denn richtigerweise kann nur etwas konkret Existierendes, nicht eine bloß geltende Norm souverän sein. Die Redewendung, daß nicht Menschen, sondern Normen und Gesetze herrschen und in diesem Sinne „souverän" sein sollen, ist sehr alt. Für die moderne Verfassungslehre kommt folgende geschichtliche Entwicklung in Betracht: In der Zeit der monarchischen Restauration in Frankreich und unter der Julimonarchie (also von 1815 bis 1848) haben besonders die Vertreter des bürgerlichen Liberalismus, die sogenannten „Doktrinäre", die Verfassung (die Charte) als „souverän" bezeichnet. Diese merkwürdige
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I.Begriff der Verfassung
Personifizierung eines geschriebenen Gesetzes hatte den Sinn, das Gesetz mit seinen Garantien der bürgerlichen Freiheit und des Privateigentums über jede politische Macht zu erheben. Auf diese Weise war die eigentlich politische Frage, ob der Fürst oder das Volk souverän sei, umgangen; die Antwort lautete einfach: weder der Fürst noch das Volk, sondern „die Verfassung" ist souverän (vgl. unten § 6, II, 7, S. 54). Das ist die typische Antwort der Liberalen des bürgerlichen Rechtsstaates, für welche sowohl die Monarchie wie die Demokratie im Interesse der bürgerlichen Freiheit und des Privateigentums beschränkt wird (darüber unten § 16, S. 216). So spricht ein typischer „Doktrinär" der Restaurations- und Louis-Philippe-Zeit, Royer-Collard, von der Souveränität der Verfassung (Nachweise bei J. Barthélémy , Introduction du régime parlementaire en France, 1904, S. 20 ff.); Guizot , ein klassischer Vertreter liberaler Rechtsstaatlichkeit, spricht von der „Souveränität der Vernunft", der Gerechtigkeit und anderer Abstrakta, in der richtigen Erkenntnis, daß eine Norm nur insoweit „souverän" heißen kann, als sie nicht positiver Wille und Befehl, sondern das rational Richtige, Vernunft und Gerechtigkeit ist, also bestimmte Qualitäten hat; denn sonst ist eben derjenige, der will und befiehlt, souverän. Tocqueville hat für die französische Verfassung von 1830 in konsequenter Weise die Unabänderlichkeit der Verfassung vertreten und betont, daß sämtliche Befugnisse des Volkes, des Königs wie des Parlaments aus dieser Verfassung abgeleitet und außerhalb der Verfassung alle diese politischen Größen nichts sind („hors de la Constitution il ne sont rien", Anm. 12 zu Bd. I, cap. 6 der „Démocratie en Amérique"). Die in vielen Büchern (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 2. Aufl. 1923; Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920; Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922; Allgemeine Staatslehre, 1925) wiederholte Staatslehre von H. Kelsen stellt ebenfalls den Staat als ein System und eine Einheit von Rechtsnormen dar, freilich ohne den geringsten Versuch, das sachliche und logische Prinzip dieser „Einheit" und dieses „Systems" zu erklären, und ohne auseinanderzusetzen, wie es kommt und nach welcher Notwendigkeit es sich fügt, daß die vielen positiven gesetzlichen Bestimmungen eines Staates und die verschiedenen verfassungsgesetzlichen Normen ein solches „System" oder eine „Einheit" bilden. Das politische Sein oder Werden der staatlichen Einheit und Ordnung wird in ein Funktionieren verwandelt, der Gegensatz von Sein und Sollen wird mit dem Gegensatz von substantiellem Sein und gesetzmäßigem Funktionieren beständig vermengt. Die Theorie wird aber verständlich, wenn man sie als letzten Ausläufer der vorerwähnten echten Theorie des bürgerlichen Rechtsstaates ansieht, welche aus dem Staat eine Rechtsordnung zu machen suchte und darin das Wesen des Rechtsstaates erblickte. In seiner großen Epoche, im 17. und 18. Jahrhundert, fand das Bürgertum die Kraft zu einem wirklichen System, nämlich zu dem individualistischen Vernunft- und Naturrecht, und bildete aus Begriffen wie Privateigentum und persönliche Freiheit in sich selbst geltende Normen,
§1 Absoluter Verfassungsbegriff
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welche vor und über jedem politischen Sein gelten, weil sierichtig und vernünftig sind und daher ohne Rücksicht auf die seinsmäßige, d. h. positiv-rechtliche Wirklichkeit ein echtes Sollen enthalten. Das war konsequente Normativität; hier konnte man von System, Ordnung und Einheit sprechen. Bei Kelsen dagegen gelten nur positive Normen, d. h. solche, welche wirklich gelten; sie gelten nicht, weil sie richtigerweise gelten sollen, sondern ohne Rücksicht auf Qualitäten wie Vernünftigkeit, Gerechtigkeit usw. nur deshalb, weil sie positiv sind. Hier hört plötzlich das Sollen auf und bricht die Normativität ab; statt ihrer erscheint die Tautologie einer rohen Tatsächlichkeit: etwas gilt, wenn es gilt und weil es gilt. Das ist „Positivismus". Wer im Ernst darauf besteht, daß „die" Verfassung als „Grundnorm" gelten und alles andere Geltende sich daraus ableiten soll, darf nicht beliebige, konkrete Bestimmungen, weil sie von einer bestimmten Stelle gesetzt werden, anerkannt sind und deshalb als „positiv" bezeichnet werden, also nur faktisch wirksam sind, zur Grundlage eines reinen Systems von reinen Normen nehmen. Nur aus systematischen, ohne Rücksicht auf „positive" Geltung normativ konsequenten, also in sich selbst, kraft ihrer Vernünftigkeit oder Gerechtigkeit richtigen Sätzen läßt sich eine normative Einheit oder Ordnung ableiten. 2. I n Wahrheit gilt eine Verfassung, weil sie von einer verfassunggebenden Gewalt (d. h. Macht oder Autorität 1 ) ausgeht und durch deren Willen gesetzt ist. Das Wort „Wille" bezeichnet im Gegensatz zu bloßen Normen eine seinsmäßige Größe als den Ursprung eines Sollens. Der Wille ist existentiell vorhanden, seine Macht oder Autorität liegt in seinem Sein. Eine Norm kann gelten, weil sie richtig ist; dann führt die systematische Konsequenz zum Naturrecht und nicht zur positiven Verfassung; oder eine N o r m gilt, weil sie positiv angeordnet ist, d. h. kraft eines existierenden Willens. Eine N o r m setzt niemals sich selbst (das ist eine phantastische Redensart), sondern sie wird als richtig anerkannt, weil sie aus Sätzen ableitbar ist, deren Wesen ebenfalls Richtigkeit und nicht nur Positivität, d. h. wirkliches Angeordnetsein ist. Wer sagt, daß die Verfassung als Grund norm (nicht als positiver Wille) gelte, behauptet daher, daß sie kraft bestimmter logischer, moralischer oder anderer inhaltlicher Qualitäten ein geschlossenes System von richtigen Sätzen zu tragen imstande ist. Zu sagen, daß eine Verfassung nicht wegen ihrer normativen Richtigkeit, sondern nur wegen ihrer Positivität gelte und trotzdem als reine Norm ein System oder eine Ordnung von reinen Normen begründe, ist eine widerspruchsvolle Verwirrung. 1
Über den Gegensatz von Macht (potestas) und Auctoritas vgl. die Anmerkung zu § 8, S. 75.
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I. Begriff der Verfassung
Es gibt kein geschlossenes Verfassungssystem rein normativer Art, und es ist willkürlich, eine Reihe einzelner Bestimmungen, die man als Verfassungsgesetze auffaßt, als systematische Einheit und Ordnung zu behandeln, wenn nicht die Einheit aus einem vorausgesetzten einheitlichen Willen entsteht. Ebenso ist es willkürlich, ohne weiteres von Rechtsordnung zu sprechen. Der Begriff der Rechtsordnung enthält zwei völlig verschiedene Elemente: das normative Element des Rechts und das seinsmäßige Element der konkreten Ordnung. Die Einheit und Ordnung liegt in der politischen Existenz des Staates, nicht in Gesetzen, Regeln und irgendwelchen Normativitäten. Die Vorstellungen und Worte, welche von der Verfassung als einem „Grundgesetz" oder einer „Grundnorm" sprechen, sind meistens unklar und ungenau. Sie unterstellen einer Reihe höchst verschiedenartiger Normierungen, z. B. den 181 Artikeln der Weimarer Verfassung, eine systematische, normative und logische „Einheit". Angesichts der gedanklichen und inhaltlichen Verschiedenheit der in den meisten Verfassungsgesetzen enthaltenen einzelnen Bestimmungen ist das nichts als eine grobe Fiktion. Die Einheit des Deutschen Reiches beruht nicht auf jenen 181 Artikeln und ihrem Gelten, sondern auf der politischen Existenz des deutschen Volkes. Der Wille des deutschen Volkes, also etwas Existenzielles, begründet, über alle systematischen Widersprüche, Zusammenhangslosigkeiten und Unklarheiten der einzelnen Verfassungsgesetze hinweg, die politische und staatsrechtliche Einheit. Die Weimarer Verfassung gilt, weil das deutsche Volk „sich diese Verfassung gegeben" hat. 3. Die Vorstellungen von der Verfassung als einer normativen Einheit und etwas Absolutem erklären sich geschichtlich aus einer Zeit, in der man die Verfassung für eine geschlossene Kodifikation hielt. In Frankreich herrschte 1789 dieser rationalistische Glaube an die Weisheit eines Gesetzgebers, und man traute sich zu, einen bewußten und vollständigen Plan des gesamten politischen und sozialen Lebens zu formulieren; ja, manche hatten Bedenken, auch nur die Möglichkeit einer Abänderung und Revision in Erwägung zu ziehen. Aber der Glaube an die Möglichkeit eines geschlossenen, den Staat in seiner Totalität erfassenden, endgültig richtigen Systems normativer Bestimmungen ist heute nicht mehr vorhanden. Heute ist das gegenteilige Bewußtsein verbreitet, daß der Text jeder Verfassung von der politischen und sozialen Lage ihrer Entstehungszeit abhängig ist. Die Gründe, aus denen bestimmte gesetzliche Fest-
§2 Relativer Verfassungsbegriff
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legungen gerade in eine „Verfassung" und nicht in ein einfaches Gesetz geschrieben werden, hängen von politischen Erwägungen und Zufällen der Parteikoalitionen ab. M i t dem Glauben an Kodifikation und systematische Einheit entfällt aber auch der reine Normbegriff der Verfassung, wie ihn die liberale Idee eines absoluten Rechtsstaates voraussetzt. Er war nur solange möglich, als die metaphysischen Voraussetzungen des bürgerlichen Naturrechts Glauben fanden. Die Verfassung verwandelt sich jetzt in eine Reihe von einzelnen positiven Verfassungsgesetzen. Wenn trotzdem heute immer noch von Grundnorm, Grundgesetz usw. gesprochen wird — es erübrigt sich, hierfür Beispiele und Nachweise zu zitieren —, so geschieht das unter der Nachwirkung überlieferter Formeln, die längst leer geworden sind. Ebenso ist es ungenau und verwirrend, dann immer noch von „der" Verfassung zu sprechen. In Wahrheit meint man eine unsystematische Mehrheit oder Vielheit verfassungsgesetzlicher Bestimmungen. Der Begriff der Verfassung ist zum Begriff des einzelnen Verfassungsgesetzes relativiert.
§2 Relativer Verfassungsbegriff (Die Verfassung als eine Vielheit einzelner Gesetze)
Die Relativierung des Verfassungsbegriffes besteht darin, daß statt der einheitlichen Verfassung im Ganzen, nur das einzelne Verfassungsgesetz, der Begriff des Verfassungsgesetzes aber nach äußerlichen und nebensächlichen, sog. formalen Kennzeichen bestimmt wird. I. Verfassung im relativen Sinne bedeutet also das einzelne Verfassungsgesetz. Jede inhaltliche und sachliche Unterscheidung geht verloren infolge der Auflösung der einheitlichen Verfassung in eine Vielheit einzelner, formal gleicher Verfassungsgesetze. Ob das Verfassungsgesetz die Organisation des staatlichen Willens regelt oder irgendeinen anderen Inhalt hat, ist für diesen „formalen" Begriff gleichgültig. Es wird überhaupt nicht mehr gefragt, warum eine verfassungsgesetzliche Bestimmung „grundlegend" sein muß. Diese relativierende, sog. formale Betrachtungsweise macht vielmehr unterschiedslos alles, was in einer „Verfassung" steht, gleich, d. h. gleich relativ.
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I. Begriff der Verfassung
In der Weimarer Verfassung finden sich zahlreiche solcher verfassungsgesetzlichen Bestimmungen, von denen ohne weiteres ersichtlich ist, daß sie nicht grundlegend im Sinne eines „Gesetzes der Gesetze" sind: z. B. Art. 123 Abs. 2: „Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden." Art. 129 Abs. 3 Satz 3: „Dem Beamten ist Einsicht in seine Personalnachweise zu gewähren." Art. 143: „Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten von Staatsbeamten." Art. 144, S. 2: „Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt." Art. 149 Abs. 3: „Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten." Alles das sind gesetzliche Regelungen, welche durch die Aufnahme in „die Verfassung" Verfassungsgesetze geworden sind. Die Aufnahme in „die Verfassung" erklärt sich aus der geschichtlichen und politischen Situation des Jahres 1919. Die Parteien, auf deren Zusammenwirken die Mehrheit der Weimarer Nationalversammlung beruhte, legten Wert darauf, gerade diesen Bestimmungen den Charakter von verfassungsgesetzlichen Normen zu geben. Ein sachlicher Grund, der mit rechtslogischer Notwendigkeit diese Einzelbestimmungen von anderen, ebenfalls sehr wichtigen Bestimmungen unterscheidet, ist nicht zu erkennen. Man hätte ebensogut in die Verfassung hineinschreiben können, daß die Zivil-Ehe und die Auflösbarkeit der Ehe garantiert werden, daß Testamentsfreiheit besteht, daß der Jagdberechtigte den Wildschaden in voller Höhe zu ersetzen hat oder daß die Mieten in den nächsten zehn Jahren nicht gesteigert werden dürfen.
Solche verfassungsgesetzlichen Einzelheiten sind für eine unterschiedslos formalisierende und relativierende Betrachtungsweise alle gleich „fundamental". Der Satz des Art. 1 Abs. 1 RV. : „Das Deutsche Reich ist eine Republik" und der Satz des Art. 129, daß „dem Beamten Einsicht in seine Personalnachweise zu gewähren" ist, heißen beide „Grundnormen", „Gesetz der Gesetze" usw. Es ist aber selbstverständlich, daß bei solcher Formalisierung nicht etwa jene Einzelbestimmungen fundamentalen Charakter erhalten, sondern umgekehrt, die echten Fundamentalbestimmungen auf die Stufe der verfassungsgesetzlichen Einzelheiten herabgedrückt werden. Die „formalen" Merkmale des Verfassungsbegriffs sind nunmehr zu erörtern. Doch muß nochmals daran erinnert werden, daß die Verwirrung der heute üblichen Ausdrucksweise und Begriffsbildung sehr groß ist. Erstens wird Verfassung (als Einheit) und Verfassungsgesetz (als Einzelheit) stillschweigend gleichgestellt und verwechselt; zweitens wird „Verfassung im formalen Sinne" und „Verfassungsgesetz im formalen Sinne" nicht unterschieden; und endlich werden zur Bestimmung des „formalen" Charakters zwei Merkmale angegeben, die von ganz disparaten Gesichtspunkten aus gewonnen sind: einmal wird als „Verfassung im formalen Sinne" nur eine geschriebene Verfassung bezeichnet, und andrerseits soll das Formale des Verfassungsgesetzes und der stillschweigend damit gleichgestellten Verfassung darin bestehen, daß seine Abänderung an erschwerte Voraussetzungen und Verfahren gebunden ist.
Relativer
Verfassungsbegriff
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II. Die geschriebene Verfassung. Das „Formale" der geschriebenen Verfassung kann natürlich nicht darin liegen, daß irgend jemand irgendwelche Bestimmungen oder Abmachungen zu Papier bringt, beurkundet oder beurkunden läßt und deshalb eine schriftliche Urkunde vorliegt. Der Charakter des Formalen kann nur daraus gewonnen werden, daß bestimmte Eigenschaften, sei es der beurkundenden Person oder Stelle, sei es des beurkundeten Inhaltes, es rechtfertigen, von einer Verfassung im formalen Sinn zu sprechen. Geschichtlich betrachtet können Inhalt und Bedeutung der geschriebenen Verfassung sehr mannigfaltig und verschieden sein. Im 19. Jahrhundert z. B., bis zum Jahre 1848, forderte das deutsche Bürgertum im Kampf mit der absoluten Monarchie eine geschriebene Verfassung. Hier wurde der Begriff der geschriebenen Verfassung zu einem Idealbegriff, in welchen die verschiedenartigsten Forderungen des bürgerlichen Rechtsstaates hineingelegt wurden. Es versteht sich von selbst, daß diese Forderungen des liberalen Bürgertums nach einer geschriebenen Verfassung nicht dadurch erfüllt waren, daß der König irgendeine Anordnung mit irgendeinem Inhalt erließ und darüber eine Urkunde angefertigt wurde. Als geschriebene Verfassung im Sinne dieser politischen Forderung galt nur das, was inhaltlich diesen Forderungen entsprach; vgl. darüber unten § 4, S. 39.
Die Gründe, welche dazu geführt haben, gerade eine geschriebene Verfassung als Verfassung im formalen Sinne zu bezeichnen, sind ebenfalls sehr verschieden und gehen von entgegengesetzten Gesichtspunkten aus, die hier unterschieden werden müssen. Zunächst ist es die allgemeine Vorstellung, daß etwas, was schriftlich fixiert ist, besser bewiesen werden kann, daß sein Inhalt stabil und gegen Änderungen geschützt ist. Die beiden Gesichtspunkte, Beweisbarkeit und größere Stabilität, genügen aber nicht, um in prägnantem Sinne von etwas Formalem zu sprechen. Vielmehr muß die Niederschrift von einer maßgeblichen Stelle ausgehen; es wird ein als maßgebend anerkanntes Verfahren vorausgesetzt, ehe das Geschriebene als authentisch geschrieben gelten kann. Niederschrift und Beurkundung kommen also zu einem bestimmten Verfahren nur hinzu und sind nicht das Entscheidende. Die geschriebene Verfassung muß in einem besonderen Verfahren zustande kommen, das heißt nach den Forderungen des deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts: vereinbart werden (vgl. unten § 6, S. 54). „Wenn ich diese Frage (nach dem Wesen der Verfassung) einem Juristen stelle, so wird er mir hierauf etwa eine Antwort geben wie folgt: Eine Verfassung ist ein zwischen König und Volk beschworener Pakt, welcher die Grundprinzipien der Gesetzgebung und Regierung in einem Lande feststellt" (Lassalle, 1862). Die Verfassung wäre also ein geschriebener Vertrag.
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I. Begriff der Verfassung
Aber nachdem sie einmal zustande gekommen ist, wird sie im Wege der Gesetzgebung geändert und erscheint als geschriebenes Gesetz. In beiden Fällen handelt es sich natürlich nur darum, daß die Volksvertretung (das Parlament) mitwirkt; die Begriffe „Vertrag" und „Gesetz" haben nur den politischen Sinn, die Mitwirkung der Volksvertretung sicherzustellen. Die Beurkundung kommt hinzu, wie andere Formalitäten, ζ. B. die feierliche Beeidigung. Solche formalen Kennzeichen können sich niemals selbst genügen. Im Endergebnis aber führt die Forderung einer „geschriebenen Verfassung" dahin, daß die Verfassung als ein Gesetz behandelt wird. Auch wenn sie im Wege der Vereinbarung zwischen Fürst und Volksvertretung zustande gekommen ist, soll sie doch nur im Wege der Gesetzgebung geändert werden können. Verfassung wird also = Gesetz, wenn auch Gesetz besonderer Art, und steht als lex scripta im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht. N u n brauchte dieser Satz: Verfassung = lex scripta noch nicht die Auflösung der einheitlichen Verfassung in eine Reihe von einzelnen Verfassungsgesetzen zu bedeuten. Geschichtlich beginnt die Praxis der modernen geschriebenen Verfassungen mit einem Gegensatz gegen die englische, hauptsächlich auf Gewohnheit und Übung beruhende Verfassungspraxis: Die englischen Kolonien in Nordamerika, die sich am 4. Juni 1776 als unabhängige Staaten erklärten, gaben sich geschriebene Verfassungen, die von „verfassunggebenden" Versammlungen wie Gesetze entworfen und verkündet wurden (unten § 4, II, 3, S. 40). Diese Verfassungen waren aber nicht als einzelne Verfassungsgesetze, sondern als Kodifikationen gedacht. Wenn der Begriff der geschriebenen Verfassung dazu führt, die Verfassung als Gesetz zu behandeln, so doch zunächst nur im Sinne eines absoluten Verfassungsbegriffes, d. h. als Einheit und als ein Ganzes. Die englische Verfassung, die auf verschiedenartigen Akten beruht, auf Vereinbarungen, Verträgen, einzelnen Gesetzen, Gewohnheiten und Präzedenzfällen, gilt nicht als Verfassung im formalen Sinne, weil sie nicht vollständig, d. h. nicht als abgeschlossene Kodifikation in der Form eines Gesetzes ergangen und geschrieben ist. Es sind zahlreiche einzelne englische Verfassungsgesetze in der Form von geschriebenen Gesetzen ergangen, so, um nur ein Beispiel zu nennen, die berühmte Parlamentsakte von 1911, durch welche die Mitwirkung des Oberhauses bei der Gesetzgebung beschränkt wurde (unten S. 295). England hat also Verfassungsgesetze im Sinne geschriebener einzelner Verfassungsgesetze. Wenn
§2 Relativer Verfassungsbegriff
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man trotzdem sagt, daß es keine Verfassung im formalen Sinne habe, so versteht man unter Verfassung eine geschlossene Kodifikation, welche das Verfahren der staatlichen Willensbildung erschöpfend regelt. Die Vorstellung einer geschriebenen Verfassung müßte also konsequent bei der weiteren Vorstellung einer geschlossenen Verfassungskodifikation und bei einem absoluten Verfassungsbegriff bleiben. Es wurde aber schon erwähnt, daß der Glaube an solche Kodifikationen heute fehlt. Die Verfassungen der verschiedenen Staaten erscheinen als eine Reihe verschiedenartig zusammengesetzter Normierungen: organisatorische Bestimmungen über die wichtigsten staatlichen Behörden, über das Verfahren der Gesetzgebung und die Regierung, Programme und Richtlinien allgemeiner Art, Garantien gewisser Rechte und zahlreiche Einzelbestimmungen, die nur deshalb in die Verfassung hineingeschrieben werden, weil man sie den wechselnden Parlamentsmehrheiten entziehen will und weil die Parteien, welche den Inhalt der „Verfassung" bestimmen, die Gelegenheit benutzen, um ihren parteimäßigen Forderungen den Charakter von Verfassungsgesetzen zu verleihen. Auch wenn eine solche Reihe von Verfassungsgesetzen durch eine eigens zu diesem Zweck berufene verfassunggebende Versammlung beschlossen ist, liegt die Einheit der in ihr enthaltenen Bestimmungen nicht in ihrer inhaltlichen, systematischen und normativen Geschlossenheit, sondern außerhalb dieser Normen in einem politischen Willen, der alle diese Normen überhaupt erst zu Verfassungsgesetzen macht und als ihre einheitliche Grundlage ihre Einheit von sich aus bewirkt. In allen Ländern mit geschriebenen Verfassungen liegt heute in Wahrheit nur eine Mehrheit geschriebener Verfassungsgesetze vor. So wird allgemein angenommen, daß Frankreich eine geschriebene Verfassung, eine Verfassung im formalen Sinne habe, und man spricht von „der" Verfassung des Jahres 1875, weil in diesem und den folgenden Jahren mehrere der wichtigsten Verfassungsgesetze ergangen sind. Bei den Verfassungsgesetzen des Jahres 1875 fehlt es aber, wie Barth élemy-Duez, S. 39 ff., richtig sagt, an jeder Methode, an jeder dogmatischen Vollständigkeit, sogar an dem Willen, vollständig und erschöpfend zu sein. „II n'y a pas de constitution; il y a des lois constitutionnelles." Im übrigen beruht alles auf Gewohnheit und Uberlieferung, und es wäre ganz unmöglich, an der Hand der Texte dieser Verfassungsgesetze das staatliche Leben der französischen Republik zu erkennen und in ihnen in irgendeinem auch nur annähernd systematischen Sinne die erschöpfende Normierung des französischen Staatsrechts zu sehen. Die Weimarer Verfassung ist im Vergleich zu diesen französischen Verfassungsgesetzen systematischer und vollständiger, was ihren organisatorischen Teil angeht. Aber sie enthält ebenfalls eine Reihe von einzelnen Gesetzen und heterogenen Prinzipien, so daß es auch hier nicht zulässig ist, von einer Ko-
I.Begriff der Verfassung
difikation im materiellen Sinne zu sprechen. Auch hier löst sich die geschlossene Einheit einer verfassungsgesetzlichen Kodifikation in eine Summe zahlreicher verfassungsgesetzlicher Einzelbestimmungen auf.
Die sog. formale Begriffsbestimmung: Verfassung im formalen Sinne = geschriebene Verfassung, besagt also heute weiter nichts als: Verfassung = eine Reihe geschriebener Verfassungsgesetze. Über dem Begriff des einzelnen Verfassungsgesetzes geht der Begriff der Verfassung verloren. Etwas Spezifisches zur Bestimmung des Begriffes der Verfassung ist damit nicht gewonnen. Jener sog. formale Begriff hat nur dazu geführt, den Begriff der Verfassung zu relativieren, d. h. aus der Verfassung im Sinne einer geschlossenen Einheit eine Menge äußerlich gekennzeichneter gesetzlicher Bestimmungen zu machen, die man als „Verfassungsgesetze" bezeichnet. Deshalb erhebt sich die weitere Frage nach dem andern formalen Kennzeichen des Verfassungsgesetzes, der erschwerten Abänderbarkeit. III. Erschwerte Abänderbarkeit als formales Kennzeichen des Verfassungsgesetzes. Das formale Merkmal der Verfassung und (unterschiedslos) des Verfassungsgesetzes wird darin gefunden, daß Verfassungsänderungen einem besonderen Verfahren mit erschwerten Bedingungen unterliegen. Durch die erschwerten Änderungsbedingungen soll die Dauer und Stabilität der Verfassungsgesetze geschützt werden und wird die „Gesetzeskraft erhöht". Verfassungsgesetze sind nach Haenel (Staatsrecht I, S. 125, der übrigens auch hier der typischen Verwechslung von Verfassung und Verfassungsgesetz erliegt) „äußerlich hervorgehobene Gesetze, denen unter den gegebenen politisch-historischen Verhältnissen eine hervorragende Bedeutung beigemessen wurde und welche besondere Bürgschaften der Dauer und der Unverletzlichkeit dadurch empfingen, daß ihre Abänderungen an erschwerte Formen gebunden und ihre Einhaltung durch besondere Verantwortlichkeitsverhältnisse gesichert wurden". Diese Begriffsbestimmung Haenels ist noch besonders substantiell. G. Jellinek definiert einfach: „Das wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten Gesetzeskraft . . . daher sind jene Staaten, die keine formellen Unterschiede innerhalb ihrer Gesetze kennen, viel konsequenter, wenn sie die Zusammenfassung einer Reihe von Gesetzesbestimmungen unter dem Namen einer Verfassungsurkunde ablehnen" (Allg. Staatslehre, S. 520; Gesetz und Verordnung, S. 262); ferner Laband, Staatsrecht II, S. 38 ff. Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, 1909, S. 5 / 6, W. Hildesheimer, Über die Revision moderner Staatsverfassungen (Abhandlungen aus dem Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, XV 1, Tübingen 1918) S. 5 ff.
1. Es gibt Staaten, in welchen alle gesetzlichen Bestimmungen ohne Rücksicht auf ihren Inhalt im Wege eines einfachen Gesetzes abgeändert werden können. Hier fehlt also jeder besondere Schutz gegen Änderungen und ist in dieser Hinsicht auch zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen keinerlei Unterschied mehr,
§2 Relativer Verfassungsbegriff
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so daß man „formal" gar nicht von Verfassungsgesetzen sprechen dürfte. Man spricht hier von biegsamen (flexiblen) Verfassungen, ein Sprachgebrauch, bei welchem die Frage offenbleibt, was unter „Verfassung" und „Verfassungsgesetz" überhaupt noch verstanden wird. Als das Hauptbeispiel eines Landes ohne „Verfassung im formalen Sinne" gilt England, weil hier kein Unterschied gemacht wird zwischen wichtigen organisatorischen Bestimmungen, etwa über das Verhältnis von Oberhaus und Unterhaus, und irgendeinem andern im Vergleich dazu ganz unwichtigen Gesetz, etwa einem Gesetz über die Ausübung des Dentistenberufes. Alle Gesetze ohne Unterschied kommen durch Parlamentsbeschluß zustande, so daß formal die Verfassimg von einer solchen Dentistenordnung nicht verschieden wäre. Die Unzulänglichkeit einer solchen Art von „Formalismus" zeigt sich schon an der Absurdität dieses Beispiels.
Zum Unterschied von diesen „biegsamen Verfassungen" heißen andere Verfassungen starr (rigide). Eine absolut starre Verfassung müßte jede Änderung irgendeiner ihrer Bestimmungen verbieten. In diesem absoluten Sinne dürfte es heute keine starren Verfassungen mehr geben. Doch kommt es vor, daß für einzelne Verfassungsbestimmungen ein formelles verfassungsgesetzliches Verbot der Änderung besteht. So verbietet ein französisches Gesetz vom 14. August 1884, die Staatsform der Republik zum Gegenstand eines verfassungsändernden Antrages zu machen. Das ist ein besonderer Fall, dessen eigentliche Bedeutung später zu behandeln ist. Für die hier zu erörternde formale Betrachtungsweise macht er im übrigen die französische Verfassung noch nicht zu einer absolut starren Verfassung. Es werden aber auch solche Verfassungen als starr oder rigide bezeichnet, in welchen verfassungsgesetzlich die Möglichkeit von Verfassungsänderungen oder -revisionen vorgesehen ist, diese Änderung oder Revision aber an besondere, erschwerte Voraussetzungen oder Verfahren gebunden ist. Beispiele: Art 76 RV.: „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstages auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrates auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Drittel der abgegebenen Stimmen." Art. 78 aRV.: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben." Art. 8 des französischen Verfassungsgesetzes vom 25. Februar 1875 bestimmt, daß Verfassungsänderungen durch Beschluß einer „Nationalversammlung", d. h. der zu einer einzigen Versammlung vereinigten beiden Kammern — Deputiertenkammer und Senat — vor sich gehen. Ferner Art. 118 ff. der Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (mit Unterscheidung von Total- und Partialrevision); Art. V der Amerikanischen Bundesverfassung von 1787 usw. vgl. unten § 11, S. 106.
Wenn keine verfassungsgesetzlichen Bestimmungen über Verfassungsänderungen bestehen (z. B. in den französischen Verfassungen 2 Schmitt, Verfassungslehre
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I. Begriff der Verfassung
[Charten] von 1814 und 1830), kann es zweifelhaft sein, ob eine biegsame oder eine absolut starre Verfassung anzunehmen ist, d. h. ob verfassungsgesetzliche Änderungen im Wege eines einfachen Gesetzes zustande kommen oder ob das Schweigen der Verfassung bedeutet, daß Änderungen überhaupt verboten sind. Die richtige Antwort lautet: Hier kann nur die Verfassung als Ganzes durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt beseitigt werden, während verfassungsge$efz/*c^e Änderungen allerdings verboten sind. Unrichtig Hildesheimer a. a. O. S. 8, dessen Beweisführung durch die Verwechslung von Verfassung und Verfassungsgesetz leider ganz unklar werden mußte.
2. I n dem Erfordernis erschwerter Abänderbarkeit liegt eine gewisse Garantie der Dauer und Stabilität. Doch entfallen Garantie und Stabilität selbstverständlich, wenn eine Partei oder Parteikoalition über die nötigen Mehrheiten verfügt und irgendwie in der Lage ist, den erschwerten Voraussetzungen zu genügen. In Deutschland ist es, trotz der großen Parteizersplitterung, seit dem Jahre 1919 zu zahlreichen Gesetzen gekommen, die den Anforderungen des Art. 76 RV. entsprechen und deshalb als „verfassungsändernd" bezeichnet werden. Der ursprüngliche Sinn der Garantie einer Verfassung mußte verlorengehen, wenn die Verfassung als Ganzes zu einer Mehrheit von einzelnen Verfassungsgesetzen relativiert wurde. Die Verfassung ist nach Inhalt und Tragweite immer etwas Höheres und Umfassenderes als irgendein einzelnes Gesetz. Der Inhalt der Verfassung war nicht wegen seiner erschwerten Abänderbarkeit etwas Besonderes und Ausgezeichnetes, sondern umgekehrt: wegen seiner fundamentalen Bedeutung sollte er die Garantie der Dauer erhalten. Diese Erwägung verlor an Gewicht, wenn es sich nicht mehr um „die Verfassung", sondern um eines oder mehrere der zahlreichen einzelnen Verfassungsgesetze handelte. Jetzt stellte sich ein ganz einfacher, parteitaktischer Gesichtspunkt heraus: die erschwerte Abänderbarkeit war nicht mehr die Folge der Verfassungsqualität, sondern umgekehrt: man machte eine Bestimmung zum Verfassungsgesetz, um ihr aus irgendwelchen praktischen Gründen (die mit Grundnorm oder dergleichen nichts zu tun haben) Schutz vor dem Gesetzgeber, d. h. vor den wechselnden Parlamentsmehrheiten zu verleihen. Wenn in Frankreich im August 1926 durch Beschluß einer Nationalversammlung eine sog. „Caisse autonome" gebildet wird, um gewisse Einkünfte zur Tilgung der öffentlichen Schuld verfassungsgesetzlich sicherzustellen und den budgetrechtlichen Beschlüssen der jeweiligen Parlamentsmehrheit zu entziehen, so ist das wohl etwas prak-
§2 Relativer Verfassungsbegriff
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tisch sehr Wichtiges, aber nicht in dem alten Sinne „fundamental". Wenn die Bildung der Volksschullehrer nach den Grundsätzen „höherer Bildung" zu regeln (Art. 143 Abs. 2), der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach in den Schulen (Art. 149 Abs. 1), dem Beamten Einsicht in seine Personalnachweise zu gewähren ist (Art. 129), so sind das gewiß sehr wichtige Bestimmungen, aber sie haben nur insofern den Charakter von „Verfassungsgesetzen", als sie vor abändernden Beschlüssen wechselnder Parlamentsmehrheiten geschützt sind. Durch die Relativierung der Verfassung zum Verfassungsgesetz und die Formalisierung des Verfassungsgesetzes ist die sachliche Bedeutung der Verfassung ganz zurückgetreten. „Das wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft" (G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 520). Dauer und Stabilität der Verfassung reduzieren sich darauf, daß die Formalitäten eines Verfassungsartikels über Verfassungsänderungen — nach der Weimarer Verfassung des Art. 76 RV. — eingehalten werden müssen. Wäre das wirklich der endgültige Verfassungsbegriff, so würde die Bestimmung über Verfassungsänderungen, für die Weimarer Verfassung also Art. 76, der wesentliche Kern und der einzige Inhalt der Verfassung. Die ganze Verfassung wäre nur ein Provisorium und in Wahrheit nur ein Blankettgesetz, welches gemäß den Bestimmungen über Verfassungsänderungen jeweils ausgefüllt würde. Jedem geltenden Verfassungssatz des heutigen deutschen Verfassungsrechts müßte der Zusatz beigefügt werden: vorbehaltlich einer Änderung im Wege des Art. 76 RV. „Das Deutsche Reich ist eine Republik" (Art. 1) — vorbehaltlich des Art. 76 RV.; „die Ehe ist die Grundlage des Familienlebens" (Art. 119) — wenn nicht im Wege des Art. 76 RV. etwas anderes bestimmt wird; „alle Bewohner des Reiches genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" (Art. 135) — sofern sie ihnen nicht im Wege des Art. 76 genommen wird usw. Das wäre die Konsequenz des „formalen" Verfassungsbegriffes, wie er in der heutigen deutschen Staatsrechtslehre anscheinend für etwas ganz Selbstverständliches gilt. Aber weder logisch noch juristisch ist ein solcher Verfassungsbegriff möglich. Man kann die Begriffsbestimmung der Verfassung nicht daran orientieren, wie ein einzelnes Verfassungsgesetz abgeändert werden kann. Auch ist es nicht zulässig, das Verfassungsgesetz als ein in einem bestimmten Verfahren abänderbares Gesetz zu definieren, denn die erschwerten Änderungsbedingungen beruhen *
I. Begriff der Verfassung
doch selbst wieder auf einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung und setzen deren Begriff voraus. Es wäre offenbar unrichtig zu sagen: Art. 76 RV. ist ein Verfassungsgesetz, weil er im Wege des Art. 76 geändert werden, sich also selber aufheben kann. Erstens ist es unrichtig, anzunehmen, daß im Wege des Art. 76 jede beliebige verfassungsgesetzliche Regelung getroffen werden darf (vgl. unten §11), und zweitens läßt sich das Wesen eines Verfassungsgesetzes nicht daraus erkennen, daß es in einem bestimmten Verfahren geändert werden kann. Aus dem Verfahren der Änderung läßt sich das Wesen des geänderten Gegenstandes überhaupt nicht definieren. Eine verfassungsmäßige Verfassungsänderung ist logisch und zeitlich von der Verfassung abhängig. Die Bestimmungen der Weimarer Verfassung sind, auch ohne Rücksicht auf Art. 76, Verfassungsgesetze in formalem Sinne; sie haben ihre Kraft nicht aus ihrer eventuellen Abänderbarkeit, sondern die Bestimmungen über die Abänderung wie andere verfassungsgesetzliche Bestimmungen verdanken ihre Kraft der Verfassung. Wenn man den formalen Begriff der Verfassung von den Erfordernissen der Abänderung einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung her gewinnen will, so verwechselt man die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes mit der Zuständigkeit, die der Reichstag, der Reichsrat oder die Wählerschaft in Art. 76 erhalten haben. Die Zuständigkeit, verfassungsgesetzliche Änderungen vorzunehmen, ist eine im Rahmen der Verfassung verbleibende, durch sie selbst begründete und nicht über sie hinausgehende Zuständigkeit. Sie enthält nicht die Befugnis, eine neue Verfassung zu geben, und durch eine Bezugnahme auf diese Befugnis läßt sich kein Begriff von Verfassung gewinnen, weder ein „formaler" noch irgendein anderer brauchbarer Begriff. Es bedarf daher einer anderen als dieser „formalen" Definition der Verfassung.
§3 Der positive Verfassungsbegriff (Die Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit)
Ein Begriff von Verfassung ist nur möglich, wenn Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden werden. Es ist nicht zulässig, die Verfassung erst in eine Vielheit von einzelnen Verfassungsgesetzen
§ 3 Der positive Verfassungsbegriff
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aufzulösen und dann das Verfassungsgesetz an irgendeinem äußerlichen Kennzeichen oder sogar nach der Methode seiner Abänderung zu bestimmen. Auf diese Weise geht ein wesentlicher Begriff der Staatslehre und der Grundbegriff der Verfassungslehre verloren. Es war ein charakteristischer Irrtum, daß ein berühmter Staatsrechtslehrer behaupten konnte, die Verwandlung der Verfassung in eine „ A r t des Gesetzes" sei eine „Errungenschaft der politischen Kultur der Gegenwart". Für die Verfassungslehre ist die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz vielmehr der Anfang jeder weiteren Erörterung. Der eben zitierte Ausspruch, daß die Verfassung eine „Art des Gesetzes" sei, stammt von Bernatzik (Grünhuts Zeitschr. für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 26,1899, S. 310). Errichtetsich gegen die Meinung, daß die Verfassung ein Vertrag (zwischen Fürst und Parlament) sei und möchte die Verfassung als etwas Dauerndes und Unwiderrufliches von dem Vertrag, der ein „selbstnütziges Verhältnis schafft" und „unter gewissen Umständen anfechtbar, nichtig, widerruflich, löslich" ist, deutlich unterscheiden. So erklärt sich die Verwechslung von Verfassung und Verfassungsgesetz daraus, daß der Begriff des Gesetzes zunächst nur polemisch den Gegensatz gegen einen Vertrag betonen sollte, während heute gerade der Gegensatz gegen das Gesetz (im Sinne eines Parlamentsbeschlusses) betont werden muß, nicht, um zur Vertragskonstruktion zurückzukehren, sondern um den positiven Verfassungsbegriff vor einer formalistischen Auflösung und Verwesung zu schützen.
I. Die Verfassung im positiven Sinne entsteht durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt Der A k t der Verfassunggebung enthält als solcher nicht irgendwelche einzelne Normierungen, sondern bestimmt durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform. Dieser A k t konstituiert Form und Art der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird. Es ist nicht so, daß die politische Einheit erst dadurch entsteht, daß eine „Verfassung gegeben" wird. Die Verfassung im positiven Sinne enthält nur die bewußte Bestimmung der besonderen Gesamtgestalt, für welche die politische Einheit sich entscheidet. Diese Gestalt kann sich ändern. Es können fundamental neue Formen eingeführt werden, ohne daß der Staat, d. h. die politische Einheit des Volkes aufhört. Immer aber gehört zu dieser Verfassunggebung ein handlungsfähiges Subjekt, das sie mit dem Willen gibt, eine Verfassung zu geben. Eine solche Verfassung ist eine bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt Bei der Gründung neuer Staaten (wie im Jahre 1775 in den Vereinigten Staaten von Amerika oder im Jahre 1919 bei der Gründung der Tschechoslowakei) oder bei fundamentalen sozialen Umwälzungen (Frankreich 1789, Rußland 1918) tritt dieser Charakter der Verfassung als einer bewußten,
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I. Begriff der Verfassung
die politische Existenz in ihrer konkreten Daseinsform bestimmenden Entscheidung am deutlichsten hervor. Hier kann auch am leichtesten der Eindruck entstehen, eine Verfassung müsse immer einen neuen Staat begründen, ein Irrtum, der sich außerdem aus der Verwechslung eines (die politische Einheit begründenden) „Sozialvertrages" mit der Verfassung erklärt; vgl. unten §7, S. 61. Ein weiterer, damit verbundener Irrtum liegt darin, die Verfassung für eine erschöpfende Kodifikation zu halten. Aber die Einheit der Verfassung liegt nicht in ihr selber, sondern in der politischen Einheit, deren besondere Existenzform durch den Akt der Verfassunggebung bestimmt wird.
Die Verfassung ist also insofern nichts Absolutes, als sie nicht aus sich selber entstanden ist. Sie gilt auch nicht kraft ihrer normativen Richtigkeit oder kraft ihrer systematischen Geschlossenheit. Sie gibt sich nicht selbst, sondern wird für eine konkrete politische Einheit gegeben. Sprachlich ist es vielleicht noch möglich zu sagen, daß eine Verfassung „sich selber setzt", ohne daß die Seltsamkeit dieser Redensart sofort auffällt. Aber daß eine Verfassung sich selber gibt, ist offenbar unsinnig und absurd. Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt. Jede Art rechtlicher Normierung, auch die verfassungsgesetzliche Normierung, setzt einen solchen Willen als existierend voraus. Die Verfassungsgesetze dagegen gelten erst auf Grund der Verfassung und setzen eine Verfassung voraus. Jedes Gesetz als normative Regelung, auch das Verfassungsgesetz, bedarf zu seiner Gültigkeit im letzten Grunde einer ihm vorhergehenden politischen Entscheidung, die von einer politisch existierenden Macht oder Autorität getroffen wird. Jede existierende politische Einheit hat ihren Wert und ihre „Existenzberechtigung" nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr „Recht auf Selbsterhaltung" die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen; sie sucht sich vor allem in ihrer Existenz zu erhalten, „in suo esse perseverare" (Spinoza); sie schützt „ihre Existenz, ihre Integrität, ihre Sicherheit und ihre Verfassung" — alles existentielle Werte. Die Zusammenstellung „Existenz, Integrität, Sicherheit und Verfassung" ist besonders prägnant und richtig. Sie findet sich im Art. 74 aRV., wohin sie aus dem Bundesbeschluß des Deutschen Bundes vom 18. August 1836 übernommen wurde. Dieser Bundesbeschluß bestimmte, daß jedes gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherung oder die Verfassung des Deutschen Bundes gerichtete Unternehmen in den einzelnen Staaten des Bundes als Hochverrat oder Landesverrat zu beurteilen und zu bestrafen war. — Die Schweizerische Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 erklärt es in ihrem Vorspruch als Absicht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, den Bund der Eidgenossen zu befestigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern; in ihrem Art. 2 erklärt sie es als den Zweck des Bundes: „Be-
§ 3 Der positive Verfassungsbegriff
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hauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen Außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern" usw. Es gibt keine Verfassung ohne solche existenziellen Begriffe.
Weil jedes Sein konkretes und bestimmt geartetes Sein ist, gehört irgendeine Verfassung zu jeder konkreten politischen Existenz. Aber nicht jede politisch existierende Größe entscheidet in einem bewußten Akt über die Form dieser politischen Existenz und trifft durch eigene, bewußte Bestimmung die Entscheidung über ihre konkrete Art zu sein, wie die amerikanischen Staaten bei ihrer Unabhängigkeitserklärung und die französische Nation im Jahre 1789. Gegenüber dieser existentiellen Entscheidung sind alle normativen Regelungen sekundär. Auch alle in Rechtsnormen verwendeten Begriffe, welche die politische Existenz voraussetzen, Begriffe wie Hochverrat, Landesverrat usw., erhalten ihren Inhalt und ihren Sinn nicht von einer Norm, sondern aus der konkreten Wirklichkeit eines unabhängigen politischen Existierens. II. Die Verfassung als politische Entscheidung. Es ist notwendig, von der Verfassung als von einer Einheit zu sprechen und insofern einen absoluten Sinn von Verfassung beizubehalten. Gleichzeitig darf die Relativität der einzelnen Verfassungsgeseize nicht verkannt werden. Die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz ist aber nur möglich, weil das Wesen der Verfassung nicht in einem Gesetz oder einer Norm enthalten ist. Vor jeder Normierung liegt eine grundlegende politische Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt, d. h. in der Demokratie des Volkes, in der echten Monarchie des Monarchen. So enthält die französische Verfassung von 1791 die politische Entscheidung des französischen Volkes für die konstitutionelle Monarchie mit zwei „Repräsentanten der Nation", dem König und der gesetzgebenden Körperschaft. Die belgische Verfassung von 1831 enthielt die Entscheidung des belgischen Volkes für eine (parlamentarisch-)monarchische Regierung auf demokratischer Grundlage (verfassunggebende Gewalt des Volkes) nach Art des bürgerlichen Rechtsstaates. Die preußische Verfassung von 1850 enthielt eine Entscheidung des Königs (als des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt) für eine konstitutionelle Monarchie nach Art des bürgerlichen Rechtsstaates, wobei die Monarchie als Staatsform (nicht nur als Form der Exekutive) gewahrt blieb. Die französische Verfassung von 1852 enthielt die Entscheidung des französischen Volkes für das erbliche Kaisertum Napoleons III. usw.
Für die Weimarer Verfassung sind diese grundlegenden politischen Entscheidungen: die Entscheidung für die Demokratie, die das deutsche Volk kraft seiner bewußten politischen Existenz als Volk getroffen hat; sie findet ihren Ausdruck in dem Vorspruch („das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben") und in
I. Begriff der Verfassung
Art. 1 Abs. 2: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus"; ferner die Entscheidung für die Republik und gegen die Monarchie in Art. 1 Abs. 1: „Das Deutsche Reich ist eine Republik"; dann die Entscheidung für die Beibehaltung der Länder, also einer bundesstaatlichen (wenn auch nicht bündischen) Struktur des Reiches (Art. 2); die Entscheidung für eine grundsätzlich parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung und Regierung; schließlich die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat mit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunterscheidung (unten § 12, S. 126). Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d. h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundesstaatlicher Struktur. Die Bestimmung des Art. 17 RV., nach welcher für alle Landesverfassungen eine parlamentarische Demokratie vorgeschrieben ist, enthält die Bekräftigung jener fundamentalen Gesamtentscheidung für die parlamentarische Demokratie. 1. Die hier genannten Bestimmungen der Weimarer Verfassung sind keine Verfassungsgesetze. Sätze wie: „Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben"; „die Staatsgewalt geht vom Volke aus"; oder: „das Deutsche Reich ist eine Republik", sind überhaupt keine Gesetze und infolgedessen auch keine Verfassungsgesetze. Sie sind auch nicht etwa Rahmengesetze oder Grundsätze. Aber deshalb sind sie nicht etwas Geringeres oder Unbeachtliches. Sie sind mehr als Gesetze und Normierungen, nämlich die konkreten politischen Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben und die grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Normierungen, auch diejenigen der Verfassungsgesetze, bilden. Alles, was es innerhalb des Deutschen Reiches an Gesetzlichkeit und an Normativität gibt, gilt nur auf der Grundlage und nur im Rahmen dieser Entscheidungen. Sie machen die Substanz der Verfassung aus. Daß die Weimarer Verfassung überhaupt eine Verfassung ist und nicht eine Summe zusammenhangloser, nach Art. 76 RV. abänderbarer Einzelbestimmungen, welche die Parteien der Weimarer Regierungskoalition auf Grund irgendwelcher „Kompromisse" in den Text zu lancieren verstanden, das liegt nur in dieser existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes. Es ist ein für die Staatslehre der Vorkriegszeit typischer Irrtum, das Wesen solcher Entscheidungen zu verkennen und aus dem Ge-
§ 3 Der positive Verfassungsbegriff
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fühl heraus, daß hier etwas anderes vorliegt als eine gesetzliche N o r m i e rung, „infolgedessen" v o n „bloßen Proklamationen", „bloßen Aussagen" oder gar „Gemeinplätzen" zu sprechen. D i e Verfassung selbst löst sich auf diese Weise nach beiden Seiten i n Nichts auf: einige mehr oder weniger geschmackvolle Redensarten auf der einen, eine Menge zusammenhangloser, äußerlich gekennzeichneter Gesetze auf der andern Seite. Richtig betrachtet sind jene grundlegenden politischen E n t scheidungen auch für eine positive Jurisprudenz das Ausschlaggebende u n d das eigentlich Positive. D i e weiteren Normierungen, die Aufzählungen u n d Abgrenzungen der Kompetenzen i m einzelnen, die Gesetze, für welche aus irgendwelchen G r ü n d e n die F o r m des Verfassungsgesetzes gewählt w i r d , sind jenen Entscheidungen gegenüber relativ u n d sekundär; ihre äußerliche Besonderheit ist damit gekennzeichnet, daß sie nur i n dem erschwerten Abänderungsverfahren des A r t . 76 geändert oder beseitigt werden können. Die Reichsverfassungen von 1871 und 1919 enthalten Vorsprüche, „Präambeln", in welchen die politische Entscheidung besonders deutlich und eindringlich ausgesprochen ist. Die deutsche Staatsrechtslehre hat sie meistens als „bloße Aussagen" behandelt, als „Geschichtserzählung", als „lediglich enuntiativ, nicht dispositiv geartet" (so Anschütz, Kommentar S. 32, Meyer-Anschütz, S. 646 Anm.). Auch diejenigen Schriftsteller, die größeres Verständnis für die rechtliche Bedeutung jener Präambeln zeigen und nicht mit solchen einfachen Distinktionen darüber hinweggehen, sprechen nur davon, daß die Präambel „den Geist des VerfassungsWerkes" kennzeichnen soll, daß es sich um „Imponderabilien" handle usw. (Wittmayer, S. 40). Am weitesten ist £. Huhnch, Das demokratische Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, Greifswald 1921, S. 13, gegangen: der Vorspruch der Weimarer Verfassung hat nicht bloß enuntiativen, sondern „in Wahrheit dispositiv-juristischen Charakter". Warum? Weil er gemäß § 6 des Gesetzes vom 10. Februar 1919 verkündet ist! Außerdem aber, weil er, wenn auch nur „in ganz allgemeinen Umrissen", verbindliche Regeln enthält — eine interessante Verbindung hilflosen Formalismus mit einigem Gefühl für die sachliche Bedeutung des Vorspruchs. In den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung herrschten die Redewendungen der Vorkriegszeit (Kahl, Prot. S. 490). Man sprach von „bloßer Feststellung", sogar von agitatorischer Wirkung und andern psychologisch interessanten Dingen. Das Entscheidende ist aber: Der Vorspruch der Weimarer Verfassung enthält die authentische Erklärung des deutschen Volkes, daß es mit vollem politischen Bewußtsein als Träger der verfassunggebenden Gewalt entscheiden will. Das spezifisch Demokratische der Verfassung liegt darin, daß nicht der König, sondern das Volk die konstituierende Gewalt ausübt. Von diesem entscheidenden Gegensatz der verfassunggebenden Gewalt gegenüber allen andern abgeleiteten Gewalten und Befugnissen war allerdings in der Vorkriegsjurisprudenz nicht die Rede, und die meisten Juristen der Weimarer Nationalversammlung sprachen eben nur das Vokabularium des monarchischen Staatsrechts. 2. D i e praktische Bedeutung des Unterschiedes v o n Verfassung u n d Verfassungsgesetz zeigt sich an folgenden Beispielen seiner A n w e n d u n g : a) I m Wege des A r t . 76 R V . können Verfassungsgesetze, kann aber nicht die Verfassung als Ganzes geändert werden. A r t . 76 spricht
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I. Begriff der Verfassung
davon, daß „die Verfassung" im Wege der Gesetzgebung geändert werden kann. Zwar unterscheidet der Wortlaut dieses Artikels bei dem unklaren Sprachgebrauch, der bisher üblich war, nicht zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz. Der Sinn ist jedoch klar und wird in den späteren Ausführungen (über die Grenzen der Zuständigkeit für Verfassungsänderungen § 11, S. 102) noch deutlicher hervortreten. Daß „die Verfassung" geändert werden kann, soll nicht besagen, daß die grundlegenden politischen Entscheidungen, welche die Substanz der Verfassung ausmachen, vom Parlament jederzeit beseitigt und durch irgendwelche andern ersetzt werden können. Das Deutsche Reich kann nicht durch Zweidrittel-Mehrheitsbeschluß des Reichstages in eine absolute Monarchie oder in eine Sowjet-Republik verwandelt werden. Der „verfassungändernde Gesetzgéber" des Art. 76 ist keineswegs allmächtig. Die Redensart von dem „allmächtigen" englischen Parlament, die seit de Lolme und Blackstone gedankenlos wiederholt und auf alle möglichen andern Parlamente übertragen wird, hat hier eine große Verwirrung angerichtet. Aber ein Mehrheitsbeschluß des englischen Parlaments würde nicht genügen, England zu einem Sowjetstaat zu machen. Das Gegenteil zu behaupten wäre nicht etwa „formale Betrachtungsweise", sondern politisch und juristisch gleich falsch. Nicht irgendeine Parlamentsmehrheit, sondern nur der direkte, bewußte Wille des ganzen englischen Volkes könnte solche fundamentalen Änderungen begründen. Verfassung»gebung" und Verfassungs„