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German Pages 1374 [1375] Year 2006
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 75
Verfassungslehre und Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters Von
Ernst Pitz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ERNST PITZ
Verfassungslehre und Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 75
Verfassungslehre und Einführung in die deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters Von
Ernst Pitz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-11985-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsübersicht Analytisches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIV
Einleitung Aufgaben und Ziele der Verfassungsgeschichte
1
Erstes Kapitel: Gemeinwille und Identitätssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweites Kapitel: Zum Stande der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Die Gemeinden
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Drittes Kapitel: Ursprung und Wesen staatlicher Hoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Viertes Kapitel: Partikularverbände I: Hausgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Fünftes Kapitel: Edelinge und Dynasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Sechstes Kapitel: Partikularverbände II: Genossenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Siebtes Kapitel: Freie Einungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Achtes Kapitel: Die Grafschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Neuntes Kapitel: Die Grafschaft im Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Zehntes Kapitel: Zum Stande der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Elftes Kapitel: Hofrechtsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Zweiter Teil Der Staat
463
Zwölftes Kapitel: Über den Staatsaufbau von unten her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Dreizehntes Kapitel: Das Fürstentum: Geistliche Fürsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
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Inhaltsübersicht
Vierzehntes Kapitel: Weltliche Fürsten: Die Regna des Ostfränkischen Reiches . . . . . . . . 549 Fünfzehntes Kapitel: Weltliche Fürsten: Die Erhebung zum Herzoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Sechzehntes Kapitel: Bestallung und Belehnung I: Rechts und Formfragen – Einsetzung der Grafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Siebzehntes Kapitel: Bestallung und Belehnung II: Königlicher, herzoglicher und bischöflicher Komitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Achtzehntes Kapitel: Die Großen und die Reichsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 Neunzehntes Kapitel: Der Reichsuntertanenverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 Zwanzigstes Kapitel: Mystisches Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Einundzwanzigstes Kapitel: Das Interregnum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 Zweiundzwanzigstes Kapitel: Das Königtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 Dreiundzwanzigstes Kapitel: Privilegienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 Nachwort: Über die Entstehung dieses Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1209 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299
Analytisches Inhaltsverzeichnis Einleitung
Aufgaben und Ziele der Verfassungsgeschichte
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Erstes Kapitel Gemeinwille und Identitätssystem § 1. Verfassung eine von Menschen gewillkürte Ordnung zur Erhaltung des Gemeinwillens (S. 1) – § 2. Die Quellen des früheren Mittelalters pflegen darüber zu schweigen (S. 1) – § 3. Zum Vergleich: Formen der Willensbildung in der altrömischen Republik (S. 2) – § 4. Das römische Volk zwar souverän, aber handlungsunfähig und daher in ungleicher Zweiseitigkeit an die Leitung der Magistrate gebunden (S. 3) – § 5. Abstimmung mittels zählbarer Einzelstimmen. Das römische Volk nicht identisch mit den Comitien, sondern von ihnen repräsentiert (S. 4) – § 6. Formmerkmale der Repräsentation (S. 5) § 7. Vergleich zwischen mittelalterlichen, von Fürsten geführten (monokephalen) Personenverbänden und der römischen Republik (S. 5) – § 8. Im Mittelalter war die Vertretung des Volkes durch die Versammlung nicht gesetzlich geregelt. Der Gemeinwille bildete sich im Diskurs nicht abzählbarer Viril- und Verbandsstimmen (S. 6) – § 9. Dieses Vertretungsverhältnis war etwas anderes als Repräsentation. Unterschied zwischen römischem Anstaltsstaat und germanischem Gefolgschafts- oder Genossenschaftsstaat (S. 7) – § 10. Verhältnis der Versammlung zum Fürsten: Das Volk blieb gegenüber der fürstlichen Gewalt stets handlungsfähig und fähig, sie zu binden (S. 8) – § 11. Der Fürst war auf den Konsens des Volkes und auf die Identität seines Willens mit dem der Versammlung und des Volkes angewiesen (S. 9) – § 12. Daneben gab es freie, d. h. fürstlicher Führung entbehrende (akephale) Verbände, vertraglich geschaffen von freien Männern im Wege der Einung. Unterschied zwischen germanischer Einung und römischer universitas (S. 10) – § 13. Schriftliche Zeugnisse für Einung und Identität der Willen liegen uns erst aus später Zeit vor (S. 10) – § 14. Der gemeinrechtliche Begriff Identitätsrepräsentation ein irreführendes mixtum compositum. Lateinische Worte als Übersetzungen deutscher Rechtsbegriffe (S. 11) § 15. Merkmale einer auf das Prinzip der Identität gegründeten Verfassung nach den spätmittelalterlichen Quellen: (1) Die Zwangsgewalt der Verbände über die Genossen beruhte auf Eidesrecht (S. 12) – § 16. (2) Ältere und jüngere Form der Genossenschaft: Vollversammlung aller und vollmächtige Versammlung anwesender Genossen (S. 13) – § 17. (3) Im Namen des Verbandes führten Worthalter (meliores) die Geschäfte, ohne einer ausdrücklichen Ermächtigung zu bedürfen (S. 14) – § 18. (4) Dagegen muß die Ratsverfassung von der Gemeinde beschlossen worden sein. Sie gründete sich auf die
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Analytisches Inhaltsverzeichnis
Prinzipien der Annuität und Kollegialität (S. 15) – § 19. (5a) Die Ratsverfassung regulierte das Verhältnis zwischen Gemeinde, Versammlung und Rat derart, daß ein Gemeinwille nur bei Einträchtigkeit aller Genossen entstand (S. 15) – § 20. (5b) Sie war nur für freie, nicht dagegen für herrschaftliche (monokephale) Verbände erreichbar (S. 16) – § 21. (6) Großverbände nahmen die Formen mehrfach gestufter und partikulierter Einungen an, denen sowohl physische Personen als auch (rein personale oder ortsbezogene) Teilverbände als Genossen angehören konnten (S. 17) – § 22. (7a) Die Vollmächtigkeit der Worthalter bestand in der Identität ihres und des Verbandswillens von Fall zu Fall und schloß die Bindung an Instruktionen und das Retrakt- oder Referenzrecht ein. Sie galt mehr als Eigenschaft der Personen denn als Mandat des Verbandes (S. 17) – § 23. (7b) Unterschied zwischen Vollmächtigkeit nach deutschem und Repräsentation nach gemeinem römischen Recht (S. 18) – § 24. (8) Individuelle und gemeindliche, nicht übertragbare Grundrechte beschränkten die Vollmacht der Worthalter derart, daß diesen keine (fürstliche) Obrigkeit zuwachsen konnte (S. 19) – § 25. (9) Beschlußfähigkeit der Versammlung nicht formal (etwa durch ordnungsgemäße Ladung oder Minimum der Anwesenden), sondern inhaltlich: durch Willensidentität und Sachkunde, bestimmt. Daher Ladungszwang weder erforderlich noch möglich (S. 20) – § 26. (10) Beschlüsse wurden formlos und einmütig, d. h. durch Übereinstragen und mit Hilfe einer Folgepflicht der Minderheit, gefaßt. Die Folgepflicht unvereinbar mit Mehrheitsentscheidungen nach gemeinem Recht. Die erreichte Eintracht wurde festgestellt im Abschied oder Rezeß (S. 21) – § 27. (11) Abschiede herrschaftlicher Einungen wurden gültig durch Annahme von Seiten des Hauptes, diejenigen freier Einungen durch unwidersprochene Publikation. Sie bedurften weder der Schriftform noch der Beurkundung (S. 22) § 28. Die Willensbildung gemäß dem Prinzip der Identität versagte vor den Bedürfnissen politischer Großverbände: Sie führte zu ohnmächtiger Entschlußlosigkeit (S. 23) – § 29. Während man in Mittel- und Ostmitteleuropa am Identitätsprinzip festhielt, ging der romanische Süden und Westen Europas zum Repräsentationssystem über (S. 24) – § 30. Die Verfassungsgeschichte Mitteleuropas muß ihre fachlichen Begriffe nach Möglichkeit dem alt- oder mittelhochdeutschen Wortschatz entnehmen (S. 25) – § 31. Das Erkenntnisziel der folgenden Abhandlung (S. 26)
Zweites Kapitel Zum Stande der Forschung § 32. Weltanschauliche Voraussetzungen deutscher Verfassungsgeschichtsschreibung (S. 27) – § 33. Ihnen gegenüber dominiert die Erforschung des in den Quellen beschlossenen Denkens vergangener Zeitalter (S. 27) – § 34. Fachwissenschaftlicher Gebrauch der Worte Volk und völkisch, empirischer Volksbegriff (S. 28) § 35. Die Formen öffentlicher Willensbildung ein Problem der Staatsrechtslehre und des Staatsrechts des alten Deutschen Reiches und ihrer gemeinrechtlichen Denkweise (S. 30) – § 36. Otto Gierke beendet die romanistische Blockade der deutschrechtlichen Forschung: Verfassungsgeschichte als Ringen zwischen herrschaftlichen Verbänden und freien Genossenschaften (S. 31) – § 37. Der deutsche Territorialstaat nach Gierke eine Schöpfung von Landesherren und Landständen, die unter sich in ein Vertragsverhältnis traten (S. 32) – § 38. Die Landstände dagegen mit dem Volke durch Identität
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Analytisches Inhaltsverzeichnis verbunden. Deren Inhalt vermochte Gierke nicht zu bestimmen (S. 33) – § 39. Seine Deduktion aus dem Begriff des Volksgeistes führt in die Irre: Form und Art der Mitwirkung des Volkes an der Willensbildung bleiben ungeklärt (S. 34) § 40. Fritz Kern begründet die Verfassungsgeschichte auf den Dualismus von Herrscher und Volk, bestimmt aber dennoch die Form der Verfassung als Monarchie (S. 36) – § 41. Seine Lehre, jede Obrigkeit bedürfe zwar eines Mandates vom Volke, sei aber zugleich kraft göttlicher Amtsbefugnis dessen Vormund, ist in sich widersprüchlich (S. 36) – § 42. Gottesgnadentum das transzendentale Moment, das man aller Herrschaft beilegte (S. 38) – § 43. Das Widerstandsrecht des Volkes in germanischer und christlicher Fassung (S. 38) – § 44. Kerns Lehre von der rechtlichen Gebundenheit des Herrschers und der Vertretung der Untertanen durch die Großen (S. 39) – § 45. Kern war sich der Färbung seines Bildes durch den Latinismus und Klerikalismus der Quellen nur ansatzweise bewußt (S. 41) § 46. Der Streit um den fürstlich-ständischen Dualismus und das Recht der Landstände im deutschen Territorialstaat (S. 42) – § 47. Friedrich Tezners Lehre vom Landesstaat als Patrimonialstaat: das Volk rechtlos und nicht durch die Stände vertreten (S. 42) – § 48. Diese Lehre beruht auf der Annahme völliger Rechtlosigkeit des Volkes (S. 44) – § 49a. Friedrich Keutgen leitet dagegen Staat und Verfassung vom gemeinen Willen des versammelten Volkes her (S. 45) – § 49b. Georg von Belows Versuch, Öffentlichkeit des Gemeinwesens und dualistische Verfassung zu erweisen, ohne das Volk daran zu beteiligen (S. 46) – § 50. Otto Brunner überwindet die dualistische Auffassung zugunsten der Einheit des Landes und begründet diese auf das althergekommene Landrecht (S. 47) § 51. Brunners Forderung, eine den Quellen zu entnehmende Terminologie zu schaffen (S. 48) – § 52. Zuvor hatte Philipp Heck bereits die Notwendigkeit einer Übersetzungslehre dargelegt (S. 49) – § 53. Danach muß die historische Interpretation an den deutschen Äquivalenten der lateinischen Worte ansetzen; die Zuverlässigkeit mündlicher Tradition gesichert durch die allgemeine Dingpflicht (S. 50) – § 54. Die Erschließung des Sprachgebrauchs als historischer Quelle erfordert freilich spezielle Hilfsmittel und hilfswissenschaftliche Kenntnisse (S. 51) – § 55. Walter Schlesinger wendet die Methode erfolgreich in der Verfassungs- und Landesgeschichte an (S. 52) – § 56. Gerhard Köbler erweitert die Anwendung auf die Grundbegriffe der Rechts- und Verfassungsgeschichte (S. 52) – § 57. Trotzdem geht seitdem die Zusammenarbeit zwischen Rechtsgeschichte und Mediävistik verloren. Schädliche Folgen dieses Verlustes: Repräsentation als sozialwissenschaftlicher Begriff nach J. Habermas (1962) (S. 53) § 58. Plan der weiteren Untersuchung, die Verfassung des Ostfränkisch-Deutschen Reiches in einer Verfassungslehre und einer Verfassungsgeschichte zu beschreiben (S. 55)
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Analytisches Inhaltsverzeichnis Erster Teil
Die Gemeinden
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Drittes Kapitel Ursprung und Wesen staatlicher Hoheit §§ 59 – 72. Alteuropäische Gemeindestaaten § 59. Unverfaßte, hoheitlicher Gewalten entbehrende Gesellschaften bestanden im Mittelalter noch in Skandinavien (S. 57) – § 60. und auf Island. Gegenüber rechtlicher Selbsthilfe und Blutrache versagte die Sippe als Beschützer von Recht und Frieden (S. 58) – § 61. Aus dieser Not gingen Schutzherrschaft und Gefolgschaft von Häuptlingen hervor (S. 59) – § 62. Das Volk zwang streitende Sippen zur Sühne durch Leistung des Wergeldes und Verzicht auf das Blutrecht; dieser Zwang ein Keim hoheitlicher Gewalt (S. 59) – § 63. Die Häuptlinge, die den Willen des zum Thing versammelten Volkes bildeten und mit der Ächtung gegen sühneunwillige Genossen kehrten, waren noch keine Herren, sondern von Wahl und Willen ihrer Dingmannen abhängig (S. 60) – § 64. Der vom Volke zum Schutze des inneren Friedens ausgeübte soziale Druck als Rechtsquelle. Das Amt des Gesetzessprechers (S. 61) § 65. Der Widerspruch zwischen römischer und germanischer Auffassung vom Landfrieden hatte einst den Aufstand des Arminius gegen Varus ausgelöst (S. 62) – § 66. Die Volksversammlung als Kontrollinstanz gegenüber privater Eigenmacht im altgriechischen Stadtstaat: Häuptlinge versammeln das Volk und leiten das Verfahren (S. 63) – § 67. Alteuropäische Gemeinsamkeiten: das versammelte Volk fällt kein Endurteil in der Sache, sondern ein Beweisurteil. Reinigungseide (S. 65) – § 68. Die Zweiphasigkeit des Prozesses sichert die Neutralität der Volksversammlung, indem sie die Rechtsfrage von der Tatfrage trennt (S. 66) – § 69. Das Friedensbedürfnis der Gemeinde drängt die Parteien dazu, sich gemäß dem Weistum des Volkes zu versöhnen. Daraus entspringt die Hoheit (S. 67) – § 70. Der antike Gemeindestaat schuf sich Ämter zur Ausübung seiner Hoheit; der germanische tat das nicht, sondern schlug den Umweg über das Achtverfahren ein (S. 68) – § 71. Daher der Unterschied zwischen antikem Anstaltsstaat und mittelalterlichem Verbändestaat (S. 69) § 72. Staaten heißen und eine Verfassung besitzen diejenigen menschlichen Verbände, die sich eine hoheitliche Gewalt über die Eigenmacht der Individuen erwerben. Ihre erste Institution war das Gericht; der Monarchie dagegen bedurften sie erst zum Schutze des Friedens nach außen hin (S. 70) §§ 73 – 89. Der altsächsische Stammesstaat § 73. Glaubwürdigkeit des Berichts über die königslose Verfassung der Sachsen (S. 71) – § 74. Der sächsische Satrap vereinigte (nach Beda) persönlichen Reichtum mit öffentlichem Ansehen (S. 72) – § 75. Die Satrapen waren Volksbeamte, deren Vollmacht als Sprecher oder Älteste auf Identität ihres Willens mit dem Volkswillen beruhte (S. 73) – § 76. Der sächsische Gau war Siedlungseinheit, Land, Volk und Friedensverband. Er konnte dem Satrapen noch keine Hoheit übertragen (S. 74) – § 77. Zahl der Gaue. Die drei Heerschaften und das Herzogtum (S. 75) – § 78. Die Satrapen erscheinen zur Stammesversammlung begleitet von sechsunddreißig Er-
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Analytisches Inhaltsverzeichnis
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wählten, die die identische Willensbildung mit den Gauen vermitteln (S. 76) – § 79. Die sächsische Verfassung beruhte weder auf demokratischer Repräsentation noch auf Adelsherrschaft (S. 77) § 80. Das Volk gegliedert in drei (nicht vier) Geburts- und Rechtsstände (S. 78) – § 81. Die Edelinge: Vorrang, Lebensweise, Verwaltungserfahrung (Steuerwesen, Burgenbau, Kriegsführung) (S. 79) – § 82. Die Frilinge und der verbandsrechtliche Ursprung ihrer Neufreiheit (S. 81) – § 83. Sie waren in der Regel mundfrei und im Besitz freien Grundeigentums (S. 81) – § 84. Die Liten und ihre verbandsrechtliche Dienstbarkeit oder Steuerpflicht. Öffentliche Freiheit und private Abhängigkeit nach friesischem Recht (S. 82) – § 85. Die private Dienstbarkeit des Liten war verfassungsrechtlich neutral, sein Grundeigentum nach Volksrecht freies Eigen (S. 83) – § 86. Die Franken akzeptieren die politische Gleichberechtigung der Stände und ihres Grundbesitzes (S. 84) § 87. Das Allthing zu Marklo beschließt über neue Gesetze, über streitiges Recht und Rechtserneuerung und über Richtlinien der Politik. Sein Verfahren (S. 85) – § 88. Es konstituiert sich mittels Gebets; allgemeines Rederecht; Konsens des Umstandes begründet die Beschlüsse: Das Verfahren beruht auf den Regeln des Identitätssystems (S. 86) § 89. Das Königreich der Franken keine Schöpfung des friedewahrenden Gemeindestaates, sondern des Kriegs gegen das Römische Reich; daher zweistufige Machtverteilung und Verfassung (S. 87)
Viertes Kapitel Partikularverbände I: Hausgemeinschaft §§ 90 – 93a. Verfassung des Hauses § 90. Das Haus als Sache und als Personenverband. Die Hausverfassung wesentlich vom Ehe- und Familienrecht bestimmt (S. 89) – § 91. Häusliches Güterrecht: Das Haus als Vermögens- und Erwerbsgemeinschaft (S. 90) – § 92. Daher kein Eintrittsrecht der Enkel nach dem vorverstorbenen Sohne (S. 91) – § 93. Weitere zum Hause gehörige Personen. Familia, domesticus, mansus nebst ahd. Äquivalenten (S. 92) – § 93a. Hausfriede und Heimsuchung. Der Schutzpflicht des Hausherrn entspricht seine Gewalt über Personen (Munt) und Vermögen des Hauses (Gewere) (S. 93) §§ 94 – 99. Die Gewere § 94. Die Gewere (vestitura) eine Schöpfung des fränkischen Frühmittelalters. Inneres Subjekt des Partizips vestitus (S. 95) – § 95. Übertragung von Grundstücken durch Vertrag (traditio) und Auflassung (vestitura) (S. 96) – § 96. Unbeschränktes Nutzungsrecht bedeutet vollfreies Eigentum oder Erbe; Landleihe führt zur Teilung der Nutzungen und Geweren (S. 97) – § 97. Tatsächliche (Nutzungs-) und ideelle Gewere (S. 98) – § 98. In einer Gewere begründete dingliche Rechte konnten sich nicht nur auf Sachen, sondern, als Rechtsame (Rechte an Rechten), auch auf Nutzungen (unkörperliche Sachen) beziehen (S. 99) – § 99. Auch Hoheitsrechte wurden, weil dinglich auf einen bestimmten Bezirk fundiert, als Rechtsame aufgefaßt und in das Herreneigentum integriert (S. 100)
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§§ 100 – 104. Tendenzen zur Auflösung der Hausgemeinschaft § 100. Das Interesse der Kirchen an Testierfreiheit und Individualeigentum widerspricht dem Recht der Hausgemeinschaft (S. 101) – § 101. Aus der auf Mobiliarvermögen und gewerbliche Arbeit gegründeten städtischen Hausgemeinschaft gingen in Toskana die offene Handelsgesellschaft und das Handelsrecht der Neuzeit hervor (S. 102) – § 102. Bauern und Adlige von der Auflösung der Hausgemeinschaft in verschiedener Weise betroffen (S. 104) – § 103. Das ältere Ehe- und Ehegüterrecht stellte die Häuser in den Verband kognatischer oder wechselnder Sippen und behinderte damit die Ausbildung stabiler Geschlechterfolgen (S. 104) – § 104. Daher Übergang zum agnatischen Geschlechtsverband mit männlicher Erbfolge und fester Sippe (zur adligen Dynastie, Abstammungsgemeinschaft mehrerer Kleinfamilien) (S. 105) §§ 105 – 110. Das Haus und die Außenwelt § 105. Der Hausherr berechtigt, Gefahren abzuwehren. Verfahren bei handhafter Tat. Diebstahl als Inbegriff der unehrlichen Sachen (S. 107) – § 106. Der Täter kann der Rache des Geschädigten entkommen, wenn er den Schaden wiedergutmacht. Bußgeldtarife (S. 108) – § 107. Verwundung und Totschlag als Inbegriff der ehrlichen oder Fehdesachen werden in der Regel durch Buße oder Wergeld beigelegt. Das Asylrecht (S. 108) – § 108. Den entkommenen Täter kann der Geschädigte vor Gericht laden. Das Königtum bestrebt, das Bußrecht zurückzudrängen und die Gerichte zu aktiver Verfolgung der Missetäter anzuhalten (S. 109) – § 109. Erfolg hatte es damit nicht, außer daß ihm ein Teil der Buße als Friedensgeld überlassen wurde (S. 110) – § 110. Verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Bußrechts: Die Gerichtsbarkeit eine nutzbare Rechtsame des Richters; Entfaltung eines öffentlichen Strafrechts erst im späteren Mittelalter (S. 111) §§ 111 – 116. Häuser, Stände und Standesrecht § 111. Die Bußgeldtarife beziehen sich auf die ständische Ordnung der germanischen Völker gemäß dem rechtlichen und sachlichen Umfange der Hausherrschaft (des Herreneigentums) (S. 112) – § 112. Am Widerspruch zwischen geburtsständischer Ordnung und sozialem Wandel scheitert der Versuch, die Menschen in Freie und Unfreie einzuteilen (S. 113) – § 113. Unterschiede zwischen Knechten (dagescalken, mancipia), behausten Knechten (servi casati) und persönlich freien Kolonen (S. 114) – § 114. Die Volksrechte setzen Wergelder für Knechte fest, sobald diese zu rechtsfähigen Unfreien aufsteigen (S. 115) – § 115. Standesrechtliche Bedeutung der bußgeldrechtlichen Unterscheidung zwischen Edlen, Freien und Knechten. Gemeinfreie oder Königsfreie? (S. 115) – § 116. Um standesrechts- und sozialgeschichtliche Befunde voneinander zu scheiden, bediene ich mich der Rechtsbegriffe altfrei, neufrei und unfrei. Die Stände waren Geburtsstände (S. 116) §§ 117 – 123. Mächtige und arme Freie § 117. Der Edeling (nobilis) und seine Standesrechte (Bayern, Würzburger Markbeschreibung) (S. 117) – § 118. Frei (liber) einerseits Oberbegriff für Edeling und Friling, andererseits Rechtsbegriff für den Friling. Rechtlich ist Freilassung zu Edelingsrecht nicht möglich (S. 119) – § 119. Proceres, mediocres, pauperes scheiden sich nach dem Hausrecht der Ebenbürtigkeit und nicht nach Standesrecht (S. 120) – § 120. Die Zahl der Edelinge und edelfreien Geschlechter seit dem frühen Mittelalter
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rückläufig. Ursachen und Folgen davon. Die Ursachen: (S. 120) – § 121. Die mit den Standesrechten der Edelinge verbundenen Pflichten (servitia regis): Gerichtsfolge (S. 121) – § 122. und Heerfolge. Die Wehrpflicht eine persönliche, aber nach dem Landbesitz bemessene Pflicht, sich selbst auszurüsten. Eigenland und Leiheland werden dabei gleichgeachtet (S. 122) – § 123. Diese Lasten verursachen eine soziale Scheidung der Edelinge in potentes und pauperes, die seit dem 11. Jahrhundert standesrechtliche Folgen zeitigt (S. 123)
Fünftes Kapitel Edelinge und Dynasten §§ 124 – 132. Eigentum, Bodenleihe und Steuerpflicht § 124. Edelinge ergänzen ihr Hausgut durch Annahme königlicher Lehen (S. 127) – § 125. Die Pflichten des Lehnsmanns nicht nur persönlich, sondern auch dinglich begründet. Unterschied zwischen Eigen- und Lehnsgewere (S. 128) – § 126. Die Eigentumsrechte der Edelinge und Freien bleiben vom Lehnrecht unberührt (S. 129) – § 127. S. Reynolds (1994) bestätigt diese These. Ist es zulässig, Verfassung und Gesellschaft des Hochmittelalters als feudal zu bezeichnen? (S. 130) – § 128a. Die Rechtsgeschichte der Gewere stützt die These. Das Recht der Bodenleihe nach G. Waitz (1876 – 1896) (S. 131) – § 128b. Treibende Kräfte: das Interesse der Kirchen an der Zulassung von Individualbesitz und der Tradenten an qualifiziertem Rechtsschutz? Was bedeutet der Ausdruck „Erbrecht auf Lebenszeit“? Befristung und Widerruflichkeit der Nutzung kennzeichnen das Lehnrecht (S. 134) § 129. Gab es Geldsteuern? Römisch-merowingische Reichssteuer (tributum), mansus ingenuilis und ahd. stuofa (S. 136) – § 130. Der Kirchenzehnte und die Termination neuer Pfarr- und Zehntbezirke (S. 138) – § 131. Heersteuern und die Herkunft der Bargilden (S. 139) – § 132. Hostilicium, mansus ingenuilis und Heerbannsteuern (S. 140) §§ 133 – 141. Beschützte Edelinge und autarke Dynasten § 133a. Die alte Edelingsfreiheit bestand fort bis ins 12. Jahrhundert und darüber hinaus (S. 141) – § 133b. Altfreie Einwohner in den Bischofsstädten. Keine allgemeine Vergrundholdung der Altfreien (S. 142) – § 134a. Viele Edelinge suchen allerdings Schutz vor der Banngewalt des Grafen durch Eintritt in die Vasallität eines potens (S. 143) – § 134b. Entstehung von Lehnsgerichten und Lehnrecht seit dem 11. Jahrhundert. Verdinglichung des Lehnsverhältnisses seit dem Ende des 12. Jahrhunderts (S. 144) – § 135a. Andere suchen Schutz durch Ergebung in die Wachszinsigkeit einer Kirche: als Gotteshausleute (freie Unfreiheit) oder als persönlich und / oder dinglich abhängige Ergebungsleute (S. 144) – § 135b. Weiteres Schicksal der Gotteshausleute: Entweder Abstieg in den Bauernstand oder Bewahrung der Freiheit, sei es innerhalb der Grafschaft (als Malmannen oder Bargilden) oder mittels selbständiger Zinsgerichte (S. 145) § 136. Die Mächtigen unter den Edelingen scheinen die hausherrliche Gewalt im Wege der Autoimmunität zur Allodialherrschaft fortgebildet zu haben (S. 147) – § 137a. Otto von Dungern (1932) über die Entwicklung des Grafentitels: von der
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Amtsbezeichnung zum Standesmerkmal der Hochfreien oder Dynasten (S. 149) – § 137b. Bestätigung dieser Beobachtungen für Ostfranken (Diözese Bamberg) (S. 150) – § 138. Gab es einen Übergang von der karolingischen übertragenen Amtsgewalt zur Eigenhoheit und Familienherrschaft der Grafenhäuser? (S. 151) – § 139. Der Übergang fällt in das Ende des 9. Jahrhunderts. Die (subjektive) Eigenhoheit der Dynasten erzeugte ein objektives Standesrecht des dynastischen Adels, das hinfort die gräfliche Amtsgewalt beschränkte (S. 152) – § 140. Den Ausgangspunkt der dynastischen Standesbildung bot der Gerichtsstand der Mächtigen vor dem Könige (S. 154) – § 141. Anwendung der von Dungernschen Lehre auf das Haus Steußlingen-Arnstein (S. 155) §§ 142 – 146. Das Dynastenprivileg § 142. Die von Dungernsche Lehre impliziert einen Widerstreit zwischen königlicher Amts- und adliger Hausverfassung. Die Entstehung des Dynastenprivilegs wirft neue Probleme auf (S. 156) – § 143a. Erstens: Beruhte das Privileg auf Usurpation und damit auf der Macht der Großgrundbesitzer? Usurpationen in den Landen am Obermain (Diözese Bamberg)? (S. 157) – § 143b. Die Vermutung der Usurpation wird von der besitzgeschichtlich-genealogischen Methode begünstigt (S. 158) – § 144a. Zweitens: Wie konnte Allodialherrschaft, wenn sie aus dem Hausrecht entsprang, zu jener Herrschaft über Freie erwachsen, die die Grafschaft ausmachte? (S. 159) – § 144b. Die Herrschaft der Arnsteiner als Vogtei über Freie. Adolf Waas’ Deutung der Grafschaft als Muntherrschaft (1938) und die Lehren von den Königsfreien und der Königsgutgrafschaft (S. 161) – § 145. Drittens: Könige, Fürsten und Untertanen erkannten das Dynastenprivileg als Recht an, weil es die öffentliche Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems erleichterte (S. 163) – § 146. Das Recht der Allodialherrschaft setzt die germanistische Interpretation amtsrechtlicher Befugnisse und deren Aufnahme in die Volks- und Landrechte voraus (S. 165) §§ 147 – 152. Stände der Neufreien § 147. Die nichtadligen Altfreien vom Connubium und Güterverkehr mit den Dynasten ausgeschlossen. Sie gehen in der bäuerlichen Zensualität und deren Ständen auf, genießen jedoch vereinzelt persönliche Sonderrechte als Wachszinser oder Schöffenbare (S. 166) – § 148. Freiheit teilbar in einzelne Freiheitsrechte. Abhängige Leute akkumulieren Freiheiten und gehen Bindungen zu mehreren Herren ein. Daher keine klare Standesgrenze zwischen Unfreien und Neufreien (S. 168) – § 149. Die Gesellschaft der Karolingerzeit nicht von Vergrundholdung der Freien, sondern von Freilassung der Hörigen geprägt. Der Neufreie heißt libertus oder ingenuus. Erst im 12. Jahrhundert übersetzt ingenuus auch wieder das deutsche Wort edel (S. 170) – § 150. Die Strenge des Standesrechts wird durch Freizügigkeit und Migration nicht grundsätzlich, wohl aber im einzelnen Falle erschüttert, weil sie die Nachweisbarkeit des Geburtsrechtes mindert. Verweigert der Herr einem Manne den Abzug, so macht er sich unterhaltspflichtig (S. 171) – § 151. Zensualen genießen Freizügigkeit und volle Rechtsfähigkeit, namentlich Rodungsfreiheit und Einungsrecht. Ihrem Schutzherrn schulden sie Kopfzins, Heiratsgebühr und Todfall (S. 173) – § 152a. Der Muntherr schuldet dem Zensualen oder Muntling Schutz und Schirm. Versagt er darin, so ist der Muntling berechtigt, ihn zu verlassen und einen anderen Schirmherrn anzunehmen (S. 175) – § 152b. G. Algazis verfehlter Versuch, die Lehre vom Vertragscharakter des Zins- und Schirmverhältnisses zu widerlegen (S. 176)
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§§ 153 – 162. Neufreie Liegenschaftsrechte § 153. Unfreie Vasallen und neufreie Zensualen treten bereits in karolingischer Zeit in Beziehungen zur Grafschaft (Grafschaftsgemeinde und Dinggenossenschaft) (S. 178) – § 154. Dürftige Möglichkeiten, um die Entwicklung vom 9. bis zum 12. Jahrhundert zu erkunden (S. 180) – § 155. Grafschaften altfreier, auf freiem Eigen (Allod) ansässiger Dinggenossen von der Gefahr zu erlöschen bedroht (S. 180) – § 156. Neufreie Kolonisten gründen neue Grafschaften auf Rodungsland und schaffen die freie bäuerliche Gründerleihe (S. 181) – § 157. Neufreie Munt- oder Immunitätsleute werden durch das Bodenrecht des Inwärtseigen der Grafschaft entzogen und an das Vogtgericht gebunden, das damit zu grafengleicher Kompetenz gelangt (S. 183) – § 158. Inwärtseigen auch für die Untertanen dynastischer Allodialherrschaften kennzeichnend? (S. 185) § 159. Vom Stande der Zensualen sondern sich die ritterliche Dienstmannschaft (Ministerialität) und das Bürgertum ab. Altfreie am Aufstieg der Dienstleute kaum beteiligt (S. 186) – § 160. Herkunft des Rechtsinstituts der Ministerialität aus der Muntlingschaft (S. 187) – § 161. Trotzdem werden die Dienstleute zeitweise als unfrei angesehen. Ihr Ehe- und Liegenschaftsrecht (Inwärtseigen). Die westfälischen Freigüter dagegen echtes altfreies Eigen (S. 188) – § 162a. In den Städten erwerben die Zuwanderer freies Grundeigentum nach dem Recht der freien städtischen Gründerleihe. Stadtrecht vom Hofrecht streng geschieden (S. 189) – § 162b. Wer den Schutz des Hofrechts genießen will, bleibt vom Markte ausgeschlossen. Die Marktleute bessern ihre Lage und ihr Recht, indem sie Gemeinden bilden (S. 190) §§ 163 – 167. Stände, Häuser und öffentliche Herrschaft § 163. Die Geburtsstände beginnen im Hochmittelalter, neuen Berufsständen zu weichen. Überschwengliche Entfaltung des Ständewesens ein Merkmal des deutschen Rechts im Vergleich zu anderen europäischen Rechten (S. 192) § 164. Königliche Gewalt und staatliche Hoheit können nicht aus germanischer Hausoder Muntgewalt, sondern nur aus dem Willen der Gemeinde freier Hausherren entsprungen sein (S. 193) – § 165. Nach patrimonialer und patriarchaler Auffassung gilt die Erbfolge als heilig und gottgewollt. Sie beruhte jedoch auf Volkswillen und diente praktischen politischen Zwecken (S. 195) – § 166. Die Lehre vom Patrimonialstaat im 17. und 18. Jahrhundert von Juristen als Theorie des deutschen fürstlichen Absolutismus geschaffen (S. 197) – § 167a. Der Begriff des Feudalstaats stützt die Herleitung des Verfassungsrechts aus dem Hausrecht. Aber königliche Belehnung der Amtleute war vereinbar mit deren Ermächtigung durch Untertanenverbände (S. 198) – § 167b. Das Volk ist jedoch nicht berechtigt, die Anarchie zu wählen. Die Verbandshoheit ist mehr als die Summe der Einzelwillen. Fiktion der Volkssouveränität (S. 200)
Sechstes Kapitel Partikularverbände II: Genossenschaften §§ 168 – 173. Einung und Eidgenossenschaft § 168. Genossenschaften entstehen durch Einung. Personen- und ortsbezogene, freie und herrschaftliche Einungen (S. 203) – § 169. Freie Einungen (S. 203) – § 170.
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Herrschaftliche Einungen (S. 204) – § 171. Einungsrecht beschränkt Königsrecht, daher unvereinbar mit der Staatsauffassung der christlichen Kirche und des römischen Rechts (S. 205) – § 172. Genossenschaften als Depositare der Volksrechte. Dinggenossenschaftliche Form der Justiz (S. 206) – § 173. Die Konkurrenz von Einungsrecht und Treuepflicht war auszugleichen durch Treuvorbehalt zugunsten des Königs (S. 207) §§ 174 – 191. Lateinischer und althochdeutscher Sprachgebrauch § 174. Verbote der Schwureinung in karolingischen Kapitularien (Jahre 779 – 823) (S. 209) – § 175. Man eint sich, indem man schwört. Heiliger Eid und profanes Versprechen oder Gelübde (S. 209) – § 176. Der Eid eine bedingte, sich bei Meineid ohne menschliches Zutun rächende Selbstverfluchung. Schwurbruderschaft (S. 211) – § 177. Bestandteile des Eides: Formel und Handgebärde (S. 212) – § 178. Weltliche Rechtsfolgen des Meineides: Verlust der Ehre und der Schwurhand, Ausschluß aus dem Verbande (S. 213) – § 179. Reinigungs- und Helfereid, assertorischer und promissorischer Eid (S. 214) – § 180. Die Kirchenreform erstrebt Profanierung des Bruderbundes und Ersatz des Eides durch das Gelübde (S. 215) § 181. Zwei Formen der Einung: Bekräftigung durch Eid oder durch Handschlag (S. 215) – § 182. Mögliche Bezeichnungen für die Teilnehmer: Schwurmann, Macher, Genosse, Geselle? (S. 216) – § 183. Unter universitas, communio, generalitas, congregatio dürfte man gebietsbezogene und unbeeidete, daher rechtmäßige Genossenschaften verstanden haben (S. 218) – § 184. Conspiratio und adunatio bezeichneten das einmütige oder einstimmige Zustandekommen einer Schwureinung und ihrer Beschlüsse (S. 219) – § 185. Herrschaftliche Einungen beruhten auf gegenseitiger Treue von Herr und Mann (S. 220) – § 186. Freie Einungen verpflichteten zu gegenseitigem Beistande. Sie regelten Pflichten und Rechte der Genossen und des Verbandes durch einhellig vereinbarte Satzung. Einswerden aller Willen (S. 221) – § 187. Die Satzung mußte sich geziemen: Sie durfte Sitte und Recht nicht verletzen. Zunft und Innung (S. 222) – § 188. Gilden hießen Bruderschaften, die gemeinsam opferten und andere fromme Werke verrichteten (S. 223) – § 189. aber auch Verbände zu gemeinsamer Verfolgung von Dieben (S. 224) – § 190. Das Schwören bei der Gilde: Die Gilde als Eideshüter (S. 226) – § 191. Gilden im Spätmittelalter (S. 227) §§ 192 – 196. Rechtsgeschichtliche Inhalte des althochdeutschen Sprachgebrauchs § 192. (1) Aus der Einung mehrerer Personen lassen Schwur und Gelöbnis eine Verbandsperson hervorgehen. (2) Genossen, Haupt und Helfer. Vorbehalt der Königstreue. (3) Das Wesen der Verbandsperson (S. 227) – § 193. (4) Versammlung und Beschluß. (5) Einhelligkeit erzeugt den Gemeinwillen. (6) Dieser gebunden an Sitte und Recht (S. 228) – § 194. Der ahd. Sprachgebrauch stimmt überein mit dem der Hanserezesse und ihres Systems identischer Willensbildung (S. 229) – § 195. Konstitutiv für das Verbandsrecht und die verbandsinterne Friedens- und Zwangsgewalt ist der (vom Könige gegen Treuvorbehalt zugelassene) Eid (S. 229) – § 196. Auf Eidespflicht beruht der Gehorsam gegenüber dem Willkür- oder Satzungsrecht des Verbandes. Kollidiert die Willkür mit dem Landrecht oder dem Willen des Königs, so gehen diese ihr vor (S. 230)
Analytisches Inhaltsverzeichnis §§ 197 – 201. Personenbezogene herrschaftliche Genossenschaften § 197. Wandernde Heere in Spätantike und Frühmittelalter (S. 232) – § 198. Genossenschaften geschützter Unfreier, Freier und Vasallen (S. 232) – § 199. Gilden, Hansen, Zünfte, Innungen der Fernhändler und Handwerker. Zollpflicht und Königsschutz. Wikgrafen und Hansegrafen (S. 233) – § 200. Judengemeinden, herrschaftliches Judenrecht und jüdisches Willkürrecht. Der Schutzherr übernimmt auf Antrag willkürrechtliche causae maiores (S. 235) – § 201. Judenschutz zur Kammerknechtschaft, Kaufmannsschutz (in Niederdeutschland) zur Befugnis freier Einungen fortgebildet, aber das Verbandshaupt blieb unfähig, königliche Prärogativen zu gewinnen und den Verband zu verstaatlichen (S. 236) §§ 202 – 216. Gebietsbezogene herrschaftliche Genossenschaften § 202. Das Territorialprinzip dem personalen überlegen: Personalverbände verwandeln sich in gebietsbezogene Gemeinden (S. 237) – § 203. Durch Eroberung und Ansiedlung gewinnen wandernde Heere einen Gebietsbezug. Konsensprinzip und Reichsversammlung, diese identisch mit dem Untertanenverbande. Treueid des Volkes. Dualistisches Gepräge der Verfassung (S. 238) § 204. Der gebietsbezogene und zur Königswahl berechtigte Untertanenverband des Karolingerreiches geht dem personenbezogenen Lehnsverbande vor. Reichsteilungen (S. 240) – § 205. Nur Allodialbesitz und uneidliche Schutzverhältnisse, nicht aber Lehnsbeziehungen dürfen die Grenzen der Teilreiche überschreiten: der feudale Personalverband dem Territorialprinzip untergeordnet (S. 241) – § 206. Der Untertanenverband gegliedert in Regna und lokale Dingverbände: Grafschaften, Allodial- und Hof- oder Grundherrschaften (S. 243) – § 207. Grafschaften von Anfang an gebietsbezogen. Allodial- und Hofgerichte bedürfen der Arrondierung, um Gebietsbezug und damit Bestand zu gewinnen (S. 244) – § 208. Die Großen oder Besseren eines jeden Verbandes sondern sich als Standesgenossenschaft von ihm ab (S. 244) – § 209. Der Reichsfürstenstand als Urteilergenossenschaft. Fürsten und Fürstengenossen (S. 245) § 210. Die Länder, bezeugt seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, dürften, was ihre Verfassung betrifft, aus den Regna und Grafschaftsgemeinden, patriae, der Karolingerzeit hervorgeganen sein (Bozen, Österreich, Flandern). Von der Landesversammlung, die den Landesherrn erhebt, sondern sich die Landstände ab (S. 246) – § 211. Der Dualismus der Verfassung hebt die Einheit des Landes nicht auf: Der Wille des Landes begründet sowohl das Recht des Fürsten wie das des Landes, auch wenn beides nicht zu seiner Disposition stand (S. 248) – § 212. Die Onomasiologie der Worte Land (Elend, Geburschaft, Gau) und terra / territorium bestätigt die fränkische Herkunft der späteren Landesverfassung (S. 249) § 213. Dies hatte bereits Otto Brunner (1939) erkannt und daher den Landesherren die Erschaffung der Länder abgesprochen (S. 250) – § 214. Nicht die Verfassung der Länder, sondern die des Reiches habe sich verändert, als das Landesfürstentum entstand. Das Rechtsverhältnis des Herrn zum Lande ließ Brunner ungeklärt (S. 252) – § 215. Daher das Mißverständnis, daß zentraler Begriff seiner Lehre nicht Landesgemeinde, sondern Herrschaft sei. Brunner übersah die ursächliche Verknüpfung von Landrecht und Landesgemeinde (S. 252) – § 216. und die Integration der Herrschaft in das Land: Jede der beiden Gewalten konstituierte sich durch die andere (S. 253)
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Analytisches Inhaltsverzeichnis Siebtes Kapitel Freie Einungen
§§ 217 – 218. Freiheit der Willensbildung § 217. Die freie Einung gewann erst mit dem Aufschwung der neufreien Stände ihre volle verfassungsgeschichtliche Bedeutung. Nur in Flandern und Italien schuf sie völlig herrschaftsfreie Verbände (S. 257) – § 218. Nicht Freiheit von Herrschaft überhaupt, sondern herrschaftsfreie Willensbildung macht die freie Einung aus. Verbindung von Bürgereid und Herreneid (S. 258) §§ 219 – 227. Frühe Orts- und Landgemeinden § 219. Siedlungsgenossenschaften der Nachbarn (S. 259) – § 220. Geburen, cives, Herrenbürger (S. 260) – § 221. Frühmittelalterliche Ortsbegriffe: Burg, Dorf, Stätte (S. 261) – § 222. Bischofsstadt und Herrenburg (S. 262) – § 223. Der Siedlungsgemeinschaft entsprach keine Rechts- und Standesgenossenschaft (S. 263) – § 224. Herrenbürger (cives) als Worthalter des Bistums- und Grafschaftsvolkes (S. 264) – § 225. und als genossenschaftliche Inhaber des Jagdrechtes (S. 264) – § 226. und als Mark- oder Flurgenossen. Engerer und weiterer Gemeindeverband (S. 266) – § 227. Herrenbürger (cives) als Wähler gemeindlicher Amtleute und als Urteiler im Grafengericht. Kein Orts- oder Stadtrecht vor dem 12. Jahrhundert (S. 267) §§ 228 – 236. Ortsgemeindliche freie Willensbildung § 228. Die Leute von Maurivilla (Jahr 967) (S. 268) – § 229. Bäuerliche Landesversammlungen in der Normandie. Freie Einung eine Niederlage der Herrschaft? (S. 270) – § 230. Weitere Zeugnisse aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts: Uri, Glarus, Bergell, Friesland (S. 271) – § 231. Bischofsstädtische Bürgergemeinden: Worms (1073) (S. 272) – § 232. Annehmung des Stadtherrn durch die Gemeinde gemäß Herrschaftsvertrag. Die neuen Rechtsworte Stadt (S. 273) – § 233. und Stadtbürger, burgensis, civitatensis (S. 274) – § 234. Stadtrecht und Landrecht beginnen sich zu sondern. Auch auf dem Lande spaltet sich die kommunale Selbstverwaltung von der Zuständigkeit der Gerichtsgemeinde ab (S. 275) – § 235. P. Blickle über die neue Lebensform des Kommunalismus (S. 276) – § 236. und über ihr Wertsystem: beschworener Friede, gemeiner Nutzen, erneuerbares Willkürrecht (S. 277) §§ 237 – 242. Grundrecht der Freien und Privilegienrecht im Widerstreit § 237. Der Rechtsstreit zwischen König, Stadtherrn und Gemeinde um das Einungsrecht bleibt unlösbar, weil man sich der Rechtsgrundlagen des Herrschaftsvertrages und der Konsenspflicht nicht bewußt ist (S. 278) – § 238. Die Wissenschaft der Zeit nicht an Erfahrung, sondern an das Wort Gottes und an die ratio scripta gebunden (S. 279) – § 239. Die italienischen Juristen gelangen zwar auf empirischem Wege zum Begriff der öffentlichen Körperschaft, aber deren Befugnisse leiten sie vom römischen Kaisertum her (S. 280) – § 240. In Deutschland keine wissenschaftliche Bearbeitung des Volksrechts und des Kommuneprivilegs. Vergleich mit (Nordost-)Frankreich (S. 281) – § 241. Die Rechtsansichten des Volkes können nicht den Privilegien entnommen, sondern nur vom politischen Verhalten der Gemeinden abgelesen werden (S. 282) – § 242. Warum Kassation des Kommuneprivilegs die Gemeinde nicht aus der Welt schaffen kann (S. 282)
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Analytisches Inhaltsverzeichnis §§ 243 – 252. Kämpfe um das Einungs- und Behördenrecht § 243. Bischofsstadtgemeinden haben, seit der städtische Dingstuhl aus der Grafschaft ausgeschieden ist, sowohl den König als auch den Bischof zum Stadtherrn. Sie wollen königsunmittelbar bleiben (S. 284) – § 244. Augsburg (Jahr 1156), Mainz (1158). Kaiser Friedrich I. begünstigt, der Stadtherr bekämpft das Einungsrecht der Bürger: eine späte Folge des Investiturstreits (S. 285) – § 245. Erst Kaiser Friedrich II. verzichtet zugunsten der Stadtherren auf das Recht, Gemeinden zu privilegieren. Der Kommunalismus des Volkes bleibt davon unberührt (S. 286) § 246. Streit um das Recht der Gemeinden, eine Behörde über sich zu setzen (S. 287) – § 247. Landgemeinden in Niederdeutschland: Burmeister, Holzgrafen, und in Oberdeutschland: Vierer, Landtagsboten (S. 288) – § 248. Vorbehördliches Handeln der Genossen gemeinlich (universi cives) oder zu gesamter Hand (S. 289) – § 249. Das Stadtvolk geht zum Verbandshandeln (als universitas civium) über. Intermittierende und ständige Behörden (S. 290) – § 250. Frühe Kommunalbehörden: Schöffenkollegien (S. 291) – § 251. und die Richerzeche zu Köln. Annuität, Kollegialität und Periodizität als Prinzipien kommunaler Verfassung (S. 292) – § 252. Deren leistungsfähigste Form: die Ratsverfassung (S. 293) §§ 253 – 259. Der Streit um das richtige Recht bleibt ungelöst § 253. Anders als in England unterbleibt die begriffliche Durchdringung der Rechtsfragen. Daher widersprüchliche Entscheidungen des Königsgerichts (S. 295) – § 254. Kaiser Friedrich II. beansprucht die Vorrechte des Kaisers nach römischem Staatsrecht. Die gemeinrechtliche Lehre von der Kommune kann dem Einungsrecht nicht gerecht werden (S. 296) – § 255. Sie deutet die Vollmacht der Kommunalbehörde als Repräsentation, die Kommune als Lastengemeinde und ihren Willen als Nicht-Recht (S. 298) – § 256. Kaiser und Fürsten versuchen, mit Hilfe des römischrechtlichen kaiserlichen Absolutismus das freie deutsche Einungsrecht zu vernichten (Jahr 1226) (S. 299) – § 257. Obwohl die königliche Regierung in Deutschland die Sache neu verhandelt, nimmt niemand an der juristischen Inkonsequenz der Entscheidung Anstoß (S. 300) – § 258. Im Kaiseredikt wider die Kommunen von 1231 sprengt die Rhetorik des Absolutismus das Formular der deutschen Königsurkunde (S. 301) – § 259. Zwar kann das Edikt die Bindung des Kaisers an den Konsens der Fürsten nicht verleugnen, im übrigen aber geben die Fürsten das deutsche Verfassungsrecht preis (S. 302) §§ 260 – 269. Albert von Köln: Ein Gelehrter beurteilt das Einungsrecht (Jahr 1258) § 260. Erzbischof und Stadt zu Köln erneuern nach einer Fehde den beschworenen Herrschaftsvertrag (S. 304) – § 261. Mit Annahme des Eides und Einsetzung eines Schiedsgerichts bestätigt der Erzbischof die Rechtmäßigkeit der Gemeinde (S. 305) – § 262. Die Schiedsrichter sollen sich nur von deutschen Rechtsauffassungen leiten lassen (S. 305) – § 263. Weder sie noch die Parteien werfen grundsätzliche Rechtsfragen auf (S. 307) – § 264. Der Erzbischof ficht das Behördenrecht der Gemeinde an, weil er sie nur als Dinggenossenschaft betrachtet. Wer ermächtigt die Schöffen zur Schöffenwahl? (S. 308) – § 265. Mit seinen Beschwerden wider Richerzeche und Rat widerspricht der Erzbischof seiner Anerkennung der Gemeinde (S. 309) – § 266. Alberts Schiedsspruch bestätigt deren Behördenrecht, zieht daraus aber keine Konsequenzen (S. 310) – § 267. Er läßt unentschieden, wer über Amtspflichtverletzungen
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der Bürgermeister zu urteilen hat (S. 311) – § 268. Auch die Regel, nach der er herrschaftliche und kommunale Befugnisse gegeneinander abgrenzt, bleibt unausgesprochen (S. 313) – § 269. Der Stadtherr hat darüber zu wachen, daß städtische Willkür nicht das Landrecht bricht (S. 314) §§ 270 – 274. Zum Stande der Forschung § 270. Nur von der Annahme eines einheitlichen Volkswillens her läßt sich der Widerspruch zwischen Herrschafts- und Gemeinderecht schlichten. Mystifikation der Herrschaft führt nicht zum Ziel (S. 314) – § 271. Die Verfassungsgeschichte setzt dagegen den Vorrang des Herrscherwillens voraus (O. Gierke) und schreibt nur der Herrschaft Legitimität zu (M. Weber) (S. 316) – § 272. Aber der Legitimitätsbegriff des Mittelalters beruhte auf dem regelmäßig erneuerten Herrschaftsvertrage (O. Brunner) und umfaßte auch das Gemeinderecht (P. Blickle) (S. 318) – § 273. Die Kommunalbehörde daher weder Obrigkeit noch Repräsentant der Gemeinde, sondern mit ihr identisch (S. 319) – § 274. Vergleich mit England: Nur die herrschaftliche Genossenschaft konnte zur Repräsentation übergehen, die freie war auf öffentliche Willensbildung nach dem Identitätssystem angewiesen (S. 320)
Achtes Kapitel Die Grafschaft §§ 275 – 279. Die grafschaftliche Dinggenossenschaft § 275a. Grafschaftliche Dingverbände als Völker und Nachfahren vorstaatlicher Friedensgemeinden (S. 323) – § 275b. Der populus der Gauleute im Verhältnis zu gens und natio. Bildung des öffentlichen Willens in der Volksversammlung (S. 324) – § 276a. Erhebung der Grafen: Dingvölkische Wahl oder Annehmung und königliche Ermächtigung waren nach den Regeln des Identitätssystems miteinander verbunden. Indigenatsrecht (S. 326) – § 276b. Die Annehmung keine leere Form, sondern Konstitution des Herrschaftsvertrages. Vierfacher Sinn des Begriffs comitatus (S. 327) – § 277. Das öffentliche Leben grafschaftlicher Dingverbände zeigt sich im Gerichtsverfahren. Beispiele: die Formel einer alamannischen Grafenurkunde (S. 328) – § 278. und eine notitia betreffend ein churrätisches Inquisitionsverfahren (S. 329) – § 279. Die Grafschaft eine Veranstaltung altfreier Grundeigentümer, ihrer Zeugen und Schöffen, sie alle Genossen und Untertanen des Königs und des Grafen, durch den sie jener regiert. Inquisitionsrecht (S. 331) §§ 280 – 285. Dinggenossenschaft und Grafschaft § 280. Pagenses und pagus / Gau. Auch Unterabteilungen von Gauen heißen Gaue. Dies kann sowohl siedlungsgeschichtliche (S. 333) – § 281. als auch verfassungsgeschichtliche Ursachen haben. Zweistufiger Aufbau der Grafschaften (S. 334) – § 282. Ausdehnung und Einschränkung alter Gaunamen auf Grafschaftsbezirke: Großgau, Grafschaftsgau und Untergau (S. 335) – § 283. Grafschaft, Freigrafschaft und Gografschaft in Sachsen (S. 336) – § 284. Pagus, comitatus und ministerium. Die Grafen bestrebt, den Herrschaftsvertrag zu entwerten und sich zu Herren der Dingvölker zu erheben? (S. 338) – § 285. Daher beginnt seit der Vereidigung der Untertanen im Jahre 789 der Begriff comitatus das Wort pagus zurückzudrängen (S. 340)
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Analytisches Inhaltsverzeichnis §§ 286 – 292. Grafschafts- und Wildbannbezirke § 286. Die Grafschaften waren fest umgrenzte territoriale Verwaltungseinheiten, ihre Grenzen bestimmbar (S. 341) – § 287a. Etwaige Grenzsäume keine grafschaftsfreien Zonen, sondern einer Separation der Allmenden und Grafschaftsbezirke zugänglich (S. 342) – § 287b. Die Großen der Grafschaftsvölker scheiden im Jahre 890 den Thurgau vom Rheingau (S. 343) – § 288. Andernorts tragen sie dem Könige die Jagdhoheit und die Umgrenzung geschützter Jagdbezirke an (S. 344) – § 289. Aus dem strafrechtlichen Schutz durch Königsbann entwickelt sich im 10. und 11. Jahrhundert der königliche Wildbann (S. 345) – § 290. Dieser befreit den Jagdbezirk nicht von der Grafschaft, sondern läßt deren Hoheit und die Nutzungsrechte der Gauleute bestehen, (S. 347) – § 291. darunter namentlich das Bifangrecht: Der Wildbann enthält keine Rodungshoheit (S. 348) – § 292. Ergebnis: Weder Siedlungsgeographie noch Wildbannrecht stellen den durchgehenden Bestand territorialer Grafschaften in Frage, noch rechtfertigen sie die Annahme grafschaftsfreier Räume und Zonen (S. 349) §§ 293 – 300. Dingvölkischer Schutz der Genossenrechte § 293. Die grafschaftliche Dinggenossenschaft schützt mit Hilfe des Königs die Freiheit eines jeden Genossen gegenüber den Anschlägen der Mächtigen (S. 350) – § 294. Die Lehre vom Untergang der Altfreiheit in karolingischer Zeit und vom Ursprung aller späteren Freiheit aus königlichem Rodungsprivileg trifft nicht zu (S. 351) § 295. Vermöge öffentlicher Kenntnis der Geweren und Auflassungen schützt der Dingverband jeden Genossen in seinen Grundeigentumsrechten (S. 352) – § 296. Zweifacher Sinn des Begriffs traditio. Konstitution des Rechtsgeschäfts durch die vor Zeugen öffentlich vollzogene vestitura (S. 353) – § 297. Daher actum publice, in villa publica, coram populo und in presentia testium. Boni homines, proceres, principes des Dingvolkes (S. 355) – § 298. Graf und Zentenar nicht amtlich, sondern lediglich als Zeugen beteiligt, gleichwohl Datierung sub N. comite (S. 356) – § 299. Die Grafenformel als Indikator der Grafschaftsverfassung und der ordentlichen Grafengewalt (S. 357) – § 300a. Der Graf als Hüter des Fiskus an den Konventionalstrafen beteiligt, die die Beispruchsrechte der Erben abwehren sollen (S. 358) – § 300b. Der Fiskus eine Einrichtung allein des Königs oder auch der Dinggenossenschaft? (S. 359) §§ 301 – 306. Grafschaftlicher Reichsdienst I: Heerfolge und Fiskus § 301. Die Grafschaftsgemeinde als Heeresverband in karolingischer Zeit (S. 360) – § 302. und im hohen Mittelalter (S. 362) – § 303. Grafschaftlicher Fiskus und freie Fiskalinen. Fiskus und Fiskalbann des Ambergaus (Jahr 1001 / 1009) (S. 363) – § 304. Die Dinggenossenschaft als Steuerschuldner zu gesamter Hand (S. 364) – § 305. Veräußert der König den Fiskalbann an eine Kirche, so bleibt der Bestand der Grafschaftsgemeinde unberührt (S. 365) – § 306. Die Gemeinde der Freien im Nuritale übernimmt den Fiskus in Selbstverwaltung (Jahr 1043) (S. 367) §§ 307 – 310. Grafschaftlicher Reichsdienst II: Gerichtsfolge und Schöffenamt § 307. Königliches Friedensgebot und völkischer Friedenswille erzeugen die dinggenossenschaftliche Form der Justiz und die Gerichtsfolgepflicht aller freien Hausväter (S. 368) – § 308. Der Übergang von der Fehdesühne zur öffentlichen Ge-
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richtsbarkeit stärkt die Stellung des Gerichtshalters gegenüber der Dinggemeinde (S. 369) – § 309. Um der Belastung der Freien mit der Gerichtsfolge abzuhelfen, führt König Karl der Große das Schöffenamt ein (S. 370) – § 310. Zudem beschränkt er die Folgepflicht auf drei echte Dinge im Jahre. Der Gerichtshalter oder Gerichtsherr wird durch Schöffen und Umstand von der Rechtsweisung ausgeschlossen (S. 371)
Neuntes Kapitel Die Grafschaft im Reiche §§ 311 – 318. Königliches und völkisches Amtsrecht § 311. Kapitularien der Jahre 803 – 832 über den Anteil des Königs an der Bestallung der Schöffen (S. 375) – § 312. Unter Leitung des Königs erkor die Grafschaftsgemeinde geeignete Personen. Deren Vereidigung und Bestallung. Ermächtigung der Schöffen durch das Dingvolk? (S. 376) – § 313. Die Bestallung der Schöffen als Typus aller öffentlichen Beamtenernennung. Die Regeln identischer Willensbildung erforderten keine Scheidung der königlichen von der dingvölkischen Ermächtigung (S. 377) – § 314. Seit Mitte des 9. Jahrhunderts trat der Gerichtsherr an die Stelle des Königs. Das Dingvolk überließ sein Kurrecht den Schöffen: Keine Kooptation. Kölnische Schöffenordnung von 1171: (S. 378) – § 315. Nicht der Wille des Gerichtsherrn, sondern kölnisches Landrecht regulierte Kur, Vereidigung, Bestallung und Pflichten der Schöffen (S. 379) § 316. Zwar hatte Kaiser Ludwig der Fromme die Schöffen königlichem Amtsrecht unterwerfen wollen, (S. 381) – § 317. aber dazu wäre er nur nach christlich-kirchlicher Rechtsauffassung befugt gewesen. Die Volksrechte kannten kein vom Volkswillen unabhängiges Herrscherrecht (S. 382) – § 318. Karls des Großen Gerichtsreform war erfolgreich, weil und sofern sie der Rechtsauffassung und dem Willen der Dingverbände entsprach. Verbreitung der Schöffenverfassung im hohen Mittelalter (S. 383) §§ 319 – 323. Grafenbann und Königsbann § 319. Ermächtigung des Grafen durch Dingvolk und König. Banngewalt und sogenannte Bannleihe (S. 384) – § 320. Bannus die Summe königlicher Zwangs- und Strafbefugnisse. Forst-, Fiskal-, Burgbann (S. 385) – § 321. Gerichtsbann: Königs-, Grafen- und Schultheißenbann und deren Bannbußen. Als Gerichtsgewalt und Anrecht auf Gerichtsgefälle war der Königsbann übertragbar. Vogtgerichte (S. 386) – § 322a. Empfang des Königsbanns ermächtigte Vögte (und Grafen) dazu, dem Hochgericht vorzusitzen. Zugehörigkeit der bewidmeten Kirche zum Reiche. Reichsunmittelbarkeit (S. 387) – § 322b. Der König übertrug den Königsbann nicht nach Lehnrecht, sondern nach Land- und Amtsrecht (S. 388) – § 323a. Der Investiturstreit veranlaßte das Reich dazu, die Auslese der Hochrichter von deren königlicher Ermächtigung, die Regalrechte der Kirchen von deren Eigen und die Grafschaft vom Fürstentum zu scheiden (S. 389) – § 323b. Das Wormser Konkordat definierte das Fürstentum durch die Regalien und deren Vergabe nach Lehnrecht. Das geistliche Fürstentum umfaßte zwar den Gerichts-, nicht aber den Blutbann (S. 390) – § 323c. Verfassung der Grafschaft der Friesen (1165) (S. 392)
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§§ 324 – 330. Grafschaft, Land und Landesherrschaft § 324. Das Frankfurter Reichsweistum von 1149 betreffend Ermächtigung der Hochrichter durch den König gehorchte dem landesherrlichen Interesse der Fürsten (S. 394) – § 325. Was König und Fürsten darüber vereinbarten, ließ die Rechte der Dinggenossenschaften (Reichsunmittelbarkeit, Annehmung der Richter) unberührt. Diese Rechte banden auch die Landesherren (S. 395) – § 326. Die aus Fragmenten der alten Gaugrafschaften hervorgegangenen Cometien vereinigten sich zu Landdingen und Ländern und nahmen gemeinsam einen Landesherrn an (S. 396) – § 327a. Die Erhebung Österreichs zum Herzogtum (1156) griff nicht in die Rechte des Landes ein (S. 397) – § 327b. Die Erhebung Würzburgs zum Herzogtum (1168) erfolgte auf Verlangen des Landes. Definition der landesherrlichen Gewalt. War die Vergabe des Königsbannes (Blutbannes) zwischen Land und Herzog strittig? (S. 399) – § 328. Nobiles und Ministerialen als Sprecher der Länder Nachfolger der alten primores comitatus und Vorläufer der späteren Landstände (S. 400) – § 329. Das Wormser Reichsweistum von 1231 band den Landesherrn bei Ausgestaltung des Landrechts an den Willen des Landes. Ständische Einung der meliores et maiores terrae (S. 401) – § 330. Das Weistum erging im Interesse der Länder und ihres Gemeinnutzens und stellte die Landesverfassung unter den Schutz des Reiches (S. 402)
Zehntes Kapitel Zum Stande der Forschung §§ 331 – 335. Triumph der landesgeschichtlichen Schule § 331. A. Waas (1938) bestreitet Teilhabe des Dingvolkes an Grafschaft und Landesherrschaft. Königsbannbezirke und Allodialgrafschaften (S. 405) – § 332. Th. Mayer (1939) und W. Schlesinger (1941): die Grafschaften Schöpfungen entweder königlicher oder adliger Herrschaft (S. 406) – § 333. Die Verfassungsgeschichte unterwirft sich der Methode der geschichtlichen Landesforschung und verläßt die Quellengrundlage der Reichsverfassungsgeschichte (S. 408) – § 334. Unkritischer Umgang mit den Quellen (S. 409) – § 335. Bevorzugung der Privaturkunden nötigt der Forschung die genealogisch-besitzgeschichtliche Methode und deren begriffliche Armut auf (S. 410) §§ 336 – 344. Kritik der landesgeschichtlichen Schule § 336. M. Borgolte (1984): Was ist eine Amtsgrafschaft? (S. 411) – § 337. und was bedeutet Verherrschaftlichung des Grafenamtes? (S. 411) – § 338. Die Tradition des Grafen Chadaloh (817). Die Lage seiner Grafschaft ist unbekannt (S. 412) – § 339. Die Tradition setzt einen Herrschaftsvertrag zwischen dem Grundherrn und einer Genossenschaft der Hintersassen voraus. Adelscomitat? (S. 413) – § 340. Diese Annahme unvereinbar mit dem Sprachgebrauch der Zeit und mit der Zuständigkeit des Grafengerichts (S. 414) – § 341. Beruht die Macht von Königsgut- und Allodialgrafen auf Usurpation des Grafenamtes? Die Tradition des Marolf (um 760) (S. 416) – § 342. setzt weder Konfiskation des Gaues noch Wiedergutmachung, sondern das übliche Grafengericht voraus (S. 417) – § 343. Die Existenz von Gerichtssprengeln widerspricht der Reduktion der Grafschaft auf königlichen oder adligen Grundbesitz (S. 417) – § 344. Das Problem der Streugrafschaft. Es ist unlösbar (S. 418)
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§§ 345 – 347. Was ist zu tun? § 345. Vorzüge der von der Reichsverfassungsgeschichte erarbeiteten Ansicht der Grafschaft. Das System der Regeln identischer Willensbildung bestimmt den Quellenwert der Kapitularien (S. 420) – § 346. Der auf das Identitätssystem begründete Begriff von Verfassung gestattet es, Reichs- und Landesverfassungsgeschichte zusammenzuführen (S. 421) – § 347. und die Königsurkunden als Instrumente gesetzlicher Fortbildung beider Verfassungen zu würdigen (S. 422)
Elftes Kapitel Hofrechtsverbände §§ 348 – 351. Hausherr, Grundherr und Possessor § 348. Hofrechtsverband, Grundherrschaft, Hausherrschaft. Von Unfreien bewirtschafteter Großgrundbesitz im Gebiet rechts des Rheins seit dem 8. Jahrhundert bezeugt (S. 423) – § 349. Die Hausgenossenschaft keine zureichende Vorform: Sie gewährte dem Herrn weder Herrschaft über (Neu-)Freie noch Gerichtsbarkeit und Banngewalt über die familia (S. 424) – § 350. Galloromanische Grundherrschaft: Possessoren und Kolonen. Nähe des spätrömischen Vulgarrechts zum germanischen Recht (S. 425) – § 351. Das antike Leiturgiesystem verknüpfte öffentliche Amtspflichten mit privatem Dienstaufwand in ähnlicher Weise wie der neuzeitliche Ämterkauf und bereitete damit die Auffassung hoheitlicher Rechte als privater Rechtsame vor (S. 426) §§ 352 – 358. Eigentum, Erbpacht und Immunität § 352. Der Steuererheber wird zum Possessor: Schutzherrn der Bauern und Obereigentümer ihres Landes. Aus den Steuerzahlern werden Kolonen und seine Untertanen. Vulgarrechtliche Verformung des Sachenrechts (S. 427) – § 353. Die Ausbildung der Erbpacht verdunkelt römisches Eigentums- und Besitzrecht. Die Sachherrschaft des Possessors steigert sich zum Herreneigentum an Land und Leuten und zur grundherrlichen Banngewalt (S. 428) – § 354. Die doppelte Gewere des germanischen Liegenschaftsrechts ist der vulgarrechtlichen Sachherrschaft nachgebildet. Villikationsverfassung (S. 430) – § 355. Verdinglichung der Herrenrechte des Possessors zu Rechtsamen im Frankenreich (S. 432) – § 356. Die Verdinglichung erfaßt Absplissen staatlicher und kirchlicher Hoheit. Eigenkirchenrecht. Erneute Scheidung der Sachgewalt des Eigentümers von den hoheitlichen, nun dem Vogte zugewiesenen Befugnissen nach dem Investiturstreit (S. 433) – § 357. Bischöfe und Reichsäbte bilden ihr Herreneigentum zur Immunität fort (S. 434) – § 358. Introitusverbot: für Prüm vom Jahre 763, und Kooperation zwischen Immunisten und Grafen (S. 436) §§ 359 – 363. Ortsvogtei und Edelvogtei § 359. Das Recht der Grundherrschaft entstammt dem spätrömischen Vulgarrecht. Die Kirchen verpflanzen es in den Osten des Frankenreiches (S. 437) – § 360. Karolingische Reichskirchen und Schutzklöster und ihre Reichsgutverwaltung (S. 438) – § 361. Umfang und Streulage des Reichskirchengutes. Das Introitusverbot der Immunitätsprivilegien gegen die Grafen nicht immer durchsetzbar (S. 439) – § 362. Wird
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Analytisches Inhaltsverzeichnis es wirksam, so muß der Immunist ein Hofgericht und einen Vogt als Gerichtsherrn einsetzen (S.440) – § 362a. Königliche Vorschriften für die Ernennung der Orts- oder Beamtenvögte und deren Verhältnis zur Grafschaft (S. 441) – § 363. Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts beginnen die Kirchen, Fürsten zu Edel- oder Schirmvögten zu berufen und ihnen die Ortsvögte unterzuordnen. Schirmvogtei verheißt Landesherrschaft (S. 443) §§ 364 – 367. Bannbezirk und Hochvogtei § 364. Fortbildung der an die Streulage des Grundbesitzes gebundenen Ortsvogteien zu Bannbezirken mit öffentlicher Gerichtsbarkeit über fremdes Gut: Ausgleich zwischen Land- und Immunitätsgerichten nach dem territorialen Prinzip (S. 444) – § 365. Interesse des neufreien Gerichtsvolkes. Königlicher Gerichtsbann ersetzt den grundherrlichen Fiskalbann und steigert die Schirmvogtei zur Hochvogtei (S. 445) – § 366. Im 12. Jahrhundert wird die Immunität von der Vogtei als landesherrlicher Lokalbehörde mit neufreier Gerichtsgemeinde abgelöst (S. 446) § 367. Auch Allodialherrschaft war Vogtei. Sie ahmte die grundherrliche Banngewalt der Reichskirchen und Bannbezirke nach und beruhte auf freiwilligem Eintritt freier Haus- und Grundherren in ihren Hofgerichtsverband (S. 447) §§ 368 – 376. Entstehung der Hofrechtsverbände § 368. Hofgerichte bedürfen einer Gerichtsgemeinde als Grundes ihrer Öffentlichkeit und der herrschaftlichen Banngewalt (S. 449) – § 369. Lateinischer und althochdeutscher Sprachgebrauch (S. 449) – § 370. Ständische Zusammensetzung der Hofgerichtsverbände (S. 450) – § 371. Die ihnen gemeinsame Interessenlage eint die Hintersassen gegenüber dem Herrn zur Gesamt- oder Verbandsperson (S. 452) – § 372. Das von ihnen gewiesene Hofrecht entstand aus dem Sonderrecht der bäuerlichen Landleihe. Es sicherte auch die Rechte des Herrn (S. 453) – § 373. Herrschaft über geeinte Rechtsgenossen beschränkt zwar die Willkür, erhöht aber den Rang des Herrn (S. 454) § 374. Frühe Zeugnisse für rechtsfähige Hofgemeinden: Die Tradition des Grafen Chadaloh vom Jahre 817 (S. 455) – § 375. Herrschaftsvertrag und Annehmung der Herren von Seiten der Hofgemeinden. Familiae der Bischofskirchen als Wähler des Bischofs (S. 456) – § 376. Hofgemeinde zu Villingen (999). Interessenkonflikte zwischen seinen Amtleuten und der Hofgemeinde bewegen den Herrn dazu, das Hofrecht aufzeichnen zu lassen. Worms 1023 / 1025 (S. 457) §§ 377 – 378. Zusammenfassung § 377. Die Existenz der Grundherrschaft beruhte nicht auf Unterdrückung der Bauern, sondern darauf, daß der Herr Gemeinschaftsrechte zu Handen der Bauern hielt. Dies schließt Abkunft von der Hausherrschaft aus (S. 458) – § 378. Anzunehmen ist vielmehr Herkunft von der in Gallien ausgebildeten Villikationsverfassung. Bedeutung der Grundherrschaft als politischer Organisation für die neufreie Mehrheit des deutschen Volkes im Hochmittelalter (S. 459)
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Der Staat
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Zwölftes Kapitel Über den Staatsaufbau von unten her §§ 379 – 382. Überblick und Anfänge § 379. Die Gemeinden Bausteine des Staates vom Ursprunge her, der Staat vom Volke eingesetzter Personenverband mit hoheitlicher Friedensgewalt (S. 463) – § 380. und zugleich realer Willensverband unter den Regeln des Identitätssystems. Rangordnung der Teilverbände und der jeweils das höhere Amt vertretenden Verbandshäupter (S. 464) – § 381. Staatsaufbau von unten her dem römischen Imperium noch fremd, erst unter germanischer Führung in Gallien aufgenommen (S. 465) – § 382. Seine erste Verwandlung im Fränkischen Reiche. Warum kein Zerfall desselben in Teilreiche der Franken, Schwaben, Bayern, Sachsen am Ende des 9. Jahrhunderts? (S. 466) §§ 383 – 389. Ostfränkisch-deutsches König- und Kaiserreich § 383. Julius Ficker (1861) über das Verhältnis der Zentralgewalt zu den Teilvölkern als Staatsräson des Ostfränkischen Reiches (S. 468) – § 384. und über Befriedung des Abendlandes ohne Eroberung als Staatsräson des ottonisch-salischen Kaiserreiches (S. 469) – § 385. Dessen doppelter Daseinszweck: einerseits Schutz der engeren, territorialen Lebenskreise, andererseits Verbindung der Teilreichsvölker zur Nation (S. 470) – § 386. Teilnahme aller Freien an öffentlicher Willensbildung und Bestimmung der Staatsräson nur in Gemeinden und Ländern möglich. Der Erfolg der Kaiserpolitik läßt das Interesse am Reiche am Ende des 12. Jahrhunderts erlöschen (S. 472) – § 387. Der Staatsräson des Reiches war das System identischer Willensbildung angepaßt: durch einhellige Beschlüsse von Worthaltern mit gebundenem Mandat und beschränkter Vollmacht (S. 473) – § 388. Um das Interesse der Gesamtheit des Reiches war es bei wachsender Passivität der Freien schlecht bestellt. Woher gleichwohl das Vertrauen in die politische Brauchbarkeit des Systems? (S. 474) – § 389. Es beugte der Zerstörung des Gemeinwesens durch Unwillen und Zwietracht vor, die Mängel gemildert durch Vorrang und Autorität der Fürsten und Großen (S. 475) §§ 390 – 393. Auftritt des modernen Staates § 390. Zweite Verwandlung des Staatsaufbaus im 13. Jahrhundert: Das Staatsinteresse verlangt den Austausch des Identitätssystems gegen das Repräsentativsystem (S. 476) – § 391. Die Regierungen erheben sich zu Obrigkeiten und lösen sich vom Willen des Volkes, aber die Reformation stärkt dessen Kommunalismus. Aufbau der calvinistischen Kirchen von unten her (S. 478) – § 392. Durch stillschweigendes Erdulden einhelliger identischer Willensbildung ermöglicht das Volk den fürstlichen Absolutismus, ohne auf sein Recht der Selbstbestimmung zu verzichten (S. 479) – § 393. Nur die Schweizer Eidgenossenschaft und die Vereinigten Niederlande be-
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wahren den Staatsaufbau von unten her und das Identitätssystem. Der niederländische Untertanenverband verläßt seinen Landesherrn (1581) (S. 481) §§ 394 – 398. Vereinigte Staaten von Amerika § 394. Auswanderung und Gemeindegründung nach germanischem Einungsrecht in den nordamerikanischen Kolonien: Der Mayflower Compact (1620) (S. 482) – § 395. begründete eine dem Zwecke nach legitime Gemeinde mit der Vollmacht, den Genossen zu ihrem Schutze Gesetze und Behörden zu verordnen. Aus Europa sind keine älteren Zeugnisse für Erstgründungen dieser Art bekannt (S. 484) – § 396. Einung des amerikanischen Volkes (1776): Jeder einzelne verpflichtet sich formell und einhellig mit allen anderen, dem Verbande und dessen Behörde mit Leib und Gut beizustehen. Ebenso pflegten sich mittelalterliche Bürgergemeinden zu begründen (S. 486) – § 397. Das hier befolgte Verfahren der Willensbildung kann daher zur Rekonstruktion der im Mittelalter beachteten Formen des Identitätssystems benutzt werden (S. 488) – § 398. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 konstatiert Identität des Volkswillens mit dem Willen des Kongresses. Ihre Beistandsformel: Wechselseitige Verpfändung von Leben, Gut und Ehre (S. 489) §§ 399 – 404. Räterepublik und erdauerte Demokratie im 20. Jahrhundert § 399. Niemand war und ist sich der tausendjährigen Kontinuität der völkischen Staatsauffassung bewußt, weil das gelehrte Staatsdenken allein den antiken Republikanismus zu erfassen vermochte, sich ihr gegenüber jedoch verschloß (S. 491) – § 400. Seit 1788 erlag die verfassungsbildende Kraft des hergekommenen völkischen Rechtsdenkens den zentralistischen Grundsätzen der Volkssouveränität und Repräsentation (S. 492) – § 401. Nur unter Elementarbedingungen politischen Handelns lebte jene Kraft im Entwurf revolutionärer Räterepubliken fort (S. 494) – § 402. Dagegen die wissenschaftliche Staatsauffassung weniger von historischer und praktischer Analyse als von den Spekulationen Rousseaus und Hegels beherrscht (S. 495) – § 403. Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Vorstellungen des Volkes hemmt auch die Erforschung des verfassungsgeschichtlichen Zusammenhangs mit dem mittelalterlichen Identitätssystem (S. 497) – § 404. Werner Näf (1946) über herrschaftlichem Stamme aufgepfropfte und aus genossenschaftlicher Wurzel erwachsene Demokratien im 20. Jahrhundert und die Vorgeschichte erdauerter demokratischer Verfassungen (S. 498)
Dreizehntes Kapitel Das Fürstentum: Geistliche Fürsten §§ 405 – 411. Der althochdeutsche Sprachgebrauch § 405. Aufgabe der Fürsten und Großen war es, den Gemeinwillen zwischen Gauvölkern, König und Reich zu vermitteln, nicht jedoch, Herrschaft auszuüben (S. 501) – § 406. W. Schlesingers Lehre über Herrengewalt des fränkischen Adels ist unzutreffend, weil von der Kriegs- statt von der Friedensverfassung ausgehend (S. 502) – § 407. W. Schlesinger über den ahd. Sprachgebrauch: Fürsten nicht Herren, sondern Repräsentanten des Volkes? Das Moment der Herrschaft entstammt christlich-kirchlichem Denken (S. 503) – § 408. Ahd. Äquivalente zu lat. dominus: frô und truhtîn,
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wenn der König, hêrro, wenn der königliche Hebebezirksherr (possessor) gemeint war (S. 505) – § 409. Obsoletes ahd. frô = Haupt eines Gauvolkes überlebt als Vokativ und als indeklinables Adjektiv frôno = dominicus, publicus (S. 506) – § 410. Ahd. hêrôsto und furisto = Haupt eines Teilverbandes und Genosse der Reichsregierung. Ahd. hêrro gleicht sich dem an. Keine Verherrschaftlichung des Staates (S. 507) – § 411. Der Gruppenbegriff proceres = Fürsten, Herren, als Teilhaber an der Reichsregierung. Rechtskenntnisse eine adlige Tugend (S. 508) §§ 412 – 418. Kur und Bestallung § 412. Vorläufige Antworten auf die Frage, wie Große und Fürsten die Vollmacht und das Amt erlangten, in der Gemeinde, im Gericht und im Reiche für einen Partikularverband zu sprechen: Kur und Bestallung der Schöffen (S. 509) – § 413. und der Kommunalbehörden: Bauermeister, Stadträte (S. 511) – § 414. Auslese, Ermächtigung, Bestallung und Annehmung der Kirchenvögte (S. 511) – § 415. Die Erhebung des Vogtes war eine Kettenhandlung, doch waren die Teilakte nicht definiert. Auch Allodialherrschaft beruhte auf Annehmung des Herrn durch die Untertanen (S. 513) – § 416. Kur, Annehmung und Ermächtigung der Grafen. Die Kur zerlegt in königliche Designation und völkische Annehmung (S. 514) – § 417. Erhebung der Bischöfe und Reichsäbte: Bestallung und Weihe. Kanonisches Wahlrecht beschränkt durch Designation und Annehmung (S. 515) – § 418. Landesherrschaft beruht auf Bestallung oder Belehnung durch den König und auf Annehmung von Seiten des Volkes (S. 516) §§ 419 – 425. Fürst und Fürsten: Öffentliches Amt und Mitregierung § 419. Reichsverwaltung durch königliche Hofbeamte oder durch geistliche und weltliche Große? Dieser entspricht bei Max Weber der Typus legaler, (S. 517) – § 420. jener dagegen der Typus traditionaler Herrschaft. Aber Reichsgutverwaltung ist nicht dasselbe wie Reichsverwaltung (S. 518) – § 421. Große oder Fürsten verwalten selbständig öffentliche, Hofbeamte dagegen abhängig dienende Ämter. Domänenstaat und Steuerstaat. Nur ein einziges Verfahren der Besetzung öffentlicher Ämter: die Kettenhandlung von Kur und Bestallung (S. 520) – § 422. Die Quellen beleuchten namentlich den Anteil des Königs an dem Verfahren (königliches Amtsrecht). Daher fragt die Forschung kaum einmal nach der Kur (S. 521) – § 423. Der einzelne Fürst als öffentlicher Amtmann und die mehreren Fürsten als namens des Volkes mitregierende Gruppe (S. 523) – § 424. Die Zugehörigkeit zur Gruppe beruht auf Autorität und Vorrang, nicht jedoch auf Vorrecht oder Adelsherrschaft (S. 524) – § 425. Die Gruppe war zur Mitregierung und bei Vakanz des Fürstenstuhles zu interimistischer Regierung und Kur berechtigt (S. 525) §§ 426 – 436. Wahl und Bestallung der Bischöfe § 426. Das alte Kirchenrecht stand als spätrömisches Vulgarrecht formal den germanischen Volksrechten nahe. Seine Normen betreffend Wahl, Wähler, Weihe und Vollmachten des Bischofs. Gebot der Einhelligkeit (S. 527) – § 427. Verstaatlichung des Verfahrens in den germanischen Landeskirchen: Der König als Inhaber eines theokratischen Amtskönigtums befugt, die Wahl zu lenken und den Elekten vor der Weihe zu bestallen. Karolingische Praxis (S. 528) – § 428. Die Bestallung ermächtigt den Elekten, unter Vorbehalt der Annehmung, seine Kirche zu regieren und den Königsdienst zu erbringen. Die gebotene Einhelligkeit ermöglicht ein formloses Verfah-
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ren (S. 530) – § 429. Erhebung des ersten Erzbischofs von Magdeburg (968): Der König bestallt, Klerus und Volk nehmen an und inthronisieren. Inhalt der Amtsvollmacht: Kirchenregierung und Königsdienst, (S. 531) – § 430. nicht jedoch geistliche Befugnisse. Form der Bestallung: Investitur mit der ideellen Gewere am Kirchengute und mit dem Kirchenbanne unter dem Symbol des Stabes oder Szepters. Stab (baculus) und Halm (festuca, virga) (S. 533) – § 431. Formen der Annehmung: in Schwaben (und Bayern) Investitur mit dem Kirchengut (die Gemeinde dessen wahrer Erbherr) und Treueid, (S. 535) – § 432. in Sachsen (und Franken) Gelübde durch Handzeichen und Zuruf und Thronsetzung. Erst die susceptio beendet die Wahl und ermächtigt den Landesherrn (S. 536) – § 433. König Heinrichs II. Theokratie kollidiert mit dem Volksrecht: Trier (1008). Einvernehmliche Erhebung: Eichstätt (1057) (S. 537) – § 434. Die Annehmung macht den Bischof zur Vertrauensperson des Volkes, das an seinem Privilegienstande teilhat (S. 538) – § 435. Die Kirchenreform betreibt den Ausschluß der Laien von der Erhebung, muß aber das Recht des Volkes auf Annehmung des Fürsten dulden (S. 539) – § 436. Seit dem 13. Jahrhundert bestimmen Wahlkapitulationen als Herrschaftsverträge die Bedingungen, unter denen das Volk den Fürsten annimmt und investiert. Das kanonische Recht bleibt insoweit unwirksam (S. 540) §§ 437 – 440. Die Erhebung zum Reichsabte § 437. Der Abt vom Konvente zum Vater, vom König zum Hofbeamten erkoren, von der Hofrechtsgemeinde zum öffentlichen Amtmann des Königs und des Volkes erhoben (S. 542) – § 438. Bestallung mit Stab oder Szepter. Das Wahlrecht des Konvents ein bedingtes königliches Privileg, ausgeübt mit Zustimmung der familia (Lorsch 914). Inhalt der Amtsvollmacht: Klosterregiment und Königsdienst (S. 543) – § 439. Die Amtsgewalt des Bestallten bedarf der Annehmung von Seiten des Klostervolkes: Die abbatia löst sich von Konvent und Volk. Der Vogt beginnt mit dem Abte um die vom Klostervolk verliehene Vollmacht zu konkurrieren (11. Jahrhundert) (S. 544) – § 440. Vogt und Gemeinde erkämpfen sich die Zulassung zur Wahl: Niederaltaich (1063), Einsiedeln (1142), St. Gallen (1200). Das Wahlrecht des Königs erlischt (seit 1198) (S. 546)
Vierzehntes Kapitel Weltliche Fürsten: Die Regna des Ostfränkischen Reiches §§ 441 – 448. Das Problem und der Stand der Forschung § 441. Das Herzogtum, aus dem das weltliche Fürstentum hervorging, war eine Neubildung im Ostfränkisch-deutschen Reiche. G. Waitz: Es gründet auf königlicher Bestallung und völkischer Wahl (S. 549) – § 442a. J. Ficker über die Regna der vier Reichsvölker, die den König zu unmittelbarer Herrschaft erhoben und seine Landeshoftage besuchten, (S. 550) – § 442b. über die sieben Hoftagssprengel als Einrichtungen des Reiches und über (niedere) Herzogtümer und Reichs- (oder Groß-)grafschaften (S. 551) – § 442c. Doppelter Sinn der herzoglichen Vollgewalt bei J. Ficker: Herzöge als Stellvertreter des abwesenden Königs in einem Regnum und als Inhaber aller Grafschaften in einem Lande (S. 553) – § 443. Die herzoglichen Befugnisse
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über Land und Leute sind landrechtlicher Herkunft. Der Herzog vertritt das Land beim König und bei der Königswahl. Das Land als Herzogswähler (S. 554) § 444. Aus Fickers Forschungen ergibt sich die Stufung und Partikulierung des Reichsuntertanenverbandes und der zur Herzogswahl befugten Teilverbände: Regna erheben den König und den Herzog-Vizekönig, in die Regna gehörige Landesgemeinden den niederen oder Landesherzog (S. 555) – § 445. F. Keutgens Auffassung vom souveränen Staate und unverfaßten Volke vermag die Herzogswahlen nicht zu erklären (S. 557) – § 446. Die landesgeschichtliche Schule verliert das Volk aus dem Blick. G. Tellenbach über urwüchsiges Stammesleben (S. 558) – § 446a. H.-W. Goetz über das Herzogtum als fürstliche Herrschaftsbildung und deren unbestimmbares Verhältnis zum Königtum (S. 560) – § 447. Das begriffliche Dilemma und der (scheinbare) Antagonismus zwischen Königsrecht, Volksrecht und fürstlicher Eigenmacht (S. 561) – § 448. Nach O. Engels scheitert diese Lehre an den Nachrichten über Herzogswahl und Mitbestimmung der Großen und deren genossenschaftliche Grundlage. Das System identischer Willensbildung als Rahmen, in dem sich die Antagonismen auflösen (S. 563) §§ 449 – 456. Das Regnum der Franken § 449. Einteilung des Ostfränkisch-deutschen Reiches in Regna, deren Häupter duces, der Regna in (niedere) Dukate und Großgrafschaften, deren Häupter Grafen oder Markgrafen hießen (S. 564) – § 450. Die Großgrafschaften Schöpfungen der Völker oder adliger Herrschaften? Teilung des fränkischen Regnums in Franken und Lothringen. Dukate in Franken, Dukat des Bischofs von Würzburg (S. 566) – § 451. Das Regnum Lothringen. Die nördlichen Dukate von den Normannen oder von unmittelbarer Königsherrschaft vernichtet? (S. 568) – § 452. Die Friesen sondern sich ab. Großgrafschaften des Konradiners Gebhard, der Reginare (S. 569) – § 453. und des Ansfrid. Von König Otto I. eingesetzte Herzöge: Reichsbildung von oben her mißlingt. Niedere Dukate in Oberlothringen (S. 570) – § 454. und in Niederlothringen westlich der Maas. Das Rheinland eine Königslandschaft? Der Pfalzgrafenstaat: (S. 572) – § 455. eine Großgrafschaft, geschaffen von den Grafschaftsgemeinden zur Abwehr der Ungarn, daher im Frieden entbehrlich (S. 573) – § 456. Um des Landfriedens willen erneuter Aufbau einer Landesgewalt von unten her: Die Großen erheben den Erzbischof von Köln zum Haupte einer herrschaftlichen Genossenschaft (S. 574) §§ 457 – 472. Das Regnum der Sachsen § 457. Kaiser Ludwig der Fromme dürfte im Jahre 839 Sachsen zum Regnum erhoben haben, die sächsische Landesversammlung auf das Allthing zurückgehen. Die drei Heerschaften und ihre zeitlichen Dukate (S. 576) – § 458. Verlegung des Thingplatzes an die obere Oker, wo Nähe fränkischer Streusiedlung (Schöffenverfassung in Ostsachsen und Südwestfalen) (S. 577) – § 459. und Konzentration von Königsgut die Kontrolle des Landtags erleichtern: Das sächsische Tiefland für die Könige schwer beherrschbar, weil nur der Rentengrundherrschaft offen (S. 579) – § 460. König Ottos Mandat an die Volksversammlung zu Werla (968). Deren vizekönigliche Befugnisse. Ermächtigung der Fürsten durch das Volk, wie einst im Allthing (S. 580) – § 461. Die Erhebung Sachsens zum Regnum verbunden mit der Erhebung Liudolfs, Großgrafen der Ostfalen, zum Herzog-Vizekönig (S. 581) -- § 462. Führte
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Liudolf den Titel Herzog und hatte er den königlichen Komitat über das sächsische Volk inne? (S. 583) – § 463. Die Einrichtung der Großgrafschaften mindert die vizeköniglichen Befugnisse. Kein Herzogtum nach 919. Die Prokuration Markgraf Hermanns ein Hofamt, das Herzogtum seiner Nachfahren ein niederer Dukat (S. 584) – § 464. Genossenschaftliches Gepräge des Regnums: Eine akephale Genossenschaft von Fürsten und Freien im Aufstande gegen König Heinrich IV. und als Königswähler (S. 586) § 465. Niederer Dukat, Großgrafschaft, Land und Heerschaft Westfalen. Das Mandat König Heinrichs IV. wegen der Osnabrücker Zehnten (S. 587) – § 466. richtet sich an alle Getreuen des Königs in Westfalen als dem Reiche folgepflichtigen Landesgesetzgeber (S. 589) – § 467. Der Gau Westfalen und die Großgrafschaft der Grafen von Werl: Ersatz der Heerschaft durch Aufbau von unten her (S. 590) – § 468. Völkische Grundlegung des Landes Osnabrück: Nicht alle Grafschaftsgemeinden treten der Großgrafschaft bei. Der königliche Komitat (S. 591) – § 469. geht nicht auf das Erzstift Bremen über. Der Großgraf nicht Haupt, sondern Sprecher des Landes? Neues Landesbewußtsein während des sächsischen Aufstandes gegen König Heinrich IV. (S. 593) § 470. Heerschaft und Großgau Engern: Großgrafschaft Stade und Herzogtum der Billunger. Auflösung des Landes im 12. Jahrhundert gemäß dem Willen der Grafschafts- und Teilgemeinden (S. 594) – § 471. Genossenschaftlicher Charakter der Heerschaft Ostfalen (11. Jahrhundert). Die Großgrafschaften der Brunonen und der Nordheimer gehen im Herzogtum Heinrichs des Löwen auf (S. 595) – § 472. Dieses war ein Geschöpf nicht fürstlicher Heiratspolitik, sondern des Gemeinwillens der Gerichts- und Landesgemeinden, der sich 1138 und 1180 gegen den Willen des Königs behauptete (S. 597) §§ 473 – 474. Thüringen § 473. Ducatus und Land Thüringen, Landesgemeinde und Herzog der Thüringer. Das Land als Königswähler (920, 1102) (S. 598) – § 474. Die Großgrafen des 10. Jahrhunderts. Der vom Volke geschuldete Schweinezins ein Zeugnis vierhundertjähriger völkischer Selbstverwaltung (S. 600) §§ 475 – 482. Das schwäbische Regnum § 475. Der von der Reichsregierung 829 und 865 eingerichtete Untertanenverband mit karolingischem Oberhaupte seit 887 Königswähler. Erste Großgrafen (S. 601) – § 476. Pfalzgrafschaft und Fiskus Einrichtungen des Volkes? (S. 603) – § 477. Waren der im Jahre 911 gefallene Graf Burchard und Pfalzgraf Erchanger bereits Herzöge? (S. 604) – § 478. Das Volk bedarf eines Herzogs zur Abwehr der Ungarn, aber der König weigert sich, ihn zu bestallen. Erhebung Erchangers im Jahre 915 (S. 605) – § 479. und Burchards 917 gegen den Willen des Königs. Kritik der Quellen zur Erhebung König Heinrichs I. in Jahre 919 (J. Fried) (S. 606) – § 480. Bedingungen mündlicher Tradition von Rechtstatsachen und Ereignissen. Herzog Burchard und die Schwaben nehmen Heinrich zum Könige an (S. 608) – § 481. Ein Herrschaftsvertrag bestimmt die vizeköniglichen Befugnisse des Herzogs, namentlich den Comitatus (S. 609) – § 482. und die Kirchherrschaft. Berufung des mitregierenden Land- oder Fürstentags. Sturz Herzog Ernsts II. (1027). Das Land setzt seinen Anspruch auf die Grafschaft Chiavenna gegen Herzog und König durch (1153) (S. 610)
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§§ 483 – 492. Das Regnum Bayern § 483. Wahl und Bestallung des Herzogs nach bayerischem Volksrecht. Errichtung des Regnums 817, Annehmung des Königs 830. Graf Ernst (bis 861) Herzog des Volkes? (S. 612) – § 484. Land- und königliche Hoftage: Wahrung der Einheit des Volksrechts, Inquisition des Zollrechts in den östlichen Grafschaften (S. 613) – § 485. Annehmung der Könige (865 bis 888). Mark- und Großgrafschaften. Markgrafen der Bayern: Luitpold (895) (S. 614) – § 486. Erhebung Arnulfs zum Markgrafen (907). Verweigert ihm das Reich die Bestallung zum Herzog? Er urkundet als Herzog (908) (S. 616) – § 487. Die Herzogswürde vom Volke verliehen: Weist die Devotionsformel darauf hin? Bayern als Königswähler (911) (S. 617) – § 488. Mainfranken und Bayern kiesen Arnulf zum Könige (917), aber Arnulf nimmt den Königsnamen nicht an (S. 618) – § 489. Herrschaftsvertrag mit König Heinrich I. (921): Der Herzog vom Volke nur beschränkt zum Abschluß ermächtigt. Seine vizeköniglichen Rechte: namentlich Kirchherrschaft und Komitat (S. 619) – § 490. Uneinigkeit des Landes und Schwäche des Herzogtums (937 – 995). Landtage der Großen cum plebibus regni. Die Ranshofener Gesetze (S. 620) – § 491. ergehen im Interesse der Reichskirchen, erlangen Rechtskraft erst durch Publikation in den Grafen- und Vogtgerichten, verkünden den Amtsbegriff des Kirchen- und Volksrechts (S. 622) – § 492. Bayern im Dienste des Reiches (995 – 1096): Das Land und der Adel ziehen Reichsunmittelbarkeit und Reichsdienst dem Herzogtum vor (S. 623) §§ 493 – 506. Friesland § 493. Die Landtage der Regna beschützten die Volksrechte und das Personalitätsprinzip als grundlegende Kollisionsnorm (S. 625) – § 494. Sie und das Reich traten divergierender Rechtsfortbildung durch die einzelnen Dinggemeinden entgegen (S. 626) § 495. Setzt die Existenz eines allen Friesen gemeinsamen Rechts einen friesischen Landtag voraus? Nach Untergang der karolingischen Verfassung Frieslands gaben sich die Friesen selbst seit Ende des 9. Jahrhunderts eine neue Verfassung (S. 628) – § 496. Diese sah, ausgenommen in Holland, keine Annehmung königlicher Grafen vor. Schulzen und weltliche Dekane hielten die Gerichte (S. 629) – § 497. Die Landesgemeinde aller Friesen betrachtete sich als reichsunmittelbar. Ihr Willkürrecht (Siebzehn Küren) sicherte jedem Friesen bestimmte persönliche Rechte (S. 631) – § 498. und allen Friesen gemeinsame Rechte zu. Teilgemeinden (patriae, populi, plebes) koren und vereidigten die Asegen auf den Kaiser und erkannten die Landrechte (S. 632) § 499. Die Einheit aller Friesen beruhte nicht auf dem Verhältnis zum Königtum, sondern auf freier Einung zur gebietsbezogenen Gemeinde in den Formen der sogenannten älteren Genossenschaft (S. 633) – § 500. Die Siebzehn Küren fingieren einen Herrschaftsvertrag aller Friesen mit König Karl und damit ein fortdauerndes friesisches Interregnum, in dem das Volk selbst die Königsrechte verwaltet (S. 635) – § 501. Daher vereidigen die Gemeinden die Asegen auf den Kaiser, obwohl sie selbst sie ermächtigen, und verwalten den königlichen Fiskus (S. 636) – § 502. Auch der Schulze war Volksbeamter: Er empfing den Königsbann (Blutbann, Fiskalbann) vom Volke (S. 637) – § 503. Da die Siebzehn Küren einen alten Kernbestand mit jüngeren Besserungen vereinigen, muß eine allfriesische Einung seit Ende des 9. Jahrhunderts existiert haben. Ihre Landesverfassung ist mit der des sächsischen Regnums (S. 639)
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– § 504. und mit der städtischen Schwureinung vergleichbar. Als an sich befristet gültiges Sonderrecht setzt die Einung bei dauerndem Bestande ein Kommuneprivileg voraus (S. 640) – § 505. Älteste Form der Gesetzeserkenntnis nicht das Weistum der Sühnemittler (sog. christlich-germanische Weltanschauung), sondern der Wille gesetzgebender Volksversammlungen (S. 641) – § 506. Ein Beschluß des friesischen Allthings bildete im 12. Jahrhundert die Landesverfassung zur jüngeren Genossenschaft (universitas) mit Ratsverfassung und Vereidigung der gemeinen Sendeboten fort (S. 642)
Fünfzehntes Kapitel Weltliche Fürsten: Die Erhebung zum Herzoge § 507. Die Verfassung der Regna zwingt uns zu der Annahme, daß das Volk an der Erhebung der Herzöge sei es kiesend, sei es annehmend mitwirkte (S. 645) – § 508. Auf den Landtagen war außer den Fürsten das Volk anwesend, weil zur identischen Willensbildung unentbehrlich. Es gibt nur wenige direkte Zeugnisse für Herzogswahlen (S. 646) §§ 509 – 515. Lothringen 959 § 509. Herzog Friedrich beurkundet einen im öffentlichen Gericht vermittelten Vergleich und dessen Erfüllung durch die Parteien (S. 647) – § 510. Er ordnet selbst die Beurkundung an, läßt aber seine Urkunde vom Grafengerichtsschreiber wie eine Notitia beglaubigen (S. 648) – § 511. Intitulation und Narration der Herzogsurkunde und die bloß abschriftliche Überlieferung erregen den Verdacht der Unechtheit (S. 650) – § 512. Obwohl kein diplomatischer Beweis der Unechtheit gelungen ist, wird die Urkunde verworfen, weil sie der neueren verfassungsgeschichtlichen Lehre widerspricht (S. 651) – § 513. Nachweis der Echtheit des Wortlautes hinsichtlich der herzoglichen maiestas, der Devotionsformel gratia dei, (S. 652) – § 514. des Volksnamens Franken und der electio des Herzogs. Weder ein Urheber noch die Tendenz einer Verfälschung sind erkennbar (S. 653) – § 515. Die Herzogsurkunde läßt sich widerspruchsfrei erklären, wenn man vom Aufbau des mittelalterlichen Staates von unten her ausgeht (S. 654) §§ 516 – 518. Bayern 995 und 1002 § 516. Hat der Herrschaftsvertrag von 921 das Wahlrecht des Volkes anerkannt? Wahl Herzog Heinrichs IV. 995 von der Reichsregierung zugelassen (S. 656) – § 517. König Heinrich II. 1002 über das freie Wahlrecht der Bayern. Erhebung Herzog Heinrichs IV. 1004 (S. 657) – § 518. Verlassung und Kur des Herzogs 1008. Die Bayern nehmen königliche Lenkung der Wahlen hin und lassen ihr Wahlrecht zur Untertanenpflicht der Huldigung (1155) verkommen (S. 659) §§ 519 – 524. Thüringen 997 und die spätere Landgrafschaft § 519. Wahl Ekkehards zum Herzog 997 und die Großgrafschaft Wilhelms von Weimar. Hat die Reichsregierung die Wahl zugelassen und gelenkt? (S. 660) – § 520. Nur unter Voraussetzung dauernder Existenz eines thüringischen Untertanen- und Wählerverbandes ist die Einrichtung der Landgrafschaft verständlich. Sie erfolgte nicht
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erst 1131, (S. 661) – § 521. sondern als Fortsetzung der früheren Großgrafschaft bereits 1112. Dies wird von der landesgeschichtlichen Schule bestritten (S. 663) – § 522. H. Patze verlegt die frühe Landgrafschaft nach Sachsen und läßt König Lothar 1131 in Thüringen eine neue Landgrafschaft errichten. Seit wann bekleidete Ludwig von Schauenburg hier eine übergräfliche Stellung? (S. 664) – § 523. H. Patze versucht, den Rechtsbegriff der Landgrafschaft aus der späteren Herrschaftspraxis zu erschließen und dies mit der älteren Lehre von der Gerichtsbarkeit als Inhalt des Amtes zu vereinbaren. Das Ergebnis nicht überzeugend (S. 665) – § 524. Konnten allein ein königliches Machtwort und Ludwigs Grundbesitz den Fürstenstand und die Amtsgewalt des Landgrafen erschaffen oder bedurfte es dazu auch des Willens des Volkes? (S. 667) § 525. Schwaben 1079 und 1092 § 525. Die Herzogswahlen seit 926 vom Könige gelenkt. Freie Wahl im Jahre 1079? Freie Wahl und völkische Bestallung 1092 (S. 668) §§ 526 – 531. Köln 1206 § 526. Absetzung Erzbischof Adolfs und Wahl Brunos 1205 werfen die Frage nach dem Wahlrecht auf. Ein anonymer Traktat von 1206 behandelt sie als Konflikt zwischen kanonischem und weltlichem Recht und zwischen Bischofs- und Herzogsvolk (S. 669) – § 527. Er ist angelegt als Dialog zwischen Kleriker und Laien. Der Laie unterscheidet zwischen kanonischer Bischofswahl und weltlicher Herzogswahl, ist aber im Nachteil, weil die Wissenschaft der Zeit ihm nicht zu Hilfe kommt (S. 671) – § 528. Der Kleriker erkennt das Wahlrecht des Volkes bei Erhebung des Bischofs an, bestreitet es aber bei der Herzogserhebung. Der Laie unfähig, das Volksrecht hinsichtlich der Wahl (S. 672) – § 529. und der gemeinsamen Willensbildung auf Regel und Begriff zu bringen (S. 573) – § 530. Außerdem fällt nur ihm das Übersetzungsproblem zur Last. Die Ansicht des Klerikers über Vererbung des Herzogtums trifft nicht zu (S. 674) – § 531. Der Dialog bezeugt, daß das Volk von seinem Wahlrecht überzeugt war, daß es keinen Unterschied zwischen Bischofs- und Herzogserhebung machte und daß die Versammlung der nobiles terrae nicht Lehnshof, sondern Landtag war (S. 675) §§ 532 – 537. Kärnten 1286 § 532. Erhebung Graf Meinhards zum Reichsfürsten und Herzog von Kärnten. Der König befiehlt dem Untertanenverbande, den Bestallten anzunehmen und einzuweisen (S. 676) – § 533. Abgang des Herzogs hebt weder die Landesgemeinde noch die Treupflicht der Untertanen auf: Folglich beruht beides nicht auf Lehn-, sondern auf Landrecht. Auch die königliche Investitur war keine Belehnung (S. 677) – § 534. Während des Interdukates hütet die Landesgemeinde der Edlinger das Herzogsgut. In ihrem Namen prüft bei Annehmung des Landesherrn der Herzogsbauer den Designierten (S. 679) – § 535. Er nimmt ihn in das windische Volk auf und überläßt ihm Amtsgewalt und Brennrecht. Die Zeremonie vermutlich seit dem 8. Jahrhundert gebräuchlich (S. 680) – § 536. Häufiger Wechsel landfremder Herzöge stärkt im 10. und 11. Jahrhundert die Stellung der Landesgemeinde, zumal sie das Recht des Königs anerkennt, die Wahl zu lenken (S. 682) – § 537. Hinsichtlich der Zweiteilung in Kur und Bestallung und des Zusammenwirkens von König und Volk
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gleicht die Erhebung des Herzogs in Kärnten der allgemein im Ostfränkisch-deutschen Reiche üblichen (S. 683)
Sechzehntes Kapitel Bestallung und Belehnung I: Rechts- und Formfragen – Einsetzung der Grafen §§ 538 – 540. Theoretische Überlegungen § 538. Die Verfassung des Landes Kärnten in der Staatstheorie der Humanisten und Jean Bodins. Das Begriffspaar Amtsherzogtum / Stammesherzogtum (S. 685) – § 539. ruft Ungereimtheiten in der modernen Forschung hervor. Für sich allein schuf die königliche Bestallung lediglich Titularherzöge ohne Land. Herzogliche Befugnisse (S. 686) – § 540. Voraussetzung für die Möglichkeit der These, die Reichsverfassung sei von oben her mit den Mitteln des Lehnrechts erbaut worden, ist das Schweigen der Quellen (S. 688) §§ 541 – 543. Bestallung und Vasallität § 541. Wäre die Unterstellung der öffentlichen Ämter unter Lehnrecht im hohen Mittelalter juristisch möglich gewesen? Etwaige Vasallität der Amtleute kein hinreichender Grund, da man zwischen Amtseid, Lehnseid und Handgang genau unterschied (S. 688) – § 542. Treupflichten banden nicht nur Vasallen, sondern alle Untertanen. Dedition nach Treubruch war gewöhnlich keine Ergebung in die Vasallität (S. 690) – § 543. Kein Eintritt der Bischöfe in die königliche Vasallität. Die Worte homagium und commendare konnten auch Landrechtsverhältnisse bezeichnen (S. 692) §§ 544 – 549. Bestallung und Benefizialleihe § 544. Konnte die öffentliche Amtsgewalt juristisch als Pertinenz des Amtsgutes und schließlich als lehnbare Rechtsame gedacht werden? Diese Annahme vermag weder die Rechtsform der sogenannten Erblichkeit der Ämter noch deren Bezeichnung als honores (S. 693) – § 545. oder dignitates zu erklären. Amt, Ehre und Vorrang der Großen beruhten auf öffentlicher Anerkennung und waren mehr als Lehen, (S. 695) – § 546. zumal Lehnsbesitz noch keinerlei besonderes Ansehen verlieh. Die Pertinenztheorie vermag die territoriale Ausdehnung der Amtsgewalt nicht zu erklären (S. 696) – § 547. Auch die Amtsvollmacht von Bischöfen und Reichsäbten konnte nicht als Lehen angesehen werden. Erst im 11. Jahrhundert kam das Wort Investitur als Synonym für die königliche Bestallung auf, (S. 698) – § 548. weil man diese in bestimmten Kreisen als Belehnung aufgefaßt wissen wollte (S. 699) – § 549. Dies entsprach nicht der Auffassung der Volksrechte und Bistumsvölker, sondern der der Kirchenreformer und Kanonisten, deren gelehrtes Rechtsdenken am wirklichen völkischen Verfassungsrecht nicht interessiert war (S. 700) §§ 550 – 556. Zum Stande der Forschung § 550. Bei lehnrechtlicher Interpretation des Amtsverhältnisses ist der Staat nicht als öffentlich-rechtlich, sondern nur als patrimonial verfaßt denkbar, es sei denn, man erklärt das Lehnrecht selbst zu (funktional) öffentlichem Recht (S. 702) – § 551. H. Mitteis erkannte in der Leihe öffentlicher Ämter eine selbständige, von der
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privaten Bodenleihe verschiedene Geschäftsform (S. 703) – § 552. Er konnte aber weder den Ursprung des Gebietsbezuges verliehener Amtsrechte angeben noch erklären, was deren Öffentlichkeit ausmachte (S. 704) – § 553. Daher wagte er es nicht, die Ämterleihe wirklich von der Bodenleihe abzusondern. Beide Geschäftsformen stimmen darin überein, daß sie keine privatrechtliche Erbfolge zulassen (S. 706) – § 554. Solange die königliche Bestallung oder Belehnung Teil der Gesamtabfolge der Amtmannserhebung blieb, konnte sich das Reich nicht als Lehnsmonarchie darstellen (S. 707) – § 555. Es ist nicht zulässig, eine einzelne Institution der Reichsverfassung zu deren Fundament zu machen und aus den Synonymen der Rechtssprache die lehnrechtlich deutbaren auszusondern (S. Reynolds). Wie ist der unbestimmte, teils synonyme, teils heteronyme Rechtssprachgebrauch zu erklären? (S. 709) – § 556a. Die Forschung beherrscht von Meinungsfreiheit und Meinungswirrwarr (S. 710) – § 556b. Bedenken wider die Lehre von der Ämterleihe: R. Scheyhing (1960), B. Kasten (1997). Amtleute als Repräsentanten? (S. 712) §§ 557 – 566. Zur Bevollmächtigung der Grafen § 557. Ein Rückschluß auf die Form ihrer Einsetzung ist möglich auf Grund der in den Quellen bezeugten Gleichstellung mit Bischöfen und Reichsäbten (S. 713) – § 558. und mit Vasallen, welche königliche Fisken und Pfalzen verwalteten, ferner mit Herzögen und Markgrafen (S. 715) – § 559. und seit ottonischer Zeit mit Herzögen und Fürsten des Reiches. Die bis ins 12. Jahrhundert hinein beachtete Gleichstellung spricht dafür, daß die Grafen in derselben Weise erhoben wurden wie die anderen Reichsbeamten. Sie ist mit den Grundsätzen des Lehnrechts nicht vereinbar (S. 717) § 560. Die volksrechtliche Gleichstellung aller Richter ließ kein Bedürfnis für den Titel Vizegraf aufkommen. Während die westfränkischen Vizegrafen aufhörten, königliche Amtleute zu sein, (S. 718) – § 561. empfingen die ostfränkisch-deutschen Gau- und Dinggrafen auch dann eine königsgleiche Ermächtigung, wenn sie als Untergrafen von Herzögen oder Großgrafen amtierten. Benennung der Grafschaften nach ihnen erst seit der Mitte des 11. Jahrhunderts (S. 720) – § 562. Untergraf Heimo in der bayerischen Ostmark (888). Königlicher, herzoglicher und gräflicher Komitat: Jede Weitergabe der Grafenrechte minderte deren Umfang (S. 721) – § 563. Nicht eine direkte königliche Bannleihe, sondern nur das Dynastenprivileg und die Annehmung durch einen Untertanenverband können die Gleichstellung aller Richter als comites gerechtfertigt haben (S. 723) – § 564. Weitere Hinweise auf das Recht des Dingvolkes an seiner Grafschaft (S. 725) – § 565. Indigenatsrecht und Dynastenprivileg waren Freiheitsrechte des Volkes und daher nicht geeignet, ein gräfliches Erbrecht am Amte zu begründen (S. 726) § 566a. Folglich konnte allodiale oder autogene Gerichtsherrschaft dadurch entstehen, daß neugegründete Gemeinden adlige Richter über sich erhoben, ohne dazu die königliche Erlaubnis einzuholen. Erkannte bereits das Immunitätsprivileg (S. 727) – § 566b. das Dasein solcher nichtköniglichen Richter an? Besaßen diese eine Banngewalt? (S. 728)
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Siebzehntes Kapitel Bestallung und Belehnung II: Königlicher, herzoglicher und bischöflicher Komitat §§ 567 – 572. Übertragung königlicher Komitate auf Bischofskirchen im 11. Jahrhundert § 567. Welchem Zwecke diente die Übertragungspolitik? Waren auch die Grafschaftsvölker an ihr interessiert? (S. 731) – § 568. Auch wenn nicht als Petent genannt, ist der Bischof der begünstigten Kirche als Urheber der Übertragung anzusehen (S. 732) – § 569. Die Grafschaftsvölker müssen vorher zugestimmt haben, damit der Bischof an die verfassungsmäßige Stelle des Königs treten konnte (S. 733) – § 570. Die Grafschaftspolitik Erzbischof Adalberts von Bremen ging von falschen Ansichten über die bremische Immunität und die Verfassung des Bistums Würzburg aus (S. 735) – § 571. Daher schlug sie trotz königlicher Übertragungen fehl: Die Zustimmung der Grafschaftsvölker blieb aus (S. 737) – § 572. In der Regel handelten die Bischöfe als Worthalter des Volkes, zumal dieses auch die königlichen Rechte an seiner Grafschaft zu wahren hatte (S. 738) §§ 573 – 575. Eigentum und Leihe nach volks- oder öffentlichem Recht § 573. Der königliche comitatus ein veräußerliches Hoheitsrecht. Das Recht des Inhabers konnte zwar mit (privatem) Eigentum verglichen, aber als königliches Recht nicht damit identifiziert werden (S. 740) – § 574. Nur der König und die Reichskirchen waren fähig, Reichsrechte auf ewig und in proprium innezuhaben, natürliche Personen konnten sie nur leihweise oder in beneficium halten (S. 741) – § 575a. Denn die Volksrechte waren zwar imstande, die Reichskirchen als unsterbliche Institutionen aufzufassen, (S. 742) – § 575b. aber die partikularen Untertanenverbände und deren Häupter galten ihnen als vergängliche Verbandspersonen und sterbliche Individuen (S. 744) §§ 576 – 580. Königlicher, herzoglicher und bischöflicher Komitat § 576. Inhalt des den Bischofskirchen in proprium übertragenen königlichen Komitats war das Recht, die Grafenwahl zu lenken, den Gekorenen zu bestallen und den gräflichen Fiskus zu nutzen (S. 745) – § 577. Dieselben Komitatsrechte hielten in ihren Gebieten Herzöge, Mark- und Großgrafen in beneficium. Die Übertragung stellte die Bistümer den (niederen) Dukaten gleich (S. 747) – § 578. Die Verfassung der betroffenen Grafschaften und die Rechte der amtierenden Grafen wurden davon nicht berührt. Das Herzogtum Würzburg und seine Zentverfassung beruhten nicht auf der Übertragung königlicher Komitate, sondern auf dem Willen des Landes (S. 749) – § 579. Dem Bistum Bremen konnte es nicht als Vorbild dienen, weil es kein Land Bremen gab. Mit Auflösung der Gaugrafschaften in Cometien endeten die königlichen Übertragungen (S. 750) – § 580. Dem Könige verblieb eine Rechtsaufsicht über die veräußerten Grafschaften: Er konnte die Übertragung widerrufen und erwählten Grafen im Falle mangelnder Eignung den Königsbann verweigern (S. 751) §§ 581 – 583. Mehrfacher Sinn der Grafschaftsschenkungen § 581. Nicht nur das Interesse des Königs und der Bischöfe, sondern auch das der Grafen und Grafschaftsgemeinden ist zu berücksichtigen: etwa an Reichsunmittel-
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barkeit (S. 753) – § 582. und Konservation ihrer Verfassung: Die Bischöfe waren leichter zu beeinflussen als der oft ferne König. Ihrerseits festigten sie ihren Einfluß auf die Reichsregierung und den Vorrang vor den Laienfürsten (S. 755) – § 583. Der König hatte das Reichsinteresse zu wahren. Dieses gebot ihm, die Grafschafts- an die Vogteiverfassung anzugleichen und Ersatz für die verschwindenden vizeköniglichen Herzogtümer zu schaffen (S. 757) §§ 584 – 589. Keine Belehnung der Grafen im hohen Mittelalter § 584. Die Erhebung der Gau- und Dinggrafen unterlag dem Volks- und königlichen Amtsrecht. Die herrschende Lehre identifiziert dessen Benefizialrecht irrigerweise mit (vasallitischem) Lehnrecht (S. 758) – § 585. Die Quellen dagegen unterscheiden genau zwischen Lehngut und Amtsgewalt. H. Mitteis’ Bedenken sind zwar fruchtlos geblieben, (S. 760) – § 586. aber die herrschende Lehre behauptet sich nur noch in Ermangelung einer besseren (S. 761) – § 587. Vergabung von Grafschaften in der Rechtsform des vasallitischen Lehens ist auch nicht aus den Akten der Reichsteilung von 837 zu erweisen (S. 763) – § 588. Diese berichten von der öffentlichen Erhebung eines Unterkönigs nach Volksrecht (S. 764) – § 589. Erst F. L. Ganshof (1944 / 1961) führte die lehnrechtliche Interpretation der Akten ein. Dagegen S. Reynolds (1994 / 1997) und B. Kasten (1997) (S. 766) §§ 590 – 598. Zum Eindringen feudaler Institutionen in die Reichsverfassung im 12. bis 14. Jahrhundert § 590. Die Grafschafts-, Ämter- und Reichsverfassung des hohen Mittelalters widersetzt sich der lehnrechtlichen Interpretation. Wegen der Kur- und Annehmungsrechte der Untertanenverbände war sie sowohl volksrechtlicher als auch öffentlichrechtlicher Natur. Erst das Erlöschen dieser Rechte verwandelte die königliche Bestallung in eine Belehnung (S. 768) – § 591. Die volksrechtliche Verfassung der Grafschaften war noch im 12. Jahrhundert intakt: 1135 Luxemburg, 1158 Lisgau (S. 770) – § 592a. Die Anwendung lehnrechtlicher Denkformen auf die Reichsverfassung ging von Italien aus: Reichstag zu Besançon 1157 (S. 771) – § 592b. und kaiserliche Sentenz über Vergabe von Reichsrechten iure feodali 1170 (1157) (S. 773) – § 593. Das ius feodale verbreitete sich zusammen mit dem römisch-kanonischen Recht. Obwohl es auf Reichskirchen einfacher anzuwenden war als auf weltliche Fürstentümer, (S. 775) – § 594. gelang es der Reichsregierung bis 1180, auch diese ihm subsidiär zu unterwerfen und damit einen Stand der Reichsfürsten aus der Gesamtheit aller Fürsten auszugrenzen (S. 776) – § 595. Mit- und Interimsregierung der Fürsten im Reiche seit dem Investiturstreit. Seit 1198 reservierte sie den Kronvasallen das Recht der Königswahl. Seither zogen sich Grafen, Herren und Völker vom Reiche zurück (S. 777) – § 596a. Die Verfassung des Reichsfürstenstandes beruhte nur zum Teil auf Lehnrecht (paradox die Einbeziehung des fürstlichen Eigengutes in das Lehnsverhältnis), (S. 778) – § 596b. im wesentlichen jedoch auf Land-, namentlich auf Einungsrecht. Das ius feodale ein Fremdkörper in der Reichsverfassung (S. 779) – § 597a. Der Einfluß fremder Rechte rief volksrechtlichen Widerstand hervor, dieser getragen von Laien mit lat. Schulbildung. Eike von Repgow stellt die Reichsverfassung nicht im Lehn-, sondern im Landrecht dar (S. 781) – § 597b. Eike kennt keine feudale Ämterleihe: Belehnung ein neues Synonym für Bestallung. Gegensätze zwischen alter volks- und neuer lehnrechtlicher Auffassung (S. 782) – § 598. Seit dem 13. Jahrhundert zerfiel die Handlungskette, die zuvor die Beamtenerhebung geformt
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hatte. Das Volk zog sich vom Reiche in den Kommunalismus zurück. Dies nutzte die Reichsregierung aus, um Fürstentümer und Grafschaften in Lehen im sachenrechtlichen Sinne umzudeuten (S. 784)
Achtzehntes Kapitel Die Großen und die Reichsregierung §§ 599 – 601. Funktion und Vollmacht der Großen § 599. Interims- und Mitregierung der Großen beruht auf germanischem Reichsrecht. Der Funktionsbegriff „Große“ nach frankolat. und ahd. Sprachgebrauch (S. 787) – § 600. Funktion und Vollmacht der Großen beruhen nicht auf königlicher Beamtung, sondern auf dem Vertrauen des Volkes daheim und in der Reichsversammlung (S. 788) – § 601. Karl der Große erkennt das Mitregierungs- und Königswahlrecht des Volkes und der Großen an. Vox populi vox Dei (S. 790) §§ 602 – 610. Die Reichsregierung nach Adalhard und Hinkmar § 602a. Regierungsweise der frühen Karolingerzeit: König und Fürsten als Amtleute des Reichsvolkes und seiner res publica (S. 792) – § 602b. Publicus heißt, was dem Volke bekannt ist (S. 793) – § 603. Res publica und civitas als res populi nach Cicero und Augustinus (S. 794) – § 604. In dieser Definition konnte Hinkmar den Staat der Franken wiedererkennen. Den Volkssprachen fehlte für res publica ein Begriff. Stellung und Funktion der Großen nicht an Reichsämter gekoppelt (S. 795) – § 605. Die beiden Staatsteile: totius regni status d. h. königlicher Hof und Hofbeamte, totius regni confoederatio d. h. Einung oder Genossenschaft der Untertanen (S. 796) § 606. Erster Staatsteil: Auswahl der Hofbeamten nach regionaler Herkunft. Der Hof ebenso eine Einrichtung des Reichsvolkes (S. 799) – § 607. wie der zweite Staatsteil: Die Reichsversammlung als Ort der vom Könige unabhängigen Mitregierung der Großen. Generalitas maiorum / populi und ihre seniores und minores (S. 800) – § 608a. Die proceres regni / seniores sowohl Berater des Königs als auch Worthalter der Regionen und minores. Referenzrecht? (S. 802) – § 608b. Den minores obliegt es, die Reichsbeschlüsse in den Regionen zu publizieren (S. 803) – § 609. Periodizität der Versammlungen und Ladungsgehorsam. Aufgaben des Königs. Auswahl der königlichen Berater. Tagesordnung. Mehrheitliches und einhelliges Beschließen (S. 804) – § 610. Der Rat der Großen eine freie Einung, obwohl der König die Reichsgeschäfte führt und die gemeinsame Willensbildung lenkt (S. 805) §§ 611 – 619. Die Reichsregierung nach Nithard I: Die Großen und das Volk § 611. Nithard der Staatsmann und Schriftsteller. Seine laikale und empirische Denkweise (S. 807) – § 612a. Sein Sprachgebrauch: primores und primates. Gruppen der einzeln Genannten und Übrigen. Ihre Stellung beruht nicht auf öffentlicher Beamtung, sondern auf Einungsrecht (S. 808) – § 612b. Die Einung paktiert mit dem König: Herrschaftsvertrag, Straßburger Eide (S. 809) – § 613. Synonymer Gebrauch der Worte primores und populus: Nithard identifiziert die Großen mit dem Volke, dessen Wort sie halten. Volk heißt sowohl die Landesgemeinde (Untertanenverband) als auch dessen Landtag (Reichsversammlung) (S. 811) – § 614. Das einige Reichsvolk
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ist christliches oder Volk Gottes, Uneinigkeit der Teilvölker zerstört beides. Der König gleich den Großen ein Glied seines Volkes. Auch die Heeresversammlung war das Volk (S. 812) – § 615. Synonyme zu populus: plebs, multitudo, omnes, cuncti, (rex) et sui (S. 813) – § 616. Auch regnum war res populi. Zum imperium gehörten dagegen universi (S. 815) § 617. Die primores identisch mit dem populus und den fideles (regis) qui rem publicam regere consueverant (S. 816) – § 618. Der Untertaneneid darf nicht zum Lehnseid gemacht oder damit vermengt werden (A. Krah) (S. 818) – § 619. Untertaneneid und Einungsrecht. Nithards fideles waren keine Vasallen. Nithard meidet die Worte beneficium und vassus und benutzt homo, senior, commendatus im volksrechtlichen Sinne (S. 820) §§ 620 – 623. Nithard II: Res publica die Reichsgemeinde § 620. Nithard faßt den von unten oder vom Volke her aufgebauten Staat als res publica im Sinne der ciceronianisch-augustinischen Staatslehre auf. Sie zu erhalten ist Pflicht des Kaisers (S. 822) – § 621. Die res publica steht den Regierenden objektiv gegenüber: als Untertanenverband der universi, (S. 823) – § 622. der für sich allein (ohne die Großen) unfähig ist zu wollen und zu handeln (S. 825) – § 623. Für ihn besaßen die Volkssprachen keine Bezeichnung. Res publica id est res populi: ein transpersonaler Sachverhalt. Publica utilitas: Die res publica umfaßt das vom König verwaltete Staatsgut (S. 826) §§ 624 – 631. Res publica und transpersonale Staatsauffassung (9. bis 16. Jahrhundert) § 624. Die Rechtssprache des 9. Jahrhunderts setzt den fiscus publicus / regius mit der res publica gleich: ministerialis / procurator rei publicae. Das Volk muß den fiscus schützen (S. 828) – § 625. In England heißt das Königsgut folcland, seiner Veräußerung müssen die Großen zustimmen. Ostfränkisch-deutsches Reich im 10. und 11. Jahrhundert: Auch regnum ist res publica (S. 829) – § 626. Ebenso in Wipos Bericht über den Herrschaftsvertrag der Italiener mit König Konrad II. (1025): Der Streit mit den Pavesen betrifft nicht die „transpersonale Staatsauffassung“, sondern die Rechtslage des Reichsgutes während des Interregnums (S. 830) – § 627. Regnum gleich res publica bei Lampert von Hersfeld. Waren Veräußerungen konsenspflichtig? Erste Bitten des Königs um Bewilligung von Steuern (S. 832) – § 628. Erste Zeugnisse für die Konsenspflichtigkeit von Veräußerungen aus dem 12. Jahrhundert. Res publica verliert den Bezug zum Volke, wird in Frankreich und England durch corona regni ersetzt (S. 833) – § 629. In Deutschland sind seither die Fürsten das Reich. Veräußerung von Reichsgut bedarf ihres Konsenses (1184) und des Beweises, daß sie dem Reiche nützt (1192) (S. 835) – § 630. Mystifikation des Verfassungsdualismus in England und Frankreich. Daraus entspringt das sogenannte Steuerparadox in der Staatslehre Jean Bodins (S. 837) – § 631. Widerstreit zwischen naturrechtlichem Begriff und historischem Inhalt der Souveränität. Jurisdiktionsprimat. Das Paradox gehört Bodins dogmatischem Denken, nicht seiner historischen Beobachtung an (S. 838) §§ 632 – 641. Nithard III: Die Formen gemeiner identischer Willensbildung § 632a. Als Vermittler zwischen Reichsuntertanenverband und königlicher Regierung bedürfen die Großen einer Vollmacht sowohl von Seiten des Königs (auctoritas;
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Bürgschaft für den König) (S. 840) – § 632b. als auch von Seiten der Völker. Deren Interessen bestimmen die Reichsteilungspolitik (S. 841) – § 633. Die Großen bilden sich in freier Einung einen Gemeinwillen (electio, eligere, velle), der für den König verbindlich ist (S. 842) – § 634. Die Reichsverfassung gegründet auf einiges Rechtsbewußtsein, Frieden, Eintracht gemäß göttlichem Recht und gemeinem Nutzen. Der König leitet die Willensbildung. Sein Ladungsrecht und die Versammlungsfreiheit der Großen (S. 844) – § 635. Die Großen schaffen den Gemeinwillen, indem sie Meinungen, sententias, zu pax und concordia übereinstragen, consentire, convenire (S. 845) – § 636. Parteimeinung erzeugt Tyrannei. Necessitas und communis utilitas befördern den Konsens: convenire, concilium, conferre. Die Bischöfe befinden als Berater über Rechtmäßigkeit des Gemeinwillens (S. 847) – § 637. Konsens und Einmütigkeit vollenden den Vertrag über Frieden und Recht. Nithard bedient sich der Rechtssprache seiner Zeit; in ihr spiegeln sich die Regeln der identischen Willensbildung wider (S. 849) – § 638. Der allgemeine Konsens entsteht als Vertrag, foedus, pactum, der Großen unter sich und mit dem König. Er schreibt den Herrschaftsvertrag fort. Aliquem ditioni addicere, alicuius ditioni se subdere, amicitia, foederati (S. 850) – § 639. Das Volk ist berechtigt, den wortbrüchigen König zu verlassen: regem dimittere und Synonyme. Der König zugleich Herr und Genosse der Untertanen. Das Volksrecht beschränkt seine Gewalt (S. 852) § 640. Der Vertrag von Coulaines (843) ist in der von Nithard benutzten Rechtssprache abgefaßt. Es war nicht neu, daß durch ihn die Einung der Großen dem Könige ihren Willen aufnötigt (S. 853) – § 641. Die Reichsversammlungen des Ostfränkischdeutschen Reiches halten bis zum Ende des Mittelalters an den karolingischen Formen des Paktierens und Konsentierens fest. Durch das Rechtsmittel der Protestation sichern sie sie gegenüber dem Gewaltanspruch Kaiser Karls V. (S. 855)
Neunzehntes Kapitel Der Reichsuntertanenverband §§ 642 – 645. Amtskönigtum und Untertanenverband § 642. Das Königtum höchstes vom Volke zu vergebendes Amt. Seine Amtsgewalt nicht eigentlich Herrschaft, da auf den Beistand des Volkes und nicht auf eigenständige Befugnisse und Machtmittel gegründet, (S. 859) – § 643. wie die herrschende Lehre annimmt. Mystifikation der Herrschaft nicht Sache des Volkes, sondern der Gelehrten (S. 860) – § 644. Germanisches Heer- und Gefolgschaftskönigtum. Nach erfolgreicher Landnahme konstituiert sich das Heervolk als Staats- oder Reichsvolk (S. 861) – § 645. und als Untertanenverband mit der Pflicht, weitere Könige zu erheben. Die Macht verschiebt sich vom König zum Volke, das sich während des Interregnums wie eine freie Einung verhält (S. 862) §§ 646 – 650. Die königliche Vasallität § 646. Heerkönigtum, Gefolgschaft, Untertanenverband, Wahlkönigtum und Untertaneneid bei den Franken. Hausmeier und Herzöge bedrohen die Einheit (S. 864) – § 647. Karolinger und fränkisches Volk stellen die Reichseinheit wieder her. Die Erfindung des Reiterkriegers führt zur Scheidung der Bauern von den Rittern (S. 865) – § 648. Ausstattung der Reiterkrieger mit Staatsgütern war nur zu Leiherecht möglich.
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Einführung der Benefizial- oder freien ritterlichen Bodenleihe (S. 867) – § 649. Die Kriegsdienstpflicht der Lehnsmannen beruht auf Volksrecht. Lehnsmannen auf Reichskirchengut. Eigentum gewährt höheres Ansehen als Lehnsbesitz (S. 868) – § 650. Die Treupflicht des Lehnsmanns ist zugleich allgemeine Untertanenpflicht. Sie bedarf der Bestärkung durch Kommendation in die Vasallität (Handgang). Treupflichten des Lehnsherrn. Die vasallitische Dienstpflicht ein Makel, weil der Untertanenfreiheit abträglich (S. 869) §§ 651 – 653. Vasallität und Reichsuntertanenverband § 651. Hat die Vasallität den Untertanenverband zerstört? Paul Roth (1863): Gesetzlich geordneter Untertanenstaat und privatvertraglich verfaßter, gesetzloser Lehnsstaat (S. 871) – § 652. Die Existenz dieser Staatsformen ist empirisch nicht nachweisbar. Der Untertanenverband von Anfang an partikuliert und gestuft und von unten her nach Einungsrecht erbaut. Keine Königsfreiheit der Untertanen (S. 872) – § 653a. Der Staat kein auf Gewalt gegründetes Herrschaftsverhältnis (M. Weber), sondern aus vereinbartem Gemeinwillen entspringende Schöpfung des seiner Regierung mächtigen Volkes (H. Arendt) (S. 874) – § 653b. Daher das Volk berechtigt, die Regierung zu kontrollieren und sie, wenn unfähig oder böse, zu verlassen (R. Popper). Der Politikwissenschaft ist der Beitrag des Mittelalters zur Entwicklung dieser Staatsform unbekannt (S. 876) §§ 654 – 661. Die allgemeine Vereidigung der Untertanen von 789 § 654. Der Reichsuntertanenverband in der Inscriptio der Königsurkunden. Doppelter Sinn des Wortes fidelis (S. 877) – § 655. Die Gemeinde der Getreuen Christi und des Königs im 9. Jahrhundert: Personenvielheit und universitas (herrschaftliche Genossenschaft) (S. 879) – § 656. oder generalitas populi. Die Verschwörung der Thüringer problematisiert Königsmacht und Untertanentreue (S. 880) – § 657. Daher die Kapitulargesetze von 789 betreffend Verbot von Gildeeiden und Vereidigung aller Untertanen. Dem mußte das Volk zustimmen, vermutlich wegen des Herrschaftsvertrages von 768 (S. 882) – § 658. Der Eid nicht nur Treu-, sondern auch Gehorsams- und Dienstversprechen nach Maßgabe des im Herrschaftsvertrag anerkannten Volksrechts (consuetudo) (S. 884) – § 659. Davon abweichende Rechtsauffassung der aufständischen Thüringer (S. 885) – § 660. Die Satzung von 789 erneuert den Herrschaftsvertrag von 768. König und Volk zur Huld verpflichtet. Amtseid des Königs (zuerst 858 bezeugt). Wieviele Männer haben den Eid wirklich geleistet? (S. 886) – § 661. Das Reich nicht von persönlichen Bindungen Einzelner an den König, sondern vom Königswahlrecht des Volkes zusammengehalten. Der Eid konstituiert den Reichsuntertanenverband (S. 888) §§ 662 – 665. Zum Stande der Forschung § 662. Die Forschung urteilt darüber anders, allerdings ohne Kenntnis der Regeln identischer Willensbildung und des Staatsaufbaus von unten her. O. Gierke. G. Waitz: Macht und Majestät als Quelle des Königsrechts (S. 889) – § 663. E. Mayer: Der Untertaneneid ein Machtmittel des Staates (S. 890) – § 664. G. von Below: Der Reichsuntertanenverband sichere zwar die Öffentlichrechtlichkeit des Königtums, sei aber weder souverän noch von der Königsgewalt unabhängig (S. 892) – § 665. von Below ersetzt das Paktieren des Königs mit der Reichsgemeinde (den Herrschaftsvertrag) durch ein System von Reflexrechten unbekannter Herkunft. Die landes-
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geschichtliche Schule kleidet die patrimoniale und katatektonische Staatsauffassung in die Lehre von der Adelsherrschaft, aber in deren Rahmen bleibt der Untertaneneid unerklärlich (S. 893) §§ 666 – 673. Die zweite allgemeine Vereidigung von 802 § 666. Instruktion für die Königsboten. Warum erstreckt sich die Treupflicht nicht mehr auf den Königssohn? Bezug zum Herrschaftsvertrag? (S. 895) – § 667. Karl bekennt sich zu den königlichen Amtspflichten, bevor er den Treueid einfordert. Der negative Treuebegriff lediglich eine volksrechtswidrige Parteimeinung (S. 896) – § 668. Die sieben positiven Treuepflichten. Königsschutz für Wehr- und Waffenlose, darunter Kaufleute. Alle müssen die Friedensordnung wahren (S. 898) – § 669. Kann die Vergleichsklausel „treu wie jedermann seinem Herrn sein soll“ auf das Lehnsverhältnis bezogen werden? G. Waitz, (S. 900) – § 670. F. Kern, H. Mitteis, F. L. Ganshof. Lehns-, Amts- und Untertaneneid enthielten verschiedene Vergleichsklauseln (S. 901) – § 671. P. Petot (1927) über die volksrechtliche Bedeutung von lat. dominus, als vom Volke erhobener König, (S. 903) – § 672. und lat. homo, als Vasall, freier Untertan und königlicher Amtmann, synonym mit fidelis. Es gab noch kein vom Volksrecht abgesondertes Lehnrecht, das jenem zum Vorbilde hätte dienen können (S. 904) – § 673. Vielmehr war die volksrechtliche Treupflicht Quelle und Vorbild für die Vasallentreue, speziell für die Pflicht zu raten und zu helfen. Die Treue ist auf die identische Willensbildung und den Reichsuntertanenverband zu beziehen (S. 905) §§ 674 – 680. Der Reichsuntertanenverband im hohen und späten Mittelalter § 674. Vor dem 12. Jahrhundert gab es weder ein Lehnrecht, das das Volksrecht, noch Vasallenverbände, die den Untertanenverband hätten durchbrechen können (S. 907) – § 675. Keine Verschmelzung der Kommendation mit der Benefizialleihe zu einem einzigen Rechtsgeschäft (S. 909) – § 676. Das Lehnswesen diente der Mobilisierung von Reiterkriegern im Rahmen der volksrechtlichen Heeresverfassung. Es blieb ohne Einfluß auf die Friedensverfassung der Grafschaften und des Reiches (S. 910) – § 677. Der Zerfall der beiden Kaiserreiche hatte keine verfassungsrechtlichen, sondern politische Ursachen. Der Bestand der Reichsgemeinde hing nicht von allgemeiner Vereidigung der Untertanen ab (S. 912) – § 678. Der Untertanenverband blieb Adressat der öffentlichen königlichen Gebote. Diese anzunehmen und zu befolgen war Untertanenpflicht (S. 913) – § 679. Treueide verpflichten nicht nur die Großen, sondern alle Freien und Grafschaftsgemeinden. Die Treupflicht ging der Lehnstreue vor: Herzog Ernst II. von Schwaben. Daher Ligeität der Vasallen nicht erforderlich (S. 915) – § 680. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ging zwar die politische Einheit des Reiches, nicht aber die verfassungsmäßige Einheit des Reichsuntertanenverbandes verloren. Rheinischer Bund (1254) und Königsgericht (S. 916)
Zwanzigstes Kapitel Mystisches Königtum §§ 681 – 685. Volksrechtliches und theokratisches Amtskönigtum § 681. Volksrechtliche Auffassung des Amtskönigtums, getragen vom sensus communis und consensus omnium, und Glaube des hohen Klerus an ein theokratisches
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Königtum. Volksrecht und Volkskultur behaupten sich gegen die kirchlich beherrschte Hochkultur (S. 919) – § 682. Die universale Kirche sowohl von oben her erbaute göttliche Anstalt (Vormund Gottes) als auch römische Staatsanstalt. Germanische Landeskirchen. Primat und Kirchenrecht der römischen Kirche (S. 920) – § 683. Germanisches Rechtsdenken läßt derartige Mystifikationen nicht zu. Die Bischöfe gehören sowohl der Reichsversammlung als auch der Kirchensynode an (S. 921) – § 684. Sie können sich nach antikem Staatsrecht dem König unterordnen, ihm aber auch nach germanischem Volksrecht als Mitregenten gegenübertreten. Daraus folgt (S. 923) – § 685. die Germanisierung des Kirchenrechts und des theokratischen Amtskönigtums. Dagegen die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts (S. 924) §§ 686 – 689. Die Königssalbung oder Herrscherweihe § 686. Die Erhebung Pippins (751) zum ersten Male um ein theokratisches Zeremoniell erweitert (S. 926) – § 687. Die Hoftheologen konnten die fränkische in der altjüdischen Königserhebung wiedererkennen, weil sie sich David zum Vorbilde nahmen und weil hier wie dort das Volk den König erhob und den Liturgen ermächtigte (S. 927) – § 688. Papst Stephan II. (754) als königlicher Liturg und Worthalter der Römer. Das Volk Getreuer Gottes und des Königs. Hofkapelle und Kanzlei (S. 930) – § 689. Salbungen König Karls (754, 768, 771). Verchristlichung des Formulars der Königsurkunde (Devotionsformel, Invocatio) und des bischöflichen Kriegsdienstes (heiliger Krieg) (S. 931) §§ 690 – 695. Kaiserkrönung und kaiserliche Würde § 690. Kaiserin Irene und König Karl errichten das Amt des römischen Koronators und übertragen es Papst Leo III. (S. 933) – § 691. Die Kaiserwürde ein Prädikat des karolingischen christlichen Großkönigtums. Papst Leo III. krönt Karl nach byzantinischem Recht und Ritus, verschweigt aber seine Auftraggeber. Das Kaisertum ohne Untertanenverband (S. 934) – § 692. Die germanischen Volksrechte kennen weder das Amt des Koronators noch das des Kaisers. Ihnen gilt das Kaisertum als Großkönigtum (über mehrere Regna) ohne Beziehung zu Rom (S. 936) – § 693. Kaiser Karl II. (875) empfängt die Krone nicht mehr nach römischem Staatsrecht aus kaiserlicher, sondern nach germanisch geprägtem Kirchenrecht aus apostolischer Vollmacht (S. 937) – § 694. Nach germanischer Rechtsanschauung enthält sein Kaisertum lediglich eine Kirchenvogtei, die keiner Aufnahme in das weltliche Recht bedarf (S. 939) – § 695a. Das Kaisertum eine politische Zielsetzung für das fränkische und später für das ostfränkisch-deutsche Reichsvolk. Die Volksrechte unzugänglich für die neue Volksfrömmigkeit und die politisch-theologische Doktrin von der translatio imperii und der eschatologischen Existenz des Imperium Romanum (S. 940) – § 695b. Sie weisen den aus der kurialen Translationstheorie abgeleiteten theokratischen Anspruch des Papstes zurück (1198; Reichsweistum von 1252) (S. 942) §§ 696 – 701. Weihe und Wahl: Nachahmung und Verdunklung § 696. Die Weihe fügte zur volksrechtlichen Vollmacht des Königs nichts hinzu. Es war unklar, was sie bewirkte (S. 944) – § 697. Sie schloß sich an die Erhebung an, deren geistlichen Sinn sie offenbaren sollte: Erhöhung des irdischen zum theokratischen Amte. Daher ahmen die Krönungsordines die weltliche Erhebung nach (S. 945) – § 698. P. E. Schramm kehrt das Verhältnis um und bestreitet, daß das Volk den König wählte (S. 947) – § 699. Die Salbung der Königin zielt auf Erzeugung leibli-
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cher Nachkommen des Königs. Diese zur Nachfolge nicht berechtigt, sondern geeignet (S. 948) – § 700. Erst im Spätmittelalter trat der Erbgedanke in den Krönungsordines beherrschend hervor, aber dem Volksrecht blieb er fremd. Auch der Papst empfing seine irdische Amtsvollmacht von den Wählern (S. 950) – § 701. Seither entfaltet sich in Frankreich die gelehrte Mystifikation des Königtums. Dagegen Wahlkönigtum und Wahlkapitulation im Deutschen Reich. Jean Bodin: Erbmonarchie, Souveränität, Absolutismus. Hugo Grotius: Patrimonialstaat (S. 951) §§ 702 – 710. Weitere Verdunklung des Volksrechts durch den romantischen Historismus § 702a. Gegen den Mystizismus behauptet sich das Rechtsbewußtsein des Volkes in den Niederlanden (1581) und in England (1649, 1689). In Frankreich lebt es wieder auf (1789) (S. 953) – § 702b. Romantik und Restauration erneuern die Mystifikation, namentlich das Patrimonialstaatsdogma. F. J. Stahl: Anstaltsstaat (S. 954) – § 703a. O. Gierke: Herrschaftliches Prinzip und Anstaltsstaat im germanisch-deutschen Recht, im römischen Recht, (S. 956) – § 703b. in der Mischform des Ständestaates und im Obrigkeitsstaat der Neuzeit (S. 957) – § 704. Gierkes Staatslehre beruht auf der politischen Theologie des deutschen Protestantismus. F. Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht als scheinbar empirische Begriffe. Ihre Herkunft aus der (S. 959) – § 705. theokratischen Obrigkeits-, Freiheits- und Widerstandslehre Luthers und Calvins. In den Volksrechten war für sie kein Platz (S. 960) – § 706. Der empirische Schein beruht auf der Konstruktion einer christlichgermanischen Weltanschauung als dialektischer Einheit der Gegensätze (S. 962) – § 707. Anstatt der volksrechtlichen Königswahl auf den Grund zu gehen, wehrt Kern ihre Konsequenzen ab (S. 964) – § 708. Kern ordnet die verfassungsmäßigen Rechte des Volkes dem Begriff des Obrigkeits-(Anstalts-)staates unter, indem er daraus königliche Konzessionen macht (S. 965) – § 709. O. Hintze: In soziologischer Sicht tragen der Anstaltsstaat patrimoniale und der Feudalstaat anstaltliche Züge. Th. Mayer: Personenverbands- und institutioneller Flächenstaat (S. 967) – § 710. Seither herrschen Meinungsvielfalt und Begriffsverwirrung (S. 968)
Einundzwanzigstes Kapitel Das Interregnum §§ 711 – 720. Reichsregierung im Interregnum § 711. Während der Interregna gab es keine vollmächtige Regierung: Das Volk mußte das Reich neu begründen (S. 971) – § 712a. Mit dem Reichsvolk blieben die hohen Reichsämter bestehen: die sieben Erzämter, deren Inhaber später als Kurfürsten amtierten, und die regionalen Ämter (S. 972) – § 712b. Ihre Inhaber vom Volke verpflichtet, das akephale Reich zu erneuern und zu regieren und das Reichsgut zu erhalten (S. 973) § 713. Der Reichsuntertanenverband war Eigentümer, der König lediglich Nutzer des Reichsgutes, daher lat. regius = publicus. H. Mitteis’ Annahme, der König habe das Reichsgut in treuhänderischer Gewere gehalten, (S. 975) – § 714. und H. C. Faußners
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These, die volksrechtliche Eigentumsordnung habe die Verfassung des Reichsgutes bestimmt, werden deren öffentlich- oder hoheitsrechtlichem Charakter nicht gerecht (S. 976) – § 715. Reichsgut und königliches Hausgut. Auch der König zur Selbstausrüstung verpflichtet. Die Burg Bamberg war nie Hausgut (S. 978) – § 716. Reichsgut nach dem Eigentümer, Königs-, Herzogs-, Reichskirchen-, Fiskal-, Reichslehnsgut nach dem Verwalter benannt. Pflichten des Eigentümers und des Nutzers. Analogie der Amtsvollmacht zur Gewere (S. 980) – § 717. Aufspaltung der Amtsvollmacht in unveräußerliche Vorbehalts-(Vergabe-, Kontroll- und Heimfalls-)rechte und übertragbare Verwalterrechte (S. 982) – § 718. Hieraus lassen sich alle besonderen Rechtsverhältnisse des Reichsgutes ableiten. Königliche Reservatrechte am Herzogs- und Reichskirchengut (S. 983) § 719. Erneuerung des Königtums. Das zweiteilige (in Kur und Erhebung geteilte) Verfahren beruht auf dem Grundgedanken des Einungsrechts, wonach der einhellig geäußerte Gemeinwille des Reiches für die Kur erforderlich ist. Nach denselben Regeln werden die hohen Amtleute des Reiches erhoben (S. 984) – § 720a. Einhelligkeit der Reichsgemeinde setzt Protestations- und Folgepflicht der Untertanen voraus (S. 986) – § 720b. Thronstreit von 1198 und Parteiwahlen des 14. Jahrhunderts (S. 988) §§ 721 – 730. Wer wählt den künftigen König? § 721. Wähler war das Volk, das als Reichsuntertanenverband verfaßt war und seinen Willen im Wege der identischen Willensbildung äußerte (S. 989) – § 722. Die Regna (Teilreiche) wählen als Verbandspersonen. Sie binden das Wahlverhalten ihrer Häupter an ihre Zustimmung und kontrollieren es genossenschaftlich durch ihre Großen (S. 990) § 723. Ist am Ende des 12. Jahrhunderts die Volkswahl beseitigt und durch die reine Fürstenwahl ersetzt worden? (J. Ficker, H. Mitteis) (S. 992) – § 724. Anders als die Wähler Ottos 1198 beobachten die Wähler Philipps 1199 das hergebrachte Wahlverfahren. Auch weisen sie Ansprüche des Papsttums zurück (S. 993) – § 725. Ottos Wähler machen sich des Verfassungsbruchs und Landesverrats schuldig, mit Berufung auf kanonisches Recht. Papst Innozenz III. entwirft ein kanonistisches Königswahlrecht, welches das Volksrecht bricht (S. 995) – § 726. Die deutschen Fürsten und Völker verweigern dieser kurialen Wahltheorie die Anerkennung (S. 997) § 727. Die Fürsten fahren fort, die Zustimmung der Alt- und Neufreien zur Wahl einzuholen. Wahlen von 1247, 1252, 1256 (S. 998) – § 728. Das Mutwilleverbot des Sachsenspiegels soll eine einhellige Wahl ermöglichen. Sein Königswahlrecht beruht auf Genossenschafts- und Einungsrecht, nicht auf der kurialen Wahltheorie (S. 999) – § 729. Wahlen von 1273, 1292, 1298. Die Absonderung der Kurfürsten von den Fürsten vollzieht sich auf volksrechtlicher Grundlage. Sie wird 1356 durch Reichsgesetz in Auslegung des Volksrechts und um des Gemeinwohls willen geordnet. Das Gesetz bezieht sich auf die allgemeine Untertanentreue und damit auf den Reichsuntertanenverband als Subjekt der gesetzgebenden Gewalt (S. 1001) – § 730. Die Kurfürsten amtieren demnach im Auftrage des Volkes und nach einungsrechtlichen Regeln: Ladung, Kurfrage, Säumnis, Folgepflicht der Minderheit, Konsens der Fürsten und Untertanen, Willkürverbot. Wahl von 1519 (S. 1003)
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§§ 731 – 742. Wer leitet die Wahl und Erhebung des künftigen Königs? § 731. Die Frage ist auf genossenschafts- und einungsrechtlicher Grundlage zu beantworten. Die Leitung ein vom Untertanenverband eingerichtetes Amt. Es gab keinen Stellvertreter des Königs, der es hätte übernehmen können (S. 1005) – § 732. Hatte der alte König einen Sohn, so konnte er, solange er lebte, dessen Erhebung durch Designation einleiten. Trotzdem eröffnete sein Tod ein Interregnum, während dessen die Fürsten zu gesamter Hand regierten: so von 899 bis 911, 983 / 984 (S. 1006) – § 733. und 1056 – 1065. Sie bestellen die Königinwitwe zur Regentin und zum Vormund des minderjährigen Königs. Keine Regentschaft Kunigundes 1024 und Mathildes 1125 (S. 1008) – § 734a. Leitung der Wahl durch die Herzöge der Regna 919 – 925, 1002 (S. 1009) – § 734b. und namentlich in den Nachwahlen von 1002 und 1024 (S. 1011) § 735. Das Volk verpflichtet die Großen gemeinlich, auf die Nachricht vom Tode des Königs hin die Wahl in Gang zu setzen und mit gesamter Hand zu leiten: 1002, 1024. Polyzentrisches Verfahren (S. 1012) – § 736. Vereinbarung der Bewerber über Erfüllung der Folgepflicht. Das Volk stellt die Kurfrage. Kurspruch einzelner Fürsten und Beifall des Volkes (S. 1014) – § 737. Gesamthänderisch handelnde Fürstengruppen leiten die Erhebung der Gegenkönige 1073, 1076, 1081. Der Erzbischof von Mainz nicht als einziger berechtigt, zu laden und zu leiten. Der Papst kann nur als Berater beteiligt werden. Nur eine Minderheit beruft sich auf kanonische Wahlrechtsregeln (S. 1015) – § 738. Die Fürsten gemeinlich leiten die Erhebung von 1125, der Erzbischof von Mainz als erster unter gleichen (S. 1017) § 739. Gelehrte kanonistische Spekulationen bei Otto von Freising (zu 1152) und Erzbischof Adolf von Köln (zu 1198). Die Fürsten gemeinlich leiten die Erhebung Philipps zum König 1198 (S. 1018) – § 740. Sie versammeln sich ungeladen und aus eigenem Antrieb, die Minderheit um den Kölner entzieht sich ihrer Folgepflicht und appelliert unter Bruch der Rechtsgewohnheit an Papst Innozenz III. Dessen kanonistische Wahlrechtstheorie betreffend bestimmte Prinzipalwähler verfehlt das deutsche Wahlrecht (S. 1020) – § 741. Mit dem Recht des Erzbischofs von Mainz auf die erste Kurstimme läßt sich ein Recht desselben auf Leitung der Wahl nicht begründen (S. 1022) – § 742. Lediglich als erster unter gleichen und im Auftrage des Reiches wird er hernach im Kurfürstenkolleg tätig. Die Fürsten weisen jede römische Einmischung in die Wahl und jede Rezeption kanonischer Regeln zurück (S. 1023) §§ 743 – 748. Eignung, Herrschaftsvertrag und Kur § 743. Bedingungen der Wählbarkeit und Merkmale der Eignung für das Königtum. Wie wichtig war die Abstammung der Bewerber und ihre Verwandtschaft mit dem Königshause? (S. 1025) – § 744. Die Frage nach dem Verhältnis des Erb- oder Geblütsrechts zum Wahlrecht ist falsch gestellt. Nur das Wahlrecht war öffentliches Volks- und Verfassungsrecht (S. 1027) § 745. Der Herrschaftsvertrag wird formlos und mündlich errichtet. Vom Volksrecht vorgegebene Kurbedingungen: Achtung der Volksrechte und Mitregierung der Großen (S. 1028) – § 746. Besondere Kurbedingungen werden von den Teilreichen und, zugunsten des kanonischen Rechts, seit 1077 von den Bischöfen formuliert. Erste Wahlkapitulation 1125. Von einzelnen Wählern gestellte Bedingungen. Der Vertrag nicht Rechtsgrund, sondern Bestimmung der königlichen Amtsgewalt (S. 1030) – § 747. Das Volk setzt den Herrschaftsvertrag durch einhelligen Kurspruch und durch
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Annehmung des Gekorenen (Huldigung) in Kraft (S. 1031) – § 748a. Der König erfüllt den Vertrag, indem er den Amtseid leistet und, seit 1198, die Wahlkapitulation beschwört. Das Volk bestallt ihn mit der Huldigung (S. 1033) – § 748b. Der Sachsenspiegel über das Amt des Königs und die Souveränität des Volkes. Der König Herr jedes einzelnen Untertans, nicht jedoch des Reiches (S. 1034)
Zweiundzwanzigstes Kapitel Das Königtum §§ 749 – 752. Bevollmächtigung des Königs § 749. Die Kur einerseits Benennung des Königs, Erfüllung des Herrschaftsvertrags und Bestallung des Königs, andererseits unübersichtliche Kettenhandlung, deren Ergebnis zeichenhaft sichtbar gemacht werden muß durch Krönung, Thronsetzung, Übergabe eines Herrschaftszeichens (S. 1037) – § 750. Die Übergabe hat lediglich deklaratorische Bedeutung. Der König erlangt keine Gewere am Reich. Thronsetzung zu Aachen (S. 1038) – § 751. Als Kettenhandlung bedarf die Kur eines sichtbaren Endpunktes. Diesen beginnt die Königsweihe zu setzen (S. 1039) – § 752. Davon ist die Königswahllehre des Sachsenspiegels bestimmt. Der König allerdings vom Tage der Kur an im Besitz der Amtsvollmacht, daher kein Erwählter deutscher König (S. 1041) §§ 753 – 756. Amtsgewalt und Reichsregierung § 753. Die königliche Vollmacht oder Amtsgewalt heißt Bann. Das Bannrecht der Amtleute ist begrenzt, die Kompetenz des Königs dagegen universal, seine Strafgewalt ungemessen: Verlust der Gnade (S. 1042) – § 754. Dem König obliegt es, die politische Willensbildung des Reiches zu lenken und hierzu im Einvernehmen mit den Großen Reichsversammlungen und Landeshoftage einzuberufen (S. 1044) – § 755. Ordnungsgemäße Ladung setzt Mitteilung der Tagesordnung voraus. Zu laden sind Häupter von Partikularverbänden. Auch Ungeladene sind zugelassen (S. 1045) – § 756a. Der König ferner befugt, die Teilgemeinden zu versammeln und zu leiten. Regierung im Herumreisen und als Abwesenheitsregierung durch Boten und Sendschreiben und durch Gesandtschaften (S. 1046) – § 756b. Der König erfüllt seine Integrationsfunktion (A. Kränzle) nicht nur bei persönlicher Anwesenheit, sondern auch bei Kopräsenz der Großen am Hofe (S. 1047) §§ 757 – 763. Konsens der Großen beschränkt die Amtsgewalt § 757. Die „nie gelöste Frage“, wie die königliche Gewalt beschränkt war, bei G. Waitz und J. Ficker: In welchen Fällen muß der König den Konsens der Großen einholen? (S. 1049) – § 758. und bei F. Kern: Wegen Formlosigkeit sei das Konsensrecht ungeeignet gewesen, königlichen Absolutismus zu verhindern. M. Weber: traditionelles Einverständnishandeln (S. 1050) – § 759. E. Kaufmann (1978) definiert den Konsens als Bindung des Gesetzgebers an die Zustimmung der Betroffenen. Dem widerspricht das Zeugnis der Quellen (S. 1052) – § 759a. J. Hannig (1982) entwirft anstatt der rechtsgeschichtlichen eine machtgeschichtliche Lösung des Konsensproblems, dieses bestimmt als Konflikt zwischen Widerstandsrecht des Adels und theokratischem Herrenrecht des Königs (S. 1054) – § 759b. Seiner Deutung des
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Konsenses als Instrument königlicher Propaganda und adligen Anspruchs auf Mitherrschaft widerspricht der lat. und ahd. Sprachgebrauch der Quellen (S. 1055) § 760. Lat. consensus heißt sowohl die Übereinstimmung Aller als auch die Zustimmung der Einzelnen und Teilgemeinden. Königliches Rechtsgebot (S. 1057) – § 761. Konsens des Volkes und Gebot des Königs schaffen das Gesetz. Altrömische und germanische Staatsauffassung beruhen auf demselben Grunde (S. 1059) – § 762. Anders urteilt die herrschende Lehre. Sie stützt sich auf falsche Auslegung der Begriffe populus und consentire (S. 1060) – § 763a. Es gab kein kraft königlicher Banngewalt geltendes Amtsrecht. In welchen Fällen bedurfte der König des Reiches, und wann genügte der Konsens eines Hoftags oder des Hofrates, um den Gemeinwillen festzustellen? (S. 1062) – § 763b. Man dürfte einerseits zwischen gewöhnlichen, gewichtigen und hochbeschwerlichen, andererseits zwischen Reichs- und Teilreichsgeschäften unterschieden haben (S. 1063) §§ 764 – 768. Gesetzgebung § 764. Die Reichsversammlung unfähig, die Volksrechte zu revidieren und zu bessern. Reichstag zu Aachen 802 / 803 (S. 1065) – § 765. Geltung der Volksrechte hängt nicht vom Beschluß einer Reichsversammlung ab. Auch die Kapitularien waren konsentierte und gebotene Gesetze und ungeeignet, die Volksrechte zu bessern (S. 1066) – § 766. Kein Gegensatz zwischen Königs- und Volksrecht. Ostfränkischdeutsches Reich: Konstitutionen, Rechtssprüche der Stauferzeit, kaiserlicher Machtspruch über das Grundruhrrecht von 1196 (S. 1068) – § 767. Die Entscheidung über das Testamentsrecht des Klerus zu Worms von 1165 kein Gesetz, weil eines einhelligen Weistums des Hoftags ermangelnd, sondern lediglich Bestätigung eines Privilegs der Wormser Kirche (S. 1070) – § 768. Ebenso die Entscheidung über das Testamentsrecht des Klerus zu Mainz von 1173. Schöffen- und Volksgerichte erkennen dieses Recht nicht an (S. 1072) §§ 769 – 782. Landfriedensordnungen 1093 – 1235 § 769. Religiöse und praktische Landfriedensbewegung (S. 1073) – § 770. Neue Auffassung vom Strafrecht: Übergang von der Sühne- zur Strafgerichtsbarkeit (S. 1075) – § 771. Gab es eine Landfriedenspolitik der Reichsregierung mit dem Ziele, die Strafverfolgung zu verstaatlichen? (S. 1076) – § 772. Konnte der König zu diesem Zwecke als Gesetzgeber tätig werden? Was bedeutet ein Gesetz, das der König von den Untertanen beschwören lassen muß? (S. 1077) – § 773. Landfriedensordnungen sind einungsrechtlich gewillkürte Satzungen, die lediglich einen befristeten Sonderrechtszustand innerhalb der Volksrechtsordnung schaffen können, weil diese sich christlich-romanistischer Revision widersetzt (S. 1079) – § 774. Nicht die religiöse, sondern nur die praktische Friedensbewegung hatte Erfolg. Sie wurde vom Rechtsgefühl und Friedenswillen der neufreien Gemeinden getragen, ohne daß der Gesetzgeber hätte tätig werden müssen (S. 1081) § 775. Die schwäbische Friedenseinung von 1093. Rektoren als deren Häupter. Die Eidgenossen verzichten befristet auf bestimmte landrechtliche Befugnisse. Die Einung nicht identisch mit dem Lande (S. 1083) – § 776. Bayerische und schwäbische Friedenseinungen von 1094 und 1104. Rechtszwang gegen Verweigerer des Eides. Die Reichsfriedenseinung vom 1103 vom König nicht geboten, sondern beworben und beschworen (S. 1084) – § 777. Die Überlieferung der Eidesformeln geht auf
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Analytisches Inhaltsverzeichnis mündliche Rezesse der Einungen zurück, die keiner Beurkundung bedurften. Reichsfriedensordnungen von 1125 und 1135. Schwäbische Friedenseinung von 1152 (S. 1086) §§ 778. König Friedrichs I. Aufruf zum Frieden von 1152 ist zwar von der Königskanzlei bearbeitet worden, (S. 1088) – § 779. die beigefügte Friedensordnung dürfte aber auf dem Rezeß einer schwäbischen Einung beruhen. Daher keine Ausfertigung in Diplomform (S. 1089) – § 780. Kaiser Friedrichs Ronkalischer Landfriede von 1158 beruht auf einem Rezeß der italienischen Reichsversammlung, daher weder von der Kanzlei noch in Diplomform ausgefertigt (S. 1091) – § 781. Alle Einwohner müssen diesen Frieden beschwören und den Eid alle fünf Jahre erneuern. Der wiederholte Friedenseid geht im Untertaneneid auf und verleiht dem Frieden unbefristete gesetzliche Geltung (S. 1092) – § 782. Nach Deutschland ließen sich diese Rechtsgedanken nicht übertragen, sie galten hier als Fremdrecht. Das deutsche Friedensrecht blieb vom König beworbenes Einungsrecht, seine Form die des Rezesses (S. 1094)
Dreiundzwanzigstes Kapitel Privilegienrecht §§ 783 – 787. Jurisdiktionsprimat und Privatgesetz im Römischen Reich § 783. Privilegien schaffen Sonderrechte, die der Verallgemeinerung fähig sind. Der königliche Jurisdiktionsprimat entstammt dem Staatsrecht des römischen Imperiums (S. 1097) – § 784. Dort war seine wichtigste Schöpfung das römische Privatrecht. Sein Verfahrensrecht sicherte zudem den Konsens des Gesetzgebers mit dem Willen des Volkes. Veritas precum und Subreption (S. 1098) – § 785. Formvorschriften für Ausfertigung und Publikation der Reskripte. Die kaiserlichen Dekrete sind widerrufbar, ihre Geltung zeitlich befristet (S. 1100) – § 786. Rescripta contra legem. Die Praxis erhöht den Jurisdiktionsprimat zur Legislatur und löst seine Bindung an das Gesetz. Pönformeln (S. 1101) – § 787. Auf dem Boden des Weströmischen Reiches setzen das römische Papsttum und die Könige der Germanen den kaiserlichen Jurisdiktionsprimat fort. Germanischer Gesetzesbegriff (S. 1103) §§ 788 – 794. Der Jurisdiktionsprimat im hohen Mittelalter § 788a. Germanisches objektives Gesetzesrecht begrenzt alle subjektiven Rechte und stempelt alles Privilegienrecht zum Sonderrecht. Es stellt die Gesetzesbindung des Jurisdiktionsprimats wieder her (S. 1104) – § 788b. Verbote gesetzwidriger Bitten und Widerruf erschlichener Privilegien im Fränkischen Reich. Gesetzliche Regelung des Immunitätsprivilegs in Italien (882) (S. 1106) – § 789. Der Jurisdiktionsprimat von der Regulierung des Privatrechts ausgeschlossen und auf Verfassungsrecht beschränkt. Dynastenprivileg (S. 1108) – § 790. Neue Verfahrensformen: Der König entscheidet öffentlich über Petitionen. Konsens und Zeugnis des Hofes und der Intervenienten (S. 1110) – § 791. Neue Formen der Publikation und der Verifizierung in den Volksgerichten (S. 1112) – § 792. Der Abt von Prüm scheitert vor dem Reichsgericht mit dem Versuch, die Privilegien seines Klosters zu publizieren (1102 / 1104) (S. 1114) – § 793. Mitregierung der Großen im Reiche und Publikation vor unabhän-
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gigen Gerichten beschränken die Geltung des Privilegienrechts. Es bedarf späterer Bestätigung (S. 1116) – § 794. Der Grund dafür liegt nicht in technischen Mängeln der Kanzleiexpedition, sondern in der Befristung der königlichen Amtsvollmacht (S. 1117) §§ 795 – 798. Über die Unzulässigkeit der Deduktion von Regalrechten § 795. Aus dem Jurisdiktionsprimat ergeben sich keine materiellen und verleihbaren Regalrechte, namentlich kein Bodenregal (S. 1118) – § 796. Die Annahme eines solchen beruht auf falscher Auslegung der Diplome für Kloster Einsiedeln von 947, (S. 1120) – § 797. von 1018 und von ca. 1090: Diese können niemals erfolgreich publiziert worden sein. Rechtsstreit vor dem Königsgericht in den Jahren 1114 (S. 1122) – § 798. und 1143. Die Lehre vom Bodenregal scheitert am prozessualen Charakter allen Privilegienrechts (S. 1124) §§ 799 – 806. Zur Gesetzgebung Kaiser Friedrichs I. § 799. Blütezeit des Privilegienrechts und der kirchlichen Fälscherwerkstätten im 10. bis 12. Jahrhundert. Seit 1122 bedarf das Reich einer Gesetzgebung (S. 1125) – § 800. Der König führt die Erhebung der Mark Österreich zum Herzogtum 1156 nicht durch Privilegierung, (S. 1127) – § 801. sondern im Wege der Gesetzgebung herbei. Es fehlt an einem Formular für die Beurkundung von Gesetzen. Die libertas affectandi ein Sonderrecht? (S. 1129) – § 802. Anerkennung des Herzogtums Würzburg 1168: Die Reichsversammlung weist die Petition wegen beabsichtigter Erschleichung zurück (S. 1130) – § 803. König und Reich korrigieren die Petition und entscheiden über sie im Wege der Gesetzgebung (S. 1132) – § 804. Einrichtung des Herzogtums Westfalen 1180 im Wege der Gesetzgebung. Die Gelnhäuser Urkunde nicht Privileg, sondern Gesetzesurkunde (S. 1134) – § 805. Sie bestätigt und sanktioniert das von der Reichsversammlung rechtskräftig beschlossene Gesetz als ewig gültige Beweisurkunde (S. 1135) – § 806. Gesetzesurkunden erfordern Deposition in einem Aussteller- oder Reichsarchiv, aber ein solches existierte nicht, da das Volksrecht keine Beurkundung der Gesetze kannte (S. 1136) § 807. Privilegienrecht war nie imstande, das Gesetzesrecht zu durchbrechen. Seine weitere Verwendung in der Neuzeit. Mittelalterlicher und moderner Gesetzesbegriff (S. 1139)
Schlußbetrachtung §§ 808 – 813. Über den Germanismus der Verfassungslehre § 808. Konsensorientiertes Handeln und gemeine Willensbildung kennzeichnen den Staat und das Wesen politischer Macht (S. 1143) – § 809a. Kann die dem zugrundeliegende Staatsidee als germanisch bezeichnet werden, oder als indogermanisch? (S. 1144) – § 809b. Xenophon über die Verfassung eines wandernden Heerhaufens nach hellenischem Recht (S. 1145) – § 810. Dessen Verbandspersönlichkeit dürfte ebenso auf gemeinhellenischem Eidesrecht beruht haben wie die der Stadtgemeinde (polis) (S. 1147) – § 811. Eidesrecht begründet den Gehorsam des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft und den hellenischen Begriff von politischer Freiheit
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(S. 1148) – § 812. J. A. O. Larsen über direkte und repräsentative Regierungsweise in den hellenischen Stadt- und Volksstaaten (S. 1150) – § 813. sowie in Symmachien und Bundesstaaten. Die Staatstheorie erfaßt nur die Demokratie, nicht auch die repräsentative Oligarchie (S. 1151) §§ 814 – 819. Antike Tradition und Mittelalter § 814. Gleichartige Verfassungsprobleme im Altertum und Mittelalter: Stadt- und bundesstaatliches Bürgerrecht, hochbeschwerliche Staatsgechäfte und Konsens des Volkes, Gesetzesbegriff (S. 1152) – § 815. Hellenistische Rückkehr von der demokratischen zur oligarchischen Staatsform (S. 1153) – § 816. Stadtstaaten in Italien. Die Römer verhindern deren Einung in Form eines Bundesstaats (S. 1154) – § 817. In den Provinzen dulden sie jedoch Gemeindeverbände und Repräsentativverfassungen (S. 1156) – § 818. Ging von hier aus eine Realtradition des Staatsaufbaus von unten her ins frühe Mittelalter ein? (S. 1157) – § 819. Dessen Germanismus macht das System identischer Willensbildung zur Grundlage der Staatsverfassung. Sein Verhältnis zur Realtradition antiker politischer Praxis (S. 1159) §§ 820 – 822. Literarische und Realtradition des Mittelalters § 820. Die literarische Tradition antiker Staatstheorie erlosch. Die neue Staatslehre war politische Theologie. Ihr widerstand die Realtradition weltlicher Staatsauffassung (S. 1160) – § 821. bis zur Niederlage des Kommunalismus im deutschen Bauern- und französischen Hugenottenkrieg (S. 1161) – § 822. Seither ist diese Realtradition verschollen. Die von den Humanisten erneuerte antike Staatslehre stützt den fürstlichen Absolutismus (S. 1163) §§ 823 – 828. Rousseau und Kant § 823a. Rousseaus Entdeckung des Gemeinwillens stützt sich nicht auf die verschollene Realtradition, sondern auf Vernunftbegriffe (S. 1164) – § 823b. Rousseau verdammt das Repräsentativsystem als Element der Feudalherrschaft und propagiert das direkte Regiment des Volkes gemäß dem Identitätssystem (S. 1166) – § 824. Kants Lehre vom Geschmacksurteil betrifft auch das politische oder Werturteil (S. 1167) – § 825. Dieses Urteil beansprucht empirische Allgemeingültigkeit gemäß dem Gemeinsinn (S. 1169) – § 826. Ist das Urteil über die beste Verfassung als Geschmacksurteil geschichtlich bedingt? (S. 1170) – § 827. Läßt sich die empirische Bildung eines gemeinen Geschmacks und Willens (durch Stimmenzählung) logisch rechtfertigen? (S. 1172) – § 828. Mitteilbarkeit, Bezug zur Gesellschaft, Einhelligkeit, dialektisches Verfahren der gemeinen Urteils- und Willensbildung (S. 1172) §§ 829 – 834. Max Weber § 829. Politische Niederlage des Liberalismus und Verbannung des Gemeinsinns aus der Hermeneutik verhindern die Wiederentdeckung der verfassungspolitischen Realtradition (S. 1174) – § 830. Neukantianismus und Max Webers soziologische Kategorienlehre. Worin besteht die Reinheit der Idealtypen? (S. 1175) – § 831. Vier Idealtypen sozialen Handelns. Traditional bestimmtes Handeln in Webers Sinne war dem Mittelalter fremd (S. 1177) – § 832. Volkliche Rechtsfindung: charismatische Offenbarung oder rationale Erkenntnnis? (S. 1179) – § 833. Weber bietet keine Theorie der gemeinen öffentlichen Willensbildung: politische Vergesellschaftung beruht auf gewaltsamem Gemeinschaftshandeln (S. 1180) – § 834. Zwar bedingt legitime Geltung
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paktierter Rechtsordnungen Herrschaftsformen rationalen Charakters, aber Weber verkennt deren Gründung auf konsensorientiertes Gemeinschaftshandeln (S. 1182) §§ 835 – 840. Heidegger und Arendt § 835. Martin Heideggers phänomenologische Erfassung der Lebenswelt und Theorie der Seinsverfassung (S. 1184) – § 836. Seinsverständnis und Verständigung in der Auslegung von H.-G. Gadamer: Überlieferung als vernünftiges Vorurteil (S. 1185) – § 837. Hannah Arendts phänomenologische Theorie des politischen Handelns (S. 1187) – § 838. Arendt überschätzt die Bedeutung der literarischen Tradition und verkennt die der lebensweltlichen Realtradition (S. 1189) – § 839. Darunter leiden ihre Auffassung von Konsens, Gemeinwillen und Repräsentation (S. 1191) – § 840. und ihr Urteil über politische Theorie und Praxis des Mittelalters (S. 1192) §§ 841 – 848. Jürgen Habermas § 841. Theorie des kommunikativen Handelns als gewaltfreien, konsens- und verständigungsorientierten sprachlichen Handelns (S. 1193) – § 842. Das Rationalitätspotential dieses Handelns und sein lebensweltlicher Hintergrund. Rationalität und soziale Entwicklung (S. 1195) – § 843. Habermas deutet Prozesse der Modernisierung als Rationalisierungen und rezipiert mit Vorbehalten Webers Theorie der Rationalisierung (S. 1197) – § 844. Mit ihr rezipiert er Webers fragwürdige Begriffe von traditionaler Gesellschaft und traditionalem Recht, (S. 1199) – § 845. vom Mangel diskursiver politischer Willensbildung in vormodernen Gesellschaften und vom Anstaltsstaat. Macht als tauschbares Medium? (S. 1201) – § 846. Daher irrige Bestimmungen des vormodernen Staates als von oben her und ohne Öffentlichkeit erbaut (S. 1203) – § 847. Habermas’ Theorie des Staates und der Herrschaft entbehrt der Basis einer Soziologie des Politischen (S. 1204) – § 848. Die Theorie der Rationalisierung ist in sich widersprüchlich. Die Handlungstheorie kann von ihr getrennt und unter anderem für die Erforschung der mittelalterlichen Realtradition nutzbar gemacht werden (S. 1205) Nachwort: Über die Entstehung dieses Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1209 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1263 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299
Verzeichnis der Abkürzungen a. A., Anm. Abt. ags. ahd. as. Aufl. Bd. bearb. c. Diss. ebd. Ed., ed. G. gest. Hg., hg. lat. lin. mhd. mnd. nd. o. J., o. O. p. pr. S. T., t. UB u. ö. Vol. Z. 2 3
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anno Anmerkung Abteilung angelsächsisch althochdeutsch altsächsisch Auflage Band bearbeitet capitulum Dissertation ebenda (an der unmittelbar vorher zitierten Stelle) edidit, editionem curavit, editio, edition Geschichte gestorben Herausgeber, herausgegeben lateinisch linea, Zeile mittelhochdeutsch mittelniederdeutsch niederdeutsch ohne Jahres- bzw. Ortsangabe pagina, page prooemium Seite Teil, tomus Urkundenbuch und öfter Volumen, Band Zeile ed. secunda, 2. Aufl. ed. tertia, 3. Aufl.
Einleitung
Aufgaben und Ziele der Verfassungsgeschichte
Erstes Kapitel
Gemeinwille und Identitätssystem § 1. Das Wort Verfassung ist nicht besonders alt. Lange schon, bevor es begann, „die von Obrigkeit und Volk angenommene Ordnung behufs Regierung und Verwaltung eines Landes, eines Staates, eines Gerichtes“ (J. und W. Grimm, Wb. Bd. 12 / 1 Sp. 313 f.) oder in der heute üblichen Weise das Staatsgrundgesetz zu bezeichnen, das sich ein Volk selber gegeben hat, konnte man darunter einen schriftlich abgefaßten Text und dessen Inhalt, speziell einen Vertrag, eine Satzung oder eine sonstige Abmachung verstehen, die ihre rechtliche Verbindlichkeit aus der Willkür der Beteiligten, d. h. aus deren freiwilliger Unterwerfung unter das gemeinsam Gewollte oder Verabredete bezog (H. Mohnhaupt 1990 S. 839 f.). Zum ersten Male begegnet uns das Wort in diesem Sinne in einer hessischen Urkunde vom 21. Dezember 1346, in der drei genannte Edelherren und die drei wetterauischen Reichsstädte ein Schiedsgericht wegen ihrer Streitigkeiten über die Pfahlbürger einsetzten. Nachdem Kaiser Ludwig darüber zwischen „beiden Seiten verfaßt“ und mit beiden Seiten geredet hatte, bestimmten die Parteien unter anderem, daß, falls eine von ihnen „diese Verfassung“ binnen zwei Jahren kündigte, die Schiedsrichter doch über alle bis dahin vorgefallenen Streitfälle richten sollten „gleichsam, als ob diese Verfassung noch nicht aufgesagt wäre“ (UB Frankfurt 1836 S. 607 f.). Verfassung bedeutet hier eine Vereinbarung über die gütliche Beilegung eines Rechtsstreites nicht auf den Wegen und mit den Mitteln des allgemein im Lande geltenden Rechtes, sondern gemäß dem gemeinsamen Willen der Parteien, der sich mehr an der praktisch-politischen Zweckmäßigkeit als an der normativen Gerechtigkeit des Verabredeten ausrichtete und deswegen in der gewillkürten Geltung befristet und kündbar sein sollte. Verfassung, so mag man denken, habe im Mittelalter nicht eine gottgewollte und daher auf ewig unveränderliche, sondern eine von Menschen aus übereinstimmendem Willen heraus gesetzte, der Erhaltung ihres gemeinen Willens dienende und nach Bedarf korrigierbare Ordnung bezeichnet. § 2. Freilich stößt, wie schon das junge Datum dieser Urkunde zeigt, eine Verfassungsgeschichte, deren Aufmerksamkeit sich vor allem auf die Formen richten soll, welche die politischen Verbände bei der Bildung und Vollstreckung ihres Ge-
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meinwillens einhielten, was das frühere Mittelalter anlangt, auf ein eigentümliches Stillschweigen der Quellen. Dieses beruht auf zwei wohlbekannten Eigenschaften der geistigen und politischen Kultur jenes Zeitalters, nämlich auf der Mündlichkeit alles profanen (und weiter Bereiche des kirchlichen) öffentlichen Lebens und auf dem Schulmonopol des Klerus. Solange die Laien Analphabeten waren und kein Bedürfnis empfanden, Rechtsnormen, Verträge und Beschlüsse niederzuschreiben, hatte ihr Gemeinschaftsleben keine Chance, dokumentiert und damit der Nachwelt überliefert zu werden. Erst das 13. Jahrhundert in Italien und Westeuropa und das 14. in Deutschland erlebten auf diesem Gebiete den Fortschritt zur Schriftlichkeit – zu einer Zeit, da hier der Königshof bereits aufgehört hatte, im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens zu stehen, und dieses sich in territorialen und ständischen Sonderbildungen verlor. Das ebenfalls bis ins 14. Jahrhundert bestehende Schulmonopol der Kirche verstärkte das Schweigen der Quellen noch dadurch, daß der Inhalt mittelalterlicher Literatur bis dahin so gut wie ausschließlich vom Erkenntnisinteresse der Geistlichkeit bestimmt wurde. Wer schreiben und lesen konnte, dessen Aufmerksamkeit richtete sich auf Theologie und Kirche und verschmähte es, das Gemeinschaftsleben des Laienvolkes und die Rechtsgedanken, denen dessen Willküren entsprangen, zu erforschen. Die „Gleichgültigkeit der Kirche gegen das germanische Staatsrecht färbt sogar auf die Darstellungsweise der mittelalterlichen Historiker ab, die häufig mehr in antik-patristischer Redeweise als in der Denkweise ihres eignen Volkes Staatsvorgänge darstellen“ (F. Kern 1914 S. 144 Anm. 269). Daher kommt es, daß vor dem 17. Jahrhundert kein Gelehrter daran dachte, die germanischen Volksrechte und Königsgesetze oder die deutschen Land- und Stadtrechte zum Gegenstande wissenschaftlicher Bearbeitung und begrifflicher Durchdringung zu erheben. Pflege und Mehrung der das profane Leben regulierenden Rechte lagen während des ganzen Mittelalters in der Hand von Laien, die ihre Kenntnisse durch Zuhören erwarben und mündlich tradierten, bevor einzelne von ihnen im 13. Jahrhundert begannen, sie schriftlich darzustellen, zu einer Zeit also, da der Untergang des deutschen Königtums im Reiche alle Verfassungspolitik zum Stillstande brachte und es ihnen verwehrte, überhaupt noch verfassungsrechtliche Erfahrungen auf Reichsebene zu sammeln. Der königliche Untertanenverband des deutschen Volkes löste sich nun endgültig in ständische und territoriale Teilverbände mit jeweils besonders bestimmten Beziehungen zu deren Gerichts-, Schutz- und Landesherren auf. Aus dem öffentlichen Leben dieser Teilverbände ging denn auch zum ersten Male in Gestalt von Weistümern, Herrschaftsverträgen und Landtagsabschieden, von Stadtrechten und Bürgerrezessen eine fortlaufende Dokumentation von Vorgängen des profanen öffentlichen Lebens hervor, die es uns gestattet, dessen verfassungsmäßig regulierte Formen zu erkennen. Die umfangreichste Dokumentation dieser Art liegt uns in den Rezessen der Ratssendeboten der Städte von der deutschen Hanse aus den Jahren 1256 bis 1537 vor. § 3. Um das Dunkel zu erhellen, das sich unter diesen Umständen über die Bildung und Verfassung allen mittelalterlichen öffentlichen oder gemeinen Willens
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legt, empfiehlt es sich, zunächst im Wege einer vergleichenden Betrachtung den Blick für das Problem zu schärfen. Zu einem solchen Vergleich eignet sich insbesondere die Verfassung der alten römischen Republik, denn sie ist nicht nur quellenmäßig gut bezeugt, sondern auch geschaffen von einem Volke, das innerhalb der indogermanischen Völkerfamilie den Germanen besonders nahestand und mit seinem geistigen und politischen Erbe den Aufbau der germanisch-mittelalterlichen Welt von Anfang an beeinflußt hat. Die ordnungsgemäß geladene römische Volksversammlung (Th. Mommsen 1887 S. 300 – 419; E. Meyer 1961 S. 190 – 202) trat zusammen als ungegliederte conventio oder contio, in der sich jeder Bürger dort aufstellte, wo er wollte oder konnte. Es war dieses eine nicht beschließende Versammlung. Der vorsitzende Magistrat hatte zwar festzustellen, ob oder daß die Versammelten willens waren, über die ihnen mit der Ladung mitgeteilte Frage abzustimmen; auch konnte er Rednern das Wort zu einer öffentlichen Verhandlung über diese Frage erteilen, aber daß die Versammelten bereit waren abzustimmen, das wurde erst dann offenbar, wenn der Vorsitzende sie dazu aufforderte, zur Abstimmung anzutreten (si vobis videtur, discedite quirites), und sie dem nachkamen. Nun wurden die nicht stimmberechtigten Anwesenden weggewiesen (populus summovetur), die übrigen aber – eine die Beschlußfähigkeit bedingende Mindestzahl ist niemals festgesetzt worden – traten auseinander und in Abteilungen (curiae, tribus, centuriae) wieder zusammen zu den herkömmlichen Stimmkörpern (comitia = Zusammentretungen), und jeder einzelne Bürger stimmte in seiner Abteilung mit Ja oder Nein über die vom Magistrat vorgelegte Frage ab. Der darüber wachende Rogator zählte die Stimmen aus und meldete sie dem Vorsitzenden, der nach der absoluten Majorität der stimmberechtigten Abteilungen schließlich den Gesamtbeschluß feststellte. Rechtsgültig freilich wurde dieser erst durch die renuntiatio, nämlich dann, wenn der Vorsitzende – was zu tun in seinem Ermessen stand – ihn durch den Herold öffentlich verkünden ließ. § 4. Der römische Gemeinwille bildete sich demnach im Zusammenhandeln des Magistrats mit dem Volke und der Bürgerschaft. Dem Volke oder der Gemeinde (res publica) legte das römische Staatsrecht insofern eine souveräne Gewalt bei, als (1) Veränderungen der bestehenden Rechtsordnung nur nach ihrer Befragung und Einwilligung stattfinden konnten und (2) der zur Befragung befugte Magistrat seine Amtsgewalt oder Vollmacht (imperium, potestas) vorab von der Gemeinde empfangen hatte. Der mehrheitlich gefaßte Gesamtbeschluß hieß – mit einem Worte, das sprachlich zu lêgare = vertraglich beauftragen gehörte (Thesaurus l. l. vol. VII, 2 col. 1114 lin. 84) – lêx, denn mit diesem Gesetz beauftragten sich Bürgerschaft und Magistrat gegenseitig, und zwar diesen mit der Vollstreckung des Vereinbarten und jene damit, ihm zu den von dem Beamten formulierten Bedingungen zu gehorchen. Die „ungleiche Zweiseitigkeit“ (Th. Mommsen 1887 S. 309), die hier festzustellen ist, erklärten sich die römischen Staatsrechtslehrer mit der Annahme, auf dem
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Felde des ius publicum mangele dem Volke oder der Gesamtheit der Bürger die natürliche Handlungsfähigkeit, die jedem einzelnen Bürger nach ius civile zukam, und daher könne die Gemeinde ihren Gemeinwillen nicht aus eigener Initiative, sondern nur unter Mitwirkung des Magistrates bilden. Der Magistrat war folglich zwar Diener der Gemeinde, gleichwohl aber alleiniger Träger staatlichen Handelns. Als Handlung der römischen Republik wurde demnach angesehen einerseits, was die Magistrate innerhalb der ihnen vom Volke erteilten Vollmacht oder Kompetenz vollzogen, und andererseits, was sie dort, wo diese Vollmacht versagte, in bestimmten Formen mit der Bürgerschaft vereinbarten. Deren Befragung war demnach für jede öffentliche Handlung erforderlich, welche nicht von der Vollmacht oder dem Imperium des Beamten gedeckt war, und umgekehrt: Wo dies der Fall war, da war der Beamte nicht befugt, die Willensmeinung des Volkes einzuholen, hatte dieses also keine Möglichkeit, in seine Geschäftsführung einzugreifen. Mit der Ermächtigung der Magistrate unterwarf sich das Volk im voraus und unwiderruflich deren amtlichen Verfügungen. § 5. Infolge der Unfähigkeit der Bürgerschaft, aus eigener Initiative zu handeln, war das Abstimmen in den Comitien nur möglich als Antwort auf eine von dem Magistrat an die Bürger gerichtete Frage. Da dieser Vorgang „eine zwischen persönlich sich gegenüberstehenden Contrahenten abgeschlossene Verpflichtung“ begründete, war „jede nicht unmittelbar als Antwort auf die Frage sich darstellende Willenserklärung seinem Wesen zuwider“ (Th. Mommsen 1887 S. 402). Weder konnten Handzeichen oder Zurufe diese persönliche Antwort jedes Einzelnen, noch konnte eine geschätzte Mehrheit gleichzeitig erhobener Hände oder Zurufe die Auszählung der positiven und negativen Stimmen ersetzen. Auch war das römische Volk nicht identisch mit den Comitien, die über die Frage des Beamten abstimmten, sondern umfaßte mehr und in der Spätzeit der Republik weit mehr Menschen, als in den Comitien zusammentraten. Dies ergibt sich daraus, daß die nicht ladungsgemäß in Rom erscheinenden Bürger von der Abstimmung ausgeschlossen blieben und daß, wenn die dort erschienenen Bürger zu den Stimmkörpern zusammentraten, wenn sich also die nicht gegliederte contio in die gegliederten comitia verwandelte, der Magistrat das Volk vom Platze verweisen ließ. Nicht der populus beschloß; der in der conventio oder im Theater oder wo immer sich kundgebende Volkswille existierte zwar als öffentliche Meinung oder faktischer Gesamtwille (consensus populi) und konnte sowohl eine allgemeine Billigung des formalen Beschlusses der comitia als auch das Gegenteil ausdrücken, aber staatsrechtlich kam diese Zu- oder Mißstimmung des Volkes nicht in Betracht: Als Beschluß der Gemeinde galt einzig und allein der Beschluß der Mehrheit ihrer verfassungsmäßig geordneten und jeder für sich beschließenden Teile. Die Comitien waren also nicht das Volk, sondern sie vertraten es derart, daß die hier ordnungsgemäß erschienenen Bürger durch ihren Beschluß auch die Abwesenden und alle Nachgeborenen banden (lege populus tenetur): Das Volk mußte sich den Willen der Comitien als den seinen zurechnen lassen. Zufolge der allgemeinen
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Regel, wonach jeder öffentliche Akt coram populo zu vollziehen war, lassen sich verschiedene Grade dieser Vertretungsmacht unterscheiden. Bei seinen gewöhnlichen Geschäften sah der Magistrat das Volk bereits als von denen vertreten an, die zufällig anwesend waren oder hinzukamen. Einen höheren Grad erreichte er demgegenüber, indem er eine Amtshandlung vor berufener contio vollzog, nämlich nun in Anwesenheit aller derer, die dabeisein wollten. Der Vollzug vor den comitia schließlich bewirkte, daß darüber hinaus jeder Teil der Bürgerschaft vertreten sein mußte und somit das Volk in seiner Gesamtheit beteiligt wurde (Th. Mommsen 1887 S. 308; E. Meyer 1961 S. 191). § 6. Die Vollmacht der Komitien, ihrerseits das Volk zu vertreten, war insofern grenzenlos, als ihre Willens- und Beschlußfähigkeit immer dann gegeben war, wenn (1) die Zweiseitigkeit des Aktes, (2) die Mitwirkung stimmberechtigter Bürger und (3) die verfassungsmäßige Gliederung der Bürgerschaft eingehalten wurden, mochten es auch noch so wenige Bürger sein, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, und namentlich in der Spätzeit der Republik pflegte deren Zahl sehr gering zu sein. Über die Zweck- und Rechtmäßigkeit und den Begriff einer solchen Vertretung des Volkes haben sich weder die alten noch die modernen Lehrer des römischen ius publicum den Kopf zerbrochen. Wir sprechen mit einem den Alten in diesem Sinne noch nicht geläufigen Ausdruck (H. Hofmann 1998 S. 38 – 47) von Repräsentation, und zwar insofern, als (1) vertretener populus und vertretende comitia sowohl im praktischen Verfahren der Willensbildung als auch im Rechtsbewußtsein der Römer eindeutig voneinander geschieden waren, (2) die Beschlüsse der Vertreter auch die abwesenden Römer unanfechtbar verpflichteten und (3) das Vertretungsverhältnis (ebenso wie die den Magistraten vom Volke erteilte Ermächtigung) gesetzlich geregelt war. Denn wenn die Römer auch kein Verfassungsgesetz besaßen, so war doch eine Veränderung ihres hergekommenen Staats- oder Verfassungsrechtes nur im Wege der Gesetzgebung möglich. § 7. Wenden wir uns nun, im Besitze dieser Kenntnisse über die altrömische Verfassung, der Willensbildung mittelalterlicher Personenverbände zu, so fällt uns zunächst ein sehr wesentlicher Unterschied ins Auge. Im Mittelalter nämlich gab es nicht nur von Königen geführte (monokephale) Personenverbände, die insofern mit der römischen Republik verglichen werden können, als die königliche Banngewalt sehr genau dem magistratischen Imperium entsprach, wie ja dieses Imperium einst selbst eine königliche Vollgewalt gewesen war, bevor die römischen Geschlechter das Königtum beseitigt und dessen Vollmacht auf die jährlich wechselnden und kollegialisch amtierenden Magistrate verteilt hatten – im Mittelalter gab es nicht nur von Fürsten abhängige, sondern auch freie, jedes individuellen Hauptes entbehrende (akephale) Personenverbände, zu denen sich in der römischen Welt keine Entsprechungen finden. Und nur die monokephalen Personenverbände zeigten gewisse, in der Natur der Sache begründete Übereinstimmungen mit der römischen Republik, etwa (1) in
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der Existenz von Versammlungen, die den Gemeinwillen im Zusammenhandeln mit dem fürstlichen Haupte derart ausbildeten, daß keine von beiden Seiten für sich allein die Rechtslage zu ändern vermochte, (2) in den Formen ihres Zusammenwirkens derart, daß das Oberhaupt die Versammlung um ihre Rechtsweisung befragte und das erteilte Weistum sanktionierte, oder (3) im Aufbau der Versammlungen derart, daß sich ein engerer Kreis persönlich votierender vornehmer Kurpersonen, Urteiler, Rat- oder Zeugnisgeber und ein weiterer Kreis gemeinsam zustimmender namenloser Personen (als Volk) voneinander sonderten. Im einzelnen jedoch ergeben sich zwischen beiden (um von den akephalen Verbänden des Mittelalters zu schweigen) freilich die auffälligsten Unterschiede, ja Gegensätze; sie alle lassen sich jedoch auf eine und dieselbe Ursache zurückführen, nämlich darauf, daß der mittelalterliche Gang der Willensbildung nicht gesetzlich geregelt war. Dies hatte zur Folge, daß die Beteiligten das Verfahren jederzeit den etwa gegebenen besonderen Umständen des Augenblicks anpassen konnten. So hat man von der Königserhebung sagen können, sie sei „eine Bekundung des spontan geäußerten Volkswillens“ gewesen und ein Akt, „der keine festen Regeln kannte, weil er als festliches Erlebnis von Fall zu Fall neu gestaltet, improvisiert wurde“ (H. Mitteis 1944 S. 15). § 8. Namentlich fehlte es an jeder gesetzlichen Regelung des Verhältnisses, in dem die Versammlung einerseits zu dem Personenverbande oder Volke, dessen Willen sie Ausdruck geben sollte, und andererseits zu dem Fürsten stand, den sie über sich erhoben hatte. Nichts hören wir davon, daß sich jemals eine Versammlung, bevor sie etwas beschloß, tatsächlich und rechtlich (vergleichbar den Komitien der Quiriten) von dem Volke (populus) abgegrenzt hätte, für das (oder den) sie das Wort führte; vielmehr spricht alles dafür, daß man sich das Volk selber in der Versammlung anwesend und durch sie redend dachte, gleichsam als ob es mit ihr eins (identisch) gewesen wäre. Niemals gab es ferner eine Abgrenzung des Kreises der Großen (vergleichbar den comitia), denen die Versammlung eine Virilstimme zuerkannte, gegenüber der durch Waffenlärm oder Zuruf zustimmenden Menge der Namenlosen (vergleichbar der contio), und stets blieb es unentschieden, ob die Übereinstimmung der Virilstimmen ausreichte, um den Willen der Versammlung oder des Volkes (vergleichbar der lex) zum Beschluß zu erheben, oder ob es hierzu auch des Konsenses der Namenlosen bedurfte, dem die Römer jede rechtmäßige Bedeutung aberkannt hatten. Fest steht lediglich, daß der Beschluß der Versammlung niemals die abwesenden Volks- oder Verbandsgenossen (in der Art, wie es die lex getan) zu binden vermochte, daß kein freier Mann in seinem Willen bloß dadurch festgelegt wurde, daß andere freie Männer ohne ihn und für sich etwas Bestimmtes beschlossen hatten; vielmehr mußten die Abwesenden nachträglich, eine Folgepflicht erfüllend, dem Willen der Versammlung beitreten, um ihn für sich verbindlich zu machen. Der Beschluß der Versammlung erreichte also nicht schon mit der fürstlichen Sanktion (vergleichbar der magistratischen renuntiatio) allgemeine Geltung, sondern erst dann, wenn er sich als mit dem Willen des ganzen Volkes übereinstim-
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mend (identisch) herausstellte. Völlig unbestimmt blieben auch immer die Zahl, der Umfang und die Verfassung der Teile, aus denen sich (vergleichbar den curiae, tribus, centuriae) die Versammlung zusammensetzen konnte, ohne daß ihre Beschlußfähigkeit darunter gelitten hätte, da zunächst unbeteiligte Partikularverbände genauso wie die Inhaber von Virilstimmen dem Beschluß jederzeit nachträglich beitreten konnten. So bildete sich ein Gemeinwille, ohne daß irgendjemand zu wissen brauchte, wieviele Personen stimmberechtigt waren, wieviele Teilverbände abzustimmen hatten und wie wiederum deren partikulare Gemeinwillen zustandegekommen waren. Und schließlich gab es auch keine gesetzlich geregelte Form, in der (vergleichbar der entweder positiven oder negativen Antwort des um seine Stimme befragten Quiriten) die Virilstimmen oder (vergleichbar der zahlenmäßigen Majorität der comitia) die Verbandsstimmen abzugeben waren. Niemals hören wir von irgendeiner Zählung von Stimmen, hätte deren Zählbarkeit doch die vollkommene rechtliche Gleichheit aller Freien vorausgesetzt, wie sie wohl unter römischen Bürgern, niemals aber in den nach Vorrang, Geburt und Stand geschichteten Gesellschaften des Mittelalters gegeben war. Der Gemeinwille bildete sich im Diskurs. So blieb es ganz unbestimmt, ob ein Beschluß bereits allein durch mehr oder weniger viele Virilstimmen zustandekam oder in welchem Augenblick der Beifall der namenlosen Umstehenden die Folge der Virilstimmen im consensus populi aufgehen ließ und den Beschluß vorerst perfekt machte. Völlig formlos, nämlich sowohl durch ausdrückliche Erklärung oder Unterwerfung als auch durch stillschweigendes, konkludentes Verhalten, konnte sich schließlich der Beitritt abwesender Individuen und Partikularverbände zu dem Gesamtwillen vollziehen. § 9. Diese Eigenschaften mittelalterlicher beschlußfassender Versammlungen stehen in so krassem Gegensatz zu denen der altrömischen Komitien, daß es sich uns im Interesse einer klaren Begrifflichkeit verbietet, von einer Repräsentation des Volkes oder der das Volk bildenden Teilverbände durch die Versammlung zu sprechen. Ebensowenig ist es zulässig, von einer lediglich unvollkommenen oder noch apokryphen Repräsentativverfassung zu sprechen, deren Wesen den Menschen solange nicht habe zu klarem Bewußtsein kommen können, wie die Volksrechte allein von Laien in Worte gefaßt wurden und daher der Erklärung durch eine bewußte begriffliche oder wissenschaftliche Bearbeitung entbehren mußten. Vielmehr muß der Gegensatz zwischen römischem und mittelalterlichem Vertretungsverhältnis aus jenem Unterschied zwischen römischem und germanischem Staatsund Rechtsbegriff hergeleitet werden, den bereits die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet und unter den Begriffen römischer Anstaltsstaat und germanischer Gefolgschafts- oder Genossenschaftsstaat zusammengefaßt hat (M. A. von Bethmann-Hollweg 1868 S. 1 – 70; O. Gierke 1873 S. 958 – 976, 1881 S. 1 – 107). Es mag hier genügen, daran zu erinnern, daß das römische Recht von der Dichotomie seines öffentlichen und privaten Rechtes geprägt wurde und daher, da es
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subjektive Rechte nur im Privatrecht kannte, niemals zur Erkenntnis einer individuellen, staatlichem Eingriff entzogenen und damit öffentlichrechtlich wirksamen Rechtssphäre des freien Bürgers gelangen konnte, während die germanischen Rechte, denen jener Unterschied unbekannt war, dem freien Manne auch subjektive Rechte gegenüber dem Gemeinwesen und dem Fürsten beilegten und damit jene Verwirrung und Unschärfe mittelalterlicher Rechtsbegriffe erzeugten, die die Romanistik seit je zu beklagen pflegt: „Die römische Gemeinde hat mehr als die meisten sich willkürlicher Eingriffe in die Rechtssphäre des einzelnen Bürgers enthalten, aber nichts desto weniger immer an dem Gedanken festgehalten, auf welchem in der Tat alle Staatsordnung und insbesondere alle Criminalgesetzgebung beruht, daß der Staat über seine Bürger nach Ermessen verfügt. Der verwirrten Anschauung, daß die Gemeinde und der Bürger in einem beiderseits gebundenen Rechtsverhältnis stehen, eben wie Bürger und Bürger zu einander, haben die römischen Staatsrechtslehrer niemals Raum gegeben“ (Th. Mommsen 1887 S. 361). Gerade diese Anschauung aber liegt allem germanischen und mittelalterlichen Staats- oder Reichsverständnis zugrunde (O. Gierke 1873 S. 25 – 42, 906 – 908). Das der verwirrten Zuständlichkeit des Mittelalters eigentümliche Vertretungsverhältnis wollen wir Identität nennen, weil es den Versammlungen erlaubte, von sich zu sagen: „Wir sind das Land“ oder „wir sind die Stadt“. § 10. Auch für das Verhältnis des Volkes und der mit ihm identischen Versammlung zum Fürsten (d. h. seit fränkischer Zeit: zum Herzoge oder zum König) gab es keine expliziten gesetzlichen Regelungen – gesetzlich immer in dem Sinne verstanden, daß weder der Fürst noch die Versammlung die bestehende Rechtslage einseitig verändern konnten. Niemand jedoch schrieb dem Volke jene natürliche Unfähigkeit zu handeln zu, auf die die Römer die verfassungsmäßige Funktion ihrer Magistrate begründet hatten und die seit dem Altertum alle Lehrer des römischen Staatsrechts dazu bestimmt, ihre Darstellungen mit den Rechten und Pflichten der Magistrate zu beginnen. Die Fähigkeit mittelalterlicher Reichsvölker, aus eigener Initiative zu handeln, ergibt sich daraus, daß ihre Versammlungen (1) während der Interregna auch ohne fürstliches Haupt berechtigt und imstande waren, einen neuen Fürsten über sich zu erheben, daß sie es (2) nicht dem Fürsten zu überlassen brauchten, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen sie sich einem neuen Gesetz unterwerfen wollten, sondern selbst das Weistum fanden und die Bedingungen nannten, die zu sanktionieren er verpflichtet war (dagegen hatte das römische Volk die Renuntiation seiner leges in das Belieben des Magistrats stellen müssen), und daß sie (3) den Fürsten befehden und ihn verlassen konnten, wenn er sich über ihre Rechte hinwegsetzte. Da die Befugnis (Banngewalt) des fürstlichen Oberhauptes, als Vertreter des Volkes Staatsakte vorzunehmen (im Gegensatz zum Imperium der römischen Magistrate), weder gesetzlich normiert war noch ihm während seiner Erhebung vom Volke durch einen bestimmten, den Beginn seiner Herrschaft datierenden Staatsakt ausdrücklich verliehen wurde, konnte es keine Definition derjenigen Kompetenzen und Geschäfte geben, in denen der Fürst (vergleichbar dem römischen Magistrat)
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auf Grund seiner Amtsvollmacht verbindlich für das Gemeinwesen zu handeln berechtigt war, und ebensowenig derjenigen Staatsgeschäfte, zu denen er in Ermangelung einer solchen Vollmacht die Zustimmung der Versammlung (vergleichbar einer altrömischen lex) hätte einholen müssen. § 11. Wiederum ist der – nur vom romanistischen Standpunkte aus im Vergleich erkennbare – Mangel derartiger Normen nicht als Ausdruck unzulänglicher Erkenntnis des richtigen Rechtes zu verstehen, sondern als Folge eines vom römischen im Grunde verschiedenen Sprachgeistes, Rechtsdenkens und Staatsbegriffs. Wenn es an gesetzlichen Regeln fehlte, so müssen wir schließen, daß die mittelalterlichen Reichsvölker ihren Fürsten keinerlei Befugnisse verleihen wollten, kraft deren sie sich selbst durch eine vorab erteilte allgemeine Vollmacht des Rechtes begeben hätten, in seine Geschäftsführung einzugreifen, daß sie (anders als die Römer) keine „ungleiche Zweiseitigkeit“ in der Verteilung der Macht auf die Versammlung und den Fürsten dulden, sondern den Fürsten zu jeder Zeit und in jeder seiner Handlungen dazu anhalten wollten, mit ihnen zu paktieren und sich ihres Konsenses zu vergewissern. Außerhalb der Versammlung oder einer Situation, in der er deren Konsens aus gutem Grunde voraussetzen durfte, konnte der Fürst nur einen persönlichen, für das Volk unverbindlichen Willen äußern; den Willen des Volkes drückte sein Gebot nur dann aus und als Handlung des Reiches konnte sein Tun nur dann gelten, wenn sein Wille grundsätzlich sowohl mit dem aller einzelnen freien Männer als auch mit dem der Reichsgemeinde und Reichsversammlung identisch gedacht werden konnte. Im Gegensatz zur Verfassung der römischen Republik bestimmte die der mittelalterlichen regna weder das Volk zum Mandanten der Staatsgewalt noch den Fürsten zum bevollmächtigten Diener und Repräsentanten des Volkes. Statt dessen setzte sie wie im Verhältnis zwischen Volk und Reichsversammlung, so im Verhältnis zwischen Volk, Versammlung und Fürsten die Identität aller Willen als Bedingung der Möglichkeit eines Verbandshandelns voraus. Die Bildung des Gemeinwillens bestand in der Identifizierung (dem Einswerden) aller Individual- und Partikularwillen, und mit ihrem Ergebnis hatte sich auch der Fürst zu identifizieren. Der Rechts- und Staatsgedanke, der den Verfassungen mittelalterlicher Herzogtümer und Königreiche zugrundelag, gibt dem Historiker keinen Anlaß, seine Darstellung mit dem Fürstentum zu beginnen oder dieses so in den Mittelpunkt zu rücken, wie es ihm die römische Verfassung hinsichtlich der Magistrate und des Kaisertums, oder auch die Monarchie der europäischen Neuzeit (W. Reinhard 1999 S. 26, 31, 48) gebieten. Man lasse sich hierüber nicht durch das Stillschweigen der Quellen täuschen! Wenn der soeben auf den Thron erhobene König Otto I. es ausnahmsweise einmal bezeugt, daß das Volk die Ausbildung einer Königsdynastie verhindern und zu diesem Zwecke anstatt seiner Nachkommen einen anderen Mann zum Könige bestimmen könne (MGH. DO. I. 1), so beweist dies angesichts des üblichen Schweigens der Quellen nicht, daß er befürchtete, das Volk könne einmal die Verfassung brechen, sondern nur, „daß ein Herrscher des Mittelalters nicht gern von dieser Möglichkeit selber spricht, und daß Otto I. selbst dies später,
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nicht mehr in so unmittelbarer zeitlicher Nähe der eigenen Erwählung, kaum wiederholt haben würde“ (F. Kern 1914 S. 29 Anm. 56). § 12. Dies alles wird noch deutlicher, wenn wir auch die akephalen Verbände des Mittelalters in Betracht ziehen, zu denen es in der Welt der römischen Republik und des Prinzipats keine Entsprechung gibt. Diese Verbände nämlich kamen in einem Verfahren zustande, das man seit Otto Gierke als freie Einung bezeichnet, nämlich durch freie, d. h. von keinem Außenstehenden, insbesondere keinem Fürsten oder Herrn, erzwungene oder gelenkte vertragliche Gründung. Einen solchen Vertrag konnten nur freie Männer abschließen. Er verknüpfte die Teilnehmer samt und sonders, d. h. jeden von ihnen sowohl mit der Gesamtheit aller Genossen als auch mit deren jedem einzelnen. So entstand aus der Vielheit der Personen eine Verbandseinheit, die das Zusammenleben der Genossen mittels einer in dem Vertrag enthaltenen Satzung (convenientia, Willkür) mehr oder weniger genau zu regulieren befugt war. Es kennzeichnete die Genossenschaft des germanischen Rechtes, daß sie zwar als personhaft rechts- und handlungsfähige Verbandseinheit eine selbständige Existenz gegenüber ihren Mitgliedern führte, aber zugleich auch ein Mittel war, um die Sonderzwecke der Einzelnen, die sie ins Leben riefen, zu fördern. Beide Seiten, die Verbandseinheit und die Personenvielheit, waren dialektisch aufeinander bezogen und beschränkten sich gegenseitig so, daß weder die Einzelwillen die Gesamtheit zu lähmen noch der Gesamtwille die einzelnen Genossen zu unterjochen vermochte. Diese eigentümliche Verteilung von Rechten und Pflichten innerhalb der Genossenschaft steht in scharfem Gegensatz zum Rechtsdenken der Römer, da der altrömische Personenbegriff von der absoluten Freiheit des Einzelwillens in allen Privatrechtsbeziehungen ausgegangen war; mit eben diesem seinem grundlegenden Axiom hätte das römische Rechtsdenken brechen müssen, wenn es sich hätte den souveränen Einzelwillen in irgendeinem Rechtsverhältnis durch mehr als eine bestimmte Einzelbeziehung gebunden vorstellen wollen, nämlich als von vornherein mit anderen Willen verbunden und von diesen abhängig, wie es das germanische Einungsprinzip verlangte. Zwar kannte auch das römische Recht eine privatrechtsfähige, als Körperschaft oder juristische Person interpretierte, vertraglich begründete Personenvielheit (universitas), aber deren Befugnisse und Pflichten hatte es ganz unabhängig von jenen Privatrechten konstruiert, deren Subjekte ihre Mitglieder waren. Letzten Endes war es der individualistische, vergleichsweise egoistische Person- und Freiheitsbegriff der Römer, der hier den Ausschlag gab und im Gegensatz stand zu dem altertümlichen Freiheitsbegriff der Germanen, der die Freiheit des Einzelnen durchaus im Einklang mit dem Recht des schützenden Verbandes zu denken vermochte und im Angewiesensein des Individuums auf den Rückhalt an einer Gemeinschaft keine Minderung jener Freiheit erblickte (O. Gierke 1873 S. 906 – 908, 925 – 928 und öfter). § 13. Was aber ist diese Identität der Willen aller einzelnen Genossen und Teilverbände eines Reichsvolkes, darin wir die fundamentale Institution aller mittel-
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alterlichen Verfassungen zu erkennen meinen? Auf diese Frage lautet die Antwort: „Das Wesen der Einung und ihre rechtsgeschichtliche Bedeutung sind unerforscht“ (K. Kroeschell 1971 Sp. 911), und der Grund dafür liegt in dem Schweigen der Quellen des frühen und hohen Mittelalters, das wir bereits zu konstatieren hatten. Erst nachdem im 14. und 15. Jahrhundert Städtetage und Landstände damit begonnen hatten, ihre Abschiede in deutscher Sprache niederschreiben zu lassen, wird uns das Bewußtsein der Menschen von der Identität ihrer Willen bezeugt, da die Rezesse es immer wieder aussprechen, daß der Rat die Stadt und die Stände das Land seien – nicht, daß sie ihre Stadt- oder Landesgemeinde verträten oder repräsentierten, sondern daß sie sich als sie selbst ansahen, daß sie sie wirklich selbst ausmachten, und so mit ihr identisch waren (O. Gierke 1868 S. 537, 573 – 575; G. von Below 1923 S. 58 f., 68, 120 f.; O. Hintze 1930 S. 121 f.; O. Brunner 1943 S. 477 – 484 = 1965 S. 417 – 424). Ebenso pflegten sich die Ratssendeboten der Hansestädte synonymisch sowohl „die gemeinen Städte“ als auch „der gemeine Kaufmann“ zu nennen (E. Pitz 2001 § 60). In diesem Sprachgebrauch äußerte sich die Identität aller Willen als eine ursprüngliche Rechtstatsache, deren Dasein keiner Begründung mehr bedurfte. In lateinischer Übersetzung ließen sich die Ausdrücke dieses deutschen Identitätsbewußtseins nur mühsam und undeutlich wiedergeben, weil der Sinn der lateinischen Worte stets schon im voraus von der römischen Rechts- und Staatsauffassung durchdrungen war, daher jede lateinische Übersetzung die germanisch-deutschen Rechtsgedanken verformte und verfremdete. Dieses Problem belastet die Interpretation der fränkisch-deutschen Rechtsquellen von Anfang, auf eine besondere Weise aber vom 12. Jahrhundert an, als in Italien die Erneuerung der römischen Rechtskultur durch die wissenschaftliche Lehre einsetzte, denn diese vollzog sich einerseits im Wege der Glossierung des römischen Kaiserrechtes, dessen Begriffe und Auslegungen als Ausdruck irdischer Vernunft schlechthin galten, andererseits aber wandte man die so geschulte juristische Denkweise auch auf die Verfassung jener Gemeinden an, die als Schöpfungen der Langobarden und Franken in Reichsitalien zahlreich vorhanden waren und auf den ganz unrömischen, „verwirrten“ Prinzipien der Willensidentität und genossenschaftlichen Einung beruhten. § 14. So beobachteten die Lehrer des erneuerten oder gemeinen römischen (römisch-kanonischen) Rechts in den italienischen Städten zwar die Identität der Willen von Stadtvolk, Bürgerversammlung und Rat, aber zu erklären und auf den Begriff zu bringen wußten sie diesen Sachverhalt doch nur unter Bezugnahme auf die Vollmächtigkeit römischer Magistrate und die Repräsentation des römischen Volkes durch die Komitien. Die Ermächtigung der Sprecher eines Verbandes kraft bloßer Identität der Willen erschien ihnen daher als eine irreguläre Sonderform der Repräsentation, für die sie, da die Alten noch kein Bedürfnis empfunden hatten, dem Vertretungsverhältnis einen Namen zu geben, das alte lat. Verbum repraesentare als terminus technicus in Gebrauch nahmen. So schufen sie den Begriff der Identitätsrepräsentation (H. Hofmann 1998 S. 191 – 285), und damit stifteten sie
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eine Verwirrung, die bis heute anhält und uns vor die Aufgabe stellt, den Unterschied zwischen gemeinrechtlicher Repräsentation und deutschrechtlicher Identität von Grund auf herauszuarbeiten. Ein Beispiel für das Problem gewähren uns die seit 1449 zwischen England und der deutschen Hanse geführten Verhandlungen, in deren Verlauf die Engländer von den Lübeckern Auskunft über die Verfassung der Hanse verlangten (E. Pitz 2001 §§ 1 – 31). Bei dieser Gelegenheit wiesen die Deutschen alle gemeinrechtlichen Definitionen ihres Bundes als confoederatio, corpus. collegium oder liga als unzutreffend zurück; allerdings waren sie auch nicht imstande, den Engländern den rechtlichen Gehalt der deutschen Begriffe Hanse, Verbund, Eintracht, Versammlung oder Verwandtnis zu erklären, deren sie sich selbst bedienten, um die Einheit der gemeinen Städte zu bezeichnen, die aber damals noch von keiner Wissenschaft, von keiner gelehrten Rechtsschule glossiert oder definiert worden waren. Der modernen Forschung aber ist es noch nicht einmal gelungen, die genannten lat. Begriffe als gemeinrechtliche Fremdbezeichnungen zu durchschauen und sie den deutschrechtlichen Selbstbezeichnungen der hansischen Ratssendeboten entgegenzusetzen (W. Stein 1913 S. 260 – 270; E. Pitz 2001 §§ 293 – 298). Es wird demnach eine wichtige Aufgabe der deutschen Verfassungsgeschichte darin bestehen, für die langen Jahrhunderte, da uns nur lat. Quellenzeugnisse für die Rechtsverhältnisse innerhalb der Verbände und zwischen ihnen zur Verfügung stehen, genau zu prüfen, welche volkssprachlichen Worte und Begriffe sich hinter den lat. Ausdrücken verbergen. Denn das Rechtsleben der Völker, die seit dem 9. Jahrhundert im Ostfränkischen und späteren Deutschen Reiche zusammenlebten, vollzog sich in deren altdeutschen Mundarten, und daher können nicht nur allein die als Äquivalente lat. Ausdrücke erkennbaren germanischen oder deutschen Worte Gegenstand einer rechtsgeschichtlichen Auslegung sein, wenn es darum geht, deutsche Rechtsgedanken und Normen zu bestimmen, sondern es muß auch diese Auslegung dem deutschen Wortsinn und Sprachgefühl folgen, anstatt sich dem lat. zu unterwerfen (Ph. Heck 1931 S. 2 f., 19 – 22). § 15. Die umfangreichste Dokumentation öffentlichen, auf Identität und Einung der Willen von Individuen und Teilverbänden gegründeten Verbandslebens gewähren uns die Bürgerrezesse der einzelnen und die Rezesse der gemeinen Hansestädte aus den Jahren 1256 bis 1537. Aus ihr sowie aus den Landtagsakten des 16. und 17. Jahrhunderts (O. Gierke 1868 S. 561 – 572; G. von Below 1923 S. 67 f.) ergeben sich die folgenden begrifflichen Merkmale und rechtlichen Eigenschaften einer auf das Identitätssystem gegründeten Verfassung. (1) Die Landstände der deutschen Territorien waren herrschaftliche, d. h. durch gesamthänderisch zu Handen eines Landesherrn geleistete Huldigung konstituierte Verbände oder Einungen (G. von Below 1923 S. 106 f., 129 f., auch 59 Anm. 2). Dagegen bildeten die Teilverbände und der Gesamtverband der deutschen Hanse im wesentlichen freie, von fürstlicher Herrschaft unabhängige Einungen, da zu ihrer Zeit die ältere Schutzherrschaft des deutschen Königs über die im Reiche und
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von dort ins Ausland reisenden Kaufleute bereits erloschen war, während die fürstlichen Stadtherrschaften noch auf sehr schwachen Füßen standen. Infolgedessen treten die Eigenschaften monokephaler Untertanenverbände in den hansischen Quellen völlig in den Hintergrund. Die Verbandsmacht der herrschaftlichen Einung über ihre Mitglieder beruhte auf dem Privileg, das der Landesherr ihr zu erteilen pflegte, bevor sie ihn zum Herrn annahm (unten: §§ 416, 507, 590), die der freien Einung dagegen auf der allem archaischen, vor- oder außerstaatlichen Recht bekannten Vollmacht freier Menschen, durch individuell, aber gleichzeitig und gemeinsam (samt und sonders) einander gegenseitig geleistete Eide erzwingbare Rechtspflichten zu begründen (H. Hattenhausen 1992 S. 8 – 13; unten: § 176). Da man in den Annalen der abendländischen Rechtsgeschichte meines Wissens bis zum Jahre 1620 hinabsteigen muß, um ein reines Beispiel für die eidliche Verbands- und Gesetzesbegründung aus dem Nichts einer gesetzlosen Umgebung heraus anzutreffen (unten: § 394), mag ein byzantinisches Zeugnis dies belegen: Als sich der General Georgios Palaiologos im Jahre 1087 nach verlorener Schlacht mit hundertfünfzig versprengten Soldaten von den Skythen umzingelt fand, riet er den Männern, den Ring der Feinde zu durchbrechen, ohne das eigene Leben zu schonen „und es gerade dadurch, glaube ich, zu gewinnen. Wir müssen aber diesen Entschluß durch Eide bekräftigen, so daß wir alle hier uns einig sind und dann keiner beim Angriff auf die Skythen kneift, indem ein jeder Rettung und Gefahr als seine ureigene Sache begreift“ (Anna Komnene VII 4 § 2). Was die deutschen Hansestädte betrifft, so bestanden die beeideten Genossenpflichten im Kerne aus dem Versprechen eines jeden Genossen, jedem anderen und dem Verbande insgesamt beim Erreichen der Verbandszwecke mit Leib und Gut beizustehen (unten: § 396) und dem Verbandswillen jederzeit Gehorsam zu erweisen, sofern der Einzelne Gelegenheit gehabt hatte, sich an dessen Bildung zu beteiligen. Wer dieses Gelübde brach, der verdammte sich damit selbst als meineidig, so daß die Einung nicht erst in einem Rechtsstreit vor Gericht gegen ihn vorzugehen brauchte, um seine Schuld festzustellen und ihn die Rechtsfolgen seiner Tat fühlen zu lassen: Sie setzte diese willkürlich fest. Ihrer Zwangsgewalt waren nur die Eidgenossen unterworfen; Ansprüche gegen Ungenossen mußte sie vor deren ordentlichen Gerichten verfolgen. § 16. (2a) Was die freien Einungen anlangt, so war der Verband zunächst nur zu gesamter Hand handlungsfähig: Alle Eidgenossen mußten persönlich Hand anlegen, wenn die Gesamtheit einem Genossen Beistand zu leisten hatte, oder durch ihren Handschlag Verträge mit Dritten bekräftigen, wenn diese den Verband zu Leistungen verpflichten sollten. Umgekehrt erlangte jeder einzelne Genosse eine persönliche Berechtigung, wenn der Verband zu gesamter Hand Privilegien erwarb oder materiellen Gewinn erzielte: Einnahmen etwa flossen nicht in eine Verbandskasse, sondern anteilig in die Hände der einzelnen Genossen. Wenn indessen die Zahl der Genossen anstieg, so war es bald nicht mehr möglich, alle einzelnen zur Vornahme von Verbandshandlungen zu versammeln, und schließlich wurde man sich dessen bewußt, daß die wirklich Versammelten auch im Namen der Abwesen-
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den und mit Verbindlichkeit für sie, für aller nachgeborene Erben und für jeden zukünftig beitretenden Genossen handelten. Dieser Übergang von der älteren zur jüngeren Form der Genossenschaft (R. Hübner 1930 S. 161 – 164; H. Stradal 1978; E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1147 – 1155) vollzog sich unbemerkt und ohne daß jemals ein Beschluß der Genossen den Formwandel festgestellt, eine Mindestzahl anwesender Genossen als notwendige Bedingung für den Übergang zur jüngeren Form bestimmt oder die Vollmacht definiert hätte, kraft deren die Versammlung im Namen aller Genossen Beschlüsse fassen konnte. Ein solcher unbemerkter Übergang von der Vollversammlung aller Genossen zur vollmächtigen, wenn auch nicht bevollmächtigten Versammlung der jeweils (manchmal sogar zufällig und ungeladen) Anwesenden war nur unter der Voraussetzung möglich, daß den anwesenden Genossen der Wille der abwesenden bekannt war, daß sie den Gemeinwillen aller mit dem ihren identifizieren und daher von sich sagen konnten, sie seien die Gesamtheit oder der Verband. Die stillschweigend vorausgesetzte, den Willen nach gegebene Identität der Versammlung mit der Gesamtheit oder Gemeinheit (Gemeinde) aller Genossen enthob den Verband der Notwendigkeit, eine positive Norm zu willküren, um das Vertretungsverhältnis und die Vollmächtigkeit der Versammlung formal und inhaltlich zu definieren. (2b) Die herrschaftlichen Einungen der Länder treten uns von Anfang an in der jüngeren Form der Genossenschaft, nämlich mit den Landständen als Versammlungen zufällig anwesender Großer, entgegen, solange der Kreis der landtagsfähigen Personen und Teilverbände der eindeutigen, scharfen Abgrenzung entbehrte (G. von Below 1923 S. 68 f.). Die Landtage sprachen nicht nur für sich, die Anwesenden, selbst, sondern für das ganze Land, für die gemeine Landschaft oder die gemeinen Untertanen, wie es in ihren Privilegien heißt. Sie trugen dem Landesherrn nicht nur die eigenen Beschwerden, sondern auch die der nicht erschienenen (und daher später nicht mehr landtagsfähigen) freien Untertanen und des unfreien Landvolkes, also ihrer eigenen und der landesherrlichen Hintersassen, vor, wie denn auch ihre Beschlüsse nicht nur sie selbst, sondern alle Untertanen, eben das ganze Land, verpflichteten (ebenda S. 121 – 124). Ihre Befugnis, für alle das Wort zu halten, aber kam nicht durch eine ausdrückliche, rechtsförmliche Handlung oder Vereinbarung zustande, sie beruhte weder auf Wahl noch auf persönlichem Auftrage, sondern auf Gewohnheit und Herkommen: „Das Mandat für das Land wird ihnen von dem Lande als dem Rechtssubjekt zuerkannt, ohne daß ein besonderes Verfahren stattfindet, durch welches es ihnen übertragen wird“ (ebenda S. 128), wie es ebenso in der freien Genossenschaft jüngerer Form üblich war. Auch die Ständeversammlung bestand nicht aus bevollmächtigten, sondern aus vollmächtigen Personen und war daher als ganzes vollmächtig, den Gemeinwillen übereinzutragen. § 17. (3) Nur bei den großen unter den freien Einungen trat noch im Mittelalter eine weitere Entwicklung ein. Bei ferner steigender Anzahl und beruflicher Unabkömmlichkeit der Genossen war schließlich auch die Versammlung der (zufällig)
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Anwesenden nicht mehr imstande, die laufenden Geschäfte des Verbandes zu führen. Da war es eine Ehrenpflicht der wohlhabendsten und tauglichsten Genossen, sich der Verbandsgeschäfte anzunehmen und hierfür das Wort des Verbandes zu halten. Diese Führungsgruppe der Tauglichsten (meliores) setzte sich von der Versammlung genauso allmählich und unmerklich ab, wie es diese selbst von der (jetzt nur noch in gedanklicher Abstraktion vorstellbaren) Gesamtheit der lebenden und zukünftigen Genossen getan hatte oder tat, und wiederum bedurfte es keines Beschlusses der Einung, keiner Willkür, um das Vertretungsverhältnis, kraft dessen die Tauglichsten namens der Gesamtheit handelten, und deren Vollmächtigkeit verbandsrechtlich zu definieren. Auch die Führungsrechte der meliores beruhten auf der Voraussetzung, daß ihr Wille mit dem der Gesamtheit identisch sei und ihr Handeln die Gemeinde binde, gleichsam als ob diese zu gesamter Hand tätig geworden wäre. Die Großgemeinde des fahrenden Kaufmanns von der deutschen Hanse ist über diesen Zustand einer freien, letzten Endes nur gesamthänderisch und bei Identität aller individuellen und partikularen Willen handlungsfähigen Einheit nie hinausgekommen. § 18. (4) Besondere Bedingungen ergaben sich in den ortsbezogenen, auf das Zusammenwohnen der Genossen begründeten Großgemeinden der Städte. In ihnen hatten die laufenden Geschäfte in der Zeit um 1200 einen Umfang und eine so tief in die Existenz der Einzelnen eingreifende politische Bedeutung erlangt, daß eine verbandsrechtliche Regelung des Regierens notwendig wurde. Zweifellos auf Vorschlag der meliores und in der Absicht, die Regierenden zur Identifizierung ihres dem Verbande zurechenbaren Willens mit dem der Gemeinde zu zwingen, muß eine jede Stadtgemeinde zu gegebener Zeit beschlossen haben, nicht nur die Feststellung des Gemeinwillens einer genau bestimmten Anzahl von Meliores-Genossen anzuvertrauen, die sie alljährlich und für eine bemessene Zahl von Jahren zu ihren Beratern oder Ratmannen erwählen würde, sondern auch die Verbandsgeschäfte in Ressorts aufzuteilen und diese Ressorts von jeweils mehreren jährlich wechselnden Ratmannen rechenschaftspflichtig verwalten zu lassen. Obwohl sich diese komplizierte, auf die Prinzipien der Annuität und Kollegialität gegründete Gemeinde- und Ratsverfassung schwerlich unmerklich entwickelt haben kann, ist uns von den Bürgerrezessen, die diese Verfassung schufen, kein einziger erhalten, und nirgendwo ist in den Stadtgemeinden eine Erinnerung an die Zeit und die Umstände, die zu den Rezessen hingeführt hatten, lebendig geblieben. In den mündlich und grundsätzlich gesamthänderisch handelnden Gemeinden war die Verfassung etwas allgemein Bekanntes und jeder sie verändernde Beschluß lediglich eine bis auf weiteres (oben: § 1) gültige Verbesserung althergebrachter Weisen, den Gemeinwillen zu bilden. § 19. (5a) Die Ratsverfassung bestimmte das Vertretungsverhältnis zwischen Rat, Bürgerversammlung und Gemeinde folgendermaßen (E. Pitz 2001 §§ 62 – 72): In gewöhnlichen Geschäften, darüber die Gemeinde ihren Willen im Stadtrecht bereits positiv erklärt hatte, war das Kollegium der Bürgermeister befugt, den Wil-
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len der Gemeinde auszusprechen und die Gesamtheit aller Genossen zu verpflichten; in gewichtigen Geschäften, die eine Auslegung des Stadtrechts verlangten, mußten die Bürgermeister sämtliche Ratmannen hinzuziehen, um jene Befugnis zu erlangen; in hochbeschwerlichen Geschäften schließlich, die der Gemeinde und jedem einzelnen Bürger (neue) Lasten aufzuerlegen drohten, waren sie sogar nur im Verein mit sämtlichen Ratmannen und mit den Worthaltern der innerstädtischen Partikularverbände berechtigt, den Willen der Gemeinde festzulegen. Man kann diese dreifach gestufte Beteiligung des Volkes an den Verbandshandlungen mit den drei Graden von Öffentlichkeit vergleichen, die dem römischen Magistrat zur Verfügung standen, um Staatsakte coram populo zu vollziehen (oben: § 5), und sich auf diese Weise von dem Unterschied zwischen Vertretungsvollmacht kraft Repräsentation und Vollmächtigkeit kraft Identität zu überzeugen: Während die repräsentative Vollmacht der römischen Komitien alle abwesenden Bürger von der Willensbildung des Volkes ausschloß, hatten in den Hansestädten die Worthalter der Teilverbände die Aufgabe, die noch nicht am Gesamtwillen der Gemeinde beteiligten Bürger zu versammeln und gemäß dem Rate der Ratmannen alle Einzel- und Sonderwillen solange übereinszutragen, bis deren Identität und damit die Eintracht der Stadtgemeinde und die Vollmächtigkeit ihres Rates hergestellt war. Die Konstitution der bürgerlichen Einung in Eintracht blieb demnach grundsätzlich stets ein gesamthänderischer Akt aller Genossen, deren Willkür sich niemand im voraus und unwiderruflich zu unterwerfen brauchte. Daher konnte die Gemeinde auch unter der Ratsverfassung jederzeit ohne ihren Rat bestehen, nicht aber umgekehrt der Rat ohne die Gemeinde: Wenn besondere Umstände einmal dazu führten, daß die Gemeinde ihr Initiativrecht ausnutzte, um ihren Rat zu stürzen und die Ratmannen zu vertreiben, so blieb die Gemeinde stets für sich allein insofern rechts- und handlungsfähig, als sie sich durch Bürgerrezeß neu zu konstituieren und einen neuen Rat über sich zu erheben vermochte. Das Interconsilium bedeutete ebensowenig den Untergang des Verbandes wie schon in älterer Zeit das Interregnum den des Reiches, und umgekehrt vernichtete die Existenz des Rates nicht die gemeindliche Befugnis zu selbständiger, den Empfehlungen des Rates widersprechender und dann auch ihnen vorgehender Willensbildung. § 20. (5b) Da Länder (Landesgemeinden) und Landstände als herrschaftliche Verbände seit je mit dem Landesherrn als obersten Worthalter ihres Willens paktierten, entbehrten sie der Freiheit der Stadtgemeinden, ihrem Haupte eine Verfassung nach den Prinzipien der Annuität und Kollegialität zu oktroyieren. Daß indessen ihre Existenz samt der des Landes, dessen Wort sie hielten, von der der Landesherrschaft unabhängig, wenn auch auf sie bezogen war, das ergibt sich aus der Rolle, die sie bei Streitigkeiten um die Erbfolge innerhalb des landesherrlichen Hauses und bei der (einer Wahl gleichkommenden) Annehmung eines neuen Landesherren, zumal nach dem Aussterben einer Dynastie, zu spielen vermochten. Sofern „die Stände ihre Stellung großenteils der Ausnutzung von Thronstreitigkeiten
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verdanken“ und in solchen Situationen oft sehr unabhängig vorgingen, „also gerade im Augenblick der Begründung ihrer Befugnisse auch aus eigenem Antrieb zusammengetreten sein werden,“ muß ihnen genauso wie den Stadtgemeinden das Recht zugestanden haben, sich frei zu versammeln, auch wenn die Landesherren von Anfang an „jede eigenmächtige Versammlung der Stände mit Besorgnis betrachteten“ (G. von Below 1923 S. 112, auch 60 f.). Sowenig wie für die Stadtgemeinde das Interconsilium, so bedeutete für das Land und die Landstände ein Interdominium den Untergang ihres Verbandes und einer selbständigen Willensbildung. § 21. (6) Genossen beider Formen der Einung, der herrschaftlichen ebenso gut wie der freien, konnten sowohl physische als auch Verbandspersonen (Teilverbände) sein, sofern diese letzteren nur wiederum selbst als (entweder kirchliche oder freie) Einungen verfaßt waren und daher der Wille ihrer Worthalter als mit dem aller Partikulargenossen identisch galt. So setzten sich die Landstände aus Herren und Rittern als persönlichen und aus Stiftskirchen und Städten als Verbandspersonen zusammen, während die Einung der gemeinen Städte von der deutschen Hanse aus den besonderen Stadtgemeinden als Teilverbänden bestand, die ihrerseits wieder in Meinheiten, Kaufmannsgilden und Handwerksämter partikuliert waren; die Einung der Städte aber identifizierte sich mit dem gemeinen Kaufmann von der deutschen Hanse, der sich sowohl aus einzelnen Kaufleuten als physischen wie auch aus deren partikularen Fahrtgemeinschaften als Verbandspersonen zusammensetzte. Die deutsche Hanse insgesamt stellt sich demnach als mehrstufige Einung von Individuen und entweder rein personalen oder ortsbezogenen Teilverbänden dar. Sie genoß Rechts- und Handlungsfähigkeit gegenüber Genossen wie Ungenossen, obwohl ihre Worthalter niemals imstande waren, Verzeichnisse aller Genossen aufzustellen, geschweige denn sie zu zählen. § 22. (7a) Auf den Versammlungen der Genossen, der Städte und Stände führten natürliche Personen je ihre eigene Stimme, während Worthalter von Teilverbänden in deren Namen vollmächtig sein sollten. Da wir niemals davon hören, daß die Versammlung ihre Vollmächtigkeit prüfte, können dieser keine Vollmachten im Sinne von rechtsgeschäftlich erteilten und daher der Beurkundung fähigen Vollmachten zugrundegelegen haben, wie sie im Rechtsverkehr nach gemeinem römisch-kanonischen Rechte als procuratoria gebräuchlich waren. Daß die Teilnehmer der Ständetage kein ausdrückliches Mandat des Landes besaßen, ist bereits erwähnt worden (oben: § 16); nicht anders war es um die Sendeboten bestellt, die sich zu den Tagfahrten der Deutschen Hanse und der Schweizer Gemeindebünde versammelten (T. Münger 2001 S. 7 – 10, 36 – 40). Zieht man zudem in Betracht, daß sowohl auf den Ständetagen (G. von Below 1923 S. 116 – 118) wie auf den Hansetagen die Worthalter von Partikularverbänden an deren Instruktionen gebunden waren und Beschlußvorlagen, deren Gegenstand ihnen gar nicht oder nicht hinreichend deutlich angekündigt worden war, lediglich zum Zurückbringen an ihre Ältesten entgegennehmen konnten, so ergibt sich, daß
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die Worthalter insofern vollmächtig waren, als sie des Gemeinwillens ihres Teilverbandes kundig und imstande waren, ihn in der Versammlung geltendzumachen, daß ihre Vollmächtigkeit jedoch endete, sobald sie einem Gesamtwillen zustimmen sollten, der mit dem partikularen Gemeinwillen ihrer Auftraggeber nicht identisch war. Nur die Worthalter selber konnten demnach wissen und sei es vor der Versammlung, sei es gegenüber Dritten erklären, ob sie in einer bestimmten Sache vollmächtig seien, einen Gesamtwillen mitzutragen, weil dieser mit dem Partikularwillen ihres Verbandes identisch war, oder ob diese Identität nicht bestand und daher ihnen kein Recht zukam, ihren Verband auf jenen Willen zu verpflichten. Niemals waren Worthalter von Teilverbänden dazu ermächtigt, ihren Willen als Willen ihres Verbandes auszugeben, wenn die Identität beider Willen nicht gegeben oder wenn ihr Verband wegen innerer Zwietracht überhaupt willensunfähig war; niemals konnten Worthalter oder Sendeboten einer Gemeinde als solche etwas anderes wollen als ihre Auftraggeber. § 23. (7b) Während also die gemeinrechtliche Vollmacht eines Repräsentanten dessen Ermächtigung bereits formal von der Instruktion (dem Inhalt seines Auftrages) getrennt hatte, vermischte die Vollmächtigkeit des deutschen Rechtes das Mandat des Worthalters mit der Sache, zu der er sich äußern sollte. Seine Vollmächtigkeit hing von Fall zu Fall von dem jeweiligen Gegenstande der Verhandlungen ab und war daher notwendigerweise mit seinem Retrakt- oder Referenzrechte verknüpft, d. h. mit seiner Befugnis, eine Sache, in der er sich nicht vollmächtig wußte, von der gemeinsamen Willensbildung zurückzuziehen und sie heimzubringen (referre) an den Verband, dessen Wort er hielt, damit sich dieser dazu seinen (partikularen) Gemeinwillen bildete und seinen Sendeboten damit vollmächtig machte. Der Unterschied zwischen gemeinrechtlicher Vollmacht und deutscher Vollmächtigkeit erklärt sich daraus, daß das gemeine Recht seit dem 12. Jahrhundert von Fachleuten wissenschaftlich bearbeitet wurde, die es gelernt hatten, die Rechtsform vom Inhalt einer Vereinbarung zu abstrahieren, während das deutsche Recht unter der Pflege von Laien stand, die mit den Methoden des Glossierens und abstrakten Denkens nicht vertraut waren. Die Verbände und ihre ungelehrten Sprecher waren sich dessen nicht bewußt, daß sie mit der Herstellung eines einträchtigen Verbandswillens in einer bestimmten Sache zugleich ihre Worthalter für diesmal dazu ermächtigten, gemäß diesem Willen von ihretwegen zu handeln. Daher konnte zunächst jeder Genosse, der des Verbandswillens, an dem er mitgewirkt hatte, kundig war, nach innen und außen hin das Wort der Seinen halten; wer dies aber mehrfach oder regelmäßig tat, dem begann die Vollmächtigkeit wie eine persönliche Eigenschaft zuzuwachsen, und er empfand es als eine persönliche Kränkung, wenn die Gemeinde mit seiner Leistung unzufrieden war und ihm daher das Recht entzog, für sie zu sprechen. Da die Unbestimmtheit der deutschrechtlichen Vollmächtigkeit und namentlich das ihr eingeborene Referenzrecht (dieser Name ist dem Begriff Retraktrecht vor-
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zuziehen, da dieser bereits das Näherrecht oder die Erblosung im deutschen Erbrecht bezeichnet) einen sehr schleppenden Geschäftsgang bedingte und die Bildung eines Gesamtwillens nicht nur erschwerte, sondern oft genug sogar vereitelte, erwies sich die gemeinrechtliche Repräsentation ihr gegenüber schon im Mittelalter als in der Praxis des öffentlichen Lebens überlegen. Der Übergang zur gesetzlich geregelten formalen Vollmacht und die Beseitigung des Referenzrechtes der Sendeboten sind sichere Anzeichen dafür, daß ein Gemeinwesen von dem deutschrechtlichen Verfahren der Willensbildung zu dem moderneren Verfahren durch Repräsentation übergegangen ist (G. Post 1943 / 1980 S. 74 – 78, 96 – 112), von dessen Standpunkt aus angesehen, sich die deutsche Vollmächtigkeit als imperatives Mandat darstellt. Es ist aber weder den deutschen Landesherren gegenüber ihren Ständeversammlungen noch den Lübeckern als gekorenem Haupte der deutschen Hanse gegenüber den gemeinen Städten jemals gelungen, diesen Übergang durchzusetzen. § 24. (8) Im Kreise der gemeinen Städte von der deutschen Hanse besaßen sowohl die einzelnen Genossen als auch deren Einungen bestimmte Grundrechte, die weder die ersteren auf ihren Verband noch die Verbände auf ihre Worthalter oder Ratmannen übertragen durften. Die individuellen Grundrechte betrafen den Schutz der Person und des Eigentums eines jeden Genossen, speziell den Schutz vor Verhaftung, Verfestung und Enteignung, sofern nicht vorher die Einung dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt hatte. Es gelang den Gemeinden, mit diesen Rechten den Grundgedanken des Einungsrechts, wonach Individual- und Verbandsrechte aufeinander zu beziehen und abzustimmen waren, in positiven Normen zu konkretisieren. Wenn nämlich die Genossen einander zuschworen, sich mit Leib und Gut bei der Erreichung ihrer gemeinsamen Zwecke beizustehen, so taten sie dies ein jeder um seines persönlichen Vorteils willen und in der Absicht, den eigenen Nutzen mindestens in demselben Maße zu befördern wie das Gemeinwohl. Mit dem Genosseneide gelobten sie ihrer Einung zwar Gehorsam, aber nicht jenen absoluten, auf den die römische Republik gegenüber ihren Bürgern Anspruch erhob, sondern nur einen bedingten, wie er dem ursprünglichen Sinn der germanischen Treue (K. Kroeschell in LMA 8 Sp. 977 f.; F. Kern 21954 S. 152 f.) entsprach, eben jenen Gehorsam, der auf der, vom römischen Standpunkte aus betrachtet, „verwirrten Anschauung“ (oben: § 9) beruhte, daß der durch Einung geschaffene Verband und der Genosse, der ihn zu seinem Teile mitgeschaffen hatte, in einem beide Seiten bindenden Rechtsverhältnis stünden. Wie diese Grundrechte des Einzelnen die Gewalt des Verbandes über seine Genossen, so begrenzten die unveräußerlichen Grundrechte der Gemeinde die Vollmächtigkeit, die diese durch ihre Eintracht und die Identität aller einzelnen und partikularen Willen ihren Worthaltern beilegte. In für die Gemeinde und jeden einzelnen Genossen hochbeschwerlichen Angelegenheiten konnten sich ihre Sprecher nicht auf stillschweigende Herstellung des Gemeinwillens berufen. Sie waren vielmehr verpflichtet, die Identität aller Willen ausdrücklich und öffentlich herzustellen (oben: § 19); es war dies gleichsam eine Bringschuld der Sprecher, die sie der
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Gemeinde unaufgefordert zu leisten hatten. Derartige Geschäfte standen an, wenn die Gemeinde eben diese ihre Sprecher alljährlich neu bestellte, wenn Eingriffe in das gewillkürte Recht der Einung erforderlich waren, wenn Bündnisse mit Herren oder anderen Einungen abzuschließen oder ihnen Fehde anzusagen war, und wenn die Gemeinde ungewöhnlich hohe Zahlungsverpflichtungen übernahm und zu diesem Zwecke die Genossen mit neuen Steuern belegte. Diese individuellen und gemeinen Grundrechte, welche das Stadtvolk auch gewaltsam gegen seine Ratmannen zu verteidigen pflegte, haben es den Worthaltern dauerhaft verwehrt, ihren Dienst an der Stadtgemeinde zu Obrigkeit und fürstengleicher Herrschaft zu steigern. Sie haben die Vollmächtigkeit der Worthalter nicht nur nachhaltig, sondern auch mittels nunmehr (seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts) positiv formulierter einungsrechtlicher Normen eingeschränkt. Es ist nicht näher untersucht, scheint mir aber offensichtlich zu sein, daß auch die Landstände solche Grundrechte sowohl des Landes, dessen Willen sie aussprachen, als auch eines jeden Landesinsassen gegenüber dem Landesherrn zu wahren hatten. Daraus nämlich dürfte der zwar längst (G. von Below 1923 S. 129 – 135) konstatierte, aber dem Grunde nach unerklärte (ebenda S. 155 – 160) Dualismus der territorialstaatlichen Verfassungen herzuleiten sein, innerhalb deren sich Land und Landesherr als verschiedene und selbständige, einer höheren Einheit jedoch entbehrende Rechtssubjekte derart gegenüberstanden, daß dem Lande ein sogenanntes Widerstandsrecht (unten : §§ 704 – 706) gegen den rechtsbrüchigen Landesherrn zukam. § 25. (9) Da sich die Versammlungen der Genossen aus Einzelpersonen mit Virilstimmen und aus unterschiedlich und unkontrollierbar vollmächtigen Sprechern von Verbandspersonen zusammensetzten, war es nicht möglich, ihre Beschlußfähigkeit nach formalen Kriterien (etwa ordnungsgemäßer Ladung und Leitung oder Minimum anwesender Genossen) zu bestimmen, wie sie in der Verfassung der römischen Republik enthalten waren (oben: § 6). Vielmehr war die Beschlußfähigkeit solange gegeben, wie sich die Versammelten für hinreichend sachkundig hielten, um die anstehenden Probleme des Verbandes auch im Namen der abwesenden Genossen zu lösen, wie sie also ihren sachkundigen Willen für identisch mit dem der Gesamtheit aller verbundenen Genossen halten durften. Sie hing auch nicht davon ab, daß alle oder doch wenigstens die meisten Geladenen die Tagfahrt besuchten; einen Zwang, der Ladung zu gehorchen und bis zum Ende der Versammlung auszuharren, und das Recht, den Ungehorsam dawider zu bestrafen, konnten weder die Landesherren gegenüber ihren Landständen (G. von Below 1923 S. 113 f.) noch die Lübecker als Haupt der Hanse gegenüber den Hansestädten (E. Pitz 2001 §§ 316 – 327) jemals durchsetzen. Wie viele oder wie wenige Geladene auch erschienen: bei gegebener Sachkunde waren sie imstande, für alle zu sprechen, und kein Außenstehender oder Einzelner, sondern nur die Versammlung selbst konnte und mußte sich für unzuständig und damit für beschlußunfähig erklären, sobald sie diese Voraussetzung nicht mehr für
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gegeben erachtete. Wie die Identität ihrer Willen mit dem eines Partikularverbandes deren Worthalter vollmächtig machte, um für den Teilverband zu sprechen, so machte die Vollmächtigkeit der Versammelten die Versammlung sachkundig und beschlußfähig, und sie blieb es, solange die Versammelten nicht den Wegfall ihrer Sachkundig- und Vollmächtigkeit konstatierten. Wo es zur Einführung des Ladungszwanges und zur Strafbarkeit des Ladungsungehorsams kam, da war ein Gemeinwesen wiederum im Begriff, vom deutschrechtlichen Verfahren gemeinsamer Willensbildung (Identitätssystem) zum Repräsentativsystem überzugehen. § 26. (10) Wie das Einungsrecht keine Formmerkmale für die Beschlußfähigkeit der Genossenversammlung kannte, so konsequenterweise auch keine für das Beschließen selbst. Namentlich hören wir nie etwas davon, daß man auf den Tagfahrten der Landstände (G. von Below 1923 S. 91, 114 f.) oder der gemeinen Hansestädte die Voten der Anwesenden abgefragt und die abgegebenen Stimmen gezählt oder daß eine exakt berechnete Mehrheit schließlich den Ausschlag gegeben hätte. Statt dessen sprechen die Bürger-, Hanse- und Ständerezesse regelmäßig davon, daß die Anwesenden einswurden, überein(s)trugen oder einträchtlich beschlossen und daß am Ende ihrer Beratungen eine Eintracht stand, die freilich noch nicht für alle rechtsverbindlich war, da manche Anwesende sie nur ad referendum entgegennahmen und die verpflichtende Zustimmung ihren Auftraggebern vorbehielten. Der Sprachgebrauch verrät, daß das Zahlwort eins noch ganz wörtlich verstanden wurde, derart, daß die Versammelten alle Meinungen und Willen zusammentrugen und zu einem einzigen Willen ineinanderfügten, bis sich schließlich in der Eintracht die Identität aller Willen offenbarte. Ob dieses Ziel erreicht war, das ließ sich nicht durch Zählung von Stimmen feststellen, sondern ergab sich aus dem allmählichen Verstummen der Einsprüche, Widerreden und Rückbezüge auf Abwesende, so daß der endliche Beschluß weniger einstimmig als vielmehr einmütig oder einhellig gefaßt wurde, wie es der Herkunft des Verfahrens aus dem ursprünglichen gesamthänderischen Handeln geeinter Genossen entsprach. Waren die Interessengegensätze hart und die Verhandlungen schwierig, so machten die Redner wohl eine Folgepflicht widersprechender Minderheiten gegenüber der Mehrheit geltend, dicimus generalem consuetudinem esse terre et civitatum, quod minor pars sequatur maiorem in sententiis (Großer Schied zu Köln 1258, diff. ad prop. aep. 39, unten: § 260). Die Mehrheit ihrerseits aber war gehalten, um Zwietracht zu verhüten, ihren Willen so zu verfassen, daß die Minderheit diese Pflicht erfüllen konnte, ohne ihre berechtigten Interessen entschädigungslos der Mehrheit aufzuopfern oder gar darüber in einen gewalttätigen Widerstand getrieben zu werden. Das Einhelligkeitsprinzip, das uns hier als Norm des deutschen Verfahrensrechts begegnet, faßt die Gemeinde als Summe einzelner Konsensberechtigter auf: Die Folgepflicht der Minderheit betraf Einzelne, die sich der Gesamtheit fügen sollten. Das römisch-gemeinrechtliche Prinzip der numerischen Mehrheit dagegen konstruiert eine Willenseinheit oberhalb der Summe aller einzelnen Willen, der sich
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die Minderheit fügen kann, ohne ihren Sonderwillen aufzugeben, und damit ermöglichte es etwas, was das deutsche Verfahrensrecht stets zu verhüten bestrebt war, nämlich Parteibildung und institutionalisierte Uneinigkeit. Bis weit in die Neuzeit hinein blieb der Begriff Partei in allen europäischen Sprachen ein tadelnder Begriff, denn das traditionelle politische Denken verknüpfte Gemeinwohl mit Eintracht, Parteilichkeit und Vertretung von Sonderinteressen dagegen mit verwerflichem Egoismus (W. Reinhard 1999 S. 438, unten: § 811). Das Gemeinwohl war etwas Homogenes, das man sich nicht als Resultat widerstreitender Partikularinteressen vorstellen konnte (B. Stollberg-Rilinger 1999 S. 103). Zwietracht oder discordia innerhalb eines Verbandes nämlich zerstörte die Einung, löste die Gemeinde in eine verwirrte Personenvielheit auf und beraubte sie ihrer Worthalter; Eintracht dagegen stellte die Einung (wieder) her und versah sie mit vollmächtigen Worthaltern, mit Sprechern nämlich, denen alle Genossen mit Leib und Gut, d. h. mit der physischen Macht der Gesamtheit Beistand leisteten. Wenn endlich das Haupt der Versammlung das Ergebnis der Verhandlungen unwidersprochen zusammenfaßte, dann waren alle Willen übereinsgetragen, war die Eintracht gewonnen und damit auch die Versammlung beendet. Die Genossen oder ihre Sendeboten konnten von einander Abschied nehmen und heimkehren (recedere). Eintracht oder concordia erweist sich, wie man sieht, immer mehr als der eigentliche Begriff der deutschen mittelalterlichen Quellen für jene im Abschied oder Rezeß erreichte Identität aller Individual- und Partikularwillen, auf der alles Einungsrecht beruhte. § 27. (11) Während die einhellig gefundenen Beschlüsse landständischer Versammlungen, gemäß dem Rechte der herrschaftlichen Einung, der Annahme und Bestätigung durch den Landesherrn bedurften, um gültig zu werden, war in den freien Einungen von Bürgern und Hansestädten mit der hergestellten Eintracht auch die Rechtskraft der Beschlüsse gegeben, da sich jeder Genosse im voraus bei seinem Eide oder Gelübde verpflichtet hatte, ihnen zu gehorchen und dem Verbande gegen ungehorsame Genossen Beistand zu leisten. Zwar bedurften die Eintrachten der Publikation, um alle Genossen mit ihrer Eidespflicht bekanntzumachen, aber auch dies war eine gesamthänderische Verbandshandlung. Vom Verbande unabhängige magistratische oder fürstliche Sanktionen konnte es in freien Einungen per definitionem nicht geben. Wie sich die Willensbildung des Verbandes, von der Ladung der Genossen und Sendeboten angefangen, mündlich vollzogen hatte oder hätte vollziehen können, so bedurfte sie auch am Ende weder beim Abschiede der Versammelten noch bei der Publikation vor den Ausgebliebenen der Beurkundung. Und wie die Veröffentlichung, so ging die Bewahrung des Rechtes mündlich vor sich, nämlich im alljährlich wiederholten öffentlichen Vortrag des tradierten und des neuen Rechtes. Beim Abschied angefertigte Niederschriften dienten lediglich als Gedächtnisstützen unter Genossen; daher hielten sie die diplomatische Form der einseitigen (d. h. nur zum internen Gebrauch des Verbandes bestimmten) Notitia ein, die keiner Beglaubigung durch Zeugen oder Siegel bedurfte und sogar vor
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Ungenossen geheimzuhalten war, so etwa vor öffentlichen Notaren, die derartige Notitien für den gemeinrechtlichen Rechtsverkehr aufzusetzen und mit ihrer Unterschrift zu beglaubigen pflegten. Wenn Landstände die Rezesse ihrer Versammlungen zunächst in landesherrlichen Privilegien oder Steuerreversen beurkunden ließen, bevor sie begannen, von den Abschieden selbst Niederschriften anzufertigen (G. von Below 1923 S. 119 f.), so war dies eine Folge davon, daß sie sich als herrschaftliche Genossenschaften konstituiert hatten, indem sie mit einem Herrn paktierten, und daß dieses pactum, anders als der Abschied selbst, der Beurkundung bedürftig war, was nach mittelalterlicher Sitte wegen des Rangunterschiedes zwischen den Parteien in Form eines Privilegs zu geschehen pflegte, das der Höherstehende dem Geringeren gewährte. § 28. Bildung eines Gemeinwillens im Wege der Identifikation aller Individualund Sonderwillen und Ermächtigung der gemeinen Worthalter oder Verbandshäupter als Rechtsfolge hergestellter Identität oder Eintracht erfüllten zwar den Grundgedanken der freien Einung, dem zufolge der Gemeinnutzen eines Verbandes den Individualnutzen der Genossen zu fördern hatte und die Mitglieder gegenüber der Gesamtheit nicht nur Pflichten zu erfüllen, sondern auch Ansprüche zu stellen hatten, aber als Maximen politischer Praxis waren diese Rechtsgedanken, wie wir gesehen haben, nicht sonderlich gut geeignet, und sie bewährten sich desto weniger, je höher die Zahl der Genossen anwuchs und mit ihnen die Fülle und Stufung der Partikularverbände, je mehr also die anwachsende Verbandsmacht auf Vereinfachung und Institutionalisierung der Willensbildung drängte. Die Möglichkeit, alle Sonder- und Einzelwillen in einem einzigen Gemeinwillen übereinszutragen, beruhte auf dem Vertrauen darauf, daß alle Genossen im Grunde genommen dasselbe wollten, daß Zwietracht, der Widerstreit zweier Willen, und Parteiung unter den Genossen lediglich Mißverständnisse seien, die in geduldigem Verhandeln bei vernünftiger und sachkundiger Beratung zu beheben seien und schließlich den Weg zu einem einzigen, von allen geteilten Willen freigeben würden. So lange, wie man es als möglich ansah, diesen Weg aufzufinden, mußte man sich auch verpflichtet fühlen, nach ihm zu suchen. Natürlich war bekannt, daß dies ein mühsames Geschäft war, daß sich die Identität der Willen nicht von selber einstellte und daß man ihr durch Institutionen zu Hilfe kommen mußte, und diesem Wissen verdanken Einrichtungen wie Vollmächtigkeit der Worthalter, Ratsverfassung und Folgepflicht der Minderheit ihr Dasein. Aber erfolgreich war man damit doch nur innerhalb überschaubarer Genossenschaften mit geringer Differenzierung der individuellen Interessenlagen, deren Versammlungen für nicht allzu viele abwesende Genossen mitzuentscheiden hatten und deren Ratmannen in engem täglichem Kontakte zu ihnen ihres Amtes walteten. Innerhalb weiträumiger, polyzentrischer und sozial stark differenzierter Verbände dagegen drohte das Streben nach Identität aller Einzel- und Sonderwillen bald jede gültige Beschlußfassung zu verhindern und sich in einer endlosen Beratung zu verlieren, wofür die Geschichte der deutschen Hanse im 16. Jahrhundert ein anschauliches Beispiel bietet.
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§ 29. Es ist daher kein Wunder, daß sich im Deutschen Reiche, wo sich im allgemeinen die landständische Verfassung behauptete, als nach dem Rechte freier Einungen verfaßte und auf identischer Willensbildung beharrende Großverbände nur die sieben Provinzen der nördlichen Niederlande und die schweizerische Eidgenossenschaft noch in der frühen Neuzeit behauptet und zu machtbewußter Eigenstaatlichkeit aufgeschwungen haben. Außerhalb des Reiches schuf der niedere Adel in Polen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts eine auf dem Kompromiß partikularer, jedoch in der Reichsversammlung kooperierender Landstände (Adelskommunitäten) mit dem Königtum gegründete Föderativverfassung, die als typisch für Ostmitteleuropa angesehen werden kann, da es sie in Böhmen, Ungarn, Rotreußen und Preußen ebenfalls gegeben hat (K. Zernack 1994 S. 106, 118 – 135). In den romanischen Ländern Europas dagegen, zu denen seit 1066 auch das von einem frankophonen Adel beherrschte Königreich England gehörte, wandten sich die herrschaftlichen Reichsgemeinden, die weder auf die Teilhabe der Untertanen an der gemeinen Willensbildung noch auf deren zügigen, die politische Schlagkraft des Reiches sichernden Ablauf verzichten wollten, seit dem 13. Jahrhundert von dem Ideale einer einträchtlichen Willensbildung ab und ersetzten die Vollmacht der partikularen Worthalter kraft Identität nach germanischem Recht durch diejenige kraft Repräsentation nach gemeinem Recht. Deren Regeln nötigten partikulare Verbände, die sich durch Repräsentanten auf der Tagfahrt des Gesamtverbandes, oder wie man in den romanischen Ländern sich zu sagen gewöhnte, in dessen Parlament vertreten lassen wollten oder mußten, dazu, sich im voraus und unwiderruflich dem dort von ihren Repräsentanten mitverfaßten Gemeinwillen zu unterwerfen. Zu diesem Zwecke mußten sie, anstatt lediglich vollmächtiger und an Instruktionen gebundener Worthalter, Abgeordnete mit ausdrücklich gewährtem allgemeinem und unbeschränktem Mandat entsenden (G. Post 1943 / 1980 S. 54 – 60, 96 – 112) und sich damit, unter Verzicht auf das Retrakt- oder Referenzrecht, sowohl dem vom Haupte verpönten Ladungszwang als auch der Entscheidung durch numerische Mehrheiten unterwerfen (zum Beispiel: MGH. Const. 2, 185 n. 151, 186 n. 152, 190 n. 155 vom Jahre 1231). Obwohl sich die Gemeinden dazu nur unter dem Drucke starker Verbandshäupter, nämlich von Hochadel und Zentralbehörden gestützter Könige und Fürsten, zu entschließen pflegten, erwies sich in der politischen Praxis (die spätestens seit dem Hundertjährigen englisch-französischen Kriege auf die Ausbildung einer höchsten souveränen Staatsgewalt hindrängte) die Repräsentation der Einzel- und Sonderwillen als dem Identitätsgebot überlegen. Wo man sich weigerte, diesen Schritt zu tun, da führte der Identitätsgedanke entweder zu entschlußloser politischer Ohnmacht der Reichsgemeinden oder zu gewaltsam erzwungener Identifikation der Sonderwillen mit dem Staatswillen durch absolutistische Zentralgewalten. Denn die auf Identität der Willen gestützte ältere öffentliche Ordnung kannte weder Repräsentation noch Staatsorgane (Kronen, Parlamente, Gerichte, Behörden) im modernen Sinne des Wortes, und namentlich keinen von den Partikularverbänden gelösten, der Zentralgewalt verpflichteten und behördlich verfaßten Verwaltungs-
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apparat, in dessen Tun eine sowohl den Gemeinden als auch dem Verbandshaupte übergeordnete Staatsgewalt den Willen dieser neuen, dem Mittelalter fremden abstrakten Einheit Staat gegenüber den Gemeinden und den nicht mehr mitverwaltenden, sondern nur noch wirtschaftenden und Steuern zahlenden Untertanen verwirklichte. In der älteren, dem Identitätsprinzip gehorchenden öffentlichen Ordnung hatte es einen derartigen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft noch nicht gegeben. § 30. Die Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters muß daher ohne die Begriffe Staatsorgan und Repräsentation auskommen und darf vom Staate nur in spezifischer Verengung des Begriffs als vom Genossenschafts- oder Gefolgschaftsstaate reden. Was aber die identische Willensbildung in diesem Staate anlangt, so lassen sich als Begriffe und deren lat. Äquivalente, womit sie in den Quellen des früheren Mittelalters beschrieben werden konnte, an Hand der vorstehend aufgeführten spätmittelalterlichen Merkmale vorerst folgende Beispiele nennen: (1) Das Übereinstragen der Willen konnte übersetzt werden (a) mit adunare = einen, vereinen, zusammenfügen (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 15), ahd. gieinôn (H. Götz, Wb. 1999 S. 18); adunati sumus = wir sind eins geworden MGH. Capit. 1 S. 281 Z. 6, 21; (b) mit concordare = übereintragen, dingen, einhellig werden (Diefenbach S. 139), ahd. sih einôn (Götz S. 127); (c) mit conferre = zusammentragen, -sprechen, vergleichen (Diefenbach S. 141); (d) mit convenire = sich einen, ahd. sih gieinôn (Götz S. 150), mhd. ubereinkommen, eins werden, convenientia = ubertrag (Diefenbach S. 148), Willkür (oben: § 12); convenire sententiam = ein Urteil übereinstragen MGH. Const. 4 S. 352 Z. 31 – 32, 353 Z. 11, 34. (2) Das Zustimmen konnte wiedergegeben werden mit consentire = vollborden, mithellen (Diefenbach S. 142), ahd. gihellen, gihelli uuesan = einhellig sein, in themo uuillan uuesan = das Gleiche wollen (Götz S. 137). (3) Eintracht konnte auf lat. heißen (a) concordia = Einträchtigkeit, Einhelligkeit (Diefenbach S. 139), ahd. ebanhellunga, gihellî, gimeinmuotî (Götz S. 127), (b) unanimitas = Einträchtig-, Einmütig-, Einswilligkeit (Diefenbach S. 626), ahd. einmuotîg = unanimis (Götz S. 686) – dagegen univocus = einnamig, eindeutig (Götz S. 688, Diefenbach S. 627). (4) Zwietracht schließlich konnte übersetzt werden mit discordia = Zwietracht, Zwieträchtigkeit, Mißhelle, Unwillen (Diefenbach S. 185), ahd. fiantscaf, strît, ungihellî, discors = strîtîg, missihelli (Götz S. 202). Nach diesen Beispielen ist zu erwarten, daß es für die Institutionen des Identitätssystems jeweils sowohl mehrere deutsche Bezeichnungen als auch mehrere lat. Äquivalente gab. In diesem Sachverhalt spiegelt sich der Umstand wider, daß das mittelalterliche deutsche Recht kein von Gelehrten wissenschaftlich bearbeitetes, sondern ein von juristischen Laien gewiesenes und mündlich tradiertes Recht gewesen ist, dem an der strikten Definition seiner Begriffe nichts gelegen war. Zwei-
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tens aber dürfen wir danach erwarten, daß die begrifflichen Merkmale identischer Willensbildung und die Institute des Identitätssystems keine Schöpfungen erst des späten Mittelalters gewesen seien, sondern mindestens bis in die Zeit der althochdeutschen Sprachdenkmäler zurückverfolgt werden können, also bis in jenes 9. Jahrhundert, mit dem die Verfassungsgeschichte des Ostfränkischen und späteren Deutschen Reiches ihren Anfang zu nehmen hat. Für diese zweite Erwartung spricht ebenfalls der Umstand, daß man dem späten Mittelalter als einem Zeitalter wachsender Königs-, Fürsten- und Staatsmacht eher eine Rückbildung oder Verdrängung des auf Erklärung des Volkswillens gerichteten Identitätssystems als dessen Erfindung zutrauen möchte. § 31. Es ist also die These, die in dieser Abhandlung geprüft und nach Möglichkeit verifiziert werden soll, daß wir uns die Herzogs- und Königreiche des früheren Mittelalters als herrschaftliche Großeinungen von etwa demselben inneren Aufbau vorzustellen haben, wie oben in § 21 für die freie Einung der deutschen Hanse beschrieben, da sich bereits hinter den Begriffen und Redewendungen der seit dem 9. Jahrhundert abgefaßten lat. Quellen die Institutionen des Identitätssystems verbergen dürften, die vernünftigerweise im Mittelpunkt der Verfassungsgeschichte stehen sollten, die wir jedoch im einzelnen erst aus den deutschsprachigen Rezessen des 14. bis 16. Jahrhunderts kennenlernen können. Darüber hinaus erscheint es mir zwar als wahrscheinlich, daß auf Identität der Willen gegründete Verfassungen noch wesentlich älter gewesen seien und sich bis in die früh im 5. Jahrhundert einsetzenden Reichsgründungen germanischer Heere auf dem Boden des Römischen Reiches zurückverfolgen lassen, doch liegt die zum Beweise dieser Annahme erforderliche vergleichende Betrachtung europäischer Verfassungen des gesamten Mittelalters außerhalb der in der vorliegenden Abhandlung bearbeiteten Aufgaben. Ich werde unten, in der Schlußbetrachtung, auf dieses Problem zurückkommen.
Zweites Kapitel
Zum Stande der Forschung § 32. Was die Literatur zur deutschen Verfassungsgeschichte betrifft, so bedroht uns ihr Umfang mit der Gefahr, in ihrer Beschreibung steckenzubleiben, wenn wir uns nicht auf das Notwendigste konzentrieren. Insbesondere wollen wir uns nicht damit aufhalten darzulegen, daß die Erforschung des Mittelalters zu jeder Zeit im Banne der Zeitgeschichte und ihrer politisch korrekten Weltanschauungen stand und dies gewiß auch in Zukunft tun wird, denn dieser Zusammenhang ist in den letzten Jahrzehnten hinreichend genau erforscht worden. Es darf daher als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, daß Georg Waitz (1813 – 1886), der erste Historiker, der einem Buche den Titel „Deutsche Verfassungsgeschichte“ gab, und seine Nachfolger bis ins dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein im Banne des nationalstaatlichen und konstitutionellen Verfassungsideals standen, welches seit dem Scheitern der Revolution von 1848 das Denken und Tun des deutschen Bürgertums beherrschte und die Nation erfolgreich von der Notwendigkeit befreite, sich zu einer Antwort auf die Kernfrage moderner Verfassungspolitik aufzuraffen, auf die bis 1918 politisch unentschiedene Frage nämlich, ob die staatliche Souveränität ihren Ausgang vom Fürsten oder vom Volke genommen habe und nehmen sollte (E.-W. Böckenförde 1961). Ferner kann als bekannt vorausgesetzt werden, daß die Revision des von Georg Waitz und seinen Nachfolgern errichteten Lehrgebäudes der Verfassungsgeschichte während der Jahre 1933 bis 1945 von Historikern begonnen wurde, die dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstanden, auch wenn sie gerade durch die maßlose Reichs-, Volks- und Germanenmystik der politischen Propaganda dazu bewegt wurden, die Quellen der mittelalterlichen Geschichte zu den Verfassungsproblemen neu zu befragen. Schließlich weiß heute wohl jedermann, daß, da diese Historiker auch nach 1945 noch drei Jahrzehnte lang die deutsche Mediävistik geprägt haben, im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine im herkömmlichen Sinne betriebene National- und Verfassungsgeschichte kaum noch Fürsprecher fand. So kommt es, daß die älteren Lehren niemals im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung revidiert worden sind, unter der wir seit einem halben Jahrhundert höchst angenehm leben. § 33. Dies alles ist richtig, und doch sind Bedenken dagegen zu erheben, daß die Experten, die diese Dinge zu erhellen und darzustellen pflegen, in der Regel nicht auch selbst an der Erforschung der mittelalterlichen Quellen teilnehmen und sich daher genötigt sehen, die Leistungen der Historiker, deren Werken sie sich wid-
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Einleitung: Aufgaben und Ziele der Verfassungsgeschichte
men, auf eben diesem Gebiete mit Stillschweigen zu übergehen. Damit aber drohen sie unwillkürlich den Unterschied zwischen wissenschaftlicher und fiktiver Literatur aus dem Auge zu verlieren. Denn wer nicht mit den Quellen vertraut ist, über die diese Historiker redeten, der läßt sie in jener Freiheit mit dem geschichtlichen Stoffe schalten, die man gewöhnlich nur Dichtern und Deutern des Zeitgeistes zugesteht. Dabei bleibt unbedacht, daß unsere wissenschaftliche Arbeit darin besteht, methodisch nach einer Wahrheit in den Quellen und im Denken längst vergangener Jahrhunderte zu suchen, und daß diese Wahrheit so hart erarbeitet werden muß, daß sie, wenn sie sich einmal eingestellt hat, durchaus die Kraft besitzen kann, selbst alteingewurzelte religiöse oder politische Überzeugungen des Suchenden zu korrigieren oder gar umzustürzen. Denn nicht auf die Binsenwahrheit kommt es an, daß alles Forschen von irgendeiner Weltanschauung abhängig ist, sondern darauf, daß sich diese weltanschaulichen Voraussetzungen im Leben eines Forschers und mit dessen fortschreitenden Erkenntnissen als wandelbar erweisen. In der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft bietet der katholische Universalhistoriker Ignaz Döllinger (1799 – 1890) hierfür das bekannteste Beispiel (W. Goetz 1957 S. 175 – 186). Diese Freiheit des Suchenden, im Umgange mit den Quellen seine eigenen Voraussetzungen unbehindert fortzubilden und darüber seine eigene Persönlichkeit zu vervollkommnen, ist das wahre Geheimnis voraussetzungsloser wissenschaftlicher Arbeit, und jeder, der es daran fehlen läßt, wird früher oder später der Kritik der Fachgenossen zum Opfer fallen (ebd. S. 235). Solches Fortschreiten der Erkenntnis als Motor des weltanschaulichen Wandels verbindet nicht nur die gleichzeitig lebenden Historiker miteinander, sondern auch die aufeinander folgenden Generationen, und auf ihm beruht der besondere Beitrag, den allein die sich an das Studium der Quellen bindende Geschichtswissenschaft zum geistigen Leben ihrer Zeit und zu jener Annäherung an die Wahrheit leisten kann, der sich die abendländische Kultur von ihren Anfängen her verschrieben hat. Daher ist mit der Einsicht in die weltanschaulichen Voraussetzungen, unter denen frühere Historiker ihre Arbeit an den Quellen betrieben, noch nicht alles über die Erkenntnisleistung dieser Gelehrten gesagt und namentlich kein Grund aufgefunden, der die Späteren der Pflicht und des Vorteils enthöbe, ihre Werke zu studieren und das, was sie richtig erkannt haben, für sich zu nutzen. § 34. Mir ist bekannt, welch fatalen Gebrauch die Propagandisten des Nationalsozialismus von den Wörtern Volk und völkisch gemacht haben, und ich leide so, wie jeder Fachgenosse, darunter, daß alles, was sich an Großem und Bewundernswertem in der deutschen Geschichte entdecken läßt, verdunkelt und um seinen Sinn gebracht zu werden droht durch die Verbrechen, deren wir Deutsche uns von 1933 bis 1945 schuldig gemacht haben. Da ich in dieser Abhandlung das Wort Volk häufig benutzen werde, mag es nicht abwegig sein zu erklären, daß ich darin nichts anderes erkenne als eine Möglichkeit, die von mittelalterlichen Autoren benutzten Wörter civitas, gens und populus ins Deutsche zu übersetzen. Von dieser Übersetzung ein handliches Adjektiv als Äquivalent zu lat. popularis abzuleiten,
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ist allerdings kaum noch möglich. Denn das Wort völkisch kommt dafür kaum noch in Betracht, seit die Nationalsozialisten darunter in absichtsvoll vernunftwidriger Weise die Eigenschaften zusammenfaßten, die die mystische Einheit einer Rasse begründen und in deren Interesse die Zerstörung der bestehenden Nationen rechtfertigen sollten. Damit ist der Geschichtswissenschaft eine Aufgabe gestellt, die sie nur dann zu lösen vermag, wenn sie sich jeder gnostisch-mystischen Wesensschau enthält und von einem rein empirischen Begriff des Volkes ausgeht. Speziell die Verfassungsgeschichte hat es nie mit Rassen noch mit Völkern als ethne (Singular: ethnos) zu tun, die durch Gleichheiten der Sprache, Kultur, Religion zusammengehalten werden, sondern allein mit demoi (Singular: demos) oder Völkern, die von einem gemeinen politischen Willen zusammengehalten werden und imstande sind, sich eine staatliche Verfassung zu geben. Niemals gab es Volk als Träger einer, in welchem Sinne auch immer ursprünglichen, volonté générale, eines ihm eingeborenen einheitlichen Gemeinwillens, aus dem heraus es sich über alle gesellschaftlichen Konflikte hätte erheben können, sobald es nur, als reinen Ausdruck seiner natürlichen Einheit und Geschlossenheit, die Verfassung einer direkten Demokratie oder des sei es autoritären, sei es charismatischen Einführerstaates annahm. Vielmehr kann, wie die demokratische Politik, so die empirische Wissenschaft Völker überhaupt nur als empirisch zu bestimmende Größen behandeln. Zugrundezulegen wäre dafür die Vorstellung einer pluralistisch gegliederten Vielfalt von Individuen und Teilverbänden, denen von Hause aus jeder Gemeinwille abginge: quot homines tot sensus, und die zur Existenzform eines Volkes nur dadurch gelangen können, daß sie sich auf eine ihren gesellschaftlichen und politischen Umständen angemessene Verfassung verständigen, nach deren Regeln sie alsdann und am Ende einen einheitlichen Volkswillen kunstgerecht und in bewußter Absicht hervorbringen wollen. Jede Verfassung eines Volkes muß demnach ein komplexes, in die Gesellschaft integriertes und die gegenseitige Kontrolle von Führern und Geführten sicherndes Gebilde sein, wie es das oben im Umriß beschriebene Identitätssystem des Mittelalters und das moderne, jenem hinsichtlich der Kraft der Willensbildung deutlich überlegene Repräsentativsystem erkennen lassen. Die Vokabel Volk dient mir daher in dieser Abhandlung zu nichts anderem als zu einem empirischen Fachausdruck in einer von fachlichen Bedürfnissen erforderten Definition, und ich beharre auf der Gewißheit, daß es einen wissenschaftlichen Fortschritt im philologisch-historischen Verständnis der Quellen gibt, der stark genug ist, um sich dem Banne der jeweiligen Zeitgeschichten zu entziehen. Es ist dies freilich lediglich ein fachlicher Fortschritt, und ich behaupte nicht, daß, wer sich in seinen Dienst stellt, deswegen auch als in Fragen eines allgemein Wahren, Schönen und Guten besonders einsichtig gelten müsse. Dieses Problem betrifft jedoch nur solche Historiker, die sich außerhalb der Fachwelt als praeceptores Germaniae hervortun wollen. Diese Absicht verfolge ich nicht.
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§ 35. Was nun speziell die Bildung des Gemeinwillens in den politischen Verbänden des Mittelalters anlangt, so hatte die Diskussion darüber längst vor der Einführung der philologisch-historischen Methode in das Fachgebiet durch Leopold Ranke begonnen und zunächst an die Existenz der Landstände angeknüpft, die sich seit der begrifflichen Bestimmung der Souveränität durch Jean Bodin im Jahre 1583 als für die Staatslehre zunehmend problematisch erwies. Diese Diskussion stand in der Nachfolge der spätmittelalterlichen Korporationstheorie, deren Romanismus und Latinismus im 16. Jahrhundert noch durch den Aristotelismus der Politikwissenschaft und den Neustoizismus der politischen Handlungslehre verstärkt worden war. Jener Theorie entstammte nicht nur die Vorstellung, daß die Landstände die Gesamtheit der Landesuntertanen repräsentierten, sondern auch die Deutung dieser Vorstellung als juristischer Fiktion (B. Stollberg-Rilinger 1999 S. 28 – 44). Einer der Latinismen, die sich dem deutschrechtlichen Verständnis der Ständetage jetzt neu in den Weg stellten, war die Anwendung des altrömischen Begriffs der curia (oben: §§ 3, 8) auf die landständischen Gruppen. Dieser Sprachgebrauch war den Glossaren des 15. Jahrhunderts noch ganz unbekannt gewesen (L. Diefenbach 1857 S. 163); jetzt diente er den gelehrten Räten zu dem Zwecke, im Interesse des Landesherrn den beschlossenen Willen der Landstände dem ansonsten stummen Untertanenverbande so zuzurechnen, wie die römischen Magistrate die Beschlüsse der in Kurien gegliederten Comitien dem römischen Volke als seinen Willen zugeschrieben hatten (oben: § 5). Erst nachdem Hermann Conring 1643 die Umstände der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland beschrieben und nachgewiesen hatte, daß dieses Recht im Reiche niemals zu positiver Geltung erhoben worden war, öffnete sich der Weg, auf dem man zur gedanklichen Scheidung des Deutschen Reiches von dem Kaisertum des römischen Rechtes und zur Erforschung der einheimischen deutschen Rechte gelangen konnte. Man begann, historisch zu argumentieren, und fand nun bald eine zutreffende Deutung des Verhältnisses zwischen Landesherrn und Ständen. Man entdeckte das Prinzip der freien vertraglichen Übereinkunft zwischen Fürst und Ständen als Grundlage der landständischen Verfassung, erkannte dessen Unvereinbarkeit mit der Dogmatik des römischen Rechts und verknüpfte daher die Rechtssubjektivität der Landstände mit der bereits von den Alten gerühmten, spezifisch germanischen Freiheit: Die Mitwirkungsrechte des Volkes an der Landesregierung seien nicht erst mit der Bildung der Landstände am Ende des Mittelalters geschaffen worden, sondern bereits den Germanen eigentümlich gewesen und von deren Nachfahren in den Provinzen oder Ländern des fränkischdeutschen Reiches zu jeder Zeit behauptet worden (B. Stollberg-Rilinger 1999 S. 58 – 64). Was aber das Verhältnis der Landstände zu dem Lande und die umstandslose Gleichsetzung von Ständen und Volk anlangte, so konnten sich selbst Hermann Conring und seine Schüler in dieser für das deutsche Rechtsdenken entscheidenden Frage nicht von der gelehrten aristotelisch-romanistischen Begrifflichkeit befreien (ebd. S. 81 – 94). Die Wissenschaft fuhr fort, die Stände als gemeinrechtliche Kor-
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poration und ihr Verhältnis zum Lande als Identitätsrepräsentation (oben: § 14) zu deuten. Wären sie freilich Korporationen von Repräsentanten gewesen, so hätten die ständischen Personen Vollmachten ihrer Auftraggeber besitzen und sich beim Beschließen dem Mehrheitsprinzip unterwerfen müssen. Indessen sie beharrten auf der Einhelligkeit ihrer Willen als Bedingung für den Abschied und weigerten sich, ihr für das Land verbindliches Handeln mit irgendeinem Bezug auf den Willen des Landvolkes, seien es nun Wahlen oder ein Amtsmandat, zu begründen. Die Gelehrten stellten zwar fest, daß, sie konnten aber nicht erklären, warum die Landtagsabschiede so angesehen wurden, als ob sämtliche Landeseingesessenen Mann für Mann darein gewilligt hätten, und daher allgemeine Verbindlichkeit genossen. So kamen einige von ihnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sogar zu dem Schluß, die ständische Repräsentation sei als illegitime, usurpierte Vertretungsmacht aufzufassen (ebd. S. 233, 246 f., 256, 285). § 36. Einen ersten Schritt, um die romanistische Blockade der deutschrechtlichen Forschung zu brechen, tat seit 1868 der Jurist Otto Gierke (1841 – 1921). Als Anhänger der entwicklungsgeschichtlichen Gesellschaftstheorie des organischen Liberalismus und entschiedener Gegner des Absolutismus und Feudalismus setzte Gierke Vertrauen in das zuvor als willens- und handlungsunfähig erachtete Volk. Den Staat faßte er als in der Menschennatur begründetes organisches und sittliches Gemeinwesen auf, welches kraft seiner Souveränität befugt sei, sich sowohl des Monarchen als auch des Volkes und der Volksvertretung gleichsam als seiner Organe zu bedienen und sie für seine höheren Zwecke einzusetzen, so namentlich dafür, den Gegensatz zwischen individueller Freiheit und staatlicher Einheit, zwischen Volk und Herrschaft zu versöhnen. Insbesondere, so meinte er, sei die Geschichte der germanischen Völker von dem Bestreben geprägt, „Staaten zu schaffen, die zugleich einig und frei sind,“ und zwar dank der diesen Völkern eigenen „Gabe der Genossenschaftsbildung“, d. h. der Erschaffung mit Selbstverwaltung ausgestatteter Verbände, die zwischen das Individuum und den Staatsverband traten und zwischen ihnen vermittelten (O. Gierke 1868 S. 1 – 11). Als Grundformen aller Assoziation und treibende Kräfte der Verfassungsgeschichte betrachtete er die der patriarchalischen Volksfreiheit entsprechende freie Genossenschaft und den ihr mit überlegenen Kräften gegenübertretenden herrschaftlichen Verband, für den die Beziehung aller Genossen zu einem einzigen Haupte das einigende Band bildete. Um das Jahr 1200 habe dieser über jene definitiv gesiegt und einen gewaltigen Bau von Herren über Herren aufgeführt, welcher ältere freie Genossenschaften nur in untergeordneter Stellung und in abseits gelegenen Gebieten habe bestehen lassen. Unterdessen aber sei der korporative Gedanke in die Herrschaftsverbände selber eingedrungen und habe sie umgeformt in abhängige oder herrschaftliche Genossenschaften (oben: §§ 9 – 11), die sich „neben oder unter dem die ursprüngliche Einheit des Verbandes repräsentierenden Herrn ein eigenes Gesamtrecht“ schufen, und am Ende des Zeitraumes habe sich als jüngeres und mächtigeres Prinzip das der freien Vereinigung erhoben, „welches statt der alten, bloß auf natürliche Grundlagen gestellten
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Genossenschaften gewillkürte Genossenschaften erzeugt.“ Während Lehnsstaat und Hierarchie im 13. bis 15. Jahrhundert haltlos zusammenbrachen, habe „das Prinzip der Einung . . . von unten auf in gekorenen Genossenschaften auf allen Gebieten die herrlichsten Organisationen“ erschaffen und namentlich in den Städten „gleichzeitig die älteste Gemeinde und den ältesten Staat auf deutschem Boden hervorgebracht“ (ebd. S. 9). Wiewohl in den Städten erwachsen, habe das politische Einungswesen doch hinausgegriffen in die Länder und das Reich, um dort wesentlich zur Territorialstaatsbildung beizutragen, und schließlich sogar versucht, aus Schwurvereinen, Eidgenossenschaften und Bünden „das verfallende Reich selber als ein großes Föderativgemeinwesen neu zu konstruieren.“ Alle Einungen des Herren-, Ritter- und Bürgerstandes hätten ihre Entstehung „ausschließlich dem freien Willen der Verbundenen“ verdankt, und wenn sie auch auf bestehende Herrschaftsrechte Rücksicht nehmen mußten, so konnte doch auch die Herrschaft das freie Einungsrecht nicht aufheben: „Untrennbar war nach deutscher Rechtsansicht von voller Freiheit das freie Einungsrecht.“ Der Genehmigung des Kaisers oder Landesherrn bedurften die Einungen nicht als Grundes ihrer Existenz oder Bedingung ihrer Gültigkeit, sondern „nur um zu konstatieren, daß in diese höhere Rechtssphäre nicht eingegriffen sei“ (ebd. S. 457 – 463). § 37. Zu den Schöpfungen der „von unten auf organisierenden Volksbewegung“ rechnete Gierke auch die Landstände. Zwar sei die „Gründung landesherrlicher Staaten“ letzten Endes das Werk der Landesherren gewesen, aber „ursprünglich war die Selbsttätigkeit des Volkes an dem Bau des Landesstaates mitschöpferisch beteiligt. Denn indem sich das Land in seiner Gliederung nach Ständen auf dem Einungswege konstituierte, kam der neue Territorialstaat zunächst als ein aus dem Landesherrn und der Landesgemeinde zusammengesetztes Gemeinwesen zur Entstehung“ (ebd. S. 515). Während der Fürst seine Herrschaft in Landeshoheit und damit sich selbst in eine Landesobrigkeit umwandelte, schufen die Großen seines Machtbereichs in dem Bestreben, ihre Selbständigkeit zu wahren und an den Angelegenheiten der Gesamtheit teilzunehmen, „die Organisation des Landes – sofern dieses der Obrigkeit gegenüber gedacht wird – durch die genossenschaftliche Einung der Stände“ (ebd. S. 534 – 537). In dem Tun der Großen sah Gierke keinen revolutionären Neubeginn, sondern lediglich den geschichtlichen Wandel einer uralten Freiheit, von der man seit langem wußte, daß sie nicht zum Erbe des römischen Altertums gehört hatte: Das Recht der Beherrschten zur Teilnahme „war so alt, wie ein deutsches öffentliches Recht überhaupt; aber während sie in der Zeit patriarchalischer Freiheit in den allgemeinen Versammlungen der freien Volksgenossen, demnächst in der feudalen Zeit in den Versammlungen der Großen des Landes, in Lehnskurien, auf Ritterund Mannentagen zur Erscheinung gekommen war, erlitt sie nunmehr durch die Macht des Einungswesens zum dritten Mal eine völlige Umgestaltung ihres Wesens und ihrer Form“ (ebd. S. 537). Wir haben es hier, bei Gierke, also mit einer
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Historisierung der bereits von Hermann Conring und dessen Schülern aufgestellten Kontinuitätstheorie zu tun. Das Verhältnis der ständischen Genossenschaft, „die sich selber als das Land, als die gemeine Landschaft“ bezeichnete, zum Landesherrn bestimmte Gierke in herkömmlicher Weise: „Landesherr und Landschaft wurden so zwei von einander unabhängige Mächte, von denen keine ihr Recht von der anderen ableitete“ (ebd.). Neu war jedoch, daß Gierke das Verhältnis der Genossen sowohl unter einander als auch zu ihrer Gesamtheit genau bestimmte und die Übereinstimmung der dabei angewandten Rechtsgrundsätze mit der Verfassung aller nach deutschem Rechte begründeten Einungen und Genossenschaften nachwies (ebd. S. 561 – 564). Dabei zeigte sich, daß die ständischen Einungen auf der Stufe der älteren Genossenschaft (oben: § 16) stehenblieben: Das höchste Recht der Gesamtheit lag bei der Versammlung der Vollgenossen, in der die Vertreter der geistlichen Stifter und weltlichen Gemeinden, wie bei Partikularverbänden üblich (oben: § 22), an Instruktionen gebunden waren („eine notwendige Folge davon, daß eben nicht sie, sondern die von ihnen vertretenen juristischen Personen das Genossenrecht hatten“), und für den ständischen Gesamtbeschluß wurde Einstimmigkeit erfordert (oben: § 26). In herkömmlicher Weise beschrieb Gierke ferner das Rechtsverhältnis zwischen Landschaft und Landesherrn als ein vertragliches, das den Herrn in allen Regierungshandlungen an die Zustimmung der Stände band und diese gegebenenfalls dazu befugte, ihm Widerstand zu leisten oder gar ihn zu verlassen und sich einen anderen Herrn zu wählen (ebd. S. 564 – 573). „Das Recht, sich aus eigener Initiative zu versammeln, das Einigungs- und Bündnisrecht und die Autonomie, die in der selbständigen Hervorbringung einer Organisation hervortrat, waren selbstverständliche Attribute freier Genossenschaften“ und, wie wir hinzufügen können, unveräußerliche Verbandsrechte (oben: § 24). § 38. Merkwürdig halbherzig hört sich dagegen an, was Gierke ganz zuletzt über die Beziehungen der Landstände zu dem Volke der Landesinsassen zu sagen hatte, die er als Schutzpflichtige und Hintersassen der einzelnen Stände bezeichnet (ebd. S. 573 – 576). Zu ihnen nämlich habe die Ständeversammlung „in einem sehr ähnlichen Verhältnis“ gestanden nicht wie der Rat, sondern „wie etwa die Vollbürgerschaft zur gesamten Einwohnerschaft einer Stadt“: Ihre Vertretungsmacht habe darauf beruht, daß das Land selbst als Subjekt der von den Ständen geübten Rechte galt, denn die Gesamtheit der Stände konnte nicht nur im Namen des Landes handeln, sondern auch „sich selbst vorzugsweise das Land oder die Landschaft nennen“; in den Ständen schien „das gemeine Land selber versammelt zu sein“. Der Wortlaut der Quellen, die Befugnisse, die sich die Stände beilegten, und die Art ihrer Tätigkeit bewiesen, „daß der landständischen Verfassung in ihrer Blütezeit die Auffassung der Stände als einer vom Lande verschiedenen privilegierten Körperschaft fremd war“. Gierke stellte also die Identität von Land und Ständen fest (oben: § 13).
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Was aber Inhalt und Rechtsform der Identität anlangt, so wußte er darüber nichts Positives zu sagen, sondern nur sie durch Verneinungen abzugrenzen: Die Idee der Landesrepräsentation durch die Stände sei „von unserem heutigen System der Volksvertretung im innersten Grunde verschieden“, denn als „Repräsentation des Landes aus eigenem Recht“ sei sie „nicht Organ, sondern Trägerin des Landesrechts und der Landeseinheit“ gewesen und „eine besondere, dem Landesherrn und seinem ganzen Herrschaftsverbande gegenüber zur politischen und privatrechtlichen Gesamtpersönlichkeit konstituierte Landesgemeinde“. Als Gierke dies schrieb, mag er bemerkt haben, daß er zwar über Einung und Genossenschaft als Institutionen des deutschen Rechtes sprechen wollte, daß er dies aber nicht nur mit deutschen, sondern auch mit Worten wie Korporation, juristische Person, Kurie, Organ, Privatrecht und Repräsentation tat, die der lat. Sprache entstammten und notwendigerweise auch als deutsche Lehnworte stets jenen Sinn mit sich führten, den ihnen das gemeine römische Recht und dessen Korporationsthorie beigelegt hatten. Wenn Gierke den Widerspruch bemerkte, so fehlte es ihm doch an einer quellenkritischen Methode, die es ihm erlaubt hätte, sich von den lat. und romanistischen Denkgewohnheiten zu befreien und die selbstgestellte Aufgabe zu lösen, nämlich die „Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs“ zu schreiben, obwohl die Menschen des früheren Mittelalters einen solchen Begriff noch gar nicht besaßen: Folglich gelte es, um den wahren gedanklichen Gehalt des Begriffs zu bestimmen, insbesondere den Wechsel festzustellen, den die Denkform für die Einheit menschlicher Verbände im deutschen Rechtsbewußtsein erlitt, und daraus Aufschlüsse über den wechselnden Inhalt des Rechtsbewußtseins überhaupt zu gewinnen (O. Gierke 1873 S. V-VIII). Bei derartigen Fragen freilich sei, was die anzuwendende Methode anlange, keine endgültige Lösung, sondern nur eine Annäherung an diese möglich, da weder bloße Empirie noch reine Spekulation zulässig sei; vielmehr müsse der Forscher Induktion und spekulative Deduktion miteinander verknüpfen, um jene vor falscher Verallgemeinerung und diese vor inhaltlicher Leere zu schützen. Gierke selbst wollte das Allgemeine aus dem spekulativen Begriff Volksgeist deduzieren, seine Deduktionen jedoch hernach an den Quellen induktiv verifizieren (ebd. S. 1 – 3). § 39. Den Keim des deutschen Körperschaftsbegriffs ermittelte Gierke auf diese Weise in dem alten Genossenschaftsbegriff, wie er vor allem den ländlichen Weistümern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zu entnehmen sei; in diesen nur zeitlich jungen, dem Bildungsgehalt nach jedoch uralten Quellen und in dem Landvolke, das sie hervorgebracht, habe altes germanisches Recht bis ins 17. und 18. Jahrhundert fortgelebt (ebd. S. 20 f., 134 – 136). Erst in der Stauferzeit beginne die Phase abstrakten Denkens in der Rechtsfortbildung, und zwar ausgehend von den Städten und vom Stadtvolke, jedoch sei erst die Rezeption des gemeinen römischen Rechts das Werk eines vom Volke losgelösten Juristenstandes gewesen, daher sie die Rechtsentwicklung wie eine Krankheit befallen habe (ebd. S. 14, 21 f.). In der Stadt und von dieser Krankheit unberührt habe im 14. Jahrhundert auch die
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Umbildung der Genossenschaft zur deutschen Körperschaft eingesetzt und dann auch sich vollendet; so habe sich die Stadt zur rechts- und handlungsfähigen Person und zum ersten wahrhaft staatlichen Gemeinwesen deutscher Bildung erhoben, verfassungsmäßig bestimmte Organe hervorgebracht und seit den Zunftkämpfen den Rat zur Obrigkeit emporsteigen lassen (ebd. S. 448, 573 f., 616; zur Kritik E. Pitz 2001 § 216). Nachdem der Körperschaftsbegriff am Beispiele des städtischen Gemeinwesens dem deutschen Rechtsbewußtsein einmal aufgegangen, habe er alsbald alle anderen dafür geeigneten Genossenschaften des deutschen Rechts durchdrungen und in einer veränderten Ausdrucksweise der Quellen seine Entsprechung gefunden. Die Fortbildung zum Staatsbegriff habe sich im Landesstaat vollzogen, der sich zunächst aus Landesgemeinde und Obrigkeit als selbständigen Rechtspersönlichkeiten zusammensetzte; Vorbild dafür sei in vieler Hinsicht die Stadtgemeinde gewesen, der die Fürsten insbesondere den Gedanken der Landesobrigkeit entnommen hätten (ebd. S. 829 f., 833, 855 – 857). Es sind dies in der Tat hochspekulative Gedankengänge, die beim Stande der damaligen Erforschung der Rechtssprache ihr Recht gehabt haben mögen, jedoch nach heutigem Wissen allein schon daran scheitern, daß das Wort Obrigkeit dem mittelalterlichen deutschen Stadtrecht völlig fremd war und sich erst seit 1479 infolge der Rezeption römischen Rechtes als Übersetzung für das lat. Wort magistratus in ihm verbreitete (RWB 10 Sp. 215 – 227). Gewiß war sich Gierke darüber im klaren, daß jede Zeit mit den ihr eigenen Begriffen erfaßt werden müsse (O. Gierke 1873 S. 5), aber eine Methode, um dies zu tun und die Begriffe empirisch zu bestimmen, was nur auf wort- und sprachgeschichtlichem Wege möglich ist, stand ihm, dem Juristen, noch nicht zur Verfügung. Gleichwohl bleibt es sein Verdienst, den unrömischen, im Rahmen des Mittelalters aber uralten Dualismus von Genossenschaft und Herrschaft in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und – entgegen dem weit überwiegenden Interesse der mittelalterlichen Schriftsteller an der Herrschaft – das Volk und die Kräfte und Mittel, dank deren es zur Selbstverwaltung in den unteren und zur Mitwirkung an der Regierung in den Landes- und Reichsgemeinden befähigt war, zum Gegenstande einer allgemeinen Rechts- und Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters erhoben zu haben. Allgemeinen Beifall freilich fand er damit ebenso wenig wie mit der Bewertung des Spätmittelalters als einer Blütezeit jener schöpferischen Volkskräfte, angesichts deren er die Verfassung und den Zustand des Deutschen Reiches nicht als einzigen, ja nicht einmal als wichtigsten Maßstab für das historische Urteil gelten lassen wollte. Daher kommt es, daß Gierke zwar überall hohe Anerkennung als Jurist gefunden hat – auf seine Lehre vom Staate als realer, zur Hervorbringung von Organen befähigter Verbandsperson geht es zurück, daß Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ werden läßt –, daß er aber außerhalb der Stadtgeschichte kaum Einfluß auf den weiteren Gang der verfassungsgeschichtlichen Forschung gewann.
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§ 40. Auf den Juristen Otto Gierke folgte im Jahre 1914 der Historiker Fritz Kern (1884 – 1950) mit einer Darstellung mittelalterlicher Reichsverfassungen, darin er dem Volke eine aktive und maßgebliche Rolle im Gange des öffentlichen Lebens zuwies, und zwar als Gegenspieler des Königtums in einem System gegenseitiger Abhängigkeiten. Aber wenn er damit auch „dem Dualismus von Herrscher und Volk“ eine fundamentale Bedeutung für Recht und Verfassung beilegte und in dem „Moment der Einung“ ein wichtiges Formelement völkischer Tätigkeit erblickte (F. Kern 1914 S. 441 f.), so hielt er sich doch durchaus frei von der Wärme, mit der Gierke die rechtsschöpferische Kraft der „von unten auf organisierenden Volksbewegung“ gepriesen hatte. Ebenso weit war er entfernt von der spekulativen Deduktion aus dem Begriffe des Volksgeistes, deren sich Gierke als Schlüssels zu dem wechselnden Inhalt des Rechtsbewußtseins bedient hatte. Statt dessen ging er vergleichend vor, um sich von den vorherrschenden nationalen Maßstäben seiner Zeit zu lösen und die Ideengeschichte der abendländischen Monarchie überhaupt nachzuzeichnen, auf deren Zusammenhang mit den Reichsgeschichten es ihm ankam. Denn überall führte ihn „die Erkenntnis dessen, was in Staat und Kirche gewesen ist, tief hinein in die Erforschung dessen, was das Zeitalter über Staat und Recht gedacht hat, und diese Gedanken sind hinwiederum notwendig zur Erklärung der Tatsachen“ (ebd. S. V-VIII). Eine nicht unwesentliche Verschiebung des Erkenntnisziels macht sich hier bemerkbar, nämlich fort von dem schriftlosen Rechtsbewußtsein des Volkes, auf das es Gierke abgesehen hatte, und hin zu den Ideen und Gedanken des Zeitalters, die wir doch nur in der Gestalt erkennen können, die ihnen der schreibende und über das Schulmonopol verfügende Klerus aufgeprägt hat. Zwar erklärte Kern: „Die Streitfrage, ob der Herrscher oder das Volk das höhere Recht besitze, gehört zu den ungelösten Spannungen im Unterbau der konstitutionellen Monarchie, welche sich nur in außerordentlichen Zeiten regen, dann aber das ganze Gebäude des Staates bis zur Einsturzgefahr erschüttern“ (ebd. S. 1), aber als eine offene Frage, die auch eine Entscheidung zugunsten des Volkes zuließe, wollte er das Problem doch nicht behandeln, weil ihm nur aus der Wanderzeit der germanischen Stämme Nachrichten über ein Bewußtsein vom Vorrange des Volkes und von seiner Macht, die Monarchie wieder abzuschaffen, vorlagen; im Mittelalter aber habe bis zu der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts niemand die Monarchie in Frage gestellt. Auch seien die genossenschaftlich verfaßten Verbände in der Regel nicht im letzten Sinne selbständig und die Reiche so groß gewesen, daß die Regierung durch eine Landesgemeinde gar nicht möglich gewesen wäre (ebd. S. 3 f. mit Anm. 6). So nannte Kern sein Buch im Untertitel denn auch eine Untersuchung „zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie“, und an den Anfang stellte er nicht das Recht des Volkes, sondern das Gottesgnadentum des Herrschers, obwohl er wußte, daß dieses sehr viel jünger war als das Widerstandsrecht des Volkes (unten: § 43)! § 41. Ganz von Gierkes Lehre über die deutsche Körperschaft und den Aufstieg ihres obersten Organs zur Obrigkeit (oben: § 39) abhängig ist Kerns Ansicht, auch die freien Genossenschaften des frühen Mittelalters seien nie „ohne ein mon-
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archisches Element in sich selbst“ erschienen (F. Kern 1914 S. 4 f.): „Der frei gewählte Vorsteher der Genossenschaft war mit dem – wie wir sehen werden, ebenfalls gewählten – Herrscher eines Königreichs usf. für die mittelalterliche Auffassung durch weit mehr entscheidende Ähnlichkeiten in Recht und Pflicht verbunden, als durch Gegensätze getrennt. Auch der Vorsteher war in gewisser Weise Herrscher, und der mittelalterliche Herrscher in gewisser Weise nur Vorsteher: im Maß ihrer konkreten Rechte verschieden, waren sich beide in dem grundsätzlichen Verhältnis zur regierten Gesamtheit . . . gleich . . . Denn selbst in der Genossenschaft des Mittelalters war der Vorsteher keineswegs nur Beamter der Gesamtheit: er verwaltete zugleich ein Mandat ,von außen und oben‘, das sich am besten vielleicht als Vormundschaft über die Gemeinschaft umschreiben ließ.“ Die Überzeugung von der Existenz eines solchen Mandates folgte nun freilich keineswegs aus dem germanischen oder deutschen Genossenschaftsrecht, sondern war römisch-christlichen Ursprungs: „Die kirchenväterliche Begriffsbestimmung der Herrschaft als einer erweiterten fürsorgenden patria potestas durchdrang die sittlich-rechtliche Auffassung aller Art von Obrigkeit im engsten wie im weitesten Menschenkreis. Bis hinauf zum Kaiser, dem ,Vormund des Erdkreises‘, war die ,christliche Obrigkeit‘ auf allen ihren Stufengraden nicht nur Mandatar der Gesamtheit. Zwar entbehrte sie, wie wir weiterhin sehen werden, eines solchen Volksmandates nicht; aber daneben oder darüber war sie mit einer keineswegs aus dem Willen der Gesamtheit stammenden, theokratischen Amtsbefugnis begabt. Diese ,Vormundschaft‘ über die Gesamtheit war ein Amt, zu welchem nicht sowohl das ,Mündel‘, die Gesamtheit, berufen konnte, als vielmehr Gott, dem der Regent denn auch für die Verwaltung dieses Amtes verantwortlich blieb. Alle Regierung dachte man sich als verkleinertes Abbild der göttlichen Weltregierung“ (ebd. S. 6 f.). Zwar stellte Kern anschließend ausführlich dar, daß alle Herrschaft eine vom Volke abhängige und eine von ihm unabhängige Befugnis neben- und ineinander enthielt, daß in der Herrschaft als solcher ein transzendentales Moment lag, daß aber der einzelne Gewalthaber, mochte er nun Genossenschaftsvorstand oder Herrscher sein, eines Rechtstitels vom Volke bedurfte, und daß er niemals nur von Gottes Gnaden, sondern grundsätzlich stets auch vom Volke bestallt wurde (ebd. S. 10 – 14), aber des tiefen inneren Widerspruchs in dieser Lehre war er sich nicht bewußt. Wie nämlich konnte das Volk gleichzeitig mündig und unmündig sein, wie konnte es seine Vorsteher und Herrscher wählen und sich eben dadurch selbst entmündigen? Der Ursprung des Widerspruchs freilich ist leicht erkennbar: Zwar sah Kern richtig die innere Verwandtschaft von herrschaftlicher und freier Einung des deutschen Rechtes, daraus Gierke einen Gegensatz zu konstruieren geneigt gewesen war, aber damit vermengte er einen romanistischen Gedanken, den die Germanen erst durch die Kirche kennengelernt hatten, der also von außen an das Volk herangetragen wurde und uns folglich dazu zwingt zu fragen, ob es darin nicht zunächst und vielleicht über lange Zeiten hin eine Fremdbestimmung erblicken mußte, die es gewiß mit Erstaunen zur Kenntnis nahm. Kern zog weder den Umstand in Betracht, daß auch Gott eines Vormundes bedurfte, nämlich des Klerus,
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um dem Herrscher ein Mandat erteilen zu können, noch erwog er die Möglichkeit, daß es sich bei dem Dualismus von göttlichem und völkischem Mandat des Hauptes und von Mündigkeit und Unmündigkeit des Volkes in Wirklichkeit um einen Dualismus klerikaler und laikaler Rechtsauffassungen handeln könne und daß es sich folglich aus dem klerikalen Ursprunge unserer Quellen erkläre, wenn jene deutlich, diese dagegen nur schattenhaft vor uns in Erscheinung treten. § 42. Der Begriffe Gottesgnadentum und Widerstandsrecht bediente sich Kern als einfachster und deutlicher Bezeichnungen für den Gegenstand seiner Untersuchung, den er ausführlicher als „das Verhältnis von Herrscher und Volk bei der Begründung der Herrschaft, während ihrer Ausübung und bei ihrer Beendigung“ beschrieb (F. Kern 1914 S. VI). In dem ersten Teil des Buches geht es um das Recht des Herrschers und um die allmähliche, erst in der Neuzeit vollendete Entstehung des Gottesgnadentums (ebd. S. 14 – 139) als Ausdrucks für das transzendentale Moment, das man aller herrscherlichen Gewalt beilegte. Dieses erwuchs erstens aus dem germanischen Geblütsrecht, welches jeweils eine ganze Sippe als herrschberechtigt auszeichnete und die Wahlfreiheit des Volkes beschränkte, so oft es einen Herrscher rechtskräftig zum Throne berief, zweitens aus der kirchlichen Herrscherweihe, die den Gewählten als Gesalbten des Herrn über den Laienstand erhob, allerdings ihre sakrale Gültigkeit nur dann erlangte, wenn die Bischöfe sie „ausdrücklich oder stillschweigend im Auftrage der Volksgesamtheit“ vornahmen, d. h. wenn das Volk zuvor den Geweihten als rechtmäßigen Inhaber des Thrones anerkannt hatte, und drittens aus den Nachwirkungen der antiken, ursprünglich heidnischen, aber seit dem 4. Jahrhundert verchristlichten Herrschervergötterung. Es war dieses, durch das byzantinische Kaisertum dem Mittelalter bekannt gewordene antike Moment, das seit dem 12. Jahrhundert den Herrschern als Mittel diente, um der Kirche die Verfügungsmacht über den transzendentalen Grund ihrer Stellung zu entwinden und sich „mit einer neuen, kirchenfremden Heiligung zu umgeben“. Diese aber erwies sich mehr und mehr als Quell bewußt absolutistischer Tendenzen und als aufs beste dazu geeignet, „die Person des Herrschers aus der Gemeinschaft der Volksgenossen“ zu entrücken und ihre ursprüngliche Ermächtigung durch das Volk zu verdunkeln. § 43. Gegenüber dem Gottesgnadentum war das Widerstandsrecht des Volkes schon im frühen Mittelalter „ein fertiger, allzufertiger Begriff“, dessen „zweifelhafte, aber so hartnäckige Existenz . . . in die Vorgeschichte des verfassungsbeschränkten Herrschertums“ hineinführte (ebd. S. VI). Kern erörtert es im dritten Teil seines Buches (S. 161 – 240) zusammen mit den Rechtsformen der Königsabsetzung. Er schildert es zuerst in der rein germanischen Form, wie wir es in den Völkerwanderungsstaaten und später bei den skandinavischen Völkern finden, sodann in der von der christlichen Kirche gelehrten Form und schließlich in der Gestalt, die es seit dem 12. Jahrhundert unter Einwirkung des wiederentdeckten römischen Kaiserrechts annahm. Da die Verfassung des römischen Anstaltsstaates kein
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Widerstandsrecht der Untertanen kannte, sondern sich mit Hilfe der Legende von der lex regia einen freiwilligen, jedoch unwiderruflichen Verzicht des Volkes auf seine Mündigkeit und seine republikanischen Mitwirkungsrechte zugunsten des Kaisers zurechtgelegt hatte, stellte Kern das mittelalterliche Widerstandsrecht als eine von den Germanen in die europäische Verfassungsgeschichte neu eingeführte Institution dar. Aber nicht nur die „allmähliche Verkirchlichung der germanischen Gedankenwelt überhaupt“, sondern auch und speziell „die Formlosigkeit des germanischen Widerstandsrechts und seine unsichere Abgrenzung von Recht und Gewalt drängte selbst danach, den Rechtsgründen und dem Strafverfahren wider die Herrscher eine festere, ordnungsmäßigere Gestalt zu geben. Hier aber bot sich, als eine politische Theorie von höherer und reiferer Art, die Lehre vom kirchlichen Widerstandsrecht und als eine Prozeßinstanz von unvergleichlichem Ansehen die geistliche Gewalt dar“ (ebd. S. 203 f.). Die kirchlichen Schriftsteller hatten seit dem 4. Jahrhundert die Frage erörtert, ob Christen gegenüber einem Herrscher, der die Gebote Gottes und des Naturrechts verletzte, lediglich zu passivem Widerstande und duldendem Gehorsam, oder ob sie nicht doch auch zu tätiger Verwirklichung der christlichen civitas dei verpflichtet seien, und es war diese zweite Auffassung, die sich ohne Mühe mit dem germanischen Widerstandsrecht verbinden konnte (ebd. S. 218), denn beiden war der Grundgedanke gemeinsam, daß sich der Fürst durch unrechte Handlungen selber richtete und daß das Volk oder die Kirche durch ihr Urteil diese bereits fertige Tatsache lediglich enthüllten. So konnten die Bischöfe gegen Kaiser Ludwig den Frommen und später gegen Kaiser Heinrich IV. in ähnlicher Weise, wie zuvor bei der Königserhebung, als Sprecher sowohl des Volkes wie auch der Kirche auftreten. In ruhigen Zeiten freilich pflegten die Bischöfe aus dieser Doppelrolle eher herauszutreten: Da „konnte die Kirche, während sie ihr eigenes rechtsförmliches Widerstandsrecht gegen die Fürsten behauptete und weiter ausbaute, mit dem Königtum doch darin zusammenarbeiten, das formlose germanische Widerstandsrecht einzudämmen“ (S. 230, 417 – 422). § 44. Hinter dieser Entfaltung der Theorien durch die Schriftsteller treten das Subjekt des germanischen Widerstandsrechtes: das niemals unmündige Volk nämlich, und die Formen seiner Willensbildung sowohl in den Quellen als auch in Kerns Darstellung ganz in den Hintergrund. Dies ändert sich jedoch in dem kurzen Mittelstück der Kernschen Untersuchung über „die rechtliche Gebundenheit des Herrschers“ (S. 140 – 160), die zwischen Herrscherrecht und Untertanenrecht die Brücke schlagen und daher „den zentralen Gedanken der frühmittelalterlichen Monarchie“ (S. VI) ausmachen sollte. Denn nicht nur bei der Begründung, sondern auch in der Ausübung der Herrschaft war der Fürst von außerhalb seiner Person und seines Willens liegenden Faktoren abhängig, insbesondere von der dem Volke, das ihn erhob, vorgegebenen Rechtsordnung, die zu bewahren und zu verwirklichen ihm sowohl das Volk als auch die Kirche zur speziellen Amtsaufgabe machte. In diese Ordnung einzugreifen, um sie zu verbessern, war dem Fürsten nur mit freier Zustimmung der Gesamtheit seiner davon betroffenen Untertanen gestattet.
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Für das dem Fürsten damit gebotene Verfahren der Konsenssuche gab es indessen nur sehr lose Regeln. An dieser Stelle kommt Kern beiläufig noch einmal, jedoch in etwas anderem Sinne als vorher (oben: § 41), auf die Vertretungsverhältnisse innerhalb der mittelalterlichen Staaten zu sprechen. „Die Gemeinschaft der Gläubigen und die Gemeinschaft der Volksgenossen war nebeneinander vertreten in den Reichsversammlungen . . . Mochte auch die ,gemeine Überzeugung‘ unvermeidlicherweise Minderheitsansichten verletzen, ja vielleicht nur die Anschauungen und Interessen einer kleinen, aber mächtigen Klasse vertreten . . ., so war sie doch darin ganz bestimmt, daß sie grundsätzlich den Willen eines Einzelnen, und sei es der König, nicht gegen sich gelten ließ“ (S. 148). „Ganz im allgemeinen bildete sich in größeren Verbänden eine Vertretung der Gesamtheit durch die meliores und maiores aus; aber es stand keiner bestimmten Person ein festes subjektives und persönliches Recht zu, unter allen Umständen zu den Konsentierenden zu gehören, so daß also niemals die Stimme irgendeines einzelnen Untertanen oder eines abgegrenzten Kollegiums oder einer bestimmten Mehrheit zum rechtmäßigen Zustandekommen eines Gesetzes, eines Reichsurteils oder eines politischen Entschlusses erforderlich war“ (S. 151). Auch Kern also wußte über die Vertretungsverhältnisse nichts Positives zu sagen. Nur die negative Aussage stand ihm zur Verfügung, daß der Staat des frühen Mittelalters noch kein Ständestaat war, daß sich in ihm der Gemeinwille des Volkes nicht so bildete wie im Staate des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit; allein der Grundsatz stand ihm fest, „daß nur das Gebot des Herrschers wahres Recht schafft, das mit der freien Überzeugung des Volkes geht. Wie der Herrscher sich dessen versichert, ist im einzelnen seine Sache; aber nichts entbindet ihn von der Notwendigkeit, diese Übereinstimmung auf irgendeinem Wege zu suchen“ (S. 152). Immerhin ist aus dieser Formulierung wohl zu schließen, daß Kern die Herstellung des Konsenses so als Bringschuld der Fürsten gegenüber dem insofern souveränen Volke betrachtete, wie es das Identitätssystem erfordert (oben: § 24), aber ob er bereit gewesen wäre, insoweit dem Reichsvolke dieselbe souveräne Gewalt beizulegen, die die antiken Staatsrechtslehrer dem römischen Volke beigelegt hatten (oben: § 4), das erscheint dem Leser doch eher als zweifelhaft. Und wie um das Subjekt des Konsensrechtes, so stand es um das des Widerstandsrechts: „Das frühe Mittelalter (bis zur Ausbildung konkreter ständischer Verfassungsformen) läßt die Gesamtheit, welche dem Herrscher gegenübersteht, wesentlich unbestimmt und formlos vertreten werden durch proceres, maiores und meliores usf. Und wo dem Herrscher widersprochen und widerstanden werden soll, ist jedermann im Volke gleich sehr oder gleich wenig dazu befugt. Das Widerstandsrecht ist formlos wie das Konsensrecht. Das Einzelgewissen entscheidet, es ist die einzige höhere Instanz, die zwischen Herrscher und Untertan richtet. Erst mit der Ausbildung ständischer Körperschaften tritt eine feste Repräsentanz der Gesamtheit auch in der Ausübung des Widerstandsrechtes auf“ (S. 288). Wie die
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mittelalterlichen Völker vor dem Übergange zum Ständestaat von der Gewissensentscheidung des Einzelnen zu einem von der Reichsversammlung auszusprechenden Gemeinwillen gelangten und wie, ja vielleicht sogar: ob überhaupt der so gebildete und vom Herrscher sanktionierte Gemeinwille allgemeine Geltung erlangen konnte (oben: § 28), darüber zu handeln bieten die Quellen in der Tat keinen Anlaß. Nur beiläufig bemerkte Kern, daß der Staatszweck, den bestehenden Rechtszustand zu erhalten, es dem Könige verwehrte, eine aktive und aggressive Politik zu betreiben, sofern der König nicht dazu bereit war, „mehr oder weniger absolut“ zu regieren: „Schon im frühesten Mittelalter ist darum eine tätige Politik immer mit einer mehr oder minder ausgeprägten absolutistischen Rücksichtslosigkeit des Herrschers verbunden gewesen. An seinem Willen zur Eigenmächtigkeit hing die alleinige Möglichkeit einer Steigerung der Befugnisse und Machtquellen des Staates“ (S. 162 f.). § 45. Fritz Kern war sich dessen bewußt, daß die Verfasser unserer Quellen und der Theorien über Gottesgnadentum und Widerstandsrecht, die er beschrieb, den Blick fest auf die Monarchie gerichtet hatten und daß sie an den Völkern und deren germanischen Rechtsanschauungen nur beiläufig und nicht um dieser selbst willen Anteil nahmen. Das zeigen außer den bereits (oben: §§ 2, 11) zitierten Bemerkungen etwa die Feststellung, wenn wir die zahlreichen Aufstände der Merowingerzeit kaum einmal im Lichte des germanischen Widerstandsrechtes sähen, so hänge dies „sicher mit der autoritätsfreundlichen Natur unseres Kronzeugen, Gregors von Tours, zusammen; der romanische Bischof darf hier im Ganzen mehr als Interpret christlicher Anschauungen“ denn „als volkstümlich-germanischer gelten“ (F. Kern 1914 S. 382), oder an anderer Stelle: Wenn uns „die früheste bewußte Erklärung, daß das Volk im Interregnum Träger der Staatsgewalt sei,“ erst bei Lupold von Bebenburg im 14. Jahrhundert begegne, so zeige dies an, daß es bestimmter Fortschritte in der Rezeption der antiken Staatslehre bedurfte, bevor es gelang, der uralten Volksrechtstatsache „eine begriffliche Grundlage zu geben“ (ebd. S. 316). In älterer Zeit habe zwar über die „Befugnis des Volkes und der Großen zum Widerstand gegen den das Volksrecht verletzenden König . . . keine eigentliche Theorie bestanden, aber doch eine sichere Volksüberzeugung,“ die erst unter dem Einfluß des Investiturstreits „anfing, rational betrachtet zu werden“ (S. 202 Anm. 367). So lernen wir die Volksüberzeugung erst und nur dann kennen, wenn der lat. schreibende und denkende Klerus Anlaß fand, sich mit ihr zu befassen und sie für seine Zwecke in Dienst zu nehmen, und es kann nur von der Denkweise der Gelehrten in den Stifts- und Klosterschulen, nicht aber von den in der Welt tätigen Fürsten und Großen gelten, wenn Kern erklärt: „Das Zeitalter war noch nicht imstande, realpolitische Erwägungen in den Vordergrund zu stellen; erst die Entdekkung der aristotelischen Politik hat im 13. Jahrhundert die Denkweise ein wenig in dieser Richtung befreit“ (F. Kern 1914 S. 249). So setzen die Quellen unserem Bestreben, in das Rechtsdenken der Laien und in die Dogmatik und Systematik der von Laien gepflegten Volksrechte einzudringen, hier eine Grenze, die zu über-
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schreiten Kern keinen Anlaß sah. So entging ihm der Zusammenhang, in dem das Widerstandsrecht zu dem Gebote einhelliger Willensbildung und zur Folgepflicht der Minderheit stand, die beide in dem System der identischen Willensbildung (oben: § 26) ihren festen Platz haben. Wenn wir uns aber die Herzogs- und Königreiche des früheren Mittelalters so aufgebaut denken, wie oben (§ 21) vorgeschlagen, so beginnt Licht auf die Rechtsform des Konsens- und Widerstandsrechtes zu fallen, deren von Kern konstatierte Formlosigkeit doch wohl nur eine Folge des Latinismus unserer Gewährsleute ist. Für Kern war es noch nicht möglich, das Volksrecht auf Königserhebung, auf Mitwirkung an der Regierung und auf Widerstand gegen unrechte Gebote an den Anfang zu stellen und das Gottesgnadentum dadurch von diesem Anfange abhängig zu machen, daß er die Reihenfolge seiner drei Kapitel umkehrte. Im Jahre 1914 konnte er sich noch keine auf die Souveränität des Volkes begründete und trotzdem gedeihliche Staatsverfassung vorstellen. Heute jedoch müßte es möglich sein, diesen umgekehrten Weg zu betreten. § 46. Nur beiläufig erörtert Fritz Kern die Frage, ob der fürstlich-ständische Dualismus, der die Verfassung der deutschen Territorialstaaten kennzeichnete, in Verbindung gebracht werden dürfe mit dem frühmittelalterlichen Dualismus von Herrscher und Volk, der sein eigentliches Thema bildete, oder ob die Unterschiede zwischen früherer und späterer Staatsform überwögen; in dem Widerstandsrecht, wie es zuerst das Volk und später die Stände ausgeübt hätten, sah er ein Element, welches beide verknüpfte (F. Kern 1914 S. 442 f.). Damit kam Kern auf ein damals heftig umstrittenes und bis heute ungelöstes Problem der deutschen Verfassungsgeschichte zu sprechen, auf die Frage nämlich, welchem Rechte oder politischen Interesse die Landstände ihre Stellung im Staate zu verdanken hatten und ob sie als Korporation oder als vorkonstitutionelle Repräsentanten des Volkes aufzufassen seien. Die namentlich von Gierke eingehend verteidigte Meinung, die Entstehung der Landtage sei aus dem mittelalterlichen Einungswesen und damit aus den schöpferischen Kräften des Volkes zu erklären, hatte niemals viele Anhänger gefunden, aber auch die entgegengesetzte Meinung, die den herrschaftlichen Ursprung der ständischen Rechte verfocht, konnte sich nicht recht durchsetzen, weil sie dem Mittelalter die Idee eines wahrhaft öffentlichen Staatswesens abzusprechen geneigt war und die altdeutschen Gemeinwesen zu Patrimonialstaaten erklärte, in denen das Volk ganz rechtlos gewesen wäre. Diese Staaten nämlich sollten ein Erbgut des Monarchen gewesen sein, dem das Obereigentum am Territorium zukam und der aus seiner Rechtsfülle den Landstandsberechtigten ein Mit- oder Untereigentum am Boden zugestanden habe, das als Realrecht auch die zum Territorium gehörigen Personen erfaßte; so hätte der Landesherr die Stände zwar zu privaten Eigentümern des Bodens und zu Untertanen gemacht, ihnen jedoch jede Beziehung zum Staate versagt und diesen ganz auf seine Person konzentriert. § 47. Die Lehre, im Territorialstaat habe einzig und allein der Wille des Landesfürsten konstitutive Kraft besessen und folglich die Stellung der Stände lediglich
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auf dessen widerruflichem Privileg beruht, konnte sich freilich weder auf mittelalterliche Quellen stützen, noch ließ sie sich in irgendein System germanisch-deutschen Rechtes einfügen. Sie beruhte durchgehend auf gemeinrechtlichen Begriffen, wie deutlich die Untersuchung zeigt, die Friedrich Tezner damals dem ständisch-monarchischen Staatsrecht widmete. Tezner stützte sich dabei auf die Zustände des 17. und 18. Jahrhunderts, als die Stände den Ausdehnungsbestrebungen der monarchischen Gewalt aus Arbeitsunlust und politischem Unvermögen kaum noch Widerstand entgegensetzten, denn: „Die Entstehung des Ständetums und seines Verfassungsrechts ist in tiefes Dunkel gehüllt“ (F. Tezner 1901 S. 3). Die verfassungsrechtliche Entwicklung des Ständestaates mußte sich der Verfasser daher anschaulich machen „durch die Gelöbnisformel der deutschen Landesherren, das Land und dessen Leute, Ritter, Knappen, Bürger, Bauern, Geistliche und Weltliche, Edle und Unedle, Arme wie Reiche bei allem Rechte und Freiheit und alter Gewohnheit zu lassen, die sie von früherher besitzen“. Diese Formel aber bezeugte ihm ein patrimoniales Verhältnis des Fürsten zu seinem Lande und eine subjektivische Verknüpfung zwischen der Landschaft, den Gliedern der Gemeinde und dem Landesrecht (ebd. S. 11 f.). Mit den modernen Begriffen von Gesetzgebung, Verordnung und Vollziehung fand Tezner daher die Einrichtungen des Ständewesens unvereinbar; diese machten „zur Zeit der schon fortgeschrittenen Rezeption des römischen Rechts“ einen höchst primitiven Eindruck (S. 15). Entstanden in Situationen, „welche für die Entwicklung der monarchischen Ideen ungünstig“ waren und von einzelnen Gruppen innerhalb des Gemeinwesens für ihre Zwecke ausgenutzt werden konnten, seien sie geprägt von dem „Überwuchern der von der Gesamtheit absehenden . . . , das Gemeinwesen pulverisierenden Privilegialgesetzgebung über die allgemeine Gesetzgebung, des subjektiven über das objektive Recht im ständisch-monarchischen Staat“ (S. 35). Weder als Korporation noch als mit Rechtssubjektivität ausgestattete Zwangsgenossenschaft sei die Landschaft bestimmbar, da es an Normen für die Voraussetzungen der Mitgliedschaft, die Willensbildung und namentlich die Beschlußformen, über die Verbindlichkeit der Beschlüsse für nicht Zustimmende oder Abwesende und über die Wirkung der Beschlüsse völlig fehlte (S. 56 – 62). Ebenso wenig seien die Landstände als Volksvertretung anzusehen, denn der Umstand, daß sie für den gemeinen Nutzen des Landes eintraten, reiche dafür nicht aus, da dies der ständische Monarch auch zu tun pflegte. Namentlich aber habe das Volk kein Recht, seine Interessen selbst wahrzunehmen, in Landesangelegenheiten mitzubestimmen oder seine Befugnisse „durch einen hierzu geeigneten Willensakt“ auf die Landstände zu übertragen: Das Volk sei vielmehr politisch rechtlos; die Stände träten auf Grund einer verfassungsmäßig selbständigen Befugnis für das Land ein, ohne irgendeinen anderen als Subjekt dieser Befugnis anzuerkennen. „Deshalb ruht auch das Recht der Landstände auf keinem Übertragungsakt des Volks und ist von demselben nicht abgeleitet“ (S. 69 – 73). Da das Volk rechtlos und handlungsunfähig wäre, seien entweder „die Landstände alleinige Konstituenten ihrer Rechte“ – Tezner vermied es immerhin, von Usurpation (oben: § 35) zu
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sprechen –, oder es sei neben ihnen „der König, der Landesherr“ in Betracht zu ziehen, der „mittels Privilegs bald ständische Rechte neu schafft, bald von dem römischen Reiche abgeleitete oder originär entstandene anerkennt“ (S. 73). Daraus folge, „daß die Landschaft keine Vertretung einer über sie hinausgehenden Gesamtheit von landtagsfähigen Aktivbürgern bildet, sondern diese Gesamtheit selber ist“ (S. 74). Allerdings nehme auch der Landesfürst „die richtunggebende Bestimmung und Wahrung der Landesinteressen in Anspruch und behaupte sie auch, ohne daß doch zwischen ihm und den Ständen eine wahrhaft organische Verbindung zu einer höheren Einheit bestünde“ (S. 76). Und nun mit ausdrücklicher Wendung gegen die historische Forschung und gegen Georg von Below, dessen einwandfrei auf das Zeugnis der Quellen gestützte Feststellungen über die landständische Willensbildung ich oben (§§ 13, 15 – 27) überall angeführt habe: „Will man somit die Eigenart des Ständestaates vollständig erschöpfen, so muß man anstatt von Dualismus des Fürsten und der Stände, vom Trialismus von Fürst, Ständen und der politisch rechtlosen Masse des Volkes sprechen“ und nicht nur der unorganischen Verbindung zwischen Fürst und Ständen, sondern auch der „unorganischen Natur des Verhältnisses zwischen Ständen und Volk“ gedenken (S. 77). Läßt man aber das Volk außer Acht, so bedeutet der ständische Dualismus die „Zerschneidung des Staates in zwei Stücke, von denen eines dem Herrscher, das andere den Ständen patrimonial- und individualrechtlich zugehört, wobei es an einem beide Teile mit hinreichender Festigkeit zu einer Einheit zusammenschließenden, rechtlichen Bande fehlt“ (S. 86). § 48. Wir haben in dieser Darstellung eine zutreffende Beschreibung der landständischen Institutionen und des deutschen Territorialstaates vor uns, eine Beschreibung allerdings, die sich als Ansammlung von Kuriositäten darstellt, weil Tezner den inneren Zusammenhang nicht sieht, der diese Einrichtungen für das mittelalterliche deutsche Rechtsempfinden gemäß den Regeln des oben skizzierten Identitätssystems miteinander verknüpfte. Der Gedanke, es könne sich bei den Einrichtungen des Ständestaates, wenn sie sich im Vergleich zum römischen Recht als primitiv erweisen, um lediglich andersartige deutschrechtliche Institutionen gehandelt haben, lag Tezner völlig fern. Ganz unbefangen urteilte er vom Standpunkte des römischen Rechts, des neuzeitlichen monarchischen Macht- und Behördenstaates und der gemeinrechtlich geprägten Staatslehre seiner Zeit aus. Selbst da aber gelangte er zu dem völlig richtigen Schluß, daß auch im Mittelalter ohne das Volk kein rechter Staat zu machen war und daß es sich dort nicht um dualistische, sondern um trialistische Systeme handelte. Behauptet man freilich mit Tezner die vollkommene Rechtlosigkeit und Unmündigkeit des Volkes und verschließt man sich der Erkenntnis, daß die Stände vermöge ihrer Identität mit dem Lande das Wort der Landesgemeinde zu halten befugt waren und selbst die Landesherrschaft ihren Rechtsgrund letzten Endes allein in der Huldigung der Untertanen fand, so kann es, wie Tezner mit unwidersprechlicher Konsequenz bewies, im Mittelalter gar keine öffentlichen Gemeinwesen, sondern lediglich Patrimonialstaaten gegeben ha-
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ben, gegründet von Herren, denen die Macht kraft eines „Mandates von außen und oben“ zugestanden habe (F. Kern, wie oben: § 41). § 49a. Dieselbe Konsequenz als Gegner der Lehre vom Patrimonialstaate hatte allerdings bereits Otto Gierke bewiesen, der in dem deutschen Staat des Mittelalters eine Schöpfung des Volkes und seines Rechtes, sich in freier Einung zu politischen Verbänden zusammenzuschließen, gesehen und damit die Städte und Länder des Reiches zu öffentlichen Gemeinwesen erklärt hatte (oben: § 36). Es waren also der Wille und die Mitwirkung des Volkes, worauf sich deren Öffentlichkeit gründete, während die Annahme einer fürstlichen, ein willenloses Volk bevormundenden Schöpfung notwendig zu jener Theorie des Patrimonialstaates führte, die in Deutschland zur Zeit des Deutschen Bundes von 1815 und des als Fürstenbund gegründeten Reiches von 1871 noch keineswegs weltfremd war. Schon damals allerdings war es möglich, zur richtigen Einsicht in das Wesen des mittelalterlichen Staates zu gelangen und in ihm die Schöpfung eines keineswegs willenlosen, sondern eines politisch aktiven Volkes zu erkennen, das ihn für seine eigenen Zwecke und daher von unten her erbaute, auf dem Grunde nämlich der Gemeinden, in denen es sich seine erste und älteste Verfassung gegeben hatte. Dies zeigt das Werk des aus Bremen gebürtigen Historikers Friedrich Keutgen (1861 – 1936). Keutgen hatte sich gründlich mit Zünften und Stadtgemeinden und mit der deutschen Hanse beschäftigt, bevor er sich, seit 1910 an der werdenden Universität zu Hamburg lehrend, der Geschichte der Reichsverfassung zuwandte. Er war davon überzeugt, daß sich das Volk bereits im Mittelalter von seinem Staate einen abstrakten Begriff zu machen verstand, insofern es eine besondere, von der Gesamtheit der Volksgenossen verschiedene Persönlichkeit als Inhaber der spezifisch staatlichen Rechte betrachtete. Zu dieser Überzeugung war er gelangt, weil er in dem gemeinsamen Handeln der Menschen in der Volksversammlung den Standpunkt gefunden hatte, von dem die Verfassungsgeschichte auszugehen hat, denn dort entstand der gemeine Wille, der den Staat als menschliches Gemeinwesen belebt. Zunächst habe sich dort „der Verbandswille mit dem Willen der versammelten Männer“ als einer Personenvielheit gedeckt, deren summiertes Wollen nicht ohne weiteres majorisiert werden konnte; „um so deutlicher aber wird sich der Wille des Verbandes“ als etwas davon Verschiedenes „fühlbar machen, wenn sich der Einzelne ihm schließlich dennoch widerstrebend unterworfen hat. Denn es gibt eben kein Abzählen der Mehreren und der Minderen, sondern gerade nur einen einheitlichen Willen des Verbandes!“ Ihm mußte „die Minderheit sich unbedingt unterwerfen, oder der Verband selbst spaltete sich. Eine Wiedervereinigung konnte nur auf gewaltsamem Wege oder durch Vertrag geschehen, da innerhalb des Verbandes nur ein einheitlicher Wille geduldet wurde. Bis dahin verfielen in der einen oder anderen Form die Widersätzlichen der Ächtung“ (F. Keutgen 1918 S. 8 f.). Soweit ich sehe, hat Keutgen als erster den Vorgang der gemeinen und öffentlichen politischen Willensbildung zum Ausgangspunkt der Verfassungsgeschichte
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gemacht und damit die Frage nach den Regeln aufgeworfen, denen dieser Vorgang unterlag. Seine Darstellung zeigt allerdings auch, daß sich diese Frage damals noch nicht beantworten ließ. Daher konnte Keutgen zwar behaupten, daß bereits dem mittelalterlichen Staate eine öffentliche, von allem Privatrecht verschiedene Rechtssphäre eigen gewesen sei, insofern als der Staat und sein Recht dem Gemeinnutzen, namentlich der Erhaltung von Frieden und Ordnung, dienten, aber er meinte doch, das Recht und die dazu erforderliche Gewalt hätten nicht durch Vertrag der Einzelnen miteinander geschaffen werden können (ebd. S. 16 – 24). Woraus aber hätten sie sonst entspringen sollen? Hier macht sich bemerkbar, daß Otto Gierke zwar die rechtsbildende Kraft der Einung konstatiert, aber deren Wesen und den Hergang der Rechtsbildung, den sie bewirkte, nicht aufgehellt hatte. Solange das nicht geschah, war indessen der Vorrang des gemeinen Volkswillens vor allen anderen Rechtsquellen nicht endgültig zu erweisen. Keutgen setzte ihn lediglich, wenn auch zutreffend, voraus. Unter dieser Voraussetzung aber urteilte er zu Recht, daß selbst Hans Fehr und Georg vom Below, die damals dem Land-, Amts- und Staatsrecht noch den weitesten Spielraum gegenüber dem Lehnrecht einräumten, darin nicht weit genug gingen und mit alten Theorien noch nicht genügend aufgeräumt hätten (ebd. S. 117, unten: § 677). § 49b. Mit den alten, den Vorrang des Lehnrechts vor dem Volks- und Landrecht behauptenden Staatstheorien war vor allem die Lehre vom Patrimonialstaat gemeint, die das Dasein des Staates erklären und rechtfertigen wollte, ohne sich auf den Grundsatz der Volkssouveränität einzulassen. Wir hörten bereits, daß Otto Gierke zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch Anhänger fand, weil die Bedeutung, die seine Lehre dem Volksrechte beimaß, mit der deutschen politischen Wirklichkeit jener Zeit in allzu offenkundigem Widerspruch stand. So erklärt es sich, daß Georg von Below (1858 – 1927), der Abkömmling eines altpreußischen Adelsgeschlechts und zu seiner Zeit einflußreichste unter Deutschlands Verfassungshistorikern, den Versuch unternahm, die Lehre vom Patrimonialstaate zu widerlegen, ohne doch mit Gierke und Keutgen dem genossenschaftlichen Staatsgedanken das Wort zu reden und damit den volklichen oder Untertanenverbänden eine verfassungspolitische Rolle zuzuweisen. Below nahm sich vor, die Öffentlichkeit des mittelalterlichen Staates aus einer als zeitlos-natürlich vorausgesetzten Souveränität des Königtums zu erweisen (E.-W. Böckenförde 1961 S. 202 – 209, H. Cymorek 1998 S. 124 – 130). Es ist höchst bezeichnend, daß dieser Versuch fehlschlug. Was die Verfassung des Territorial- und Ständestaates anlangte, wo er über umfassende Kenntnisse der Quellen verfügte, so hielt Below einerseits an der Lehre vom dualistischen Aufbau der Verfassung fest: Die Stände oder das Land und der mit königlichen Rechten ausgestattete Landesherr paktierten miteinander als verschiedene und selbständige, keiner höheren Einheit verpflichtete Rechtssubjekte; die Huldigungsformeln selbst deuteten das Vertragsverhältnis an, namentlich wenn der Landesherr den Ständen das Recht einräumte, die Huldigung nur unter bestimmten Bedingungen zu leisten und sie seinem Nachfolger zu verweigern, wenn dieser die Landesfreiheiten nicht
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bestätigte, denn dies lief auf die Anerkennung eines ständischen Widerstandsrechts hinaus (G. von Below 1923 S. 129 f.). Auf der anderen Seite beharrte Below darauf, daß die Stände eine wirkliche Vertretung des Landes waren, auch wenn ihre Vertretungsbefugnis weder auf Wahl noch auf ausdrücklicher Beauftragung durch die Landesgemeinde beruhte (ebd. S. 120 – 128; oben: § 16 Absatz 2b). Aber auf die entscheidende Frage, ob dies nicht eine Rechts- und Handlungsfähigkeit des Landesvolkes wenigstens insoweit voraussetzte, als es seine ständischen Worthalter durch stillschweigende Zustimmung ermächtigen konnte, ging Below wohlweislich nicht näher ein, obwohl es nahegelegen hätte, dies zu tun und damit eine Widerlegung sowohl der Gierkeschen Lehre von den verfassungsbildenden Kräften des Volkes (ebd. S. 59 Anm. 2, 106 f.) als auch des Teznerschen Trialismus-Postulates zu verbinden. Es mochte dem Verfasser leichtfallen, sich diesen (seinem erkenntnisleitenden Interesse zuwiderlaufenden) Schlüssen zu entziehen, weil ihm die Quellen nichts darüber vermeldeten. Ganz in Tezners Sinne stellte er fest, daß man vergebens nach den Ursachen der landständischen Verfassung frage: Allgemeine, von Land zu Land sich wiederholende Gründe ließen sich empirisch nicht ausmachen (ebd. S. 156). § 50. Auf dem Punkte, den die Diskussion im Jahre 1923 erreicht hatte, verharrt sie noch heute. Zwar reifte nun rasch die Einsicht heran, daß man nicht eigentlich über das Mittelalter redete, „solange man statt Verfassungsgeschichte eine formale rückwärts gewandte Staatsrechtsdogmatik betrieb“ (H. Mitteis 1933 S. 620), und 1939 erhob der Wiener Historiker Otto Brunner (1898 – 1982) es ins allgemeine Bewußtsein der Mediävistik, daß sich der Streit um den deutschen Staat des Mittelalters, mochte man ihn nun als Patrimonialstaat oder als Staat eines souveränen Königtums betrachten, durchaus auf dem Boden neuzeitlicher juristischer Begrifflichkeit vollzog und daß Georg von Below auch an der Überzeugung gescheitert war, verfassungsgeschichtlich könnten die mittelalterlichen Quellen nur mit modernen Begriffen interpretiert werden (O. Brunner 1943 S. 165 – 187 = 1965 S. 146 – 163). Aber bei dem Bestreben, statt dessen die dem deutschen Rechte jener Zeit eigentümliche Begrifflichkeit aufzudecken, kam man nicht recht voran. So zeigte Brunner zwar richtig den Zirkelschluß auf, in dem sich die Diskussion über die Entstehung des Territorialstaates verfangen hatte: „Auf die Frage: Was ist Landeshoheit? antwortet die Literatur: die Herrschaft über ein Land. Was ist aber ein Land? das Herrschaftsgebiet eines Landesherrn“ (O. Brunner 1943 S. 193 = 1965 S. 169). Aber aufzulösen vermochte Brunner den Zirkel nicht, auch wenn er – ganz im Sinne der vorliegenden Untersuchung – den Schwerpunkt vom Fürsten auf das Land verschob: „Landrechtliche Gerichtsgewalt schafft das Land, nicht die Landesherrschaft. . . Keinesfalls aber kann von einem (einheitlichen) Lande die Rede sein, wenn die nach Landrecht lebenden Landleute als Gerichtsgemeinde nicht vorhanden sind. Sie sind ,Kern‘ und Träger des Landes. Damit soll die geschichtliche Bedeutung der Landesherren nicht zurückgesetzt werden. Ihre Politik allein hat die Länder geschaffen oder erhalten“ (O. Brunner 1943 S. 267 = 1965 S. 233).
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In einem Zirkelschluß von derselben Art blieb die Verfassungsgeschichte der deutschen Hanse stecken, wenn sie lehrte, es mache eine Hansestadt aus, daß ihre Bürger die hansischen Auslandsprivilegien gebrauchten; zu deren Gebrauche zugelassen habe die Hanse jedoch nur jene Kaufleute, die Bürger einer Hansestadt waren (E. Pitz 2001 § 294). Beide Zirkel, sowohl der territorial- als auch der hansegeschichtliche, bleiben offenkundig undurchschaubar, solange man von der Priorität eines der beiden Rechtsgebilde ausgeht, dort des herrschaftlichen oder gemeindlichen, hier des einzelstädtischen oder gesamthansischen, anstatt die in den Quellen bezeugte Identität von Ländern, Ständen und Herrschaften bzw. von Städten und Hanse zum Ausgangspunkte zu nehmen, die es uns verbietet, das eine dem anderen vor- oder nachzuordnen (E. Pitz 2001 § 368). Brunner schlug freilich den richtigen Weg bereits ein, indem er den Vertretungsbegriff in gleich welcher Form für „auf die Landstände nicht anwendbar“ erklärte, das Land als Einheit von Landesherrn und Landesgemeinde bestimmte („Landesherr und Landesgemeinde zusammen bilden das Land“) und die Existenz der Länder auf das ihnen vorgegebene, althergekommene Landrecht gründete (O. Brunner 1943 S. 484 – 486 = 1965 S. 423 f.). Von dem „Dualismus“ des Ständestaates sprach Brunner folglich nur noch in Anführungszeichen (ebd. S. 500 f. = 473 f.), wie er sich auch darin von Tezner und Below unterscheidet, daß er die Entstehung der Länder während des 11. bis 13. Jahrhunderts nicht mehr für unerforschlich hielt. Ich gehe über ihn nur insofern noch hinaus, als ich in Anwendung des verfassungsrechtlichen Identitätssystems auf die hochmittelalterlichen Länder diese als herrschaftliche Einungen (oben: §§ 7 – 11) erkläre und folglich das Landrecht von der Mystifikation des alten Herkommens erlösen kann, indem ich es als den Gemeinwillen der Landeseinung bestimme. § 51. Die sachlichen Fortschritte, die Brunner erzielte, wären nicht möglich gewesen ohne die methodische Erkenntnis, daß sich die Verfassungsgeschichte des Mittelalters von der Denkweise und Begriffsbildung der modernen Staatsrechtslehre lösen müsse – eine Forderung, die, wenn man die bis ins Mittelalter zurückreichende gemeinrechtliche Vorgeschichte jener Staatslehre in Rechnung stellt, Hand in Hand gehen sollte mit dem Versuch, auch den Latinismus und Klerikalismus der Quellen zu überwinden, der bereits rein sprachlich die Beobachtung deutschrechtlicher Institutionen des öffentlichen Lebens jener Zeit erschwert. Brunners berühmte und vielzitierte Forderung lautet: „Es muß der Versuch einer Darstellung des inneren Baus der politischen Verbände des Mittelalters gemacht werden, die mehr ist als ein System des positiven Staatsrechtes und die dabei doch nicht auf die Darstellung der Rechtsnatur dieser Verbände verzichtet . . . , die sich bewußt ist, daß wesentliche Begriffsmerkmale des neuzeitlichen Staates den mittelalterlichen Verbänden fehlen, und die sie darum doch nicht als ,privat‘ oder als ,Gesellschaft‘ betrachtet. Soll eine solche Lehre richtig sein, so werden von ihr zwei Dinge gefordert werden müssen. Erstens, daß die Terminologie, die sie verwendet, soweit als möglich den Quellen selbst entnommen sei, so daß der Sinn dieser Quellen mit Hilfe dieser Begriffe richtig gedeutet werden kann. Dann zweitens aber – und das
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ist das Entscheidende –, daß die so beschriebenen Verbände in ihrem tatsächlichen Handeln begriffen werden können. Eine Darstellung der mittelalterlichen Ordnungen wird nur richtig sein, wenn daraus zugleich die mittelalterliche Politik verstanden werden kann“ (O. Brunner 1943 S. 187 = 1965 S. 163). § 52. Einen Weg, auf dem man zu der hier geforderten Terminologie vordringen kann, hatte damals bereits der Tübinger Jurist und Rechtshistoriker Philipp Heck (1858 – 1943) aufgewiesen; es ist wahrscheinlich der einzige Weg, welcher der Forschung überhaupt offensteht. Als Gelehrter, der in der Zivilistik genauso perfekt zu Hause war wie in der Germanistik, war Heck mit dem jeweils ganz eigenartigen Geiste oder Menschenbilde, welches uns in der Dogmatik des römischen und des germanischen Rechtes entgegentritt, von Grund auf vertraut. Seine Übersetzungslehre erweist sich als ein Meisterwerk, wie es nur auf dem Boden jener neuhumanistischen Sprachschulung erwachsen konnte, die in dem Bildungsideal des 19. Jahrhunderts ihren Grund hatte und mit diesem heute genauso der Vergangenheit angehört wie die Begriffe des Geistes und der Geisteswissenschaft. „Die Notwendigkeit der Übersetzungslehre,“ schreibt Heck, „ergibt sich aus dem Zwiespalt, der in dem frühen Mittelalter auf deutschsprachlichem Gebiet zwischen der deutschen Sprache des Rechtslebens und der lateinischen Urkundensprache bestanden hat. Die rechtsbildenden Elemente haben deutsch gesprochen und ihre Normen einschließlich der Geschäftsnormen in deutscher Sprache geformt. Aber die Festlegung für die Dauerwirkung erfolgte in lateinischen Urkunden. Daraus folgt notwendig, daß diese Urkunden insoweit durch Übersetzung aus dem Deutschen entstanden sind“ (Ph. Heck 1931 S. 2; siehe oben: § 14). Heck unterschied die Grundübersetzung eines Textes, der im Deutschen nur als mündlicher Vortrag bestand, in das Latein der urkundlichen Niederschrift von der Rückübersetzung der lat. Urkunde ins Deutsche und speziell von der vor Zuhörern wiederum nur mündlich vorgenommenen Vorübersetzung als dem einzigen Verfahren, durch welches lat. Rechtstexte und Urkunden im Rechtsleben einer analphabetischen Gesellschaft wirksam werden konnten (ebd. S. 4 – 7). Er zitiert dazu das Gebot Kaiser Karls des Großen vom Jahre 802, dem zufolge „die Richter richtig gemäß dem geschriebenen (Volks-)Recht, nicht aber nach ihrem Gutdünken urteilen“ sollten (MGH. Capit. 1, 91 n. 33 c. 26), mit der Bemerkung, dies heiße nicht, daß die Richter die in lat. Sprache geschriebenen Volksrechtsbücher lesen können, sondern daß sie sich, als Analphabeten, die Gesetze vorübersetzen lassen sollten (Ph. Heck 1931 S. 30 f.) Als Übersetzer kamen nur Kleriker in Frage; waren dies zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Schulen ausgebildete Personen, so wählten sie wahrscheinlich verschiedene Äquivalente für die Fachausdrücke ihrer Vorlagen, und den Übersetzungsfehlern, die ihnen dabei unterliefen, waren die des Lesens unkundigen Rechtsuchenden ebenso wie die Gerichtspersonen hilflos preisgegeben. Fehlerquellen müssen sich insbesondere bei der „Übersetzung zu Protokoll“ und im „Reinschriftverfahren“ ergeben haben (ebd. S. 11 – 19), wenn nämlich der Translator einer Verhandlung zugleich als Protokollant beiwohnte und das, was er in deutscher Sprache hörte, unmittelbar auf lateinisch niederschrieb, ohne
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zunächst eine deutsche Niederschrift anzufertigen und ohne Übersetzungshilfen hinzuziehen oder seinen Text nachträglich revidieren zu können, wenn also seine erste Niederschrift zugleich und sofort als Reinschrift diente. § 53. Aus diesen Erwägungen zog Heck für die wissenschaftliche Arbeit die Folgerung, daß der Historiker vor jeder Auslegung der Texte zunächst und grundsätzlich die „Äquivalentfrage“ stellen müsse: Er dürfe die Texte nicht „lateingemäß“ auslegen, sondern müsse erst die deutschen Äquivalente der lat. Worte aufsuchen und die Möglichkeiten der Rückübersetzung prüfen, bevor er sich an die Interpretation mache (ebd. S. 3, 19). Bei einem lat. Text, der sich als „Urschrift“ erweist, d. h. der nicht Übersetzung ist, sondern lat. Gedanken wiedergibt, „haben wir nach den sachlichen Vorstellungen zu fragen, welche in der Person des Urhebers für die Wahl des Lateinwortes kausal gewesen sind,“ bei den Übersetzungsquellen dagegen „haben wir von vornherein die Äquivalentfrage oder Übersetzungsfrage zu stellen. Erst wenn wir das deutsche Wort gefunden haben, darf die Sachauslegung einsetzen, ausgehend von dem usuellen Wortsinn des deutschen Worts“ (S. 22). Diese Auslegung kann von der unkontrolliert dem lat. Sprachgefühl folgenden stark abweichen, wie Heck an vielen Beispielen aus der rechtsgeschichtlichen Literatur nachwies, der er ihren „Latinismus“ vorwarf, die Behandlung nämlich der aus dem Deutschen ins Lateinische übersetzten Quellen als lat. gedachter Urschriften (S. 25 f., 85 A. 1). Beispielsweise verfahre sie, wenn sie vom Adel spreche, „so, als ob das Wort nobilis nicht die Übersetzung eines deutschen Wortes wäre, sondern ein schmückendes Beiwort, das die Urheber des Lateintextes auf Grund sachlicher Würdigung der sozialen Stellung hinzugefügt haben.“ Verkenne man darin die lat. Übersetzung eines deutschen Rechtswortes, das einen juristischen Tatbestand bezeichnete, so erörtere man einen Sprachgebrauch, wie er sich bei einem lat. sprechenden Volke hätte entwickeln können, nicht jedoch in deutschsprachigen Reichs- oder Gerichtsversammlungen (S. 99 – 101). Was die Zuverlässigkeit jener mündlich verfaßten Texte anlangt, auf die sich die Grundübersetzungen bezogen und die man durch Rückübersetzung wiederherstellen wollte, so warf Heck den Fachkollegen vor, die Wirkungen der allgemeinen Dingpflicht zu wenig in Rechnung zu stellen (S. 42, 238 A. 5). Da jeder Laie mehrmals im Jahre zu feststehenden Terminen sein eigenes Gericht besuchen mußte, um dort Zeuge der eingebrachten Klagen, der vom Volke gefundenen Urteile und der richterlichen Amtshandlungen zu werden, außerdem aber speziell in Friesland dem amtlichen Gesetzessprecher und dessen Vortrag des Landrechts zuzuhören, müsse als Folge der Dingpflicht eine allgemein verbreitete Kenntnis der Gerichtsverfassung und des Rechtes vorausgesetzt werden. Wenn Kaiser Karl von Grafen und Zentenaren und überhaupt von allen adligen Herren verlangte, daß sie ihr jeweiliges Volksrecht vollkommen auswendig lernen sollten (legem suam pleniter discant, MGH. Capit. 1, 147 n. 60 c. 3), so war damit das Memorieren der ihnen vorübersetzten Gesetzestexte gemeint, deren Kenntnis eine sachliche Notwendigkeit für jenen vornehmsten Stand germanischer Völker bildete, der in den Grafen-
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gerichten die Vorsitzenden und die Urteilsfinder stellte (Ph. Heck 1931 S. 296. Unten: § 411). Wer sich unter diesen Umständen öffentlich über Rechtsdinge äußerte, der besaß folglich solide Rechtskenntnisse und mußte solche auch bei seinen Adressaten voraussetzen, so daß er gar keine Aussicht hatte, für unwahre Aussagen über die Grundzüge des Rechtslebens irgendwo Glauben zu finden. Als merkwürdige Verirrung und schweren Irrtum prangerte Heck die moderne Annahme an, der Verfasser des Sachsenspiegels habe sich aus mystischer Vorliebe für die Dreizahl den Mutwillen herausnehmen können, statt zweier bei den Sachsen wirklich bestehender Gerichte und Rechtsstände deren je drei zu fingieren. Solange wir uns die Gerichtsverfassung des Sachsenspiegels nur mit derartigen Hypothesen verständlich machen könnten, sei die richtige Interpretation dieser Quelle noch nicht aufgefunden (ebd. S. 42, 239). § 54. Daher mutete Heck „der Forschung zu, die grundlegende Methode der Quellenanalyse zu ändern und auf neuer Grundlage aufzubauen“ (S. 285). Seine Studien zu den Standesrechtsverhältnissen des frühen Mittelalters führten ihn zu demselben Ergebnis, das sich uns bei der Erforschung des Identitätssystems aufdrängt, da dieses uns in den spätmittelalterlichen Quellen nicht unmittelbar bezeugt, sondern lediglich in der Sprache und im Geiste der Textzeugen aufbewahrt ist: „Schlußfolgerungen aus dem Sprachgebrauch haben dann, wenn sie so sicher sind, wie in unserem Falle, einen besonders umfassenden Erkenntniswert. Es liegt in der Beschaffenheit unserer Überlieferung, daß nicht alle Vorgänge der Vergangenheit für uns unmittelbar sichtbare Spuren hinterlassen haben. Aber auch die jetzt verschollenen Vorgänge haben die Sprechsitte beeinflußt. Die Sprache ist gleichsam eine Resultante des gesamten Lebens der Vergangenheit. Sie kann einen Schluß auf das Bestehen und Nichtbestehen von Vorgängen gestatten, über die unsere anderen Quellen schweigen“ (S. 231 A. 2). Heck war sich allerdings auch dessen bewußt, daß der methodische Fortschritt, den der Einblick in den Vorgang der Übersetzung ermöglicht, seinen Preis habe: Es sei die Verwendung spezieller Hilfsmittel erforderlich, um die Äquivalenz deutscher und lat. Worte zu ermitteln; als deren wichtigstes hatte Heck die althochdeutsch-lateinischen Vokabulare und namentlich die ahd. Interlinearglossen in lat. Texten entdeckt, die während seiner Lebenszeit im Druck erschienen waren (E. Steinmeyer / E. Sievers, Glossen 1879 – 1922) und uns tatsächliche Rückübersetzungen unmittelbar bezeugen. Seine Forderung freilich: was wir brauchten, sei „ein alphabetisches Verzeichnis aller überhaupt glossierten Lateinworte“ (Ph. Heck 1931 S. 20, auch S. 9, 148), blieb lange Zeit ein unerfüllter Wunsch; erst seit 1993 / 99 steht uns dieses unentbehrliche Hilfsmittel zur Verfügung (H. Götz, Wb. 1993, 1999). Die Erstellung der Hilfsmittel aber bedingte eine neue Hilfswissenschaft, und diese „vermehrt die Arbeit, denn die Frage nach dem deutschen Äquivalent ist nicht immer einfach zu beantworten. Es können umständliche Erörterungen erforderlich werden. Die einzelnen Worte und Wortverbindungen werden
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gleichsam zu selbständigen Untersuchungsobjekten, zu neuen Problemquellen. Die Lösung fordert Vorkenntnisse und strenge Denkarbeit und kann bei einem scheinbar klaren Text in einem ,non liquet‘ enden. Die Auslegung des Lateintextes nach ,Intuition‘ mit unbewußter Einwirkung des uns anerzogenen lat. Sprachgefühls ist sehr viel natürlicher, bequemer und ungezwungener. Sie erbringt auch oft mehr und bestimmtere Ergebnisse, nur leider weniger richtige“ (Ph. Heck 1931 S. 28). § 55. So ist denn auch die Forschung auf dem von Heck eingeschlagenen Wege noch nicht allzu weit vorangekommen. Otto Brunner kam zwar einmal auf den Nutzen der Methode zu sprechen, nämlich da, wo es ihm um die Bedeutung des deutschen Wortes Land und um dessen lat. Äquivalente terra, provincia, pagus, territorium ging (O. Brunner 1943 S. 210 – 222 = 1965 S. 184 – 192), aber ihre systematische Anwendung lag nicht im Plane seiner Untersuchung. Mit Begeisterung griff dagegen Walter Schlesinger (1908 – 1984) in seiner Habilitationsschrift von 1941 den Übersetzungsgedanken auf, „der in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann“ (W. Schlesinger 1941 S. 5). Wie schon Brunner es getan, so brach Schlesinger energisch mit der im 19. Jahrhundert begründeten Lehre, der Territorialstaat sei eine Schöpfung der Landesherren gewesen, die entweder durch Privileg oder durch Usurpation königliche Rechte an sich gebracht hätten; dagegen setzte er (ähnlich, wie im 18. Jahrhundert geschehen, oben: § 35) die Herkunft aus eigenständiger Herrschaft des Adels über Land und Leute, die er für ebenso alt erachtete wie das Königtum. Zugunsten dieser These, die eine ganz andere Vorstellung von mittelalterlicher Staatlichkeit begründete, als die Verfassungsgeschichte bis dahin gelehrt hatte, machte Schlesinger drei Voraussetzungen geltend: nämlich Kenntnis der Vorgänge der Besiedlung jedes Landes, Kenntnis des ständischen Aufbaus des Volkes und – dies die Hauptsache – „Kenntnis der deutschen Entsprechungen für die in den lateinisch geschriebenen Quellen entgegentretenden Wörter, zumal diejenigen rechtlichen Inhalts, denen wir vielfach einen gänzlich falschen, nur für das klassische Latein zutreffenden Bedeutungsgehalt beimessen“ (ebd. S. 9 f.). Wie Heck betrachtete Schlesinger die Glossen als Niederschlag von Versuchen der Rückübersetzung und daher als wichtigstes Hilfsmittel, um diese Kenntnis zu erlangen: „Vorzugsweise die althochdeutschen Glossen geben uns die Mittel in die Hand, die deutschen Entsprechungen der lateinischen Rechtsausdrücke aufzufinden“ (ebd. S. 11). Auf Schlesingers in späteren Arbeiten noch vermehrte Begriffsgleichungen werden wir uns im folgenden überall stützen können. § 56. Schule freilich hat Schlesinger damit nicht gemacht. In der Vorbemerkung zum Neudruck seines Buches sagte er 1964 selbst, „daß die Methode . . . 1941 keineswegs Gemeingut war und wohl auch heute nicht ist“ (ebd. S. XI), und daran haben wohl auch die seit 1966 in bewundernswert dichter Folge erschienenen Arbeiten nichts geändert, in denen der Rechtshistoriker Gerhard Köbler nicht nur die Methode mit durchschlagendem Erfolg auf grundlegende Begriffe der Rechts- und Verfassungsgeschichte anwandte, sondern sich auch die dafür
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notwendigen philologischen Hilfsmittel schuf. „Schlesingers Ruf nach Wortgeschichten“ aufnehmend, stellte Köbler fest, daß niemand wisse, ob wir, was das Frühmittelalter anlange, mit den aus der Spätantike überkommenen Wörtern unserer lateinischen Quellen auch deren römischrechtliche Inhalte und Vorstellungen beibehalten oder ob wir die Sachinhalte der viel jüngeren nieder- und mittelhochdeutschen Überlieferung in jene Zeit zurückverlegen dürften (G. Köbler 1966 S. 60). Um aber diese Frage beantworten zu können, sei in Rechnung zu stellen, „daß die lateinischen Wörter nicht endgültige, sondern nur mittelbare Erkenntnisobjekte sein können, weil die Rechtswirklichkeit in ihnen gleichsam nur gebrochen überliefert ist. Daher ist es notwendig, auf die unter der lateinischen Decke verborgenen deutschen Wörter zurückzugreifen“ (ebd. S. 61; G. Köbler 1971 S. 171 – 174). Die deutsche Frühmittelalterforschung stehe „der Schwierigkeit gegenüber, daß, obgleich die ganz überwiegende Mehrzahl der frühmittelalterlichen Geschehnisse ohne jeden Zweifel im nationalsprachlichen Medium verlaufen ist, die zeitgenössischen Nachrichten hierüber lateinisch abgefaßt sind. Da unser heutiges Verständnis des Lateinischen aber an der Gegenüberstellung von klassisch-lateinischer und neuzeitlicher Begriffswelt orientiert ist, besteht für die historische Forschung die Gefahr, der sie . . . häufig genug erlegen ist, den lateinischen Wörtern frühmittelalterlicher Nachrichten Inhalte zuzusprechen, die ihnen niemals zugekommen sind.“ Dem könnten die Übersetzungsgleichungen zu jenen lat. Wörtern abhelfen, die in übersetzten lat. Texten enthalten sind, denn für diese Wörter begründeten sie „die Wahrscheinlichkeit, daß sie, wenn sie überhaupt in frühmittelalterlichen lateinischen Quellen erscheinen, dort eben diejenigen nationalsprachlichen Begriffe vertreten, welche in den Übersetzungsgleichungen zur Wiedergabe verwandt sind“ (G. Köbler, Wb. 1971 S. I). Zweck dieser Gleichungen, die zu ermitteln bereits Philipp Heck gefordert habe, sei es, „zwar primär für das frühmittelalterliche Latein, aber auch umgekehrt, die Ausdrücke der jeweils anderen Sprache zur Aufklärung des Inhalts der einen zu verwerten. So wird, um ein Beispiel zu nennen, der Inhalt des frühmittelalterlichen Wortes civitas klarer, wenn man sieht, daß es germanistisch als burg übertragen wird, wobei sich das letztere wieder dadurch erhellt, daß man es außer für civitas für urbs, arx und castrum findet“ (G. Köbler, Wb. 1975 S. XVII). Wohl nicht zu Unrecht meinte der Verfasser, dieses Grundproblem der deutschen Frühmittelalterforschung werde von der deutschen Philologie nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, denn dafür spricht ebenfalls die langwierige Vorgeschichte des erst kürzlich als Beiband zum Althochdeutschen Wörterbuch erschienenen lateinisch-althochdeutsch-neuhochdeutschen Wörterbuchs (H. Götz, Wb. 1999, S. VIIf.). § 57. Im großen und ganzen also hat sich Hecks Voraussage über die Schwierigkeiten erfüllt, die seine Arbeitsweise mit sich brachte und die auf junge Forscher namentlich dann, wenn die Drohung „publish or perish“ über ihnen schwebt, notwendigerweise abschreckend wirken muß. Das Interesse der Wissenschaft wandte sich daher der von O. Brunner und W. Schlesinger hoch bewerteten Siedlungs- und
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Einleitung: Aufgaben und Ziele der Verfassungsgeschichte
Adelsgeschichte und schließlich den modischen Neuheiten fächerübergreifender Struktur- und Alltagsgeschichte zu, wo man mit Belesenheit und einigen kühnen theoretischen Gedanken ein rasches, freilich auch vergängliches Ansehen erringen kann. So zerfiel in den letzten Jahrzehnten die mühsame Zusammenarbeit zwischen Mediävistik und Rechtsgeschichte, die das hervorstechende fachliche Merkmal der einst von Georg Waitz begründeten Verfassungsgeschichte gewesen war. Waitz hatte als deren Gegenstand die Menschen bestimmt, sofern sie nicht nur Siedler und Wirtschafter, sondern zugleich auch „in ihrer Vereinigung die Träger des rechtlichen und staatlichen Lebens“ waren, denn „was jeder für sich ist, ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft, in der er steht, das gehört nicht dem Recht und nicht der Geschichte an“ (G. Waitz Bd. 1, 21865, S. 422, 390). Das öffentliche Leben in eine so enge Verbindung zum Rechte zu setzen, war damals in der Geschichtsschreibung so ungewöhnlich, wie es das heute wieder ist. In der Widmung des Werkes an seinen Lehrer Leopold von Ranke hatte sich Waitz daher dafür entschuldigt, daß er sich so weit in rechtsgeschichtliche Forschungen eingelassen, und zur Rechtfertigung angeführt, daß ohne dies die Arbeit nicht hätte unternommen werden können (ebd. S. V). Diese Auffassung von Verfassungsgeschichte ist heute so vollkommen vergessen, daß Historiker etwa den Begriff der Repräsentation dazu benutzen können, die Selbstdarstellung der Mächtigen und ihrer Macht zu bezeichnen, ohne sich darin durch die juristische Bedeutung des Wortes behindert zu fühlen. Dieser Sprachgebrauch geht auf ein obiter dictum des Soziologen Jürgen Habermas aus dem Jahre 1962 zurück, dem zufolge die Rechtsgemeinschaft im Mittelalter der Funktion eines kritischen Beobachters ihrer Regierungen schlechthin entbehrt und lediglich als „repräsentative Öffentlichkeit“ existiert habe: „Öffentlichkeit als ein eigener, von einer privaten Sphäre geschiedener Bereich läßt sich für die feudale Gesellschaft des hohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand institutioneller Kriterien, nicht nachweisen. . . Solange der Fürst und seine Landstände das Land ,sind‘, statt es bloß zu vertreten, können sie in einer spezifischen Weise repräsentieren; sie repräsentieren ihre Herrschaft, statt für das Volk, vor dem Volk“. Diese Form der „höfisch-ritterlichen Repräsentation“ sei im adligen Turnier und in der Reichsversammlung erschienen und habe schließlich in dem französisch-burgundischen und spanischen Zeremoniell am Ende des Mittelalters ihren Höhepunkt erreicht. Ihr habe eine besondere Form der Öffentlichkeit entsprochen, von der es heißt: „Vertretung, etwa im Sinne der Repräsentation der Nation oder bestimmter Mandanten, hat mit dieser repräsentativen Öffentlichkeit, die an der konkreten Existenz des Herrn haftet und seiner Autorität eine ,Aura‘ gibt, nichts zu tun“ (J. Habermas 1962 / 1990 S. 60 – 63). Wie bereits die Einbeziehung des Fürsten in die Identität der Landstände mit dem Lande zeigt, spricht hier der Soziologe von einem ganz anderen Mittelalter, als es der Verfassungshistoriker kennt. Dessen Mittelalter nämlich lebte geradezu
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aus dem Gegensatz jedes heimlichen und daher der Rechtswidrigkeit verdächtigen Tuns zum öffentlichen Tun der Rechtsgenossen (unten: §§ 105, 107) und zählte namentlich alle Akte gemeindlicher Willensbildung zu den Dingen, die in der Öffentlichkeit des versammelten Volkes (unten: § 66) in Gerichts-, Landes- und Bürgerversammlungen oder der Worthalter des Volkes auf Landes-, Städte- oder Reichsversammlungen vor sich gehen mußten, um allgemeine Verbindlichkeit zu erlangen, wie denn allgemein nicht Fürsten und Könige, sondern die Rechtsgenossenschaften gemeinlich als Depositare des Rechtes galten (unten: § 172). Gewiß kleidete sich diese Form der Öffentlichkeit noch nicht in das Gewand parlamentarischer Repräsentation, sondern in das des präparlamentarischen Identitätssystems, aber dieser Unterschied ist kein Grund, um ihre Existenz zu bestreiten und an die Stelle der verfassungsmäßigen Institution beliebige sozial- oder kulturgeschichtliche zu setzen. Obwohl man daher das von Habermas erfundene Bild nahezu als Karikatur bezeichnen kann, hat es in jüngster Zeit eine ganze Schule von Mediävisten in seinen Bann geschlagen. Dies kann natürlich nicht heißen, daß die rechtsgeschichtlichen Probleme der Repräsentation und der Mitwirkung des Volkes am mittelalterlichen Staate gelöst wären. Vielmehr sucht die neue Schule diese schwierigen und zudem einer Nationalgeschichte, die durch die deutsche Katastrophe von 1945 diskreditiert ist, angehörigen Probleme zu umgehen und voranzukommen, ohne sie gelöst zu haben. Aber damit begeht sie einen schweren Fehler. Denn da Volksrechte und Kapitularien, Diplome und Privaturkunden, Land- und Stadtrechte auch zu den unentbehrlichen Quellen jeder Art von Sozial- und Strukturgeschichte gehören, dies aber Texte sind, die einst um der Dokumentation von Rechtstatsachen, Rechtsnormen und Rechtsverhältnissen willen niedergeschrieben wurden, so hängt von dem richtigen Verständnis ihrer Entstehung in einem deutschsprachigen öffentlichen Leben und des von ihnen gemeinten deutschen Rechtes auch die Wahrheit aller heutigen geschichtlichen Erkenntnisse ab, was immer sie auch sonst an Fächern und Interessen zu übergreifen imstande sein mögen. § 58. Bei diesem Stande der Forschung kann man sich folgende Lösung für die oben (in § 31) bezeichnete Aufgabe vorstellen: Unter dem Titel einer Verfassungslehre wären zunächst die Terminologie und das System zu entfalten, deren sich die Verfassungsgeschichte mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch der Quellen und die Ordnungsbedürfnisse der Wissenschaft bedienen müßte oder könnte. Vor allem belasten wir die Verfassungslehre mit der Aufgabe, einen Standpunkt aufzusuchen, von dem aus sich die widersprüchlichen Einzelergebnisse der neueren Forschung beurteilen und sich entweder verwerfen oder aber korrigieren und zu einer geschlossenen Theorie des mittelalterlichen Staates zusammendenken lassen. Zu Recht hat man von den landesgeschichtlich bestimmten Studien des 20. Jahrhunderts gesagt, es sei ihnen zwar gelungen, das klassische, von Georg Waitz errichtete Lehrgebäude des 19. Jahrhunderts zu untergraben (unten: § 333), jedoch seien sie unfähig gewesen, es durch ohne weiteres
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verständliche Theorien zu ersetzen und daraus einen Neubau des Ganzen aufzuführen (H. K. Schulze 1973 S. 18, 22). Damit ist das Ziel angegeben, das wir der Verfassungslehre setzen und, gestützt auf die Lehre von dem System identischer Willensbildung, zu erreichen hoffen. Die Verfassungslehre wäre zugleich so einzurichten, daß sie auch den um die Mitte des 9. Jahrhunderts erreichten Stand der Verfassungsbildung beschreibt, von dem die Verfassungsgeschichte des Ostfränkisch-deutschen Reiches ihren Ausgang genommen hat. Auf die Verfassungslehre sollte sich sodann die eigentliche Verfassungsgeschichte aufbauen; sie hätte es mit den geschichtlichen Kräften, die die scheinbar zuständliche Verfassung in ständiger Bewegung und ständigem Wandel erhalten, und mit den Institutionen zu tun, die aus dem Widerstreit dieser Kräfte hervorgehen und mit jeder Generation neue Gestalten annehmen. In der Bearbeitung der Verfassungsgeschichte erst kann sich die Verfassungslehre bewähren und die Brauchbarkeit und Richtigkeit der von ihr entworfenen Begriffe und Ordnungen an den Tag bringen. Die Lehre hat sich nach der Geschichte zu richten, zu deren Erfassung sie entworfen worden ist. Die Verfassungsgeschichte wäre demnach in chronologischer Folge und vornehmlich an Hand jener Quellen darzustellen, die Wilhelm Altmann, Ernst Bernheim und Karl Zeumer bereits seit 1891 in besonderen, für den akademischen Unterricht bestimmten Sammlungen vereinigt haben (DW 10. Aufl. Abschnitt 39 / 2316, 2344) und die heute innerhalb der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe (FSGA) in zweisprachiger Fassung den Studierenden zugänglich sind. Diesen Weg einzuschlagen scheint mir auch deswegen geboten zu sein, weil ich aus dreißigjähriger Lehrerfahrung weiß, daß zweisprachige Ausgaben für sich allein einer Leserschaft, die nicht mehr über ernsthaft belastbare Kenntnisse des Lateinischen verfügt, nicht dazu verhelfen können, sich in das Studium mittelalterlicher Geschichtsquellen zu vertiefen. Hierzu bedarf es vielmehr kommentierter Ausgaben, die die Übersetzungsprobleme erläutern und in die wissenschaftliche Literatur einführen, die sich mit diesen Problemen befaßt und der wir es zu verdanken haben, wenn wir zu behaupten wagen, wir könnten diese Texte (dem heutigen Stande der Forschung entsprechend) verstehen. Nach anderthalb Jahrhunderten intensiver Tätigkeit dürfte die Mediävistik heute einen Wissensstand erreicht haben, wie ihn die klassische Altertumswissenschaft bereits vor hundert Jahren besaß und sowohl in einer Realenzyklopädie als auch in kommentierten Textausgaben niedergelegt hat, die uns hier als Vorbilder dienen können.
Erster Teil
Die Gemeinden Drittes Kapitel
Ursprung und Wesen staatlicher Hoheit §§ 59 – 72. Alteuropäische Gemeindestaaten § 59. Unverfaßte oder nahezu verfassungslose Gesellschaften, die jeglicher hoheitlichen Gewalt entbehrten, wie man sie vor- und frühgeschichtlichen Zeitaltern zuschreiben möchte, lassen sich in Europa nur in Rand- und Rückzugsgebieten jenseits der Grenzen geschichtlicher Hochkultur und nur auf Grund wenig zuverlässiger Überlieferungen beobachten. Egalitäre Gewohnheitsgesellschaften, wie sie von Ethnologen außerhalb Europas angetroffen worden sind, Gesellschaften nämlich, deren Mitglieder jegliches Führertum auszuschalten bestrebt sind und die Entstehung von Herrschaft zu verhindern wissen, indem sie ihre Streitigkeiten durch Herstellung kollektiven Konsenses im Palaver schlichten, ohne förmliche Gerichtstage, Urteile und Vollstreckungen auszubilden (N. Luhmann 1972 Bd. 1 S. 145 – 165, besonders S. 155 f. U. Wesel 1979) – solche Gesellschaften haben in Europa nirgendwo die Schwelle des historischen Zeitalters überschritten. Hier finden wir vielmehr überall bereits in den ältesten Nachrichten soziale Ungleichheit, Herrschaft mächtiger Individuen und die Anfänge einer Rechtsordnung, die unentbehrlich war, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Wesentliche Eigenschaften älterer, kaum schon verfaßter Gesellschaften, insbesondere die Zulässigkeit eigenmächtiger Selbsthilfe neben der gemeindlichen oder herrschaftlichen Rechtshilfe, haben sich im europäischen Mittelalter jedoch noch lange lebendig erhalten und die Verfassungsgeschichte bis in die frühe Neuzeit hinein mitbestimmt. In diesem Sinne altertümliche oder primitive Gesellschaften ohne zentrale Exekutivgewalt bestanden noch im hohen Mittelalter in Skandinavien, wo sich der Übergang von der heidnisch-vorgeschichtlichen zur historischen Gesellschaft erst zwischen 850 und 1030 vollzog, und zwar inmitten einer bäuerlichen Kultur, die nur in Dänemark bereits zur Dorfsiedlung übergegangen war, während in Norwegen und auf Island die Bauern noch weiträumig und auf Einzelhöfen sitzend siedelten und ihre wirtschaftliche Existenz einerseits auf extensiv betriebene Viehhaltung, andererseits, wegen der Notwendigkeit der Getreidezufuhr, auf Seefahrt und Fernhandel stützten. Die Geschichte der Skandinavier bestand aus Konflikten in-
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1. Teil: Die Gemeinden
nerhalb der obersten Schicht der bäuerlichen Bevölkerung, jener der Jarle in Norwegen und der Goden in Island, und aus dem Widerstreit zwischen deren je einzelner Integrität und Selbstbehauptung auf der einen und dem gesellschaftlichen Verlangen nach Frieden und Eintracht auf der anderen Seite. § 60. Eindringlich schildern die altisländischen Sagas ein solches Volk und eine Gemeinde, in der fast alles Recht aus subjektiven Befugnissen der Einzelnen bestand und der Vorrat an objektiven, allen gemeinsam bewußten Normen noch so gering war und zumindest, was die Rechtsfolgen anlangte, so wenig eindeutig aufgefaßt und verstanden wurde, daß sich die Gemeindegenossen in den meisten Fällen ihr Recht selbst nehmen konnten, vorausgesetzt, sie fanden die Unterstützung so vieler Brüder, Vettern und Freunde, daß sie ihren Konkurrenten an Stimmen und Stärke gewachsen waren. Möglicherweise nannte man diese den Einzelnen stützenden und schwerlich über lange Zeiträume hinweg stabilen Personenverbände, wie heute allgemein üblich, Sippen; jedoch erscheint dieses Wort, dessen Etymologie es einem Stamme zuweist, welcher „Zugehörigkeit“ meint, in den ags. und nordischen Rechtsquellen nur beiläufig (K. Kroeschell in LMA 7 Sp. 1934). In Mitteleuropa konnte es in Übersetzungsgleichungen für lat. pax, foedus oder propinquitas stehen; daraus ergibt sich, daß Sippen nicht bloß auf Abstammung und Blutsverwandtschaft beruhten, sondern auch vertraglicher Begründung bedurften und daß ihr Zweck darin bestand, zwischen den verbündeten oder geeinten Verwandten und Freunden Frieden zu schaffen. Nicht leicht war dieses Ziel zu erreichen, wie die Sagas zeigen. Eindringlich schildern sie freilich auch, wie verheerend in einer öffentlichen Ordnung, die das Recht nur durch eigenmächtige, gewalttätige Selbsthilfe der sich berechtigt Glaubenden zu verwirklichen vermochte, der ständige Appell an die Waffen in Fehde und Blutrache die mitmenschlichen Bindungen zerrüttete (H. Kamp 1994). Wo nur die Furcht vor der Blutrache der Verwandten und Freunde dem Menschenleben Schutz gewährte und daher das Amt des Bluträchers als heiligste gegenseitige Pflicht unter Sippengenossen galt, da zerstörte dieser roheste aller auf Reziprozität begründeten sozialen Regelungsmechanismen immer wieder den Frieden nicht etwa nur zwischen Sippen verschiedener Völker, die doch eher selten etwas miteinander zu schaffen haben konnten, sondern vor allem zwichen den zusammenlebenden Sippen einer und derselben Völkerschaft, ja sogar und ganz besonders den Frieden innerhalb der Sippen und Verwandtschaftskreise selber. Immer wieder machte die Rachepflicht, daß die durch Ehebündnisse unterschiedlich versippten Nachfahren derselben Ahnen, die aus verschiedenen Ehen stammenden Söhne desselben Vaters oder derselben Mutter, ja sogar die stets ihrer Herkunft nach verschiedenen Sippen verpflichteten Ehegatten selbst einander als Todfeinde gegenübertreten mußten. Unerschöpflich daher die Fülle der Pflichtenkonflikte, vor die der Streit zwischen Verwandten die Einzelnen stellte, und völlig ausweglos die Kette der von Ehre und Not gebotenen Gewalttaten, denen letzten Endes aller friedliche Verkehr zwischen Menschen und Völkern, alles Gemeinschaftsleben und alle öffentliche Ordnung zu erliegen drohte.
3. Kap.: Ursprung und Wesen staatlicher Hoheit
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§ 61. Solange sich die aus benachbarten Siedlern gebildeten Gemeinden und die Völkerschaften, deren Teile sie waren, nicht in gemeinschaftlichem Handeln dagegen zur Wehr setzten, blieb den Schwachen, Armen und Freundlosen nichts anderes übrig, als sich Ersatz für fehlenden Sippenschutz zu beschaffen, indem sie sich einen Schutzherrn suchten, dessen Rechtshilfe sie sich durch Gehorsam verdienen, dessen Herrschaft sie sich unterwerfen mußten. Berühmt ist die „Geschichte von den Leuten aus dem Lachswassertal“ (Laxdoela saga, dazu LMA 5 Sp. 1771 f.), die mit der Einwanderung der ersten Bewohner aus Norwegen, der Landnahme auf Island und der Errichtung der Bauernhöfe beginnt, wobei die auf Seeräuberfahrten reich gewordenen Häuptlinge sogleich an die ärmeren Männer Anteile des von ihnen in Besitz genommenen Landes weitergaben. Aber Kumpaneien fahrender Krieger und Händler, Grenzstreitigkeiten, Ehebruch, Neid, Mißgunst und Ehrgeiz entzweiten alsbald die Siedler, so daß in den nachfolgenden Generationen die ersten Totschläge vorfielen. „Nun sammelten sich Leute unter Olafs Schutzherrschaft, und er wurde ein großer Häuptling.“ Sein Bauernhof war der prächtigste im Lande, sein Reichtum unerschöpflich und seine Macht so groß wie die Gefolgschaft der Männer, die er beschützte. „Nun stieg Olafs Ansehen sehr. . . Olaf war vor allen anderen beliebt, denn wenn er sich darauf einließ, etwas zu entscheiden in Streitsachen der Männer, so war jeder wohl zufrieden mit seinem Teil.“ Wer aber als Häuptling in seinem Bezirk zu bestimmen haben wollte, der konnte sich nicht mehr allein nach dem Gefallen der Nachbarn richten, sondern mußte dem Willen anderer Großer den Vorzug geben und den Konsens mit den Rechtsgenossen des ganzen Volkes suchen. Denn Rechtsstreit und Blutrache brachten nun die Gefolgschaften der Häuptlinge gegeneinander auf, die Häuptlinge aber waren mächtig genug, um das übergeordnete Interesse des ganzen Volkes wahrzunehmen und die Todfeinde zu Sühneverhandlungen zu zwingen. § 62. Die Sitte, welche solche Verhandlungen ermöglichte, war die Leistung des Wergeldes oder der Mannbuße, mit der die zum Schutze eines Totschlägers verpflichtete Sippe den angerichteten Schaden wiedergutmachen und die durch die Tötung eines Mitgliedes verminderte Stellung der verletzten Sippe im Ganzen der rechtlich-sittlichen Lebensordnung des Volkes derart ausgleichen und wiederherstellen konnte, daß sie ohne Verlust an Rang und Ansehen darauf verzichten durfte, dieses Ziel in gewaltsamer Auseinandersetzung im Rahmen der Blutrache zu erreichen (W. Schild 1998 Sp. 1269). Für den Ausgleich waren nicht die Interessen der Individuen maßgebend. Vielmehr leistete die Sippe des Täters an die des Opfers, und diese verlangte nicht einen Ersatz für den Wert des verlorenen Mitgliedes, sondern einen Ausgleich für den Verlust an Bedeutung, Ehre und sozialem Ansehen, den sie mit dem Tode eines Verwandten oder Genossen erlitten hatte. Dem entsprach es, daß es keine einheitlichen, für alle Volksgenossen gleichen, den Sippen objektiv vorgegebenen Werte eines Menschenlebens gab und daß der Preis, um den die Sippe des Täters derjenigen des Opfers das Recht auf Fehde und Blutrache abkaufte, zwar in Geld bemessen, aber in der Regel für jedermann sichtbar in Vieh, Getreide oder Tuchen entrichtet wurde.
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1. Teil: Die Gemeinden
Die Peinlichkeit, die für die eine Sippe in dem wenig ehrenvollen Verzicht auf das Blutrecht lag, wurde jedoch dadurch ausgeglichen, daß sich die andere Sippe im Verlaufe eines für sie ebenso peinlichen und demütigenden öffentlichen Sühneverfahrens zur Leistung des Wergeldes gezwungen sah, und nur dann, wenn sich aus den nicht beteiligten Sippen und Häuptlingen des Volkes angesehene und mit Geschick verhandelnde Sühnemittler zur Verfügung stellten, kam jener hohe soziale, vom ganzen Volke ausgeübte Druck auf die streitenden Sippen zustande, der diese sühne- und friedenswillig machte und der sich, sobald es die Häuptlinge lernten, ihren gemeinsamen Willen mit dem des Volkes zu identifizieren und ihre Sühnemittlung rechtsförmlich auszugestalten, als Keim einer noch einfachen hoheitlichen Gewalt des Volkes über sich selbst erweisen mußte. § 63. Gemeinsam, d. h. in einem Willen vereinigt konstituierten demnach die Sippenältesten und Häuptlinge die Rechtsgenossenschaft des Volkes, indem sie die Genossen zum Thing oder Ding versammelten, auf dem das Ergebnis der Sühneverhandlungen bekanntgemacht und der öffentliche Friede dadurch gesichert wurde, daß die Gemeinde die wildesten und beharrlich sühneunwilligen Gewalttäter ächtete oder sie für so lange des Landes verwies, wie noch ein Bluträcher der siegreichen Sippe am Leben wäre. Mit der Ächtung reagierte die Gemeinde auf den Friedensbruch, den sie als Vergehen gegen sich selbst empfand, wenn er zu unrecht geschehen war. Das Wort Acht wird hergeleitet von ahd. âhta, mnd. achte, ags. ôht, womit man lat. persecutio übersetzen konnte; es meinte Verfolgung, weil der Betroffene, der seinerseits recht-, gesetz- oder friedlos hieß, von jedermann verfolgt werden konnte und sollte (G. Waitz Bd. 6, 21896, S. 609, 611 mit A. 2. D. Strauch in LMA 1 Sp. 79). Rund um den Thingplatz im Lachswassertal herum standen die Hütten der Häuptlinge, in denen ihre Gefolgsleute beim Biere saßen, um zur Hand zu sein, wenn ihre eigenen Thingleute Prozesse führten, und um nach Möglichkeit zu verhindern, daß einer ihrer Häuptlinge geächtet würde. So trat in den Thingen eine Kontrollinstanz hervor, die die Männer dazu zwang, bei Ausübung ihrer Eigenmacht auf die Gesamtheit Rücksicht zu nehmen, indem sie sich auf Sühneverfahren einließen. Das Thing war auch die berufene Instanz, um bei streitigen Tatfragen den Gang des Beweisverfahrens festzulegen, in dem die Parteien ihren Streit entscheiden sollten, oder um einen Beschluß zu fassen, wenn es einmal einer neuen Rechtsnorm bedurfte, weil noch nie dagewesene Rechtsfragen zu lösen waren. Da auf den Thingen niemand ein Vorrecht vor den anderen genoß, tritt in den Berichten „das konsensuale Prinzip der dort praktizierten Entscheidungsfindung“ deutlich hervor (H. Kamp 1994 S. 395): Jeder Häuptling mußte für seine Rechtsauffassung so lange werben, bis ihm die Gesamtheit einhellig beizupflichten bereit war. Noch waren die Häuptlinge niemandes Herren, es sei denn jener, die persönlich gänzlich auf ihren Schutz angewiesen waren. Daher konnte das Thing mehr sein als bloß eine Einrichtung der Rechtspflege, nämlich auch ein Ort der politischen Willensbildung und des Ausgleichs gegensei-
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tiger Machtansprüche. Nachdem sich die Isländer zunächst mit regionalen Thingversammlungen begnügt hatten, begründeten die Häuptlinge um 930 ein zentrales, alljährlich tagendes Landesthing, das sogenannte Allthing, als integrierendes Zentrum einer ansonsten oligarchisch und regional verfaßten Gesellschaft. Das vorstaatliche Stadium der Verfassungsbildung war damit aber noch keineswegs beendet, denn eine Gebots- und Exekutivgewalt kannten weder die Viertelsversammlungen noch das Allthing. Die siegreiche Partei selbst mußte der unterlegenen die Ächtung verkünden und sie erschlagen oder aus dem Lande vertreiben, um das Recht zu verwirklichen. War aber der Sieger dem Friedlosen an Körperkraft nicht gewachsen, so wurde die Ächtung nicht weiter verfolgt, wenn nicht das verächtliche Reden der Öffentlichkeit den betroffenen Häuptling und Schutzherrn so weit unter Druck setzte, daß er es auf sich nahm, dem Rechtsspruch zugunsten seines Thingmanns Geltung zu verschaffen. Entzog sich ein Gode dieser sozialen Verpflichtung, so konnte sich der Thingmann in den Schutz eines anderen Mächtigen begeben, und war dieser dann erfolgreich, so mochten die Großbauern wohl sagen, er sei vor allen anderen zu einem Häuptling in seiner Region geeignet, wenn er denn willens war, sich gegen die zerfallende Macht eines älteren Goden um diese Stellung zu bewerben. Denn noch war die Häuptlingswürde weder erblich noch territorial fundiert, sondern gänzlich an die Führungseigenschaften, an die Idoneität der Person gebunden. Die Goden mußten stets mit ihresgleichen um Unterstützer und Klienten konkurrieren, sie waren also auch abhängig von ihren Thingmannen, da sich diese stets einen neuen Goden suchen konnten, wenn der alte ihren Ansprüchen nicht mehr gewachsen war (ebd. S. 397). § 64. Deutlich zeigen die wilden Geschehnisse im Lachswassertal einerseits, daß sich die soziale Welt nicht aus Individuen, sondern aus Verwandtschafts- und Freundeskreisen zusammensetzte, und andererseits, wie sich diese soziale Welt aufspaltete hier in einen rechtsfreien Raum willkürlichen Handelns, in dem sich Fehde und Blutrache abspielten, und dort in einen Raum des Friedens oder wenigstens einer Sehnsucht nach Frieden, kraft deren sich dieser Raum allmählich zu einem Raume volklicher Hoheit und Rechtsbildung und vor allem der Durchsetzung des Rechtes fortbilden konnte. Der germanische Begriff des Friedens stand der Idee von rechter Ordnung nahe, und diese Nähe bestimmte ihn zu einem Zentralbegriff der germanischen und mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Friede bedeutete stets in erster Linie Rechtsfrieden, den Zustand eines rechtlich geordneten und vom Volke beschützten Friedens (E. Kaufmann in HRG 1 Sp. 1275, 1278 f.). Auch auf dem Kontinent war die Geschichte des Friedens im Mittelalter daher zugleich eine Geschichte der Rechtsbildung und der allmählichen Eindämmung von Fehde und Blutrache durch rechtlich geordnete Sühne- und schließlich Strafverfahren. Nicht nur die Isländer, sondern auch die germanischen Stämme in Mitteleuropa überließen es in Fällen wie einfachem Totschlag, die nach ihrer Vorstellung den Volks- oder Stammesfrieden nicht in Frage stellten, noch viele Jahrhunderte lang dem Verletzten und seiner Verwandtschaft zu entscheiden, ob sie sich an dem Täter
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rächen oder sich mit ihm versöhnen wollten. Nur da, wo es notwendig war, ein Gemeinschaftshandeln zu sichern, im Thing also oder beim kultischen Fest oder auf der Heerfahrt, schloß das Volk Rache und Fehde aus und zwang es von sich aus durch den sozialen Druck seiner Erwartungen die verfeindeten Sippen oder Schutzverbände, unter sich Frieden zu halten. Im übrigen interessierte es sich nur insoweit für den öffentlichen Frieden, als es den Fehdeparteien beim Abschluß der Sühne behilflich war. Noch billigte das Volk niemandem die Befugnis zu, auf freie Männer jenen allgemeinen und bedingungslosen Zwang zur Einhaltung des Friedens im Lande auszuüben, den man als Herrschaft und schließlich als Hoheit bezeichnete. Was sich aber in der Schlichtung als friedensbegründende Norm bewährte, das wollte das Volk als sein Recht im Gedächtnis behalten, indem es sich immer wieder daran erinnern ließ. Zu diesem Zwecke schuf es sowohl in Skandinavien als auch auf Island das Institut des Gesetzesvortrages und das Amt des Gesetzessprechers, dem es oblag, die geltenden Rechtsnormen bzw. Teile dieser Normen auf den Volks- und Gerichtsversammlungen, so in Island auf dem Allthing, periodisch vorzutragen. Aus mnemotechnischen Gründen prägten diese Sprecher dem Rechtsstoff besondere, den poetischen verwandte Formen auf, etwa die Gliederung in Abschnitte („Balken“) und kleinere Unterabteilungen und die Anwendung eines metrischen Sprechverses. Anders als durch regelmäßige Wiederholung war in schriftlosen Gemeinschaften die dauernde Geltung eines Rechtssatzes nicht zu sichern, und dabei begegnen uns Verfahrensformen wie die Mündlichkeit des Beschließens und die vom Verstummen des Widerspruchs gekennzeichnete Einhelligkeit, die uns als Bestandteile des Identitätssystems bereits bekannt sind (oben: §§ 26, 27). Der periodische Gesetzesvortrag „hatte nicht nur die Wirkung der Gesetzesüberlieferung, sondern auch weitere Bedeutung für die Rechtsgeltung, positive und negative. In Island galt eine Norm als Recht, wenn sie vor dem Allthing vorgetragen und ohne Widerspruch geblieben war. Der Gesetzesvortrag war gleichsam das Mittel einer Gesetzgebung durch Stillschweigen. Andererseits scheinen Gesetze außer Kraft getreten zu sein, wenn sie binnen drei Jahren beim Vortrag übergangen wurden. Man kann diese rechtsbildende Funktion des Gesetzesvortrages am passendsten als ,Rechtserneuerung‘ bezeichnen“ (Ph. Heck 1931 S. 37). § 65. Die unter Germanen unerhörte Anmaßung, einen allgemeinen Landfrieden zu erzwingen und diese hoheitliche Zwangsgewalt mit einem staatlichen Gewaltmonopol zu verbinden, hatte bereits ein Jahrtausend früher die Völker zwischen Rhein und Elbe zum Aufstande gegen das römische Imperium und gegen P. Quinctilius Varus, den Statthalter des Kaisers Augustus in der eben erst neu eingerichteten Provinz, veranlaßt. Wie uns ein Zeitgenosse (Velleius Paterculus 2, 117, 4; 118, 1) berichtet, glaubte Varus von den schwer bezähmbaren Germanen, „wer sich mit dem Schwerte nicht bändigen lasse, der könne mittels des Rechts besänftigt werden;“ mit diesem Vorsatz habe er den Sommerfeldzug wider ungehorsame Stämme „mit Rechtsprechen und formvollendeter gerichtlicher Verhandlungsführung“ in die Länge gezogen, gleichsam als ob er unter Männern verweilte, die die
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Süße des Friedens zu schätzen wußten, also offenbar ohne jedes Verständnis dafür, wie schwer er damit das Rechtsgefühl von Menschen verletzte, die sich noch durch keinerlei hoheitliche Gewalt die Herrschaft über ihre Streitverfahren hatten aus der Hand nehmen lassen, die noch keinerlei Gerichtsgewalt kannten und sich allenfalls die Empfehlungen von Sühnemittlern gefallen ließen, aber jeden darüber hinausgehenden Rechtszwang als ehrenrührigen Eingriff in unaufgebbare subjektive Rechte erlebten. Scharfsinnig erkannten die Germanen aber auch diesen schwachen Punkt in Varus’ politischer Konzeption: Um ihn zu größter Sorglosigkeit zu verführen, täuschten sie „eine erdichtete Reihe von Rechtsstreitigkeiten vor, forderten einander vor sein Gericht, sagten dann wieder Dank, weil die römische Gerechtigkeit den Fall geschlichtet habe und sich ihre Wildheit durch das Neue der bisher unbekannten Ordnung schon mildere. Denn was man gewohnt war, mit den Waffen zu entscheiden, das werde nun durch das Recht geordnet.“ So wiegten sie Varus in dem Glauben, er könne in der Provinz, die er doch nur mit militärischer Gewalt unterdrückte, bereits Recht sprechen, als wäre er der Stadtprätor auf dem Forum zu Rom, und in dieser leichtfertigen Überzeugung ließ sich Varus im Jahre 9 nach Christus zu jener Expedition in das Gebiet der Cherusker verlocken, deren Fürst Arminius ihn keineswegs als Richter zu empfangen gedachte, sondern ihm in dem Engpaß zwischen Gebirge und Moor einen Hinterhalt legte, in dem er ihm mitsamt den drei besten Legionen des römischen Heeres, nahezu einem Sechstel der Streitkräfte, über die Kaiser Augustus insgesamt gebot, den Untergang bereitete. Nicht etwa Steuerpflichten oder aufgedrängte fremde Lebensformen, soviel sie auch zur Stärkung des Widerstandes beigetragen haben mögen, sondern die fremde Gerichtsordnung und ihr Verfahrensrecht bildeten den eigentlichen Stein des Anstoßes. Erst Jahrhunderte später, als sich Germanen in römischen Provinzen ansiedelten, wo sie römische Untertanen beherrschten und so in die Traditionen des Römischen Reiches allmählich hineinwuchsen, lernten sie die Vorzüge von Gerichten zu schätzen, die mit hoheitlicher Gebotsgewalt ausgestattet waren. Vorerst beendete ihr Widerstand die römische Expansion in Mitteleuropa für immer, und die staatliche Organisation ihres Landes wurde bis in die Karolingerzeit vertagt. § 66. Wie bei den Skandinaviern, so waren zwei Jahrtausende früher bei Griechen und Römern öffentliche Versammlung der Männer und geordnetes Sühneverfahren aus dem Bedürfnis der Gemeinschaft nach öffentlicher Kontrolle privat betätigter Eigenmacht entstanden. Allein Homers großes Gedicht freilich berichtete Späteren noch von dem altgriechischen, aus der Wanderzeit überkommenen Stammesverbande mit seiner Volksversammlung, mit dem Rate der Ältesten oder Häuptlinge und gewähltem Heerkönige, dessen Verfassung sich auf die Gemeindeund Stadtstaaten der historischen Zeit vererbte, als sich die Stammesverbände seit dem 8. Jahrhundert in diese jüngeren Gebilde aufgelöst hatten (verschiedene Autoren in: Zur griechischen Staatskunde, hg. von Fritz Gschnitzer, Darmstadt 1969, S. 18 f., 58, 287 – 295). Den Status eines mit hoheitlicher Gewalt ausgerüsteten
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Gerichtes hatte damals die Volksversammlung noch nicht erreicht. Die Macht der Adligen, der Ältesten und Häuptlinge, hatte sich auf Reichtum an Weideland und Herden und auf die Schutzherrschaft über Männer gestützt, aus denen sie für ihre Seeräuber- und Handelsfahrten eine kriegerische Gefolgschaft zu rekrutieren vermochten (ebd. S. 22, 62, 105). Man hat berechnet, daß die Viehwirtschaft des Kleinkönigs Odysseus auf Ithaka für den Unterhalt von fünfzig Fahrtgenossen ausreichte und daß seine Häuptlingshalle Raum für noch einmal so viele Männer bot, also auf den gastlichem Empfang einer ebenso starken Gefolgschaft berechnet war (U. Küntzel 1991 S. 24 f.). Die berühmte sogenannte Gerichtsszene, die Homer auf dem Schilde des Achilleus dargestellt sein läßt (Ilias 18 Vers 497 – 508), und der Streit um den Siegespreis im Wagenrennen, den Achilleus anläßlich der Leichenspiele für Patrokles ausgelobt hatte (Ilias 23 Vers 536 – 613), geben uns zu erkennen, daß sich die Volksversammlung nur erst zur Kontrollinstanz gegenüber der die Gemeinschaft gefährdenden Ausübung privater Eigenmacht aufschwang, um gegen die Hybris des Einzelnen (verschied. Autoren in: Zur griech. Staatskunde, 1969, S. 5 – 7, 19, 134 f., 141 – 146) und die exzessive Ausnutzung seiner subjektiven Befugnisse das objektive, von allen für Recht erkannte und alle verpflichtende Gesetz zur Geltung zu bringen (ebd. S. 186 – 191; H. J. Wolff 1961 S. 24 – 27; H. Hommel 1969; G. Thür 1970). In der Gerichtsszene ging es nicht um eine Rechtsfrage, sondern um streitige Tatsachen: Der Rächer eines erschlagenen Mannes hatte sich gegenüber dem Täter dazu bereit erklärt, gegen Zahlung eines Wergeldes von seinem Racherecht abzustehen; der Täter nun beteuerte dem Volke, er habe alles bezahlt, während der Rächer dies bestritt, getrieben vielleicht vom Hohne der Verwandten, die ihm vorwerfen mochten, er trüge den Toten im Beutel, da er sich an seinem Blute bereichert habe, so, wie es später in der Fehde des Sichar geschah, die von 585 bis 588 nach Christus die fränkische Grafschaft Tours verwüstete (Greg. Turon. Hist. VII 47, IX 19) und es in ihrem Verlaufe mit den wildesten Geschichten aus dem alten Island aufnehmen konnte, zumal weder die Verheißungen des Bischofs noch das Gebot des Königs imstande waren, ihr ein friedliches Ende zu setzen. In der Schildszene drohte der zahlungswillige Täter offenbar ebenso zum unschuldigen Opfer brutaler, rechtloser Gewalt zu werden, wie es da dem Franken Sichar geschah, und davor konnte ihn nur die Gesamtheit, die Gemeinde des Volkes beschützen. Dieses hellenische Volk befand sich noch ebenso wie später das isländische im Zustande kaum geordneter Vielheit der Personen und Sippen und war daher unfähig, einen Amtmann zu bevollmächtigen, der im Namen aller einen begonnenen Akt von Eigenmacht hätte unterbrechen können, um die Fortsetzung von einer gerichtlichen Entscheidung des Volkes abhängig zu machen. Vermutlich wird der klagende Täter einen Schutzherrn aus dem Kreise der Häuptlinge angerufen haben, der genug Einfluß besaß, um für die Beilegung des Streites in geordneter Verhandlung zu sorgen, indem er zusammen mit den anderen Großen das Volk versammelte. Ohne selbst an dem Verfahren beteiligt zu sein, waren die adligen Häuptlinge doch imstande, das Volk durch ihre Herolde in Ruhe und Ordnung
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zu erhalten. Nur die angesehenen Anführer und Fürsten waren berechtigt, vor dem Volke zu reden, und nur derjenige durfte das Wort ergreifen und ein Urteil vorschlagen, der durch einen Herold das unter den Rednern umgehende Szepter empfangen hatte. Die letzte Entscheidung trafen die versammelten Rechtsgenossen, indem sie die Vorschläge durch Zuruf bestätigten oder durch Stillschweigen verwarfen. Derjenige Vorschlag war schließlich angenommen, der den Beifall aller zum Reden berechtigten Edlen fand und von niemandem mehr gescholten wurde. In der Schildszene saßen inmitten der Fürsten und versammelten Männer auf behauenen Steinen die Ältesten als auserwählte Urteiler; für denjenigen unter ihnen, der das Recht „am geradesten“ gewiesen, also das zuletzt vom Volke angenommene Urteil vorgeschlagen hatte, war ein Siegespreis von zwei Pfund Goldes ausgesetzt, den die Parteien aufgebracht haben dürften, so daß der Prozeß zugleich ein Wettrichten, ein Wettkampf unter den Ältesten um den Ruhm des Weisesten und besten Kenners der Gesetze war. § 67. Dies alles ist dem frühen germanischen Prozeß so ähnlich, daß alteuropäische Gemeinsamkeiten vorausgesetzt werden dürfen (J. Huizinga 1956 S. 79 – 90; H. J. Wolff 1961 S. 16, 19; G. Thür 1970 S. 435 f.; verschiedene Autoren in: Zur griechischen Rechtsgeschichte, hg. von Erich Berneker, Darmstadt 1968, S. 283 – 285, 434 ff.). Wie die szeptertragenden Herolde in der griechischen Volksversammlung Ruhe geboten und durch Weitergabe des Stabes das Rederecht erteilten, so hegte der Sprecher des germanischen Volkes das Thing der versammelten Rechtsgenossen mit dem Haselnußstabe, der ihn symbolisch als Inhaber der leitenden Gewalt erkennbar machte (G. Kocher in LMA 4 Sp. 1329; P. Dilg in LMA 6 Sp. 1323; A. Cavanna in LMA 7 Sp. 2161); nachdem er ihn einst mit Billigung des Volkes selbst zur Hand genommen hatte, empfing er ihn später von dem Könige, seit das Volk einen solchen über sich gesetzt hatte. Wie den griechischen Geronten als einzigen in der Versammlung die Ehre zuteil wurde, sitzen zu dürfen, so war der Richterstuhl ein Hoheitszeichen des germanischen Sprechers und Vorbild des Thrones, den zu besitzen seit den Karolingern als Vorrecht die Könige auszeichnete (P. E. Schramm 1954 – 1956 Bd. 1 S. 336 – 343. Unten: § 750). Wie die Ältesten unter den Schutz- und Gefolgschaftsherren der Griechen um das rechte Urteil wetteiferten, bis der als bester erkannte Urteilsvorschlag keinen Widerspruch mehr fand, so hatte im germanischen Thing ein Mann oder ein aus dem Thingvolke gebildeter Ausschuß den Umstehenden einen Sühnespruch zu weisen; wenn aber ein anderer dieses Weistum untauglich schalt, so fochten Finder und Schelter den Wettstreit um den richtigsten Spruch nicht, wie die Griechen, mit Worten, sondern im Zweikampf mit Waffen aus. Und wie die Griechen durch Zuruf, so erteilten die Germanen dem Weistum, das Recht werden sollte, ihre Zustimmung, ihr Vollwort durch Zusammenschlagen der Waffen. Nichts spricht dafür, daß es, bevor geschichtliche Entwicklungen starke Königtümer oder Aristokratien hervorbrachten, in deren Händen sich Macht und Hoheit des Volkes zu akkumulieren begannen, bereits abstrakte Begriffe vom Recht und Theorien über deren Ursprung gegeben habe. Recht war nicht mehr als das, was die meisten für richtig hielten, ohne daß
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man deswegen schon darauf hoffen konnte, daß es auch von jedermann als richtig anerkannt würde. So ist denn auch anzunehmen, daß das Urteil der griechischen Volksversammlung ebenso wenig ein in der Sache entscheidendes Endurteil war wie das des germanischen Things, sondern daß die Ältesten lediglich ein Beweisurteil fanden, indem sie die beweispflichtige Partei und die Art des ihr auferlegten Beweises feststellten, und erst dann, wenn dem zum Beweise Zugelassenen oder Verurteilten der geforderte Beweis entweder glückte oder mißlang, fand der Prozeß auch in der Sache mit seinem Siege oder mit seiner Niederlage ein Ende. Im Streit um den Siegespreis im Wagenrennen erkannten Fürsten und Volk im Zwischenurteil auf den Reinigungseid, der während des ganzen Mittelalters das bei weitem beliebteste Beweismittel des germanischen Prozesses bleiben sollte; wagte es der Beschuldigte, den Eid zu erbringen, so konnte er sich dadurch von dem Vorwurf reinigen, vorsätzlich gegen die Regeln der Sitte und des Wagenrennens verstoßen zu haben; wagte es gleich ihm der Kläger, mit dem Eide den Zorn der Götter auf sich zu nehmen, dem sich jeder Meineidige aussetzte, so obsiegte er zugleich in der Sache, ebenso wie er dem Gegner durch Verweigerung des Eides auch in der Sache unterlag. Wie das altgriechische und übrigens auch das altrömische, so fällte das germanische Thing kein Endurteil in der Sache, sondern setzte lediglich ein reguliertes und außerhalb der Volksversammlung ablaufendes Beweisverfahren ein, in dem sich die Wahrheit der Parteibehauptungen unmittelbar herausstellen sollte, ohne daß die Rechtsweiser und Sühnemittler noch einmal tätig zu werden brauchten. § 68. Der Vorteil dieses zweiphasigen, nur im ersten Abschnitt in öffentlicher Versammlung oder vor Gericht, danach aber allein zwischen den Streitenden ausgemachten Prozesses liegt auf der Hand: Da erst das Resultat des Beweisganges den Konflikt endgültig beilegte, brauchte das um des öffentlichen Friedens willen den Streit richtende oder eine Sühne vermittelnde Volk nicht in der Sache selber für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen und sich damit dem Haß und Zorne des Unterlegenen auszusetzen (G. Thür 1970 S. 436). Vielmehr konnte es sich auf die Rolle eines neutralen Schiedsrichters beschränken, der im Wettstreit der Fürsten erst denjenigen Mann ans Licht brachte, der als weisester, weil unparteiischer Mittler den Kämpfenden den geradesten Weg zur Aufdeckung der Wahrheit und zum Ende ihrer Fehde zu weisen verstand. In klassischer Form war die Phaseneinteilung dieses Verfahrens im altrömischen sogenannten Formularprozeß verwirklicht, dessen erste Phase vor dem Prätor, dem Gerichtsbeamten des Volkes (in iure), ablief, während in der zweiten Phase die Parteien vor einem Einzelrichter (in iudicio) agierten, den sie selber aus dem Album geeigneter Männer ausgewählt hatten. So war die Erörterung der Rechtsfragen vor dem Prätor sauber getrennt von der Entscheidung über die Sachfragen vor dem Richter. Damit aber war der Grund gelegt, auf dem die europäische Verfassungsgeschichte bis heute an dem Auf- und Ausbau des Rechtsstaates fortarbeitet: nämlich für die „laufende Arbeit an rein rechtlichen Fragen, die aus Anlaß von Fällen,
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aber unabhängig von Faktenfeststellungen, das Recht als Summe von Entscheidungsprämissen ausarbeitet, fortbildet, korrigiert. Das Recht sitzt jetzt nicht mehr konkret im Geschehen selbst, sondern nur noch in der Norm, die zur Grundlage der juristischen Beurteilung des Geschehens dient. Die richtige Auslegung des Rechts ist eine Sache, über die prinzipiell unabhängig von den im Einzelfall vorliegenden Tatsachen entschieden werden kann. Und umgekehrt ist die Feststellung von Tatsachen unabhängig von Rechtsfragen möglich“ (N. Luhmann 1972 Bd. 1 S. 181). Der Begriff des Gesetzes als der vom Volke für richtig erkannten Norm erhielt auf diese Weise einen klaren, politisch eindeutigen Sinn und garantierte den Rechtsgenossen in ihren Fehden die Neutralität sowohl der Normen wie des Gesetzgebers, denn nur an der Klärung und Mehrung der richtigen Normen, an der öffentlichen Auslegung des Rechts war das ganze Volk interessiert, während die Entscheidung der Tatfragen und das Ende des jeweiligen einzelnen Rechtsstreits nur die Parteien anging. Denn das in der zweiten Phase des Prozesses erreichte Ende des Kampfes brauchte nun das Recht des Gewinners nicht mehr zu begründen, sondern konnte es lediglich noch bestätigen. Das Recht des Bluträchers, den Totschläger eigenmächtig zu töten, beruhte auf der Tat selber und auf der Verwandtschaft mit dem Erschlagenen, es wuchs dem Rächer nicht erst aus dem Gerichtsverfahren oder Sühnespruch des Volkes zu. Was er gewann, wenn er sich dem Gericht unterwarf und in dem vom Volke begehrten Beweisverfahren sein Recht darlegte, das war etwas anderes und schließlich ebenso wichtiges: die Unterstützung nämlich und Mitwirkung der Gesamtheit der Rechtsgenossen bei der Verwirklichung seines Rechts, es war die öffentliche Anerkennung der Rechtmäßigkeit seines eigenmächtigen Handelns, die zugleich dem Unterlegenen versagt blieb und diesen damit in seinem freien Willen aufs schwerste bedrängte. § 69. Denn vollstrecken mußte der Sieger sein Recht immer noch aus eigener Kraft. So wenig, wie sie die Kämpfenden durch eigene Aktivität dazu zwangen, sich ihrem Sühnespruch zu stellen, so wenig übten die alten Volks- und Gerichtsgemeinden einen unmittelbaren hoheitlichen Zwang auf sie aus, sich dem Beweisgange zu unterwerfen und das daraus entstehende Endurteil zu erfüllen. Indessen von ihrem Friedensbedürfnis ging doch ein mächtiger moralischer und sozialer Druck auf die Streitenden aus, sich dem Beweisurteil zu fügen und ihre Pflichten gemäß dem Resultat des Beweisverfahrens zu erfüllen. Während bei Homer, wie es scheint, ein „Wissender“ (histor) im Auftrage des Volkes, bei den Römern aber der Prätor als Vertreter der Gemeinde darüber wachte, daß es geschah, überließen es die Germanen allein den Parteien, sich dazu außergerichtlich durch einen freiwillig eingegangenen Vertrag, ein pactum oder Friedensgedinge, zu verpflichten (H. Götz, WB. 1999 S. 459; C. von Schwerin 21941 S. 33). Wie die Gerichtsgemeinde dem gehorsamen Genossen bei der Vollstreckung seines Rechtes zu Hilfe kam und ihm die dauerhafte Existenz als Verbandsmitglied und von ihr beschützter Nachbar sicherte, so drohte sie dem Ungehorsamen die Ächtung, d. h. Schutz- und Friedlosigkeit, Ausschluß aus der Gemeinschaft und Vertreibung aus ihrem Lande, an.
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So ging der hoheitliche, oder wie wir auch sagen können, der staatliche Prozeß sowohl in der griechischen und römischen als auch in der germanischen Geschichte aus einem genossenschaftlichen Verfahren sozialer Sanktion oder Repression der individuellen Eigenmacht hervor. Die öffentliche Gewalt des Verbandes war bestrebt, die Eigenmacht der Genossen unter ihre Kontrolle zu bringen, um der Gesamtheit den inneren Frieden zu sichern. Dieses Ziel erreichte sie nicht so sehr dadurch, daß sie sich jenen zur Verfügung stellte, die eine friedliche gerichtliche Bestätigung ihrer Ansprüche suchten; wichtiger war es, daß sie dem angegriffenen Gemeindegenossen Schutz gewährte, solange das Recht des Angreifers auf den Angriff nicht öffentlich festgestellt war (H. J. Wolff 1961 S. 27). § 70. Es machte zwar für die gemeinsamen alteuropäischen Ursprünge dieses Gerichtsverfahrens keinen grundsätzlichen Unterschied, hatte aber doch für die eigenartige staatliche Entwicklung der Völker Europas beträchtliche Folgen, daß das germanische Recht die Vollendung des rächenden Angriffs auf den Verbrecher nicht nur so, wie es das griechische und römische Recht tat, vom Gelingen des geforderten Beweises abhängig machte, sondern auch noch von dem zusätzlichen Erfordernis der Ächtung des Unterlegenen, die das Thing über ihn zu verhängen hatte, wenn er die kraft Urteils fällige Strafe nicht zahlte (H. J. Wolff 1961 S. 34 Anm. 76, mit Verweis auf F. Beyerle 1915 S. 234 ff.; D. Strauch in LMA 1 Sp. 79 f.). Zwar war bei allen drei Völkern die Entrichtung der verfallenen Mannbuße Privatsache der Prozeßparteien, so daß der Täter und seine Sippe unmittelbar an den Geschädigten zu leisten hatten, aber nur die antiken Gemeindestaaten unterstellten diesen Vorgang früh der Kontrolle durch einen Gemeindeamtmann (den Histor oder den Prätor); die germanischen Stammesstaaten taten das nicht. Sie bestellten sich keinen Richter, dem sich die Einzelnen hätten unterwerfen müssen, und waren daher genötigt, den Ungehorsam des Unterlegenen gegenüber dem Urteil als besonderes, nun gegen sie selbst gerichtetes Vergehen zu behandeln, auf das sie mit der Ächtung reagierten. Diese erlaubte es nicht nur dem Geschädigten, sondern forderte jedes Mitglied der Gerichtsgemeinde dazu auf, gegen den Geächteten vorzugehen und diesen als friedlosen Mann zu erschlagen. Sobald die Volksgemeinden damit begannen, Hoheit über die einzelnen Genossen auszubilden, taten sich vor ihnen verschiedene Möglichkeiten auf, um diese Hoheit auszuüben. Nach dem germanischen Achtverfahren waren alle Individuen, deren identische Willen das Volksrecht setzten, dazu berufen, dies zu tun, während das griechisch-römische Amtsverfahren die Aufgabe auf bestimmte Individuen konzentrierte. Zwar hatten sich antikes und germanisches Recht zunächst nur insofern unterschieden, als die germanischen Völker den Achtprozeß vor allem als Mittel betrachteten, um die jeweilige Fehde einem Ende zuzuführen, wogegen Griechen und Römer ihr Verfahren darüber hinaus auch dazu benutzten, um die Einzelnen bei der Ausübung ihrer Befugnisse und namentlich des subjektiven Rechtes auf Fehde, Rache und Vergeltung unter öffentliche, gemeindliche Kontrolle zu bringen. Aber dieser Unterschied hatte doch sehr früh zur Folge, daß sich die anti-
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ken Gemeindestaaten alsbald öffentliche Ämter schufen, um diese Kontrolle unmittelbar, und das heißt: kraft ihrer Hoheit, auszuüben. Da die Germanen hierauf verzichteten, mußten sie, um das staatliche Ziel einer gemeindlichen, öffentlichen Friedenswahrung zu erreichen, den Umweg über die Ächtung einschlagen, mußten sie die Nichterfüllung der von den Streitenden im Friedensgedinge übernommenen Pflichten noch zusätzlich als Bruch des öffentlichen oder Verbandsfriedens behandeln, auf den der Ausschluß des Übeltäters aus dem Frieden der Gemeinschaft als Sanktion folgte. Die Friedens- und Gerichtsgemeinde der Germanen erhielt sich damit handlungsfähig, ohne ihre Hoheit über die Einzelnen sichtbar von ihrer Verbandsmacht überhaupt abzusondern und sie einem Amtmann oder König zu übertragen. Hier hat die der germanischen Staatsgewalt eigentümliche Schwäche eine ihrer ältesten Wurzeln, eine im Mittelalter immer wieder bewährte Schwäche, die das Deutsche Reich bis zu seinem Untergange im Jahre 1806 nicht zu überwinden vermochte. Noch das Kammergericht, das Kaiser und Stände im Jahre 1495 als höchstes Gericht dieses Reiches einsetzten und insbesondere für jederlei Klagen um Landfriedensbruch zuständig machten, entbehrte der hoheitlichen Befugnis, unmittelbar Strafen auszusprechen und diese mit eigenen Mitteln zu vollstrecken. „Die einzige Sanktion war die Acht und Aberacht. Aber die Acht- und Aberachturteile wurden von kleineren und minder mächtigen Reichsständen durchaus als Bedrohung empfunden,“ da sich ein mächtigerer Nachbar beim Kaiser um die Exekution bewerben konnte, „der häufig nur auf eine solche gute Gelegenheit wartete, um – vom Reichsrecht gedeckt – sich den kleinen Nachbarn zu unterwerfen. So konnte schließlich selbst ein so hartnäckiger Fehderitter wie Götz von Berlichingen durch ein Achturteil zum Gehorsam gebracht werden“ (B. Diestelkamp 1995 S. 27, dazu 37 f.). § 71. So konnten sich aus geschichtlichen, auf den ersten Blick geringfügig erscheinenden Variationen in der Lebensgestaltung und Denkweise der Völker im Laufe der Zeit die bedeutsamsten politisch-kulturellen Differenzen und Eigenarten ergeben. Den Alten lag es ganz ferne, ihre politischen Gemeinschaften in jener Weise als kränkungsfähige Verbandspersönlichkeiten zu betrachten, wie das die Germanen taten, deren Thinggemeinden sich selbst durch einen Friedensbruch verletzt fühlten, gleichsam als ob sie natürliche Personen wären, und darauf mit dem Achturteil reagierten. Für den Individualismus und Freiheitsdrang der Alten waren die politischen Verbände eher ein notwendiges Übel, das sich nur durch streng sachliche Ausgestaltung erträglich machen ließ; ihren Sprachen fehlte es daher an äquivalenten Wörtern, um den Sachverhalt der Gemeinde im germanischen Sinne zu bezeichnen. Der antiken Staatsentwicklung gab die Tendenz das Gepräge, die aus der Wanderzeit überkommenen Personenverbände der edlen Geschlechter, bäuerlichen Nachbarschaften und kriegerischen Gefolgschaften in den einheitlichen Bürgerverband des Gemeindestaates einzuschmelzen und sie durch dessen Frieden stiftende Kontrolle derart zu zersetzen, daß die subjektiven Befugnisse der Individuen und Verbände dem objektiven, von der Gesamtgemeinde als Staat gegebenen
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Gesetz untergeordnet wurden und nur fortleben konnten, soweit das Gesetz es erlaubte. Daher führte die Verfassungsgeschichte des Altertums über den von Magistraten gelenkten und bevormundeten Gemeindestaat zu dem zentralisierten Einheits- oder Anstaltsstaat des römischen Kaiserreichs, der die Rechtssubjektivität und rechtliche Gestaltungsmacht seiner Bürger strenge auf das Privatrecht beschränkte, im öffentlichen Leben aber die Bürger als Untertanen ohne Befugnis zur Mitbestimmung behandelte, da er sie nach Ausschaltung aller Zwischeninstanzen seiner unmittelbaren, entmündigenden Kontrolle unterworfen hatte. Die germanisch-mittelalterliche Verfassungsgeschichte dagegen gehorchte dem Bestreben, die Vielfalt subjektiver Befugnisse sowohl der Individuen wie ihrer engeren und weiteren Verbände zu erhalten, die Wohlfahrt der Einzelnen und ihrer Gemeinden als voneinander abhängige Ziele zu bewahren und das friedliche Zusammenleben aller durch ein Gleichgewicht zwischen den Verbänden zu sichern. Der mittelalterliche Staat war daher der Konzentration der Gemeindehoheiten in den Händen eines Königs oder höchsten Amtmanns abgeneigt und blieb im Grunde genommen stets föderativer Verbändestaat, der seinen individuellen und korporativen Mitgliedern auch im politischen Leben subjektive Befugnisse gewährte, allerdings auch niemals die Geschlossenheit des römischen Kaiserstaates erreichte. § 72. Verfassungsgeschichte hätte demnach zum Gegenstande das Gemeinschaftsleben derjenigen menschlichen Verbände, die imstande waren, die urtümliche, aus vorstaatlicher Zeit überkommene Eigenmacht der Einzelnen unter Kontrolle zu bringen und ihr gegenüber das Interesse der Gesamtheit an friedlichem Zusammenleben durchzusetzen. Nur diese Kontrollmacht verdient es, öffentliche Gewalt oder Hoheit genannt zu werden. Nur solche menschlichen Verbände können daher füglich Staaten heißen, die sich in der Absicht, diese Gewalt auszuüben, als Friedensgemeinden konstituierten, um in ihrer Mitte entstehende Todfeindschaften auf den Weg der Sühneverhandlung zu zwingen und auf diese Weise der Gemeinschaft der Rechtsgenossen den inneren Frieden zu geben. Die erste staatliche Institution, die derartige Gemeinschaften aus sich hervorbringen mußten, wäre demnach das Gericht gewesen. Eines Herzog- oder Königtums bedurfte es dafür nicht, sondern lediglich eines Standes rechtskundiger Sprecher und Worthalter der Gemeinden. Die Stunde monarchischer Gewalt schlug erst dann, wenn sich mehrere oder gar viele Friedens- und Gerichtsgemeinden zu gemeinsamer Kriegführung (sei es zur Abwehr äußerer Feinde oder zu eigener aggressiver Landnahme) verbanden und wenn so zur Aufgabe der inneren Befriedung die des äußeren Friedensschutzes hinzutrat. Erst dann war der Aufbau von Herrschaftsbeziehungen vonnöten. Gemeindestaaten bedurften deren noch nicht. Sie lebten von der Gleichberechtigung der Handelnden und dem Vorrange der in Leitungsaufgaben besonders Geschickten.
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§§ 73 – 89. Der altsächsische Stammesstaat § 73. Da sich die germanische Staatsbildung auf dem Kontinent von Anfang an in Auseinandersetzung mit dem Vorbilde des römischen Anstaltsstaates und der ihm eingegliederten christlichen Kirche vollzog und selbst auf den Britischen Inseln früh mit der anstaltlich verfaßten römischen Kirche berührte, hat sich nur ein einziges Zeugnis für die Verfassung eines germanischen Staates erhalten, der über die Stufe des Gemeindestaates hinaus zum Flächenstaate erwuchs, ohne dabei von den Traditionen des Römischen Reiches beeinflußt zu werden. Dieses Zeugnis bezieht sich auf den sächsischen Verbände- und Stammesstaat und ist in seiner Einzigartigkeit um so schwerer zu verstehen, als wir über die gewiß bis ins 3. Jahrhundert nach Christus zurückreichende Entstehung des Sachsenstammes und seiner Reichsgründung so gut wie nichts wissen. Nur die Endzeit seiner Selbständigkeit, die mit der Unterwerfung der Sachsen durch König Karl den Großen im Jahre 785 erlosch, ist uns genauer bekannt. Denn um das Jahr 770 hatte ein angelsächsischer Priestermönch und Missionar namens Lebuin den Versuch unternommen, die festländischen Sachsen zum Christentum zu bekehren, und um 815 wurde in seiner Heimat auf der britischen Insel ein Bericht über seine Reise abgefaßt, der wiederum, vermutlich in dem von ihm gegründeten Kloster Werden an der Ruhr, einem vor 864 tätigen anonymen Schriftsteller zur Verfügung stand, als er sich vornahm, das Leben des Klostergründers zu beschreiben (Vita Lebuini antiqua c. 4 und 6. H. Löwe 1965; W. Lammers 1970 S. 28 f.; H. Schmidt 1977 S. 3 Anm. 6). Aus dieser bei so einwandfreier Überlieferung durchaus glaubwürdigen Quelle erfahren wir folgendes (c. 4): Regem antiqui Saxones non habebant, sed per pagos satrapas constitutos; morisque erat, ut semel in anno generale consilium agerent in media Saxonia iuxta fluvium Wisuram ad locum qui dicitur Marklo. Solebant ibi omnes in unum satrapae convenire, ex pagis quoque singulis duodecim electi nobiles totidemque liberi totidemque lati. Renovabant ibi leges, praecipuas causas adiudicabant et, quid per annum essent acturi sive in bello sive in pace, communi consilio statuebant. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts war es bemerkenswert, daß die Sachsen eines Königs entbehrten, und wenn man annimmt, daß die ohne kriegerische Eroberungen schwerlich denkbare Stammesbildung der Sachsen seit dem 3. Jahrhundert auch eine königliche Zentralgewalt hervorgebracht habe, so erscheint es als möglich, daß die Franken, wenn sie denn im 6. Jahrhundert das gesamte Volk der Sachsen unterworfen hätten, bei der Gelegenheit dessen Verzicht auf die Monarchie erzwungen und das Königtum durch mehrere Herzöge ersetzt hätten. Die in der Vita Lebuini beschriebene Verfassung wäre dann nicht als Rationalisierung einer altgermanischen Prinzipatsverfassung, sondern als Erzeugnis sächsischer Oppositionshaltung gegenüber dem merowingischen Königtum zu deuten (R. Wenskus 1961 S. 546 f.). Wir lassen diese Erwägung auf sich beruhen, da sie lediglich das Alter, nicht jedoch den Ursprung der sächsischen Verfassung allein aus germanischen Rechtsvorstellungen in Frage stellt.
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§ 74. Wenn der Bericht die Männer, welche in ihrer Gesamtheit die Stelle des Königtums ausfüllten, als satrapae bezeichnet, so ergibt sich vor allem daraus seine angelsächsische Herkunft, denn bereits um 730 hatte der englische Gelehrte Beda diesen exotischen Ausdruck der lateinischen Bibel (Vulgata) entlehnt, um der ihm sonst ganz unbekannten Institution einer kumulativen Führerschaft einen Namen zu geben. Die Vulgata verwendet das Wort als Synonym für princeps und dux, Beda aber gebrauchte es als Äquivalent für ags. ealdorman, das seinerseits für lat. princeps, optimas, subregulus stehen konnte (Ph. Heck 1931 S. 170 – 172; H. Dannenbauer 1941 / 56 S. 100 Anm. 73). Beda hatte geschrieben: „Diese Altsachsen (antiqui Saxones) haben nämlich keinen König, sondern viele Satrapen, die an der Spitze ihres Stammes stehen (satrapas plurimos suae genti praepositos) und im wichtigen Augenblick eines Kriegsausbruchs untereinander das Los werfen; und demjenigen, auf den das Losstäbchen weist, folgen alle und hören auf ihn als Führer (ducem) für die Dauer des Krieges. Wenn aber der Krieg vorbei ist, werden alle wieder Satrapen mit gleicher Macht (aequalis potentiae . . . satrapae)“ (Hist. eccl. 5, 10). Diesen Satz hatte Beda eingeschoben in den Bericht über eine Missionsreise, die zwei angelsächsische Priester zwischen 690 und 695 in das Land der Altsachsen (ad provinciam antiquorum Saxonum) unternommen hatten. Dort hatten sie „die Gastfreundschaft eines Dienstmannes genossen (intraverunt hospitium cuiusdam vilici) und diesen gebeten, zu dem Satrapen, der über ihm war (ad satrapam, qui super eum erat), geführt zu werden, weil sie eine Botschaft und nützliche Sache hätten, die sie ihm überbringen sollten.“ Aber die Sachsen „schöpften Verdacht, daß sie, wenn sie zum Satrapen kämen und mit ihm sprächen, diesen von ihren Göttern abbringen und zur neuen Religion des christlichen Glaubens bekehren würden und so ihr ganzes Land allmählich gezwungen würde, die alte Religion gegen die neue zu tauschen. Daher entführten (rapuerunt) und töteten sie diese unerwartet. . . Als dies der Satrap, den sie hatten aufsuchen wollen, hörte, war er sehr zornig, daß den Fremden, die ihn hatten besuchen wollen, dies nicht gestattet worden war, und er ließ alle jene Dorfbewohner töten (mittens occidit vicanos illos omnes) und brannte das Dorf (vicum) nieder.“ Der Satrap war danach ein wohlhabender Grundbesitzer, der einen oder mehrere Bauernhöfe, die er nicht selbst bewirtschaften konnte, von abhängigen Vorstehern verwalten ließ, ein Mann, der für politische Aufgaben abkömmlich war und die Meinungs- und Willensbildung seines Volkes maßgeblich beeinflußte: Seinem wohlerwogenen und mit anderen Satrapen abgestimmten Willen wagte offensichtlich kein Volksgenosse mehr zu widersprechen. Er war ebenfalls mächtig genug, um den Bruch des Friedens, den er durch seinen Dienstmann den Missionaren gewährt hatte – wegen der Tötung hätten mit Rechte nur deren Blutsverwandte gegen die Täter vorgehen können – mit Hilfe entsandter Gefolgsleute im Wege der Fehde zu rächen. Ob er dabei eigenmächtig handelte oder zuvor in öffentlicher Volksversammlung eine Sühne der Tat verlangt und die Ächtung der widerstrebenden Dorfleute erwirkt hatte, läßt Bedas Bericht offen; es war für das Ansehen, welches die Satrapen in ihrem Volke
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genossen, und für die kriegerische Macht, die sie entfalten konnten, unerheblich. Im großen ganzen glich ihre Stellung der eines isländischen Goden. § 75. Bedauerlicherweise erwähnen weder Beda noch die Vita Lebuini, da sie sich passivischer Verbformen bedienen, wer die Satrapen an die Spitze des Volkes stellte (praeponere, constituere). An dieser Frage scheiden sich bis heute die Geister der Verfassungs- und Adelshistoriker (E. Freise 1983 S. 281; K. Bemmann 1992 S. 104 – 106). Wenn Beda mit Bedacht Begriffe wie princeps oder regulus vermeidet, haben wir es nicht mit Fürsten zu tun, die, eventuell als Nachfahren älterer, verschollener Königsgeschlechter, einen erblichen Anspruch auf die Satrapie besaßen; daß sie aus eigenem Rechte über angestammte Familiensitze und größeren, vererbbaren Grundbesitz verfügten, konnte vollends keinen öffentlichen Rechtsanspruch begründen, sondern war nicht mehr als eine – allerdings unerläßliche – Bedingung für die persönliche Eignung eines Mannes zum Satrapen, da nur sie ihm die Abkömmlichkeit von privaten Geschäften gewährte, welche die Übernahme einer Satrapie voraussetzte. Da es ferner niemanden gab, der als Einzelperson, gleich einem Könige, über den Satrapen stand und sie hätte in ihr Amt einsetzen können, so wie sie selbst ihre Hofverwalter bestellten, so bleibt niemand anders als übergeordnete Instanz übrig als das Volk: „Die Satrapen waren nicht erbliche Fürsten, sondern Volksbeamte“ (Ph. Heck 1931 S. 194). Nicht anders verhält es sich mit den Satrapen, die in bayerischen Quellen dieser Zeit erwähnt werden (Hdb. bay. G. 1981 S. 241 mit A. 54). Und wie die Gauversammlung über jedem einzelnen von ihnen, so muß die allgemeine Versammlung zu Marklo auch über ihrer Gesamtheit gestanden haben (A. Hagemann 1959 S. 116). Damit die Satrapen ihre Vollmacht oder Amtsgewalt vom Volke empfangen konnten, bedurfte es allerdings keines Wählergremiums, als das man sich hat entweder eine Provinzialversammlung oder die allgemeine sächsische Stammesversammlung vorstellen wollen, da wir ja wissen, daß nach späterem deutschem Rechte das Volk seine Vorsteher und Worthalter nicht in rationalen Wahlgängen und Konstitutionsakten ermächtigte, wie sie erst die Neuzeit aus jenem Rechte entwickelt hat, sondern dadurch, daß es den von Fall zu Fall zwischen den Worthaltern vereinbarten Gesamtwillen als einträchtlich gewonnenen Verbandswillen anerkannte. Die Vollmacht der Satrapen war folglich keine auf Dauer oder Lebenszeit erteilte Befugnis, sondern sowohl zeitlich als auch sachlich beschränkt: Sobald sie die Identität ihres Willens mit dem Verbandswillen nicht mehr voraussetzen konnten, mußten die Satrapen eine Sache an die Genossenversammlung zurückbringen und für die Erneuerung der Willensidentität als Bedingung ihrer Vollmacht Sorge tragen. Diese Sorge zählte zu ihren Amtspflichten. Dem Volke stand es frei, ihre Erfüllung durch stillschweigende Hinnahme anzuerkennen oder sie in tumultuarischen Formen einzufordern (oben: §§ 22, 25, 26). Es ist daher unzulänglich, ja sogar falsch (unten: § 88) zu sagen, das „Dabeisein“ der unteren Stände des Volkes habe nicht viel bedeutet, da sie zu billigen pflegten, was die Satrapen ihnen einmütig vorstellten (M. Last 1977 S. 581). Es bedeutete nämlich sofort sehr viel, wenn sie den Oberen den Konsens verweigerten, wie das gewaltsame Vorgehen
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jenes Satrapen gegen die eigenwilligen Dorfleute beweist, von dem Beda uns berichtet. Wir werden daher die sächsischen Satrapen nicht sofort (unten: §§ 410, 411) als Fürsten oder Adlige bezeichnen, da diese Worte ihre Eigenschaft als Amtleute und ihre Abhängigkeit von der Ermächtigung durch die sächsischen Gauvölker nicht zum Ausdruck bringen. Sie waren Älteste und Worthalter dieser Völker, und ihre Macht beruhte darauf, daß die Sachsen ihnen beistanden, wenn sie im Rahmen ihrer Vollmacht Entscheidungen fällten oder gar in Marklo einen der Ihren zum Herzog wählten, weil das ganze Volk bereit war, Krieg zu führen. Da die Präposition per nach den ahd. Übersetzungsgleichungen nicht nur im lokalen, sondern auch im kausalen oder instrumentalen Sinne verstanden wurde (H. Götz, Wb. 1999 S. 475), sind wir berechtigt, die Worte per pagos constitutos als „von den Gauen bestellte Sprecher oder Älteste“ ins Deutsche zu übersetzen. § 76. Da lat. pagus im Ahd. nicht nur lokal als Dorf oder Gau, sondern auch personal mit dem Worte Dorfleute, entsprechend lat. pagensis als Landsmann (gelando sc. gi-lanto) wiedergegeben werden konnte (ebd. S. 459 f.; W. Braune, Lesebuch 1928 S. 43 Nr. XIV Z. 14, S. 44 Nr. XV Z. 10), sind wir berechtigt, uns unter den sächsischen Gauen Personenverbände vorzustellen, deren Mitglieder als Nachbarn eine jener von Bergwäldern und Mooren umgebenen Siedlungskammern in derselben Weise bewohnten und gemeinsam als Eigentümer und Genossen (Genießende, Nutznießer) wirtschaftlich nutzten, wie es später die Bewohner des Lachswassertals auf Island taten. Obwohl pagus als Äquivalent für ahd. land nicht belegt ist (das am meisten benutzte lat. Wort hierfür war provincia, G. Köbler 1969 S. 6 – 21), fragt man sich, ob die sächsischen pagi nicht auch Länder und ihre Bewohner nicht auch Völker heißen konnten, denn in den ahd. Glossen findet sich populus auch mit land wiedergegeben (H. Götz, Wb. 1999 S. 500), und die ahd. Wörter Volk und Land konnten alternativ gebraucht werden (lant-thiot ,das im Lande ansässige Volk‘, lant-liut ,Landesvolk‘: W. Braune, Lesebuch 1928 S. 247). In dem Namen des Ortes Theotmalli (heute: Detmold), auf dessen Gefilden sich die Sachsen einmal in Schlachtordnung König Karl entgegenstellten (Ann. regni Franc. a. 783), lebt das Wort thiot als Bezeichnung für einen politischen Verband fort, denn fränkisch mallus bezeichnete die Volksversammlung und die Stätte, an der sie zusammentrat (R. Wenskus 1961 S. 284). Hierher gehören auch die ahd. Worte elilenti, ellende ,anderes Land, Ausland, Fremde, Verbannung‘ und elilenti ,fremd, verbannt‘, denn nur wenn zu der Zeit, als sie gebildet wurden, das Land bereits als Ding- und Friedensgemeinde seiner Einwohner auftrat, konnte man als Elenden den Friedlosen bezeichnen, den ein Volk geächtet und damit aus seiner Gemeinschaft verbannt hatte (W. Schlesinger 1956 S. 181 f. mit A. 132; O. Brunner 1943 / 1965 S. 184 – 190, 231, 394). Damit ist freilich nicht gesagt, daß sich die sächsischen Gauvölker bereits eine hoheitliche Gewalt über den einzelnen Gaugenossen beigelegt und das, was ihre Dingversammlungen für richtig hielten, zu einer objektiven Ordnung ihrer Gaue und Län-
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der verdichtet, geschweige denn, daß sie in dem Besitz eines Landrechts ein Wesensmerkmal ihrer Verbandsverfassung erkannt hätten. Zwar kennt bereits der um 830 entstandene sächsische Heliand die Komposita landreht, landwisa, landsidu ,Recht oder Sitte des Landes‘ und landscadho ,Landschädiger, Übeltäter‘, der den Brauch des Landes verletzte; es ist aber unwahrscheinlich, daß diese Wörter damals bereits der sächsischen Umgangssprache angehörten: Eher waren es Schöpfungen des Helianddichters, der für bestimmte lat. Begriffe seiner Vorlagen die volkssprachlichen Äquivalente überhaupt erst erfinden mußte (G. Köbler 1969 S. 21 – 40). Selbst im Karolingerreiche gab es zu dieser Zeit noch keine Landrechte als gemeinsame Rechte bestimmter Gerichtsbezirke. „Sicherlich hat es räumliche Abgrenzungen gegeben und ist jedem Personenverband früher oder später ein Gebiet zugeordnet. Die Verwertung dieser Zuordnung als juristisches, konstitutives Tatbestandselement scheint aber eher der römischen als der germanischen Gedankenwelt eigen gewesen zu sein;“ auf dem Boden des Ostfränkischen und späteren Deutschen Reiches finden sich erst seit der Mitte des 11. Jahrhunderts Belege dafür, daß die Zuordnung eines objektiven Rechts zum Lande wirklich vorgenommen wurde (ebd. S. 40). Keine dieser Erwägungen spricht dafür, daß die von den sächsischen Gauverbänden bestellten Satrapen mehr als Älteste und Worthalter des volklichen Gemeinwillens, daß sie gar bereits vom Volke mit einer Hoheit ausgestattete Fürsten gewesen wären, die diese als Erbe ihres Geschlechtes hätten in Anspruch nehmen können. Der Annahme, das altsächsische Gauthing sei bereits Gericht mit allumfassender Zuständigkeit unter dem Vorsitz eines Gaufürsten oder Satrapen gewesen (K. Bemmann 1992 S. 102 f.), wird man sich daher schwerlich anschließen können. § 77. Wieviele Gaue des sächsischen Volkes es gab, wissen wir nicht. Quellen späterer Zeit, namentlich die Königsurkunden des 9. bis 11. Jahrhunderts, nennen uns bis zu achtzig Gaue von unterschiedlicher Größe, darunter den Gau Theotmalli, dem im 11. Jahrhundert nur (noch) einige wenige Dörfer südöstlich von Detmold angehörten. Da manche Gaue (Wigmodia etwa oder Ostfalen) jetzt mehrere Kleingaue in sich schlossen, mögen die altsächsischen Gaue mehrere Dingstätten besessen haben, deren Umwohner sich mit wachsender Zahl und fortschreitendem Landesausbau allmählich in selbständigen Verbänden von älteren Großgauen absonderten. Man gewinnt also eine unangemessene Maximalzahl, wenn man von siebzig bis achtzig Gauen ausgehend das Allthing zu Marklo auf 2500 bis 3000 Männer veranschlagt (K. Bemmann 1992 S. 101). Ohne Bedeutung für die altsächsische Verfassung war offenbar das Heerwesen, da der Kriegszustand, wie Bedas Mitteilung über die Herzogswahl zeigt, kein Dauerzustand war und wohl nur in älteren Zeiten das ganze Volk erfaßt hatte; den Franken jedenfalls traten die südelbischen Sachsen niemals als Gesamtheer gegenüber, sondern nur in drei selbständig und unter eigenen Herzögen operierenden Heeren, die uns seit 775 in den fränkischen Quellen häufig als Westfalen,
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Engern und Ostfalen genannt werden (G. Waitz Bd. 3 21883 S. 121 mit Anm. 3; E. Freise 1983 S. 286). Im Heliand und in der altsächsischen Genesis erscheint die Region Palästina zwar als eine Summe von Ländern mit Mittelpunktsburgen, in denen jeweils ein Burgwart saß, ein folk-togo ,Volksführer‘ oder heri-togo ,Herzog‘, der von hier aus die zum Lande gehörigen Leute beherrschte, indem er Gericht hielt und Abgaben einzog (H. Dannenbauer 1941 / 1956 S. 97 f.; W. Schlesinger 1956 S. 144), aber das waren römische Verhältnisse, zu deren ständigen, auch in Friedenszeiten tätigen Amtmannschaften es bei den Sachsen keine Entsprechung gab. Die sächsischen Gauvölker hatten daher auch keinen Anlaß, ihre Herzöge mit liegendem Herzogsgut als Quelle ständiger Einkünfte auszustatten. Die Macht der Herzöge beruhte allein auf dem Gehorsams- und Beistandsversprechen, das die bewaffneten Männer ihnen entweder, sobald sie einmütig übereinkamen, daß Krieg geführt werden müsse, oder im Anschluß an das Losverfahren, sei es ausdrücklich oder durch konkludentes konsentierendes Verhalten, erteilten. § 78. Seit wann das generale consilium oder Allthing (oben: § 63) bestand, von dem die Vita Lebuini berichtet, ist ebenso unbekannt wie die Lage des Ortes Marklo ,Grenzwald‘, an dem es zusammentrat; das bei Nienburg an der Weser gelegene Dorf Marklohe hat erst im Jahre 1934 seinen angestammten Namen Lohe um das traditionsreiche Bestimmungswort Mark erweitert. Wie die Vita erzählt, pflegten dort die Satrapen oder Worthalter der Gauvölker vollzählig zusammenzukommen, außer ihnen aber auch noch je zwölf erwählte (electi) Edle, Freie und Liten aus jedem Gau. Die Wahl dieser Männer haben wir uns genauso vorzustellen wie die der Satrapen oder Ältesten. Wer immer das Vorschlagsrecht besitzen mochte (in Betracht kommen entweder die Satrapen oder Partikularverbände der Gauleute): gewählt war ein Mann erst dann, wenn aller Widerspruch verstummte und das Gauvolk den Benannten oder Bewerber damit einhellig dazu ermächtigte, in Marklo seinen Willen zu bekunden. Die Notwendigkeit, den Satrapen derartige Delegationen an die Seite zu stellen, ergibt sich aus den uns bekannten Regeln identischer Willensbildung. Nach ihnen kam den Satrapen lediglich eine beschränkte Vollmacht zu, namens oder von ihres Gaues wegen zu sprechen, denn ihre Befugnis erlosch, sobald sie sich der Übereinstimmung ihres Willens mit dem ihres Gauverbandes nicht mehr sicher waren. In diesem Falle mußten sie vor der Versammlung zu Marklo erklären, sie hätten in der zur Verhandlung stehenden Sache keinen Befehl und wollten die Angelegenheit daher an ihre Mandanten zurückbringen (Referenzrecht, oben: § 22). Da dringende Entscheidungen dadurch hätten gefährlichen Aufschub erleiden können – ein Mangel des Identitätssystems, dessen Folgen am Beispiel der Deutschen Hanse eindringlich studiert werden können (oben: §§ 28, 29) –, war es zweckmäßig, Sprecher der innerhalb der Gaue bestehenden Partikularverbände ebenfalls in Marklo zu versammeln; mit ihnen konnten sich die ihrer Vollmacht und der Identität aller Willen nicht mehr gewissen Satrapen eines Gaues beraten, ohne daß das Allthing hätte für längere Zeit unterbrochen werden oder gar beschlußlos auseinandergehen müssen.
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Die 36 Erwählten eines Gaues hätten sich, wenn diese Erklärung richtig ist, zur Vollversammlung ihrer Gauleute und zu deren Satrapen genauso verhalten wie später in den niederdeutschen und Hansestädten die versammelten Sprecher der Handwerksämter und Meinheiten (Weiter Rat, Sechzehner, Vierziger, Achtundvierziger usw.; E. Pitz 2001 § 213) zur Vollversammlung aller Stadtleute und zum Stadtrate: als unentbehrliche Helfer nämlich, ohne deren Mitwirkung sich die komplizierte Identifikation aller Individualwillen mit dem Gemeinwillen schwerlich hätte ins Werk setzen lassen. Denn ebensowenig, wie die Stadträte ihren Bürgerschaften als Obrigkeiten mit hoheitlicher Gewalt gegenübertreten konnten (ebd. § 209), dürfen wir dieses von der Gemeinschaft der in Marklo versammelten Satrapen annehmen. Diese waren nicht Herren, sondern lediglich Berater des Volkes, dessen gemeinsame Willensbildung sie anzuleiten hatten, und lediglich als Berater, als Stammesrat verkörperten die Satrapen gemeinlich die Einheit des sächsischen Stammes oder Volkes, die bei allen anderen westgermanischen Völkern zu dieser Zeit bereits von der Institution des Königtums abhing. § 79. Nach der Rückkehr von Marklo aber konnten sich die Satrapen, ein jeder in seinem Gau, auf das Zeugnis der Sechsunddreißig stützen, um das Gauvolk zur Annahme des auf dem Allthing Beschlossenen zu bewegen. Denn wie später die Rezesse der Deutschen Hanse, so dürften die Beschlüsse des Allthings zu Marklo erst dann rechtskräftig und für jedermann verbindlich geworden sein, wenn die heimkehrenden Satrapen sie auf den Gaudingen öffentlich bekanntgeben konnten, ohne damit Widerspruch auszulösen (oben: § 27). Die identische Willensbildung mehrfach partikulierter und abgestufter Großverbände, wie der Stamm der Sachsen einen gebildet haben muß, erforderte ja nicht, daß sich die Gauleute, mochten sie nun Älteste und Sechsunddreißiger durch offenen Beifall oder durch bloßes Stillschweigen bevollmächtigt haben, mit solchem Tun oder Verhalten im voraus bedingungslos allem unterwerfen wollten, was die Versammlung zu Marklo als genossenschaftliches Oberhaupt des Gesamtvolkes öffentlich übereinstragen würde. Die Vollmacht, die sie ihren Sprechern gewährte, stand unter dem Vorbehalt der Identität aller Willen, und ob diese Bedingung erfüllt war, das konnten die Gauleute erst bei der Publikation der Beschlüsse feststellen und durch ihren Konsens zum Ausdruck bringen. Eben dieser Vorbehalt unterscheidet, wie wir gesehen haben (oben: §§ 6, 9, 14, 23), das Identitätssystem von der öffentlichen Willensbildung mittels Repräsentanten, die seit dem 13. Jahrhundert die Parlamente in Westeuropa und England prägte, in Deutschland jedoch nirgendwo heimisch wurde (unten: § 274). Es liegt also ein grober Anachronismus in der Behauptung, in der altsächsischen Verfassung sei „der Gedanke des Repräsentativsystems zum erstenmal in der Geschichte der germanischen Völker und überhaupt des Abendlandes“ hervorgetreten (M. Lintzel 1933 S. 15 f., 1967 S. 161 f.; H. Mitteis 1953 S. 81), und darin sei uns „die Grundlage des späteren englischen Parlamentarismus“ gegeben (H. Mitteis 1953 S. 81). Dieser offensichtliche Anachronismus hat manche Forscher dazu bewogen, die Angaben der Vita Lebuini über das Allthing zu Marklo zur Legende zu erklären
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und darin zugleich eine Stütze für die Behauptung zu finden, das politische Leben Altsachsens habe auf dem Prinzip der Adelsherrschaft beruht, d. h. Adlige seien nicht nur Grundbesitzer, sondern auch aus eigenem Rechte Herren der archäologisch nachgewiesenen Burgen und Führer im Kriege gewesen (H. Dannenbauer 1941 / 1956 S. 96 – 101; G. Baaken 1961 S. 26 – 28). Ja sogar den königlichen Burgbann des 10. Jahrhunderts hat man von ihrer Gebotsgewalt herleiten wollen (W. Schlesinger 1956 S. 146)! Allein angesichts der oben dargelegten einwandfreien und zuverlässigen Überlieferung sind Zweifel an den auf uns gekommenen Nachrichten nicht nur unberechtigt (K. Jordan 1980 S. 214), sondern geradezu verboten, und sie sind auch nicht notwendig, sobald man sich von den Begriffen Repräsentation und Parlament, vor allem aber von dem Worte Demokratie trennt und damit den in die Nachrichten hineingelesenen Anachronismus beseitigt. In der Tat gestattet es uns die Kenntnis des späteren deutschen Einungs- und Identitätsrechtes, die Nachrichten in befriedigender Weise zu erklären und damit auch das vermeintlich rettende Prinzip der Adelsherrschaft entbehrlich zu machen. Die Funktionen der sächsischen Satrapen vermag es nicht zu erklären. Irgendwelche vom Volke anerkannte, ihnen angeborene Vorrechte oder erbliche öffentliche Funktionen, wie sie später den Adel zu begründen pflegten (unten: §§ 136 – 141), kamen ihnen offensichtlich nicht zu. § 80. Es ist nicht bekannt, ob innerhalb der Gaugemeinden lokale Partikularverbände, etwa um besondere Dingstätten zentrierte Untergaue oder gemeinsam siedelnde Nachbarschaften, bestanden haben. Bezeugt ist uns lediglich die ständische Partikulierung der Sachsen, und dank einem Schriftsteller des 9. Jahrhunderts, der als Angehöriger des Karolingerhauses und aktiver Politiker zweifellos sachkundig war, sind uns auch die altsächsischen Äquivalente zu den lat. Standesbezeichnungen der Vita Lebuini bekannt: Que gens omnis in tribus ordinibus divisa consistit; sunt enim inter illos, qui edhilingui, sunt qui frilingi, sunt qui lazzi illorum lingua dicuntur; latina vero lingua hoc sunt: nobiles, ingenuiles atque serviles (Nithard, Hist. IV 2, ed. Müller S. 41 Z. 15 – 18). Das sächsische Ständerecht ist vor allem insofern problematisch, als von den Schriftstellern des 9. und 10. Jahrhunderts, die es erwähnen, lediglich zwei nur die bereits der Vita Lebuini bekannten drei Stände nennen, während andere außerdem noch einen vierten Stand der liberi kennen. Dieser Widerspruch, und dazu noch der in späteren Gesetzen betreffend die Wergelder zutagetretende, extrem hohe verfahrensrechtliche Schutz für das Leben der Edlen – eine solche gesetzliche Festlegung der Wergelder dürfte freilich der altsächsischen Zeit noch fremd gewesen sein (oben: § 62) – haben zu der Behauptung geführt, das sächsische Ständerecht sei einmalig und mit dem der anderen im Frankenreiche vereinigten germanischen Stämme überhaupt nicht zu vergleichen (H. Mitteis 1938 S. 238 f.). Die Bedenken entfallen jedoch, wenn man in Betracht zieht, daß einst die Franken den Sachsen bei der Eroberung namentlich der südlichen und südöstlichen Teile ihres Stammesgebietes Hilfe geleistet hatten und daß seitdem zahlreiche Franken im Sachsenlande lebten, die wegen ihrer kriegerischen Herkunft zwar ebenfalls als Edle oder
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Edelfreie galten, aber weder an den sächsischen Gaudingen noch an der Stammesversammlung zu Marklo teilnahmen, da sie nach fränkischem Rechte lebten und daher eigene Friedensgemeinden gebildet hatten. Dieses vorausgesetzt, erklärt sich „der Umstand, daß zwei der alten Schriftsteller drei und zwei vier Stände der Sachsen zählten, . . . einfach daraus, daß die einen die freien Franken nicht als Sachsen betrachteten, während die anderen sie als innerhalb des sächsischen Volkes lebend zu diesem rechneten“ (A. Hagemann 1959 S. 114, dazu S. 139 Anm. 81). Diese letztere Auffassung mag die jüngere gewesen und entstanden sein, nachdem sich auch die Sachsen als rechtmäßige Glieder des christlichen Frankenreiches und seines Untertanenverbandes zu verstehen gelernt hatten. Alle Stände der Sachsen waren ausgesprochene Geburtsstände: Et id legibus firmatum, ut nulla pars in copulandis coniugiis propriae sortis terminos transferat, sed nobilis nobilem ducat uxorem et liber liberam, libertus coniugatur libertae et servus ancillae. Si vero quispiam horum sibi non congruentem et genere praestantiorem duxerit uxorem, cum vitae suae damno componat (Translatio s. Alexandri c. 1, ed. Pertz S. 675 Z. 17 – 21). Die Standesprädikate waren also keine schmückenden Beiworte, die jeder sich selbst oder einem anderen nach Belieben beilegen konnte, je nach dem sozialen Ansehen, das einem Menschen wegen Reichtums oder Armut, Beredsamkeit oder Unwissenheit, Kriegsruhm oder Leibesschwäche zuteilwurde, sondern es waren Rechtsbegriffe, die juristische Tatbestände bezeichneten und wichtige, ja sogar tödliche Rechtsfolgen nach sich ziehen konnten. Soziales Ansehen war wegen seiner verschiedenen und veränderlichen Ursachen ein viel zu flüssiges Element, als daß es zur Grundlage derartiger Rechtsfolgen hätte dienen können (Ph. Heck 1931 S. 90, 169). Die Gewißheit darüber, welchem Stande jeder Einzelne angehörte, beruhte auf dem Zeugnis seiner Blutsverwandten und Freunde und letzten Endes auf dem öffentlichen Rechtswissen des Friedens- oder Gauverbandes, in dem er geboren worden war und lebte. § 81. Uralt, so meinte Philipp Heck, sei gewiß die Überzeugung, daß die Abkunft eines Menschen seinen Wert bestimme, und daraus erklärte Heck sich die auch den alten Sachsen vertraute Bevorzugung, den Vorrang des freien Mannes aus altem Geschlechte, der keine Unfreien unter seinen Vorfahren kannte, vor den Leuten anderer, namentlich unfreier Abkunft, einen Vorrang, der auch dann bestehen blieb, wenn diese selbst oder schon in ihren Eltern die persönliche Freiheit erlangt hatten und daher, im zweiten Falle, bereits freigeboren waren: Diese Grenze zwischen altfreien Volksgenossen und jenen Freien, die Unfreie zu ihren Vorfahren zählten, sei für die Standesgliederung nicht nur der Sachsen hinsichtlich der Ebenburt und des Wergeldes maßgebend gewesen (Ph. Heck 1931 S. 81 f.). Die Zahl der sächsischen Edlen (nobiles, edilingi) kann, nach der Menge der später nachweisbaren Geschlechter (M. Last 1977 S. 608 – 622) zu urteilen, nicht groß gewesen, „anfänglich mögen es ein paar Hundert gewesen sein“ (A. Hagemann 1959 S. 115). Immerhin waren ihrer so viele, daß sie das Allthing zu Marklo nicht persönlich besuchten, sondern ihre Meinungen dort gauweise durch Zwölfer
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geltendmachten. Allein aus ihren Reihen werden sich die Gauvölker alljährlich ihre Satrapen erkoren haben, da diese sonst schwerlich auch von den Edlen als Älteste und Worthalter der Gesamtheit anerkannt worden wären. Und wohl nur die Edlen besaßen soviel an Gütern und an Welt- und Rechtskenntnissen, daß sie sich der Eignung für das vom Volke vergebene Amt des Satrapen erfreuten. Nichts spricht dafür, daß die Macht der Edlen, Satrapen und Herzöge auf Großgrundbesitz, geschweige denn auf Grundherrschaft beruht hätte; großbäuerlich-händlerische Lebensweisen nach friesischer oder skandinavisch-isländischer Art, mit weitgehender Abkömmlichkeit vom eigenen Hofe – wie ja überhaupt damit zu rechnen ist, daß der Fernhandel bis ins 11. Jahrhundert hinein in den Händen des Adels gelegen hat (K. Bosl 1965 S. 459, 462) –, dazu Einkünfte aus pflichtgemäßen Gaben beschützter nichtadliger Volksgenossen sind denkbar. Wenn sich die Pflichtigen zu solchen Abgaben selbst einschätzten, entstand den Edlen kein Verwaltungsaufwand, und weder Hufen- noch Fronhofsverfassung wären erforderlich gewesen: alles Einrichtungen, die in der schriftlosen altsächsischen Gesellschaft schwerlich hätten funktionieren können. Immerhin müssen die Sachsen seit alters ein wie immer geartetes Münzwesen (A. Dopsch 1922 T. 2 S. 332 – 335) und Steuersystem besessen haben, da sie vom Jahre 531 an bis 631 imstande gewesen waren, den Merowingern einen jährlichen Zins von fünfhundert Kühen zu entrichten; als König Dagobert sie von der Zinspflicht befreite, waren Saxones zu ihm gekommen, die ihre Vertragstreue sacramentis . . . pro universis Saxonebus bekräftigten (Fredegar IV 74), also wohl von einer Stammesversammlung in den Formen identischer Willensbildung hierzu ermächtigt worden waren und nur dem Stande der Edelinge angehört haben können. Außerdem war das Teilvolk der Thüringer seit 531 mit einem Schweinezins belastet, den die Könige bis zum Jahre 1002 in Empfang genommen haben. Den Rinderzins erlegte der Hausmeier Pippin dem Sachsenstamme im Jahre 748 von neuem auf; zehn Jahre später, nunmehr als König, wandelte er ihn in eine Abgabe von dreihundert Pferden um (Fredegar, Cont. c. 31, ed. Krusch 1888 S. 181 Z. 19 – 20; Ann. regni Franc. a. 758; W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 39 f.; R. Wenskus 1977 S. 133 f.; J. Durliat 1990 S. 121). Wer anders als die Genossenschaft sächsischer Satrapen hätte diese von den Franken geforderten Tribute auf die Gaue des sächsischen Volkes umlegen können? Die Edelinge stellten zweifellos auch die Anführer der Gaue im Kriege. Zu ihnen wird jener Dietrich gehört haben, der im Jahre 743 die Hochseeburg gegen die Franken verteidigte, bevor er sich den Angreifern ergab, oder jener Bruno, der dreißig Jahre später gemeinsam mit anderen Optimaten der Engern die Unterwerfung dieses Volkes unter die fränkische Herrschaft vollzog. Gewiß benannten die Franken nach ihm die Brunsburg bei Höxter, die sie zuvor erobert hatten (Ann. regni Franc. a. 743, 775). Das Verhalten dieser Vornehmsten unter den Edlen bestimmte die politischen Entscheidungen des Volkes. Als sich am Ende die Herzöge Widukind und Abbo dem Könige der Franken unterwarfen, da erlosch auch der Aufstand des sächsischen Volkes für viele Jahre (ebd. a. 785).
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§ 82. Gegenüber den Edlen befand sich die breite Masse der Bauern, die ihre Höfe selbst bewirtschafteten und von der bäuerlichen Arbeit kaum abkömmlich waren, in einer Rechtslage geringerer Freiheit, für die sich uns kein Fachausdruck anbietet, zumal sich innerhalb ihrer wiederum eine Zweiteilung des Ranges ausgebildet hat, die gewiß ebenso alt ist wie der Unterschied, der diese nichtadligen Freien von den Edlen trennte. Vielfach spricht man von Minderfreien; Philipp Heck (1931 S. 2, 81 f.) wählte das Fremdwort Libertinen und unterschied deren höhere und niedere, während Karl Bosl (1965 S. 464, 1970 S. 723 f.) sich der Ausdrücke „unfreie Freiheit“ und „freie Unfreiheit“ bedient, um dem Stande dieser Leute zwischen völlig rechts- und besitzloser Knechtschaft und adliger Freiheit einen Namen zu geben. Ich neige im Hinblick auf spätere Entwicklungen (unten: §§ 148 ff.) dazu, von Neufreien zu sprechen im Gegensatz zu den altfreien, seit unvordenklichen Zeiten freien Adelsgeschlechtern. Von ihnen, den Edelfreien (nobiles), unterscheidet die Vita Lebuini die bessergestellten Neufreien als Freie (liberi). In denjenigen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts, die die Anwesenheit ebenfalls altfreier Franken im Lande anerkennen oder voraussetzen und diesen die Standesbezeichnung Freie (liberi) vorbehalten, heißen die sächsischen Neufreien Frilinge (ingenuiles, ingenui, liberti). Der Mönch Widukind von Corvey berichtet um 960 in seiner Sachsengeschichte, in alter Zeit hätten die Sachsen das den Thüringern entrissene Land auf Grund ihres Freundschaftsbündnisses mit den Franken (societate Francorum atque amicitia usi) in Frieden besessen; was die vorgefundenen Bewohner des Landes anlangte, so hätten sie mit den ihnen freundlich Gesonnenen, die ihnen Hilfe geleistet und die sie darum freigelassen (cum amicis auxiliariis vel manumissis), die Äcker geteilt, die übrigen aber tributpflichtig gemacht (Widukind I 14). Die Freiheit der Frilinge unterschied sich also dadurch von der der Sachsen – wie auch bei den Franken üblich (Ph. Heck 1931 S. 85), bezeichnete der Stammesname hier allein die Edelinge –, daß sie abgeleitet war, auf Zulassung seitens der Genossenschaft der Edlen beruhte, im Gegensatz zu deren autogener, seit jeher vorhanden gewesener Freiheit. Auch bei der Freilassung bzw. Zulassung der Helfer zur Freiheit dürfte es sich um eine verbandsrechtliche Maßnahme gehandelt haben. Es hatte also nicht jeder einzelne Friling einen persönlichen Patron, dem er privat und persönlich seine Freilassung verdankt hätte, sondern der Stand der Edelinge insgesamt, und er als Worthalter des siegreichen sächsischen Volkes, verbürgte den Frilingen öffentlich eine verfassungsmäßige Freiheit, die dem Einzelnen als Standesqualität ebenso von Geburt aus zukam, wie den Edelingen ihre adlige Freiheit. Nur so ist es zu erklären, daß Widukind die Frilinge als Freunde oder Getreue (Ph. Heck 1931 S. 189 Anm. 2; H. Götz, Wb. 1999 S. 37 f.) der Sachsen bezeichnen konnte und daß Sprecher des neufreien Standes zum sächsischen Allthing in Marklo zugelassen waren. § 83. Es führt also in die Irre, wenn man annimmt (Ph. Heck 1931 S. 184; A. Hagemann 1959 S. 143), alle Frilinge seien private Mundlinge, nämlich ehemalige
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Knechte gewesen, die nach gemeinem germanischen Rechte von einem Herrn persönlich und in privater Form freigelassen worden waren und daher samt ihren Nachkommen unter der Schutzgewalt (mundium, patrocinium, tutela) des Freilassenden verblieben, denn diese Schutzherrschaft muß jedem Neufreien den Zugang zu den Gauverbänden der Frilinge und Laten verwehrt haben, die eigene Worthalter nach Marklo entsandten. Gewiß freilich gab es auch unter den Sachsen solche privaten Freilassungen, bei denen die Form darüber entschied, ob der Knecht Late oder Friling, und im letzteren Falle, ob er Mundling des Herrn oder mundfreier Mann werden sollte (Ph. Heck 1931 S. 181), so wie es umgekehrt auch mundfreie geborene Libertinen gab, die sich erst durch Autotradition unter die Gewalt oder den Schutz eines Herrn begaben, aber das waren doch zunächst einmal Einzelfälle, und wir haben keine Möglichkeit abzuschätzen, wie hoch der Anteil dieser Mundlinge an der Gesamtzahl der sächsischen Frilinge war, und keinen Grund zu der Annahme, die letzteren seien in der Regel private Mundlinge gewesen. Damit entfällt auch die Annahme, nur die Edlen hätten freies Grundeigentum besessen. Wenn das um 802 aufgezeichnete sächsische Volksrecht von dem liber homo qui sub tutela nobilis cuiuslibet erat sagt, er dürfe sein Erbgut (hereditatem) im Notfalle zwar an den ihm Nächstverwandten, sonst aber nur an den Schutzherrn (tutori) oder mit dessen Zustimmung veräußern (Lex Saxonum c. 64), so kann das Wort Erbe an dieser Stelle schwerlich ein minderfreies Eigentum der Frilinge im Gegensatz zum vollfreien Eigentum des Edelings bezeichnen, denn an anderer Stelle, wo das Gesetz von Traditionen an Kirchen oder den König spricht, wie sie doch in erster Linie Edelinge vorzunehmen pflegten, benutzt es dasselbe Wort: Nulli liceat traditionen hereditatis suae facere praeter ad ecclesiam vel regi, ut heredem suum exheredem faciat (ebd. c. 62; G. Waitz Bd. 4, 1885, S. 337). Die mundfreien Frilinge erfreuten sich also desselben, vom sächsischen Volke insgesamt und dessen Volksrecht geschützten freien Grundeigentums wie die Edlen, und damit hatten sie auch die gleichen öffentlichen Lasten zu tragen wie jene, nämlich Ding- und Wehrpflicht innerhalb ihres Gaus und des gesamten Stammes. Nur unter der Voraussetzung, daß die Frilinge in der Regel mundfrei (weil vom ganzen Stamme freigelassen) waren, ist es zu verstehen, daß sie gleich den Edlen als Stände ihrer Gaue die Stammesversammlung besandten. Wären sie in der Mehrzahl oder gar insgesamt private Mundlinge gewesen, so hätten ihre adligen Mundherren sie zweifellos mediatisiert und aller öffentlichen Rechte und Pflichten überhoben. Herrschaft über Freie kann daher kein Kennzeichen der Rechtsstellung eines sächsischen Edelings gewesen sein. § 84. Was die Liten (lati, lazzi, servi, serviles) anlangt, nach Widukinds Interpretation jene eingeborenen Landeskinder, die im 6. Jahrhundert der alten thüringischen Herrenschicht die Treue gehalten hatten und deswegen von den siegreichen Sachsen steuerpflichtig gemacht worden waren, so müssen wir ebenfalls annehmen, daß ihnen diese Tributpflicht nicht jeweils einzeln und privat von einzelnen
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sächsischen Edlen, sondern als Standespflicht und öffentlich von allen Sachsen gemeinlich auferlegt worden war. Das tributum wäre dann als öffentliche, und zwar eher als Kopf- denn als auf den Gütern der Laten ruhende (Grund-)Steuer zu deuten. Wiederum werden wir zu der Annahme verführt, daß der sächsische Stammesstaat über öffentliche Einnahmen verfügt habe, deren Ertrag zur Amtsausstattung der Satrapen gehört und dann auf Burgen- und Brückenbau verwandt worden sein mag oder auch darauf, die seit 531 den Franken alljährlich geschuldeten fünfhundert Rinder aufzubringen. Aus den Überschüssen mag jenes im Heiligtum der Irminsul verwahrte Gold und Silber zusammengekommen sein, das König Karl in die Hände fiel, als er zum ersten Male die Eresburg eroberte (Ann. regni Franc. a. 772). Wiederum hätten wir also die öffentliche, standesrechtliche Dienstbarkeit (servitus, servitium) der sächsischen Laten von den privaten Diensten zu unterscheiden, die einzelne Bauern derart an bestimmte Edelherren banden, daß sie später, unter fränkischer Herrschaft, als an fremde Scholle gebundene Halbfreie oder Leibeigene eines Grundbesitzers (A. Hagemann 1959 S. 150 – 152) behandelt werden konnten. Daß und wie eine solche private Abhängigkeit mit der öffentlichen Freiheit der (älteren) Liten, welche uns die Vita Lebuini bezeugt, vereinbar war, läßt sich besonders gut dem Rechte der den Sachsen benachbarten Friesen entnehmen, das ebensowenig vom römischen Vulgarrecht beeinflußt war wie das sächsische und gleich diesem um 802 schriftlich niedergelegt worden ist: „Wenn sich ein freier Mann (liber homo) aus freiem Willen, sei es auch notgedrungen, einem Edeling (nobili) oder Freien (libero) oder auch einem Liten (lito) in den persönlich zu leistenden Dienst eines Liten (in personam et in servitium liti) ergeben hat, später aber abstreiten will, dies getan zu haben, so soll es ihm der, welcher ihn sichtbar als Liten innehat (qui eum pro lito habere visus est),“ freistellen, sich mit Eideshelfern freizuschwören; wolle er dann schwören und gelinge es ihm, den Eid auszuführen, so werde er von aller Dienstbarkeit befreit (servitute liberetur); wolle er nicht schwören, so möge sein offensichtlicher Besitzer (qui eum possidere videbatur) schwören „und ihn dann innehaben wie seine anderen Liten (habeat illum sicut caeteros litos suos)“ (Lex Frisionum XI. 1). Aus der zweimaligen Verwendung des Passivs visus est bzw. videbatur geht hervor, daß die Verhandlung zwischen Berechtigtem und Verpflichtetem in der Öffentlichkeit, also in der Volksversammlung, stattfand. In derselben Öffentlichkeit hatte zweifellos der Herr zu klagen, wenn er einem Liten, der seine Person mit eigenem Gelde von ihm losgekauft (semet ipsum propria pecunia a domino suo redemerit) und hernach ein oder mehrere Jahre in Freiheit (in libertate) gelebt hatte, abermals als seinen Dienstmann verleumden wollte. In diesem Falle hatte sich zuerst der Herr an dem Eide zu versuchen (ebd. XI. 2). § 85. Diese Bestimmungen zeigen, daß die vertraglich eingegangene und ebenso revidierbare private Dienstbarkeit des Liten verfassungsrechtlich neutral und nicht imstande war, zwischen den beiden nichtadligen Ständen des friesischen Volkes eine scharfe Rechtsgrenze zu ziehen. Auch der friesische Lite stand zu seinem Vol-
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ke in einem anderen, öffentlichen Verhältnis als zu seinem privaten Herrn (H. Siems 1980 S. 294 – 296): Das Volk behandelte ihn derart als vermögens-, prozeßund fehdefähig, daß er selber Liten besitzen und sein Recht in der Dingversammlung verfechten konnte; der Herr dagegen bevormundete ihn gegenüber dem Täter, wenn er, der Lite, selbst Opfer eines Verbrechens wurde oder wenn sich seine Tochter verheiraten wollte. Von Pflichten des Herrn gegenüber dem Liten, etwa einem Schutz vor Übergriffen Dritter, ist keine Rede; nach außen hin stellte das friesische Gesetz den Liten auf sich selbst und versah ihn mit den entsprechenden Befugnissen. Der Gegensatz zwischen privater Abhängigkeit und verfassungsmäßiger Selbständigkeit war also den Friesen ebenso vertraut wie den Sachsen: Beide Stammesverfassungen behandelten den Liten als Freien. Wurde ein Lite in privater Form freigelassen, so gewann er den Stand des Frilings und blieb als solcher privater Mundling seines Herrn, wenn dieser ihm nicht auch durch weitere Freilassung die Mundfreiheit gewährte; was sein Verhältnis zu seinem Volke anlangte, so änderte sich dadurch weiter nichts, als daß er in der Gauversammlung seine Worthalter nicht mehr zusammen mit den anderen Liten, sondern gemeinsam mit den Frilingen ermächtigte. Neue öffentliche Rechte oder Pflichten wuchsen ihm dadurch nicht zu. Auch ein besseres Grundbesitzrecht, als er zuvor besaß, wird ihm das Volk nicht beigelegt haben; es war hereditas, Erbe, wie das der Edlen, wenn auch gegebenenfalls durch Mitspracherechte des Mundherrn beschränkt. Sehr weit können diese freilich nicht gereicht haben, solange sich die den Franken seit je vertraute Grundherrschaft nicht im Lande verbreitete und folglich kein privater Schutz- oder Mundherr den Versuch unternahm, die Dienstbarkeit des Liten (und Mundlings) zur Fronarbeit auszubauen und seine Mitspracherechte an dessen Erbe und bei Verheiratung der Kinder für Eingriffe in die Betriebsführung der abhängigen Leute auszunutzen. Grundherren nach fränkischer Art aber waren die sächsischen Edelinge nicht, mochte auch mancher von ihnen mehr als eine Bauernwirtschaft und unfreie, rechtlose Knechte (mancipia, servi) besitzen. § 86. Der politischen Gleichberechtigung aller Stände und ihres Grundbesitzes bedienten sich auch König Karl und die Franken, als sie 776 und 777 die Ergebung der Sachsen derart entgegennahmen, daß die Volksmenge nach sächsischem Brauche (secundum morem illorum) für den Fall eines künftigen Treubruchs ihr Heimatrecht verwettete, d. h. sich im voraus der Vergeiselung und Verschleppung durch die Franken unterwarf: Ibique multitudo Saxonum . . . secundum morem illorum omnem ingenuitatem et alodem manibus dulgtum fecerunt (Ann. regni Franc. a. 777. G. Waitz Bd. 3, 1883, S. 128, 305 – 307): Der fränkische Annalist bezeichnete die ständische Freiheit aller Sachsen, auch der Edelinge (nobiles), mit dem fränkischen Rechtswort für den Stand der nichtadligen Freien (Ph. Heck 1931 S. 85 – 87) und das Grundeigentum aller sächsischen Stände, auch der Frilinge und Liten, als Allod, d. h. Vollgut, volleigenen, ausschließlich der gesetzlichen Erbfolge unterliegenden Grundbesitz. Drei Jahre später wiederholte der Lorscher Annalist diese fränkische Gleichsetzung aller Sachsen mit den Freigeborenen und Liten:
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et Saxones omnes tradiderunt se illi, et omnium accepit obsides, tam ingenuos quam et lidos (Ann. Lauresh. a. 780). In völliger Gleichheit hatten sich auch tam nobiles quam ingenui similiter et liti an der Ausstattung der Pfarrkirchen zu beteiligen und diesen den Zehnten zu entrichten (MGH. Capit. 1, 68 n. 26 cc. 15, 17). Wie geringfügig und weit verstreut noch hundert Jahre später der Grundbesitz war, über den der sächsische Adel namentlich in der Mitte und im Norden des Landes gebot, zeigen die Schenkungen, die er dem Kloster Fulda zuwandte. und die dürftigen Ausstattungen, mit denen sich die von sächsischen Großen errichteten Klöster begnügen mußten (M. Last 1977 S. 632 – 637). § 87. Erfreulicherweise sagt die ältere Lebuinsvita auch etwas über die Formen der Willensbildung aus, die sich auf dem altsächsischen Allthing zu Marklo vollzog. Wenn es heißt, dort pflegten die Satrapen aller Gaue in unum convenire, so ist damit wohl weniger der doch sehr abstrakten Vorstellung Ausdruck verliehen, daß sie dort die Verbandseinheit des Stammes sichtbarlich herstellten (das drückten die Worte in unum conglobati deutlicher aus), sondern es war eher gemeint, was jeder Anwesende sinnlich wahrnehmen konnte, daß sie nämlich dort ihre verschiedenen Meinungen zu einem einzigen und gemeinen Willen übereinstrugen (oben: § 30). Drei Dinge waren regelmäßiger Gegenstand ihrer Beschlüsse. Erstens renovabant ibi leges. Wenn wir hinzuziehen, was wir aus Island über die mündliche Überlieferung von Rechtssätzen erfahren und dazu für Friesland aus späteren Nachrichten erschließen können, daß sich nämlich die Ding- und Friedensgemeinden ihr Recht durch regelmäßig wiederholten öffentlichen Vortrag im Gedächtnis lebendig erhalten ließen und bei der Gelegenheit auch zur Kenntnis nahmen, was die Rechtskundigen an Änderungen und Neuerungen für notwendig hielten, so können diese Worte „kaum etwas anderes sein, als eine durchaus adäquate Bezeichnung für den Gesetzesvortrag“ und jene Erneuerung einzelner Rechtssätze, welche die Gemeinde beschloß, indem sie den Vortrag stillschweigend anhörte (Ph. Heck 1931 S. 38). Dahinter verbirgt sich demnach das Prinzip der Einhelligkeit, das uns als Norm des deutschen Verfahrensrechts bereits bekannt ist (oben: §§ 26, 27). Zweitens richteten sie wichtige Rechtsstreitigkeiten (praecipuas causas adiudicabant), wie deren eine der Konflikt gewesen sein mag, der sich zwischen den Todfeinden der beiden Ewalde und dem Satrapen, der diesen seinen Schutz gewährte, erhoben haben muß. Und drittens beschlossen sie mit gemeinem Rate (communi consilio statuebant) die Richtlinien der Stammespolitik für das laufende Jahr; dazu mögen auch Entscheidungen über das Steueraufkommen des Stammes und dessen Verwendung gehört haben, stets aber wohl ein Beschluß über den Termin der nächsten Versammlung. Denn der Bericht über Lebuins Missionsreise fährt fort (Vita Lebuini antiqua c. 6): Igitur advenerat dies statuti consilii, advenerunt satrapae, assunt et alii, quos adesse oportebat. Tunc in unum conglobati fecerunt iuxta ritum in primis supplicationem ad deos, postulantes tuitionem deorum patriae suae, et ut possent in ipso conventu statuere sibi utilia et quae forent placita omnibus deis. Deinde disposito grandi orbe concionari coeperunt. Ecce autem subito beatus Lebuinus in medio orbe stetit, clericali habitu indutus, crucem in mani-
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bus, ut ferunt, et evangelium portans, elevata voce ,Audite‘, ait, ,audite‘ . . . Conticuerunt obstupescentes ad verba et ad insolitam formam viri . . . Tum vero isti confusi, alii . . . indignati, omnes iniquum factum condempnabant. Praecipue concionator quidam Buto nomine condescens truncum arboris sic clamabat omnibus: . . . Commoti . . . statuerunt, ut nemo Dei nuncium illum laederet, si ulterius appareret, sed cum pace dimitteretur, quocumque vellet ire. Quo facto inter se agebant, quod coeperant. § 88. Das Allthing begann also mit einer religiösen Feier, da die Sachsen ebensowenig wie alle anderen Germanen weltliche und religiöse Geschäfte voneinander trennten; alle ihre Dingstätten waren zugleich Heiligtümer unter freiem Himmel (K. Bemmann 1992 S. 106 – 108). Da Lebuin unter den vornehmsten Sachsen Vertraute besaß, wird ihm bekannt gewesen sein, daß die Gesamtheit des Stammes nur dann für das Christentum zu gewinnen sei, wenn die Ältesten und Worthalter der Gaugemeinden der Versammlung zu Marklo einen entsprechenden Beschluß vorschlugen. Diese Versammlung pflegte sich, da keine hoheitliche oder königliche Gewalt sie einhegen und eröffnen konnte, zu konstituieren, indem die Ältesten und die Sechsunddreißig, die jene geleiteten, in geschlossener Aufstellung (in unum conglobati) vor die Landesgötter traten, um im feierlichen Gebet den Schutz der Naturgewalten und die Kraft zu solchen Beschlüssen zu erflehen, die ihnen selbst von Nutzen und sämtlichen Göttern wohlgefällig wären. Man war sich durchaus dessen bewußt, daß die Willensbildung im Wege der Identifikation aller Einzelwillen ein schwieriges Geschäft (oben: § 28) und die zur Beschlußfassung erforderliche Einhelligkeit oft nur in heiliger, rauschhafter Emotion zu erreichen war, die den Minderheiten die Kraft einflößte, ihre Sonderinteressen dem Gemeinwohl aufzuopfern und ihre Folgepflicht gegenüber der Mehrheit (oben: § 26) zu erfüllen. Nach dem Gebet öffnete sich der Block der Versammelten zum Kreise, und die Beratungen begannen. Es steht zu vermuten, daß die Genossenschaft der Ältesten oder Satrapen die umstehenden Krieger sowohl bei der Aufstellung wie beim Gebete anleitete und hernach, in der Mitte des Kreises stehend oder sitzend, den Einzelnen das Rederecht gewährte, daß in der Regel, jedoch nicht ausschließlich, Satrapen die Redner gewesen sein werden und daß die Verhandlungen immer wieder unterbrochen werden mußten, damit diese von ihrem Referenzrecht (oben: §§ 22, 78) Gebrauch machen und schwierige Gegenstände an die Sechsunddreißig ihres Gaues zurückbringen konnten, um sich so ihre Vollmächtigkeit zu bewahren. Die Meinung und der Wille der Umstehenden war also keineswegs unwichtig, sondern der eigentliche Rechtsgrund aller Beschlüsse: Übereinstragen konnten die Satrapen den Willen aller nur dann, wenn sich zuvor ein jeder des Konsenses seiner Sechsunddreißiger vergewissert hatte, und schon gar nicht konnten sie diesen das Recht der Rede und spontanen Äußerung ihres Willens versagen. Denn alle gerieten in Verwirrung und verurteilten es als unrechte Tat (iniquum factum condempnabant), als Lebuin plötzlich in priesterlichem Gewande und bewehrt mit Kreuz und Evangelienbuch in die Mitte des Kreises trat und das Wort an
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sich riß, um den Sachsen den Verlust ihrer königslosen Verfassung und die Unterwerfung unter den mächtigen fränkischen Herrscher vorauszusagen, wenn sie sich nicht zu dem Christengotte bekehrten, der allein sie vor dieser Katastrophe bewahren könne. Schon wollten sich die Sachsen in spontaner Willensbildung auf ihn werfen, um den Bruch der von den Stammesgottheiten verbürgten Ordnung mit der Tötung des Täters zu sühnen – da gelang es doch noch den Vernünftigen (sapientiores), die Ruhe wiederherzustellen, und ein Redner namens Buto, den der Text weder als Satrapen noch als Edeling kennzeichnet, vermochte unter Berufung auf den Thingfrieden, den fremde Gesandte bei allen Völkern genossen, die Versammlung wieder zu ordnen und zu dem Entschluß zu bewegen, „daß niemand jenen Gesandten Gottes . . . verletzen sollte, sondern daß er in Frieden zu entlassen wäre, wohin immer er gehen wollte.“ Alsdann nahm man die begonnenen Beratungen wieder auf, ohne auf Lebuins Ansinnen weiter einzugehen. Die Versammlung zu Marklo war also, wie man treffend gesagt hat, keine Zusammenkunft adliger, von lediglich akklamierenden Gefolgschaften begleiteter Magnaten (E. Freise 1983 S. 282), sondern eine Versammlung freier, gleichberechtigter Männer, deren Älteste und Worthalter ihre Vollmacht von dem identischen Willen der Versammelten herleiteten und ihre persönliche Autorität nicht aus ererbter Herrschaft, sondern aus der Weisheit der Ratschläge herleiteten, mit der sie den Willen der Gemeinschaft zu identischer Einheit aller Einzelwillen hinzulenken verstanden. Kein Zweifel: die Willensbildung zu Marklo folgte den oben dargelegten Regeln des Identitätssystems. Gleich dem isländischen war der altsächsische Staat Gemeindestaat, und deutlicher ausgeprägt als jener ein föderativer Gemeindestaat. Herrschaftliche Beziehungen zwischen Gebietenden und Gehorchenden waren beiden in gleichem Maße fremd. § 89. Es ist eine müßige Frage, ob sich der sächsische Gemeindestaat hätte gegenüber den Franken behaupten können, wenn er von sich aus zum Aufbau von Herrschaftsbeziehungen fortgeschritten wäre, wie sie der Verfassung der Franken zugrundelagen, sozialen und politischen Beziehungen nämlich, die die Gleichberechtigung der Handelnden einschränkten. Nirgendwo in der germanischen Welt war bis dahin dieser Übergang, der gleichzeitig die Errichtung eines Königtums mit sich gebracht hatte, aus jenen Gründen der inneren Friedenswahrung in Gang gesetzt worden, die den Gemeindestaat geschaffen hatten; von sich aus drängten diese nicht dazu, ihre föderative Ordnung zur herrschaftlichen zu steigern. Die germanischen Königreiche, unter ihnen das der Franken, waren vielmehr im Kampfe mit dem Römischen Reiche und aus der Eroberung römischer Provinzen entstanden und hatten dabei mancherlei Traditionen des anstaltlich verfaßten Kaiserreichs aufgenommen, dies nicht zuletzt unter dem Einfluß der ebenfalls anstaltlich geordneten katholischen Kirche, die den Königen eine höhere, vom Willen des Volkes unabhängige Legitimation ihres Kriegsglücks und ihrer Herrschaft liefern zu können schien. Zunächst unter Führung des merowingischen Königshauses vom romanischen Boden Galliens aus, dann aber unter dem Regiment der im germanischen Lande an Maas und Rhein beheimateten Karolinger
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haben die Franken zum ersten Male die Völker des späteren Ostfränkischen und schließlich Deutschen Reiches in einem gemeinsamen politischen Verbande unter königlicher Führung vereinigt. Aber wenn auch bezweifelt werden muß, daß sie diese politische Leistung ohne die Verwertung römischer und kirchlicher Verwaltungstraditionen hätten vollbringen können, so waren ihre Könige doch niemals stark genug, um die von den verschiedenen germanischen Heeren und Stämmen, die jetzt in dem Großreiche lebten, bereits vorher erschaffenen friedewahrenden Gerichtsgemeinden in vollkommene Staatsanstalten umzuwandeln und sie restlos unter die königliche Gebotsgewalt zu beugen. Die Machtverteilung innerhalb des Reiches und somit dessen verfassungsmäßiger Aufbau blieb daher zweistufig: Dem hoheitlichen oder königlichen, auf Waffengewalt gegründeten Verbande der Befehlenden standen überall landschaftliche oder lokale Gemeinschaften gegenüber, die innerhalb des umfassenden Reichsfriedens Sonderfriedensbezirke, innerhalb des allgemeinen königlichen Untertanenverbandes Partikularverbände bildeten und dem Königtum mit einem eigenen politischen Willen gegenübertraten. Jeder Versuch, diese Sonderwillen zu vernichten, hätte das Königtum und seine nicht sonderlich hoch entwickelte Verwaltungsmacht in tödliche Gefahr gebracht. Der hoheitliche Verband des Fränkischen Reiches war wesentlich und vom Ursprunge her zugleich Untertanenverband, und auch als solchen muß ihn die Verfassungsgeschichte zu verstehen und zu beschreiben versuchen (unten: Neunzehntes Kapitel). Es ist daher nötig, bevor wir uns der Erscheinung des Staates zuwenden, die niederen Personenverbände zu beschreiben, aus denen sich der Untertanenverband zusammensetzte, nämlich die Haus- und Geschlechtergemeinschaften, die Siedlungs- und Fahrerverbände und die Ding- und Gerichtsgenossenchaften, welche die kleinsten Einheiten jenes Großverbandes ausmachten, als der sich uns das Fränkische und später das Deutsche Reich darstellt.
Viertes Kapitel
Partikularverbände I: Hausgemeinschaft §§ 90 – 93a. Verfassung des Hauses § 90. Nicht einzelne Menschen waren es, die handelnd und leidend die ältere Geschichte bewegten, sondern Verbände oder Gemeinschaften, denen sie sich einordnen mußten, um den natürlichen und sozialen Risiken des Lebens standhalten zu können. Nur mit Rückhalt an seinesgleichen konnte der Einzelne die unausweichlichen Existenzrisiken von Krankheit und Altersschwäche, Mißernte und Viehseuche, Feuersbrunst und Kriegsnot bewältigen, und nur der Schutz eines Verbandes gewährte ihm die Rechtshilfe, ohne die er der Eigenmacht selbstherrlicher und überlegener Feinde aus seiner engeren Umgebung oder aus fernen Landen nicht zu widerstehen, seine politische Freiheit und wirtschaftliche Selbständigkeit nicht zu behaupten vermochte. Wer keinem Verbande angehörte, der war in den archaischen Agrargesellschaften des ältesten Altertums und des frühen Mittelalters schutzloser, vogelfreier, übel beleumdeter und gefürchteter Außenseiter. Den ersten und unabhängig von aller freien politischen Verbandsbildung gebotenen Schutz vor diesem schrecklichen Lose gewährte dem Einzelnen die Hausgemeinschaft. Das germanische Haus mit seiner Herdstelle und den Nebengebäuden in dem umzäunten Hofraume war der Mittelpunkt eines bäuerlich-gewerblichen Wirtschaftsbetriebes, der zwar die Mitarbeit aller Bewohner erforderte, aber auch für deren sämtliche Bedürfnisse aufkam. Die von dem Hause umschlossenen Menschen bildeten eine Haus- und Erwerbsgemeinschaft, die selbst wieder als Haus bezeichnet werden konnte (G. Köbler in LMA 4 Sp. 1964 f.). Ihren Kern bildete die Kleinfamilie, bestehend aus dem Ehepaare des Hausherrn oder Hausvaters und der Hausfrau und deren Kindern. Die Hausverfassung wurde daher wesentlich vom Ehe- und Familienrecht (H. Mitteis / H. Lieberich 1978 S. 52 – 62) bestimmt. An sich war sie herrschaftlich geordnet, denn alle Hausgenossen standen unter der vormundschaftlichen, auch Züchtigungs- und Strafbefugnisse einschließenden Gewalt (munt, manus) des Hausvaters, doch wurde diese Gewalt beschränkt durch Rücksichten auf die Blutsverwandten oder Sippen der Ehegatten, die an der Eheschließung mitwirkten, da der künftige Hausvater als Brautwerber vom Muntwalt der Braut erst die Munt über diese hatte erwerben müssen. Zu diesem Zwecke pflegten die beiderseitigen Sippen einen Vertrag zu schließen, denn jeder Muntwalt war zwar frei in der Ausübung seiner Gewalt über die
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Muntlinge, aber über die Munt selbst konnte er nur gemeinsam mit seiner Sippe verfügen. Als Entgelt für die Munt entrichtete der Brautwerber namens seiner Sippe den Muntschatz an die Sippe der Braut; hatten sich dann die Brautleute im Ringe der Verwandten ihr Jawort gegeben und damit bezeugt, daß sie hinsichtlich ihrer Ehe eines Willens waren, so begab sich die Braut in das Haus des Freiers und ergab sich damit in dessen Munt, doch wachte ihre Sippe fortan darüber, daß der Hausvater sie als rechte Ehefrau behandelte und seine Gewalt über sie nicht mißbrauchte. Die Ehefrau wechselte also ihre Sippe nicht, sondern blieb Schutzgenossin ihrer leiblichen Verwandten. Die Eheschließung endete mit dem Vollzug der Ehe in Gestalt des vor Zeugen, aber meist nur symbolisch gehaltenen Beilagers und damit, daß der Mann als Zeichen des Vollzugs seiner Frau die Morgengabe überreichte. Es herrschte also Heiratszwang insofern, als sich junge Leute der Auswahl ihrer Ehegatten durch die Verwandten zu fügen hatten, aber ohne ihren Konsens kam die Ehe nicht zustande, und wurde er verweigert, so mußten die Sippen das Muntgeschäft rückgängig machen. Ob die Muntwalte dann ihr häusliches Züchtigungsrecht ausüben wollten, war ihre Sache, doch schon die Möglichkeit, es zu tun, gewährte ihnen und den Sippen eine zwingende Gewalt. Im Verlaufe des Mittelalters drang unter dem Einfluß der christlichen Ethik der Konsensgedanke in das Muntgeschäft ein. Die Braut selbst wurde nun Partei bei der Verlobung und empfing den Muntschatz, der sich zum Wittum, einem zur Witwenversorgung bestimmten Sondervermögen, ausgestaltete. Wurde die Ehefrau auch nach außen hin als unmündig behandelt und in allen Rechtsbeziehungen vom Ehemann vertreten, so faßte man das innere Verhältnis zwischen den Ehegatten doch eher als Genossenschaft auf. Als Leiterin des gemeinsamen Hauswesens besaß die Ehefrau die Schlüsselgewalt, kraft deren sie auch nach außen hin, soweit die Hauswirtschaft es erforderte, Rechtsgeschäfte eingehen und sowohl sich selbst als auch den Ehemann verpflichten konnte. § 91. Die väterliche Gewalt über die Kinder dauerte nach germanischem Recht nicht grundsätzlich bis zum Tode des Vaters; vielmehr schieden die Söhne mit der Begründung eines eigenen Hausstandes und die Töchter mit der Heirat aus der Vatermunt aus. Sie hatten alsdann Anspruch auf eine erbrechtliche Abfindung in Gestalt einer Abschichtung des Sohnes und einer Aussteuer für die Tochter. Die abgeschichteten Söhne wurden selbständig und mußten sich nach einer neuen Lebensgrundlage umsehen. An der Aussteuer erhielt der Ehemann der Tochter ebenso wie an der Morgengabe und an dem Muntschatz, seit dieser der Frau selbst als Wittum zufiel, ein seiner Munt entsprechendes Herrschaftsrecht (Gewere). Bei Auflösung einer kinderlosen Ehe fiel dieses Frauengut an die Sippe der Ehefrau zurück; der älteste eheliche Güterstand war also die Gütertrennung mit Mannesgewere am Frauengute. Waren aus der Ehe Kinder hervorgegangen, so besaßen diese eine Anwartschaft auf alle Güter ihrer Eltern. Die überlebende Mutter erhielt in der Regel nur das Recht, das Frauengut bis zu ihrem Tode zu besitzen und zu nutzen.
4. Kap.: Partikularverbände I: Hausgemeinschaft
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Grundsätzlich bildete die Hausgemeinschaft eine in der Abfolge der Generationen unsterbliche Personenvielheit, der jeder Hausvater nur für einen begrenzten Zeitraum vorstand; das Problem einer erbrechtlichen Nachfolge war dem Hause daher ursprünglich fremd (K. Kroeschell in LMA 3 Sp. 2105 – 2107; ebenso nach altgriechischem Rechte: E. Schönbauer 1952 / 1968 S. 417, 425). So kannten die Volksrechte der fränkischen Zeit eine Vermögensgemeinschaft des Hauses, in der weder der Vater noch die Söhne ausgeschiedene Anteile besaßen, so daß niemand seinen Besitz als Individualbesitz betrachten und ihn aus eigenem, persönlichem Willen vererben oder veräußern konnte. Die Verfügungen des Hausherrn über das gemeinsame Vermögen waren beschränkt durch die Rücksicht auf Söhne und Erben, die schon zu seinen Lebzeiten Miteigentümer waren und durch seinen Tod vollends zu gesamter Hand in seine Rechte eintraten. Oft dauerte die Vermögensund Erwerbsgemeinschaft unter den Söhnen nach dem Tode des Vaters noch Jahrzehnte lang fort, da der väterliche Vermögensanteil ohne weiteres den Überlebenden zuwuchs. Auch Töchter gehörten dieser Vermögensgemeinschaft an, doch wurde ihre Mitberechtigung durch die Verfügungsgewalt des Haushaltsvorstehers überdeckt und trat erst dann sichtbar hervor, wenn die Töchter allein zurückblieben. Die Nachfolge der Kinder in das Erbe der Eltern war etwas so Unzweifelhaftes, ihre Zugehörigkeit noch zum Leibe des Erblassers etwas so Augenfälliges, daß ihnen das Erbe notwendig und von selbst in den Schoß fiel. Ihre Erbqualität war von so besonderer Art, daß das alte Recht sie gar nicht in die Erbfolgeordnung aufnahm, sondern einfach den gesetzlichen Erben gegenüberstellte, die nur dann zum Zuge kamen, wenn keine Erben im eigentlichen Sinne, keine Leibeserben vorhanden waren (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 2 S. 573). § 92. Diese bevorzugte Erbqualität der Kinder war so übermächtig, „daß ursprünglich Enkel und weitere Abkömmlinge des Erblassers, solange noch Kinder desselben vorhanden waren, durch diese völlig ausgeschlossen waren, keines Repräsentationsrechtes genossen, kraft dessen sie an die Stelle ihres vorverstorbenen Elternteils neben ihren Oheimen und Tanten eingetreten wären. Ein solches Repräsentationsrecht hat sich sehr mühsam Bahn gebrochen“ (ebd. S. 581. A. Erler in HRG 1 Sp. 908 – 910) und sich erst spät in der Neuzeit allgemein durchgesetzt. „Unsere heutigen Anschauungen reichen da nicht aus. Das alte Recht steht in dieser Frage einem Denken und Empfinden, wie es uns die Edda überliefert, weit näher: Sigurd weiß, daß ihn die Brüder seiner Gemahlin ermordet haben, und doch tröstet er, der todwunde, seine Gudrun mit den Worten: dir leben die Brüder! Und Gudrun rächt diese ihre von Atli erschlagenen Brüder dadurch, daß sie dem König, ihrem Gemahl, die Knaben, die sie selber ihm geboren hat, schlachtet und zum Mahle vorsetzt, bevor sie ihn selbst erschlägt. Diese höchste, alle anderen Gefühle des Herzens unterdrückende Heiligkeit des Geschwisterbandes ist schon der ersten historischen Zeit fremdartig geworden: Eltern und Kinder sind sich nähergetreten, aber Enkel und Urenkel bleiben davon noch unberührt. Zumal das Erbrecht der weiteren Deszendenz kann gerade durch die enge Gemeinderschaft der Geschwister noch zurückgehalten werden; die Familie, der die Hufe gegeben worden, ist
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1. Teil: Die Gemeinden
noch nicht als ins Unbegrenzte sich fortsetzend gedacht, daher auch die unbedingte Vererblichkeit der Hufe noch im 6. Jahrhundert gar nicht anerkannt, vielmehr bei Erlöschen des engen Kreises der Hausgemeinschaft das Heimfallsrecht der Dorfgenossen gewahrt. Bei solchem Zusammenbleiben der Brüder in Gemeinderschaft gelangen Enkel und weitere Deszendenten sehr schwer zu der Anerkennung einer würdigen Stellung im Hause; Kinder sind in einer ungleich günstigeren Lage: der Vater lebt und wächst mit ihnen zusammen in einem Alter, da er selbst noch frisch und geistig beweglich ist; mit den Großkindern, auch wenn sie auf seinem Hofe geboren werden und da aufwachsen, assimiliert er sich nicht mehr: Sie sitzen unten am Tische mit den Knechten und sind nicht viel höher geachtet als diese, und haben sie das Unglück, den Vater vor dem Großvater zu verlieren, so ist ihnen das Aufrücken in die Hausgemeinderschaft verschlossen, der Großvater bleibt in seinem altgewohnten Kreise und in dem eingelebten Verkehre mit den Brüdern und hinterläßt diesen die Hufe. In solchen Zuständen sind die Brüder einander wirklich ,necher gefründ‘ als die Enkel den Großeltern, und die vorhin erwähnte Aufnahme der Enkel in die Gemeinderschaft mag in der ältesten Zeit gar nicht einmal oft vorgekommen sein. Neue sittliche Anschauungen und wirtschaftliche Zustände müssen zuerst die Bahn brechen, bevor das Recht neue Sätze bildet. Aber diese Fragen, welche fast alle Seiten des altdeutschen Kulturlebens berühren, sind noch so wenig untersucht, daß ich dermalen solche Vermutungen kaum weiter zu verfolgen wage“ (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 2 S. 580 f., ,necher gefründ‘: Statuten von Malans in der Schweiz von 1538). § 93. Für die Kleinfamilie, die den Kern des germanischen Hauses bildete, gab es bemerkenswerterweise kein altdeutsches Wort. Erst im 18. Jahrhundert trat das Bedürfnis hervor, sie zu bezeichnen, und da befriedigte man es durch die Eindeutschung des französischen Fremdwortes Familie. Der Mangel dürfte zusammenhängen mit der Einbindung der Ehegatten in verschiedene Sippen und mit der von den Quellen kaum erhellten Entwicklung des Verhältnisses zwischen Sippen und Hausgemeinschaften. Wohl erst in fränkischer Zeit und nicht ohne das Interesse des Königtums an der Konstitution besteuerbarer Wirtschaftseinheiten mag sich die Hausgemeinschaft aus älteren Sippenbindungen herausgelöst und zu jener engsten, für das Wirtschafts- und Rechtsleben maßgeblichen Gemeinschaft entwickelt haben, als die sie im Mittelalter hervortritt. Zu dieser Gemeinschaft erweiterte sich die Kleinfamilie allmählich einerseits um Großeltern und unverheiratete Seitenverwandte, andererseits um adoptierte Hilfskräfte, um Knechte und Mägde als Gesinde. Gewöhnlich war es nicht die auf Blutsverwandtschaft beruhende Kernfamilie, sondern diese erweiterte Wohn- und Erwerbsgemeinschaft, die man mit dem lat. Worte familia meinte (H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 256 f.). Dem entsprach im Ahd. der Plural hîwon oder hîwun, dessen Wurzelwort wie das verwandte griechische Wort oikos das Haus bedeutet haben muß, also die zum Hause gehörigen und noch wirklich unter einem Dache schlafenden Personen bezeichnete (K. Kroeschell 1968 S. 28 f.; R. Schulze in LMA 4 Sp. 264). Ein zweisprachig überliefertes Bruchstück der Lex Salica bestimmt, daß,
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wer einen anderen vor Gericht fordern will, mit Zeugen zu dessen Hause gehen und dort entweder jenen oder die Ehefrau vorladen oder irgendeinem Hausgenossen sagen soll, er möge ihm die Ladung bekanntmachen. Daraus erhalten wir die lat.-ahd. Übersetzungsgleichungen ad domum illius = zi sînemo huuse, uxorem illius = sîna cuenûn und cuicumque de familia = sînero hîwôno etteswelîhemo (W. Braune, Lesebuch 1928 S. 43 f., no. XII Z. 10 – 13). Das zu hîwon gehörige Adjektiv hîwiskes konnte mit lat. domesticus wiedergegeben werden, das seinerseits als Äquivalent für das Substantiv gibûr erscheint (H. Götz, Wb. 1999 S. 211). Dieses gehört zum Verbum bûan = wohnen, ansässig sein, lat. colere (ebd. S. 113) und ist daher der Sache nach zu dem ahd. Worte huoba, as. hôba, zu stellen, das den anderen germanischen Sprachen fehlt und uns zuerst im 8. Jahrhundert am Rhein und in Thüringen entgegentritt (D. Hägermann / A. Hedwig in LMA 5 Sp. 154; H. Kellenbenz / G. Philipp in HRG 2 Sp. 248 f.). Es bezeichnet ein urbar gemachtes Stück Land, aber auch die betriebliche Einheit solchen Landes mit dem Hause oder Hofe des Nutzers, während das lat. Äquivalent mansus im engeren Sinne diese Wohnund Wirtschaftsstätte, im weiteren Sinne aber auch deren Nutzungsrechte am urbaren Lande und am Gemeindelande, der Allmende, bezeichnet. Wenn im Spätmittelalter alle diese Rechtsansprüche einer Hausgemeinschaft und dazu die politischen Rechte des Hausherrn in der Gemeinde an der Hofstätte, area, oberdeutsch Ehofstatt, hingen (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 46; P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 78), so kann diese eindeutige Zuordnung von Rechten zum Berechtigten in fränkischer Zeit noch nicht gegeben gewesen sein, da area im Ahd. nicht nur mit Hof, Tenne, Hofstatt, sondern auch noch mit Breite oder Feld wiedergegeben werden konnte (H. Götz, Wb. 1999 S. 52): Die Differenzierung der sachenrechtlichen Terminologie gehört erst einer späteren Zeit an. Das ahd. Wort hûsginôz, mit dem Notker der Deutsche um die Wende des 10. Jahrhunderts lat. curialis übersetzte (ebd. S. 165), verweist dagegen bereits auf eine besondere Art von Hof, nämlich auf den königlichen oder herrschaftlichen, dem nicht nur wirtschaftliche Nutzungen, sondern auch öffentliche oder hoheitliche Rechte anhingen und der daher an anderer Stelle (unten: §§ 605, 715) zu behandeln ist. Lat. domesticus und curialis bezeichnen daher Hausgenossen recht verschiedener Art. § 93a. Alle zu Haus und Hof gehörigen Personen unterstanden der Munt und dem Schutze des Hausherrn. Das Haus in seinem doppelten Sinne, als Bauwerk und als Personenverband, war daher nicht nur Zentrum und Träger einer autarken, selbst in Notzeiten beständigen Vermögens- und Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch Stätte eines besonderen Friedens, den nach innen und außen hin der Hausvater zu bewahren hatte. In einer von eigenmächtiger Rechtshilfe, von Blutrache und Fehde gepeinigten Gesellschaft war dieser Friede wegen seiner äußeren Gefährdung aber auch von dem Volke, dem jener angehörte, mit verschärften Rechtsfolgen beschützt. Kamen zum Bruch des Hausfriedens noch Mord, Verwundung und Schmähung der Bewohner und die Zerstörung von Sachen hinzu, so erfüllten die Täter den Tatbestand der Heimsuchung (H. Holzhauer in LMA 4 Sp. 2036), zu dem nach den Volksrechten der fränkischen Zeit auch noch die bandenmäßige Be-
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gehung gehörte. Besonders im Stammesrecht der Alamannen stellt sich die Heimsuchung als typische Fehdehandlung dar. So heißt es zunächst von dem Verfolger einer gestohlenen Sache: „Wenn einer im Walde Hütten, sowohl für Schweine wie für Kleinvieh, zerhaut, büße er 12 Schillinge, und wenn er darin in Wut eindringt und nichts von dem Seinigen findet, büße er 6 Schillinge, und wenn er in einen fremden Hof eingedrungen ist, in gleicher Weise; wenn in eine Scheuer hinein, büße er 12 Schillinge.“ Dann aber springt der Text (Leges Alam. c. 21) in nicht eben besonders logischer, assoziativ aber eindeutiger Anknüpfung hinüber zu dem Bluträcher und Verfolger einer berechtigten Fehde: „außer wenn sein Todfeind (humicida) im Hof (in curte) oder in der Behausung (in casa) ist und keiner für diesen Bürgschaft (drictum = directum) bietet; wenn er diesen verfolgend nachläuft, ist hierfür nichts zu fordern.“ Erkannte die Gerichtsgemeinde die Tat als berechtigte Eigenmacht an, so war selbst die Heimsuchung kein Friedensbruch mehr, obwohl sonst der Tatbestand des strafwürdigen Angriffs bereits mit dem bloßen Umzingeln des Hauses und mit einem Pfeilschuß oder bedrohlichen Faustschlag gegen das Hoftor erfüllt war. Somit besaß der Hausvater Befugnisse, die dem römischen Eigentümer nicht zugestanden hatten: Er war berechtigt, äußere Angriffe auf das Haus und das zugehörige liegende Gut mit Gewalt abzuwehren und entwendete Fahrhabe zu verfolgen; gelang es ihm, die gestohlene Sache wieder aufzufinden, so konnte er vom Besitzer die Herausgabe verlangen, indem er sie mit eigener Hand anfaßte (Anefang, K. O. Scherner in LMA 1 Sp. 615; R. Schmidt-Wiegand 1982 S. 368). Daher mußte der Hausherr stets ein erwachsener, wehrfähiger Mann sein, der Weib und Kind, Haus und Hof mit den Waffen zu beschützen verstand, und niemandes Lage war bedauernswerter als die einer Witwe oder gar völlig verwaister Kinder, deren Vermögen schutzlos dem Zugriff äußerer Feinde oder neidischer Verwandter preisgegeben war. Die Pflicht des Hausherrn, die Seinen zu beschützen, nötigte ihn nicht nur dazu, sich zu bewaffnen und im Gebrauch der Waffen zu üben, sondern auch dazu, für Schäden einzustehen, die die Seinen außerhalb des Hauses zu Lasten Dritter anrichteten, und sie deswegen vor Gericht zu vertreten. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, stand dem Hausherrn und Familienvater von Rechts wegen eine weitreichende, wenn auch nicht schrankenlose Herrengewalt zu, die man hinsichtlich der Personen, wie bereits erörtert, als Munt, hinsichtlich des Vermögens jedoch als Gewere bezeichnet haben könnte (G. Köbler in LMA 4 Sp. 1964 f.). Das mit lat. manus = Hand verwandte Wort Munt (G. Köbler in LMA 6 Sp. 918 f.) stand für den mit bewaffneter Faust gewährten Schutz und die daraus folgende Schutzherrschaft einer Person über eine andere. Sie gewährte dem Hausherrn eine Strafgewalt über alle zum Hause gehörigen Personen, die das Recht der Züchtigung, der Verstoßung und eventuell sogar der Tötung umfaßte. Nach germanischer Auffassung galt ihre Ausübung allerdings nicht als Rechtsprechung, weil der Hausherr sie weder öffentlich noch im Konsens mit Gerichtsgenossen ausübte (K. Kroeschell 1968 S. 41 – 45), sondern sich allenfalls mit Verwandten und Freun-
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den beriet. Kraft der Gewere nutzte und verwaltete der Hausherr das Familienvermögen und leitete er die gemeinsame Wirtschaft. Zum Vermögen gehörten die Knechte und Mägde; sie standen im vollen Eigentum des Hauses und des Hausherrn und wurden, wenn dieser sie mit Land aus dem Hausgute ausgestattet hatte, zum unbeweglichen, sonst zum beweglichen Gute gerechnet, und so mag man sie heute auch als Leibeigene, ihren Herrn als Leibherrn bezeichnen, obwohl uns in den Quellen entsprechende Ausdrücke erst seit dem 13. Jahrhundert begegnen (H.-W. Goetz in LMA 5 Sp. 1845 f.). Allerdings schützten das Volksrecht und der König sie insofern, als der Herr sie nicht über die Grenzen des Reiches hinaus verkaufen durfte und als er für ihren Unterhalt zu sorgen hatte; auch bei Hungersnot war er verpflichtet, sie zu ernähren, durfte er sie nicht umkommen lassen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 354 – 356).
§§ 94 – 99. Die Gewere § 94. Obwohl wir nach heutiger Erkenntnis in der Gewere das zentrale Institut des mittelalterlichen deutschen Sachenrechts und seiner Sachherrschaft vor uns haben und das Sachenrecht, bei der ursprünglichen Dürftigkeit des Schuldrechts, das Kernstück des älteren Vermögensrechts ausmacht, geben uns doch die mittelalterlichen Quellen, so häufig sie auch die Gewere erwähnen, nirgendwo eine in sich abgeschlossene Darstellung von ihr, und die einzelnen Vorkommen des Wortes sind oft schwer verständlich und einander widersprechend. Erst die Anwendung der modernen Übersetzungslehre auf den ältesten überlieferten Sprachgebrauch, in dem lat. vestitura oder vestitio als Äquivalent für ahd. giweri, giwerida erscheint, hat ergeben, daß das Wort Gewere nicht von ahd. war = Obhut oder weri = Abwehr herzuleiten ist, sondern von dem Verbum werian = (den Nackten) bekleiden, und daß es sich zusammen mit der Institution – denn vor der Niederlassung auf dem Boden des Römischen Reiches können die Germanen noch kein hochentwickeltes Sachenrecht besessen haben – erst seit dem 5. Jahrhundert ausgebildet hat. Dabei knüpften die Sprecher an die bildliche Vorstellung von einer Sache (substantia) an, deren jemand entkleidet worden war (exuere), obgleich sie ihm gerechterweise zustand, und mit der er gegebenenfalls wiederbekleidet wurde (revestire). Es war diese lat., dem christlich-kirchlichen Sprachgebrauch eigene Metapher, die man in der Volkssprache nachbildete (G. Köbler 1975 S. 203 – 210). Gegen Ende des 8. Jahrhunderts einsetzende Quellenbelege zeigen dann, daß jetzt aus dem Verbum revestire die sachenrechtliche Vorstellung vestire, vestitura hervorgegangen war; gleichzeitig erscheinen in den kirchlichen Güterverzeichnissen die Ausdrücke manus vestita ,bekleidete Hand‘ für das Subjekt und hoba vestita ,(mit einem Manne) besetzte Hufe‘ als Objekt der Gewere, denn wenn jemand mit einem Grundstück bekleidet sein konnte, so war es auch möglich, ein Grundstück mit einem Bewirtschafter (und Inventar) bekleidet zu sehen. Die vestitura als besondere Bekleidungshandlung, woraus schließlich die vestitura als Zustand des
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Bekleidetseins geworden ist, der, weil stets nachweisbar, im Streitfalle den Ausschlag gab, war also eine Schöpfung des fränkischen Frühmittelalters, und ihre Geschichte erklärt die eigentümliche Abstraktheit des Gewerebegriffs, die uns als einem bäuerlich lebenden Volke gänzlich unangemessen erscheint und doch wegen ihrer vordergründigen Bildhaftigkeit ohne weiteres von ihm aufgenommen werden konnte. Die Gewere steht damit in klarem Gegensatz zu so einfachen Ausdrücken wie ahd. eigan = haben, lehan = leihen oder erbi = verwaistes Gut (G. Köbler 1975 S. 211). Die sprachliche Schwierigkeit, die darin liegt, daß wir das Partizip vestitus sowohl in der subjektiven als auch in der entgegengesetzten objektiven Bedeutung antreffen, könnte übrigens darin begründet sein, daß wir die Polyptychen falsch interpretieren. Nach herrschender Lehre nämlich bezeichnet der dem mansus vestitus gegenüberstehende Ausdruck mansus absus die ungenutzte, wüste, des Bebauers entkleidete Hofstelle, also den unbekleideten Hof im objektiven Sinne. Da die Güterverzeichnisse jedoch sehr wohl bekleidete mansi absi kennen, ist richtigerweise bei beiden Gliedern des Begriffspaares von der subjektiven Bedeutung auszugehen. Als inneres Subjekt beider Ausdrücke aber ergibt sich aus den Güterverzeichnissen stets der Hausherr, der die Nutzungsgewere an den Erträgen eines abhängigen Bauerngutes besaß. Von seinem Standpunkte aus gesehen, waren mansi vestiti die seiner Gewere unterliegenden, mansi absi die in der Gewere eines anderen Hausherrn (possessor, potens) stehenden Höfe. Das im Auftrage des Königs verfaßte Polyptychon „ruft beider Existenz und Belastung in Erinnerung, um eine Gesamtsicht der villa zu geben, es stellt aber auch fest, daß der hauptsächliche Inhaber dieser Fiskallast nicht verantwortlich gemacht werden konnte für (die Verwendung) solche(r) Teile der Abgaben, die (der König) anderen Nutznießern zugewiesen hatte“ (J. Durliat 1990 S. 263). Aus dieser Interpretation ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das richtige Verständnis des Lehnrechts und Lehnswesens. § 95. Über das gesamte Gebiet des späteren Ostfränkischen und Deutschen Reiches findet sich im 9. Jahrhundert die Übung verbreitet, Übertragungen von Grund und Boden mittels einer Doppelhandlung ins Werk zu setzen, die entweder als einheitlicher Akt auf dem Grundstücke selbst oder aber in zwei Schritten, zunächst in der erwerbenden Kirche und anschließend auf dem Grundstück, vollzogen wurde, und zwar als öffentlicher Akt, d. h. unter Zuziehung von Zeugen. Mit dem ersten Schritt erklärten die Parteien ihren übereinstimmenden, auf den Übergang der Sachherrschaft gerichteten Willen, und damit schlossen sie einen Vertrag (sala, traditio), der beurkundet werden konnte, jedoch der Schriftform nicht bedurfte. Im zweiten Schritte gab oder ließ der Veräußerer die Gewere auf (resignatio, Auflassung) und bekleidete mit ihr den Erwerber (giwerida, vestire, vestitura), indem er auf dem Grundstück eine Erdscholle aufhob oder einen Zweig brach oder auch die Urkunde (cartola) emporhob (levare), um sie als Symbol für die Gewere dem Erwerber sichtbar zu überreichen (R. Hübner 1930 S. 256 – 261. H. Zielinski in LMA 8 Sp. 929).
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„Der dem germanisch-mittelalterlichen Recht vor allem eigentümliche Zug, den Rechtsbeziehungen, die ja immer nur in den Köpfen der Menschen ihr Dasein führen, eine sichtbare Gestalt zu geben, trat nirgends stärker hervor als im Sachenrecht. Alle dinglichen Rechte, sowohl das Eigentum wie die Rechte beschränkteren Inhalts, sowohl die Rechte an Liegenschaften wie die an Fahrnis, erschienen in der äußeren Form, in dem Kleide einer sogenannten ,Gewere‘. Daher war in der Tat die Gewere die Grundlage des mittelalterlichen Sachenrechts. Diese ,Versinnlichung‘ war auch hier zunächst nur der Ausdruck einer naiven jugendlichen Anschauungsweise, die ein Recht an einer Sache nur da als vorhanden annehmen konnte, wo die Beziehung der Berechtigten zum Gegenstand zu sehen war“: ein „Formalismus, der für jede Berechtigung eine äußere, sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsform verlangte . . . Er ermöglichte es, die Rechtsverhältnisse an Grund und Boden den höchst mannigfaltigen wirtschaftlichen Abstufungen anzupassen und dem liegenschaftlichen Rechtsverkehr eine Sicherheit zu geben, wie sie eine abstraktere Regelung schwerlich hätte aufrechterhalten können“ (R. Hübner 1930 S. 198 f.).
§ 96. Dem auf Anschaulichkeit der Rechtsverhältnisse gegründeten Rechtsdenken des Mittelalters bot sich als sichtbares Zeichen für tatsächliche Sachherrschaft über liegende Güter deren wirtschaftliche Nutzung dar, denn jedermann konnte sehen, wer den wirtschaftlichen Nutzen aus einem Gute zog. Der einfachste Fall lag vor, wenn nur ein einziger Hausvater ein Landgut nutzte, indem er es selbst oder durch seine Knechte bebaute; in diesem Falle lagen alle überhaupt möglichen Nutzungsrechte in einer und derselben Hand, der Nutzer war vollkommen freier, jeder Rücksicht auf andere enthobener Eigentümer. Seit dem 9. Jahrhundert sprechen ihm die Urkunden ius et dominium oder dominationem, ius et proprietatem, ius et utilitatem, ius et potestatem an dem Grundstück zu. Der Sprachgebrauch beweist, daß zwischen den genannten Wörtern weitgehende Synonymität bestand; der damit umschriebene Begriff unbeschränkter subjektiver Befugnisse des Eigentümers wird mit ahd. giwalt übersetzt (G. Köbler 1971 S. 44 – 51, 176, 220). Da das Wort ius aber außerdem mit fas, lex und ordo zusammengestellt wurde und dann die objektive, für alle gültige Rechtsordnung, ahd. reht, bezeichnete, ist klar, daß jene subjektive Verfügungsmacht des Eigentümers zugleich eine richtige, gerechte, von allen anerkannte Gewalt sein sollte, daß der Hausvater sie iure oder mit rehte = gerechterweise ausübte (ebd. S. 226 f.). Iure proprietario aliquid possidere war der terminus technicus für das innerhalb der Landrechtsordnung freie Grundeigentum (der im salfränkischen Rechtsgebiet seit alters dafür gebräuchliche Ausdruck Allod fand außerhalb jenes Gebietes erst seit dem 12. Jahrhundert Verwendung), das nur zugunsten des Landes oder des Königs, dem jenes seine Rechte und Pflichten überlassen hatte, dienstpflichtig, im übrigen aber frei veräußerlich und in der Generationenfolge des Hauses vererblich war. Die natürliche Nachfolge der Kinder nach dem verstorbenen Vater war ein so wesentliches Merkmal dieses freien Eigentums, daß die Urkunden die Worte proprietas und hereditas häufig einander gleichsetzen (H. C. Faußner 1973 S. 353 f., 429).
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Jener einfache Fall, der alle Nutzungsrechte an einem Gute in eine einzige Hand legte, war jedoch im Mittelalter keineswegs der regelmäßige. Unendlich oft kam es vor, daß Eigentümer ihre Ländereien in den verschiedenen Formen der Leihe an andere Landwirte oder Nutzer austaten. Für sie lag dann die Nutzung in den Diensten, Zinsen und Abgaben, die ihnen von den Beliehenen entrichtet wurden; die Vasallen, Benefiziaten, Zinsleute, Pächter usw. dagegen bebauten das Grundstück selbst und nutzten es also unmittelbar. Daraus ergab sich die Möglichkeit und das überaus häufige Vorkommen mehrfacher Geweren. Neben die übergeordnete Gewere des Eigentümers, der sein Gut einem anderen zur Bewirtschaftung überlassen hatte und von diesem Leistungen aus dem Gute empfing, trat die Gewere des Zinspflichtigen, der es unmittelbar nutzte (R. Hübner 1930 S. 202. W. Ogris in HRG 1 Sp. 1662): eine mindere Gewere besonders solange, wie sie nicht vererblich war. Aber auch wenn sie erblich wurde und sich dadurch dem Eigentumsrecht annäherte, blieb sie stets durch die Bindungen an den Leiheherrn beschränkt, die das Erbgut des Leihemannes stets vom vollfreien Eigentum unterschieden. § 97. Zu einem Rechtsbegriff wurde die Gewere eben doch erst dadurch, daß zu der tatsächlichen, mit der wirtschaftlichen Nutzung gegebenen Herrschaft des Hausherrn über sein liegendes Gut eine innere Beziehung zu dem Gute hinzukam: Der Herr mußte eine dingliche Berechtigung an der Sache behaupten, er mußte sich zu ihrer Nutzung berechtigt glauben und für den Fall, daß er seine Gewere gegen Angriffe zu verteidigen genötigt war, dieses Recht und seine potestas oder giwalt als Fehdeführer oder vor Gericht beweisen. Solange niemand die bestehenden Besitzverhältnisse anfocht, nahm man „von vornherein bis auf Weiteres Übereinstimmung von subjektiv behauptetem und objektiv vorhandenem Recht an.“ Erhob allerdings ein Gegner daran Zweifel, so „mußte der Angegriffene, falls er seine Gewere verteidigen wollte, den Nachweis für das von ihm behauptete Recht erbringen“ und zeigen, daß seine Behauptung dem objektiven Recht entsprach. War er aber dazu imstande, so wog diese sogenannte ideelle Gewere sogar schwerer als die tatsächliche, die ihm durch unrechte Gewalt entzogen sein oder als durch Erbgang, Tradition oder Gerichtsurteil Berechtigten noch gar nicht zugewachsen sein mochte (R. Hübner 1930 S. 201 – 206). „Gab der Herr sein Gut einem Verwalter zur Bewirtschaftung, der natürlich das gesamte Erträgnis dem Herrn abzuliefern hatte, so wurde dem Verwalter keine Gewere beigelegt. Ebensowenig dem Knecht, der für den Herrn auf dem Gute arbeitete; wurde der Knecht (von Dritten) hinausgeworfen, so lag darin ausschließlich eine Verletzung der Gewere des Herrn. Offenbar fiel es ja auch weder dem Verwalter noch dem Knecht ein, sich irgend anders denn als bloße Werkzeuge des Herrn zu fühlen und zu benehmen (als ,Besitzdiener‘ im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches). Sie behaupteten nicht, ein eigenes Recht an dem Grundstück zu haben. Gerade dies aber, die Behauptung einer dinglichen Berechtigung an der Sache, mußte zu der tatsächlichen Herrschaft hinzukommen, wenn Gewere vorliegen sollte. Dem Zinsmann war durch Rechtsgeschäft vom Eigentümer die Nutzung des
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Guts übertragen, dem Erben war durch den Tod des Erblassers nach den Grundsätzen des Erbrechts dessen Grundbesitz angefallen: Beide vermochten also ihre Herrschaft mit dem ihnen eingeräumten oder sonstwie erworbenen dinglichen Recht zu rechtfertigen; es konnte bei der ,Machtausübung als Rechtsausübung‘ auftreten“ (ebd. S. 203 f.). § 98. Die Vermögensrechte des Hausherrn und seines Hauses erschöpften sich nicht in den an körperlichen Sachen bestehenden sogenannten dinglichen Rechten, die sich auf seine Gewere stützten. Hinzu traten noch persönliche Rechte oder Rechte auf Handlungen oder Unterlassungen fremder Personen, die der Hausherr in einem bestimmten, vertraglich festgelegten und insofern seine Herrschaft begrenzenden Umfange speziell gegenüber den Verpflichteten geltendmachen konnte. Hier äußerte sich seine Herrschaft nicht in aktiver Betätigung, sondern in Leistungen der Schuldner und in der einfachen Befugnis des Herrn, von ihnen – und nur von ihnen – zu verlangen, daß sie etwas vornähmen oder unterließen. Dagegen gewährten die dinglichen Rechte dem Inhaber unmittelbare Gewaltbefugnisse über eine Sache, die er gegenüber jedermann, also mit absoluter Wirkung, zur Geltung bringen konnte, wenn auch möglicherweise nur in dem negativen Sinne, daß er fremde Eingriffe in seine Nutzung untersagen durfte. Die Einteilung der Vermögensrechte in dingliche und persönliche war dem mittelalterlichen Recht zwar nicht begrifflich, wohl aber praktisch bekannt, insofern nämlich, als es diejenigen Befugnisse, die dem Hausherrn die Gewere an einer Sache eröffneten, im Streitfalle anders behandelte als solche, denen keine Gewere zugrundelag. Jede Klage, die sich auf die Gewere an einer Sache stützte und auf absolute Wirkung gegen jedermann zielte, war eine dingliche Klage; fehlte diese Wirkung, so mangelte dem Kläger eine Gewere und war ihm nur die Möglichkeit einer persönlichen Klage gegen den Vertragsgegner gegeben (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 1 S. 384 ff., Bd. 2 S. 329 ff. R. Hübner 1930 S. 177 f.). Diese germanische Auffassung vom Wesen der dinglichen Rechte hatte weitreichende verfassungsgeschichtliche Folgen. Denn während das römische Recht imstande war, den Kreis der dinglichen Rechte fest zu umgrenzen und auf die privaten Rechtsbeziehungen zwischen römischen Bürgern zu beschränken, faßten die Germanen jedes Recht als dinglich auf, dem sich die Formen der Gewere aufprägen ließen. Als Sachen stellten sich ihnen daher nicht nur Objekte wie Grundstükke oder Haustiere dar, sondern auch, da deren Wert in der wirtschaftlichen Nutzung lag, die sie dem Berechtigten gewährten, dieses Nutzungsrecht selber, mochte es nun das volle freie Eigentum oder irgendein geringeres Besitzrecht sein. Indem man auf diese Weise subjektives Recht und betroffene Sache einander gleichsetzte, gelangte man dazu, sich die Vermögensrechte auch als unkörperliche Sachen oder Rechte an Rechten, als Rechtsame (mhd. rehtsame, gerehtecheit, RWB 4 Sp. 284, ahd. rehtnissa = iustitia, giuualt = ius, H. Götz, WB. 1999 S. 362, 361) vorzustellen. Die Ausdehnung des Sachbegriffs auf alle Rechte, die dem Inhaber eine dauernde Nutzung beilegten, gleich welcher Herkunft sie auch sein mochten, führte folgerichtig dazu, auch an diesen Rechten, als unkörperlichen Sachen, dingliche
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Rechte anzunehmen, indem man sie zum Gegenstande einer Gewere machte (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 1 S. 336 – 358. R. Hübner 1930 S. 177 f.) § 99. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Rechtsgedanken ergibt sich daraus, daß nicht nur Reallasten, wie der Zehnte (unten: § 130), wie bäuerliche Zinsen, Fronden und Renten oder durch Rentenkauf auf eine Liegenschaft gelegte Gülten, – daß nicht nur solche Reallasten oder andere Grunddienstbarkeiten wie Wasser- und Wegerechte, sondern auch von der königlichen Gewalt herrührende Herrschaftsrechte, freilich erst in späterer Zeit, als unkörperliche Sachen aufgefaßt und in das Vermögen des Hausherrn, der sie einmal zu erwerben vermochte, einbezogen werden konnten, „alle die vielen mannigfaltigen, aber juristisch gleichartigen Fälle von Rechtsamen aus herrschaftlicher Gewalt, wie Grafschaftsrecht, Gerichtsbarkeit, Vogteirecht, die Regalien (Zoll-, Münz-, Jagd- und Bergrechte), Patronat, Bannrechte, Gefälle aller Art“ (unten: § 323a). Für das Rechtsempfinden des (Spät-)Mittelalters war es unwesentlich, daß alle diese Befugnisse als Ausflüsse der königlichen oder Staatsgewalt hoheitlichen Charakter trugen und daß daher die Römer sie einst als öffentliche Rechte dem privaten Vermögensrecht gegenübergestellt hatten; vom Standpunkte des römischen Rechts aus gesehen, den freilich im frühen Mittelalter nicht einmal die christlichen Kirchen noch verteidigen mochten, hatten alle diese Institute insofern eine privatrechtliche Natur angenommen, als sie rein und klar als Vermögensrechte behandelt und dem freien Rechtsverkehr zwischen den Inhabern ausgesetzt wurden. „Und zwar stehen sie, gleich den körperlichen Immobilien, den Liegenschaften, in Eigentum und Gewere, werden in den Formen der Grundeigentumsübertragung durch gerichtliche Auflassung, unter Erbenlaub usw. selber übertragen, gleich Grundstücken verpfändet, zu Leibzucht gegeben, gleich diesen im ehelichen Güterrechte und im Erbrechte behandelt, zum Gegenstande von Lehn und bäuerlicher Leihe gemacht, kurz in allem Rechtsverkehre den Grundstücken gleichgestellt, sie sind selber Immobilien und nichts anderes“ (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 1 S. 336 f.). Deutlicher, als es die dinglichen und persönlichen Vermögensrechte des Hausherrn hervortreten lassen, geben uns die Rechtsame zu erkennen, daß in der Sachherrschaft des frühen Mittelalters die Vorstellungen von Eigentum und Herrschaft ungesondert zu einem Herreneigentum verbunden waren, dessen beide Seiten, die politische Herrschaft und das private Vermögensrecht, Notare und Urkundenschreiber ganz zutreffend mit den lat. Worten dominium und dominatio zusammenfassend wiederzugeben pflegten. Es ist die Vorstellung von einem Eigentum, das sich die Inhaber aus eigener Kraft zu wahren gewußt hatten, bevor es noch Könige gab, die sie darin hätten beschützen können, und von dem sie, als sie Könige über sich setzten, Teile an diese abgetreten hatten, um sie überhaupt erst handlungsfähig zu machen. Wenn nun Stücke dieser königlichen Gewalt an sie zurückfielen, so waren dieses keine heterogenen, dem Wesen der Hausherrschaft fremden Befugnisse externer staatlicher oder hoheitlicher Herkunft, sondern eben Rechtsame, die in das angestammte Herreneigentum ohne weiteres wieder eingefügt werden konn-
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ten, ohne daß man in Gedanken eine Grenze zwischen juristischen Begriffen verschiedener Gattungen hätte überwinden müssen. „Leicht ersichtlicher Maßen sind es Befugnisse zur Ausübung einer Gewalt, mit denen wir es hier zu tun haben. Die Rechtsame bestehen in der Befugnis des Berechtigten, kraft einer ihm übertragenen Gewalt etwas zu tun: Gericht zu halten, Münze zu schlagen, Zoll von Kaufmannswaren zu erheben, zu jagen, Erz zu graben, Pfarreien zu besetzen . . . Weil der Inhalt dieser Gewalt sich weder in der Beherrschung einer Sache noch in der Anspruchnahme einer fremden Handlung oder Unterlassung äußert, sie also weder dingliches noch Forderungsrecht ist, so kann sie auch gleich einer Sache nur als Rechtsobjekt in vermögensrechtlichen Verkehr gelangen, also als Gegenstand des Eigentumsrechtes des Gewalthabers. Alle diese Rechtsamen sind dem liegenden Gute zuzuzählen, weil sie sich stets auf ein räumlich abgegrenztes Gebiet beziehen, eine Stätte haben, auf die sie dinglich fundiert sind und die ihnen die Gewähr der Dauerhaftigkeit, eines bleibenden Bestandes gibt, so daß sie selbst als Immobilien erscheinen. Getrennt von ihrer Immobiliarbasis sind sie nicht denkbar; dieses Gebiet aber steht nicht selber in der Gewere des Rechtsameninhabers: Daher ist die Rechtsame kein dingliches Recht“ (ebd. S. 342 f.). – Nicht mit dieser Stätte der unkörperlichen Sachen zu verwechseln ist das Grundstück, an welches sich eine Rechtsame knüpfen konnte; Rechtsame sind oft Pertinenzen von Grundstücken (Realgerechtsame) geworden, etwa Grafschaftsrechte als zu einer bestimmten Burgstätte, Gerichtsrechte als zu einem bestimmten Dinghof, Zollrechte als zu einem bestimmten Zollhause gehörig angesehen worden, derart, daß diese Verbindung ihren Inhaber bestimmte, aber Stätte der Rechtsame war nicht dieses Grundstück, sondern der gesamte Bezirk, in dem der Inhaber sie ausüben durfte (ebd. S. 343 Anm. 1. Unten: § 323b).
§§ 100 – 104. Tendenzen zur Auflösung der Hausgemeinschaft § 100. Bereits in der fränkischen Zeit begann sich diese altgermanische Hausgemeinschaft aufzulösen. Dazu trugen ebensosehr sozialökonomische Umstände, insbesondere der Übergang von der Einzelhof- zur Dorfsiedlung, als auch politische und kirchliche Einflüsse bei. Solange die Hausgemeinschaft eines internen Erbrechts nicht bedurfte, hatte sie eine von der Individualität der Mitglieder unabhängige, grundsätzlich unsterbliche Personenvielheit gebildet, für die der Wert des zum Hause gehörigen liegenden Gutes vorab in den Möglichkeiten der Nutzung lag, die es ihr bot; eine Verwertung durch Veräußerung oder Verpfändung kam daneben kaum in Betracht (H.-R. Hagemann in HRG 1 Sp. 887 f.). Aber gegenüber der Erwartung der Erben, daß das Haus beim Tode des Vaters an sie falle, suchte die Kirche eine Aufteilung des gemeinsamen Vermögens zu ermöglichen, kraft deren der Vater über einen Freiteil verfügte; ihn konnte er zur Beförderung seines ewigen Heiles einer Kirche übertragen, deren Geistliche für seine Seele beten sollten. Hieraus entwickelte sich allmählich und wider das Interesse der Erben (z. B.
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UB Hersfeld Bd. 1 S. 47 Z. 36 bis 48 Z. 3) die Testierfreiheit. Das weltliche Rechtsgefühl jedoch sträubte sich gegen diese frommen Gedanken, die den Hausherrn dazu ermutigten, sich über die Interessen seines Hauses hinwegzusetzen. Noch der Sachsenspiegel, das bekannte ostsächsische, um 1230 verfaßte Rechtsbuch des Schöffen Eike von Repgow, legte den Erben bei Lebzeiten des Erblassers ein Mitspracherecht an dem einst gemeinsamen Vermögen des Hauses derart bei, daß der Erblasser ohne ihre Erlaubnis von seinem Eigengute nichts veräußern durfte. Um so rätselhafter ist die im gesamten Bereich der alten Volksrechte einzigartige Norm des Thüringerrechts von 802 / 803, die jede Familienbindung des Grundeigentums aufhob: Libero homini liceat hereditatem suam cui voluerit tradere (P. Landau 2001 S. 47 – 51). Im allgemeinen war mit dem unter kirchlichem Einfluß auch im weltlichen Recht anerkannten Freiteil für Seelvergabungen nur ein erster Einbruch in die prinzipielle Familiengebundenheit des Hausgutes erfolgt und dem Gedanken des Individualeigentums der Weg freigegeben, und um so stärker trat dieser Gedanke hervor, je mehr sich in den Städten ein Verkehrswert des liegenden Gutes herausstellte und auch auf dem Lande ein Markt für Bodennutzungsrechte aufkam. Was die weitere Aufteilung anlangte, so wurde die Nachfolge in den Nachlaß des Hausherrn zugunsten gleicher Teilung unter den Söhnen entschieden; ein Anerbenrecht gab es im mittelalterlichen Rechte zunächst nicht. Die Töchter traten dabei hinter den Söhnen zurück, sie waren aber nicht von der Erbfolge ausgeschlossen, und häufig sind sie urkundlich als Grundbesitzerinnen nachzuweisen. § 101. Die Tendenz zum Individualeigentum und zur Gütertrennung machte sich freilich nur insoweit geltend, als Grund und Boden den Hauptbestandteil des gemeinsamen Vermögens ausmachten. In den werdenden Städten, wo die abgeschichteten Söhne ein mühsames Auskommen suchen mußten und wo die Gütergemeinschaft auf Mobiliarvermögen und gewerblicher Arbeit beruhte, behauptete sich die gesamthänderische Verwaltung des Haus- und Familiengutes (M. Weber 1889 S. 344 – 386. R. Hübner 1930 S. 125, 154 – 160. G. Buchda in HRG 1 Sp. 1587 – 1591). Das Haus- und Betriebsvermögen gehörte nach germanischer, von Langobarden und Franken bis nach Italien verbreiteter Auffassung nicht dem Vater, sondern allen Mitgliedern der Familie gemeinsam. Die Söhne und die als Gesinde im Hause lebenden Arbeiter wurden durch die hausherrliche Gewalt zwar im wesentlichen, aber nicht in allen Beziehungen gebunden, und daher war es rechtlich möglich, daß auch Verfügungen eines Sohnes oder Faktors das gemeinsame Vermögen gegenüber Dritten zu belasten vermochten. Kinder und Enkel blieben nach dem Tode des Vaters oft als Erbengemeinschaft zu gesamter Hand und als „Gesellschaft bei einem Brot und Wein“ (societas ad unum panem et vinum), d. h. als auf gemeinsame Rechnung lebende Tischgemeinschaft, auf dem ererbten Kapital sitzen, wobei jeder Miterbe zu Lasten des gemeinschaftlich gemehrten Vermögens verfügungsberechtigt war, ohne daß man auf den Gedanken gekommen wäre, die Anrechte der Einzelnen zu quotieren und danach ihre Befugnisse zu bemessen. Wie der gesamte Erwerb jedes Mitglieds, das mit den anderen in derselben
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Werkstatt schaffte und an demselben Tische speiste, der Ertrag seiner Arbeit mochte groß oder gering sein, ohne irgendeine Anrechnung zu seinen Gunsten in das gemeinsame Vermögen einging, so wurde jedes Bedürfnis des Einzelnen, wie kostbar oder wohlfeil es auch war, aus der gemeinsamen Kasse ohne Anrechnung zu seinen Lasten bestritten. In den großen Gewerbestädten gab man die Begründung der Hausgemeinschaft auf leibliche Verwandtschaft sehr bald auf. Die bürgerliche Familie bildete noch im späten Mittelalter in erster Linie eine nicht natürlich gewachsene, sondern künstlich geschaffene Arbeits- und Erwerbsgemeinschaft, und da der Einzelne in sie mit einer unausscheidbaren Berechtigung eingebunden war, so konnte auch nicht er, sondern nur der Familienhaushalt als ganzer der Gerichtsgemeinde oder deren Oberhaupte, dem Stadtherrn, für die öffentlichen Lasten, namentlich den Wehrdienst und die Steuern, haften. In öffentlichen Angelegenheiten vertrat nach außen hin, wie in alter Zeit, allein der Hausherr die Haus- und Erwerbsgemeinschaft; in privaten Geschäften dagegen konnten dies alle Mitglieder des Hauses rechtswirksam tun. Doch dabei blieb die Entwicklung nicht stehen. In den großen Handelsstädten der Toskana wird es schon im 12. Jahrhundert gebräuchlich geworden sein, die Beteiligung des Einzelnen, namentlich des von außen mit eigenen Mitteln Eingetretenen, am Betrieb als Anteil auszusondern und schließlich als Kapitaleinlage in eine Handelsgesellschaft aufzufassen. Trotzdem aber hielten die Kaufleute für das Betriebsvermögen selbst an der gesamthänderichen Einheit fest – damit aber auch an der prinzipiell unbeschränkten Verfügungsmacht aller einzelnen Beteiligten über das gemeinsame Vermögen und an deren Kehrseite, der prinzipiell ebenso unbeschränkten Haftung jedes Hausgenossen für Schulden, die ein anderer Genosse zu Lasten des Betriebsvermögens kontrahierte. Dies geschah offensichtlich deswegen, weil die persönliche, über den Betrag seiner Einlage hinausgehende Haftung jedes einzelnen Kompagnons für die Schulden der anderen die Gemeinschaft in unvergleichlicher, zuvor nicht bekannter Weise aktionsfähig machte, bot sie doch im Verkehr mit Dritten dem Kredit eine so breite und zuverlässige Basis, wie sie von Rechts wegen auf keine andere Weise, mit keiner anderen Vertragsform, schon gar nicht mit irgendeiner römischrechtlichen, zu erreichen war (M. Weber 1889 S. 314 – 318, 356 – 362, 427 – 440). Wenn dafür jeder Genosse die Nachteile der unbeschränkten Haftung auf sich nahm, so läßt sich an diesem Umstande ermessen, welche Bedeutung dem Kredit für das Wachstum der gewerblichen Wirtschaft und für das Überleben der oft von unfreien Vorfahren abstammenden und nur selten als vermögende Männer vom Lande in die Städte strömenden Gewerbeleute zugekommen sein muß. Es waren solche, der alten germanischen Hausgemeinschaft entsprossenen gesamthänderischen Erwerbsgemeinschaften, aus denen im 13. Jahrhundert in den Städten des toskanischen Binnenlandes die großen Handelskompagnien hervorgingen, auf deren Verfassung der Typus der offenen Handelsgesellschaft und damit jenes jüngere europäische Handelsrecht beruhte, das seit dem 18. Jahrhundert zum ersten Male in der Weltgeschichte den Europäern den Übergang zur kapitalistischen Wirtschaftsweise gestatten sollte. Erst diese
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Form der Handelsgesellschaft ermöglichte es den Genossen, ihre Arbeit planmäßig unter sich aufzuteilen, sich in ihr zu spezialisieren und sie zum Teil nach außerhalb der Werkstatt, auf den Marktplatz und sogar in andere Städte, zu verlegen, trotzdem aber sie als Gesamthandeln zu koordinieren und mittels schriftlicher Buchhaltung derart zu kontrollieren, daß beim Tode eines Kompagnons nicht das gesamte Vermögen liquidiert werden mußte, um einen einzigen Anteil davon abzuscheiden, sondern ein dauerhafter Geschäftsbetrieb über Generationen hinweg gesichert werden konnte. § 102. Die seit der fränkischen Zeit bemerkbare Auflösung der altgermanischen Hausgemeinschaft betraf Adel und Bauern in unterschiedlicher Weise. Was die Bauern anlangt, so gingen die abgeschichteten jüngeren Söhne dem Verwandtschaftsverbande in der Regel verloren, wenn in dem eigenen Dorfe ein weiterer Ausbau der Flur durch Rodung und die Begründung neuer Bauernhöfe nicht mehr möglich war, denn die von der täglichen Arbeit an den Hof gefesselten Bauern entbehrten der Mobilität, deren es bedurft hätte, um auch zu den in die Ferne oder in die Städte abgewanderten Brüdern und Vettern jene engen Beziehungen zu unterhalten, die für gegenseitige wirtschaftliche Unterstützung in Notzeiten und für gegenseitige Rechtshilfe, sei es als Bluträcher in der Fehde oder als Eideshelfer und Schwurzeugen vor Gericht, erforderlich war. Solche Mobilität war dagegen für den Adel etwas Selbstverständliches, da die Abkömmlichkeit vom eigenen Herrenhofe die Voraussetzung dafür war, daß angesehene Männer den Beruf des Verwaltungsmannes oder Kriegers im Dienste ihrer Gemeinde oder eines Herzogs oder Königs ausüben konnten. Dies eben war ja die ursprüngliche Funktion des Adels. Seit der karolingische Hausmeier Karl Martell das Lehnswesen eingerichtet hatte, gehörte es zu den Aufgaben des Königs und der mit ihm an Macht und Einfluß konkurrierenden Großen, eine ihren politischen Zwecken genügende Zahl von Anhängern mit dem dafür erforderlichen Grundbesitz auszustatten, den sie selber sich durch kriegerische Eroberung, durch Konfiskation der Güter ihrer innenpolitischen Gegner und immer wieder durch planmäßige Förderung der inneren Kolonisation zu beschaffen verstehen mußten. § 103. Jene Kleinfamilien, die durch das Ehebündnis zwischen Hausherrn und Hausfrau begründet wurden und den Kern jeder Hausgemeinschaft bildeten, schlossen jeweils zwei verschiedene Kreise von Blutsverwandten oder Agnaten in einem kognatischen Verbande zusammen (unter Agnaten sind allein die Anverwandten von väterlicher Seite, mhd. Schwertmagen, zu verstehen, während die Kognaten auch die Spindelmagen oder Blutsverwandten von Mutterseite umfaßten). Da nun jedes der leiblichen Kinder mit dem eigenen Eheschluß einen weiteren derartigen kognatischen Verband von Blutsverwandten und Verschwägerten begründete, hatten sich über Generationen hinweg stabile Geschlechter oder Abstammungsgemeinschaften gar nicht ausbilden können, da jeder einzelne Mensch einen nur für ihn gegebenen eigentümlichen Verwandtschaftskreis besaß (K. Schmid 1957 S. 16 – 27. H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 256 f. K. Kroeschell in LMA 7 Sp. 1934). In diesen kognatischen Verbänden, die sich von Generation zu Generation neu grup-
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pierten, genoß die väterliche Abstammung oder der sogenannte Mannesstamm keinerlei Vorzug. War die Mutter vornehmerer Abkunft als der Vater, so beriefen sich die Kinder zur Begründung ihrer sozialen und politischen Ansprüche allein auf die mütterliche, ihr Ansehen hebende Abkunft. Noch im Spätmittelalter betrachteten gräfliche Geschlechter es als Rangerhöhung, wenn es einem ihrer männlichen Mitglieder gelang, eine Herzogs- oder Fürstentochter zur Gemahlin zu gewinnen (G. Tellenbach 1956 S. 194). So wurde der Aufstieg des Hauses Oldenburg in den Rang eines fürstengleichen Geschlechts durch die Ehe des Grafen Johann II. (1285 – 1314 / 15) mit der Herzogin Elisabeth von Lüneburg eingeleitet, denn die Ansippung der Oldenburger an die Welfen machte die Söhne, die aus dieser Ehe hervorgingen, zu Nachfahren von Kaisern und Königen (B. U. Hucker 1995 S. 52). Derartig fließende Generationsfolgen oder wechselne Sippen behinderten jedoch die Stabilisierung des zu einem jeden Hause gehörigen Vermögens, da in jeder Generation die Eheschlüsse Umschichtungen auslösten. Die Güter namentlich adliger Häuser ließen sich deshelb ebenso schwer auf bestimmte räumliche Herrschaftsschwerpunkte wie die Abfolge der Hausherren auf Geschlechternamen festlegen. Daher erhielt sich die germanische Einnamigkeit der Personen (die sich so auffällig von der altrömischen Sitte abhebt, Individual- und Geschlechtsnamen zu verknüpfen) im Adel bis ins 11. Jahrhundert, bei Bauern und Bürgern dagegen sogar noch bis ins Spätmittelalter. Bis zum Aufkommen der ersten Geschlechteroder Familiennamen konnten die germanischen Völker die Zugehörigkeit eines Kindes zu einem bestimmten Geschlechte nur durch Nachbenennung der Enkel nach den Großeltern, durch den Austausch hausüblicher Namenglieder (z. B. Childerich – Theuderich – Childebert) oder durch Stabreimung (Heribrant – Hildebrant – Hadubrant) zum Ausdruck bringen. § 104. Der weite, von Generation zu Generation wechselnde kognatische Verwandtschaftskreis war in besonderer Weise an die Lebensverhältnisse des vorstaatlichen Zeitalters angepaßt, während der agnatische Verband seine Vorteile erst unter Beweis stellen konnte, als ein tatkräftiges Königtum den Grund für eine neue, frühstaatliche Friedensordnung zu legen verstand. Der unter archaischen Bedingungen den Ausschlag gebende Vorteil des kognatischen Verbandes bestand darin, daß er den Kreis der Bluträcher, auf deren abschreckende Wirkung allein sich der strafrechtliche Personenschutz begründete, so weit wie möglich zog. Solange das Ehebündnis die fehlende leibliche Verwandtschaft zwischen den Ehegatten rechtsgültig ersetzte, waren nicht nur Brüder, Vettern und Söhne, sondern auch die Schwäger und deren Angehörige zur Blutrache verpflichtet. Dazu jedoch, die dauernde Herrschaftsmacht eines adligen Hauses über eine bestimmte Region aufzurichten, waren die kognatischen Verwandtschaftsverbände oder wechselnden Sippen denkbar ungeeignet. Es ist daher verfassungsgeschichtlich von höchster Bedeutung, daß uns erstmals in der karolingischen Zeit, und seither immer häufiger, für adligen Grundbesitz eine Vererbung ausschließlich im Mannesstamme bezeugt ist. Dieser Wandel der
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erbrechtlichen Ansichten war offenbar eine Folge davon, daß die erstarkende königliche Gerichtsbarkeit im Laufe des Hochmittelalters die Blutrache als Rechtsmittel des Personenschutzes mehr und mehr entwertete (unten: §§ 771, 782), während gleichzeitig die immer weiter um sich greifende Akkumulation von Grundbesitz und Gerechtsamen, sobald man diese in den Formen der Grundherrschaft organisierte, dem liegenden Vermögen wachsende Bedeutung für Lebensweise und sozialen Rang eines Hauses verlieh. Daher gewann nun der natürliche Umstand, daß Vater und Mutter zwar mit ihren Kindern, nicht aber unter sich blutsverwandt sind, an Rechtserheblichkeit und reduzierte die Ehe auf ein im wesentlichen vermögensrechtliches Vertragsverhältnis. Der männliche Erbe erhielt hinfort mit dem gesamten Landgute des verstorbenen Vaters, das ihm die adlig-kriegerische Existenz sicherte, auch die Waffen des Toten, während die Töchter mit dem Schmuck und den Kleidern der Mutter und einer geringen Mitgift an Land ausgesteuert wurden und mit ihrer Heirat aus dem Geschlechtsverbande der Eltern völlig ausschieden, um ganz in den ihres Eheherrn überzutreten. So entstand seit dem 9. Jahrhundert aus den Machtbedürfnissen des Adels der agnatische Geschlechtsverband oder die sogenannte feste Sippe, die Gemeinschaft nämlich aller von einem Stammvater in männlicher Linie abstammenden Personen, unter Ausschluß der weiblichen, nur durch Einheirat und Verschwägerung mit dem Stammhause und seinen Nebenlinien verbundenen Verwandten. Wie der Personenverband der Hausgemeinschaft, aus dem er hervorgegangen war, so konnte auch der adlige agnatische Geschlechtsverband oder die adlige Dynastie kurz und bündig als Haus bezeichnet werden. Der Zusammenhang eines solchen Hauses blieb über viele Generationen hinweg erhalten, da auch die abgeschichteten Söhne, die mittels kriegerischer Landnahme, durch Lehnsempfang oder durch Rodung eigene Haushalte, Kernfamilien und Hausgemeinchaften begründeten, Mitglieder des Geschlechtes als einer mehrere Kernfamilien zusammenfassenden Großfamilie oder Abstammungsgemeinschaft blieben. Der agnatische Geschlechtsverband, der in den antiken Mittelmeerkulturen den Ausgangspunkt der ständischen Entwicklung gebildet hatte, war also in der germanisch-mittelalterlichen Verfassungsgeschichte erst das späte Resultat des mehrhundertjährigen Lebens einer Gesellschaft, die nur spät, zuerst nämlich von den Merowingern, später dann erneut von den Karolingern einer königlichen Herrschaft unterworfen worden war. Die Gliederung des Adels oder Standes der Edelfreien in Geschlechterverbände als Nachfolger der älteren, vom Hausherrn geführten Hausgemeinschaft fand seit dem 11. Jahrhundert beredten Ausdruck in einer neuen Namensitte, nämlich der Benennung der Geschlechter oder Dynastien nach der Stammburg, d. h. dem „Hause“ ihres jeweiligen Begründers. Die von der Hausgemeinschaft abstammenden agnatischen Geschlechter oder Häuser des fürstlichen und des niederen Adels konstituierten sich seit dem Spätmittelalter als Genossenschaften (C. von Schwerin 2 1941 S. 261 mit Anm. 39. G. Buchda in HRG 1 Sp. 1587 – 1591. K.-F. Krieger in LMA 4 Sp. 1105. F. Ebel in LMA 4 Sp. 1363). Aus ihren gewillkürten Hausgesetzen und Erbverbrüderungen entwickelten die Genossenschaften des hohen Adels
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in der frühen Neuzeit das sogenannte Privatfürstenrecht, das unter anderem die Gültigkeit der Ehen nach dem Prinzip der Ebenbürtigkeit, die Erbfolge in der fürstlichen Herrschaft und das Erbrecht an den Königskronen regulierte.
§§ 105 – 110. Das Haus und die Außenwelt § 105. Gegenüber äußeren Angriffen auf das Haus, die Hausgenossen und das Hausgut war der Hausherr zunächst auf sich selbst gestellt: Er und die Seinen durften und mußten selbst den Angreifer verfolgen, überwältigen und ursprünglich sogar töten, wenn sie ihn auf frischer oder, wie man zu sagen pflegte, auf handhafter Tat ertappten. Dieses Tötungsrecht erhielt sich das ganze Mittelalter hindurch, am längsten bei nächtlichem Diebstahl und gegenüber dem in flagranti überraschten Ehebrecher, doch war es schon in den Volksrechten der fränkischen Zeit zu einem Verhaftungsrecht abgeschwächt (H. Holzhauer in LMA 4 Sp. 1902 f.), das die Eigenmacht des Hausherrn einschränkte, indem es sein weiteres Vorgehen an gewisse Förmlichkeiten band. Er mußte den bei Gefahr üblichen Hilferuf, das Gerüfte (mhd. zeter, nd. jodute), erheben, um die umwohnenden Nachbarn herbeizuholen, denn im Notfalle standen ihm diese, als Orts- und Gerichtsgenossen, näher als seine verstreut lebenden Blutsverwandten. Mit dem Gerüfte (B. E. Siebs 1967 S. 296 f.) erwies er gegenüber der Gemeinde, daß er in Notwehr gegen den ergriffenen Missetäter vorging. Gemeinsam mit den herbeigeeilten Schreimannen konstituierte er alsdann ein Notgericht, und wenn der Augenschein, in Gestalt von Spuren der Tat an seinen Kleidern oder des in seinen Händen vorgefundenen gestohlenen Gutes, den Täter überführte, so durfte der Geschädigte ihn am nächsten Baume aufknüpfen. Das Handhaftverfahren im Notgericht, zu dem nach Möglichkeit, wenn erreichbar, auch der Richter hinzugezogen werden sollte, der dem Gerichtsverbande der Nachbarn vorstand, bezweckte nicht die Ermittlung des Tatbestandes, sondern die Rechtfertigung des Geschädigten, wenn dieser den Täter zu Tode brachte. Der Hausherr konnte den Ergriffenen aber auch bis zum nächsten ordentlichen Gerichtstage gefangenhalten, um ihn alsdann gefesselt vor Gericht zu stellen und entweder auf den Tod oder, falls sich inzwischen sein Zorn über die erlittene Gewalttat gemildert hatte, auf Sühneleistung und Wiedergutmachung des erlittenen Schadens zu verklagen und ihn mit Hilfe der Schreimannen und der ihm anoder aufgebundenen Beute zu überführen. Konnte oder wollte der Täter die geforderte Sühne nicht leisten, so drohte ihm wiederum der Tod durch Erhängen; bereits Kaiser Karl der Große hatte die Richter dazu verpflichtet, Galgen zu unterhalten (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c. 11: et iudices atque vicarii patibulos habeant). Wenn sich der Diebstahl (furtum) als die in den Urkunden und Rechtsquellen des Mittelalters am häufigsten genannte Missetat herausstellt – das Wort Verbrechen war dem Zeitalter noch nicht geläufig –, so hat dies seinen Grund darin, daß
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die Merkmale der Heimlichkeit, der Falschheit und der Gewinnsucht, die ihn kennzeichneten, das Volk dazu bewogen, auch Raub (latrocinium) und Mord (interfectio furtiva) unter dem Begriff zu erfassen. Diebstahl galt somit als Regelfall für alle Untaten, denen jene Merkmale besonderer Verwerflichkeit eigentümlich waren und die man in alter Zeit als Meintaten oder Neidingswerke, später aber besonders in Oberdeutschland als unehrliche Sachen bezeichnete (H. Hirsch 1922 S. 24 – 26, 39, 83). § 106. Es ist eine Eigentümlichkeit der alten germanischen Volksrechte, daß sie ebensowenig wie das Verbrechen den Begriff der Strafe kannten und in der Missetat zwar auch einen Grund des Verletzten, um nach Rache zu dürsten, vor allem aber eine Schädigung erblickten, die der Täter mit Geldleistungen wiedergutmachen konnte. Die germanischen Rechte legten in der Bewertung einer Untat den Akzent nicht auf das Vorhandensein eines schwer bestimmbaren bösen Willens (den man nur typisierend in der Vorstellung der Unehrlichkeit zu erfassen vermochte) und folglich nicht auf die sittliche Besserung des Täters, sondern auf einen Ausgleich der Unrechtsfolgen durch Leistungen des Täters, die dem Verletzten Trost und Heilung des erlittenen Schadens gewähren sollten (H. Nehlsen in LMA 2 Sp. 1145). Alle germanischen Sprachen kennen die Worte Buße und büßen, ahd. buoza, buozen, as. bota, botian; unter den lat. Äquivalenten dominieren emendatio, emendare = bessern, satisfactio, satisfacere = genugtun, restitutio, restituere = ersetzen und compositio, componere = vertragen oder vergleichen. In den Volksrechten der Karolingerzeit trat davon das Begriffspaar compositio, componere in den Vordergrund, das sowohl den zwischen den Sippen des Täters und des Verletzten ausgehandelten Vergleich über die Buße im Sinne einer Sach- und Geldleistung als auch die auf Grund dieses Vergleichs geschuldete Buße selbst bezeichnet. Die Volksrechte zeigen wie für alle anderen Unrechtstaten, so auch für alle Formen und Grade des Diebstahls ein umfassendes Kompositionensystem, denn seit die Germanen Bischöfe und christliche Könige besaßen, versuchten diese, mit derartigen, in festumrissene Tatbestände aufgefächerten Bußkatalogen und je einzeln festgelegten Tarifen die friedensstörende Selbsthilfe der Parteien einzuschränken und sie zum Bußvergleich zu drängen. Grundsätzlich konnte sich daher auch der vom Geschädigten gefangene Dieb durch Geldzahlung von dem ihm drohenden Tode loskaufen. Aber auch wenn er mit dem Leben davonkam, blieb er ehr- und rechtlos (exlex, infamis), d. h. aus der Gerichtsgemeinde, die der gekränkte Hausherr zu Hilfe gerufen hatte, verstoßen, denn Buße und Sühne waren lediglich der Ersatz für den das Rache- und Friedensbedürfnis des Verletzten stillenden Tod des Missetäters, aber nicht dazu geeignet, ihn wieder ehrlich zu machen (H. Hirsch 1922 S. 20, 86 f.). § 107. Den unehrlichen Sachen, die man unter dem Begriff des Diebstahls zusammenfaßte, standen die Ungefährwerke der älteren und die ehrlichen Sachen einer späteren Zeit gegenüber, deren namengebende Vertreter Verwundung (vulnus) und Totschlag (homicidium) waren, sofern sie nicht heimlich und vorsätzlich, son-
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dern öffentlich und in der Regel im Affekt, stets aber ohne Gewinnsucht begangen zu werden pflegten (ebd. S. 24 – 38, 80 – 89). Alle Arten unblutiger Verwundung schied man von blutigen Wunden und Verletzungen mit Todesfolge, und je nach der Schwere des Schadens, also wiederum allein nach dem für alle Gerichtsgenossen sichtbaren Erfolge der Tat richteten sich die Bußansätze, die die Volksrechte in ihren Katalogen zusammenstellten. Zwar konnte der geschädigte Hausherr oder seine Verwandtschaft an dem auf handhafter Tat ergriffenen Totschläger wiederum die Todesstrafe vollstrecken; in den Quellen spielt aber die Zahlung der Buße (compositio) an die Sippe des Verletzten die Hauptrolle. Diese Buße bezeichnete man als Wergeld, wenn es sich um eine Totschlagsbuße handelte (oben: § 62). Die Hausgenossen oder Verwandten des Erschlagenen waren dazu berufen, die Sache mit oder ohne Hilfe der Gerichtsgemeinde zu betreiben. Nach älterer, in vorstaatlicher Zeit entstandener Rechtsauffassung, die im Mittelalter noch Jahrhunderte lang gültig blieb, war die Verfolgung des Totschlags eine Privatsache der geschädigten Hausgemeinschaften und Sippen, eine Fehdesache, welche die Gemeinde unmittelbar nicht betraf; erst wenn die Fehde nicht zum Ziele führte und sich der Missetäter nicht zur Buße bequemen wollte, war die Gerichtsgemeinde betroffen und verschärfte auf Klage der Geschädigten hin den sozialen Druck auf den friedensunwilligen Täter, indem sie ihn mit Friedlosigkeit und Acht belegte, so daß jedermann ihn bußlos töten durfte (oben: §§ 62, 63). Aus diesem Zustande der Rechtlosigkeit konnte er sich nur dann wieder lösen, wenn er sich nicht nur mit der verletzten Sippe über die Buße verglich, sondern auch der Gemeinde ein Friedensgeld (fredus) zahlte. Erwiesen sich aber die Verfolger als unnachgiebig, so konnte der ihnen entkommene Missetäter das Asylrecht christlicher Kirchen und bestimmter weltlicher Freistätten in Anspruch nehmen, sofern er seine Untat als ehrliche Tat zu erweisen vermochte; namentlich weltliche Freistätten waren dazu verpflichtet, unehrliche Übeltäter den Verfolgern auszuliefern. Vornehmste Aufgabe der Asyle war es, handhafte Vergehen übernächtig und damit sühnbar werden zu lassen und zwischen den Parteien die Sühne herbeizuführen. Durch den Schutz, den sie gewährten, war der Missetäter in den Stand gesetzt, die Folgen der Ergreifung auf handhafter Tat abzuwehren, mit den Verfolgern zu verhandeln und sich mit Geld von dem ihm drohenden Tode zu lösen. Mißlang die Vermittlung und stellten die Verfolger den ihnen Ausgelieferten vor Gericht, so blieb ihm nur die Gewißheit, daß er als ehrlicher Täter nicht am Galgen, sondern durch Enthauptung mit dem Schwerte enden werde. § 108. Wie in der Gefahrenabwehr und der Verfolgung von Angreifern die Hausherren auf sich allein gestellt waren und die Gemeinde der Nachbarn und Gerichtsgenossen ganz im Hintergrunde verblieb, so ging es auch zu, wenn der Übeltäter dem Geschädigten entkommen war und dieser ihn mit einer Klage vor Gericht laden wollte. Ursprünglich hatte der wehrhafte Mann den Unrechtsvorwurf direkt an seinen Gegner gerichtet (oben: § 93), um entweder von ihm eine Buße zu erlangen oder ihm die Fehde anzusagen; beim Anefang (oben: § 93a) begann er diese Klage
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bereits dann zu erheben, wenn er die als gestohlen beanspruchte Sache anfaßte. Erst im 8. Jahrhundert, als im Fränkischen Reiche die Herrscher aus dem karolingischen Hause das Gerichtswesen stärkten und reformierten, begann der zur Verfolgung Berechtigte, seine Klage an den Richter zu adressieren und diesen um Rechtshilfe gegen den Täter zu ersuchen (J. Weitzel in LMA 5 Sp. 1190 f.). Seither entstand allmählich in langen Jahrhunderten ein „Recht“ des Verletzten, unter Verzicht auf jegliche Fehde die Buße von dem Täter auf gerichtlichem Wege einzuklagen, indem sich der Druck der Gesellschaft auf die Parteien, die der friedensstörenden Selbsthilfe entsagen und sich statt dessen versöhnen sollten, zu einem Gewohnheitsrecht verfestigte (H. Nehlsen in LMA 2 Sp. 1146). Man sieht, daß die Hausherren und die Gerichtsgemeinden, zu denen sie zusammentraten, im frühen Mittelalter ein öffentliches Strafrecht gar nicht kannten, sondern lediglich ein Fehde-, Friedens- und Sühnerecht des Einzelnen, das die Gemeinden mit einem im wesentlichen passiven, zum Vergleich der Parteien über Leistung und Annahme der Buße drängenden Verhalten begleiteten und unterstützten. Ansätze zu einem öffentlichen Strafrecht hatten ihnen allerdings bereits die fränkischen Könige aus merowingischem Hause eingepflanzt, indem sie nicht mehr nur auf Taten, die sie als Verletzung ihrer amtlichen oder herrschaftlichen Position auffaßten, mit Anwendung von Gewalt reagierten, sondern überhaupt ein allgemeines Friedensgebot ergehen ließen und gegen jeden, der dieses antastete, auch wenn er damit nicht den König selbst bedrohte, von Amts wegen vorgingen, insbesondere wenn es sich um Taten handelte, die der alttestamentliche Dekalog als Todsünden bewertete, wie Diebstahl, Raub, Inzest, Eheschließung zwischen Freien und Sklaven, Frauenraub, Grabfrevel oder Totschlag (W. Schild in LMA 8 Sp. 198). Die Könige betrachteten derartige Übeltäter als Feinde ihres bzw. des göttlichen Friedensgebotes, wie überhaupt die Fortbildung ihres amtlichen Interesses zu einem öffentlichen Straf- und Strafverfahrensrecht aufs stärkste von den christlichen Kirchen und dem aus römischer Zeit überkommenen Kirchenrecht beeinflußt worden ist. Unter Berufung auf ihren so verstandenen Amtsauftrag forderten sie die Geschädigten auf, sich nicht mehr außergerichtlich mit den Missetätern zu sühnen, sondern diese vor Gericht auf Todes- oder Körperstrafen zu verklagen, und die Gerichtsgemeinden, ihrer passiven Haltung in Friedensbruchsachen zu entsagen, sondern auf die geforderten blutigen Strafen wirklich zu erkennen. Durch Aufzeichnung der Volksrechte mit den darin enthaltenen, sorgfältig differenzierten Bußgeldkatalogen und Wergeldsätzen suchten sie die Selbsthilfe der Parteien zurückzudrängen und sich selbst und den zu ihrer Vertretung in den Gauen des Reiches eingesetzten Grafen die Leitung der Sühneverhandlung und des auf deren Scheitern folgenden Strafverfahrens zu sichern. § 109. Erfolg hatte diese königliche Rechtspolitik nicht. Was erreicht worden war, ging zusammen mit dem Merowingerhause im 7. Jahrhundert wieder zugrunde; das Kompositionensystem, dem eine friedenswahrende Wirkung kaum abge-
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sprochen werden kann, überlagerte alle königlichen Gebote. Ebenso wie die Zahlung und Annahme der Buße bzw. des Wergeldes schloß die überkommene Tötung eines auf handhafter Tat ertappten Missetäters weiterhin jedes königliche Einschreiten aus, sofern sich der Verfolger an die Regeln des Handhaftverfahrens und Notgerichts hielt. Daran haben auch die legislativen Maßnahmen Karls des Großen wenig geändert, zu denen die bereits erwähnte Vorschrift gehört, der zufolge die Grafen, ein jeder in seiner Grafschaft, einen Kerker und die Richter der Dingverbände einen Galgen unterhalten sollten (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c.11): Sie setzt den Willen des Kaisers voraus, keinen Übeltäter nur deswegen unverfolgt bleiben oder mit dem Leben davonkommen zu lassen, weil die Geschädigten nicht imstande oder willens waren, ihn bis zum Gerichtstage in Haft zu halten oder an ihm die Todesstrafe zu vollziehen. Fest institutionalisiert aber war jetzt die Übung, einen Teil der Buße an den Richter bzw. an den König, der diesen ermächtigte, abzuführen, indem man entweder die Gesamtbuße, die der Missetäter zu leisten hatte, nach einem bestimmten Schlüssel aufteilte oder von vornherein einen Betrag zugunsten des Richters aussonderte (H. Nehlsen in LMA 2 Sp. 1146). Hatte der Sühneschuldner die ausgehandelte Buße an den Richter und die Sippe des Verletzten und dazu das Friedensgeld an den König, der jetzt in die Rechte der Gerichtsgemeinden eingetreten war, entrichtet, so war der Konflikt bereinigt und der Friede zwischen den Parteien und im Lande wiederhergestellt, ohne daß die Gemeinde den Täter mit einer öffentlichen Strafe belegt hätte. § 110. Dieses sehr alte volksrechtliche und gewissermaßen vorstaatliche Kompositionen- und Friedensrecht übte verschiedene und weitreichende Wirkungen auf die Verfassungszustände aus. Erstens geschah dies deswegen, weil es dem königlichen Richter mit dem fredus und dem Bußanteil Einnahmen aus der Gerichtsbarkeit verschaffte, die diese zu einer wertvollen und begehrten Rechtsame des Richters erhoben und damit alle Häuser und Geschlechter, die eine solche Gerechtsame zu erwerben vermochten, nicht nur durch die mit dem Amte verknüpfte Königsnähe, sondern auch durch den daraus fließenden materiellen Reichtum vor anderen auszeichnete. Das Interesse des Adels an den richterlichen Funktionen hat darin ebenso seinen Grund wie die in zahllosen Königsurkunden des 10. bis 12. Jahrhunderts behandelte Aufteilung der Gerichtsgefälle zwischen Grafen und Vögten, die als Richter in verschiedener amtlicher Stellung um die Aufteilung dieser Einkünfte unter sich und vor dem Könige stritten. Noch der Sachsenspiegel, das um 1220 verfaßte Rechtsbuch des ostsächsischen Schöffen Eike von Repgow, unterscheidet genau zwischen Wergeld und Buße, die der Missetäter an den Verletzten zahlte, und dem Gewedde, mit dem er den Richter zufriedenstellen mußte (Landrecht III 32 § 10). Zweitens werden uns diese Rechtsverhältnisse auch deswegen immer wieder beschäftigen, weil die von den kirchlichen Gottesfrieden des 11. Jahrhunderts vorbereitete sogenannte Landfriedensbewegung seit dem 12. Jahrhundert begann, ein
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allmählich erstarkendes öffentliches Strafrecht und Strafverfahren ins Leben zu rufen, das nicht nur zu Lasten des alten Bußsystems ging, sondern auch die Befugnisse der Gerichtsgemeinden und der Landesherren, die nun an die Stelle des Königs traten, derart vermehrte, daß sich die mittelalterliche öffentliche Ordnung dadurch in den Grundlagen veränderte (unten: §§ 769 – 782). Die Dinggemeinden bekannten sich zu ihrer Pflicht, den friedensbrüchigen Gewalttäter nicht mehr zur Sühne gelangen zu lassen, sondern zu diesem Zwecke die Vermittlung der Sühne den Gesippen und Freunden der Parteien aus den Händen zu nehmen und wegen des Bruchs des Gemeinde- und Landfriedens von Amts wegen gegen den Täter vorzugehen mit dem Ziel, ihn öffentlich zu bestrafen. Es währte Jahrhunderte, bis sich die Einsicht in diese Pflicht allgemein durchsetzte und die Gerichte zu Obrigkeiten erhob, die hoch über den Parteien standen und ihnen gegenüber ein früher unbekanntes Recht zu strafen ausübten, weil sie das staatliche oder Gemeinwohl zu vertreten hatten. Das Bußwesen sank keineswegs sofort zur Bedeutungslosigkeit herab. Namentlich bei vornehmen und zahlungskräftigen Gewalttätern behauptete sich die Sühnezahlung an den Geschädigten und an die Obrigkeit als Ablösung der peinlichen öffentlichen Strafe bis zum Ende des Mittelalters. Die Ursachen für das Aufkommen der öffentlichen Strafe und des von Amts wegen betriebenen Strafverfahrens gegen die Verbrecher, wie man die Friedens- und Gesetzesbrecher nun zu nennen begann, gehören noch immer zu den ganz ungenügend erforschten Problemen der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte, obwohl ihnen ein hervorragender Anteil an der Fortbildung der mittelalterlichen Hoheit zur modernen Staatlichkeit zukommt.
§§ 111 – 116. Häuser, Stände und Standesrecht § 111. Drittens aber, und davon ist jetzt zu reden, nehmen die Kompositionensysteme der alten Volksrechte – ungenau pflegt man heute auch vom Kompositionen- oder Bußstrafrecht des frühen Mittelalters zu sprechen – überall auf die ständische Ordnung jener germanischen Stammesgesellschaften Bezug, über die die Könige der Franken herrschten; nirgends tritt uns diese Ordnung so deutlich als Rechtsordnung entgegen wie an dieser Stelle. Wie wir gesehen haben, waren in der Herrschaft des germanischen Hausherrn über die Hausgenossen und das Hausgut die Vorstellungen von Eigentum an Sachen und Gebotsgewalt über Personen noch ungesondert verbunden. Lat. dominium, dominatio und seine ahd. Äquivalente hêrscaf, hêrtuom, giwalt (H. Götz, Wb. 1999 S. 211) bezeichneten diese Einheit von politischer Herrschaft und privatem Vermögensrecht, und beides zu trennen ging schon darum nicht an, „weil sie die Grundlage der öffentlichen Rechtsstellung des einzelnen blieben, insbesondere seinen Stand bestimmten“ (R. Hübner 1930 S. 245). Dazu aber waren die germanischen Auffassungen vom Herreneigentum insbesondere deswegen geeignet, weil sie sich auch auf solche Befugnisse erstreckten,
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die die Römer als öffentliche Rechte angesehen hatten und die man heute zu den Hoheitsrechten zählt. „Da man überhaupt die Liegenschaftsrechte als unkörperliche Sachen den Grundsätzen des Sachenrechts unterwarf . . . und an ihnen wie Gewere so auch Eigentum annahm, so konnte man auch jedes auf ein bestimmtes Gebiet sich erstreckende Hoheitsrecht als den Ausfluß einer dinglichen Berechtigung an Grund und Boden behandeln“ (ebd.). Auf der Möglichkeit, dem Hausgute derartige Rechte als Rechtsame zu integrieren, beruhte der Aufstieg bestimmter Häuser und hausherrlicher Geschlechter in den Stand des Adels. § 112. Alles Standesrecht krankt an dem inneren Widerspruch, daß einerseits die Stände Geburtsstände sein müssen, um als natürliche oder gottgewollte, jeglicher menschlichen Willkür entzogene Gebilde gerechtfertigt zu sein, daß aber andererseits das geschichtliche Leben auf dieses Postulat wenig Rücksicht nimmt, da jeder einzelne, mochte er nun im Erbgange Hausherr geworden sein oder als abgeschichteter Sohn des Erblassers ein eigenes Haus neu begründen wollen, unermüdlich danach strebte, die eigene Lage zu verbessern, oft genug aber auch in diesem Bestreben scheiterte. Ererbte Stände lassen sich daher schwerlich über Generationen hinweg aufrechterhalten, wenn unter Brüdern und Vettern der eine zu Reichtum und Macht gelangt, während der andere verarmt und sein Erbe vertut. Dieser Differenzierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage kann das Standesrecht nicht auf die Dauer widerstehen, da Armut mit Freiheit oder gar mit Adel und adliger Lebensweise ebensowenig vereinbar ist wie Unfreiheit mit Reichtum und politischem Einfluß. Wer wegen Armut seine Freiheitsrechte und -pflichten nicht wahrnehmen konnte, der verlor auf die Dauer die ererbte Freiheit ebenso, wie umgekehrt ein Mann schwerlich in der ererbten Knechtschaft festzuhalten war, wenn er imstande war, die Pflichten und Rechte eines Freien zu erfüllen, auch wenn die Gerichtsverbände und -völker den Auf- und Abstieg solcher Geschlechter noch lange im Gedächtnis bewahrten. So kommt es, daß der Versuch, die Menschheit insgesamt in die beiden Stände der Freien und Unfreien einzuteilen, bereits im frühen Mittelalter gescheitert war, obwohl das Rechtsdenken noch Jahrhunderte lang an der Annahme festhielt, von diesem als naturgegeben oder gottgewollt unterstellten Unterschiede aus seien die Standesrechte zu erklären und zu begründen. Bekannt ist die Richtschnur, die Kaiser Karl zu Beginn des 9. Jahrhunderts einem seiner Königsboten erteilte, der hatte wissen wollen, ob die Kinder einer Frau aus dem Kolonenstande, die einen Knecht aus anderem Hause geheiratet hatte, der Mutter folgend dem Hausherrn der Kolonin gehören oder der Hausherrschaft ihres Vaters zugerechnet werden sollten. Der Kaiser forderte den Missus auf zu erwägen, wie er entscheiden würde, wenn einer seiner eigenen Knechte die unfreie Frau eines anderen Herrn oder eine seiner unfreien Mägde einen fremden Knecht heiraten würde; danach sei der vorliegende Fall zu lösen, quia non est amplius nisi liber et servus, „weil es weiter nichts gibt als entweder frei oder unfrei“ (MGH. Capit. 1, 145 n. 58 c. 1). Der Kaiser wollte nicht wahrhaben, daß der Stand der Kolonin so einfach nicht zu bestimmen war, denn die Kolonen waren (persönlich) freie, wenn auch landlose Leute, die als
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Pächter fremdes, in diesem Falle gewiß königliches Land bebauten und folglich in einer (privaten) Abhängigkeit von einem Grundherrn standen, die ihre (politische) Freiheit grundsätzlich nicht zu berühren brauchte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 348 Anm. 1; oben: §§ 84, 85). Der Kaiser aber entschied, wer arm sei und daher die Pflichten eines Freien nicht erfüllen könne, der sei als Unfreier zu behandeln, da ein Drittes von Rechts wegen nicht gegeben sei, wie immer sich die wirklichen Lebensverhältnisse auch darstellen mochten. § 113. Um die standesrechtliche Norm zu retten, wollte der Kaiser dem Grundherrn gestatten, den persönlich freien Kolonen vom öffentlichen Gericht abzuscheiden, vor dem der Herr ihn hinfort in allen Rechten und Pflichten eines Freien zu vertreten hatte, obwohl sich der Kolone als freier Pächter einer Bauernstelle in einer ganz anderen Lage befand als jene seit je vom Herrn vor Gericht vertretenen Knechte oder Mägde, die im vollen Eigentum eines Hausherrn standen und als Sachen zu dessen beweglichem Hausgut gerechnet wurden. So aber lebten nicht die Kolonen, sondern nur jene Personen, die als tägliche Diener oder Dagescalken im Herrenhause gehalten und verköstigt wurden und zu unbemessenen Diensten jeder Art verpflichtet waren, die also tagein tagaus jedem Wink des Herrn zu gehorchen hatten und uneingeschränkt der hausherrlichen Gewalt unterlagen, welche namentlich die Befugnis zu körperlicher Züchtigung einschloß. Diese Leute waren von jeder ordentlichen Gerichtsgewalt abgeschnitten und konnten dort weder klagen noch verklagt werden. Für ihre Unrechtstaten mußte der Herr die volle Buße aufbringen, ohne daß es ihm freigestanden hätte, sich dieser Last durch Auslieferung des schuldig gewordenen Sklaven an das Gericht zu befreien. Nicht an sie kann Kaiser Karl bei seiner Entscheidung gedacht haben, sondern nur an eine andere, bereits besser gestellte Schicht von Knechten. Denn deren totale Unfreiheit wurde bereits gemindert, wenn der Hausherr einen Knecht mit Land und eigenem Haus und Herd ausstattete und ihn verheiratete. Derartige behauste Knechte (servi casati), die eine Knechtshufe (einen mansus servilis) bebauten und darauf eine eigene, wenn auch mit Diensten und Abgaben beschwerte Wirtschaft führten, wurden nun zu seinem liegenden Gute gerechnet, davon sie ein Stück in Anbau hielten. Die Kirche aber schützte ihre Ehen derart, daß der Herr sie nicht mehr durch die Veräußerung des Mannes oder der Frau aufzuheben vermochte, und der König schützte ihr Leben, indem er die Herren zwar dazu aufforderte, ihre Herrengewalt strenge zu handhaben, sie aber auch dazu verpflichtete, ihre Leute zu beschützen und bei Hungersnöten nicht umkommen zu lassen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 354 – 357, Bd. 5 S. 204 – 217). Die verheirateten und angesiedelten Knechte waren nun selber Hausväter und Hausherren geworden und hatten damit aufgehört, bewegliche Sachen zu sein; insofern war ihre Lage der der persönlich freien Kolonen nicht unähnlich. Zwar waren sie dem Haus- und Grundherrn, der sie angesiedelt hatte, weiterhin zu Diensten, ja selbst zu ungemessenen Diensten verpflichtet; da aber irgendwem alle Hausherren, auch die freien, Dienste zu leisten hatten, bedingte der Dienst (serviti-
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um) für sich allein lediglich einen graduellen Unterschied zwischen Unfreien und Freien. Wenn man die als bewegliche Sachen behandelten Knechte bezeichnen wollte, reichte das Wort servus daher nicht hin, sondern man mußte von mancipia oder Sklaven sprechen. Dies tat Kaiser Karl, als er seinen Amtleuten verbot, von königlichen Dienstleuten Knechte zu kaufen: a servo regis mancipia ne emant (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c. 5). Der servus des Königs war keine Sache mehr, sondern eine rechts- und geschäftsfähige Person. § 114. In alter Zeit hatte es keine Wergelder für Knechte gegeben; wer einen Knecht erschlug, hatte sich mit dessen Herrn aussöhnen müssen, indem er ihm zur Buße den Sachwert erlegte, den der zur Fahrhabe gehörige Sklave darstellte. Aber diese Rechtsauffassung hatte nur auf die Lage der Dagescalke gepaßt; sie paßte nicht mehr auf die der behausten Knechte, mit denen Karl die persönlich freien Kolonen verglichen hatte, und so überrascht es uns nicht, daß die auf Befehl der fränkischen Könige aufgezeichneten Volksrechte Wergelder für Knechte festsetzten, die in einem bestimmten Verhältnis zu den Wergeldern der anderen Stände stehen: ein Zeichen dafür, daß die (behausten) Knechte aufgehört hatten, Sklaven oder Sachen zu sein, daß sie rechtsfähige Personen geworden und den persönlich freien Kolonen nähergerückt waren. Das später genauer zu erörternde Recht, welches Bischof Burchard von Worms um 1023 / 25 aufzeichnete, zeigt denn auch, daß Zahlung und Empfang des Wergeldes und die Aussöhnung mit der Sippe des Erschlagenen nicht nur für Freie, sondern auch für einen großen Teil der rechtsfähig gewordenen Unfreien den Weg darstellten, auf dem der Totschläger wieder zu Ruhe und Frieden innerhalb der Haus- oder Hofgemeinschaft gelangen konnte, der er angehörte (H. Hirsch 1922 S. 36). § 115. Nachdem in älterer Zeit die beteiligten Sippen die Wergelder frei ausgehandelt hatten (oben: § 62), war es in der fränkischen Zeit dem erstarkenden Königtum gelungen, bestimmte Werte dafür festzustellen und die gegnerischen Sippen um den Preis dieser Wergeldsätze zum Verzicht auf die Fehde zu zwingen. Die Könige hatten dabei an die jeweiligen Wertvorstellungen und Vermittlungstraditionen der einzelnen Stämme anknüpfen müssen, und so war es zu zwar regional einheitlichen, jedoch auf das ganze Reich gesehen, höchst unterschiedlichen Vorschriften über die Höhe des Wergeldes gekommen (W. Schild in HRG 5 Sp. 1269). Bei den meisten Volksstämmen des Ostfränkischen Reiches betrug das Wergeld des gewöhnlichen Freien 160 Schillinge, was vielleicht den Gegenwert von hundert oder 120 Ochsen ausmachte. Ein höheres, oft dreifaches Wergeld kam dem Geburtsadel der Altfreien zu und jenen Personengruppen, die die Könige ihm gleichstellen wollten, nämlich dem Dienstadel ihrer Amtleute, den Geistlichen und den (muntfreien Haus-)Frauen, ein geringeres den Unfreien oder Halbfreien, von denen, als behausten Knechten und Kolonen, soeben die Rede war (R. His 1928 S. 97. P. Landau 2001 S. 34 – 36). Diese Dreiteilung der Völker in Edle, Freie und Unfreie stimmte schon in karolingischer Zeit mit der sozialen Schichtung der Gesellschaft ebensowenig überein
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wie die Zweiteilung in Freie und Unfreie. Sie bereitet deswegen heute der Erklärung die allergrößten Schwierigkeiten. Die rechtsgeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts betrachtete den Adel allgemein als einen Vorrechtsstand, obwohl die Quellen ihm, abgesehen von den Wergeldtarifen, kein einziges weiteres Vorrecht beilegen, und unterschied von ihm die gewöhnlichen Freien der Bußtarife als sogenannte Gemeinfreie, den Stand der uneingeschränkt zur Teilnahme an der Volksund Gerichtsversammlung zugelassenen Hausherren, deren voller politischer Berechtigung die als Heerdienst bekannte Pflicht entsprach, mit dem Aufgebot des Königs auch in auswärtige Kriege zu ziehen. Aus den Gemeinfreien dachte man sich den königlichen Untertanenverband zusammengesetzt, um dessen Erhaltung sich noch Kaiser Karl der Große, wenn auch erfolglos, bemüht habe (G. Dilcher in HRG 1 Sp. 1513 f.; unten: §§ 657, 666). Diese Lehre geriet seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Mißkredit einerseits deswegen, weil die Auffassung aufkam, der Adel sei mit autogenen Herrschaftsrechten ausgestattet gewesen (unten: § 136), deren Herkunft und Inhalt allerdings offenbleiben mußte, da die Quellen bis ins 12. Jahrhundert hinein nichts davon wissen, andererseits deswegen, weil die ständische Einheit der Gemeinfreien von der Zugehörigkeit zahlreicher Freigelassener und Halbfreier zu diesem Stande in Frage gestellt wird. Beide Erscheinungen wollten nicht zu der Existenz eines Verbandes von Untertanen passen, die zum Könige in gleichartigen Rechtsbeziehungen gestanden hätten. Statt dessen erklärte man alle in den Quellen der Karolingerzeit genannten Freien zu sogenannten Königsfreien, die die Karolinger, um die Herrschaft der Franken über die nichtfränkischen Stämme ihres Reiches zu sichern, als Militärkolonisten auf Königsland angesiedelt hätten. Diese Königsfreien wären also sämtlich vom Könige dinglich abhängig, ihre Freiheit eine Form geminderter oder unfreier Freiheit (oben: § 82) gewesen. In den Quellen der Karolingerzeit allerdings ist eine besondere rechtsständische Freiheit, die durch Rodung, Siedlung, Heeres- oder Königsdienst erworben worden wäre, nicht nachzuweisen (A. Dopsch 1922 T. 1 S. 194 f., 270 f., 283. H. K. Schulze 1974). Es widerspricht namentlich den Angaben der Volksrechte, alle Freien schlechthin zu derartigen Minderfreien zu erklären, denn unter ihnen befanden sich gewiß auch Altfreie, die seit jeher in voller dinglicher Unabhängigkeit auf freiem bäuerlichem Eigen gesessen hatten und ihre Freiheit nicht besonders vom Könige und von ihrem Königsdienst herzuleiten brauchten (G. Dilcher in HRG 1 Sp. 1515). § 116. Es erscheint mir daher geboten, die irreführenden Ideen und Ergebnisse der modernen Sozialgeschichte grundsätzlich beiseitezulassen und statt dessen auf die exakten Wort- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Georg Waitz (namentlich 1876 – 1896 Bd. 5 S. 199 – 485: Das Volk und seine Stände) und Philipp Heck (oben: §§ 52, 53) zurückzugreifen, da es bei diesen Autoren noch keine Verwechslung standesrechtsgeschichtlicher mit sozialgeschichtlichen Befunden gab und sich jedermann mit ihren Forschungsergebnissen auseinandersetzen muß, der die Sprache und die Zeugnisse der Quellen richtig verstehen will. Denn noch
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immer gilt Waitz’ Feststellung, daß dafür die „vollständige Sammlung der älteren Bezeichnungen, wie sie sich diese Arbeit . . . zur Aufgabe gestellt,“ notwendig sei (G. Waitz Bd. 5 S. 486). Ich werde deswegen die mit vielerlei mißverständlichen Definitionen belasteten Begriffe Adel, Gemeinfreiheit und Knechtschaft beiseitelassen und statt dessen von Altfreien (einem in der Literatur vielfach bereits benutzten Ausdruck), von Neufreien (A. Dopsch 1922 T. 2 S. 65) und von Unfreien sprechen, um die dreifache Standesordnung des früheren Mittelalters im Rahmen der Verfassungslehre zu beschreiben. Es wird dann eine Aufgabe der Verfassungsgeschichte, die sich hieran anschließen soll (oben: § 58), sein zu prüfen, ob sich diese Erklärung in der Darstellung des Geschehens bewährt. Auszugehen ist von der Tatsache, daß die drei Stände nicht nur bei den Sachsen (oben: § 80), sondern bei allen germanischen Völkern ausgesprochene Geburtsstände waren. Im Rechtsleben richtete sich der Stand eines Menschen nicht nach dem sozialen Ansehen, das er genoß, sondern nach dem nachweisbaren Stande der Eltern, deren Ehe er entsprossen war. Für ständische Mischehen galt dabei als Regel, daß das Kind jeweils der ärgeren Hand, d. h. des ständisch geringeren Ehegatten folgte: generatio eorum semper ad inferiora declinantur (Lex Rib. tit. 58 § 11. Ph. Heck 1931 S. 105). Hätte das soziale Ansehen der Menschen in seiner raschen Wandelbarkeit über den Stand entschieden, so hätte es weder die objektiven Wergeldsätze gegeben haben können, die uns die Volksrechte überliefern, noch hätte sich angesichts der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs die erwähnte Norm der ärgeren Hand ausbilden können. Derartige strenge Rechtsfolgen konnte man nicht an das schwankende Element sozialen Ansehens knüpfen, sondern nur an das im Rechtsstreit sicher greifbare, weil im Wissenszeugnis der zuständigen Gerichtsgemeinden zuverlässig überlieferte Merkmal des elterlichen, mit der Geburt erworbenen Standes. Nicht nach den sachlichen Voraussetzungen für die soziale Stellung eines Mannes ist daher zuerst zu fragen, sondern nach dem deutschen Äquivalent für das lat. Wort, mit dem die Quellen seinen Stand bezeichnen (Ph. Heck 1931 S. 93 f.; oben: § 53).
§§ 117 – 123. Mächtige und arme Freie § 117. Das nur in karolingischer Zeit in eindeutigem Sinne gebrauchte Wort nobilis, dessen as. Äquivalent Edeling wir bereits kennen (oben: § 80), begegnet uns am häufigsten in den Traditionsnotizen bayerischer Stifter und Klöster, und zwar nicht als schmückendes Beiwort, sondern als Bezeichnung eines juristischen Tatbestandes, dem wichtige Rechtsfolgen anhingen. Dies waren vor allem: erstens die Befugnis, Grundeigentum innezuhaben und in voller dinglicher Unabhängigkeit in den oben (§ 95) beschriebenen Formen zu veräußern, eine Befugnis, deretwegen die nobiles auch homines potestativi = vollmächtige Herren genannt werden konnten (lat. potestas bildete das Äquivalent zu den ahd. Substantiven eigan, kraft, maht und giuualt, H. Götz, Wb. 1999 S. 505), zweitens die Befugnis, bei derartigen Ge-
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schäften anderer nobiles und bei amtlicher Inquisition wegen des Königsgutes der Region als Zeugen zu fungieren, drittens ein Sonderrecht der nobilis femina bei Eheschluß mit einem Unfreien, viertens ein besonderes Wergeld und fünftens die Befugnis, sich persönlich in den Schutz einer Kirche zu begeben und sich damit den Pflichten eines freien Mannes gegenüber dem Könige in gewisser Weise zu entziehen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 329 mit Anm. 3, S. 332 f. Ph. Heck 1931 S. 90 f.). Namentlich die bayerischen Autotradenten erweisen sich überall da, wo ihr Stand ersichtlich ist, als nobiles, auch wenn sie sich nach dem Umfang ihres Grundbesitzes als typische Kleinbauern darstellen. Standesrechtlich waren diese gering begüterten nobiles jenen Edlen gleich, die als Herren reicher Hausgüter und mächtiger Hausgemeinschaften die Ämter eines Grafen, Herzogs oder Königs zu bekleiden vermochten. In denselben Verhältnissen treffen wir, nach Ausweis der Würzburger Markbeschreibungen von 779 (W. Braune, Lesebuch 1928 S. 6 Nr. 6) die Edelinge der Franken an. Die Texte nennen uns nicht nur an die hundert edle Bewohner des Würzburger Landes mit Namen, sondern erweisen sie auch als königsunmittelbar mit dem Recht, den König beratend zu umgeben, denn König Karl der Große selber war verpflichtet, gemeinsam mit ihnen einen Grenzstreit durch sein gerechtes Urteil beizulegen, wenn er sich in Erfüllung dieser Aufgabe auch durch einen Königsboten vertreten ließ, der gemeinsam mit ihnen, den optimatibus et senibus istius provinciae, die Markengrenze iuste discernendo . . . circumduxit, indem er abschnittsweise die jeweils Ortskundigen als Zeugen (testes) darauf vereidigte, ut iustitiam non occultarent sed proderent, der Truppe voranzugehen und sie wahrheitsgemäß zu den rechten Grenzzeichen zu führen. Als Zeugen aber erklärten sie auch, daß es in der Mark jederlei Erbgut gebe, sowohl Kirchengut von St. Kilian als auch königliches und freier Franken Erbe: ióh chirihsahha sancti Kiliánes ióh frôno ióh frîero Franchôno erbi (zu Erbe = Eigentum oben: § 96, zu frôno = königlich unten: § 409). Der Rechtsstand der gemeinten Grundeigentümer ist völlig zweifellos: „Freier Franke“ ist die technische Bezeichnung für den Edeling und homo potestativus, neben dem es, außer Kirche und König, keinen anderen Stand freier Hausväter und Grundeigentümer gab. Andere, nicht mit der Grundeigentümerschaft verknüpfte Standesrechte der Edelinge sind weniger deutlich zu erkennen, da die Quellen sie nicht unmittelbar als Rechtsbegriffe überliefern, sondern uns lediglich ihre Wirkungen zu erkennen geben. Wir können daraus zwar die Begriffe konstruieren, müssen jedoch im Auge behalten, daß sich die Zeitgenossen ihrer nicht bewußt waren. Alle diese Rechte waren den Edelingen angeboren und älter als das fränkische Königtum, das daher weder in sie eingreifen noch den Anspruch erheben konnte, sie zu legitimieren. Hierher gehört das Waffenrecht, das den freien Hausherrn ermächtigte, jederzeit öffentlich Waffen zu tragen (H. Fehr 1914 / 17 I S. 111 – 113. M. Schmoeckel in LMA 8 Sp. 1903 f.), oder das Recht, sich mit anderen Freien zu genossenschaftlichem oder gegenüber einem gekorenen Haupte zu persönlichem Gehorsam zu verschwören (unten: Sechstes Kapitel).
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Da nicht an die Voraussetzung freien Grundbesitzes gebunden, standen die zuletzt genannten Standesrechte auch den Frilingen oder Neufreien zu. Daher kommt es, daß die Quellen der Karolingerzeit häufig sowohl Edle als auch Frilinge unter dem Begriff der Freien, liberi, zusammenfassen. Werden Edle als Freie bezeichnet, so war das ein formelhafter Begriff für jene Personen, denen eine bevorzugte Rechtsstellung zukam, cum essent liberae conditionis a cunctis progenitoribus suis (Lac. UB 1 S. 9 n. 15 = Quellen hg. von G. Franz 1967 S. 60 n. 23), oder wie noch drei Jahrhunderte später ein Glossator zum Schöffengesetz Kaiser Lothars I. von 832 (unten: § 311) erklärte: Nobiles sunt, quorum maiorum parentum suorum nemo servituti subjectus sit (Liber Papien. c. 98 S. 557), denn ausschließlich freie Vorfahren konnten die Neufreien gerade nicht nachweisen. § 118. Das Wort liber ist also in der Rechtssprache von durchaus zweideutigem Wortsinne. Da das deutsche Wort Edeling den Abkömmling edler Eltern bezeichnete, konnte es ins Lat. nicht nur mit nobilis, sondern auch mit dem Adjektiv ingenuus übersetzt werden, das in seinem Begriffskern gleich dem deutschen Worte nur auf die freie Abkunft, nicht aber auf das soziale Ansehen eines Menschen zutrifft; dem deutschen und dem lat. Ausdruck ist jeweils die Wurzel ,Geschlecht‘ gemeinsam. Das lat. Wort liber, welches diesen Kern nicht berührt, war daher an sich als Äquivalent für Edeling unbrauchbar (Ph. Heck 1931 S. 94, 97,146 – 148). Vielmehr übersetzte es in der Bedeutung von ,freigeboren‘ das ahd. Adjektiv frî, das seinerseits wiederum auch lat. libertinus, den Freigelassenen und dessen Nachkommen, den Friling, bezeichnen konnte. Im Rahmen des karolingischen Waffenund Heeresrechts diente es als Kürzel für den heerfolgepflichtigen Mann, der von jeder anderen öffentlichen Steuerlast befreit war (J. Durliat 1990 S. 222 – 224). Dem liber gegenüber war daher der nobilis erst als freier Franke, Sachse usw. zutreffend gekennzeichnet, als Mann nämlich von freierem Geschlechte, liberiori genere oder adallîhhemo gislahte (H. Götz, Wb. 1999 S. 373, 374). Offensichtlich war der Stand der altfreien Edelinge viel stärker durch das Geburtsrecht bestimmt als die beiden Stände der Unfreien und der Neufreien. In diese nämlich konnte, wer als Knecht oder Lite geboren war, mit Willen seines Herrn durch das Rechtsgeschäft der Freilassung emporsteigen; kein Hausherr dagegen, ja nicht einmal der König besaß die Macht, einen unedel Geborenen in den Adelsstand zu erheben. Das bezeugt der fränkische Edeling und Chorbischof zu Trier Thegan, wenn er, der Verfasser einer Biographie Kaiser Ludwigs des Frommen, über Erzbischof Ebo von Reims, einen Abkömmling geborener Knechte (qui erat ex originalium servorum stirpe) sagt: „Der König hat dich zum Freien gemacht, nicht aber zum Edeling, weil das unmöglich ist“ (fecit te liberum non nobilem quod impossibile est: Thegan c. 44, MGH. SS. 2 S. 599 Z. 18 – 19. G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 4 S. 329 A. 2. Ph. Heck 1931 S. 99 A. 2). Dagegen ist es sehr umstritten, ob das ahd. Neutrum adal, edili = vornehmes Geschlecht in Beziehung zu setzen ist zu dem Neutrum uodal = Heimat, Aufenthaltsort, das auch im Altnordischen vorkommt und hier (nur hier!) soviel wie Ei-
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gentum, Grundbesitz oder Stammgut bedeuten kann (F. Kluge, Wb. 1975 S. 7). Zwar kennt bereits die as. Bibeldichtung des 9. Jahrhunderts die Rechtsworte der ôdhil (maskulin) = Heimat, Erbgut, und das handmahal = Stammsitz (W. Krogmann 1954 S. 139, 142. St. Sonderegger 1965 S. 492), aber die Annahme, daß das Edelingsrecht im karolingisch-Ostfränkischen Reiche nicht nur von der Geburt, sondern auch von dem Besitz eines bestimmten Erbgutes abgehangen habe, ist damit jedenfalls nicht zu beweisen (R. Scheyhing in HRG 1 Sp. 800). § 119. Nicht einen standesrechtlichen, sondern einen politisch-sozialen Sachverhalt und eine Funktionselite innerhalb des Standes der Edelinge bezeichnete der Begriff der proceres (unten: §§ 411, 599). Nichts deutet darauf hin, daß sich diese Vornehmen in fränkischer Zeit standesrechtlich über die Altfreien erhoben hätten und in einen ständischen Gegensatz zu ihnen getreten wären (Ph. Heck 1931 S. 133). Auf Ebenbürtigkeit bei der Auswahl des Ehegatten allerdings sahen wie alle Altfreien, so auch die Vornehmen. „Man legte Gewicht auf Gleichheit der Abkunft; Macht und Reichtum haben oft genug bei der Wahl der Frauen den Ausschlag gegeben . . . Es war gegen die Sitte, wenn der hochgestellte Mann sich mit der Tochter des einfachen Freien verband oder die eigene einem solchen gab. Aber mit Rechtsnachteil war es nicht verbunden“ (G. Waitz Bd. 5 S. 484). So konnte man die Vornehmen, die von den edelsten Ahnen abstammten, die die höchsten königlichen Ämter bekleideten oder über das reichste Hausgut verfügten, als nobilissimi, und diejenigen, die nur einzelne oder ein paar Hufen besaßen und deshalb nicht imstande waren, dem Könige wesentliche Dienste zu leisten, als mediocres oder pauperes bezeichnen (ebd. Bd. 4 S. 330 – 332), aber nobiles blieben auch diese ärmeren, eine rechtsständische Differenzierung der Altfreien war mit diesen Eigenschaften nicht verbunden und ist niemals daraus gefolgt (G. Tellenbach 1943 S. 24 – 27, 64 – 66). Die Normen der Ebenbürtigkeit und des Ansehens der Geschlechter gehörten eher der Sitte und dem Hausrecht als dem Volks- oder Landrecht an, in das sie erst der Sachsenspiegel (Landrecht III 73 § 1; R. Scheyhing in HRG 1 Sp. 793) aufgenommen hat. Sie konnten gegen die mit Beirat der beiderseitigen Sippen Verlobten nur mit Hilfe der Zuchtgewalt durchgesetzt werden, die dem Hausvater über Sohn und Tochter zustand (oben: § 90). Kommt somit dem Nomen procer in standesrechtlicher Hinsicht keine bestimmte Bedeutung zu, so hindert dies nicht, daß ihm im Rahmen der karolingischen Verfassungsgeschichte durchaus der Rang eines Rechtsbegriffs wird beigelegt werden müssen. § 120. Da der Stand der Edelinge rechtlich nach unten derart abgeschlossen war, daß einerseits die Kinder aus Mischehen, der ärgeren Hand folgend, den Frilingen (Neufreien) oder Unfreien zugerechnet wurden, während andererseits selbst der homo potestativus nicht befugt war, Unfreie oder Neufreie zu Edelingsrecht freizulassen, so war bereits in fränkischer Zeit die bei derartigen ständischen Abschlüssen unvermeidliche demographische Folge eingetreten: Die Zahl der Standesgenossen und der adligen Geschlechter hatte begonnen abzusinken, und dieser
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Vorgang hielt das ganze Mittelalter über an. Der sozialen Stellung der überlebenden Geschlechter mochte das zugutekommen; wenn sie ihre Güter zusammenzuhalten und zu mehren verstanden, mochten sie sich über bäuerliche Lebensweisen zu adliger Abkömmlichkeit erheben und entsprechende öffentliche Aufgaben übernehmen. Verließ man die fränkischen Heimatgebiete am Niederrhein, wo es noch zahlreiche Bauern unter den Franci gegeben haben wird, und begab sich in das fränkische Kolonialland östlich des Rheins, so war hier die Zahl der fränkischen Edlen bereits in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts so gering, daß deren besondere Freiheit in der Würzburger Markbeschreibung von 779 (oben: § 117) als Auszeichnung erscheint, die den freien Franken über andere Einwohner der marca Uuirziburgarensium erhob (G. Waitz Bd. 4 S. 330. Ph. Heck 1931 S. 105). So erklärt es sich, daß nicht nur bei den Franken, sondern auch bei Sachsen und Friesen der Stammesname Francus, Salicus, Saxo, Friso zugleich als Standesbezeichnung des nobilis gebraucht werden konnte, ohne daß deswegen nicht auch die Neufreien und Unfreien im ethnographischen Sinne zu dem Volke, der gens, der Franken usw. hätten gerechnet werden können (Ph. Heck 1931 S. 107 – 109, 118, 193). Da den sozialen, politischen und standesrechtlichen Geschicken der Edelinge im Mittelalter eine hohe verfassungsgeschichtliche Bedeutung zugekommen ist, bedürfen die Ursachen und der Verlauf der Entwicklung der besonderen Aufmerksamkeit des Verfassungshistorikers. Eine Prüfung erheischen namentlich drei Hypothesen, die ich im Anschluß an Georg Waitz (unten: §§ 121 – 123) und Otto von Dungern (unten: §§ 137 – 141) darlegen will. Die erste Hypothese betrifft die verfassungsmäßigen Ursachen jener numerischen Minderung des Edelingsstandes; deren soziale, demographische und religiöse Gründe, darunter das Heiratsverhalten der Adelshäuser (insbesondere die Ehelosigkeit der für den Kirchendienst bestimmten Söhne und Töchter, die die Anzahl der Nachfahren beschränkte und oft genug unversehens zum Aussterben eines Geschlechtes führte), können hier unbeachtet bleiben. Die zweite Hypothese betrifft die Entstehung des Standes der Wachszinsigen, die dritte das Heraustreten des dynastischen Adels aus dem Edelingsstande. § 121. Die verfassungsmäßige Ursache des Standesschicksals der Edelinge oder Edelfreien ist darin zu suchen, daß den erwähnten Standesvorrechten der Königsnähe und der vollmächtigen Grundeigentümerschaft Standespflichten und Lasten entsprachen, die spätestens unter der Herrschaft der Karolinger für viele Hausherren unerträglich zu werden begannen. Mit Recht hat man gesagt: „Die Eigentumsordnung des frühen und hohen Mittelalters . . . wurde von dem Grundgedanken beherrscht, daß jedem Besitz ein Überlassungs-, ein Leiheverhältnis zugrundeliegt“: Wenn die Rechte der im Fränkischen Reiche zusammengeschlossenen Völker das freie, vollmächtige Grundeigentum der Edelinge unter ihren Schutz stellten, so war damit seitens dieser Völker „dem freien Mann, um ihn als Krieger einsetzen zu können, ein von Dienstleistungen auf Herrenland freier Besitz überlassen“ (H. C. Faußner 1973 S. 346). Wie
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die Pflicht, Arbeitsdienste auf Herrenland zu leisten, den unfreien Grundbesitz, so kennzeichnete der dem Volke geschuldete Kriegs- und der ihm gleichstehende Gerichtsdienst den freien Grundbesitz. Seit die Völker Könige über sich erhoben, denen sie das Amt beilegten, ihre Volksrechte zu schützen, konnten beide Arten von Diensten, die freien und die unfreien, sogar mit denselben, der Sphäre der Unfreiheit entstammenden Worten servire und servitium bezeichnet werden. Bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts nannte König Karl der Große die ihm von Edelfreien erbrachten Dienste der Königsboten, Grafen und Getreuen nostrum servitium oder servitium regis (MGH. Capit. 1 S. 137 Z. 30, 138 Z. 17, 184 Z. 3, 209 Z. 31). Die Pflicht, das servitium regis zu leisten, übernahmen die Edelinge samt und sonders, d. h. jeder einzelne zwar für sich persönlich, jedoch stets nur gemeinsam mit allen Standesgenossen, wenn sie nach den Regeln des Identitätssystems durch den Mund der Worthalter ihrer partikularen, nach örtlichen und völkischen Gegebenheiten abgestuften Verbände an der Erhebung des Königs teilnahmen und ihm in der Huldigung jenen Treugehorsam gelobten, auf dem allein die rechtliche Vollgewalt und tatsächliche Macht der Könige beruhte (unten: §§ 745 – 748). Während des Interregnums, jener Zeitspanne, die zwischen dem Tode des Königs und ihrer Huldigung zugunsten des Nachfolgers verstrich, lag sogar die höchste Gewalt im Reiche bei der Versammlung jener ihrer Worthalter, der proceres (unten: Einundzwanzigstes Kapitel). Bereits die Maßnahmen, die König Karl zum Schutze der Freien vor den Lasten der Gerichtspflicht ergriff und die später (unten: §§ 307 – 310) im einzelnen dargelegt werden sollen, beweisen, daß die Freien von ihren Hofstellen und hausherrlichen Funktionen im allgemeinen nicht abkömmlich waren. Betroffen waren zwar alle Freien, edle und nichtedle oder neufreie, in besonderem Maße aber doch die Edelinge, denn sie waren es, die die Gerichtsbeamten, sowohl die Grafen und deren Vikare, die die Gerichte hegten und leiteten, als auch die Urteilsweiser oder Richter, zu stellen hatten und deswegen vom Könige dazu verpflichtet wurden, sich gründliche Kenntnisse ihres Volksrechtes und der königlichen Gebote anzueignen (MGH. Capit. 1, 91 n. 33 c. 26, 143 n. 57 c. 4, 147 n. 60 c. 3: comites quoque et centenarii et ceteri nobiles. G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 4 S. 402; oben: §§ 52, 53). § 122. Seit jeher hatte, wie bei den Germanen überhaupt, so bei den Franken der Kriegsdienst mit dem Grundbesitz in engstem Zusammenhang gestanden. Denn nicht alle, seien es edle oder unedle, Freien waren dem Volke und seinem Könige zur Heerfolge verpflichtet, sondern nur die Grundbesitzer. „Nur wer Land besaß, war vollberechtigt in der Gemeinde, befugt und verpflichtet in der Heerversammlung zu erscheinen, die nichts anderes war als das Volk oder ein bestimmter Teil desselben, versammelt nach Gauen oder Hunderten“ (G. Waitz Bd. 4 S. 532. W. Hartmann 2002 S. 167 f.) oder wie immer sich die völkischen Partikularverbände benennen mochten, die durch ihre Worthalter an der gemeinsamen Willensbildung des Volkes mitwirkten. Wiederum aber waren von der Wehrpflicht die Edelinge
4. Kap.: Partikularverbände I: Hausgemeinschaft
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besonders betroffen, da sie in jedem Falle als freie Hausherren auch Inhaber von freiem Grundbesitz waren, während Neufreie oft genug land- und vermögenslos waren oder gänzlich auf Leiheland saßen, dessen Lasten dem Volke oder dem Könige abzutragen sie dem in der Regel geistlichen oder edelfreien Grund- oder Lehnsherrn überlassen konnten, unter dessen Schutz sie sich stellen durften. Zwar bestand der König darauf, daß nicht nur Eigengut, sondern auch die Nutzung abhängigen Landes den Inhaber zum Kriegsdienst verpflichtete (G. Waitz Bd. 4 S. 536, 569, 587), aber diese Vorschrift mußte doch den Edeling, der seine Hauswirtschaft durch die Hinzunahme von Leiheland lediglich ergänzte, in weit höherem Maße belasten als einen Freien, der auch Haus und Hof von einem Herrn zur Leihe empfing und gar kein Eigengut gegenüber dem Volke zu vertreten hatte. Der Dienst der abhängigen Leute geistlicher und weltlicher Großer im königlichen Heere ruhte an sich auf keinem anderen Grunde als der der Angehörigen des Reiches überhaupt: nämlich auf dem Lande, das ein jeder innehatte (ebd. S. 605). Infolge des besonderen Verhältnisses, in dem die Karolingerkönige zu den Stiftskirchen und großen Klöstern ihres Reiches standen (unten: §§ 322a, 361, 428), nahm niemand daran Anstoß, daß auch das Kirchengut die mit dem Genuß der Einkünfte aus freiem Grundbesitz verbundene Verpflichtung abtragen und daß auch Bischöfe, Stiftspröpste, Äbtissinnen und Äbte mit dem Heere in den Krieg ziehen mußten, wenn sie sich auch nicht persönlich an Kampf und Blutvergießen zu beteiligen brauchten (ebd. S. 592 – 597). Eben um diese Pflicht zu erfüllen und dem Könige eine dem Umfang ihrer Besitzungen entsprechende kriegerische Mannschaft zu stellen, griffen sie zu dem Hilfsmittel, einen Teil ihrer Güter an Laien und namentlich zu Benefizium an Vasallen auszugeben. Wiederum dürften in erster Linie Edelinge dieses Angebot angenommen haben, um ihre Hausgemeinde und Hauswirtschaft so zu ergänzen, daß sie als Vasallen zugleich auch ihre persönliche Kriegsdienstpflicht erfüllen konnten. Die Wehrpflicht belastete den Haushalt eines jeden freien Mannes unmittelbar, weil sich jeder Hausherr aus eigenen Mitteln für den Kriegsdienst derart auszurüsten hatte, daß seine Mundvorräte von dem Tage an, da man die Reichsgrenze überschritt, für drei Monate und Waffen und Kleider für ein halbes Jahr ausreichten. Als Reichsgrenze galten für die Einwohner der neustrisch-austrischen Kerngebiete des Karolingerreiches die Loire und der Rhein, für die Einwohner der rechtsrheinischen Lande die Elbe und für die Aquitanier die Pyrenäen (MGH. Capit. 1, 166 n. 74 c. 8. G. Waitz Bd. 4 S. 539 f.). § 123. Die Wehr- und Rüstungslast war eine persönliche Pflicht, die jeder Freie auf sich nahm, wenn er sich selbst oder durch die Worthalter seines Volkes gegenüber seinem Könige zum Gehorsam verpflichtete. Sie ruhte nicht nur auf dem Grundbesitz, sondern traf auch solche Freie, die statt über liegendes Gut über ein bewegliches Vermögen verfügten. Die Geldvermögen der Zeit waren allerdings so gering, daß, wer sich davon ernährte und weder Ackerknechte noch Eigengut besaß, als arm galt. Je sechs Besitzer eines bestimmten Geldvermögens, dessen Be-
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1. Teil: Die Gemeinden
trag nicht überliefert ist, sollten gemeinsam einen Mann entsenden, dem die anderen je 5 Solidi zur Ausrüstung zu bezahlen hatten (MGH. Capit. 1, 134 n. 48 c. 2. G. Waitz Bd. 4 S. 560 f.). Die Mobilmachung eines solchen Kriegers kostete demnach 30 Solidi (J. Durliat 1990 S. 223). Er mochte als Handwerker besonders zum Dienste bei den Saumtieren und Rüstwagen im Troß des Heeres geeignet sein. Da Waffenrecht und Heerfolgepflicht für alle Freien gleich waren, unangesehen ihrer beruflichen und vermögensmäßigen Situation, bedeutete die Pflicht zur Selbstausrüstung für die weniger wohlhabenden Hausherren eine schwere und oft genug ruinöse Last. Seit dem Jahre 807 befahl Kaiser Karl daher seinen Königsboten und Grafen, beim Aufgebot der Krieger darauf Rücksicht zu nehmen und de liberis et pauperibus hominibus auf verschiedene Weise zu verfügen (MGH. Capit. 1, 136 n. 50 c. 2). Der hier gewählte Ausdruck war freilich ungeschickt, da auch die pauperes liberi waren (dies letztere Wort zweifellos als Oberbegriff für Edelinge und Neufreie gemeint); jüngere italienische Capitularien, die das von Karl geschaffene Recht anwandten und deren Verfasser sorgfältiger formulierten, unterschieden daher die hinreichend vermögenden liberi homines von den secundi ordinis oder mediocribus liberis, die pro paupertate sua zu belasten seien, und schließlich von jenen, die propter nimiam paupertatem gar nicht belastet werden könnten (ebd. 1, 324 n. 162 c. 3, 329 n. 165 c. 1; H. Fehr 1914 / 17 I S. 120). Es waren also nicht nur Männer ohne Herrschaft, Amt und Lehen, die als pauperes galten, sondern bäuerlich lebende Freie auf dem Lande und Gewerbeleute in den frühstädtischen Verkehrszentren, die von materieller Armut bedrängt wurden und daher ihre Rüstungs- und Heerfolgepflicht nicht mehr zu erfüllen vermochten (K. Bosl 1963 S. 68 – 70). Nichts steht der Annahme entgegen, daß auch Hausherren edelfreien Standes zu diesen verarmenden Kleinbauern gehörten. Die seit 807 überlieferten Maßnahmen Karls des Großen betreffend die Bemessung der Dienstpflicht nach den Vermögensverhältnissen der Freien erweisen nicht nur, daß der Kaiser danach strebte, diese Leute vor der Vernichtung ihrer Existenz zu schützen, sondern auch, daß das fränkische Heer immer noch ein Volksheer war und sich noch nicht in ein Heer von berittenen Berufskriegern verwandelt hatte, zu dem nur noch die Vermögenden aufgeboten worden wären (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 553 – 556. H. Fehr 1914 / 17 I S. 118. R. Wenskus 1975 S. 21 f.). Es ist aber weder dem Kaiser noch seinen Nachfolgern gelungen, den Heerdienst gerecht auf Arm und Reich zu verteilen und die drückende Last für alle erträglich zu machen. Viele Freie begaben sich daher in den Schutz und unter die Hausherrschaft vermögender Männer (seniores), die imstande waren, ihre Dienstpflicht gegenüber dem Könige abzulösen (G. Waitz Bd. 4 S. 579 f., 586 f.). Die Scheidung der Wehrpflichtigen in liberi und pauperes weist demnach hin auf eine soziale Schichtung unter Edelingen und Neufreien, die freilich im 9. Jahrhundert noch keine Rechtsfolgen nach sich zog. Im hohen Mittelalter jedoch führte sie auch eine ständische Scheidung im Waffenrecht herbei, die die Bauern, als „armen Mann“ der kommenden Zeit, den Rittern gegenüberstellte (unten: § 647). Zu
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den pauperes des 9. Jahrhunderts gehörige Edelingsgeschlechter sind seit dem 11. Jahrhundert sowohl in dem neu sich formierenden Ritterstande als auch im Bauernstande aufgegangen. Die Rechtsverhältnisse dieser neuen Stände wurden indessen nicht mehr von den Edelingen, sondern von den Neufreien bestimmt.
Fünftes Kapitel
Edelinge und Dynasten §§ 124 – 132. Eigentum, Bodenleihe und Steuerpflicht § 124. Die Pflicht, sich als Reiterkrieger mit Schuppenpanzer (brunea, Brünne) auszurüsten, traf jeden Hausherrn, der über mindestens zwölf Hufen Landes verfügte (MGH. Capit. 1, 122 n. 44 c. 6); größerer Besitz erhöhte die Verpflichtung nicht, da der Heerdienst an sich persönlicher Dienst war (G. Waitz Bd. 4 S. 562), während geringerer Besitz nur zu leichterer Bewaffnung verpflichtete (ebd. S. 541 f., 558. A. Dopsch 1921 T. 1 S. 18, 67 f., 335). Die Brünne kennzeichnete den Panzerreiter, und Einkünfte aus einem Dutzend abhängiger Bauernstellen scheinen damals das Minimum gewesen zu sein, welches den Aufwand und Lebensstandard eines solchen Mannes sicherte, denn ebenso teuer wie die Brünne waren das Streitroß und noch einmal die übrigen Waffen des Reiterkriegers. Über die Zusammensetzung und den Wert einer vollständigen Reiterrüstung dieser Zeit unterrichtet ausführlich das Rheinfränkische Recht (Lex Rib. tit. 40 § 11); der Wert summierte sich danach auf 45 solidi und kam damit dem Werte von fünfundvierzig Kühen oder fünfzehn Stuten gleich, dem Großviehbestande also von mehr als einem Dutzend gewöhnlicher Bauernstellen (W. Schulze 1940 S. 8 – 10. J. Durliat 1990 S. 226 mit A. 30). Es ist anzunehmen, daß die zum Panzerreiterdienst herangezogenen Hausherren gleich jenen, die über ein Einkommen aus vier (bis elf) Hufen Landes verfügten und sich als leichte Reiter oder als Fußkrieger auszurüsten hatten, ihre Mansen entweder de proprio suo sive de alicuius beneficio (MGH. Capit. 1, 136 n. 50 c. 1) besaßen, also daran entweder die übergeordnete Gewere des Eigentümers (oben: § 96; propriété éminente: J. Durliat 1990 S. 224) oder eine Lehnsgewere innehatten. Daß freie Grundbesitzer von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihr Hausgut durch Lehnsbesitz zu ergänzen und zu bessern, ergibt sich mehrfach aus Karls Capitularien. Dem Kaiser war bekannt, daß sie ihre Reichslehen von Betriebsmitteln entblößten, um damit ihr Eigengut zu erbauen (ut beneficium domni imperatoris desertare nemo audeat, propriam suam inde construere (ebd. 1, 91 n. 33 c. 6. A. Dopsch 1921 T. 1 S. 128 – 130, 294, 321. E. Lesne 1924 S. 25 f. W. Kienast 1990 S. 219 f.), und daß andere Lehnsherren ihre Macht gegenüber den Leihenehmern dazu benutzten, um diese ihres Eigengutes zu berauben (Quod nullus seniorem suum dimittat . . . excepto si . . . vult . . . hereditatem ei tollere, ebd. 1, 170 n. 77 c. 16. H. Mitteis 1933 S. 88). Die Ansicht, schon im 9. Jahrhundert seien alle Panzerreiter Vasallen gewesen (J. Durliat 1990 S. 222, 224 f.), oder: schon seit der Heeresre-
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form von 807 hätten die Vasallen die auf Grund der allgemeinen Dienstpflicht versammelten Streitkräfte überwogen (W. Kienast 1990 S. 221), wird demnach der wirtschaftlichen Situation vieler wohlhabender Edelinge nicht gerecht. Denn um diese, nicht um die pauperes ging es, wenn von den Friesen einerseits des Kaisers belehnte Vasallen, andererseits caballarii omnes generaliter . . . bene praeparati dem Heere zuziehen sollten, während von den pauperes je sechs dem siebten bei der Ausrüstung behilflich sein sollten (MGH. Capit. 1, 135 n. 49 c. 3). § 125. Die von dem Hausmeier Karl Martell (714 – 741) geschaffene Benefizialleihe war eine freie Leihe: Die Annahme des Lehnsgutes und die Übernahme der damit verbundenen Pflichten tat der ständischen Freiheit des Lehnsmannes keinen Abbruch. Die Leihe kam durch einen Vertrag zustande, der beiden Seiten persönliche, quasi schuldrechtliche Pflichten auferlegte: dem Manne die Leistung eines Treueides und eines auf Kommendation begründeten, besonders strengen Gehorsams im Kriegs- und Verwaltungsdienste, dem Könige dagegen die Herrenpflicht, jenem Schutz und Huld zu gewähren, wozu insbesondere die Darreichung der Mittel gehörte, um den Mann wehr- und dienstfähig, von bäuerlicher Arbeit abkömmlich und fähig zu Rüstung und Reise zu machen. Diese Schuld trug der König ab, indem er dem Manne durch einen ergänzenden dinglichen Vertrag die Lehnsgewere an Mansen oder Villen der königlichen Domäne übertrug. Er bezahlte also seine Vasallen, indem er ihnen bestimmte dem Reiche gehörige (öffentliche) Einkünfte oder Einkunftsquellen zur Nutzung überwies. Denn anders als ein Zinsmann bebaute der freie Lehnsmann das Lehnsgut nicht selbst, sondern ließ es durch Knechte und Zinsleute bebauen, mit denen es bereits der König besetzt hatte: so daß bei der Verleihung lediglich der Empfänger der Zinse und Abgaben wechselte. An die Stelle des Königs (oder einer zuvor von diesem ermächtigten Kirche) trat nun der Vasall (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 182. H. Mitteis 1933 S. 13. J. Durliat 1990 S. 225). Der Unterschied zwischen der vollen Gewere des freien Grundeigentümers (ius et dominium, ius et proprietas) und der minderen Gewere des Lehnsmannes war eindeutig (oben: § 96). Jene war innerhalb des Hauses erblich, diese dagegen befristet auf die Zeit, in der der Vasall die ausbedungenen Dienste wirklich leistete. Verletzte der Vasall seine Pflichten, so konnte der König kraft seiner Obergewere an allem Reichsgute das Lehen ohne weiteres einziehen. Am Eigentum des Edelings besaß der König dagegen eine solche Obergewere nicht. Verletzte ein Edeling seine Wehrpflicht gegenüber Volk und König, so blieb sein Hausgut doch unantastbar, und der König konnte ihn nur nach Kriegsrecht mit einer (oft freilich ruinösen) Geldstrafe belegen, dem sogenannten Heerbann, der sich für jeden Krieger gleichermaßen auf 60 solidi belief und damit noch über den Rüstungskosten des Panzerreiters lag. Darin kommt der Umstand zur Geltung, daß das Lehnsverhältnis auch auf einen dinglichen Vertrag zwischen König und Vasall gegründet war, kraft dessen die Dienstpflicht des Vasallen auf dem verliehenen Lande als solchem ruhte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 208, 276), während die Heerfolgepflicht des Edelings eine rein persönliche, bei der Erhebung des Königs übernommene Verpflichtung
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war: Wer mit der Entrichtung der Heerbannbuße im Rückstande blieb, der konnte die Geldschuld nicht mit der Hingabe von Land oder Sklaven tilgen, da dies ihn und seine Erben auf Dauer unfähig gemacht hätte, sich selbst auszurüsten. Statt dessen mußte er für solange dem status libertatis suae entsagen und sich als Bürgen für seine Schuld in servitium principis ergeben. Starb er, bevor ihn der Wert der geleisteten Arbeit aus dieser Kriegsknechtschaft befreite, so verfiel der Rest der Schuld: Weder seine Erben noch sein Erbgut hafteten dafür über seinen Tod hinaus (MGH. Capit. 1, 166 n. 74 c. 1. A. Dopsch 1922 T. 2 S. 275). Diese zweifellos auf Kriegsrecht beruhende, in Friedenszeiten nicht anwendbare Regel unterstreicht noch einmal, daß nicht die Häuser, sondern die Hausväter den Kriegsdienst schuldeten und daß die Heerfolge eine persönliche Pflicht der liberi homines, also sowohl der Edelinge als auch der Frilinge, war, die die ärmeren unter ihnen schwer belastete. Es blieb ohne Einfluß auf die Rechtsverhältnisse der Freien, daß im Lehnrecht eine dingliche Pflicht zu der persönlichen hinzutrat, kraft deren der König das Lehngut zweifellos auch wegen rückständiger Heerbannbußen einziehen konnte. § 126. Die verfassungspolitischen Wirkungen des Gebrauchs, den die Karolinger darüber hinaus vom Lehnrecht machten, sind später (unten: § 676) zu erörtern; sie bewirkten eine Reform der militärischen Befehlswege und damit der Machtverteilung im bewaffneten Volke. Hier haben wir es mit dem Grundeigentum der Edelinge und Freien zu tun, und da ist festzustellen, daß das Lehnrecht darauf keinerlei Einfluß erlangt hat. Es erfreute sich weiterhin des Schutzes durch die Volksrechte, als dessen Behüter die Edelinge in den Grafengerichten dem Könige und seinem Amtmanne die Urteile wiesen. Die Grafengerichte urteilten auch über alle Rechtsstreitigkeiten um freie Bodenleihen, wenn das Lehngut in ihrem Gerichtsbezirk lag (G. Waitz Bd. 4 S. 462. H. Mitteis 1933 S. 34 – 36, 161. F. L. Ganshof 1961 S. 32 f., 60 f., 172 – 174. K.-F. Krieger 1979 S. 144. S. Reynolds 1994 S. 79, 103 f.). Gegebenenfalls entschieden später die Hofgerichte der Könige und Fürsten zugleich als Lehnsgerichte (G. Waitz Bd. 8 S. 27, 72 f.). Auch für die Gerichtsverfassung galt somit der Grundsatz, daß das Benefizium dem Eigengute gleichzuachten sei (oben: § 122). Diese Erkenntnis bedarf der Betonung insofern, als der Grundirrtum der älteren deutschen rechtshistorischen Forschung noch immer nicht völlig aus der Literatur verschwunden ist, dem zufolge für die altfränkische Zeit überwiegend nur ein Fußheer, für die Karolingerperiode aber ein Reiterheer anzunehmen war, das man sich als Schöpfung Karl Martells und als Produkt eines plötzlichen und binnen kurzer Frist vollzogenen sozialen und rechtsgeschichtlichen Umbruchs dachte. Schon Georg Waitz jedoch hatte sich dieser Ansicht nicht anschließen wollen: „Daß Karl aber ausdrücklicher als früher die Verpflichtung zu Kriegsdienst auf die Inhaber von Benefizien gelegt, oder daß er sonst irgend welche Veränderungen im Heerwesen eingeführt . . . habe . . . , das alles sind Behauptungen, die jeder Begründung entbehren“ (1876 – 96 Bd. 3 S. 20 f.), und heute ist allgemein anerkannt, daß die Verreiterung der germanischen Heere ein weit in die Zeiten der großen Wanderun-
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gen zurückreichender und erst am Ende des hohen Mittelalters abgeschlossener Prozeß gewesen ist (A. Dopsch 1922 T. 2 S. 144 f. E. Pitz 2001a S. 254, 308, 401. Unten: § 647). Entsprechend langsam muß sich auch das Recht der freien Benefizialleihe entwickelt haben. Es bleibt eine Aufgabe der Forschung festzustellen, wann und wie dieses Recht begonnen hat, das Liegenschaftsrecht zu beeinflussen und zu verändern. § 127. Neuerdings hat die Oxforder Mediävistin Susan Reynolds diese Frage in einer groß angelegten Untersuchung für das Fränkische Reich und die in dessen Rechtsnachfolge stehenden Königreiche Italien, Frankreich, England und Deutschland behandelt und dabei das vorstehende Ergebnis bestätigt. Gegenstand ihrer Untersuchung waren „die Rechte und Pflichten, zu denen Freie und Edelinge, einschließlich der sogenannten Ritter, ihr Land besaßen“ (S. Reynolds 1994 S. 45). Im Anschluß an neuere englische Forschungen legt sie als mit dem Grundeigentum des Mittelalters verbundene Befugnisse und Pflichten des Inhabers fest: (1) das Verwaltungs- und Nutzungsrecht, (2) das Recht zu vererben und zu veräußern, (3) das Recht, herrenloses Eigentum zu übernehmen, (4) den Anspruch auf Rechtsschutz, (5) die Pflicht, mit dem Gute für persönliche Schulden zu haften, und (6) die Pflicht, das Gut nicht zum Schaden der Gemeinschaft zu nutzen, sondern dieser daraus Steuer und Hilfe zu leisten (ebd. S. 55 f.). Als Ergebnis ihrer Untersuchungen stellt Frau Reynolds fest, daß die adligen Herren bis ins 12. Jahrhundert hinein hinsichtlich dieser sechs Bedingungen keinen Unterschied zwischen Gütern machten, welche sie als Lehen bezeichneten oder innehatten, und solchen, deren Eigentümer sie waren oder sein wollten (ebd. S. 477). Aus den von ihr geprüften, vorwiegend urkundlichen Quellen gewinnt Frau Reynolds den Eindruck, daß bis dahin der Erwerb und Besitz von Gütern zu Eigentum als das beste Besitzrecht galt und daß Edle und Freie zwar zugaben, bestimmte Güter von Kirchen, selten jedoch vom Könige oder von anderen Edlen, als Lehen zu besitzen, daß sie aber niemals den Begriff des Lehens auf den Hauptbestand ihrer Erbgüter anwandten oder anwenden ließen (ebd. S. 59). Da man nun gewöhnlich annimmt, daß Könige seit der karolingischen Zeit Benefizien nur noch an Vasallen zu vergeben pflegten, daß also das dingliche Rechtsgeschäft der Benefizialleihe mit dem persönlichen Rechtsgeschäft der Kommendation des Leihenehmers in die Vasallität des Königs oder sonstigen Lehnsherrn zu einer einheitlichen Institution verschmolzen wäre (unten: § 675), so sah sich Frau Reynolds genötigt, aus ihrem Befunde sehr weitreichende Konsequenzen zu ziehen. Denn auf Grund jener Annahme hatte man die sehr zahlreichen urkundlichen und sonstigen Nachrichten über Benefizialleihen dazu verwenden können, auf eine allgemeine Verbreitung auch der Vasallität seit dem 9. Jahrhundert zu schließen, obwohl an Nachrichten darüber, daß sich Lehnsleute wirklich ihrem Herrn als Vasallen ergeben hätten, in den Quellen des 9. bis frühen 12. Jahrhunderts, solange also die Verfassung der west- und mitteleuropäischen Königreiche erkennbar auf den allmählich verblassenden karolingischen Grundlagen beruhte, durchaus kein Überfluß herrscht. Dieser Schluß auf die Ausbreitung der Vasallität wäre jedoch,
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wenn es zutrifft, daß in jenem Zeitalter das Eigentum vorherrschendes Grundbesitzrecht geblieben wäre, nicht mehr aufrechtzuerhalten, und so erklärt die Verfasserin, während der genannten Jahrhunderte des Hochmittelalters seien die Großen keineswegs Vasallen der Könige, sondern deren Untertanen nach Volks-, Landund Königswahlrecht gewesen; auf Landrecht, nicht auf Landleihe hätten ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und den Königen beruht, und so stelle sich die Frage, mit welchem Recht man Monarchien feudal nenne, deren Könige zwar einige Vasallen besaßen, im wesentlichen aber über ungebundene Untertanen geboten (ebd. S. 12). Frau Reynolds will daher das Wort Feudalismus aus der Geschichte des hohen Mittelalters verbannen, da die Belege nicht ausreichten, um für diese Zeit eine feudale Gesellschaft nachzuweisen (S. Reynolds 1997 S. 32). Diese Erkenntnisse sind (auch in Deutschland) auf harsche Kritik gestoßen, was den Leser füglich verwundern mag, da wir sehen werden, daß sie vielfach Gedanken und Probleme aufnehmen, die in der älteren Literatur bereits diskutiert worden, dann aber ungelöst liegengeblieben sind, als sich das erkenntnisleitende Interesse der Forschung von der Verfassungsgeschichte ab- und der Sozialgeschichte zuwandte. Wir werden bei unserer Stellungnahme so vorgehen, wie es die Quellenzeugnisse der Forschung seit jeher nahegelegt haben, so daß wir hier, wo wir es mit dem germanischen Hause und den hausherrlichen Befugnissen zu tun haben, zunächst die Benefizialleihe als Institution des Sachenrechts erörtern. Dagegen muß die Frage, ob auch die Grafschaften und andere hoheitliche Ämter als Benefizien betrachtet und behandelt worden seien, in Verbindung mit der Verfassung der Gerichtsverbände und dem Verfahren der Ämterbesetzung überhaupt erörtert werden, von dem die Belehnung lediglich einen Teil ausmachte (unten: Sechzehntes Kapitel). Die Verschmelzung der Benefizialleihe mit der Vasallität und die Frage, ob die Gesellschaftsordnung des Hochmittelalters wesentlich vom Feudalismus gekennzeichnet gewesen sei, ist schließlich im Zusammenhange mit der Reichsverfassung jener Zeit zu diskutieren (unten: § 554 und Neunzehntes Kapitel). § 128a. Was zunächst das sachenrechtliche Problem anlangt, so ist zuzugeben, daß Frau Reynolds es ihren Lesern nicht leicht macht, da sie niemals Auszüge aus den zitierten Quellen bietet und sich damit jeder systematischen Interpretation verweigert (E. Magnou-Nortier 1996 S. 269 f., 294); dies werden namentlich diejenigen Leser bedauern, denen gegenwärtig ist, wie sorgfältig Georg Waitz und Gerhard Seeliger in einer Anmerkung „über die Namen, welche Lehen bezeichnen,“ alle Belegstellen zitiert haben (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 112 – 138), eine Materialsammlung, die die Verfasserin zu ihrem Schaden ebensowenig zur Kenntnis genommen hat wie andere wichtige Resultate der rechtsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts. Sie mag dazu veranlaßt worden sein durch den Umstand, daß uns zur Erörterung des Problems die Überlieferung des Hochmittelalters so gut wie ausschließlich Urkunden und Erzählungen zur Verfügung stellt, während sich jene Forschung (nicht jedoch G. Waitz) vorwiegend auf das Studium der zeitlich älteren Volksrechte und der jüngeren Rechtsbücher stützte. Sei dem wie ihm wolle: Als Ergebnis jedenfalls bleibt festzustellen, daß Frau Reynolds zwar den Begriff des
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Eigentums eindeutig als subjektives Recht (englisch rights, die Berechtigungen und Pflichten des Eigentümers, im Gegensatz zum objektiven law) definiert (S. Reynolds 1997 S. 32), daß ihr aber die Übereinstimmung dieses Begriffs mit dem längst und gut bekannten der fränkisch-deutschen Gewere, die dem freien Hausherrn über das Haus- und Erbgut seiner Vorfahren zustand (oben: §§ 94 – 99), verborgen bleibt. Macht man sich diese Übereinstimmung klar, so wird man sich dem Vorwurf nicht anschließen können, die Verfasserin habe „an die Stelle des bestimmten Inhalts des Eigentumsrechts (loi de propriété) mit zahlreichen Facetten ein abstraktes Eigentumsrecht gesetzt, das wie ein Wesen behandelt wird, von dem man nicht weiß, woher es kommt und was es enthält“ (E. Magnou-Nortier 1996 S. 347 f.). Vielmehr dürfte die Rechtsgeschichte der Gewere der Lehre von Frau Reynolds eine kräftige Stütze darbieten. Was ist ihre full property anderes als „der Begriff des Eigentums als des vollsten Rechts, das man an einer Sache haben kann, als des auf Beherrschung der Sache im ganzen gerichteten Rechts“, der dem deutschen Liegenschaftsrecht seit ältester Zeit bekannt war (R. Hübner 1930 S. 241, mit Verwendung von Formulierungen H. Brunners und O. Gierkes)? Nach G. Waitz (1876 – 96 Bd. 4 S. 177 – 233, 340, Bd. 6 S. 112 – 138) ergibt sich folgende Entwicklung des Rechtes der Bodenleihe: Für uns erkennbar namentlich aus den Güterverzeichnissen (Polyptychen) der großen kirchlichen Grundherrschaften der Karolingerzeit, bildete sich allmählich ein Gegensatz zwischen Benefizien und gewöhnlichen Zinsgütern derart heraus, daß die letzteren von ihren (bäuerlichen) Inhabern selbst bebaut wurden, während der Empfänger eines Benefiziums das Gut durch Knechte und Liten bebauen ließ; die Benefizialleihe bewirkte also keinerlei Veränderung im Gutsbetrieb, sondern lediglich einen Wechsel auf Seiten der Empfänger der Abgaben (ebd. Bd. 4 S. 181 f.). Die meisten Nachrichten über solche Benefizien betreffen Leihen von Kirchengut (ebd. S. 183 – 202). Häufig mußten die Kirchen im Westen des Reiches – im östlichen Reichsteil kam dies selten vor, da hier altes Kirchengut nur ausnahmsweise vorhanden war – Benefizien auf Befehl des Königs an Männer vergeben, die der König ihnen benannte und von denen sie den fünften Teil der Abgaben als Leihezins empfingen. Bei Benefizien, die sie freiwillig erteilten, setzten sie dagegen den Zins in sehr verschiedener Form und Höhe fest, so daß die Zahlung bald wirklich als Entgelt für die Nutzung des Gutes, bald nur als Anerkennung ihres Eigentumsrechtes erscheint; auch verlangten sie anstatt des Zinses oder neben diesem noch andere Leistungen, z. B. Botendienste, insbesondere solche, die zu Pferde zu erbringen waren. Ähnliche Verhältnisse glaubte Waitz bei den spärlich bezeugten, von Weltlichen erteilten Benefizien annehmen zu dürfen (ebd. S. 202 f.). Dagegen waren die vom Könige aus Reichs- oder Königsgut vergebenen Benefizien in der Regel nicht zinspflichtig, sondern mit Verwaltungsarbeit zu verdienen, bei deren Leistung sich die Beliehenen gegenseitig beizustehen hatten (ebd. S. 203 – 211). Ferner verpflichtete der König die Beliehenen, da er ihnen kein Eigentum, sondern nur den Nießbrauch
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des Gutes gewährte, dazu, das Gut instandzuhalten und es nicht zu veräußern, was aber die Befugnis des Lehnsmannes, es weiter zu verleihen, nicht ausschloß. Kriegerische Dienste gehörten nicht zu den Lehnspflichten, sondern ruhten auf dem Lande als solchem und waren unabhängig davon, ob der Eigentümer oder ein Lehnsmann es nutzte und daher dem Heere zuziehen mußte (ebd. S. 208, 276). Dementsprechend waren nicht nur Krieger, sondern Personen aller Lebensweisen und Stände, vom Könige bis herab zum unfreien Knechte, fähig, Benefizien zu empfangen. Sie traten in ein persönliches, d. h. ein von ihrer Seite aus nicht auf andere Personen, auch nicht auf ihre Erben, übertragbares Vertragsverhältnis zu ihrem Lehnsherrn ein und verloren das Lehnsgut, sobald sie es versäumten, den Lehnsvertrag zu erfüllen: Unter dieser Bedingung konnte der Eigentümer des Gutes die Leihe widerrufen (ebd. S. 218 – 227). Die weitere Entwicklung und die näheren Umstände kennen wir fast nur aus den Traditionsnotizen und Urkunden über verliehenes Kirchengut aus dem 9. bis 12. Jahrhundert, denen die geistlichen Grundherren eine mehr oder weniger sorgsame Aufbewahrung angedeihen ließen (A. Dopsch 1921 T. 1 S. 103 – 110). Ganz gleichlautend mit beneficium wird darin seit dem 9. Jahrhundert das Wort precaria oder precarium gebraucht, und zwar namentlich für solche Güter, die deren freie Eigentümer in der Absicht, den Schutz eines Mächtigen zu gewinnen (unten: § 134), einer Kirche schenkten, um sie zugleich auf ihre Lebenszeit zu Nießbrauch zurückzuempfangen (G. Waitz Bd. 6 S. 112 – 122. S. Reynolds 1994 S. 93, 96 f., 110). Ein solches Gut besaß der frühere Eigentümer nun non proprium sed beneficiarium, non ut proprium sed in precariam datum, ganz so, wie es vorher auch oft vom Benefizium gesagt worden war; er nutzte es beneficiali (beneficiario, beneficii) iure oder lege precaria (secundum precarium ius), und oft wurde hinzugesetzt, daß er es lediglich auf Lebenszeit (ad finem vitae suae, usque ad vitae suae terminum, quamdiu vixerit u. ä.) (zurück-)empfangen und besitzen sollte. Wenn ihm dabei ein Recht auf freie Verfügung zugestanden wurde, so war damit lediglich die Befugnis, das Gut (gegen anderes Leihegut derselben Kirche) zu vertauschen oder die Nutzungsart zu verändern, gemeint (G. Waitz Bd. 6 S. 118). Einen Unterschied zwischen Besitz zu Eigentum und solchem zu Leiherecht fand Waitz vor allem darin, daß manche Traditions- und Precarienverträge den Ausschluß des wichtigsten Merkmals des Eigentums, nämlich der Vererblichkeit des Gutes auf unmittelbare Leibeserben des Inhabers, vorsahen. Namentlich in bayerischen Traditionen fand Waitz häufig Formulierungen wie (bona) in ius et proprietatem usque in finem vitae suae possidenda, usque in finem vitae suae in hereditariam proprietatem tradere, hereditario iure usque ad obitum vitae suae (possidere), ut quamdiu viveret ipse earundem rerum potestativus heres existat. Ebenso konnte gesagt werden, ohne daß damit ein scharfer Gegensatz gemeint war: in proprietatem seu beneficium possidere, denn häufig war das, was so zum Nießbrauch gegeben, vorher beneficium des Empfängers gewesen, der nun sua beneficia omnia in proprietatem habere usque ad finem vitae suae oder beneficium in proprium tenere usque ad finem suum sollte. Mitunter wurde sogar der Ausdruck
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eigentümliches Benefizium (beneficium propriale, accipere in proprium beneficium) für diesen Besitz auf Lebenszeit gebraucht. Ganz dasselbe wie die Verwandlung von Beneficium in lebenslängliches Eigentum bedeutete es, wenn das, was früher Beneficium war, jetzt per precariam vergeben wurde. Wohl nur damit, daß weder Frau Reynolds noch ihre deutschen Kritiker mit der Verfassungsgeschichte von Georg Waitz bekannt und vertraut sind, ist es zu erklären, daß noch niemand bemerkt hat, wie genau die Ausführungen von Waitz mit denen der englischen Historikerin (S. Reynolds 1994 S. 423 – 440) übereinstimmen (siehe auch unten: § 675). Was mochte ein erbrechtliches Innehaben bedeuten, wenn es den Eintritt des Erbfalls selbst ausschloß? Und warum wandelte man Benefizien in Eigentum auf Lebenszeit oder in Prekarienbesitz um? Waitz meinte, die Umwandlung habe für den Inhaber vorteilhaft gewesen sein können, wenn sie mit Minderung oder vollständigem Erlaß des Zinses für den Nießbrauch verbunden war; andernfalls habe sie wohl nicht mehr als eine Erweiterung der bescheidenen, dem Nießbraucher zustehenden Verfügungsrechte bewirkt, von denen oben die Rede war. Was die Regelung der Erbfolge anlangt, so wäre indessen zu erwägen, ob sie nicht namentlich dann erfolgte, wenn es dem Tradenten an Leibeserben mangelte. Alemannische Donatoren des 9. Jahrhunderts pflegten nämlich durchaus die natürliche Nachfolge im Hausgute und, wenn ihnen Kinder (noch) nicht geboren worden waren, das gesetzliche Erbrecht der Seitenverwandten zu respektieren, wobei es ihnen darum ging, Vollstrecker ihres letzten Willens zu gewinnen, die nach ihrem Tode die bewidmete Kirche dazu anhalten konnten, die Bedingungen ihrer Tradition einzuhalten (unten: § 296). Im allgemeinen aber wäre zu bedenken, daß die wissenschaftlich nicht durchgebildete Rechtssprache dieser Zeit überall von der Abneigung der Laien, die das Recht formulierten, gegen klare, ein anderes eindeutig ausschließende Begriffsbildung und von ihrer Vorliebe für ineinander verfließende Rechtsgedanken Zeugnis ablegt. Für ein solches Rechtsdenken mußte der Unterschied zwischen dem beschränkten Nießbrauchsrecht des Prekaristen und dem Eigentum des freien Hausherrn verdunkelt werden durch den Umstand, daß auch der letztere in der Verfügung über das Gut seines Hauses ursprünglich auf Tausch und Umnutzung beschränkt war (oben: § 91) und daß sich allein die nach römischem Vulgarrechte lebende Kirche für sein Individualeigentum und Recht zu tradieren einsetzte. Zu keinem anderen Ergebnis ist auf ihrem Wege Frau Reynolds gelangt: Das Recht der Benefizialleihe hat das germanische Eigentumsrecht zwar erweitert und ergänzt, nicht aber aufgehoben oder verdrängt. § 128b. Die vorgetragenen Befunde sind später von A. Dopsch (1921 T. 1 S. 227 – 230) und unabhängig von Waitz, den er nicht kannte, von E. Lesne bestätigt worden. Was die sehr schwierige Abgrenzung der Prekarien- gegen die Benefizialleihe betrifft, so stellte Dopsch fest, daß die Prekarie tendenziell eher dem Bedürfnis der Kirchen entsprach, bestimmte Güter durch Ausbedingung von Zinsen und wirtschaftlich nutzbaren Diensten zu verwerten, während das Benefizium
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eher den Bedarf der Könige an Hof- und Kriegsdiensten befriedigen sollte und sich daher in der Regel auch auf ein größeres und ertragreicheres Gut bezog als jene. Lesne betonte, daß das Wort Benefizium in karolingischer Zeit einerseits, und noch ganz im alten Sinne als Wohltat, ein Rechtsgeschäft bezeichnete, kraft dessen der König, eine Kirche oder ein Laie (Laien freilich häufiger erst im 10. Jahrhundert, E. Lesne 1924 S. 20 f.) einem Bittsteller den widerruflichen oder prekären Besitz eines Gutes gewährte (ebd. S. 6 – 8); andererseits verstand man darunter die verliehene Sache selbst, nämlich das von Knechten bebaute, Abgaben liefernde Gut, wobei der Leiheherr innerhalb seines Eigentums das indominicatum, das er selbst nutzte, von den ausgegebenen beneficia, der Leihenehmer dagegen das beneficium, an dem er nur das Nutzungsrecht besaß, von seinem freien Eigengut (proprium) unterschied (ebd. S. 9 – 26). Die Rechte und Pflichten beider Seiten entzogen sich früh einer beliebigen vertraglichen Gestaltung; vielmehr folgten die Beteiligten einem gemeinen Recht, nach dem Lehen Personen aller Stände zugänglich waren (ebd. S. 26 f.). Seit dem 9. Jahrhundert erst hätten sich daneben besondere Lehen entwickelt, von denen der Lehnsherr einen speziellen Dienst, etwa den eines Pfarrers an seiner Eigenkirche oder eines Verwalters seiner Gerechtsame und Hoheitsrechte, verlangte, daher er sich bei deren Vergabe auf Personen bestimmten Standes wie Kleriker oder Edelinge beschränkte (ebd. S. 27 – 55). Überschaut man diese Befunde, so drängt sich der Eindruck auf, den Urkundenforschung und Rechtsgeschichte noch zu bestätigen hätten (bei G. Waitz Bd. 6 S. 4 – 8 ist er nicht deutlich ausgearbeitet), daß die treibende Kraft der Entwicklung weniger das Königtum gewesen wäre als einerseits das Interesse der Kirchen, welche Schutz suchenden oder um ihr Seelenheil bangenden Laien Schenkungen ihres Eigentums an geistliche Stifter und Klöster ermöglichen wollten und zu diesem Zwecke die den germanischen Rechten unbekannten Institutionen des Testaments und des Individualbesitzes (oben: §§ 91, 100) auf Lebenszeit in Umlauf zu bringen bestrebt waren, und andererseits das Interesse der Donatoren, die sich vielleicht gerade deswegen, weil sie sich manchmal ziemlich rücksichtslos über die Anrechte ihrer Kinder hinwegsetzten, um so mehr darum bemühten, für das ihnen verbleibende Nutzungsrecht denselben Rechtsschutz zu gewinnen, den sie zuvor für ihr Eigentum genossen hatten. Wohl nur so lassen sich jene auf den ersten Blick widersprüchlichen Formeln erklären, die ihnen ein Erbrecht oder erbliches Eigentum auf Lebenszeit, also derart, daß die natürliche Erbfolge niemals eintreten konnte, zusicherten. Man sieht, wie schwierig es ist, unter diesen Umständen etwas über die Ausbildung der Erblichkeit von Benefizien in dem Sinne auszusagen, daß die Entscheidung darüber von dem Lehnsherrn (der stets befugt gewesen war, die Nutzung eines Gutes auf Antrag den Nachkommen des verstorbenen Inhabers zu überlassen) auf den Lehnsmann selbst und dessen Hausgemeinschaft überging. Trat dieser Übergang ein, so unterschieden sich Eigengut und Lehen nur noch formal voneinander, nämlich dadurch, daß die Hausgenossen bei Veräußerung und Vererbung von Lehen die Auflassung durch den Lehnsherrn herbeiführen mußten, während
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sie ihr Eigen selbst gerichtlich auflassen konnten. Dies war der im Spätmittelalter allgemein erreichte Zustand. Wann und wie er herangereift ist (dazu G. Waitz Bd. 8 S. 143 – 145, besonders 144 Anm. 3; S. Reynolds 1994 S. 66 – 69, 477 – 479), das hätten Urkundenforscher und Rechtshistoriker noch festzustellen. Bedingung dafür wäre, daß das „Prinzip der Erblichkeit der Lehen“ (G. Waitz Bd. 6 S. 80) seinem Rechtssinne nach, d. h. so, daß es die widersprüchlichen Interessen der Kirchen und der Leihenehmer auszugleichen vermochte, definiert wird. Als maßgebliches Merkmal des Lehens und Lehnsrechtes (ius beneficiale) bleibt also übrig, daß Lehngut, zum Schutze der Eigentumsrechte des Lehnsherrn, niemals anders als zur Nutzung unter Schonung der Substanz und niemals unbefristet oder gar erblich ausgegeben wurde, sondern stets befristet auf die Zeit der Dienstfähigkeit oder die Lebenszeit des Beliehenen und stets unter der Bedingung, daß dieser die Dienstpflichten erfüllte. Es hat also Frau Reynolds’ Ansicht sehr viel für sich, daß die Benefizialleihe eine Schöpfung der Kirchen war, die sich das Eigentum an den Lehen sichern wollten, welche sie oft genug nicht aus freiem Willen, sondern auf Befehl des Königs oder auf Verlangen mächtiger Laien ausgeben mußten, deren sie sich anders nicht zu erwehren wußten, und daß es daher nicht ratsam ist, die Anwendung der uns aus kirchlichen Urkunden bekannten Lehnrechtsregeln auch bei weltlichem Leihegut vorauszusetzen, obwohl dessen Vertragspartner nicht nach römischem Rechte lebten und daher keine Vorstellung von Individualeigentum besaßen (S. Reynolds 1994 S. 62 – 64, 477). § 129. Ziemlich ratlos stehen wir vor der Frage, ob die Könige aus karolingischem Hause befugt waren, von ihren freien Untertanen über Heer- und Gerichtsfolge hinaus noch Geldsteuern in der Art einzufordern, wie einst die römischen Kaiser von allen freien Reichseinwohnern das tributum erhoben hatten. Dabei hatten die Kaiser die Freiheit der Steuerzahler dadurch gewahrt, daß sie die Finanzverwaltung auf verschiedene, sich gegenseitig kontrollierende Instanzen verteilten. Die Veranlagung der Bauern zur Steuer (fiscalis censura) hatten sie sich selbst vorbehalten und durch ihre Statthalter ausgeübt; außerdem hatten sie selbst den Steuerfuß gemäß dem erwarteten Bedarf von Jahr zu Jahr neu vorgeschrieben (indictio). Die Führung der Katasterbücher (libri censuales, polyptici) und das Einheben und Verwahren der Steuergelder dagegen hatten sie den Stadtgemeinden in Auftrag gegeben; diese wiesen die Hebebezirke (villae, fundi) in alljährlichem Wechsel den wohlhabenden Dekurionen (possessores) zu, die diese Arbeit als leiturgische Bürgerpflicht (munus) hatten übernehmen müssen. Den Verwendern der staatlichen Geldmittel – je zu einem Drittel den kaiserlichen Zivilbehörden, den Truppenteilen des Heeres und den Stadt- und Kultusgemeinden – war jeder unmittelbare Zugriff auf die Steuerzahler und -erheber verwehrt. Nur auf ausdrücklichen kaiserlichen Befehl hin hatten die Erheber ihnen Gelder aus ihrem Vorrate überweisen dürfen (J. Durliat 1990, danach E. Pitz 2001a S. 91 – 94, 500). Im 5. und 6. Jahrhundert hatten die Könige der Westgoten, Burgunder, Franken und Langobarden diese Einrichtungen in Gallien und Italien übernommen. Wie
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aber stand es in den Gebieten östlich des Kohlenwaldes, der oberen Mosel und der Vogesen, wo Franken und Alamannen die römische Bevölkerung vertrieben und die römische Verwaltung zerstört hatten, und gar in den Ländern östlich des Rheins, wo nie eine römische Verwaltung existiert hatte? Es gibt Anzeichen dafür, daß die Könige von Austrasien im 6. Jahrhundert dort die römische Steuerverwaltung wieder- oder neu einrichten wollten, und für den Erfolg spricht der Umstand, daß ein seit 531 an Saale und Unstrut geschaffener Steuerhebebezirk noch im Jahre 780 von Karl dem Großen dem Kloster Hersfeld zur Verwaltung übergeben und von den Mönchen noch am Ende des 9. Jahrhunderts in einem Einkünfteverzeichnis beschrieben werden konnte (UB Hersfeld 1, 26 n. 14, 65 n. 37. R. Wenskus 1977. E. Pitz 2001a S. 235, 260). Wie wir gesehen haben, müssen seit 531 auch Sachsen und Thüringer die Kunst beherrscht haben, Lasten der Allgemeinheit auf deren Mitglieder umzulegen (oben: § 81). Indessen im 7. und 8. Jahrhundert war zusammen mit der Macht des Merowingerhauses auch die römische Verwaltung endgültig verfallen, und mit dem Wegfall königlicher und lokaler Behörden, die sich gegenseitig kontrolliert hatten, war auch die Königsunmittelbarkeit und Freiheit der Steuerzahler untergegangen. Seit die königliche Regierung keine Indiktionen mehr errechnete, war die Steuerlast für immer unveränderlich geworden und ruhte als Fixum auf dem Gute jeder freien Hausgemeinschaft. Bischöfe und Äbte, die im Auftrage der Könige die Nachfolge der kaiserlichen Behörden angetreten hatten, übten unkontrolliert die fiscalis censura aus und benutzten ihre Macht dazu, in dem von Bargeld weitgehend entblößten Lande die Zahlungspflichten der Bauern in Arbeitsdienste umzuwandeln, die in den Ställen und auf den Äckern der Steuerhebestellen abzuleisten waren. Seit die antiken Stadtbehörden (Kurien) vergangen waren, die die Erheber hatten kontrollieren und jährlich auswechseln können, hatten sich diese in erbliche Inhaber (possessores) ihrer Hebebezirke und schließlich in Amtleute (villici, actores) der Bischöfe und Äbte verwandelt, die nun (als domini, seniores, potentes) alle früher getrennten steuerlichen Befugnisse in einer Hand vereinigten (J. Durliat 1990 S. 256 – 261, 277, 289). Aus den antiken Hebebezirken waren mittelalterliche Grundherrschaften, aus Bischöfen und Äbten geistliche Grundherren geworden, die die steuerpflichtigen Bauern zu mediatisieren suchten, indem sie ihnen den Zugang zum Königsgericht verlegten und selbst für die Erfüllung der Pflichten eintraten, die die steuerpflichtigen Bauern einst als Freie gegenüber dem Reiche erfüllt hatten. So verwandelten sich die Bauerngüter in mansi ingenuiles und tauschten die Bauern ihre alte ständische Freiheit gegen eine zwischen Freiheit und Unfreiheit schwebende Hörigkeit ein (J. Durliat 1990, danach E. Pitz 2001a S. 261 – 264, 272, 362). Indessen sind zweifellos nicht alle bäuerlich lebenden edlen oder freien grundsteuerpflichtigen Hausherren in dieser Hörigkeit aufgegangen. Hierauf hinweisende Indizien fand die ältere Forschung darin, daß die Domänenverwalter Karls des Großen auch censa und Leistungen de liberis hominibus et centenis, qui partibus fisci nostri deserviunt, zu erheben hatten (MGH. Capit. 1, 82 n. 32 c. 62) und daß
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es Landgüter respective mancherlei terra tributaria gab, unde census (tributum) ad partem regis exire solebant (solebat); dies aber waren Güter, daran die Inhaber das freie, erbliche und veräußerliche Eigentum besaßen (ebd. 1, 176 n. 80 c. 11, 285 n. 140 c. 2), ohne irgendeiner Grundherrschaft unterworfen zu sein. Eine solche Grundsteuer (census) war ferner die stuofa, die uns später unter dieser ahd. Bezeichnung in einigen Provinzen des Ostfränkischen Reiches begegnet. Sowenig es daher im Mittelalter auch eine wirklich öffentliche Steuer gab, so sind doch offenbar direkte, wenn auch seit alters fixierte Abgaben der einen oder anderen Art, die freilich nicht mehr gemeinhin von allen, sondern nur noch von bestimmten freien Leuten zu leisten waren, häufiger vorgekommen, als man nach dem allgemeinen Grundsatz anzunehmen geneigt sein mag, dem zufolge sich die Pflichten der edlen und freien Hausherren gegenüber dem Könige auf Heer- und Gerichtsfolge beschränkten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 115 – 118, Bd. 8 S. 385 – 393). Möglicherweise war das Heberecht später ein Bestandteil jener Hoheitsrechte, die die Könige regelmäßig ihren Grafen überließen (ebd. Bd. 7 S. 31). Dieser Ansicht hat später A. Dopsch (1921 – 22 T. 1 S. 197 – 201) insofern widersprochen, als er in den Zinsen und Tributen, welche dem Könige aus terrae censales zuflossen, lediglich privat- oder leiherechtlich begründete Grundzinse sehen wollte, da der König wegen der (im 19. Jahrhundert noch nicht erkannten) Streulage des Fiskalgutes viele Grundstücke gar nicht anders denn durch Vergabung an Freie gegen Zins habe verwerten können. Dagegen erkannte Dopsch an, daß die Worte census und tributum auch öffentliche Steuern von der Art bezeichnen konnten, wie sie die Normannensteuern von 860 und 866 oder die Jahresgaben (annua dona), welche die Großen dem Herrscher zu entrichten hatten, aber auch die Osterstufe darstellten (ebd. T. 2 S. 272 f., 346 – 352). § 130. Die erste rein nach germanischen Begriffen entworfene Steuer, die die abendländische Geschichte kennt, war der Kirchenzehnte, den zu entrichten König Pippin I. (751 – 768) durch ein Gesetz, dessen Datum wir nicht kennen, allen Hausherren in seinem Reiche zur Pflicht machte: ut unusquisque homo, aut vellet aut nollet, suam decimam donet (MGH. Capit. 1, 42 n. 17, 46 n. 20 c. 7. R. Puza in LMA 9 Sp. 499 – 501). Die Zehntpflicht war an sich eine sakralrechtliche Pflicht, die zu erfüllen fromme Bischöfe und Kirchenlehrer den Christen längst auf die Seele gebunden hatten; nur deswegen gelang es den Karolingern, sie rasch zu allgemeiner Anerkennung zu bringen, als sie ihr nun auch den Schutz des weltlichen Rechtszwanges zuwandten. Zum Empfang berechtigt waren die Pfarrer und Pfarrkirchen, deren Seelsorge die Eingesessenen eines jeden Kirchspiels regelmäßig abforderten; nur indirekt kam die Zehntpflicht auch den Bischöfen zugute, da sie diese von der Notwendigkeit befreite, die Pfarrer und Pfarrkirchen ihrer Diözese aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Die Zehntpflicht begründete keine Bringschuld der Hausherren, sondern eine Holschuld des Pfarrers, der zwar das ihm Zustehende selbst in den Ställen und Gärten und auf den Feldern seines Bezirkes einsammeln mußte, um zu seinem
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Rechte zu kommen, dafür aber auch keinerlei schriftlichen Verwaltungsaufwand zu betreiben brauchte. Zehntpflichtig waren an sich alle Einkünfte eines jeden Hauses. Das waren zunächst die Erträge sowohl der Grundstücke, die ein Hausherr nutzte, seiner Äcker, Weinberge und Baumgärten, als auch seines beweglichen Kapitals an Groß- und Kleinvieh und deren Produkten. Auf das Kapital des Handwerkers und Kaufmanns hat sich jedoch die Zehntpflicht nie erstreckt, da die Aufgabe, dessen Betrag zu bestimmen und zu erfassen, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Pfarrer weit überstieg. Der Kirchenzehnte entwickelte sich daher rasch zu einer auf Grundstücken und Hofstätten ruhenden Reallast, deren Entnahme durch den Pfarrer ein jeder, gleich welchen Standes, zu dulden hatte, wenn er von jenen die Früchte zog. Das karolingische Zehntgebot kam zunächst den Fiskalkirchen zugute, d. h. denjenigen Pfarrkirchen, die der Herrscher selbst auf Königs- und Reichsgut zur Versorgung seiner freien und unfreien Hintersassen errichtete. Im Jahre 818 / 819 erlangten aber auch die übrigen geistlichen und weltlichen Grundherren das Zehntrecht für neugegründete und mit Eigenkirchen versehene Villen (MGH. Capit. 1, 275 n. 138 c. 11). Es war eine Bestimmung, die reiche Haus- und Grundherren dazu anspornte, sich durch Kolonisation und Kirchgründung weitere Einkünfte zu erschließen, denn nach dem Vorbilde der Gerichtsgefälle, die ihnen die Hofgerichte abwarfen, behielten sie in der Regel zwei Drittel der Zehnterträge für sich, und nur das dritte überließen sie ihrem Pfarrer. Bei der Ausgrenzung neuer Pfarr- und Zehntbezirke aus älteren größeren Kirchspielen war daher ein Zusammenwirken des Bischofs mit dem grundherrlichen Siedlungsunternehmer erforderlich, das diese Terminationen zu Maßnahmen ebensosehr der weltlichen wie der kirchlichen Gemeindeverfassung machte. Urkundlich oft genau verfolgbar, setzte sich die Aufgliederung der Pfarr- und Zehntgemeinden bis ins spätere Mittelalter fort (H. E. Feine 1955 S. 170, 175). § 131. Ganz dunkel ist die Geschichte der Heersteuern, die Kaiser Karl der Große zu Beginn des 9. Jahrhunderts eingeleitet hat. Als er in den Jahren 807 und 808 den Umfang der Dienstpflicht nach der Größe des Besitzes regelte, von dem ein jeder freie Hausherr die Früchte zog, bestimmte er, daß, wer, den Umständen seiner Region entsprechend, mindestens drei, vier, fünf oder sechs Hufen Landes besaß, in Person und mit der Rüstung eines Fußkriegers oder leichten Reiters im Heere dienen sollte; wer dagegen weniger Hufen besaß, der sollte sich mit anderen, gleich geringen Hausvätern zusammentun, um gemeinsam einen aus ihrer Mitte derart auszurüsten, daß die Daheimbleibenden dem Reisigen eine Beihilfe (adiutorium) zu den Kosten der Ausrüstung leisteten (MGH. Capit. 1, 134 n. 48 c. 2, 135 n. 49 c. 2, 136 n. 50 c. 1. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 558 – 570. A. Dopsch 1922 T. 2 S. 19. J. Durliat 1990 S. 222 f., 226 f.). Da die Bedürfnisse des Aufgebotes von Jahr zu Jahr wechselten und der König die Hufenbesitzer wegen des adiutoriums unmittelbar untereinander verbindlich machte, ist die ältere Annahme sehr schlecht begründet, der zufolge aus dem adiutorium eine dauernde, dem Könige oder dessen Grafen zustehende Jahressteuer hervorgegangen sei, welche die per-
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sönliche Wehrpflicht der kleinen Grundbesitzer abgelöst habe; in dieser Ablösung der persönlichen Wehrpflicht durch eine Heersteuer hatte man die Ursache für eine Standesminderung dieser ärmeren freien Leute erkennen wollen, aus der sich die noch dem Sachsenspiegel bekannten Stände der Bargilden und Pfleghaften herleiten sollten. Georg Waitz dagegen ordnete eine etwa aus dem adiutorium herrührende Heersteuer nicht der Grafschaft, sondern dem Hof- und Dienstrecht des hohen Mittelalters zu (1876 – 96 Bd. 8 S. 158 f.). Allein die Urkunden, die uns über Schenkung und Erwerb von Grundstücken unterrichten, wissen zu keiner Zeit von einem Unterschied zwischen steuerbelastetem und steuerfreiem Lande, und auch die genannten Kapitularien reden nicht von einer Aufhebung der Wehrpflicht der kleinen Grundbesitzer, sondern gehen von deren Fortbestand aus, auch wenn die bevorzugte Verwendung von Reiterkriegern für Angriffskriege deren praktische Bedeutung immer mehr auf die Landwehr, die Verteidigung des eigenen Landes gegen fremde Angreifer, beschränkte. Wenn also eine Heersteuer schwerlich die Grundlage des Status der späteren Bargilden abgegeben haben kann (Ph. Heck 1931 S. 203 – 207. R. Schmidt-Wiegand in LMA 1 Sp. 1460), so mag man geneigt sein, in diesen eher die Nachfahren jener nach römisch-merowingischem Steuerrecht tributpflichtigen Freien zu sehen, die nicht in grundherrlichen Hörigenverbänden aufgegangen sind (oben: § 129). So mögen die Bargilden des Würzburger Herzogsprivilegs von 1168 Nachfahren solcher franci homines des 8. Jahrhunderts sein, deren tributum, steora vel ostarstuofa, heribanni und (weltliche) Zehnten in den späteren Bestätigungen der verlorenen Schenkungsurkunden des Bistums sichtbar werden (G. Waitz Bd. 7 S. 31 A. 3, S. 166. K. Bosl 1957 S. 201. K. Lindner 1972 S. 145). Das germanische Wort Osterstufe könnte lat. census übersetzt haben, das Wort für den auf Freihufen, mansi ingenuiles, gelegten weltlichen Zehnten, wie ihn auch Kloster Hersfeld an Saale und Unstrut erhob. Dieser mag auf die spätantike Grundsteuer (iugatio) zurückgehen, während tributum, als Nachklang der spätantiken Kopfsteuer (capitatio), zugleich die karolingische Heerbannsteuer fortgesetzt haben könnte, die die auf den Freihufen sitzenden tributarii entrichteten, um nicht persönlich dienen zu müssen. Die ahd. Bezeichnung mag steora gewesen sein; ahd. heristiura glossierte lat. stipendium = Sold (K. Bosl 1969 S. 44 – 49. H. Götz, Wb. 1999 S. 628). § 132. Große Unsicherheit besteht ebenfalls hinsichtlich des hostilicium, einer so gut wie ausschließlich auf den Hofstellen freier Bauern (mansi ingenuiles) innerhalb der geistlichen Grundherrschaften des 9. Jahrhunderts lastenden Abgabe an Karren, Gespannen und Proviant, deren Ertrag die Grundherren dem Heerestroß zuzuführen hatten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 621 – 625. K. Elmshäuser / A. Hedwig 1993 S. 492). Die Frage ist, ob das hostilicium eine Schöpfung der geistlichen Stifter und Klöster war, die, nachdem der König ihnen, als wehrpflichtigen freien Herren irdischer Großhaushalte, diese neuen Lasten auferlegt hatte, dieselben auf die freien und daher ebenfalls wehrpflichtigen Bauern der kirchlichen Domänen repartierten (so J.-P. Devroey 1989 S. 459 f.), oder ob es sich dabei um eine vom Könige gebotene Steuer handelte, deren Ertrag der Herrscher dem Haushalt seines
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Heeres zuwies, um daraus die liberi homines im Felde zu versorgen, und die im Namen des Königs nicht nur von Bischöfen und Äbten, sondern auch von den Verwaltern der Königsgüter auf die Bebauer solcher Ländereien umgelegt werden durfte, die der König ihnen aus dem Reichsgute zur Erfüllung ihrer Rüstungspflichten zur Verfügung gestellt hatte (so G. Waitz Bd. 4 S. 625, J. Durliat 1990 S. 228 f. mit Anm. 56, S. 244). Problematisch ist dabei nicht nur die ungeklärte Herkunft des mansus ingenuilis (oben: § 129), sondern auch die Frage, ob sich arme Freie durch Entrichtung einer derartigen Heerbannsteuer bereits zu einer Zeit von der Pflicht zur Heerfahrt hatten befreien können, als sie noch von den Grafen dazu herangezogen wurden. Denn im Jahre 805 hatte Kaiser Karl seine Missi beauftragt, von allen Männern den gesetzlichen Heerbann nach Maßgabe des beweglichen Vermögens derart zu erheben, daß, wer (mindestens) sechs Pfund an Wert besaß, den vollen Heerbann in Höhe von drei Pfund oder 60 Solidi, wer aber weniger, einen minderen Heerbann im Betrage jeweils der Hälfte des Vermögens bezahlen sollte; Karl erwartete, daß sich jeder der so Besteuerten im nächsten Jahre erneut zum Wehrdienst werde ausrüsten können, allerdings auch, daß mancher versucht sein würde, sich dieser Pflicht in übler Gesinnung zu entziehen, indem er sich (samt seinem Gute?) einem anderen übergeben und von ihm beschützen ließe (MGH. Capit. 1, 122 n. 44 c. 19. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 575 – 578). Sind aus dieser Heerbannsteuer durch Autotradition der Pflichtigen in den Schutz der Kirchen das hostilicium und ein neuer mansus ingenuilis hervorgegangen, haben sich heersteuerpflichtig gewordene arme Freie in den Schutz der Kirchen ergeben, weil diese sodann ihre Wehr- bzw. Steuerpflicht erfüllten, von ihnen zum hostilicium aber weniger verlangten als jene Hälfte des Barvermögens, auf die sich die jährliche Heerbannsteuer belief?
§§ 133 – 141. Beschützte Edelinge und autarke Dynasten § 133a. Damit kämen wir auf die standesrechtlichen Folgen des oben (§ 120) erörterten Dahinschwindens der Edelingsgeschlechter zu sprechen. Alles, was über Heerfolge und Steuerpflicht ermittelt werden konnte, spricht dafür, daß es im 9. Jahrhundert noch immer zahlreiche auf freiem Eigentum sitzende edle (und neufreie) Hausherren gab, daß aber die geringeren, bäuerlich lebenden unter ihnen die Lasten des Königsdienstes, die sie als Preis ihrer Freiheit zu entrichten hatten, nur noch mit Mühe abzutragen vermochten und daß deshalb diese pauperes dazu neigten, sich namentlich unter Bischöfen und Äbten Schutzherren zu suchen, die bereit waren, ihre Pflichten gegenüber dem Könige gegen ein weit geringeres Entgelt zu erfüllen, als der Königsdienst ihnen selbst auferlegte. Da das Recht der Autotradition oder eigenmächtigen Ergebung in ein solches Schutzverhältnis zu den Standesrechten der Edelinge gehörte (oben: § 117) und die Kirchen den Erwerb der Schutzherrschaft mittels Privaturkunden und Notitien sorgfältig zu
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dokumentieren pflegten, verfügen wir, wo die Archive der Kirchen erhalten geblieben sind, über eine Gattung von Quellen, die das Fortbestehen jener Freiheit, über die der Einzelne in der angegebenen Weise verfügen konnte, in weiten Kreisen des Volkes bis ins 10. und 11. Jahrhundert hinein und darüber hinaus eindeutig bezeugen, denn der Umstand, daß die uns überlieferten Schenkungen freier Grundbesitzer an Kirchen und Klöster seit dem 10. Jahrhundert allmählich abnehmen und aufhören, beweist nicht, daß das kleine freie Grundeigentum nun nahezu verschwunden gewesen sei (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 359 A. 1. A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 204, 251, 307, 317), zumal die Traditionen freien Grundbesitzes an geistliche Herrschaften keineswegs regelmäßig oder so häufig mit der Selbstergebung des Tradenten in die Munt oder gar Herrschaft des Bischofs oder Abtes verbunden waren, daß sich dadurch der Stand der Freien bereits im 9. Jahrhundert wesentlich, d. h. bis hin zum völligen Verschwinden, vermindert hätte (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 5 – 14). § 133b. Namentlich in den Städten erhielten sich „solche Freie, welche auf eigenem Grund und Boden wohnten, nicht in dem Schutz einer Kirche oder eines weltlichen Herrn standen, also von Haus aus weder Grund- noch Kopfzins zahlten, dem Herrn der Stadt, einem Bischof z. B., nur insofern untergeben waren, als derselbe die öffentlichen Rechte, namentlich die Gerichtsbarkeit in der Stadt erworben hatte: man hat in diesem Sinne von Altfreien gesprochen . . . Wie zahlreich auch die Ergebungen in den Schutz gewesen sind: daß sie die ganze Einwohnerschaft umfaßten, ist wenig wahrscheinlich und jedenfalls nicht nachzuweisen; daß sie durch diese ganze Periode und später fortdauerten, jedenfalls ein Zeichen, daß es fortwährend solche gab, die noch nicht in das Verhältnis übergegangen waren, ihre Freiheit noch mit dem Dienst von Ministerialen oder der Abhängigkeit von Censualen vertauschen konnten,“ auch wenn Übertragungen von städtischem Grundbesitz an geistliche Stifter längst nicht mehr so häufig vorkamen wie im 8. und 9. Jahrhundert. Auch was das flache Land betrifft, so bezeugen zahlreiche Ergebungen zu Censualen- und Ministerialenrecht noch im 11. Jahrhundert und die immer fortdauernden Schenkungen oder Übertragungen von Land, „daß kleiner oder größerer Grundbesitz sich als freies Eigentum in den Händen vieler fand und keineswegs der Grund und Boden ganz und gar an geistliche und weltliche Große gekommen war und nur von abhängigen Leuten bewirtschaftet ward“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 424 – 431). Es waren diese freien Grundbesitzer, welche die Dinggenossenschaften der Grafengerichte und die Grafschaftsverbände der karolingischen Zeit gebildet hatten; das Schicksal der Grafschaften und speziell deren Untergang und Ablösung durch Länder seit dem 12. Jahrhundert hängt daher eng mit dem ihren zusammen. Diese Feststellungen der älteren Verfassungsgeschichte stehen in vollem Einklang mit der Lehre von Frau Reynolds vom Fortbestehen der full property bis ins 12. Jahrhundert hinein. Längst sind sie auch von Seiten der Sozialgeschichte bestätigt worden, sofern sich diese nur der philologisch-historischen Methode bedient und die von Urkundenlehre und Rechtsgeschichte erarbeiteten Regeln der Quellen-
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kritik beachtet (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 306 f., T. 2 S. 43 – 45, 124 – 128, 176). Damit ist der namentlich von Nationalökonomen, die die genannten Bedingungen nicht hinreichend erfüllen, verkündeten Lehre der Boden entzogen, wonach schon in der Karolingerzeit das kleine freie Grundeigentum massenhaft von der Grundherrschaft aufgesogen worden und der Stand der Freien ebenso massenhaft der Verknechtung durch die Grundherren verfallen sein soll. Der „Vergrundholdungsprozeß der Freien, mit dem Endergebnis, daß der überwiegende Teil der alten Freien nach und nach in grundherrliche Bindungen eintritt“ (F. Lütge 1966 S. 70. W. Rösener in LMA 1 Sp. 1606), darf nicht verallgemeinert werden. § 134a. Bei der Wahl eines Schutzherrn und der rechtlichen Ausgestaltung des Schutzverhältnisses boten sich den altfreien Edelingen, wenn sie auf die bestmögliche Wahrung ihrer Standesvorrechte schauten, vor allen anderen zwei Möglichkeiten. Erstens konnten sie in die Vasallität eines potens eintreten. Das Recht der Freien, dies zu tun, haben die Karolinger wiederholt ausdrücklich anerkannt, vorausgesetzt, die Beziehungen der Freien zum Könige und die Verpflichtungen, die sie ihm gegenüber zu erfüllen hatten, namentlich die eidlich zu bekräftigende Treuepflicht, wurden dadurch nicht beeinträchtigt. Der liber in tutela, der einem Senior Waffen- und Verwaltungsdienste leistete und häufig vassus genannt wurde, blieb weiterhin ein freier, dem öffentlichen Gericht und der Banngewalt des Grafen unterstehender Hausherr, aber der Senior vermochte ihn besser, als es ihm allein gelingen konnte, vor Übergriffen des Grafen zu schützen, namentlich wenn dieser ihn nur noch mittelbar, nämlich durch Vermittlung des Senior, zum Kriegsdienst aufbieten konnte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 277 f., 569 f. F. L. Ganshof 1961 S. 32 f., 61). Seit dem 11. Jahrhundert wird es auch wieder ausgesprochen, daß der Vasall den Herrn verlassen durfte, wenn dieser die Schutzpflicht verletzte (G. Waitz Bd. 6 S. 58, 100). Zwar befürchtete bereits Karl der Große, geistliche und weltliche potentiores könnten arme Freie, zumal die einfältigen, wenig unterrichteten und unvorsichtigen unter ihnen, mit übel ersonnenen Argumenten des Rechts und der Religion dazu bewegen, ihnen ihr Eigengut zu tradieren, selbst wenn sie dabei ihre Verwandten und Kinder enterbten und zu Bettlern machten und vom dem Könige geschuldeten Gehorsam abwandten (MGH. Capit. 1, 122 n. 44 c. 16, 162 n. 72 c. 5), aber daraus ist nicht der Schluß zu ziehen, bereits im 9. Jahrhundert hätten beneficia des Königs, der Kirchen und der Großen den Grundbesitz zu Eigentumsrecht verdrängt, hätten Leiherechte das Eigentum als normales Grundbesitzrecht von Edlen und Freien ersetzt (S. Reynolds 1994 S. 105). Das Lehnsverhältnis beruhte weiterhin auf dem freien Willen der Beteiligten. Bestimmte Grundsätze für seine Ausgestaltung bildeten sich erst im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte, und zwar offensichtlich in den einst römischen Teilen des Frankenreiches rascher als in den Gebieten östlich von Maas und Rhein; das ist wohl zu beachten, wenn man zu einem richtigen Urteil über die Entwicklung des Benefizialwesens und der Vasallität gelangen will (G. Waitz Bd. 4 S. 263, 286). Die
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Entwicklung wurde einerseits vom technischen Fortschritt bestimmt, der die Rüstung des Ritters verteuerte und die Lehnsherren dazu zwang, entweder die Lehen zu vergrößern oder die Vasallen zusätzlich zu besolden; andererseits hing sie vom Wandel der Heeresverfassung ab, der die Ritter von den bloß noch landwehrpflichtigen ärmeren Altfreien absonderte und den Neufreien plötzlich zu ganz unerwartetem politischem Einfluß verhalf, da nur sie den Königen und Fürsten die zur Besoldung der Ritter erforderlichen Geldsteuern gewähren konnten. § 134b. All dies bewog Lehnsherren und Vasallen seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts dazu, aus dem Lehnsverhältnis erwachsende Rechtsstreitigkeiten nicht mehr vor die Grafen- und Schöffengerichte zu bringen, sondern darüber in Lehnsgerichten zu entscheiden, die sie selber konstituierten (G. Waitz Bd. 6 S. 97 f. K.-F. Krieger 1979 S. 492 A. 59). Seit derselben Zeit kam im deutschen Sprachraum das Wort feodum, feudum in Gebrauch, das sich vorher von der Languedoc aus nur erst in Frankreich und Italien eingebürgert hatte (G. Waitz Bd. 6 S. 8 f., 131 – 134. S. Reynolds 1994 S. 411, 415 f., 422. 429, 437). Erst diese Lehnsgerichte waren imstande, ein besonderes, mit den Volks- und Landrechten nicht mehr unbedingt identisches Lehnrecht zu schaffen. Als dessen Kennzeichen sticht eine Verdinglichung des Lehnsverhältnisses hervor, wie sie die fränkische Zeit noch nicht gekannt hatte (H. Mitteis 1933 S. 129 f., 552). Denn anfänglich war der Lehnsvertrag kein Realvertrag gewesen, vielmehr hatte erst die vom Vasallen übernommene Dienst- und Treuepflicht den Grund abgegeben, der den Senior dazu bestimmte, dem Manne ein Lehen zu geben, sobald er dessen Kommendation entgegengenommen. Ungefähr gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts (ebd. S. 522) trat dann der Umschwung ein, der das Lehnsverhältnis derart umkehrte, daß erst der Empfang des Lehens den Vasallen zur Kommendation nötigte, zugleich aber auch dessen Pflichten so vollständig auf das Lehen radizierte, daß er sich nicht mehr als ganze Person verbindlich machte, sondern nur noch insoweit, wie der Ertrag des Lehens ihn zum Dienen befähigte: Damit mußte der Herr zufrieden sein. In Deutschland und Italien „entwickelte sich das Lehnrecht immer stärker nach der Seite der Vasallen hin und verstärkte deren Position gegenüber der Zentralgewalt . . . Es gelang den großen Kronvasallen, sich selbst an die Spitze von Lehnspyramiden zu setzen und dadurch die Verbindung des Königs mit den Untervasallen zu durchbrechen, diese zu mediatisieren; so wurde die Staatseinheit in Frage gestellt und der Föderalismus vorbereitet“ (H. Mitteis 1953 S. 425 f.). § 135a. Die zweite Möglichkeit bestand darin, sich in den Schutz einer Kirche zu begeben. Über Schutzbefohlene weltlicher Herren ist wenig bekannt; die weltliche Schutzherrschaft erlangte nicht entfernt die verfassungsgeschichtliche Bedeutung, die die kirchliche gewann (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 246 f.). Die Könige förderten die letztere, indem sie von sich aus, um Vollfreie wirksamer vor Übergriffen der Grafen und Mächtigen zu schützen, diese Freien bzw. die Königsrechte, die sie ihnen gegenüber besaßen, auf Kirchen übertrugen. Dies sollte zwar ihrer
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Freiheit keinen Abbruch tun, es machte aber doch den Anfang zu einer Änderung der politischen und am Ende auch der rechtlichen Stellung dieser Freien und später so genannten Gotteshausleute, wenn es den Kirchen nämlich gelang, die Schutzbefohlenen dem Grafengerichte völlig zu entziehen und sie einer eigenen Gerichtsbarkeit zu unterstellen (G. Waitz Bd. 4 S. 239, 333 f.). Nicht selten aber begaben sich Geburts- oder Altfreie von sich aus in das Verhältnis der Zensualität, indem sie sich in Verbindung mit einem geistlichen Herrn setzten, dem sie einen Zins zahlten und dessen Schutz sie dafür genossen, ohne ihm jedoch eigenes Gut aufzutragen oder von ihm Herrenland zur Nutzung zu empfangen. Im Jahre 941 wies das Immunitätsgericht des Bischofs von Cambrai den Versuch eines bischöflichen Vasallen zurück, auf Grund der Kopfzinspflicht einer freigeborenen Frau auch Knechtsdienste von deren Gütern zu fordern, wie die Frau sie geschuldet hätte, wenn sie unfrei gewesen wäre (G. Despy 1961 S. 1134 – 1141. Unten: § 293). Es entstand so ein rein persönliches Verhältnis der Dienstbarkeit zu dem Schutzherrn, aber nicht eines der Unfreiheit oder Knechtschaft, auch wenn es heißt: exuit se libertate et fecit se ipsum mancipium ecclesiae. Namentlich der Abt des Klosters St. Emmeram zu Regensburg bezeichnete es als freie oder freiwillige Dienstbarkeit, als libera servitus, die die Beschützten genießen sollten und die ihnen dann wohl eine gewisse Kündbarkeit des Schutzverhältnisses, eine Wiederherstellbarkeit ihrer vollen Freiheit wenigstens für den Fall einräumte, daß der Abt seiner Schutzpflicht nicht nachkam (G. Waitz Bd. 5 S. 240 – 244, 288. K. Bosl 1970 S. 723 f.). Diese übte er aus, indem er ihre Güter als Freihufen, mansi ingenuiles, führte und ihnen eine wirtschaftliche Selbständigkeit gewährte, dank deren etliche von ihnen seit dem Ende des 10. Jahrhunderts zu kaufmännischer Tätigkeit übergehen und zur bürgerlichen Freiheit gelangen konnten (K. Bosl 1965 S. 459, 462 – 469). Noch weiter ging und besonders häufig geschah es, daß sich Freie aus eigenem Antrieb, als Autotradenten, in den Schutz einer Kirche begaben und dabei auch dinglich abhängig machten, indem sie bei der Gelegenheit auch ihren freieigenen Grundbesitz derart aufgaben, daß sie ihn dem Schutzherrn unter Vorbehalt des Nießbrauchs für die eigene Lebenszeit schenkten. Dabei mochte es vorkommen, daß sie das Recht ihrer Nachkommen nicht ausreichend schonten, so daß Söhne und Enkel gänzlich ohne Landbesitz dastanden. Die Regel indessen war, daß sich mit dem Hausgute das Schutz- und Zinsverhältnis auf ihre unmittelbare eheliche Deszendenz vererbte. Gelegentlich heißen die hingegebenen und gegen Zins zurückempfangenen Güter beneficia (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 340, Bd. 6 S. 114) und die Tradenten und Ergebungsleute commendati, doch scheint die Kommendation in diesen Fällen nicht allgemein üblich gewesen zu sein, und wo sie stattfand, blieb sie ohne Auswirkung auf das Standesrecht des Kommendierten. § 135b. Als ältester Beleg für die Bezeichnung des neuen Standes gilt eine Traditionsnotiz aus den Jahren 794 – 800, der zufolge sich eine Hausherrin (lat. matrona bildet das Äquivalent zu ahd. frouuua und heimfrouuua, H. Götz, Wb. 1999
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S. 396) Rikildis und ihre Söhne, die von allen Vorfahren her frei, also altfreien Standes und folglich zur Autotradition berechtigt waren (oben: § 118), mit allen Nachkommen dem Kloster St. Severin in Köln zu cere censuales ergaben und als solche alle ihre männlichen Nachkommen dazu verpflichteten, sobald sie waffenund heiratsfähig geworden, dem Kloster alljährlich zwei Pfund Wachs zu entrichten, außerdem aber für die Heiratserlaubnis der Männer und beim Tode jedes männlichen oder weiblichen Nachkommen jedesmal sechs Pfennige zu bezahlen (Lac. UB 1, 9 n. 15 = Quellen hg. von G. Franz 1967 S. 60 n. 23. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 256 A. 1, 257 A. 3); in diesen Pfennigen ist gewiß eine Gebühr für die schutzherrliche Anerkennung der Erblichkeit des Zensualenstatus zu erblikken. Die Ergebungsleute hießen weiterhin liberi oder ingenui, aber sie verpflichteten sich zu einem Dienste gegenüber dem Schutzherrn (se tradere in servitium), und wenn dieser nun Obereigentümer ihres einst freien Grundeigentums geworden war, so mochte er sie als Zubehör dieses Gutes behandeln und zusammen mit diesem über sie verfügen (G. Waitz Bd. 4 S. 240 mit A. 3, 246, 258, 334 – 338. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 9 f.). Gemeint waren damit oder betroffen wurden davon zwar nur die Einkünfte, die der Herr von ihnen empfing und über die er zugunsten Dritter verfügen konnte; aber wenn sich die Lebensverhältnisse der zahlungspflichtigen Schutzbefohlenen im Laufe der Generationen denen der unfreien und unter Grundherrschaft auf mansi serviles gesessenen Leute des Schutzherrn anglichen, dann gingen sie schließlich ihres bevorrechtigten Status verlustig und wurden mit den Unfreien unter der Bezeichnung Bauern (rustici, villani) zu einem neuen Stande zusammengefaßt (G. Waitz Bd. 5 S. 289). Nahmen sie gleich den grundherrlich Hörigen auch Land von dem Herrn entgegen, so mußten sie Zinse, Dienste und Todfall sogar zweimal leisten, nämlich einmal auf Grund des persönlichen Schutzverhältnisses und zum zweiten nach dem für alle Hufner gültigen Hofrecht (ebd. S. 308 – 316). So gab es freie Kirchenleute „in bedeutender Zahl und in verschiedener Stellung: nicht immer hat man sie von denen geschieden, die als geborene Knechte oder Liten ein schlechteres Recht hatten, oft wenigstens allgemein Freigelassene, Censualen und solche, die sich mit ihrem Land in Abhängigkeit gegeben, unter dem Namen mitbegriffen. Mitunter ward dann aber doch bestimmter die Freiheit derselben hervorgehoben,“ sei es unter dem Namen der Franken oder in Sachsen als Malmannen, die dem Mal oder Grafengericht unterstanden, oder als Bargilden in Sachsen, Ostfranken und Bayern (ebd. S. 317 – 319). Das weitere Schicksal der Zerozensualen hing davon ab, ob sie sich (a), der durch Schenkung ihrer Güter an den Schutzherrn begründeten dinglichen Abhängigkeit folgend, auch dessen Hofrecht unterwarfen, denn in diesem Falle traten sie, wenn auch unter Vorbehalt ihrer angestammten Freiheit, in dessen Hörigenverband ein und gingen in der Folge mit diesem im Bauernstande auf, oder ob sie sich (b) als Malmannen oder Bargilden die Zugehörigkeit zum Grafschaftsverbande bewahren konnten, oder ob sie sich (c) zu freien Personenverbänden mit eigener Gerichtsbarkeit zusammenzuschließen und vom Schutzherrn die Bestellung eines be-
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sonderen Richters zu erlangen verstanden, denn in diesem Falle bewahrten sie wenigstens einen Rest jener alten, vollen Freiheit der Edelinge, die ihre Ahnen genossen hatten, auch wenn sie weiterhin bäuerlich lebten. Das Hofrecht, welches Bischof Burchard von Worms im Jahre 1024 / 25 aufzeichnen ließ, kennt noch keine Zerozensualen als Hörige; es erwähnt zwar den liber homo, der ein Landgut oder Knechte an einen hofhörigen Mann verkaufen konnte, sagt aber nichts über dessen Stand aus; es muß sich um Altfreie gehandelt haben, die selbst dann, wenn sie bereits Ergebungsleute waren, noch nicht dem Hofrecht unterlagen (MGH. Const. 1, 639 n. 438 = Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 88 n. 23 c. 21). Den Bestand eines altfreien und aller Grundhörigkeit ledigen reinen Personenverbandes von Ergebungsleuten bezeugt das Wachszinserrecht des Stiftes Xanten, das Erzbischof Friedrich von Köln im Jahre 1122 in Erneuerung alten Brauches aufzeichnen ließ (Reg. Eb. Köln 2, 30 n. 195). Es ergibt, daß die als Abkommen freier Eltern (ex liberis natalibus ecclesiae traditi) bezeichneten Zensualen, ubicumque locorum manentes, dem Grafengericht entzogen, für schwere Straffälle dem Stiftsvogte, im übrigen aber einem eigenen Zinsmeister unterstellt waren, in dessen Gericht sie ihresgleichen selbst die Urteile wiesen. Es handelte sich also um Exemtion von der Grafschaft infolge der Ergebung in den Schutz oder die Munt des Stiftes. Eine derartige Gestaltung der schutzherrlichen Gerichtsbarkeit setzt voraus, „daß es eine Zeit gab, da die Wachszinsigen . . . kraft ihres besonderen Rechtes in weitem Maße der Grafschaft entzogen wurden, ja daß Freie eben deswegen die Munt einer Kirche aufsuchten“ (H. Aubin 1920 S. 94, 99). § 136. Was aber wurde aus den reichen und daher autarken, in ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit nicht bedrohten Edelingen, die über das 9. Jahrhundert hinaus imstande waren, sich und ihr Haus aus eigener Kraft zu beschützen, und deren Zahl sich seither unter den geschilderten Umständen besonders rasch vermindert haben muß? Im Jahre 1913 führte der Wiener Diplomatiker Hans Hirsch den Nachweis, daß in Süddeutschland, besonders in Schwaben, wo in der Blütezeit der Klosterreform von 1075 bis 1130 die Eigenklöster adliger Laien eine ganz besondere Bedeutung erlangt hatten, deren durch Immunität vor der gräflichen Gewalt geschützte Gerichte (unten: §§ 357 – 362) in dem Augenblick, da die Stifter ihre Klöster aus dem Eigenrecht (unten: § 356) entließen und den damit geschaffenen Rechtszustand in Urkunden niederlegten, bereits Hochgerichtsbarkeit besaßen. Da aber die Eigenkirchenherren nicht imstande waren, ihren Klöstern mehr an Gerichtsbarkeit zu verleihen, als ihnen selber zustand, sah sich Hirsch zu der Annahme genötigt, daß derartige adlige Herren oder Dynasten bereits vor der Reformzeit für ihre zu eigen besessenen Herrschaften Immunität genossen und über Land und Leute hohe Gerichtsbarkeit ausgeübt hätten, und zwar ohne dazu durch königliche Privilegien berechtigt gewesen zu sein, da es an derartigen Privilegien in der Überlieferung vollkommen gebricht (H. Hirsch 1913). Schon vorher war bekannt, daß auch im Herzogtum Österreich der Adel derartige durch weltliche Immunität geschützte Herr-
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schaften ausgebildet hat, ohne daß an Privilegierung durch den hier, im Markengebiet, anstelle des Königs zuständigen Landesherrn zu denken wäre oder daß sich über Alter und Ursprung dieser adligen Immunität mehr aussagen ließe, als daß es sich um „eine Art Autoimmunität“ gehandelt haben müsse; gleichwohl war nach spätmittelalterlichem österreichischem Landrecht jenes Herrenrecht der oberen Standesklassen (Grafen, Freiherren und ihnen inzwischen beigetretenen Dienstmannen) allgemein anerkannt (A. Dopsch 1. Aufl. 1912 T. 1 S. 131 = 3. Aufl. 1962 T. 1 S. 442). Bald darauf stellte Hermann Aubin fest, daß derartige Dynastenherrschaften auch den von ihm untersuchten fränkischen Gebieten am Niederrhein eigentümlich gewesen seien: Namentlich im Tale der Erft reihten sie sich in fast ununterbrochener Kette aneinander; ihre Gerichte waren insofern Hofgerichte, als sie nicht an ehemaligen Landgerichtsstätten, sondern, für uns erkennbar seit dem späten Mittelalter, auf jenen Höfen der freien Herren abgehalten wurden, die diese in älterer Zeit selbst bewohnt haben mochten, ehe sie sich daneben ein jeder die festere Burg erbauten, unter deren Namen ihre Geschlechter seit dem 12. Jahrhundert in den Urkunden auftauchen (Stammhaus, Stammburg, oben: § 104) und von denen als Mittelpunkt aus sie ihre kleinen Herrschaften verwalteten und beschützten. „Hier haben wir zweifellos das alte Eigen der Freien, also auch Allodialgerichte vor uns.“ Nur in zwei Privaturkunden, aber immerhin in zwei schriftlichen Zeugnissen, aus den Jahren 1079 / 89 und 1185 ist uns ausdrücklich bezeugt, daß diese Herrschaften schon im 11. Jahrhundert (und früher) aus der Grafschaft eximiert und gegenüber der gräflichen Gewalt immun waren, ohne daß einer königlichen Privilegierung gedacht worden wäre und eine solche, die den Verlust aller entsprechenden Diplome voraussetzte, heute noch wahrscheinlich gemacht werden könnte. „Das Auftreten von Immunitäten, welche ihre Gerichtsbarkeit nicht aus der Quelle aller verfassungsmäßigen Gerichtshoheit, dem Könige, auf dem Wege der Verleihung herleiten, erscheint demnach als eine allgemeine Erscheinung der deutschen Verfassungsgeschichte gesichert“ (H.Aubin 1920 S. 164 – 171). Als Quelle nahm Aubin statt dessen die alte Edelingsfreiheit des sich und sein Haus aus eigener Kraft und eigenem Rechte beschützenden Hausherrn (oben: §§ 93a, 105) an; die fränkische Rechtssprache aufnehmend, in deren Gebiet er sich bewegte, schuf er dafür den Terminus Allodialherrschaft. Diesen Begriff haben andere bald darauf wenig bedachtsam (G. Heinrich 1961 S. 261 A. 1268. K. H. Burmeister in LMA 1 Sp. 440) zur Allodialgrafschaft erweitert und mit neuen, fragwürdigen Inhalten wie der Herrschaft über Rodungsland und Kolonisten erfüllt – einem, wie mir scheint, zumindest überflüssigen Begriff, den die Verfassungsgeschichte besser vermeiden sollte. In der Rechtspraxis lassen sich zwar seit der Stauferzeit zahlreiche Grafschaften nachweisen, deren Inhaber ihre Rechte nicht vom Reiche herleiteten, sondern offensichtlich als allodial betrachteten, so die von Moers, Pinneberg, Saarwerden, Vargils, Wertheim, Tecklenburg oder Zollern; hinzu kommen solche, bei denen die Entstehung aus wilder Wurzel, d. h. durch Landesausbau auf Rodeland, wahrscheinlich ist, wie etwa die
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Grafschaft der Ludowinger vor dem Thüringerwalde, die im thüringischen Grenzgebiet gelegenen Grafschaften Henneberg, Schwarzburg, Orlamünde und Mansfeld oder die oberschwäbischen Herrschaften der Grafen von Nellenburg und von Toggenburg (K.-F. Krieger 1979 S. 279 – 281), aber der von deren Inhabern geführte Grafentitel ist anderen Ursprungs als die Autoimmunität, die ihren Herrschaften zukam. Wir haben es hier mit der wichtigsten Entdeckung zu tun, welche die Verfassungsgeschichte seit dem Erscheinen des grundlegenden Werkes von Georg Waitz überhaupt zu verzeichnen hat, und rühmenswert zugleich als Meisterleistung jener Verbindung von Diplomatik und Rechtsgeschichte, auf die sich alle wahre Erkenntnis des Mittelalters gegründet hat und in Zukunft gründen wird, da wir in ihr nichts anderes als eine spezielle Anwendung der philologisch-historischen Methode auf den Gegenstand der Verfassungslehre zu erblicken haben. Allen Freunden einer wörtlich begriffenen und als vom Sachbezug des einzelnen Wortes her belebt verstandenen Sprache wird daher das Studium der genannten Abhandlungen nicht nur weiterhin sichere Erkenntnisse, sondern auch einen reinen, vom Vergehen der Zeit nicht getrübten geistigen Genuß gewähren. Aus den neuen Einsichten aber zog Hans Hirsch alsbald den Schluß, daß die Lehre vom Ursprung der Landeshoheit (und damit des für Deutschland typisch gewordenen zweistufigen und föderalen Staatsaufbaus) aus der fränkischen Königsgewalt und deren Delegation an beamtete Grafen nicht oder nicht uneingeschränkt zutreffen könne und daß man nach anderen, dem Königtum fremden oder doch zumindest seiner Kontrolle entzogenen Triebkräften und Rechtsauffassungen suchen müsse, um den Wortlaut der Königsurkunden und Rechtstexte des hohen Mittelalters richtig erklären zu können (H. Hirsch 1922). § 137a. Das von den neuen Erkenntnissen aufgeworfene Problem besteht darin, daß jeder, der nach dem Zusammenhange der altfreien Hausherrschaft mit den seit dem 12. Jahrhundert in den Quellen erscheinenden dynastischen oder hochadligen Allodialherrschaften fragt, versuchen muß, die Lücke zu schließen, die sich aus der Wortkargheit oder dem Stillschweigen der Nachrichten ergibt, welche aus dem 9. bis 12. Jahrhundert auf uns gekommen sind. Seit der Versuch, die Lücke mittels der Theorie von der Königs- oder Rodungsfreiheit zu schließen, aufgegeben worden ist (oben: § 115), behauptet sich als einzige die bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte, auf Urkundenforschung und Genealogie speziell des alten (die Ostmark noch einschließenden) bayerischen Rechtsgebietes begründete Lehre des österreichischen Rechtshistorikers Otto von Dungern. Auf Grund der spärlichen Nachrichten aus dem 10. und 11. Jahrhundert, meinte von Dungern, könnten wir sicher sein, daß in dieser Zeit, als sich die Häuser noch in wechselnde Sippen einfügten und Personen meistens nur mit einem (Vor-)Namen bezeichnet wurden (oben: § 103), ein jeder, den die Quellen einen Grafen nennen, auch wirklich einmal irgendwo ein Grafenamt verwaltet habe. Die Urkunden des 12. Jahrhunderts dagegen ließen diesen Schluß nicht mehr allgemein zu.
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Sie bezeugten, daß man in den adligen Häusern nun immer weniger Wert auf den Grafentitel legte und unter Verwandten immer seltener zwischen so Betitelten und Nicht-Grafen unterschied (O. von Dungern 1932 S. 190), so daß der Grafentitel aufhörte, eine Amtsbezeichnung zu sein. Mit diesem, die Verfassung der gräflich-dynastischen Häuser betreffenden Wandel der Urkundensprache des 12. Jahrhunderts verbindet sich ein weiterer, und zwar ein standesrechtlicher Wandel. Bis um die Mitte dieses Jahrhunderts nämlich werden Dynasten (oder Hochfreie, wie von Dungern sagt) und nichtgräfliche Edle (oder Gemeinfreie) ohne Unterschied als ingenui, liberi oder nobiles bezeichnet; bis dahin enthielten die Urkunden keinen Hinweis darauf, daß die Edelfreien in zwei Standesklassen zerfallen seien. Dann aber beginne ein solcher Unterschied deutlich hervorzutreten, und mit Hilfe einiger Schlüsselurkunden sei es möglich, in den Zeugenlisten die Dynasten nicht nur von den gemeinfreien Edlen, sondern auch von den Dienstmannen zu unterscheiden, die trotz unfreier Abstammung als Neufreie (unten: §§ 159 – 161) nun in die Stellung und die Rechte (aussterbender) Dynastien nachzurücken begannen (ebd. S. 199 f.) Seither bildeten die Dynasten „deutlich eine einheitliche Gruppe. Überraschend viele von ihnen stammen von einem früheren Grafen, gehören Nebenlinien von Familien an, in denen der Grafentitel erblich war, oder sind Brüder, Väter, Großväter von Grafen. Oder wir finden, daß sie mit Grafen verschwägert oder durch Verschwägerung der Vorfahren blutsverwandt waren. Die übrigen Hochfreien, bei denen sich nichts von alledem nachweisen oder vermuten läßt, finden wir fast alle untereinander verschwägert und die eine oder andere dieser Familien wieder mit einer Freienfamilie verwandt, die zum Verwandtschaftsverband der Familien gräflicher Abstammung gehörte. Da uns nur wenige Gattinnen und Töchter bekannt sind, drängt die allgemeine Verflechtung den Eindruck auf, daß der Blutsverband ein viel engerer gewesen sein wird als wir festzustellen vermögen. Die Einheitlichkeit, die Geschlossenheit und die geringe Familienzahl dieses Adels der Hochfreien . . . tritt unverkennbar zutage; genau wie überall sonst im Reiche, sobald wir für irgendeine Gegend eine gleichartige Untersuchung durchführen. Voraussetzung ist nur die sorgfältige Ausscheidung von Gemeinfreien und von Dienstmannen, die nobiles hießen“ (ebd. S. 202 f.). § 137b. Eine derartige Untersuchung hatte kurz vorher Erich Freiherr von Guttenberg für das Gebiet des Bistums Bamberg vorgelegt, in das sich im späten Mittelalter das Fürstbistum Bamberg und die Burggrafschaft Nürnberg ob dem Gebirge teilten (E. von Guttenberg 1927 S. 237 – 299). Die Wandlung des alten gräflichen Amtstitels zum erblichen Adelsprädikat, das auch jüngeren Söhnen sowie den Töchtern eines Grafen beigelegt wurde, läßt sich in diesem Gebiet seit dem Ausgang des 11. Jahrhunderts verfolgen. Erst um diese Zeit bildeten sich somit Grafenfamilien im eigentlichen Sinne, nämlich Dynastien, die mit Grafenrechten ausgestattete Herrschaften erblich besaßen und auf Grund solchen Besitzes noch im 13. Jahrhundert den Grafentitel aus eigenem Rechte annehmen konnten, ohne dazu einer königlichen oder landesherrlichen Verleihung zu bedürfen. Über die
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Herkunft der Grafenrechte ließ sich nichts ermitteln; der Bearbeiter leitete sie daher von älteren Amtsgrafschaften ab, deren karolingische Verfassung sich zu dieser Zeit in der Auflösung befand (ebd. S. 242.). Diese Dynastien gehörten demselben Stande an, der zuvor bereits die Amtsgrafen gestellt hatte und dessen Angehörige immer noch Fürstengenossen waren; von den bäuerlich lebenden Altfreien (oder Gemeinfreien, ebd. S. 247, 291 f.) dagegen waren sie im 12. Jahrhundert bereits durch mangelnde Ebenbürtigkeit in der Ehepraxis und durch Absonderung in den Zeugenreihen der Urkunden klar geschieden. Die Urkundenschreiber hatten ihnen im 11. Jahrhundert den weiterhin bis um 1130 verwandten Titel miles beigelegt, die Berufsbezeichnung also des freien Vasallen (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 218), denn um sich die Last der Reichsheerfahrtpflicht zu erleichtern, hätten viele von ihnen Lehen vom Hochstift Bamberg oder von der Abtei zu Fulda empfangen und nun das Aufgebot verstärkt, das diese Kirchen zum Reichsheere entsandten; direkte Reichslehen dagegen lassen sich in ihrem Besitze kaum nachweisen. So oft sie aber auch Eigengut einer Kirche zu Lehen auftrugen: den Stammsitz ihres Hauses bewahrten sie sich doch fast regelmäßig als freies Eigen und frei vom Lehnsverbande (E. von Guttenberg 1927 S. 245 f., 289 f., 295). Im 12. Jahrhundert setzte sich dann im Bamberger Kanzleigebrauch statt miles die Bezeichnung als liber, ingenuus oder auch nobilis durch, die den Ton nicht mehr auf den Beruf, sondern auf den Stand der Dynasten legte und sie von anderen Alt- oder Neufreien abhob. In den Urkunden dieser Zeit erscheinen gräfliche und nichtgräfliche Dynasten einmal als Tradenten oder deren Salmannen, wenn sie Güter auf das Hochstift Bamberg und auf dessen Stifter und Klöster übertrugen, zweitens aber als landrechtlich streitende Parteien oder deren Eidhelfer oder als Vorsitzer und Schöffen im Grafengericht des Radenzgaues, vor dem über ihr freies Eigen verhandelt wurde (ebd. S. 250). Im 13. Jahrhundert sei der Dynasten- oder Herrenstand verfallen, weil viele Geschlechter wegen der Hingabe ihrer Güter an Kirchen verarmten und weil sie ihre Söhne in den Reichsheerfahrten nach Italien oder den Kreuzzügen verloren hatten, während andere erbenlos der Geistlichkeit angehörten. Der Übertritt in die Ministerialität habe dabei nur eine sehr geringe Rolle gespielt (ebd. S. 273 f., 295 f., 342). § 138. Ausgehend von diesen, auf die urkundlichen Zeugnisse des 12. und 13. Jahrhunderts sicher begründeten Einsichten, zog von Dungern seine Rückschlüsse auf die dunklen Zeitalter, die die Karolingerzeit von der der Staufer trennen, und auf die verfassungsgeschichtlichen Umstände, die sich in der Entwicklung des Grafentitels äußern. Diese nämlich sei nicht zu erklären, wenn man einen Gegensatz „zwischen alten Gaugrafen und neueren oder geringer stehenden Edelherrenfamilien“ konstruiere und annehme, die jüngeren hochfreien Familien hätten sich erst zu der Zeit, da sie in den Urkunden zu erscheinen beginnen, „aus der Menge aller Freien herausgehoben“ oder wären damals erst entstanden, um dann „im 12. Jahrhundert den Grafen ebenbürtig“ aufzutreten (O. von Dungern 1932 S. 203). „So kommen wir zu dem Eindruck, daß ein Adel, der alle Hochfreien umfaßt,
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längst vor dem 12. Jahrhundert bestand. Grafenamt und Grafentitel waren längst nur persönliche Eigenschaften einzelner aus diesen hochfreien Familien.“ Aus diesem Eindruck ergibt sich als verfassungsgeschichtliche Konsequenz, daß der Begriff der Grafschaft zwar für die Karolingerzeit mit der Vorstellung des Amtes zu verbinden sei, für das hohe Mittelalter jedoch als von der Vorstellung der Grafenfamilie getragen gedacht werden müsse. „Für die karolingische Zeit sehen wir den Grafen als Vorsteher eines Bezirks, des Gaues. Unter Otto dem Großen ist der Gau zum geographischen Bezirk geworden; der Graf tritt auf als Vorsteher eines Komitats,“ der in dem Bezirk seinen geographischen Ort hatte, ohne uns in seinem Wesen erkennbar zu werden. Bezog er sich auf „Bezirke von gleichmäßiger innerer Geschlossenheit, so daß der Graf wenigstens die eine oder andere Amtsgewalt über alle Einwohner besaß? Welcherlei Amtsgewalt? Schon in der Zeit, in der die Grafen nach ihren Komitaten bezeichnet wurden, das ist bis Ende des 11. Jahrhunderts, stiehlt sich in unsere Vorstellung vom gräflichen Amtsbezirk der Gedanke an die Erblichkeit des Grafenamtes, also die Vorstellung von Grafenfamilien, und verdrängt den Begriff des räumlichen Amtsbezirks, um so mehr als wir finden, daß die Herrschaften und Besitzungen der einzelnen Grafen weit auseinanderlagen. Da fangen um 1100 die Quellen kirchlichen Ursprungs an, die Grafen für gewöhnlich nach einem ihrer Sitze zu nennen. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts läßt sich schon kein einziger gräflicher Amtsbezirk mehr räumlich sicher umschreiben, denn die Quellen legen keinen Wert mehr darauf, uns hierfür Anhaltspunkte zu geben. Sie begnügen sich damit, uns bei dem Grafen auf Burgen hinzuweisen, die er besaß. Gleichzeitig hören die vorher so häufigen Absetzungen fast ganz auf. Das Licht, das aus den Quellen auf den Begriff des Grafenamtes und der Grafschaft fällt, strahlt nur noch von der Grafenfamilie aus.“ Erst mit den Ländern und der Landeshoheit zeigten sich wieder territoriale Bezirkseinheiten – die aber träten nun „unabhängig neben die Idee der Grafschaft, die sich endgültig auf die Familienherrschaften der Grafenhäuser zurückzieht.“ Damit aber sei klar, wie wir die Begriffe Grafschaft und Komitat für die frühere Zeit umdeuten müßten: Grafenrechte der Edelherren auf ihren Grundherrschaften beruhten nicht auf Immunität, d. h. einer vom Könige verfügten Herausnahme ihres Hausgutes aus der Amtsgrafschaft, wie sie die Reichskirchen genossen, sondern darauf, daß die hochfreien weltlichen Haus- und Grundherren eine „Eigenhoheit“ besaßen, nämlich „eine hochentwickelte Herrschaft über alles Land, das ihnen zufiel, und über alle Bewohner dieser Ländereien.“ Einige Edle dann „besaßen dazu noch ein Grafenamt mit besonderen Rechten und besonderen Pflichten gegenüber Menschen, die nicht auf dem Besitz dieser Grafen angesessen waren“ (O. von Dungern 1932 S. 203 f.). § 139. Aus diesen Überlegungen ergab sich als These, die zu prüfen seither eine Aufgabe der Verfassungsgeschichte ist, die Annahme eines Bruches in der Entwicklung, welche von der Verfassung des karolingisch-ostfränkischen Reiches zu der des sächsisch-salischen Zeitalters hinüberführte. Denn zu Ende des 9. Jahrhun-
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derts machte nach von Dungern eine Anzahl von großgrundherrlichen Geschlechtern, aus denen zuvor Karl der Große seine Grafen genommen hatte, die gräflichen Hoheitsrechte erblich und fesselte sie auf diese Weise derart an ihre Nachkommen, daß um 900 auch solche Dynasten, die keines der vom Könige vergebenen Grafenämter besaßen, von der Gewalt ihrer amtsgräflichen Verwandten eximiert waren (O. von Dungern 1927 S. 4, 14). Wir treffen hier auf jene besondere ostfränkischdeutsche Entwicklung, in deren Verlauf „als eines der wichtigsten sozialgeschichtlichen Ergebnisse“ damals „die politische Macht der Laiengewalten“ hervortrat. „Sie macht sich in der Umbildung der deutschen Verfassung bemerkbar und hat gewissermaßen ihren Exponenten in dem Wiederaufleben des Stammesherzogtums“ (A. Dopsch 1921 Teil 1 S. 313). Vorausgegangen war dem der Versuch, den Karl der Große als letzter in der Reihe frühmittelalterlicher, an Gedanken des spätrömischen Anstaltsstaats anknüpfender Könige und Reichsgründer unternommen hatte, die Verfassung des Reiches auf bestimmte Institutionen und auf die Einteilung in bestimmte, geographisch abgerundete Bezirke zu gründen, wie er sie in Gallien in Gestalt der römisch-merowingischen civitates und pagi, in den östlichen Reichsteilen dagegen in den uralten Gerichts- und Verwaltungsbezirken der germanischen Gaue vorgefunden hatte. Als letzter der alten Herrscher habe Karl der Große noch willkürlich Ämter einzurichten und darin Amtleute einzusetzen vermocht, ohne auf deren Abstammung Rücksicht nehmen zu müssen, wenn es um deren Eignung für das Amt ging; als letzter habe er diesen Amtsgrafen bestimmte Grafenrechte, wie etwa die militärische Befehlsgewalt, auch über ihre dynastischen Standesgenossen und deren (Haus-)Herrschaften als Amtsvollmachten innerhalb ihres Gaues und später des Komitats beilegen können (O. von Dungern 1927 S. 40, 59, 64). Dies alles verhielt sich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts anders. Für jeden Verwalter von Grafenrechten bildete jetzt die Abstammung den natürlichen Befähigungsnachweis (ebd. S. 59). In dem Augenblick, wo der König nicht mehr in der Lage war, die öffentliche Gewalt des Amtsgrafen gegen jedermann, auch gegen den mächtigsten Grundherrn, zu stützen, ergab sich ein verfassungspolitisches Problem, dessen einzige Lösung darin bestand, daß sich alle Dynasten dem Gewaltbereich des Amtsgrafen in jeder Beziehung entzogen. Da es sich dabei um ein Standesinteresse handelte, das zu wahren sich nicht nur jeder einzelne Graf für die eigenen Nachkommen (denn nicht jeder, z. B. nicht der unmündige Sohn oder die Tochter, konnte Graf werden), sondern auch der ganze Kreis der in gleicher Lage befindlichen Häuser angelegen sein lassen mußte, so machte sich die Schranke, die sich dem Amtsgrafen in den Weg legte, wenn er einem Dynasten gegenübertrat, als allgemeine Standeseigenschaft seiner eigenen Klasse geltend (ebd. S. 66). So bildete sich der Kreis von Aristokraten und Familien des Dynastenadels aus, die das Ostfränkisch-Deutsche Reich bis zur Zeit Kaiser Heinrichs VI. beherrscht haben, weil sie kraft eigenen oder angeborenen Rechtes alle Hoheitsrechte verwalteten: eine kleine Gruppe mächtiger Grundherren, die sich als einheitliche, streng von anderen Häusern abgeschlossene Heirats- und Blutsgemeinschaft konstitutier-
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te, sich ausschließlich durch Geburt ergänzte und als ihr Recht ausgab, daß nur der aus ihren Kreisen Geborene dazugehören konnte (ebd. S. 4, 10, 40. M. Mitterauer 1972 S. 266 – 270). § 140. Den Ausgangspunkt für die dynastische Standesbildung erblickte die Wiener Schule darin, daß schon unter Karl dem Großen alle nichtgräflichen Mächtigen in einer Hinsicht den Grafen in aller Form gleichgestellt waren, insofern nämlich, als sie alle so, wie der Graf selbst, ihren Gerichtsstand für Rechtsstreitigkeiten mit diesem und unter sich allein vor dem Könige hatten (MGH. Capit. 1, 176 n. 80 c. 2: ut episcopi, abbates, comites et potentiores quique, si causam inter se habuerint ac se pacificare noluerint, ad nostram iubeantur venire praesentiam), so daß den Grafengerichten lediglich die Rechtssachen der pauperes et minus potentes überlassen geblieben waren. Dieser ohne Rücksicht auf das Amt, den Rang oder den Titel eines Mannes gegebene Gerichtsstand aller Dynasten vor dem Könige erhielt sich später im Ostfränkisch-Deutschen Reiche bis ins 13. Jahrhundert. An ihm habe der Amtsgraf bei Handhabung seiner Gewalt von Anfang an eine Schranke gefunden, sobald er auf die Person eines Mächtigen oder Dynasten aus seinem eigenen Standeskreise stieß, weil er diesen Mann nicht von Amts wegen, sondern nur als klagende Partei vor dem Königsgericht belangen konnte (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 440 f. O. von Dungern 1927 S. 64 f.). Gleich den Reichskirchen, aber anders als diese nicht auf Grund königlicher Verleihung, sondern kraft angeborenen Standesvorrechts, und auch nicht für den Umfang ihres Grundbesitzes, sondern für ihre eigene Person seien diese Herren von der Gewalt des Amtsgrafen eximiert gewesen; bis um 1200 galt der Satz, daß nicht Exemtion der Güter noch deren Qualität als Allod, Lehen oder Leihe, sondern Immunität der Person kraft Geburt den Dynastenadel kennzeichne (O. von Dungern 1927 S. 11 f., 64). Später freilich trat darin ein Wandel ein. Schon im 12. Jahrhundert pflegten ostfränkische Dynasten aus den Landen am Obermain ihre Rechtsstreitigkeiten kaum noch einmal vor das Gericht des Königs zu bringen; über ihr freies Eigen wurde nachweislich vor dem Grafen- oder Landgericht verhandelt. Zwar hoben sie sich durch die Pflicht, dem Könige im Reichsheere zu dienen, und durch das Recht, an der Erhebung des Königs, an dessen Hoftagen und an der Reichsregierung teilzunehmen, klar von den übrigen Schichten der Bevölkerung ab, aber dieser Vorzug reichte im 13. Jahrhundert bei absinkender Königsmacht nicht mehr aus, um sie vor dem Machtwillen der stärkeren Fürsten und vor der Unterwerfung unter deren Landesherrschaft zu schützen (E. von Guttenberg 1927 S. 250, 295 f.). Seither erlangte, wer ein Gut oder eine Herrschaft erwarb, die betreffende Standeseigenschaft auch unabhängig von seiner Geburt. Aber noch im 12. Jahrhundert hatte die hoheitliche oder Grafengewalt der Dynasten nichts mit der Qualität ihrer Güter zu tun, war es gleichgültig, ob sie auf Allod saßen oder auf Gut, das ihnen der König geschenkt oder geliehen oder eine Kirche zu Lehen gegeben hatte – so oder so war und blieb damals noch Dynast, wer als solcher geboren war (O. von Dungern 1927 S. 60). So zähe erhielt sich die alte Unabhängigkeit, die das Liegenschaftsrecht der Edelinge davor bewahrte, von dem längst noch nicht allmächtig gewordenen Lehn-
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recht überwältigt zu werden (oben: § 126)! Zwar sei die persönliche Immunität der Dynasten für keine Zeit losgelöst vom Besitz ihrer Häuser denkbar, aber nicht auf deren Rechts-, sondern auf die geographische Lage sei es dabei angekommen, da die Reichsverfassung seit dem 10. Jahrhundert keine Einteilung in räumlich abgerundete Grafschaftsbezirke mehr kannte und die uralten Gerichts- und Verwaltungsbezirke der Gaue jetzt vor den zufälligen Gewaltbezirken einzelner adliger Grundherren zurückwichen. § 141. Das Vermögen dieser Lehre, bestimmte Erscheinungen der deutschen Verfassungsgeschichte zu erklären, ist beachtlich. Ein belehrendes Beispiel dafür gewährt uns das Geschlecht der Herren von Arnstedt-Arnstein, das seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts in ostsächsischen Quellen erscheint (G. Heinrich 1961 S. 245 – 250 mit Anm. 1116), denn es verdankt Rang und Stellung, Herrschaft und Ansehen seinen Vorfahren aus dem Hause der Herren von Steußlingen in Schwaben, die ihrerseits dem Kreise jener schwäbischen Dynasten angehörten, von deren Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte in der Zeit von 1075 bis 1130 soeben (in § 136) die Rede war, auch wenn sie selbst zu arm waren, um als Klosterstifter hervorzutreten (G. Jenal 1974 – 75 Bd. 1 S. 3 f.). Bevor mit der Erhebung des Steußlingers Anno zum Erzbischof von Köln im Jahre 1056, neben dem das Haus zwischen 1066 und 1119 dem Reiche drei weitere Erzbischöfe und zwei Bischöfe stellte, ein beispielloser Aufstieg der Dynastie begann, hatten die Steußlinger auf einer kleineren, vielleicht für die Zweiglinie einer größeren Sippe abgeschichteten Grundherrschaft in nicht eben fürstlicher Weise gelebt. Durch Annos Vermittlung gelang es einem von dessen Brüdern gleich manchen anderen schwäbischen Edlen, im Dienste König Heinrichs IV. (I. S. Robinson 1999 S. 81 f.) mit mindestens fünf Söhnen auf einer Allodialherrschaft am Rande des Ostharzes zwischen den Flüssen Eine und Wipper seßhaft zu werden. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nannte sich die Stammlinie dieser Herrschaft nach der dort neu erbauten Burg Arnstein. Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts erwarb der derzeitige Inhaber dieser Burg umfangreiche neue Besitzungen im Koloniallande östlich von Elbe und Havel, aus denen seine Nachkommen zwei größere, funktionsfähige Territorien formten, nämlich die bis 1524 bzw. 1569 selbständig gebliebenen Grafschaften Lindow-Ruppin und Barby. Länger als ein halbes Jahrtausend haben demnach die Angehörigen des Gesamthauses Arnstein am Harz, in dessen Vorlanden bis zur Saale und Elbe und im überelbischen Markengebiet selbständige Herrschaft über Land und Leute ausgeübt, ohne jemals königlicher Ermächtigungen zu bedürfen und ohne daß ihr dynastischer und später hochadliger, aber geburtsständisch fürstengleicher Stand je in Zweifel gezogen worden wäre. Da die schwäbischen Steußlinger mit guten Gründen zu den Agnaten der Dynasten von Gundelfingen gezählt werden, die ihrerseits in ihren Herrschaften die volle Grafengewalt ausübten, haben wir hier wohl ein klassisches Beispiel für Standesbildung und Aufbau einer dynastischen Eigenherrschaft von der Art vor uns, die Otto von Dungerns Lehre sichtbar gemacht hat: zunächst die Zugehörigkeit der Steußlinger zu einem der in Schwaben im 10. und
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beginnenden 11. Jahrhundert maßgeblichen Adelsgeschlechter, sodann dessen Verzweigung in mehrere Linien mit Verarmung eines einzelnen Zweiges, ohne daß dies jedoch dessen ständischen Abstieg zur Folge gehabt hätte, des weiteren, nach fast zweihundertjähriger Zugehörigkeit zu den titellosen Dynasten, den Aufbau neuer Herrschaften in der Fremde, wo die Herren nun unangefochten die Grafengewalt als ihnen angeborene Gerechtsame ausübten, am Ende aber, zur Zeit des Aufbaus neuer, größerer Herrschaften im ostelbischen Koloniallande, die von Königen, Markgrafen und Bischöfen allgemein anerkannte, wiewohl offenkundig aus eigenem Rechte erfolgte (Wieder-)Aufnahme des Grafentitels.
§§ 142 – 146. Das Dynastenprivileg § 142. Die Verfassungslehre hat die Aufgabe, die in der von Dungernschen Lehre enthaltenen Thesen zu entfalten und zur Prüfung durch die Verfassungsgeschichte vorzubereiten. Dies wird in zwei Schritten geschehen. Während über die Grafschaftsverfassung später zu reden sein wird (unten: Achtes Kapitel), haben wir es jetzt mit der haus- und standesrechtlichen Seite des Problems zu tun. Denn der seit dem endenden 9. Jahrhundert eingetretene Wandel in der Bedeutung des Begriffs Grafschaft kommt auch darin zum Vorschein, daß die Grafschaft bis dahin als Institution vom fränkischen (Amts- und Volks-)Recht geprägt war, welches starke spätrömisch-merowingische Spuren an sich trug und daher das Recht des Königs als obersten Volksbeamten an der Grafschaft betonte, während jetzt das germanische Hausrecht das Übergewicht über das Königsrecht zu erlangen scheint. Des Gegensatzes war sich bereits die ältere deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung bewußt, obwohl ihr nichts daran gelegen war, Rechtsgeschichte als Kampf um das Recht, als Ringen zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen und folglich zwischen politischen Parteiungen zu erklären. Von dem Gegensatz zwischen königlicher Amts- und adliger Hausverfassung ist aber die Rede, wenn wir lesen, daß sich ein Teil der letzteren aus Nicht-Recht in Recht verwandelte: „Wohl ist die erbliche Nachfolge von Haus aus kein Recht: Sie hängt zunächst von der Gunst, der Gnade des Herrschers ab . . . Aber bald wird die Erblichkeit zur Regel, erscheint als ein Recht, welches der König nur anzuerkennen hat“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 9 f. Unten: § 584). Die Parteien, die sich hinter diesem Wandel der Rechtsauffassung verbergen, bestanden einerseits aus jenen Edelingen, die sich ihr Gedeihen und Fortkommen eher vom Königsdienste erhofften, und jenen auf der anderen Seite, deren Interessenlage sie eher auf Selbständigkeit der Regionen und Teilreiche setzen ließ: Parteien also der Einheit und der Vielfalt, deren Gemeinsamkeit einen föderalen und zweistufigen Aufbau des Ostfränkischen Reiches erheischte. Hausrecht war Nicht-Recht freilich nur vom königlichen Standpunkte aus, den sich Waitz und seine Zeitgenossen allerdings als selbstverständlich zu eigen mach-
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ten. Es war zwar älter als Königtum und Staatsverfassung; waren diese aber erst einmal vorhanden, so mußte es sich ihnen namentlich in seiner dynastischen Erweiterung als Privilegierung bestimmter Edelingsgeschlechter darstellen, da es die gräflichen Befugnisse dem Geweredenken unterwarf und sie damit in das Vermögen des Hausherrn einbezog. Wegen des Besitzes derartiger Gerechtsame wirkte sich das Dynastenprivileg alsbald standesrechtlich aus, indem es die Grafenhäuser von den Geschlechtern gemeinfreier Edelinge schied, denn der dem Hausrecht eigentümliche Gesichtspunkt der Ebenbürtigkeit (oben: §§ 119, 137b), der die Ehepraxis regulierte, ließ nun Ehen zwischen gräflichen und nichtgräflichen Häusern selten werden. Die Lehre Ottos von Dungern setzt voraus, daß eine althergebrachte und weiterhin bestehende Institution wie die Grafschaft jetzt nach anderen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt wurde als früher, und es ist die Frage, ob sich aus dieser neuen (anstatt nach älterem, vom spätrömischen Vulgarrecht beeinflußtem Amtsrecht, nunmehr nach germanischem Rechte vorgenommenen) Interpretation von Grafschaft und Herrschaft nicht weitere rechtsgeschichtliche Probleme ergeben. In der Tat scheint die von Dungernsche Lehre weit mehr Neuerungen vorauszusetzen, als ihr Urheber bereits selbst beschrieben hat. Drei solche Probleme wären jetzt zu erörtern. § 143a. Erstens: Bereits Alfons Dopsch hatte in der adligen Autoimmunität einen Ausdruck politischer Machtentfaltung der Laienwelt gesehen und die Macht der Herren auf die Verfügung über Grundbesitz zurückgeführt, denn die Bekleidung mit dem Grafenamte habe ungewollt das Grundeigentum eines jeden Grafen insofern begünstigt, als hier der Grundeigner zugleich eben jener öffentliche Beamte war, von dessen Amtswirksamkeit die Immunität den kirchlichen Grundbesitz befreite (A. Dopsch 31962 1. Teil S. 440 – 443). Dopsch berief sich auf ein italienisches Capitulare von 856, welches den Amtsgrafen ganz allgemein und uneingeschränkt verbot, diejenigen Freien, die auf eines anderen (Freien) Gütern wohnten, vor ihre Gerichte zu ziehen, und ihnen statt dessen vorschrieb, sich an deren Grund- und Schutzherren (patroni) zu wenden, damit diese sie vor das Grafengericht führen (und dort vertreten) könnten (MGH. Capit. 2, 90 n. 215 c. 4): Weltliche Herren als Inhaber einer Immunität, die ihre freien Hintersassen dem Grafengericht entzog, finden sich hier den privilegierten Geistlichen durchaus gleichgestellt. Tatsächliche Machtentfaltung, deren Ergebnis der König schließlich anzuerkennen und so mit dem Schein des Rechtes zu umgeben hatte, bestimmte nach Erich Freiherrn von Guttenberg auch die Geschichte der Grafschaft in den Landen am Obermain. Die (heute nach der Burg Schweinfurt zubenannten) Grafen, die bis 1003 die Grafschaft im Radenzgau innehatten, besaßen hier freies Eigen in Gestalt einer Großgrundherrschaft, deren Höfe und Ländereien jedoch keine geschlossenen Flächen bildeten, sondern verstreut und mit dem Besitz sowohl anderer Grundherren als auch einer zweifellos vorhandenen altfreien bäuerlichen Bevölkerung vermengt gelegen waren. Diesen anderen freien Eigentümern räumt von Guttenberg allerdings keinerlei Einfluß auf ihr politisches Schicksal ein, wenn er meint:
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Wo sich, wie hier, „die privat-grundherrliche mit der öffentlich-rechtlichen Gewalt des Amtsgrafen verband, da waren alle Voraussetzungen für die Entwicklung territorialer Bildungen gegeben. Unsere deutsche Territoriengeschichte beruht allenthalben auf dem Zusammenwirken dieser beiden Grundelemente“ (E. von Guttenberg 1927 S. 61 f.). Neben ihnen wäre demnach für den Willen eines Verbandes freier gräflicher Untertanen kein Raum mehr gewesen. Nach gescheiterter Empörung gegen König Heinrich II. habe Graf Heinrich im Jahre 1003 die Grafschaft verloren, und weder er noch sein Sohn, mit dessen Tode das Grafenhaus 1057 erlosch, hätten im östlichen Franken je wieder ein öffentliches Amt bekleidet, obwohl sie weiterhin zu den größten Grundbesitzern im Lande zählten (ebd. S. 71 f.); allein der Wille des Königs scheint dafür den Grund geboten zu haben. Ebenso sei die im Jahre 1008 gegründete Bischofskirche zu Bamberg im Lande reich begütert gewesen, aber die zerstreute und kartographisch daher nicht darstellbare Besitzmasse habe den Bischöfen zwar Einkünfte geliefert und ihnen richterliche Befugnisse über Unfreie gewährt, jedoch Staat sei sie nicht gewesen (ebd. S. 100 f., 176). Gleichwohl habe sie zur Bildung des Fürstbistums Bamberg, eines im späten Mittelalter im großen und ganzen flächenhaft geschlossenen Territorialstaates, in doppelter Weise beigetragen, nämlich einmal, weil sie mit Immunität ausgestattet war und den Bischöfen daher die Rechte der Hochvogtei (unten: § 365) verschaffte, und zweitens, weil sie ihnen die Macht gab, aus den Grafschaften der umliegenden Gaue – diejenige im Radenzgau dürfte Kaiser Heinrich II. dem Bistum bereits bei dessen Gründung übertragen haben – diejenigen Dingstätten herauszubrechen und sich anzueignen, in deren Zentbezirken die Bischöfe nicht nur begütert, sondern wahrscheinlich die größten freien Grundbesitzer überhaupt waren. So sei die Grafschaft im Volkfelde offensichtlich irgendwann nach 1023 zwischen den Bischöfen von Würzburg und Bamberg als größten Grundbesitzern im Gau geteilt worden, wobei Würzburg seinen umfangreicheren Besitzungen entsprechend den Hauptanteil erhielt. Ebenso sei es dem Bischof von Bamberg als vermutlich größtem örtlichen Grundeigentümer gelungen, sich der Grafengewalt in einer Zent des Rangaus zu bemächtigen und diese seiner Landeshoheit zu unterwerfen, obwohl Kaiser Otto III. die Grafschaft im Rangau im Jahre 1000 dem Bischof von Würzburg übertragen hatte (ebd. S. 177 – 207). Die auf diese Weise eingeleitete Auflösung der alten Grafschaftsverfassung habe dann im 12. und 13. Jahrhundert einzelnen edelfreien Geschlechtern die Möglichkeit gegeben, aus älteren Zenten kleinere Hochgerichtsbezirke herauszulösen und dort, wo die Masse ihres Grundbesitzes lag, die parzellierten Grafenrechte an ihr Haus zu fesseln: „Es war dies schließlich nur eine Frage der Macht“ (ebd. S. 293 f.) – einer Macht, der sich die kleineren freien Grundbesitzer offensichtlich recht- und willenlos zu fügen hatten. § 143b. Ebenso betont Otto von Dungern, daß Grafen und Dynasten persönlich mächtig sein mußten, um ihre Hoheitsrechte ausüben zu können; die gräfliche Gewalt aller Dynasten bedurfte einer materiellen Grundlage, und diese fand von Dungern in den Grundherrschaften, die insgesamt entweder königlich waren oder jenen
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Geschlechtern gehörten, aus denen der König die Grafen nahm. Je weiter man die aristokratischen Familien vom 11. ins 9. Jahrhundert zurückverfolge, desto geringer werde ihre Zahl, desto beträchtlicher aber ihr noch nicht unter zahlreiche Nachkommen aufgeteilter Besitz. Diese großgrundherrlichen Geschlechter, die die karolingischen Grafen gestellt hatten, seien es gewesen, die am Ende des 9. Jahrhunderts die gräflichen Amts- oder Hoheitsrechte erblich gemacht hätten (O. von Dungern 1927 S. 4, 64). Auch die Gleichsetzung betitelter Grafen mit deren unbetitelten Verwandten innerhalb der dynastischen Häuser habe darauf beruht, daß alle Dynasten Grundherren waren, und zwar potentes oder Große, deren Macht sich auf die, der geographischen Lage nach zufällig über das Reich und seine Grafschaften verteilten, Gewaltbezirke ihrer Grundherrschaften stützte (ebd. S. 10, 40, 66, 190, 199). Da für die ältere Zeit der Grundbesitz vornehmer Häuser quellenmäßig leichter zu erfassen ist als die Genealogie der darauf sitzenden Herren, erwies sich die von dem österreichischen Archivar und späteren Wiener Hochschullehrer Karl Lechner erstmals 1923 systematisch verwendete, später sogenannte besitzgeschichtlich-genealogische Methode als besonders gut geeignet, um vom späteren Mittelalter her die Anfänge der Entwicklung zu rekonstruieren und das Heraustreten der Dynastenherrschaften aus den alten Grafschaften festzustellen (ebd. S. 14 – 16. G. Heinrich 1961 S. 251, 267 Anm. 1327. K. Bosl 1970a S. 112. F. Prinz in Hdb. bay. G. 1981 S. 404 – 406). Die erfolgreiche Anwendung dieser Methode verstärkt die Suggestion, daß der Aufstieg eines Edelingshauses in den Stand der Dynasten vor allem eine Frage des Reichtums und der Macht gewesen sei, und damit stellt sich der Verfassungsgeschichte die Frage: War dynastische Herrschaft ursprünglich Tyrannei, nämlich vom mächtigsten Grundbesitzer eines Gerichtsbezirks kurzerhand usurpierte Gewalt und ein Triumph der normativen Kraft des Faktischen, oder war sie auch Recht? Kämpften es die Mächtigen einer Grafschaft unter sich aus, wer der Größte sein sollte, und fiel dem Sieger die Gewalt über die Freien seines Bezirkes als Beute zu, ohne daß diese sich für den Ausgang des Kampfes und das Recht des Siegers interessiert hätten? Ist es notwendig, „auch mit umfangreichen Usurpationen“ zu rechnen, denn „wer im Kampfe mit einem Grafen obsiegte und ihn aus seinem Gebiet vertrieb, der wird sich nunmehr ebenfalls Graf genannt haben, auch ohne königliche Ernennung“ (W. Schlesinger 1941 S. 139)? § 144a. Zweitens: Zweifellos können Verfassungs- und Rechtsgeschichte bei dieser Formulierung nicht stehenbleiben, sondern müssen sich fragen, wie aus nackter Gewalttat ein von allen anerkanntes Recht werden konnte (unten: § 820), und wie die Vermittlung zwischen dem Amtsrecht des Gaugrafen, das letztlich, als Schöpfung des vom Volke ermächtigten Königs, auch Volksrecht war, auf der einen und dem Hausrecht der Edelinge und späteren Hochfreien oder Dynasten auf der anderen Seite zu erklären ist. Das Problem besteht darin, daß die vom Könige gewährte Amtsgewalt den Grafen Herrschaft oder Hoheit über alle im Amtsbezirk ansässigen Freien gewährte, während sich die hausherrliche Gewalt lediglich nach Ehe- und Familienrecht auf bestimmte Freie erstreckte, im übrigen aber wesentlich
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Herrschaft über Unfreie ohne Gerichtsgewalt war (oben: §§ 90 – 93a). Dynastenherrschaft dagegen griff über den Kreis der mit dem Hausherrn nach Eherecht verwandten und nicht aus der Muntgewalt entlassenen Freien hinaus. Sie erfaßte andere freie Hausherren, und erst diese Gewalt über unverwandte, rechtlich und wirtschaftlich selbständige Hausherren machte sie zur grafengleichen Hoheit, wie sie sonst nur der König besaß und zu verleihen vermochte. Wie also gelang es den Dynasten, ihre haus- und grundherrliche Gewalt über Muntlinge und Unfreie zur Hoheit über benachbarte Freie zu erweitern? von Dungern hat diese Frage offengelassen. Nimmt man ihn wörtlich, so geht er doch wohl von einer schwer oder gar nicht zu erklärenden Steigerung grundherrlicher Gewalt zur dynastischen Hoheit aus. Wenn nämlich die Immunität des persönlich nichtgräflichen Dynasten aus seinem eigenen Recht als Sohn eines Kreises gleichgestellter blutsverwandter Adelsgeschlechter entsprungen war, so sei es, meinte er (O. von Dungern 1927 S. 66 f.), gar nicht anders vorstellbar, als daß sich diese Immunität auf die Besitzungen des Dynasten samt deren Bewohnern erstrecken mußte: Die Immunität des Dynasten habe nicht nur diesen selbst dem Zugriff des Amtsgrafen entzogen, sondern ihm auch die gräfliche Gewalt über die dort wohnende Bevölkerung gegeben, und damit sei das Rätsel der gräflichen Gewalt nichtgräflicher Dynasten als Verfassungseinrichtung des 10. bis 12. Jahrhunderts gelöst. Die Lösung folge einerseits aus der Einheit und ständischen Gleichstellung der weltlichen Grundherren, wie sie wenigstens vom Ende des 9. Jahrhunderts an bestanden habe, und andererseits aus dem gleichzeitigen Zusammenbruch der karolingischen Königsgewalt, deretwegen sich auch der Amtsgraf nur noch auf eine grundherrliche Stellung stützen konnte, um seinen Geboten Geltung zu verschaffen; unmöglich aber sei es ihm gewesen, die ihm verfassungsrechtlich zustehende Hoheitsgewalt über andere Grundherren seines eigenen Familienkreises tatsächlich auszuüben. Autoimmunität und Eigenhoheit freilich waren nicht alles. Sie gewährten den Dynasten zwar „eine hochentwickelte Herrschaft über alles Land, das ihnen zufiel, und über alle Bewohner dieser Ländereien“, aber einige „besaßen dazu noch ein Grafenamt mit besonderen Rechten und besonderen Pflichten gegenüber Menschen, die nicht auf dem Besitz der Grafen angesessen waren“ (O. von Dungern 1932 S. 204): Dieser letzte Satz zeigt, daß sich von Dungern unseres Problems bewußt war und die Herrschaft der Dynasten über Freie, freilich standesrechtlich nurmehr geringere, wohl nicht (mehr) adlig lebende Freie, letzten Endes eben doch von der karolingischen Amtsgrafschaft herleitete. Der Übergang von dieser zur dynastischen Hoheit bleibt auf diese Weise unvermittelt und unerklärt, auch wenn es von Dungern nicht in den Sinn kam, von Usurpation zu sprechen. Dieselbe Unklarheit besteht hinsichtlich der Herrschaft Arnstein. Sie veranlaßte deren Bearbeiter dazu, den Begriff Grundherrschaft in Anführungszeichen zu setzen, gleichsam als ob er Bedenken trüge, ihn sich zu eigen zu machen: Nicht durch reichsfeindliche Usurpation, sondern kraft autogener Immunität und eigen-
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besessener Herrschaft eignete dem Adel „die Fähigkeit, auf seinen „Grundherrschaften“ die sogenannten „öffentlichen“ Rechte wahrzunehmen, zumal die Gerichtsherrschaft über die Hintersassen“ (G. Heinrich 1961 S. 262); im Gericht über ihre bäuerlichen Eigenleute sei wohl die Hauptwurzel der allodialisierten Grafengewalt zu suchen, die sich im 11. und 12. Jahrhundert auch bei kleineren Dynasten herausbildete, ohne daß eine Übertragung von Seiten des Königs ersichtlich sei. Östlich von Elbe und Saale habe sich die Herrschaftsbildung auf legalem Wege durch Rodung und Neusiedlung mit abhängigen Hilfskräften, aber auch durch Umlegung slawischer Dörfer zu deutschem Recht vollzogen; dahinter aber stand „ein unbändiger Machttrieb, . . . der eine Schranke nur an der gleichgerichteten Begehrlichkeit von Standesgenossen fand“. Die Initiative zur Herrschaftsbildung habe, soweit wir sehen könnten, am Ostharz durchaus beim Hochadel, bei den Klöstern, beim Hochstift Halberstadt gelegen (ebd. S. 263 f.), also offensichtlich bei den großen Grundherren und Herren über abhängige Leute, von denen es ganz unentschieden bleibt, welche Art und welcher Grad von Freiheit ihnen etwa zukam. Waren auch die Grafen von Arnstein etwa lediglich Herren von Unfreien? § 144b. Wäre aber die Herrschaft von Dynasten über Freie ursprünglich einzig und allein als Herrschaft über Ergebungsleute entstanden, so müßte die von Georg Waitz getroffene Feststellung korrigiert werden, daß weltliche Schutzherrschaft verfassungsgeschichtlich bedeutungslos gewesen sei (oben: § 135a). Die Quellen helfen uns bei all diesen Fragen nicht weiter, weil sie für die Herrschaft eines Herrn über Unfreie und dinglich oder persönlich abhängige Freie, die wir heute Haus- oder Grundherrschaft nennen, keinen besonderen Namen verwenden, der sie von der Herrschaft über völlig selbständige Freie unterschiede. Erst seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts begann man, das Wort Vogtei für eine Herrschaft in Gebrauch zu nehmen, die, über das Haus des vogteilichen Herrn hinausreichend, sowohl freie Bauern, welche ihr Land zu freiem Eigen besaßen, als auch persönlich freie Bauern erfaßte, die ihren Grund und Boden von anderen geistlichen oder weltlichen (Grund-)Herren in erblichem Besitz hielten. Eine solche, von aller Grundherrschaft losgelöste und mit dynastischer Immunität umgebene Herrschaft über Freie, die in staufischer Zeit immer häufiger als Vogtei bezeichnet wird, möchten wir auch den Grafen von Arnstein zusprechen. Einen geradezu tollkühnen oder verzweifelten Versuch, die Lehrstreitigkeiten der neueren Forschung zu überwinden, unternahm im Jahre 1938 Adolf Waas. Die ältere, damals noch herrschende Lehre geradezu auf den Kopf stellend und weit über die Ansichten Ottos von Dungern hinausschießend, sprach Waas der Grafengewalt im Gebiete des Ostfränkischen und späteren Deutschen Reiches überhaupt jeden amtsrechtlichen Ursprung ab. Die Existenz der Amtsgrafschaft als einer Institution spätrömischer Herkunft wollte er ganz auf die romanischen Gebiete des Fränkischen Reiches beschränkt wissen. In den östlichen, von germanischen Völkern bewohnten Reichsteilen habe Karl der Große Grafschaften ganz anderer Art geschaffen, nämlich „Königsbannbezirke unter einem Grafen als königlichen Be-
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auftragten“, dem die Einwohner jener Bezirke „als freie Leute königlicher Muntherrschaft unterstanden“; es seien Bezirke unmittelbarer Herrschaft des Königs über Königsgut und Königsbauern gewesen, neben denen gleichartige allodiale Grafschaften eines Adels gestanden hätten, welcher seine Rechte nicht aus königlicher Verleihung, sondern selbständig ausübte. So sah Waas die Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters „dadurch charakterisiert, daß an die Stelle königlicher Schutz- und Muntherrschaft die Herrschaft derer, die diese Muntherrschaft im Namen des Königs auszuüben haben, tritt oder doch zu treten sucht“ (A. Waas 1938 S. 160. H. K. Schulze 1973 S. 22 f.), nämlich die der Grafen. Es war da nur konsequent, daß Waas auch die königliche Gewalt selbst als Muntgewalt deutete und sie als eine zwar nicht vom Volke verliehene, gleichwohl aber staatliche Gewalt beschrieb. Zwar sei es unzulässig, „dem öffentlichen Leben des deutschen Frühmittelalters die Staatlichkeit abzusprechen und es als reine Adelsanarchie zu bezeichnen,“ es sei aber doch „nicht der Volksrechtskreis, sondern die Königsmunt, der die Bewahrung des staatlichen Charakters zu verdanken ist. Sie hat den Staat gerettet, und ihn vor der in der Krise der 9. Jahrhundertwende bestehenden Gefahr der Anarchie der Machthaber bewahrt“ (A. Waas 1938 S. 334). Die Schwächen dieser Lehre liegen auf der Hand. Sie verliert kein Wort darüber, zu welchem Rechte der König die Grafen einsetzte, die in seinem Namen die Muntherrschaft in ihren Bezirken ausübten. Auch über das Wesen der Muntgewalt erfahren wir weiter nichts, als daß sie germanischen Ursprungs gewesen sei. In Waas’ Buche findet sich nichts von jenen sorgfältigen Untersuchungen über den Sprachgebrauch der Quellen, mit denen Georg Waitz und Philipp Heck ihre verfassungsgeschichtlichen Lehren zu untermauern pflegten. So ist die Munt entweder nichts anderes als bloß ein neues Wort für die königliche Hoheit und Schutzpflicht, die nach herrschender Lehre den wesentlichen Inhalt jenes Amtes ausmachte, um dessen Vorteile willen freie Männer und Hausherren überhaupt einen König über sich erhoben („im weiteren Sinne stand aber das ganze Volk in dem mundium des Königs, das eben an die Stelle des allgemeinen Friedens getreten ist“, G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 4 S. 235), – oder sie erhält (was Waas jedoch nicht erwägt) ihren Sinn von jener hausherrlichen Gewalt, in deren Rahmen das germanische Recht allein eine vormundschaftliche Herrschaft Freier über Freie wirklich kannte (oben: § 90). In diesem Falle wäre in ihr implizit bereits die Lehre von der Königsfreiheit enthalten gewesen, die Theodor Mayer, Adolf Helbok und Heinrich Dannenbauer seit 1933 verkündeten und die keine selbständige adlige oder gemeine, aus eigenen hausherrlichen Kräften und Rechten heraus verteidigte, sondern nur noch eine vom Könige beschützte Freiheit anerkannte. Diese aber wäre keine vorstaatlich-schrankenlose volle, sondern nur noch eine beschränkte, unfreie Freiheit gewesen, die mit Rodungsarbeit auf Königsland und Diensten für den König hätte erkauft werden müssen, eine Freiheit königlicher Hintersassen, die sich nicht im Sprach-
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gebrauch der Quellen, sondern nur in mühsamer begrifflicher Spekulation über „unfreie Freiheit“ von jener Grundhörigkeit unterscheiden ließ, die als Grundlage für königliche oder autogen adlige Herrschaft über Freie nicht in Betracht kommt (G. Heinrich 1961 S. 263 Anm. 1213, 266 Anm. 1226. H. K. Schulze 1973 S. 21 f., 1974. Siehe oben: § 115). Wir haben es hier mit offenkundigen Mystifikationen der königlichen Gewalt zu tun, die sich auf weiter nichts berufen können als auf das Schweigen der Quellen. Am deutlichsten enthüllen sie sich da, wo sich Waas weigert, die königliche Gewalt als vom Volke verliehen zu betrachten. Was aber die Grafschaften anlangt, so entwickelte sich aus Waas’ Ideen eine Lehre von den „Königsgutgrafschaften“, der zufolge die Grafschaftsverfassung im Osten des Fränkischen Reiches nur auf Königsboden wirklich durchgesetzt worden sei (W. Schlesinger 1941 S. 139, 189, 193), die Grafschaften folglich niemals flächenhaft geschlossene Amtsbezirke, sondern, gleich der königlichen und adligen Grundherrschaft, lediglich verstreute Herrschaftskomplexe und ihre Untertanen lediglich Königsfreie gewesen seien (H. K. Schulze 1973 S. 23 – 27, 310 f. U. Nonn 1983 S. 41 – 43). Namentlich die im Jahre 1949 von Elisabeth Hamm an Hand des bayerischen Quellenmaterials entfaltete Theorie, der zufolge die bayerischen Grafschaften durchweg auf Königsgut bezogen und von den Grafschaften in anderen Teilen des Reiches grundsätzlich verschieden gewesen wären, gelangte zu fast kanonischer Geltung, obwohl sie schwerwiegende Fehler in der Auslegung der Quellen enthält (H. K. Schulze 1973 S. 148 – 172) und übersieht, daß z. B. die Gliederung des Passauer Traditionsbuches nach Gauen, in denen die tradierten Güter belegen waren, „eine Einteilung der Diözese in geschlossene Gerichtsbezirke“ bezeugt, „die nicht nur Amtsbezirke für Königsgut waren“ (E. Klebel 1957 S. 152 f.). Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß viele Gelehrte an dem klassischen Lehrgebäude des 19. Jahrhunderts und an der Richtigkeit des Ausdrucks Grafschaftsverfassung festhielten, darunter Hermann Aubin, der zwar selbst an der Entdeckung der adligen Allodialherrschaft beteiligt gewesen war (oben: § 136), aber keinen Grund sah, um deren offenbar randständige und konfliktfreie Koexistenz mit der königlichen Amtsgrafschaft in Abrede zu stellen. Wir können daher die These aufrechterhalten und der Verfassungslehre zugrundelegen, daß mit dem Begriff der Grafschaftsverfassung eines der wesentlichen Instrumente königlicher Herrschaft über das karolingische Reich richtig benannt sei und daß die Grafschaften zwar regionaler und individueller Ausprägungen fähig waren, aber in den Grundzügen im ganzen Ostfränkischen Reiche übereinstimmten: Die gräfliche Gewalt war in der Regel vom Könige delegierte Amtsgewalt und setzte die Existenz einer breiten Schicht von freien Hausherren und Grundbesitzern voraus, die fähig und bereit waren, in ihrem Rahmen dem Reiche zu dienen und an dessen politischem Leben teilzunehmen (H. K. Schulze 1973 S. 345 – 348. U. Nonn 1983 S. 43 f.). § 145. Drittens: Die von Dungernsche Lehre betont zwar die Machtfrage, führt jedoch das Dynastenprivileg nicht auf gewalttätige Usurpation zurück, sondern
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erklärt es für Recht (O. von Dungern 1927 S. 40). Wenn aber niemand, wie es der Begriff des Rechts voraussetzt, dem anderen die Ansicht aufzuzwingen brauchte, daß nur der von Dynasten abstammende, aus ihrem Personenkreise Geborene Hoheitsrechte ausüben durfte, die Abstammung also den natürlichsten Nachweis der Befähigung für diese Aufgabe bildete (ebd. S. 59), so erhebt sich die Frage, warum nicht nur die dynastischen Interessenten, die Jünglinge, die nach ihren Vätern jenen Anspruch erhoben, sondern auch alle ihre Rechtsgenossen das Dynastenprivileg als rechtmäßig anerkannt haben: sowohl Könige, Herzöge und Bischöfe, die an der Einsetzung der Grafen in ihre amtlichen Stellungen und Vollmachten maßgeblich beteiligt waren, als auch Edle, Schöffen und Neufreie, die die gräflichen Dingverbände bildeten und ohne deren freiwilligen Gehorsam die gräfliche Gebotsgewalt vielleicht zwar rechtmäßig, gewiß aber machtlos geblieben wäre. Wir hätten also die Frage zu beantworten, warum alle anderen Stände es sich gefallen ließen, daß sich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts eine kleine Gruppe mächtiger Grundherren als einheitliche, streng von anderen abgeschlossene Blutsgemeinschaft konstituierte und ausschließlich über alle Hoheitsrechte verfügte (ebd. S. 10)? Warum nahmen alle anderen als objektiv rechtmäßig hin, was doch zunächst nur ein subjektives Interesse und Recht bestimmter edelfreier Häuser sowie des aus ihnen neu sich formierenden Dynasten- oder Herrenstandes bildete? Die Antwort kann nur lauten: Sie nahmen es hin, weil nicht nur den Dynasten, sondern ihnen allen an der Geltung des Dynastenprivilegs gelegen war, und der Grund dafür wäre wohl darin zu suchen, daß angesichts der Schwierigkeiten, denen die öffentliche Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems ausgesetzt war, jeder Wechsel des Amtsinhabers – sowohl im Amte des Königs, der Herzöge und Bischöfe als auch in dem der Grafen – von den Gefahren einer zwiespältigen Wahl, der Zwietracht unter den Mächtigen und blutiger Kämpfe um das Amt bedroht wurde. Wenn sowohl die Großen, denen allein die Ämter zugänglich waren, als auch deren königliche Herren ebenso wie die Untertanen auf allen Stufen des partikulierten Reichsuntertanenverbandes einen Anspruch von Söhnen auf Nachfolge in den vom Vater bekleideten Ämtern anerkannten, so taten sie das nicht, weil sie übersehen hätten, daß Abstammung doch nur ein höchst fragwürdiges Idoneitätsmerkmal darbietet, da tüchtige Väter nur allzu oft von unfähigen Söhnen beerbt werden, sondern weil sie einen unfähigen Erben im Vergleich zum blutigen Kampfe der Großen um die Macht, in den sie nach den Regeln identischer Willensbildung als stets in partikulare Verbände eingegliederte Personen unvermeidlicherweise hineingezogen werden mußten, für das geringere Übel hielten und auch halten konnten, solange Könige, Fürsten und Grafen in allen wichtigen Fragen nur mit ihrer Zustimmung und nach ihrem Rechte Entscheidungen zu treffen pflegten (unten: § 743). Recht werden konnte das Dynastenprivileg allein dadurch, daß es die öffentliche Anerkennung vor allem der Grafschafts- und Dingverbände fand, die den Grafen Gehorsam schuldeten. Mit ihnen mußte jeder Dynast über seine Annehmung als
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Herr und Richter verhandeln; er mußte ihnen also die Befugnis zugestehen, ihn zu dem Amte zu küren, wenn sich sein aus Reichtum, Macht und Abstammung herrührender Anspruch auf die Grafschaft oder grafengleiche Herrschaft in eine rechtmäßige Amtsgewalt verwandeln sollte. Nur eine solche Kur oder Annehmung kann schließlich auch erklären, warum nicht nur grundherrlich an den Dynasten gebundene Hintersassen, sondern auch edelfreie, den Dynasten noch durch viele Generationen hin standesgleiche Haus- und Grundherren der Allodialherrschaft der Dynasten unterstanden (unten: § 367). Wie sich Edle von Rechts wegen nur freiwillig in die Schutzherrschaft einer Kirche oder eines Standesgenossen begeben konnten, der oder dem sie als Ergebungsleute lediglich einen bedingten, nämlich an die Erfüllung der Schutzpflicht gebundenen Gehorsam schuldeten (oben: § 135), so brauchten sie sich auch allein aus freiem Willen dem Dynastenprivileg zu fügen. Und nur wenn sie, die als Schöffen oder sonstige Worthalter der Gerichtsgemeinden den Grafen oder Herren das im Gericht geltende (Land-)Recht wiesen, von der Rechtmäßigkeit dynastischer Gerichtsherrschaft überzeugt waren und dieser Überzeugung durch Annehmung jedes neu in sie eintretenden Dynasten Ausdruck verliehen, vermochten Dynasten die sogenannte Allodialherrschaft von Rechts wegen auszuüben, ohne Zwang und Gewalt anwenden zu müssen, die dauerhaft aufrechtzuerhalten ihnen alle Mittel fehlten – Abhängigkeit des Herrn „von dem Gehorchenwollen der Genossen“ gilt in der Sozialwissenschaft als Merkmal des primären Typus traditionaler Herrschaft (M. Weber 1921 / 72 S. 133). § 146. Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, die Autoimmunität des späteren Mittelalters unmittelbar aus der germanischen Hausherrschaft älterer Zeit herzuleiten. Eher dürfte es zutreffen – diese These bedarf allerdings der verfassungsgeschichtlichen Verifizierung –, daß bestimmte subjektive hausherrliche Befugnisse amtsrechtlichen Ursprungs und deren Akkumulation zu einem Standesrecht der Anerkennung von Seiten des Volkes bedurften und so in Volks- oder Landrecht umgewandelt werden mußten, wenn aus dem Dynastenprivileg objektives Recht werden sollte. Eine solche Umwandlung wird leichter verständlich, wenn wir uns daran erinnern, daß der karolingische Amtsbegriff zwar letzten Endes aus dem Auftrage zu regieren, den das Volk seinem Könige bei dessen Erhebung erteilte, entsprungen, aber doch, und nicht zuletzt unter kirchlichem Einfluß, kräftig von spätrömischen Vorstellungen überformt worden ist. Die Aufnahme des Dynastenprivilegs in die Volks- und Landrechte des Ostfränkisch-Deutschen Reiches wäre dann auch als volksrechtliche Reaktion wider fremde, vulgarrömisch-klerikale Rechtsauffassungen zu verstehen, von deren Standpunkt aus urteilend, bereits das westgotische Reichs- und Königsrecht des 5. Jahrhunderts das autogene Herrschaftsrecht des Adels als Usurpation verworfen hatte: „Niemand maße sich Herrengewalt (honores) und Würden an, die er sich nicht beim Könige verdient hat, denn wie die Würde für den, der sie verdient hat, eine Zierde ist, so ist der Anmaßende mit einer Rüge zu tadeln“ oder sogar „als Religi-
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onsfrevler zu behandeln“ (Lex Visigothorum 9, 2, 9: P. W. A. Immink 1961 S. 297 f.). Im Ostfränkischen Reiche dürfte sich die Umwandlung so vollzogen haben, daß die Schöffen und Edlen, die die völkischen Rechtsauffassungen in Worte faßten, die Hoheitsrechte, die der König seinen Grafen delegierte, in deren Rechtsame umdeuteten, womit sie sie dem fränkischen Geweredenken unterwarfen, auf dem das oben (§§ 98, 99) erörterte Herreneigentum (dominium) der Edelinge samt der demselben eingeborenen Vererbbarkeit beruhte. Die Umwandlung setzte somit die volle Ausbildung der karolingischen Amtsgrafschaft und ihrer Einkünfte an Gerichtsgefällen (oben: §§ 109, 110) voraus, denn nur aus ihr kann sich jener Inbegriff gräflicher Rechte ergeben haben, den die ostfränkischen Dynastengeschlechter und Dinggenossenschaften jetzt gemäß den ihnen vertrauten Rechtsgedanken zu interpretieren begannen. Der Inhalt der Grafenrechte scheint sich denn auch durch die neue Interpretation nicht verändert zu haben. Nach wie vor bestand er vor allem aus der hohen Gerichtsbarkeit über Freie in allen jenen Fällen, die das Leben, die Freiheit oder das Eigentum des Beklagten oder Beschuldigten berührten. Und wie hätte ein Graf das seinem Schutze anvertraute Königsgut vor einem fränkischen, bayerischen oder sächsischen Schöffengericht gegen Ansprüche Dritter verteidigen können, wenn die Könige nicht auf deren Rechtsanschauungen eingegangen wären und folglich den Grafen eine Gewere daran zugebilligt hätten? Wie König Ludwig (833 – 876), ein Enkel Karls des Großen, und seine Nachfolger oder Erben es hinnahmen, daß Partikularverbände ihrer freien Untertanen im Ostfränkischen Reiche neue Herzogtümer schufen, womit von königlicher Seite „ein wichtiges Prinzip der karolingischen Staatsordnung aufgegeben wurde“ (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 5 S. 74), so verwarfen die ostfränkischen Großen, die im Jahre 887 Kaiser Karl III. verließen und zu den Ihren jenen Herzog Arnulf zählten, der sich bald darauf von ihnen zum Könige erheben ließ, und mit ihnen die Grafschaftsverbände und Dinggenossenschaften, deren Wort sie hielten, ein weiteres karolingisches Verfassungsprinzip, indem sie das Dynastenprivileg als Volks- und Landrecht anerkannten, um damit der Geltung des königlichen Amtsrechts eine eherne Schranke zu setzen. Die Ausbildung des Dynastenstandes hätte sich demnach nicht durch Gewalt und Usurpation, sondern im Rahmen von Recht und Verfassung vollzogen und wäre seither Hand in Hand mit der Ausbildung einerseits des Fürstenstandes oberhalb der Dynastien, andererseits der Stände des niederen Adels, der Bürger und Bauern unterhalb ihrer vor sich gegangen.
§§ 147 – 152. Stände der Neufreien § 147. Wie wir gesehen haben, gewähren uns eine sich ausweitende Überlieferung an Privaturkunden und das Aufkommen von Geschlechtsnamen (oben: § 104) zuerst für das 12. Jahrhundert Einblick in die Existenz einer festen standesrecht-
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lichen Grenze, die die große Menge nichtadliger Altfreier (liberi, nobiles im weiteren Sinne) von den zu Fürsten und Fürstengenossen (J. Ficker 1861 S. 140, 153, 180, 205) aufsteigenden Edelfreien (nobiles im engeren Sinne) oder Dynasten trennte. Diese Grenze wurde gezogen von der den Dynasten angeborenen Verfügung über die gräflichen Hoheitsrechte, die den nichtadligen Altfreien auch dann abging, wenn sie sich als Eigentümer stattlichen Grundbesitzes in der Lebensweise sonst wenig von jenen unterschieden: Selbst wenn sie reich genug waren, um ein adliges oder ritterliches Leben zu führen, kamen sie dadurch dem Standeskreise der Dynasten mit seinen direkten Beziehungen zum Könige nicht näher. Die Standesgrenze hatte sich bereits derart verhärtet, daß über sie hinweg weder Grundeigentum ausgetauscht noch Ehen abgeschlossen werden konnten. Soweit sich dynastische Genealogien bereits feststellen lassen, erweist sich an ihnen die durchgängig befolgte Praxis, Heiratspartner allein aus für gleichrangig erachteten Häusern zu wählen. So schufen sich die hochadligen Häuser „ein Connubium . . . , das nahezu ausnahmslos als Standesschranke eingehalten wird und das Prädikat einer gewohnheitsrechtlich begründeten rechtlichen Abtrennung verdient“ (R. Scheyhing in HRG 1 Sp. 794). In den schriftlichen Rechtsquellen finden sich Hinweise darauf, daß Freie einander nicht mehr ranggleich und damit wohl auch nicht mehr ebenbürtig (oben: § 119) waren, zuerst im Eides- und Waffenrecht: Der königliche Landfriede von 1152 legte dem von Rittern mit Eideshelfern geleisteten Reinigungseide (unten: § 179) mehr Gewicht bei als dem der Bauern, und der von 1186 verbot es dem Bauernsohne, die Ritterwürde zu erwerben (MGH. Const. 1, 194 n. 140 = DF. I. 25 c. 10; 1, 449 n. 318 c. 20 = DF. I. 988 S. 277 Z. 23 – 25. J. Fleckenstein 1984 S. 266). Diese Satzungen weisen zugleich darauf hin, daß es das Schicksal der weniger wohlhabenden altfreien oder Edelingsgeschlechter war, in den Ständen der Neufreien aufzugehen, die ihrerseits längst begonnen hatten, im Ringen mit ihren Grund- und Leibherren die alte Unfreiheit abzustreifen, und mit örtlich und zeitlich unterschiedlichen Erfolgen den Aufstieg in günstigere Rechtsverhältnisse erstrebten. Die soziale und ständische Geltung ihrer Freiheit konnte nur gewinnen, wenn sie sich in ihr mit Häusern und Geschlechtern gleichgestellt sahen, die selbst an dieser Gleichheit wenig Wohlgefallen empfinden konnten, da sie sie beständig an den Verlust eines einst unangefochtenen Vorrangs erinnern mußte. Nicht jedem kann es gefallen haben, daß Abt Cozpert von St. Gallen im Jahre 821, als er einem zweifellos freigeborenen Tradenten und dessen Erben das Gut als Prekarie gegen Zins- und Dienstpflicht zurückgab, dazu erklärte: Et sicut enim alii liberi homines servilia opera nobis exhibent, ita et illi. Similiter et illorum cuncta de reliquo posteritas faciat legitime procreata (Wartm. UB 1, 255 n. 271). Den erst neuerdings zum Genuß von Freiheit emporsteigenden Menschen dagegen eröffnete die Gleichstellung mit ihnen zunächst die Zulassung zum Stande der Zensualen und von dort aus entweder den Zugang zum Grafen- oder späteren Landgericht (unten: §§ 153 – 156) oder den Eintritt in die Ministerialität (unten: §§ 159 – 162) und das Bürgertum (unten: § 162a-b).
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Als eigener, von den Neufreien abgesonderter Stand haben sich bäuerlich lebende Altfreie nur ausnahmsweise und für eine bestimmte Zeit behauptet, so am Niederrhein mit seinen zahlreichen geistlichen Fürstentümern und Immunitäten, wo es ihnen gelang, sich nach Eintritt in die Kirchenmunt und in den Status der Wachszinsigkeit eine personenbezogene Verbandsfreiheit im Schutze selbständiger Zinsgerichte und damit einen Vorrang vor den Bauern unfreier Herkunft solange zu sichern, bis sie sich dem Territorialprinzip unterwerfen mußten, das die fürstlichen Landgerichte auf die Dauer erfolgreich gegen sie geltend machten (H. Aubin 1920 S. 102 – 104, oben: § 135b). Am Obermain dagegen, wo die Bischöfe von Bamberg und die Burggrafen von Nürnberg flächenmäßig geschlossene Territorialstaaten errichteten, erscheinen sie „als geschlossene Gruppe . . . niemals in den Urkunden oder Zeugenreihen. Gleichwohl müssen sie erheblich zahlreicher gewesen sein, als es danach den Anschein hat. Dafür spricht schon an und für sich die Zentverfassung des Landes mit ihren noch im 14. Jahrhundert abgabenfreien Schöffenhufen und die noch im 16. gelegentlich auftauchende Rechtsnorm, wonach die Verpflichtung den Schöffenstuhl an der Zent zu besetzen auf einem bestimmten bäuerlichen Grundstück haftet. An älteren Nachrichten über diese Verhältnisse fehlt es freilich in unserem Gebiete völlig. Zum Teil wird man diese Gemeinfreien noch in den bevogteten Leuten der Urbare des 14. Jahrhunderts wiederfinden. Vielleicht liegt auch in Ortsnamen wie Freihaslach, Freienahorn, Freiröttenbach, die stets gleichnamigen, aber mit Burg- oder Kirchzusammengesetzten Orten benachbart liegen, eine Erinnerung an diese Bevölkerungsschicht.“ Letzte Reste derselben begegnen uns möglicherweise in jenen „ehrbaren Leuten“, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts den Burggrafen von Nürnberg zu Roß oder zu Fuß ausgerüstet zum Kriegsdienst verpflichtet waren, ohne daß ihre Vorfahren der Ministerialität angehört hätten (E. von Guttenberg 1927 S. 345 f., 351 f.). § 148. Altfreie genossen in der fränkischen Zeit volle Freiheit der Person und des Eigentums: Sie waren weder persönlich noch dinglich von irgendjemandem abhängig, und diesem Rechtsstande entsprach ihre hausväterliche ökonomische Autarkie. Dank diesen Gegebenheiten waren sie von Rechts wegen von allen anderen Ständen durch eine Grenze geschieden, die nur sie selbst aus freiem Willen überschreiten konnten; für die Angehörigen aller anderen Stände war sie dagegen unüberwindlich (oben: § 81, 118). Der adligen Vollfreiheit stand die fast ebenso absolute Unfreiheit und Rechtsunfähigkeit der unbehausten Knechte gegenüber, die als Sachen, mancipia, zum beweglichen Gute eines Herrn gehörten und daher zu jeglicher selbständigen Teilnahme am Rechts- und Wirtschaftsleben unfähig waren, nur Objekte des Verkehrs sein konnten (oben: § 113). Zwischen diesen beiden Ständen, denen der Knechte und der Überwinder, wie Goethe hätte sagen können, lag die Rechtssphäre der unfreien und neufreien Stände, die, je weiter das Mittelalter fortschritt, um so mehr die beiden anderen an Zahl der Zugehörigen übertraf und schließlich das Volk der großen und kleinen Untertanenverbände im wesentlichen ausmachte.
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Unfreie und Neufreie genossen zwar nur Teile der adligen Vollfreiheit, aber auch diese Teile hießen Freiheiten. Gemäß der eigentümlich germanischen Gepflogenheit, alle Rechte als teilbar zu betrachten, konnte das Wort libertas in dieser Rechtssphäre im Plural gebraucht werden, weil der Einzelne imstande war, was er an Rechten und Freiheiten genoß, zu vermehren oder zu mindern und dadurch in ständischer Hinsicht auf- oder abzusteigen. Schon die bloße Herabsetzung des Zinses und die Bemessung der Arbeitsdienste, zu denen er einem Herrn gegenüber verpflichtet war, wurde als Freilassung empfunden, und vollends dann gar die Befreiung von allen Arbeitspflichten überhaupt, mit der der Herr dem Begünstigten die freie Verwertung seiner Arbeitskraft und des mit ihr erworbenen Gewinns überließ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 235 – 236). Aber wie weit der Einzelne seine ständische Lage auch immer besserte oder minderte, so vermochte er doch nie zur adligen Vollfreiheit emporzuklettern oder in die bloße Knechtschaft abzusinken. Während ihm der negative Beweis, kein Knecht zu sein, jederzeit gelingen mochte, blieb er für immer außerstande, den positiven Beweis der Zugehörigkeit zum Adel zu erbringen, da sich niemand auf vollfreie Vorfahren berufen konnte, wenn er nicht wirklich von solchen abstammte. Innerhalb der unfreien und neufreien Stände konnten wegen der Graduierung teil- und akkumulierbarer Freiheiten derart schroffe rechtliche Grenzen nicht bestehen. Hier mochte zwar der eine freier sein als der andere, aber damit war kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied zwischen ihnen gegeben. Lediglich Grade der Freiheit trennten (a) den behausten Knecht eines bestimmten Hausherrn, der zwar diesem dienstbar war – wie jedermann irgendeinem, der adlig Freie allerdings nur dem selbsterwählten (oben: §§ 121, 122) Herrn zu dienen hatte – und daher servus hieß, aber über die erfüllten Dienste hinaus wirtschaftliche Selbständigkeit genoß, von dem persönlich freien, jedoch landlosen und daher von fremden Landbesitzern dinglich abhängigen Erbzinsbauern oder colonus, der wie jener dem Grundherrn dienstbar, aber geringer belastet und, wie jener, im übrigen ökonomisch selbständig war (oben: § 113), oder (b) den unfrei Geborenen, der persönlich von einem Hausherrn freigelassen, jedoch in dessen Munt verblieben war und dafür einen Anerkennungszins leistete, ohne davon in seiner ökonomischen Selbständigkeit wesentlich beschränkt zu werden, von dem Freigeborenen, der sich persönlich in den Schutz eines geistlichen oder weltlichen Hausherrn begeben hatte und diesem wie jener einen Zins entrichtete (oben: § 135a-b), oder (c) diese beiden von denen, die die verbandsrechtliche Freiheit der Frilinge und Liten genossen (oben: §§ 82, 83), also zwar von Geburt her persönlich freie und politisch vollberechtigte, aber entweder lastenfreie oder standesrechtlich dienstbare (tributpflichtige) Schutzbefohlene des Stammes oder Volkes waren, dem sie angehörten und das sie einst zu ihrer vor anderen bevorzugten Rechtsstellung zugelassen hatte. Zu Übergängen und Verschmelzungen zwischen unfreien und neufreien Ständen mußte es um so eher kommen, als der Einzelne derartige Teilfreiheiten durch Vertrag miteinander verbinden konnte und dies auch unter Ausnutzung der ihm über seine Dienstbarkeit hinaus zustehenden Selbständigkeit häufig tat. Der behauste
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Knecht oder der freigelassene Muntmann eines Herrn konnte colonus eines anderen Herrn werden, der colonus des einen als Freier in die Munt eines anderen Herrn eintreten, der standesrechtliche Friling oder Lite sich in die Munt eines bestimmten Hausherrn ergeben, wie übrigens auch Altfreie ihr Gut durch Annahme von Lehen (oben: § 124) oder Erbzinsland ergänzen und insoweit die dingliche Abhängigkeit von einem Haus- oder Grundherrn auf sich nehmen konnten. Alle diese Doppelstellungen hatten zur Folge, daß diese Personen je nach der Rechtsbeziehung, für die sie im Falle eines Rechtsstreites Schutzes bedurften, verschiedene (herrschaftliche oder öffentliche) Gerichte anrufen mußten oder durften, eine Erscheinung, die uns noch beschäftigen wird (unten: § 153) und es uns besonders anschaulich macht, warum die Standesunterschiede, welche Unfreie und Neufreie unter sich voneinander trennten, für den Einzelnen leicht zu überwinden waren. § 149. Da wir die sozialen Verhältnisse der Karolingerzeit mit einiger Genauigkeit nur in den Polyptychen oder Urbaren geistlicher Grundherren und in deren Traditionsbüchern (bzw. Sammlungen von Traditions- und Prekarienbriefen) studieren können, erwecken die Quellen in uns auf den ersten Blick den Eindruck einer Gesellschaft, die im wesentlichen aus Unfreien bestand und es den noch vorhandenen Freien nahelegte, sich ebenfalls in den Schutz oder die Knechtschaft geistlicher Herren zu begeben. Bereits Alfons Dopsch hat dem gegenüber darauf hingewiesen, daß sich stets eine Schicht landloser und folglich armer Freier erhalten hat, deren Angehörige uns als Tagelöhner und Handwerker in den Bischofsstädten begegnen (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 131, 167 f., 172), und daß die Zahl der armen Freien durch die Freilassungen, die sich sowohl geringen wie reichen Besitzern unfreier Knechte als frommes Werk empfahlen, erheblich angestiegen sein muß; der herrschenden Lehre von der am Ende der Karolingerzeit eingetretenen allgemeinen Verknechtung oder Vergrundholdung der Freien (oben: § 133b) stellte er die Annahme entgegen, jenes Zeitalter sei von einer Aufwärtsbewegung aus der Unfreiheit hin zur Freiheit geprägt gewesen (ebd. T. 2 S. 33 – 49). Dieser Auffassung schloß sich aus rechtsgeschichtlichen Erwägungen heraus Philipp Heck an: „Nach meiner Überzeugung hat es im ganzen Gebiet des fränkischen Reiches eine breite Schicht von Elementen gegeben, die nicht zu dem Stande der Altfreien gehörten, aber doch persönlich frei waren. Die Hauptmasse sehe ich in den höheren Libertinen, in den freigelassenen Laten und ihren Nachkommen, in den Knechten, die von vornherein eine bessere Stellung erhielten, als die der Laten, in den Freigelassenen per hantradam und nach römischem Rechte, den cartularii, tabularii usw. Zu dieser Gruppe gehörten ferner die Untertanen des fränkischen Reiches nichtfränkischer Abkunft, z. B. die germanisierten Romanen, aber auch die nichtgermanisierten Landgenossen welschen Blutes. Zu derselben Gruppe gehörten endlich die Leute unbekannter Herkunft, z. B. glücklich entkommene Knechte und ihre Nachkommen . . . Alle diese Leute konnten mit Ausnahme des persönlich aus der Knechtschaft freigelassenen Verwandte haben, die ihre persönliche Freiheit beschworen, aber denjenigen Verwandteneid, der ihre Zugehörigkeit zu einem altfränkischen Geschlecht erwiesen hätte, konnten sie nicht erbringen . . .
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Im Verhältnis zu diesen Neufreien mußten die Mitglieder der altfreien Germanengeschlechter in dem größten Teile des fränkischen Reiches eine ausgesprochene, z. T. kleine Minderheit bilden“ (Ph. Heck 1931 S. 104 f.). Was die Übersetzungssitte der karolingischen Kanzleien anlangt, so meinte Heck, das deutsche Wort freigelassen sei wohl immer durch libertus übersetzt worden (vgl. manumissi qui liberti vocantur in RI 12 n. 814), doch habe der Translator keine Veranlassung gehabt, libertus in einer Urkunde hinzuschreiben, wenn eine Person in der mündlichen Verhandlung, der er beiwohnte, frei genannt wurde, mochte es sich in dem konkreten Falle auch um einen Freigelassenen handeln (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 46 – 49. Ph. Heck 1931 S. 136). Das deutsche Wort frei und seine Ableitung friling pflegte man mit ingenuus wiederzugeben, so daß der Neufreie sprachlich vom Altfreien, dem Edeling oder nobilis, klar unterschieden war. Die dem Kirchengute gewährte Immunität erstreckte sich üblicherweise auf homines tam ingenuos quam servos; hier umfaßte der Begriff ingenuus sowohl die Ergebungsleute altfreier Abstammung als auch die Freigelassenen serviler Herkunft, die in der Munt der Kirche verblieben (Ph. Heck 1931 S. 92 – 97). Nichts hatte es auch zu bedeuten, wenn die Kirchen fortfuhren, die Zensualen, denen sie oder andere Herren die persönliche Freiheit gewährt hatten, als mancipia zu bezeichnen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 238 Anm. 4; oben: §§ 113, 114). Erst im 12. Jahrhundert konnte ingenuus auch wieder mit edel ins Deutsche zurückübersetzt werden. Wie liber und nobilis und deutsch frei war das Wort in standesrechtlicher Hinsicht nun zweideutig, so daß man bei jeder einzelnen in Urkunden und Zeugenlisten genannten Person durch genealogische und besitzgeschichtliche Forschungen versuchen muß festzustellen, ob der Genannte von altfreiem dynastischem oder von neufreiem Stande war (O. von Dungern 1927 S. 17 f., 24, 57. Ph. Heck 1931 S. 97). § 150. Aus dieser Zweideutigkeit des Sprachgebrauchs darf man nicht folgern, daß die Standesrechte aufgehört hätten, strenges Recht, und die Stände selbst, Geburtsstände zu sein (oben: §§ 53, 116). Es ist nicht nötig, statt dessen anzunehmen, wie es neuerdings wieder sogar eine so erfahrene Verfassungshistorikerin wie Susan Reynolds tut, die Standesgrenzen seien unklar, vage und durchlässig, der Vorrang des Adels lediglich eine Sache des Reichtums und der Lebensweise und das Urteil darüber den subjektiven Ansichten der Verfasser unserer Quellen überlassen gewesen: Schreiber lokaler Gerichte hätten manchen Zeugen edel genannt, den ein Schreiber des Königs nicht als solchen hätte gelten lassen (S. Reynolds 1994 S. 40 – 42). Es ist aber richtig, daß nicht nur die soziale Differenzierung (oben: § 112), sondern auch die überlokale Migration oder räumliche Mobilität der Menschen der Wahrung der Herrenrechte an den Unfreien abträglich und im einzelnen Falle imstande war, das ererbte Standesrecht tatsächlich zu vernichten. Frau Reynolds kommentiert mit ihren Annahmen denn auch den Fall eines zunächst glücklich entkommenen Knechtes, nämlich des Unfreien Stabilis, der im 11. Jahrhundert der französischen Abtei Fleury entlaufen war und sich bei Troyes
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niedergelassen hatte, wo er es zu so großem Reichtum brachte, daß er eine Edle heiraten und aufhören konnte, dem Kloster Fleury den Kopfzins zu entrichten, den er ihm als sein Muntling schuldete; um sein Herrenrecht zu wahren, mußte das Kloster ihn, als einen Mann anerkannt freien Standes, vor dem Gericht des Grafen von Troyes und dessen edlen Urteilern beklagen und seiner unfreien Herkunft überführen. Stabilis hatte also die dem Zensualen zustehende Freizügigkeit dazu benutzt, um auszuwandern und sich in der Fremde seinen Verpflichtungen zu entziehen. Denn welchen Standes zugewanderte Einwohner am Orte ihrer Herkunft gewesen waren, das kam an dem Markte oder in der Stadt, in die sie einwanderten, gar nicht in Betracht, weil hier niemand etwas davon wußte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 314 – 317, 397, 401. G. von Below 1887 S. 202). Seit jeher (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2. S. 33 – 36) gehörten zu den Neufreien „die Leute unbekannter Herkunft, z. B. glücklich entkommene Knechte und ihre Nachkommen. Sie mußten als Freie gelten, weil kein Herr Rechte beanspruchte“ (Ph. Heck 1931 S. 104) und weil unter den Gemeinde- und Gerichtsgenossen, bei denen sie sich niederließen, niemand ein begründetes Zeugnis gegen ihre Freiheit ablegen konnte. Ein Herr, der seine Leute im unfreien Stande festhalten wollte, mußte ihnen daher die Freizügigkeit verweigern, denn nur am Orte und im Gerichtsbezirk ihrer Geburt war ihr (ererbter oder durch Freilassung gebesserter) Stand allgemein bekannt und mit Zeugen mühelos zu beweisen. Auswärts aber behandelten alle Gerichte den Fremden als freien Mann, mochte er sich nun als hinreichend vermögender Ansiedler auf Dauer in ihrem Bezirke niederlassen, hier Grundbesitz erwerben und sich verheiraten oder sich als armer Mann um Tagelohn verdingen oder als Kaufmann nur vorübergehend hier verweilen, um alsbald wieder in seine Heimat zurückzukehren, wo er vielleicht einem Herrn zu gehorchen hatte, in dessen Auftrage er seinen Handel betrieb. So fragten die Londoner schon um die Jahrtausendwende keinen deutschen Kaufmann danach, welches Herrn er in seiner Heimat war, sondern betrachteten jeden von ihnen als homo imperatoris. Da machte es auch nichts aus, ob der seßhaft gewordene Zuzügling in weiter Ferne einen Herrn anerkannte, dem er einen Kopfzins entrichtete, denn das konnte heimlich und unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen, solange sich der Mann in seiner neuen Gemeinde als selbständig und frei zu behaupten und zu beschützen vermochte. Aber auch wenn er dazu aus Armut nicht (mehr) imstande war und sich deswegen gegen Unterhalt (als praebendarius) zu täglichem Dienste in das Haus eines anderen begeben mußte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 210 A. 2, 213), so war er doch frei genug, um den Unterwerfungsvertrag selbständig abschließen zu können. Auch für den Herrn freilich konnte es kostspielig werden, seinen unfreien Dienstleuten die Freizügigkeit zu verweigern, da er selbst dann, wenn er keine Arbeit (mehr) für sie hatte, verpflichtet war, sie zu unterhalten (F. Keutgen 1903 S. 51 – 55; oben: § 113). So bestimmte das um 1061 / 62 aufgezeichnete Bamberger Dienstrecht, daß ein Ministeriale, der kein dem Bischof gehöriges Landgut (ererbt) hatte und ein solches von seinem Herrn auch nicht erlangen konnte, obwohl er sich bei ihm als dienstbereit meldete, daß ein solcher Mann anderswo Dienste als
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schwerbewaffneter Reiterkrieger suchen und in freiem Vertrage annehmen, allerdings kein Lehen dafür empfangen durfte (Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 120 n. 31). Das dem Manne angeborene Dienstverhältnis sollte also nicht deswegen hinfällig werden, weil sein Herr keinen Dienst und kein Dienstgut für ihn verfügbar machen konnte, und dem Zwecke, es zugunsten des Herrn zu bewahren, diente das Verbot, für fremde Dienste auch fremdes Gut zu leihen, aber dieses Verbot war schwerlich durchführbar und wurde schon im 12. Jahrhundert nicht mehr beachtet, so daß tatsächlich die Freizügigkeit des unversorgten Dienstmannes das ihm angeborene Recht außer Kraft setzte und ihm die Entlassung aus dem Bamberger Dienste zusicherte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 283 f., Bd. 6 S. 60 A. 4. E. von Guttenberg 1927 S. 314 f.). Das Standesrecht selbst wurde also durch Mobilität und Migration weder verdunkelt noch erschüttert. Was durch die Freizügigkeit erschwert wurde, war lediglich die Nachweisbarkeit des Herrenrechtes im einzelnen Falle, und da in der oralen Gesellschaft des Mittelalters Sichtbarkeit, Nachweisbarkeit und gedachte Existenz eines Rechtes annähernd zusammenfielen (oben: §§ 94 – 96), konnte Migration im einzelnen Falle sehr wohl eine Veränderung des Standes zur Folge haben, ohne das objektive Standesrecht zu entkräften. Und so war denn auch die Klage des Klosters Fleury gegen seinen Muntmann Stabilis erfolgreich. § 151. Die Freilassungsurkunden des 9. Jahrhunderts beschreiben den Inhalt der Neufreiheit unter Betonung besonders der ökonomisch nutzbaren Teilfreiheiten. Niemandem etwa sollten die Freigelassenen irgendeinen Dienst schulden, abgesehen von dem Kopfzins, den sie dem Freilasser reichten, weil dieser ihnen für den neu erworbenen Stand, pro vestra ingenuitate, Gewähr leistete; nach seinem Tode sollten sie vollkommene Muntfreiheit erlangen und sich einen Schutzherrn erwählen, mundiburdium eligere, wo sie wollten; sie sollten Freizügigkeit hinsichtlich ihres Wohnsitzes genießen: portas apertas libera potestate eant, pergant partem quam se elegerint nullo inquietante; was sie an Vermögen bereits besaßen oder hinfort mit ihrer Arbeit erwarben, sollte ihr freies Eigentum sein: peculiare vero, quod habent aut quod inantea conlaborare potuerint, sibi habeant et perfruantur; sibi vivent, sibi laborent, laboratum suum possideant (Wartm. UB 1, 95 n. 101, 187 n. 197. Quellen hg. von G. Franz 1974 S. 100 n. 39). Als rechtlich und ökonomisch freie Arbeitskräfte, die von den großen geistlichen Grundherren Land zu erblicher Leihe erhielten, waren diese neufreien Zensualen imstande, durch Rodung Neuland zu gewinnen und seßhafte Bauern zu werden, denn soweit ihr Peculium dazu nicht ausreichte, stellten die Grundherren ihnen auch die beweglichen Mittel zur Verfügung und machten ihnen die Rodung zur Pflicht, da sie selbst wegen der verstreuten und abseitigen Lage dieser Güter nicht imstande waren, die erforderliche Arbeit von den Fronhöfen aus und mit deren unfreien Leuten zu verrichten. Nicht so sehr durch planmäßige Erweiterung der Eigenwirtschaft als vielmehr durch das Kolonistenwerk kleinerer, persönlich freier Prekaristen haben sich seither die kirchlichen Grundherrschaften stetig er-
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weitert (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 269 – 271, 282 f.). Nicht Rodung schuf Freiheit, wie eine heutzutage weit verbreitete Meinung besagt, die sich nicht die Mühe macht zu erklären, wie Arbeit als ein das Materielle der Wirklichkeit betreffender Vorgang Veränderungen in den Köpfen der Menschen und der gedanklichen Ordnung des Rechts herbeiführen könne, sondern weil die rodenden Arbeiter zuvor durch Freilassung rechtsfähig geworden waren, konnten sie mit Grundherren Erbleiheverträge abschließen, sich zur Melioration des erworbenen Bodens verpflichten und über den Ertrag ihrer Arbeit als Eigentümer verfügen. Auf Grund derselben Freiheit waren sie, nachdem sie jahrhundertelang nur als Individuen von ihr Gebrauch gemacht, auch dazu berechtigt, sich zu freien Einungen zusammenzuschließen, um als zuwandernder Personenverband vom Landesherrn nunmehr freies, keiner Grundherrschaft unterworfenes Grundeigentum zu erwerben und darauf freie, ohne Vermittlung eines Schutz- oder Leibherrn dem Könige oder Fürsten unterstehende Landgemeinden zu errichten. Wir hören davon zum ersten Male in der bekannten Urkunde des Erzbischofs von Bremen für holländische Siedler, die die Flußmarschen an der Niederweser trockenlegen und fruchtbar machen wollten, aus dem Jahre 1114 (nach traditioneller Datierung von 1106: Quellen hg. von G. Franz 1974 S. 168 n. 67). Diese aus der Unfreiheit emporgekommenen (entweder persönlich freigelassenen oder von Freigelassenen abstammenden) Zinsleute bilden den Grundstock und, gegenüber den aus der Altfreiheit hinzutretenden Ergebungsleuten, die Masse der zu den neufreien Ständen des hohen Mittelalters gehörigen Personen. Da sie den Kopfzins an den Herrn, der ihnen dafür gegenüber Dritten ihren freien Rechtsstand verbürgte, gelegentlich auch in Form einer bestimmten Menge an Wachs entrichteten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 255 f. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 40), müssen wir sie auch als Wachszinser oder Cerocensualen genau von jenen Wachszinsern unterscheiden, die im Schutze besonderer Zinsgerichte ihren altfreien Stand bewahrten (H. Aubin 1920 S. 99 mit A. 325; oben: §§ 135b, 147) und wohl, solange ihnen dies gelang, niemals neufreien Zinsleuten die Einheirat in ihre Kreise gestattet haben. Es war keineswegs allgemein der Fall, daß der Muntherr den freigelassenen oder neufreien Zinsleuten (censuales, censarii, tributarii, vectigales, soweit vom Königsgut oder Fiscus entlassen: fiscalini, G. Waitz Bd. 4 S. 340 – 352, Bd. 5 S. 225 – 287) Land oder anderen Grundbesitz überließ, der dann durch besondere Zins- oder Arbeitsleistungen hätte verdient werden müssen; der schuldige Zins war daher ein an die Person gebundener Kopfzins, den der Zensuale aus seinem Arbeitseinkommen abzutragen hatte und der ihn daher in seiner Freizügigkeit nicht beschränkte. Zu ihm konnten Heiratsabgabe und Todfall hinzukommen, wenn sich der Schutz des Herrn auch auf den Ehegatten des Zensualen und die in seine Vermögensrechte eintretenden Erben erstrecken sollte (ebd. Bd. 5 S. 248 f., 259 – 276, 283, 288). Die nichts anderem als der Kopfzinspflicht des Zensualen gegenüberstehenden, von keinerlei dinglicher Vermittlung unterstützten Herrenrechte kann man als
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Leibherrschaft bezeichnen, und zwar als eine milde Form derselben, da sie dem Zinsmanne nicht die Freizügigkeit benahm, ihn nicht zum Eigenmanne (homo proprius) des Herrn erniedrigte. § 152a. Bischofs-, Stifts- und Klosterkirchen gewährten nicht nur den eigenen Freigelassenen ihren Schutz, sondern auch denen anderer Herren, wenn diese darum baten, um sowohl ihren Leuten wie der Kirche etwas zugutezutun, und ebenso selbständigen (Alt- oder Neu-)Freien, wenn diese darum ersuchten. Ja sogar Knechte weltlicher Herren entzogen sich durch Loskauf oder auf andere Weise ihrer Abhängigkeit, um unter dem Schutze eines geistlichen Stiftes als Landbauer oder Handwerker ihr Los zu verbessern (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 240. H. Aubin 1920 S. 101 f.). Denn Schutz: das war es, was der Herr dem Zensualen als Gegenleistung für dessen Zins und eventueller weiterer Abgaben zu gewähren schuldig war. „Schutz und Verteidigung oder nach deutscher Auffassung und Bezeichnung Mundium (mundeburdis) werden fast allgemein als Zweck oder Folge der Übergabe, wie bei Freigelassenen, so bei Freien, angegeben; und wo es nicht ausdrücklich der Fall, ist doch das begründete Verhältnis hiernach zu beurteilen. Der Zins, den die Pflichtigen entrichteten, heißt daher auch Mundschatz. Sie selbst werden als Mundmannen oder ähnlich (mundiliones, mundilingi, jamundlingi) bezeichnet: Namen, welche früher schon vorkamen, nun weitere Verbreitung erhielten, ohne doch in so allgemeinen Gebrauch zu kommen wie die Benennungen, welche von der Gegenseite, der Zinspflichtigkeit, entlehnt sind“ (G. Waitz Bd. 5 S. 277 – 279). Die vertragliche Zweiseitigkeit des Zins- und Schutzverhältnisses und das Recht des (alt- oder neu-)freien Mannes, sich den Schirmherrn zu erwählen (eligere, oben: § 151) und ihn im Falle des Vertragsbruches wieder zu verlassen, ist seit der Karolingerzeit durch das ganze Mittelalter hin so häufig bezeugt, daß dafür nur zur Erläuterung Beispiele angeführt zu werden brauchen. So pflegte sich der isländische Thingmann, wenn ihn der Gode, dem er sich ergeben hatte, nicht schützte, in den Schirm eines anderen Mächtigen auf der Insel zu begeben (oben: § 63). In einem Kapitulare von 801 / 814, aus einer Zeit also, in der sich die Vasallität von anderen Schutzverhältnissen noch nicht vollkommen abgesondert hatte (G. Waitz Bd. 4 S. 249), benannte Kaiser Karl fünf Fälle, in denen Vasallen berechtigt waren, ihrem Herrn abzusagen; dazu gehörte als letzter: Si senior vasalli sui defensionem facere potest . . . et non fecerit, liceat vasallum eum dimittere (MGH. Capit. 1, 213 n. 104 c. 8. H. Mitteis 1933 S. 88 f., 534 – 546). Zu einer Zeit, als sich die Herrschaft der Grafen von Habsburg über ihre Leute in der Schweiz bereits aufzulösen begann, weil Bauer um Bauer seinem Grund- und Landesherrn absagte und sich in den Schutz der benachbarten Städte und ihres Bürgerrechts begab (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 126), erklärte der vermutlich um 1275 / 76 in Augsburg schreibende Verfasser des Schwabenspiegels in klarer Parteinahme für das Volk der nunmehr in politischen Verbänden geeinten Neufreien und gegen die Herren, ohne einen Unterschied zwischen Munt-, Grund- und Landesherren zu machen: „Wir sollen den Herren darum dienen, daß sie uns schirmen. Und wenn sie die Lande nicht schirmen, so sind wir ihnen Dienstes nicht schuldig,“ die Herren aber, welche das Volk
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um diese Art von Freizügigkeit bringen wollten, indem sie es für ihr Eigen erklärten, hätten die unrechte Gewalt, mit der sie es in die Unfreiheit zwangen, „seit alters in unrechte Gewohnheit einbezogen und halten das nun für Recht“ (Quellen hg. von G. Franz 1974 S. 368 n. 143). Nachdem schließlich die Bürger von Danzig ihren Stadtherrn, den Deutschen Ritterorden, wegen Bruchs des Herrschaftsvertrages verlassen hatten, erklärten sie am 8. Oktober 1456, sie wollten König Kasimir von Polen samt dessen Erben und Nachkommen „für unseren Herrn haben und halten, um nicht von ihm zu treten, sofern er und seine Erblinge uns beschirmen wollen“, und selbst der souveräne König von Polen nahm keinen Anstoß daran, daß ihm die Bürger, die ihn zum Herrn wählten, eine solche Bedingung stellten: Am 21. Dezember 1456 bestätigte er ihnen, unter dieser Voraussetzung die Stadtherrschaft angenommen zu haben (Scriptores Rerum Prussicarum Bd. 4, Leipzig 1870, S. 536 – 538). § 152b. Der Art und Weise, wie Otto Brunner 1939 (oben: § 50) das Zins- und Schutzverhältnis als grundlegende Institution mittelalterlicher Herrschaft und Staatlichkeit in seine Lehre von der Landeshoheit eingefügt hatte, haben wir eine der erstaunlichsten Bereicherungen der neueren Fachliteratur zu verdanken, nämlich die Göttinger Dissertation von Gadi Algazi aus dem Jahre 1992. Ihrem Verfasser kommt es darauf an, die der Brunnerschen Lehre zugrundeliegenden Vorannahmen aufzudecken. Er geht daher dem Einfluß nach, den Carl Schmitts Verfassungslehre auf Brunners Denken ausgeübt hat, und stellt fest, daß Brunner, gleich diesem seinem Mentor, ein Gegner des liberalen Rechtsformalismus und Gesetzespositivismus war und daher die Bahnen der traditionellen, vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts geprägten Verfassungsgeschichte verließ, um anstatt der mittelalterlichen Rechtsordnung nunmehr die innere Volksordnung zu erfassen; damit aber habe sich Brunner auf das Gebiet des konkreten Ordnungsdenkens begeben, auf dem sich Carl Schmitt und die Nationalsozialisten mit dem Ziele bewegten, die Ordnungen, die sie glaubten, dem Lebensgesetz der Gemeinschaft ablauschen zu können, an die Stelle der rechtsstaatlichen Ordnung zu setzen (G. Algazi 1996 S. 53, 110 – 115). Zu den aus so anrüchiger Quelle erflossenen Vorannahmen Otto Brunners rechnet Algazi auch die in der Mediävistik allgemein herrschende Lehre, der zufolge „das Verhältnis zwischen Herren und Bauern im Mittelalter durch die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten gekennzeichnet“ war (ebd. S. 51). Als ideologisch geprägte Vorannahme Brunners läßt sich diese Lehre jedoch nur dann ausgeben, wenn gezeigt werden kann, daß sie eines Fundamentes in den mittelalterlichen Quellen entbehrt. Diesen Nachweis glaubt Algazi in folgender Weise führen zu können. In dem Weistum des bei Saarbrücken gelegenen Dorfes Ensheim aus dem Jahre 1435 ermittelt er „einen eigentümlich anmutenden Gebrauch des Wortes Schirm“: Es bezeichne hier „ein Herrschaftsverhältnis, in dem Abgaben dafür zu entrichten sind, daß einem keine weitere Gewalt zugefügt wird“; die Bauern hätten dem Herrn ein Schirmgeld gezahlt, „um von ihm vor ihm geschirmt zu werden“ (ebd. S. 21): Der Herr schützte also die Bauern vor sich, dem Herrn, selbst. Ich halte
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bereits diese Auslegung des genannten Weistums für falsch. Zudem enthält sie begrifflich weiter nichts als eine komplizierte, überflüssige und abwegige Umschreibung der Tatsache, daß kein Herr und kein Staat je einen Rechtsgrund dafür besaß, Untertanen zu bestrafen, wenn sie ihre gesetzlichen Pflichten erfüllten. Es wird daher niemanden verwundern, daß Algazi selber feststellen muß: „Für die in dem Ensheimer Text bezeugte Verwendung von Schirm im Sinne herrschaftlicher protection haben wir bisher in den Quellen keine weiteren Beispiele finden können“ (ebd. S. 236). Dies braucht uns aber nicht zu beunruhigen, da ohnehin „die Chancen gering sind, viele Texte von der Art des Ensheimer Weistums von 1435 zu finden, mit deren Hilfe eine ähnliche Rekonstruktion vorgenommen werden könnte“ (ebd. S. 37 f.). Trotz einer so dürftigen und alles andere als zuverlässigen Quellengrundlage schlägt Algazi dem Leser vor, „diesen Sprachgebrauch von Schirm ernstzunehmen und von ihm – und nicht von der vermeintlich normalen, richtigen Bedeutung – auszugehen“ (ebd. S. 21), um die herrschende, auch von Brunner vertretene Lehre zu widerlegen. Dies geschieht nun aber nicht in der dem Historiker geläufigen Form: „Eine Durchsicht aller relevanten Quellen kommt selbstverständlich“ ebensowenig in Frage wie „eine Überprüfung der Belege im ganzen Buch“ von Brunner (ebd. S. 52 A. 5, 128). Dieser mühsamen, aber sichere Ergebnisse verheißenden Arbeit zieht Algazi die Erkundung „eine(r) kaum erprobte(n) Spielart der Begriffsgeschichte“ vor, die „von der Möglichkeit“ ausgeht, „daß verschiedene soziale Gruppen Wörter – auch zentrale politische Wörter –, die anscheinend allen geläufig sind, unterschiedlich verwenden und verstehen“ (ebd. S. 9, 22). Mit dieser Methode gelingt es ihm, das oben angeführte Zeugnis des Schwabenspiegels zu eskamotieren: „Mit bäuerlicher Eigenschaft und allgemein mit dem Verhältnis zwischen Bauern und ihren Grundherren“ habe es nichts zu tun (ebd. S. 86 – 91). Der neu entdeckte Begriff von Schirmherrschaft bedarf um so weniger der Verifizierung an den Quellen, als dem Verfasser ein sozial- oder politikwissenschaftliches Modell „von der Reproduktion der gesellschaftlichen Machtposition der Herren“ zur Verfügung steht, „in dessen Zentrum die soziale Produktion der Gewalt durch die Herren selbst steht.“ Dieses Modell, so hofft Algazi, erlaube es, „von einer ,latenten Funktion‘ der Fehde bei der Reproduktion der Adelsmacht zu sprechen, denn die Unterwerfung der Bauern unter einen Herrn „reproduziert . . . das Monopol eines Herrenstandes auf die Hauptformen von Gewalt. Die Verfolgung der eigenen Interessen durch die fehdeführenden Herren reproduziert somit ihre eigenen Voraussetzungen“ und damit die Adelsmacht im späten Mittelalter (ebd. S. 10, 149 f.). Und so bestätigt sich das längst gefundene Zwischenergebnis: „Herrschaft über Bauern beruhte im späten Mittelalter nicht auf Gegenseitigkeit . . . Es ist daher irreführend, . . . das Verhältnis zwischen Herren und Bauern mit Vertragsmetaphern zu beschreiben“ (ebd. S. 92, 93). Wie man sieht, haben wir es mit einer jener heute hochangesehenen fächerübergreifenden Untersuchungen zu tun, die sich vielleicht Verdienste um andere
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Fächer erwerben mögen, in der Mediävistik aber eher Unheil anrichten. Algazis Studie erweist letztlich nur, daß Otto Brunner trotz der zeitlichen oder ideologischen Gebundenheit seiner Vorannahmen der bessere Mediävist und mitsamt seinen Vorgängern in der herrschenden Lehre an Kenntnis der Quellen seinen Kritikern haushoch überlegen war. Hat sich wirklich unter den zahlreichen Gutachtern und Freunden, die dem Verfasser in Göttingen Rat und Hilfe gewährten, niemand an Georg Waitz erinnert, der dort von 1849 bis 1875 lehrte und die Deutsche Verfassungsgeschichte schrieb, darin er die über den Schwabenspiegel weit, nämlich bis in die Karolingerzeit, zurückreichende Geschichte des Zins-, Schirm- und Herrschaftsverhältnisses dargestellt hat? Algazi jedenfalls weiß nichts von ihr und brauchte auch nichts zu wissen, da ihn ja die Methode seiner neuen Wissenschaft jener genauen Durchsicht der Quellen enthob, in der sich Waitz immer wieder als Meister erweist. Sein Versuch, die herrschende Lehre zu entkräften, hat denn auch unter Fachleuten kaum Beifall gefunden und gilt bestenfalls als „nur bedingt gelungen“ (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 154 A. 2, 212 A. 1). Da hilft es wenig, daß uns von anderer Seite Algazis „brillante Textexegese“ und „bravouröse Sprachanalyse des Werkes von Otto Brunner“ sogar in der Tagespresse zur Nachahmung empfohlen wird (Hans-Ulrich Wehler in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 2 vom 4. Januar 1999, S. 48, und Nr. 101 vom 2. Mai 2001, S. 66). Politisch korrekte Vorannahmen sind offenbar keine hinreichende Voraussetzung für richtige Einsichten in die Geschichte des Mittelalters.
§§ 153 – 162. Neufreie Liegenschaftsrechte § 153. Eine besonders für die Verfassungsgeschichte der Grafschaften und seit dem 12. Jahrhundert der Länder, die ihnen nachfolgten, allgemein aber auch für die Geschichte der Stammesverbände und der Königreichs wichtige Rolle fiel den Neufreien zu, wenn sich ihnen (oder ihren Muntherren) die Frage stellte, an welches Gericht sie sich wenden konnten oder mußten, um Rechtsschutz für ihren freien Personenstand und, sobald sie sich als Hausherren niederließen und eine Hauswirtschaft begründeten, für das Eigentum zu erhalten, das sie sich mit ihrer Hände Arbeit erwarben. In der Karolingerzeit hatte der rechtlich einheitliche Stand der Altfreien die Masse des Volkes ausgemacht und damit auch die Dingvölker (pagenses) der Grafengerichte gestellt, die die kleinsten Partikel sowohl ihres Stammes oder Volkes als auch des königlichen Untertanenverbandes bildeten; der Staatsaufbau bediente sich ihrer Dingverbände als kleinster lokaler Friedens-, Verwaltungs- und Gerichtseinheiten, auf denen er wie auf einem Fundamente beruhte. Die Grafschaften pflegten mehrere (drei, vier, fünf) Dingstätten (malla, placita) zu umfassen, an deren jeder der Graf dreimal im Jahre zu feststehenden Terminen die echten Dinge mit Zuständigkeit für die ganze Grafschaft und für die Hochgerichtsfälle der altfreien Eingesessenen abhielt; diese Fälle umfaßten alle Klagen, die den Beklagten das Leben, die Freiheit
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seiner Person oder das Eigentum kosteten, wenn der Kläger sie mit der Wahrheit zu beweisen vermochte. Zugleich war jede Dingstätte Mittelpunkt eines Untergerichtsbezirks, für dessen Insassen ein gräflicher Amtmann dort auf nach Bedarf gebotenen Dingversammlungen die niedere, über alle anderen Klagen befindende Gerichtsbarkeit ausübte. Außerdem war der Niederrichter, als einziger in seinem auch räumlich eng bemessenen Bezirke ständig erreichbarer Träger der königlichen und gräflichen Gewalt, in allen Fällen von handhafter Tat (oben: § 105) berechtigt, als Notrichter auch über das Leben freier Männer zu richten. Unfreie Einwohner waren zwar dem Grafengericht nicht entzogen (unten: § 372), konnten aber nur mit Erlaubnis ihrer Herren von dem Nieder- oder Hochrichter in Anspruch genommen werden oder als Parteien vor ihnen erscheinen. Eine erste Ausnahme von dieser Regel schuf das Waffenrecht (H. Fehr 1917 S. 121 f.). Seit jeher waren Herren berechtigt gewesen, Unfreie zu bewaffnen und in den Krieg mitzunehmen, aber dieses Recht erfloß aus ihrer Herrengewalt, nicht aus einem Waffenrecht des Knechtes: Dieser gehörte niemals dem vom Grafen aufgebotenen Heer- und Dingvolke an, da der Herr ihn jederzeit nach Belieben entwaffnen und heimsenden durfte. Erst wenn der Herr ihn mit der Wohltat (beneficium) eines Landgutes versah, ihn also selbst zum Hausherrn machte, ihn als Vasallen annahm und mit Roß und Waffen ausrüstete, trat dieser, ohne doch frei(gelassen) zu werden, in den königlichen Untertanenverband der generalitas populi ein, denn König Karl verlangte von ihm nun einen auf ihn, den König, abzulegenden Treue- und Untertaneneid, den er in seiner Grafschaft in Gegenwart des Grafen und gemeinsam mit allen freien, im Alter von zwölf bis siebzig Jahren stehenden und gehorsamstauglichen Dinggenossen abzulegen hatte: . . . cunctas generalitas populi, tam puerilitate annorum XII quamque de senili, qui ad placita venissent et iussionem adimplere seniorum et conservare possunt, sive pagenses sive episcoporum et abbatissuarum vel comitum homines et reliquorum homines, fiscilini quoque et coloni et ecclesiasticis adque servi, qui honorati beneficia et ministeria tenent vel in bassallatico honorati sunt cum domini sui et caballos, arma et scuto et lancea spata et senespasio habere possunt: omnes iurent (MGH. Capit. 1, 66 n. 25 c. 4. Unten: § 657). So stiegen, vermittelt durch Bodenleihe und Reiterdienst, ständisch tieferstehende Personen in das Waffenrecht des freien Volkes auf. Als wirtschaftlich selbständig gewordene Hausväter nahmen sie an einer ursprünglich den Freien vorbehaltenen Rechtsstellung teil (oben: § 115) und traten damit in den Ding- und Volksverband ein. Auch diejenigen ehemals Unfreien indessen, die von einer Kirche oder von einem Dritten zugunsten einer Kirche zu Zins- und Muntrecht freigelassen wurden, ohne von dieser etwelches liegendes Gut zur Leihe zu empfangen, knüpften Beziehungen zum Gericht der Grafschaft, in deren Bezirk sie wohnten, da sie wirtschaftlich selbständig geworden waren, eigenes Vermögen besaßen und in Geschäftsund Rechtsverkehr sowohl mit Alt- und anderen Neufreien als auch mit Hintersassen anderer Grund- und Schirmherrn traten. Auch wenn sich die Kirche, unter deren Schutz sie standen, der vom Könige verliehenen Immunität erfreute, welche
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Grafen und Niederrichtern verbot, ihre Güter zur Vornahme von Amtshandlungen zu betreten (unten: §§ 357 – 362), so waren sie dadurch nicht ohne weiteres von allen öffentlichen Leistungen befreit, behielten die Grafen doch das Recht, von ihnen, als freien Muntleuten der Kirchen, Kriegsdienst, Beiträge zum Brückenund Wegebau und Gerichtsfolge zu verlangen (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 405 – 407). § 154. Über die Geschicke der Grafengerichte während des 9. bis 12. Jahrhunderts ist wenig bekannt, da Parteien, Urteilsfinder und Richter mündlich miteinander verhandelten und es keine Gerichtsschreiber mehr gab, die die Urteile amtlich beurkundet hätten. In den Diplomen der Könige hat lediglich die Sühnegerichtsbarkeit Spuren hinterlassen, die die Hochgerichte ausübten, wenn jemand einen anderen wegen Missetaten wider Leib und Leben beklagte, denn aus ihr zogen König und Graf Einnahmen an Bußanteilen und Friedensgeld (oben: §§ 109, 110), worüber später, im Neunten Kapitel der Verfassungslehre, weiter zu sprechen sein wird. Von der Gerichtsbarkeit über Klagen um Freiheit und Eigentum erfahren wir einiges aus den Privaturkunden, doch sind solche nicht in allen Teilen des Reiches und nicht aus allen Jahrhunderten in gleicher Dichte erhalten. Zudem beleuchten sie vor allem die Rechtsverhältnisse des Kirchengutes, welches der Grafschaft durch das Immunitätsrecht entzogen wurde. Unter diesen Umständen ist es ein mühsames Geschäft, nach Indizien zu suchen, die uns gestatten, Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Grafschaftsgemeinden und Dingverbände aus Alt- und Neufreien zu ziehen. Was man hierzu unter günstigen Verhältnissen den Privaturkunden entnehmen kann, hat in vorbildlicher Weise Ernst Klebel in einer Untersuchung gezeigt, die die Zeugenreihen und die Dispositionen bayerischer Traditionen und Prekarien als Quellen für den räumlichen Umfang der Grafschaften und späteren grafschaftsgleichen Gerichte sowie für deren Kompetenzen in Grundstücksgeschäften auswertet (E. Klebel 1957 S. 145 – 169). Hermann Aubin dagegen hatte zuvor hinsichtlich der fränkischen Grafschaften am Niederrhein von den Weistümern ausgehen müssen, die den Zustand der Landgerichte am Ende der mittelalterlichen Entwicklung erhellen; erst in Kenntnis dieses Zustandes war er imstande, aus den Nachrichten der älteren Königs- und Bischofsurkunden die vorangegangene Entwicklung eines halben Jahrtausends zu erklären (H. Aubin 1920 S. 1 – 125). Wie am Niederrhein, so fehlt es auch in den Landen am Obermain an geschlossenen Beständen kirchlicher Traditionen. Daher zog Erich Freiherr von Guttenberg die im 14. Jahrhundert angefertigten landesfürstlichen Urbare heran, um einen Rahmen zu gewinnen, in den sich die Aussagen der Diplome und Privaturkunden aus dem 11. und 12. Jahrhundert einordnen lassen (E. von Guttenberg 1927). Ich bediene mich dieser drei Abhandlungen, um eine diskutable These über die Beteiligung von Neufreien am Grafengericht zu entwerfen. § 155. Liegenschaftsgeschäfte altfreier Grundbesitzer, die ihr Land zu freiem Eigen oder Allod besaßen (oben: § 96), waren jahrhundertelang nur zugunsten von
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Kirchen möglich. Man vollzog sie in einer Doppelhandlung, die öffentlich und in Gegenwart von Zeugen entweder ganz auf dem Grundstück selbst oder teils dort, teils in der erwerbenden Kirche vorgenommen wurde (oben: § 95). Es war demnach nicht gesetzlich vorgeschrieben, Grundstücke im Grafengericht aufzulassen, doch war es möglich und üblich, dies zu tun, wenn es den Parteien darauf ankam, den amtierenden Grafen und seine Urteiler oder Beisitzer als Zeugen zu gewinnen (E. Klebel 1957 S. 145 – 152). Eine allseits befriedigende Antwort darauf, warum im 10. Jahrhundert das Grafenzeugnis in Bayern nicht mehr eine gleich sichere Quelle für den Umfang der Grafschaften darstellt wie im 9. Jahrhundert, steht aus. Es liegt aber nahe, einen Zusammenhang zwischen dieser Erscheinung und der rückläufigen Zahl bäuerlich oder als kleine Grundherren (Herren einiger Hufen Landes) lebender Altfreier und Allodialeigentümer anzunehmen, denen es nicht gelang, zu Hochadligen oder Dynasten aufzusteigen (ebd. S. 168). Die Grafschaftsgemeinden wären demnach vom Aussterben bedroht gewesen, wenn es ihnen nicht gelang, sich durch die Aufnahme neufreier Dinggenossen zu stärken. Den Weg des Dahinschwindens scheinen viele der bayerischen Grafschaften gegangen zu sein. Aus den Passauer Traditionen sind Auflassungen vor dem Grafengericht für die zweite Hälfte des 10. und das 11. Jahrhundert nicht mehr zu erweisen; in anderen bayerischen Diözesen sind Traditionen des 11. und 12. Jahrhunderts, die eine Auflassung vor dem Grafengericht bezeugen, selten und stets durch vorhergegangene gerichtliche Streitigkeiten um das Gut veranlaßt. Am Ende sahen sich die Grafen auf einige wenige schwierige Streitfälle und auf die Funktionen eines Rahmens beschränkt, nachdem Gerichte und Dingverbände anderen Ursprungs als eigentliche Elemente des Verfassungslebens des bayerischen Stammes an ihre Stelle getreten waren (ebd. S. 146, 152, 154, 169). Offenbar war es diesen Konkurrenten der Grafschaft gelungen, die Neufreien an sich zu ziehen und auf diese Weise die auf die sinkende Zahl altfreier Geschlechter beschränkten Grafschaften an politischem Gewicht zu übertreffen. § 156. Dagegen möchte ich (neben abgeschichteten jüngeren Söhnen und erblosen Enkeln bäuerlich lebender Altfreier, oben: §§ 91, 92) Neufreie als gräfliche Dinggenossen überall dort vermuten, wo man durch Rodung weit ab von den alten Dingstätten soviel Neuland gewann, daß es möglich, ja sogar notwendig war, darauf neue Grafschaften zu errichten. Ein sehr frühes Beispiel dafür bietet die südlich und südöstlich von Löwen gelegene Grafschaft Brunengeruuz oder Brunerode. Sie hatte im Jahre 870 noch nicht existiert, muß aber im 10. Jahrhundert vom Könige eingerichtet worden sein, da Kaiser Otto III. um 988 die Hoheit über sie der bischöflichen Kirche zu Lüttich derart bestätigte, daß der Bischof hinfort dort den Grafen einzusetzen hatte (U. Nonn 1983 S. 235 – 239). Das Grundwort des Namens (-geruz = le roeux) bezeichnet Rodungsland, während das Bestimmungswort auf eine Person namens Bruno verweist, über deren Stand und Amt wir ebenso wenig wissen wie über Herkunft und Stand der Kolonisten, die sie in den Kohlenwald führte. Es kommen dafür indessen vornehmlich neufreie Zensualen in Betracht, die sich der Freizügigkeit und Rechtsfähigkeit erfreuten, ohne die sich niemand auf
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die schwere Rodungsarbeit eingelassen hätte, aber auch niemand fähig gewesen wäre, eine freie und königsunmittelbare Dinggenossenschaft zu gründen. Ein Streit um die Grafschaft, in den Graf Gottfried von Löwen etliche Generationen später den Bischof Otbert von Lüttich (1091 – 1119) verwickelte, wurde rechtsförmig geschlichtet, indem jeder der beiden Fürsten sechs liberos homines zu Urteilern bestellte, qui facto iuramento litem terminarent und nur als Genossen des Dingverbandes den freien Stand und die zur Schlichtung erforderliche Sachkenntnis besessen haben können. Sie entschieden zugunsten des Bischofs. Bei der Gelegenheit beschrieben sie die Grenze der Grafschaft, die unter anderem die gräfliche Gerichtsstätte berührte und als namengebenden Ort des Comitats bezeugt (ad mallum ad Brunengeruz). Wohl nicht allzu lange, nachdem Bruno die ersten neufreien Kolonisten in den Kohlenwald eingewiesen hatte, begannen die Grafen von Holland, die Hochmoore zwischen dem küstennahen Dünenrande, dem Alten Rhein und der Vecht urbar zu machen, wobei sie als erste die Kolonisten nach dem Rechte der sogenannten freien bäuerlichen Gründerleihe ansetzten, das uns schriftlich zum ersten Male in der bereits (oben: § 151) erwähnten Urkunde des Erzbischofs von Bremen aus dem Jahre 1114 bezeugt wird (H. van der Linden 1956 S. 17 – 69). Sicher gemäß älterem holländischem Recht gestattete der Erzbischof den Ansiedlern, die er bereits als Personenverband und Sprecher eines künftigen populus (Quellen hg. von G. Franz 1974 S. 170 Z. 6) anerkannte, indem er mit ihnen paktierte (ebd. Z. 4, 34), aus dem Rodelande den Bezirk eines neu einzurichtenden Landgerichts mit grafschaftsgleicher Verfassung und Kompetenz zu machen (ebd. Z. 18 – 25). Gewiß noch im 12. Jahrhundert wird auch das 1221 zuerst erwähnte Goding auf dem Megedeberge bei Plön als Grafengericht für die Neusiedler in Wagrien eingerichtet worden sein (W. Laur 1994 S. 543 f.). In Holland und im Stift Utrecht, dessen Bischöfe das Vorbild der Grafen alsbald nachahmten, pflegte man die Gerichtsbezirke im Rodelande so zu bemessen, daß jeder von ihnen einen Koggen zur landesherrlichen Heerfahrt auszurüsten und zu bemannen vermochte; erst 1132 begannen die Bischöfe, die Neusiedler von der Heerfahrtpflicht zu befreien (OB Utrecht 1, 313 n. 341. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 153. H. van der Linden 1956 S. 141 – 144). Denn wie als freie grundherrliche Hintersassen (oben: § 132), so waren Bauern auch als Freigelassene und Neufreie noch im 11. Jahrhundert ihrem Grafen wehrpflichtig. Davon machte König Heinrich IV. Gebrauch, als er in den Jahren 1077, 1078 und 1085 zahlenmäßig starke Heere aus Bauern und Kaufleuten aufbot und in den Krieg führte (I. S. Robinson 1999 S. 176, 181 f., 191, 261, 350). Auch später noch war der neufreie Bauer verpflichtet, Waffen zu halten, damit er dem Grafen oder Landrichter bei der Verfolgung von Friedensbrechern bewaffnet zu Hilfe kommen konnte, und berechtigt, sobald er den zugunsten der Feldarbeit befriedeten dörflichen Bezirk verließ und sich auf Reisen begab, sich mit dem Schwerte zu bewaffnen (MGH. Const. 1, 380 n. 277 c. 14 = DF. I. 774 S. 330 Z. 5 – 9 vom Jahre 1179. H. Fehr 1914 / 17 S. 139). Außer der Dingpflicht setzte also auch die Wehr-
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pflicht alle Neufreien in Beziehung zur Grafschaft und zu den ihr nachfolgenden Einrichtungen (unten: § 302). § 157. Jene Gerichte, die seit dem 11. Jahrhundert den Grafengerichten als Beschützer der neufreien Zensualen Konkurrenz zu machen begannen, waren die Vogtgerichte der geistlichen Immunitätsherren und die von Dynasten übernommenen oder geschaffenen Gerichte. In den Traditionen des Bistums Freising treten seit etwa 970 unfreie, im Schutze der Stiftsimmunität auf Kirchengut gesessene Leute als gleichwohl rechtsfähige Tradenten und Partner des Bischofs in Liegenschaftsgeschäften auf, die, wenn überhaupt, nur vor dem Gericht des bischöflichen Vogtes verhandelt worden sein können. Die Rechtsfähigkeit dieser nicht vollfreien Tradenten deutet darauf hin, daß es sich bei ihnen entweder um altfreie Ergebungsleute oder um neufreie, zugleich dinglich an die Kirche gebundene Zensualen (oben: § 151) handelte: Angehörige zweier Gruppen ständisch verschiedener Herkunft, die jetzt zum einheitlichen Stande neufreier Bauern zu verschmelzen begannen, da die Kirchen auf die Dauer wohl keinem ihrer zu Erbzinsrecht angesessenen Hörigen die Zulassung zur Zensualität verweigern konnten. Gleichzeitig fingen die Notare an, zwischen freien (nobiles) und untertänigen (ex familia beigezogenen) Zeugen zu unterscheiden, so daß sich vermutlich nun auch Kleriker und bischöfliche Vasallen altfreier Herkunft daran gewöhnten, Auflassungen zugunsten der Kirche vor deren Vogtgericht vorzunehmen. Seit 1022 / 24 konnten dann auch Handlungen auswärtiger, dem bischöflichen Untertanenverbande fremder Freier, die sich deswegen vorher wohl hätten an ihr Grafengericht wenden müssen, vor dem Vogtgericht vor sich gehen (E. Klebel 1957 S. 159 – 162). In den Traditionen der benachbarten Diözese Salzburg waren dafür in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts noch allein die Grafengerichte zuständig, aber nach der Jahrhundertmitte fingen die Vogtgerichte an, ihnen Konkurrenz zu machen, und nach dem Jahre 1023 hörte, ebenso wie in Freising nach 1039, jede Beziehung der Traditionen zum Grafengericht auf (ebd. S. 154 – 158). Die Gleichstellung der Vogtgerichte mit den Grafengerichten in Liegenschaftssachen war nun erreicht, wie seit 1039 auch die Zusammensetzung der Zeugenreihen bestätigt. So spiegelt sich offenbar im allmählichen Aufstieg der Vogtgerichte zu grafengleicher Kompetenz der Aufstieg des bäuerlichen Immunitätsvolkes zur Neufreiheit wider. Ihrer müssen sich auch die in Süddeutschland zahlreichen, zu Freistift angesetzten Landwirte erfreut haben, da dieses Recht dem Herrn den jederzeitigen Widerruf des Leihevertrags vorbehielt, dann aber dem Bauern den freien Abzug unter Mitnahme seiner Ersparnisse eingeräumt haben muß. Es scheint allerdings der beschränkten, unfreien Freiheit (oben: § 82) der Zensualen und Neufreien zu entsprechen, daß sich ihr Eigentum an Grund und Boden von dem der Altfreien ebenso unterschied wie ihr persönlicher Stand. Denn die zwischen dem Bischof von Freising und seinen Untertanen abgeschlossenen Tauschgeschäfte zeitigten seit circa 970 Änderungen im Formular der Beurkundung, die den Bearbeiter zu der Vermutung – ein strikter Beweis ist nicht möglich – bewogen, diese Geschäfte
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hätten für die Bauern zwar den Landbesitz zu freier, d. h. frei veräußerlicher und damit zur Rodung anregender Erbleihe, aber doch nur als sogenanntes Inwärtseigen begründet, wie es im 12. Jahrhundert in Bayern und Österreich ersichtlichermaßen für die Oberschicht der Neufreien, die Ministerialen, üblich (E. Klebel 1957 S. 163 – 165), aber auch sonst weit verbreitet war (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 306). Der Inhaber solchen Inwärtseigens konnte sein Gut zwar frei, d. h. unabhängig vom Willen des Zinsherrn, aber nicht an jedermann, sondern nur an Untertanen und Ministerialen eben dieses Herrn veräußern, also so, daß der Erwerber wiederum Höriger oder Untertan des Zinsherrn und Obereigentümers wurde und, wenn er es nicht bereits war, mit dem Kauf in dessen Hof- und Zinsrecht eintrat. So bildete nach dem im Jahre 1024 aufgezeichneten Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms dessen familia eine Genossenschaft (societas), deren Mitglieder ein Erbgut (praedium hereditale, mansus hereditatis) samt unbehausten Knechten (mancipia) besaßen und dieses innerhalb der familia nach Belieben veräußern oder verkaufen konnten, wenn keiner der nach ihnen Erbberechtigten dem widersprach (vendet socio suo, cui voluerit. Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 88 n. 23 Art. 2. K. Schulz 2000 S. 259, 269 f.). Ein wichtiger Unterschied gegenüber dem freien Eigen des altfreien Edelings bestand darin, daß das Inwärtseigen des Zensualen nur bei erbenlosem Tode des Zinsherrn und Erlöschen des herrschaftlichen Hauses (was allein bei weltlicher, nicht jedoch bei kirchlicher Zinsherrschaft möglich war) als freies Eigentum des bisher zinspflichtigen Inhabers fortbestand, während es bei dessen eigenem erbenlosem Tode an den Zinsherrn und Obereigentümer zurückfiel. Nur auf den ersten Blick erscheint eine solche Standesbindung als Sonderrecht des neufreien Inwärtseigens, denn wenigstens insofern ist darin doch ein allgemeines Merkmal germanisch- oder deutschrechtlichen Grundeigentums zu erkennen, als auch das Eigentum der Altfreien bei der Veräußerung ständischen Beschränkungen unterlag. Allodialbesitz war also ebenso wenig völlig frei wie der Besitz freier Erbzinsgüter, denn selbst Dynasten konnten, was ihnen an Gütern und Gerechtsamen zustand, nur an Standesgenossen veräußern (O. von Dungern 1927 S. 61), ja sogar Könige sahen sich bei der Verfügung über Fürstentümer und Grafschaften, obwohl diese als Teile ihres regnum auch propria regis oder königliches Eigen darstellten, insofern beschränkt, als sie sie zu eben diesem Eigentumsrecht nur an andere Könige, nicht aber an einen ihrer Untertanen abtreten konnten (E. Lesne 1924 S. 8). Was aber die Rechtsverhältnisse der Neufreien anlangt, so bewirkte die Ausbildung des Inwärtseigens in den bayerischen Diözesen, daß die Inhaber wegen der so besessenen Güter weiterhin zur bischöflichen (Grundherrschaft und) Immunität gehörten und die Kompetenz des Vogtgerichtes dadurch erweiterten, daß sie einen Rechtsstreit, der diese Güter betraf, nicht mehr beim Grafengericht anbringen konnten. Wie die freie bäuerliche Gründerleihe das Bodenrecht neufreier gräflicher Untertanen, so dürfte das Inwärtseigen das Bodenrecht der neufreien Vogteileute
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gewesen sein. Wo uns die Quellen Einblick in das Liegenschaftsrecht gewähren, beleuchten sie demnach auch die Standesverhältnisse der Leute, die das Dingvolk der zuständigen Gerichte bildeten. § 158. Auch für die Dingverbände dynastischer Allodialgerichte könnte das Bodenrecht des Inwärtseigen kennzeichnend gewesen sein. Über die Entstehung von Allodialherrschaften und die Herkunft der freien Untertanen, deren Dingpflicht Voraussetzung dafür war, daß ihren Gerichten grafengleicher Rang zuwuchs (oben: § 144a), enthalten die Quellen keine Nachrichten. Die dafür erforderlichen Vereinbarungen der Dynasten einerseits mit ihren Untertanen, andererseits mit Grafen, Herzögen und Königen haben nirgendwo zur Beurkundung geführt, noch sind sie von Chronisten beobachtet oder einer Beschreibung gewürdigt worden. Erst im späten Mittelalter erscheinen im allgemeinen (oben: § 136) die nun fertig ausgebildeten dynastischen Gerichte im Lichte der Quellen. Was Bayern anlangt, so hat Ernst Klebel angenommen, im zweiten und dritten Viertel des 11. Jahrhunderts, also während jener Jahrzehnte, da dort Könige und Prinzen aus salischem Hause die herzogliche Würde in eigener Person bekleideten, sei es altfreien Geschlechtern, die imstande waren, das Dynastenprivileg zu realisieren, besonders leicht gefallen, für sich selbst die Freiheit vom Grafengericht und damit das Recht zu erlangen, in ihrem Herrschaftsbezirk selbst Hochgericht oder eine Schranne, wie man in Bayern sagte, zu halten, denn die König-Herzöge könnten ihre Bestrebungen gefördert oder geduldet haben, um eine breitere Schicht des Volkes und seiner Worthalter an sich zu binden; während ein großer Teil der altfreien Edelingsgeschlechter in die neufreien Stände der Zensualen und Ministerialen abgesunken, aber weiterhin zu den Grafengerichten dingpflichtig geblieben sei, habe eine kleine Gruppe von Standesgenossen Gerichtsbarkeit über Grund und Boden und damit Schrannen erlangt und hinfort den Stand der principes terrae Bawariae gebildet, die allein noch die vom Herzoge berufenen und geleiteten Landtage hätten besuchen dürfen (E. Klebel 1957 S. 162 f., 167, 169). Diese Lehre schließt offenkundig die Annahme ein, auch den Allodialgerichten sei das Bodenrecht des Inwärtseigens bekannt gewesen, denn auch sie seien dadurch zu freiem Dingvolke gekommen, daß die Gerichtsherren die Bewohner ihrer Güter zu Zensualenrecht freiließen und andere Neufreie als Zuwanderer gewannen: Jeder Edel- oder Freiherr, der Mannen an sich zog und sie mit Inwärtseigen ausstattete, habe diese Mannen vor seine Schranne gezogen und sie damit der Grafschaft, aus der er seinen Herrschafts- und Gerichtsbezirk herauslöste, entwendet (ebd. S. 167). Leistung der Gerichtsfolge bedeutete eben Anerkennung der Herrschaft; wer das Urteil annahm, das der Gerichtsherr, sei es kraft königlicher Ernennung oder kraft Standesrechts, sanktionierte, der verpflichtete sich diesem Herrn gegenüber konkreter zum Gehorsam als durch die Leistung eines Treueides, wie ihn einst Karl der Große gefordert hatte, ohne daß spätere Könige daraus eine Gewohnheit hätten machen können (F. Bougard 1995 S. 1). Mehr noch als der Aufschwung der Vogtgerichte führte die Errichtung dynastischer Schrannen zu der Zersetzung der bayerischen Grafschaften, die für das 12. und 13. Jahrhundert kenn-
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zeichnend ist und uns erklärt, warum das Grafschaftsgericht in den Traditionen des 12. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle spielt. Es war diese Zersetzung, die „alle politischen Gebilde Bayerns in jener Zeit von den Zenten Ostfrankens und den großen Grafschaften Schwabens unterscheidet, sich aber der Entwicklung des Rheinlandes, des Elsaß und Westfalens nähert“ (ebd. S. 163). § 159. Während die große Menge der Zensualen und Neufreien stets auf dem Lande wohnte und von Landwirtschaft, agrarischen Hilfsgewerben und Landarbeit lebte, eröffneten sich für einige wenige unter ihnen seit der Mitte des 10. Jahrhunderts neue Beschäftigungen und Berufe, die es ihnen erlaubten, sich vom Landvolke abzusondern und, indem sie sich mit ihresgleichen verbanden, den Grund für neue Standesbildungen zu legen: nämlich für Ministerialität und Bürgertum (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 322, 480). Seit sich etwa hundert Jahre später Zensualen und Ministerialen oder Dienstmannen bestimmter schieden, begannen die Inhaber von Herreneigentum an Land und Leuten, ihre Eigenleute (mancipia, homines proprii), sofern sie sie bereits zu höheren Verwaltungs- und ritterlichen Kriegsdiensten herangezogen hatten, nicht mehr zu Zensualenrecht, sondern zu dem jetzt sowohl sozial wie rechtlich weit mehr geltenden Recht der Ministerialen freizulassen oder geistlichen Stiftern zu übertragen. Daher wurde die bäuerliche Zensualität seit dem 12. Jahrhundert als ständisch unter der Ritterschaft stehend und, vom Standpunkt der Herren aus, mehr und mehr als unfreies Rechtsverhältnis aufgefaßt; insoweit entwickelte sie sich also in umgekehrter Richtung wie die Ministerialität (G. Waitz Bd. 5 S. 201 f., 343 f. E. von Guttenberg 1927 S. 342 – 348). Unter diesen Umständen muß es sowohl für bäuerlich lebende Altfreie als auch für jene wenig zahlreichen Edelinge, die sich eine ritterliche, nicht aber die dynastische Lebensweise leisten konnten, vorteilhaft gewesen sein, in die ritterliche Dienstmannschaft eines Fürsten einzutreten, doch ist der Übertritt nur ganz vereinzelt nachweisbar (E. von Guttenberg 1927 S. 291 f., 342 – 347). Das Liegenschaftsrecht der Dienstmannschaft kann daher von dem der Edelinge nicht erheblich beeinflußt worden sein. Bereits in der Karolingerzeit hatte der dem Herrn persönlich geleistete Reiterund Waffendienst manchem Unfreien die Zulassung zu dem Waffenrecht, das im allgemeinen den Freien vorbehalten war, und damit den Eintritt in den Volksverband ermöglicht, sobald der Herr den Mann mit Leihegut ausstattete und ihn in die Vasallität aufnahm (oben: § 153). Aus dem Ausdruck servire oder serviens allein ist freilich nicht auf Ministerialität zu schließen, da auch Edelfreie dem Könige solche Dienste leisteten (oben: § 121). Im 11. Jahrhundert – im Bamberger Kanzleigebrauch sogar bis um 1130 (E. von Guttenberg 1927 S. 245) – finden wir denn auch den Titel miles noch den Dynasten vorbehalten; erst seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts kennzeichnete dieser den neuen Stand des ritterbürtigen niederen Adels, in dem nun die Dienstmannschaft aufging. Könige und Landesherren begannen zu der Zeit, Ministerialen und niedere Adlige als Amtleute (als Grafen: J. Ficker 1861 S. 79 f.) zu beschäftigen, da die Dingverbände, denen sie sie vor-
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setzten, nicht mehr aus Altfreien bestanden, denen sie standesrechtlich nicht gleichgekommen wären und daher keinen Gehorsam hätten abverlangen können, sondern aus Neufreien, wie sie selbst es waren. Die Umbildung zum ritterbürtigen niederen Adel der Territorien kam auch im Sprachgebrauch der Kanzleien zum Ausdruck, da sie jetzt den Ritterbürtigen den Titel miles „zum Ritter Geschlagener“ und die Prädikate nobilis und dominus nicht mehr verweigern konnten (E. von Guttenberg 1927 S. 354. S. Reynolds 1994 S. 429 – 439). Denn die wenigen altfreien Geschlechter, die nicht zur Allodialherrschaft gelangt, jedoch wohlhabend genug gewesen waren, um ritterliche Lebensformen anzunehmen und sich standesrechtlich von dem gemeinen bäuerlichen Manne abzuschließen, traten fortan überall dort, wo sich Landesherrschaft auszubilden begann, aus freiem Willen in die Ministerialität eines Fürsten ein, um Zugang zu dessen Hofe und zum landesherrlichen Beamtentum zu gewinnen und dadurch ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern, dieweil ihnen, was sie damit an Freiheit verloren, nicht mehr viel bedeutete. Die Schöffenbarkeit in den Grafengerichten etwa büßte um so mehr an Wert ein, je öfter die Grafengerichte entweder aus Mangel an altfreien Dinggenossen und rechtsuchenden Parteien erloschen oder sich das Überleben durch die Aufnahme neufreien Dingvolkes sichern mußten. So verschmolz die Klasse ritterlich lebender Edelfreier im Verlaufe des 13. und der beiden ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts mit der ministerialischen Ritterschaft zu dem nunmehr neufreien und landsässigen Ritterstande. § 160. Für die Frage nach dem Ursprung des Rechtsinstituts der Ministerialität sind zwei Dinge entscheidend, erstens nämlich, daß Dienstmannen im Gegensatz zu den Zensualen keinen Kopfzins entrichteten und keine bäuerlichen Arbeitsdienste leisteten, denn beides hatten sie vertauscht gegen die Pflicht, ihrem Herrn als Verwalter und Krieger zu dienen, und die Teilnahme an Waffenrecht und Waffenehre machte sie nun freier, als es der Zinsmann war. Der Zensuale, der Dienstmann werden sollte, bedurfte also einer weiteren Freilassung, während sich der Freigeborene, der in das Verhältnis eintrat, lediglich sein Geburtsrecht vorzubehalten brauchte, um diesen Status zu erlangen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 345 – 351). Zweitens treten uns viele Ministerialengeschlechter, sobald mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts die urkundliche Überlieferung einsetzt, aus der wir dies erkennen können, als Inhaber freien Eigens entgegen, über das sie gleich den Altfreien manu propria potestative verfügten. Da dieses Eigengut sowohl von beträchtlichem Umfange als auch über die Dörfer ihres Landes weit gestreut gelegen war, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß es sich dabei um aus Ersparnissen neufreier Aufsteiger neu erworbenen Besitz gehandelt habe. Für den Haushalt des Dienstmannes war dieses Eigengut ebenso wichtig wie der Lehnsbesitz, über den er verfügte und mit dem er jenes ergänzte (oben: § 124. G. Waitz Bd. 5 S. 383. E. von Guttenberg 1927 S. 319 – 325). Beide Beobachtungen sprechen dafür, daß die Mehrzahl der Ministerialengeschlechter nicht von Unfreien abstammt, die durch schrittweise Freilassung ständisch aufgestiegen wären (obwohl das natürlich auch vorkam), sondern von altfrei-
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en Vorfahren, die durch Autotradition als Ergebungsleute einer Kirche in deren Dienstmannschaft eingetreten und zugleich wohl ständisch abgestiegen sind. Genealogisch wäre demnach der neufreie Stand der Ministerialen im wesentlichen aus der Gruppe bäuerlich oder kleingrundherrlich lebender Ergebungsleute hervorgegangen, zu der in Sachsen die liberi in tutela und die Jamundlinge des 9. und 10. Jahrhunderts, in Ostfranken die persönlich freien accolae der Würzburger Immunitätsurkunden und die Bargilden des 12. Jahrhunderts zählten (E. von Guttenberg 1927 S. 349 f. Ph. Heck 1931 S. 243 – 245). Das dienstmännische Rechtsinstitut wäre demnach wohl am besten zu erklären als Fortbildung der Mundlingschaft, also derjenigen Rechtsbeziehung, in der sowohl die zu Zinsrecht Freigelassenen als auch die altfreien Autotradenten zu ihren Munt- und Schirmherren standen, die aber im Falle der Ministerialität die Herrenrechte zu Zinsfreiheit und beschränkter Dienstbarkeit abschwächte und es dem Dienstmanne bereits im 11. Jahrhundert ermöglichte, Lehen von fremden Herren anzunehmen (oben: § 150). § 161. Wenn gleichwohl die Dienstleute in staufischer Zeit und von dem Verfasser des Sachsenspiegels nicht zu den Freien gerechnet wurden, so macht sich darin eine zeitweilige, auch sonst wahrnehmbare Verschiebung in der Bedeutung des Oberbegriffs frei bemerklich: „In dem Vorstellungsgehalte, den unsere Sprache mit diesem Worte verband, ist das ursprünglich allein bedeutsame Element ,rechtsfähig‘ immer mehr durch das Vorstellungselement ,unabhängig‘ verdrängt worden. So war auch der sächsische Late ursprünglich ein niederer Libertine und muß deshalb in vorgeschichtlicher Zeit zu der Gruppe der Freien gehört haben. In historischer Zeit gilt er als unfrei . . . Durch diese Bedeutungsverschiebung konnten Volkselemente ohne Verschlechterung oder trotz Besserung ihrer Rechtslage und erst recht ihrer sozialen Lage aus der Klasse der Freien in die der Nichtfreien hinüberwandern. Hierauf beruht die zeitweise Klassifikation der Dienstleute als Unfreie, die später infolge Lockerung der Abhängigkeit wieder verschwand“ (Ph. Heck 1931 S. 245 f. Oben: §§ 82, 83, 148). Daraus mag sich das Auftreten der Merkmale geminderter dienstmännischer Freiheit im 12. und auch noch im 13. Jahrhundert erklären, die mit rechtlicher Verbindlichkeit nur durch Urteile der Hof- und Dienstgerichte, und das heißt: nicht einseitig von der Herrschaft, sondern nur mit Zustimmung der hier die Urteile weisenden Ministerialen, festgestellt werden konnten und folglich nicht nur den Herren, sondern auch den Dienstmannen Vorteile gebracht haben müssen (E. von Guttenberg 1927 S. 340). Die von ihnen selbst anerkannten Merkmale ihrer Abhängigkeit oder Unfreiheit waren (1) die Zugehörigkeit zur Hausgenossenschaft (familia) ihres geistlichen oder weltlichen Dienstherrn, (2) das daraus folgende beschränkte Eherecht des Ministerialen, der entweder nur eine Genossin aus derselben Hausgemeinschaft (uxor consocialis) heiraten durfte oder die aus der Ehe hervorgehenden Kinder hinsichtlich ihrer Dienste mit dem Herrn der Ehefrau teilen mußte, was noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts rechtens war, und schließlich (3) das ebenfalls aus dem Anrecht des Herrn an seine Person folgende Anrecht der Herrschaft auf seinen freien (allodialen) Grundbesitz, der ebenso wie der aus dem Hausgute
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des Herrn stammende Lehnsbesitz dem Herrn zu dienen hatte und wie dieser als Inwärtseigen (oben: § 157) behandelt wurde. Im bayerischen Rechtsgebiet verwandelte sich durch Leibgedinge begründetes Inwärtseigen im 12. und 13. Jahrhundert vielfach in Lehen, denn auch an freie Vasallen wurden Lehen bis um 1120 lediglich auf Lebenszeit verliehen, und für beide Leiheformen pflegte die Erblichkeit erst seither einzutreten. Wenn aber bis um 1300 hin allem Anscheine nach die Inwärtseigen weit zahlreicher waren als die Lehen (E. Klebel 1957 S. 165 f.), so gewiß deswegen, weil die Zahl der Ministerialengeschlechter viel geringer war als die der bäuerlichen Zensualen. Als sich endlich die wenigen überlebenden altfreien ritterlichen Häuser zum Übertritt in eine landesherrliche Dienstmannschaft entschlossen, geschah dies zu einer Zeit, da ihnen die Freiheit der Verfügung über ihren Grundbesitz wegen der Näherrechte der Haus- und Standesgenossen kaum mehr an Vorteilen gewährte, als sie auch der Dienstmann genoß, der sich innerhalb der Dienstmannschaft seines Herrn der gleichen Bewegungsfreiheit für seinen inwärtseigenen Besitz erfreute (O. von Dungern 1927 S. 57 f.). So bildeten sich überall aus altfreien und dienstmännischen ritterlichen Häusern die neufreien und landsässigen Ritterschaften. Nur im Westen des alten sächsischen Stammesgebietes überwogen ihnen gegenüber noch im 14. und 15. Jahrhundert an Zahl diejenigen edelfreien Geschlechter, die sich noch immer des Eintritts in eine Ministerialität enthalten hatten, weil sie imstande waren, als Freigrafen und Freischöffen ihre königsunmittelbaren Grafengerichte in lebendiger Wirksamkeit zu erhalten und ihre Freigüter, wie seit jeher, zu altfreiem Eigen zu besitzen, von dem sie nur dem Könige einen deren Status schützenden Anerkennungszins entrichteten (J. Ficker 1861 S. 77. A. Hagemann 1959 S. 119 – 131). § 162a. Nachdem die beiden ersten Könige aus dem sächsischen Hause der ständigen Ausplünderung des Ostfränkischen Reiches durch Ungarn und Wikinger, die den Niedergang des Karolingerreiches begleitete, ein Ende gemacht hatten, setzte ein nachhaltiger Aufschwung des Wirtschaftslebens ein, der Handel und Marktverkehr begünstigte und viele Zensualen dazu veranlaßte, ihre Freizügigkeit ausnutzend, vom Lande abzuwandern und sich in den Bischofsstädten oder an neugegründeten Märkten niederzulassen, um frei für den Absatz an die Marktbesucher zu arbeiten und so mittels gewerblicher Tätigkeit reich zu werden. Diese zuziehenden Leute waren darauf angewiesen, sich Land zu Wohn- und Werkstätten von den alten Bewohnern der Städte und Marktplätze geben zu lassen. Während nun auf dem Lande vielfach und noch auf lange Zeit hin Land nur zu erhalten war, wenn der Erwerber bereit war, sich über die dingliche Verpflichtung hinaus, wie es das Inwärtseigen erforderte, auch für seine Person dem Eigentümer zu ergeben und als Höriger in dessen Hofrecht einzutreten, schlug die städtische Entwicklung eine andere Richtung ein: Hier waren die Alteigentümer entweder nicht imstande oder nicht willens, diese Bedingung geltend zu machen. Die Erwerber mußten sich bloß verpflichten, ihnen einen Zins von dem Grundstücke zu zah-
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len; zum Eintritt ins Hofrecht wurden sie nicht genötigt, vielmehr verblieben sie im uneingeschränkten Besitz ihrer persönlichen Freiheit und Rechtsfähigkeit. Die alten Hofrechtsverbände stadtsässiger geistlicher und weltlicher Grundherren blieben zwar in den Städten bestehen, aber die Grundstücke der Zuwanderer schieden aus ihnen und ihrem Hofrecht aus. Sie unterstanden, wie aller freie Grundbesitz, dem öffentlichen oder Grafengericht. Die städtische Zinsleihe war freie, zwischen Grundeigentümer und Erwerber frei vereinbarte und für den Erwerber jederzeit kündbare Bodenleihe (G. von Below 1887 S. 201 – 203, 233, 1888 S. 233 – 237. E. Pitz 1991 S. 303 – 308). Die älteste Nachricht über das neue Bodenrecht, das wir heute als freie städtische Gründerleihe bezeichnen, hat uns eine Urkunde des Markgrafen Arnold von Flandern aus dem Jahre 941 aufbewahrt, darin der Aussteller unter anderem über „den Zins“ verfügte, „den man von den Hausstätten erhebt, die im Hafenmarkt zu Gent . . . gelegen sind“ (Elenchus 1, 291 n. 2. H. Jakobs 1982 S. 21 f.), einen Grundzins, der den Schuldner gegenüber dem Zinsherrn zu weiter nichts verpflichtete und der die Genter Kaufleute zu völlig freien Grundbesitzern machte, sobald sie ihn abzulösen vermochten. In seinen Wirkungen mit diesem Gründerleihezins vergleichbar war der Hausstättenzins, den der Erzbischof von Köln in der Vorstadt am Kölner Rheinufer erhob, denn entgegen seinem Bemühen, Marktsiedlern das Zinsrecht nur als unveräußerliche und unvererbliche Leihe zu gewähren, setzte sich im Verlaufe des 11. Jahrhunderts das Interesse der Kaufleute derart durch, daß das Kölner Stadtrecht schließlich den Beliehenen als den wahren Verfügungsberechtigten oder Quasi-Eigentümer, den erzbischöflichen Leiheherrn dagegen nur noch als zum Bezug einer Grundrente berechtigten Realgläubiger anerkannte (H. Jakobs 1982 S. 68 – 79, 88). So unterschieden sich die zu Hofrecht besessenen städtischen Grundstücke deutlich von den zu Stadtrecht vergebenen. Im Hofrecht des Bischofs von Worms aus dem Jahre 1024 erscheinen einerseits als Bürger (concives) alle diejenigen Stadtleute, die vom Bischof eine Hofstätte (hereditalis area) in Erbzinsleihe besaßen und darin ihr Kapital anlegten, indem sie darauf ein Haus erbauten, und andererseits als Hofhörige und Genossen (socii) der bischöflichen Hofgemeinde (familia) alle Leute, die ihre Grundstücke (praedia hereditalia) lediglich als Inwärtseigen veräußern und vererben konnten (oben: § 157); während die Bürger zu den drei echten Gerichtstagen des Grafengerichts geladen wurden, dessen Dinggenossenschaft sie bildeten und das ihrem Erbzinsrecht als Hochgericht Rechtsschutz gewährte, standen die Hofhörigen mit ihren Grundstücken im Schutze des Vogtgerichts (iudicium sociorum), dessen Dinggenossenschaft sich aus ihnen zusammensetzte (K. Schulz 2000 S. 265 – 270). § 162b. Wie aber der Grundbesitz zu Hofrecht von den städtischen und der zu Stadtrecht von den hofrechtlichen Lasten befreit war, so verteilten sich die Rechte der Inhaber, wie das Königsgericht zum ersten Male im Jahre 1101 feststellte: Hörige standen nämlich entweder im Dienste eines Herrn – dann aber unterlagen sie
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dessen Hofrecht und waren vom Marktverkehr ausgeschlossen, oder aber sie schieden aus dem Gesinde des Fronhofes aus und machten sich wirtschaftlich selbständig – dann erhielten sie Zutritt zum Kreise der frei arbeitenden Marktbeschikker, jedoch mußten sie sich trotz persönlicher Unfreiheit oder Zensualität dem öffentlichen Gericht unterwerfen und waren gleich dessen Gerichtsgenossen, den freien Stadtleuten, verpflichtet, Zoll und Steuern zu bezahlen (F. Keutgen 1903 S. 61 – 63. E. Pitz 1991 S. 299 f.). Es ist also, jedenfalls in rechtsgeschichtlicher Sicht (dem Sozialhistoriker mögen andere Formulierungen erlaubt sein), der Handwerkerstand und überhaupt das Stadtvolk ebensowenig allmählich aus der Hörigkeit emporgekommen, wie Zunft- und Stadtrecht dem Hofrecht entsprangen. Es trat keine Durchbrechung oder Zersetzung des Standesrechts ein (oben: § 150), denn unfrei geborene Leute konnten auch in der Stadt nur durch Freilassung, die sie in der Regel zu Zensualen machte, die persönliche Freiheit erlangen, kraft deren sie befugt waren, Grundstücke nach Stadtrecht zu erwerben und als Hausherren (oben: § 101) auf eigene Rechnung ein Gewerbe auf dem Markte zu betreiben (G. von Below 1887 S. 204 – 218). Die Muntherren stadtsässig gewordener Zensualen sahen gewiß mit Freude auf das wirtschaftliche Gedeihen ihrer Schützlinge, da sich mit deren Vermögen der Wert der Abgaben erhöhte, die sie von ihnen forderten. Sie suchten daher ihre Herrenrechte zu stärken und damit den Zensualen wieder einen höheren Grad von Unfreiheit zu oktroyieren. Aber die Stadtleute wußten sich dem mit mehr Erfolg zu widersetzen als die Ministerialen draußen auf dem Lande. Gestützt auf ihre Einungen, befreiten sie sich Mann für Mann im Laufe des 12. Jahrhunderts von dem Zwange, die Vogtgerichte ihrer Herren aufzusuchen und diesen Sterbfallgebühren zu entrichten (B. Diestelkamp 1991 S. 493 – 497). Zugleich entzogen sie sich alle gemeinsam und im Schutze der Gemeinde, die sie durch Einung bildeten, der öffentlichen Heerfahrtpflicht; die Stadtherren erwarteten von ihnen nur noch, daß sie die Mauern ihrer Stadt verteidigten und ihnen, wie zum Jahre 1084 erstmals bezeugt, in Notzeiten mit Steuerzahlungen zu Hilfe kamen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 126, 154 f., 401 f., 432). So waren mit der neuen Freiheit der Stadtleute andere und weniger angesehene Pflichten verbunden als mit der wehrhaften, jetzt adlig gewordenen Altfreiheit. Die Stadtherren wandten gegen die Bürger denn auch härtere und grausamere Strafen an als gegen Hochfreie oder Dynasten (G. Waitz Bd. 6 S. 601 A. 2, 604 A. 4, 605 A. 2) – Gründe genug für jene, sich nach Möglichkeit den Grafen- oder Stadtgerichten zu entziehen, indem sie sich untereinander und als Gemeindegenossen eidlich verpflichteten, Klagen wider einander nicht dort anzubringen, sondern jeden Streit dem Schiedsspruch ihrer Mitbürger und Eidgenossen zu unterwerfen (unten: § 218).
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§§ 163 – 167. Stände, Häuser und öffentliche Herrschaft § 163. Wie der Besitz freien Eigens oder Allods seit jeher dem Stande der Edelinge oder Altfreien eigentümlich war, so kennzeichneten seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die freie bäuerliche oder städtische Gründerleihe das Liegenschaftsrecht neufreier Grafschaftsuntertanen und das Institut des Inwärtseigens dasjenige der neufreien Immunitäts- oder Vogtleute. Auf Abstammung von gleichem Stande, auf Geburt und Geschlecht wurde auch in den neu sich bildenden Ständen hoher Wert gelegt, ohne daß doch der Stand des Einzelnen dadurch bedingungslos festgelegt worden wäre. Die Mehrzahl der Neufreien jeglichen Standes lebte in engem sozialem Konnex miteinander und sah sich daher in einer zwar abgestuften, aber grundsätzlich immer lebendigen Rechtsgenossenschaft im Sinne der Teilhabe an einer gemeinsamen Rechtsordnung zusammengefaßt. Hier diente daher das Argument der Ebenbürtigkeit nicht dem Zwecke einer rechtlichen Absonderung, sondern der sichtbaren Darstellung von Unterschieden, die in den Lebensumständen als solchen wegen vielfach geringer Konstanz der Vermögensverhältnisse nicht allzu stark begründet waren (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 481. R. Scheyhing in HRG 1 Sp. 794). So ging mit dem 12. Jahrhundert die uneingeschränkte Geltung des von Abstammung und Geburt geprägten Ständewesens zu Ende. Zwar verblichen die alten Geburtsstände der Edlen, der Neufreien und der Unfreien im Rechtsdenken der Menschen noch nicht völlig, und grundsätzlich und das Neue nur als Ausnahme zulassend, hielt noch der Sachsenspiegel (Ldr. I 16 § 1) an ihnen fest: Nêmant ne mach erwerven ander recht wen alse in angeboren is, aber seit der Karolingerzeit hatten sich die Lebensverhältnisse so mannigfaltig entwickelt, daß die alte rechtsständische Gliederung immer stärker von der vorwärtsdrängenden Differenzierung des Volkes abwich und hinter der wirklichen Verteilung von Reichtum und politischer Macht zurückblieb. Die Stellung des Einzelnen oder des Verbandes, dem er angehörte, „im Reich und zu den verschiedenen Gewalten desselben, der Besitz von Ämtern, Rechten und Gütern, der Dienst, den man leistet, der Beruf, den der Einzelne treibt, das Leben in einer Stadt oder auf dem Lande, alles dies macht seinen Einfluß geltend. Verschiedenartige Rücksichten wirken zusammen oder kreuzen sich, und eine Fülle von Unterscheidungen hat sich dergestalt ergeben . . . Auch Freie befinden sich in einer Abhängigkeit, die sie den Knechten nahebringt; umgekehrt haben Unfreie sich zu einer Stellung erhoben, die sie befähigt, an gerichtlichen Versammlungen und anderen Akten des öffentlichen Lebens neben den Freien teilzunehmen“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 199 – 201). Es verdient sehr wohl bemerkt zu werden, wie richtig bereits im Jahre 1893 Georg Waitz und Karl Zeumer die Entwicklung des Ständerechts beurteilt haben, etwa hinsichtlich der Entstehung von Abstufungen in der Freiheit, die es den Schriftstellern und Verfassern von Privaturkunden erlaubte, die altadlige Freiheit, ingenua libertas, von der gemeinen oder plebeia libertas der Neufreien und unadlig Lebenden zu trennen und innerhalb des Adels zwischen nobiles, nobiliores und nobilissi-
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mi zu unterscheiden (ebd. S. 437 – 440); selbst dem Dynastenstande wiesen sie bereits seine Stelle an, ohne freilich diesen Begriff zu verwenden, wenn sie zu der Standesbildung der Bürger und Dienstleute bemerkten: „Aber über dieselben ragt die Classe derer hervor, welche einen eigenen freien Besitz und auf demselben wohl auch die Übung hoheitlicher Rechte haben: die freien Herren, wie sie später heißen. Und noch eine Stufe höher stehen die durch ein Amt im Staat oder in der Kirche ausgezeichnet sind,“ sei es als einer Provinzialgewalt untergeordnet oder als königsunmittelbar: des Königs nämlich und des Reiches Fürsten (ebd. S. 480 f.). Diese Entwicklung der Aristokratie, des neuen dienstmännischen Adels, des Bürger- und des Bauerntums ist in Deutschland nicht, wie in anderen Ländern Europas, in Kämpfen zwischen den in sich geschlossenen Standesgruppen vorangekommen, in deren Ringen der König, als Wahrer der Interessen der Gesamtheit, auf der einen oder anderen Seite hätte eingreifen können. In Deutschland ging vielmehr jeder Stand seinen Weg für sich, jeder bald mit dem einen, bald mit dem anderen verbündet, dabei die einzelnen Gruppen noch oft genug in sich uneins und unfähig, sich zu formell geschlossenen Ständen zusammenzufinden (O. von Dungern 1927 S. 70). So gelangte das deutsche Recht zu einer vergleichsweise überschwänglichen Entwicklung des Standesdenkens, die heute noch dem Ausländer das Verständnis schwer macht. Sie fand im Sachsenspiegel Ausdruck in der Lehre vom Heerschilde, die alle Lehnsleute derart auf sechs oder sieben Ränge verteilte, daß keiner von ihnen Vasall eines unter ihm Stehenden werden konnte. Nirgendwo außerhalb Deutschlands wurde dergleichen ersonnen. Das anglonormannische Recht wußte so gut wie nichts über einen Adelsstand, da es allen freien Männern vor dem Gesetz im wesentlichen denselben Rang zuwies, und in Frankreich kannte man zwar einen Adelsstand, aber keine rechtlichen Unterschiede innerhalb seiner. In Deutschland dagegen bildeten sowohl Adlige und Freie als auch die Unfreien je mehrere Stände aus, unter denen die Ministerialen insofern den merkwürdigsten ausmachten, als sie in der Stauferzeit Unfreie und nobiles zugleich waren. Aus gutem Grunde hat ein französischer Gelehrter, der sich fragte, wie diese eigentümliche hierarchische Entwicklung zu erklären sei, die das deutsche Recht in Gegensatz zu allen anderen Rechten Mittel- und Westeuropas brachte, dazu bemerkt: Wer das erklären könne, der wäre in die intimsten Geheimnisse der mittelalterlichen Gesellschaft eingedrungen, doch sei das bis jetzt noch niemandem geglückt (M. Bloch 1928 / 1963 S. 527 f.). § 164. Nach zwar nicht unwidersprochener, aber immer noch herrschender Lehre (O. Gierke 1868 S. 89 – 92. W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 116 f., 1953 S. 140 – 144. O. Brunner 1965 S. 254 ff.) war der Staat des Mittelalters eine herrschaftliche Schöpfung und erfloß das Recht des königlichen Herrn (wohl einschließlich der verfassungsgebenden Gewalt) wenn auch nicht alleine, so doch vorwiegend aus seiner Haus- oder Muntherrschaft. Aber die Schwächen dieser Lehre sind doch neuerdings wieder mit gewichtigen Gründen dargetan worden (K. Kroeschell 1968 S. 28 – 45. G. Köbler in LMA 4 Sp. 1964. D. Willoweit in LMA 4
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Sp. 2178 f.). So wäre darauf hinzuweisen, daß die Strafgewalt des Hausherrn über freie und unfreie Hausgenossen nichts mit dem zu tun hatte, was Griechen, Römer und Germanen unter Gerichtsbarkeit verstanden, da zwischen Hausgenossen weder Feindschaft und Fehde noch folglich Sühnemittlung und Urteil möglich waren (K. Kroeschell 1968 S. 41), oder daß der Hausvater, weil nicht Recht, sondern Sitte seine Befugnisse regelte, ohne weiteres auf jene Zustimmung der Hausgenossen zu seiner Stellung, auf frommen Gehorsam und Anerkennung seiner Autorität rechnen konnte, um die sich der König in seinem Reiche immer wieder von neuem bemühen mußte, und wenn den Hausvater seine eigene Abhängigkeit von der Hausfrau und Mutter seiner Kinder, von den Kindern als Pflegern seines Alters und von der unentbehrlichen Arbeitskraft des Gesindes daran hinderte, seine Befugnisse zu mißbrauchen, so bedurfte es im Reiche des ständigen Widerstandes der Großen, um dem Könige vergleichbare Zügel anzulegen. Und so läßt sich schließlich nicht einmal die mittelalterliche Grundherrschaft ohne Schwierigkeiten allein aus der Hausherrschaft ableiten (unten: § 349, 377, 378). Bereits Georg Waitz (Bd. 4, 1885, S. 241 A. 1) hatte sich gefragt, ob uns die Quellen überhaupt einen so allgemeinen Begriff des mundium zu erkennen geben, wie ihn die herrschende Lehre voraussetzt, oder ob der Begriff in jedem einzelnen Falle etwas Besonderes enthalte. Zwar hatte er die Frage bejaht, weil man sonst nie so allgemein von der Ergebung in den Schutz habe sprechen können, wie es in den Privaturkunden über Autotradition und Prekarienleihe geschieht, aber damit faßte er doch nur einen Einzelfall, nämlich den der kirchlichen Herrschaft über Ergebungsleute, nicht jedoch mittelalterliche Herrschaft überhaupt ins Auge. Erweitert man indessen die Frage dahingehend: ob es eine alte einheitliche Hausgewalt, für die angeblich der Begriff munt benutzt worden sein soll, von der Art gegeben habe, daß aus ihr sowohl die väterliche, eheherrliche und vormundliche als auch die leib- und grundherrliche Gewalt, der Patronat über freie Vasallen, die Vogtei und der Königsschutz hätten erwachsen können, so gibt die Quellenlage zwar zu mancherlei Vermutungen Anlaß, aber der Rückschluß auf eine einheitliche Muntgewalt als Wurzelstock aller dieser anderen, nichthäuslichen Herrschaften bleibt unbeweisbare Hypothese (K. Kroeschell 1968 S. 37 – 41. G. Köbler in LMA 6 Sp. 918 f.). Vor allem vermag die communis opinio weder, wenn sie auf die Allodialherrschaft des Adels (oben: § 144a), noch wenn sie auf die reichsweite Herrschaft des Königs angewandt wird, die Frage zu beantworten, wie sich irgendeine Hausherrschaft, da ihr von Hause aus doch nur Unfreie und bevormundete Freie oder Freigelassene unterworfen waren, auf altfreie, sich persönlich, oder neufreie, sich nach Einungsrecht gemeinschaftlich selbst schützende Freie erstrecken oder sich andere, wirtschaftlich und rechtlich selbständige und daher keiner fremden Munt bedürftige freie Hausherren unterwerfen konnte, ohne daß diese sich ihr ergaben. Diese Frage zielt „auf die Entstehung des Staates bei den Germanen, eines der größten Rätsel der frühesten Verfassungsgeschichte“ (W. Schlesinger 1953 S. 142), und meine Antwort darauf (oben: §§ 62, 69) lautet: Da Haus und eheliche Familie et-
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was Privates sind, das sie grundsätzlich von Gemeinde und Staat unterscheidet, können Staat und staatliche Hoheit nur aus der Einung freier Hausherren zur Gemeinde, nicht jedoch aus der Hausgemeinschaft hervorgegangen sein (E.-W. Böckenförde 1961 S. 106 f.). Nur deswegen konnten Könige und Herzoge in aller Öffentlichkeit über freie Männer herrschen, weil diese sie samt und sonders, also als Gemeinde, zu ihren Würden und Ämtern über sich erhoben und ihnen bei der Erhebung, an der sie in abgestuften, den Regeln identischer Willensbildung entsprechenden Formen (oben: § 21) mitwirkten, Gehorsam und Treue gelobt hatten, solange sie sie beherrschten, ohne ihnen rechtswidrige Befehle zu erteilen. Macht und Vollmacht der Herren beruhten auf weiter nichts als auf dem Gehorsam, den das bewaffnete Volk ihnen gegenüber jedermann bewies, der ihre Gebote und überhaupt das von ihnen zu beschützende Recht verletzte (oben: § 24). Sobald sie von ihrem Volke verlassen wurden, weil sie das Recht brachen, war es auch um ihre Vollmacht geschehen. Erkennt man den Rechtsgedanken, daß es so hatte sein sollen, als Grundlage der fränkisch-deutschen Reichsverfassung an (wofür eine künftige Verfassungsgeschichte den Beweis zu erbringen hätte), so ergibt sich, daß die herrschende Lehre den Versuch macht, die unter anderem verfassungsmäßig gebundene Herrschaft des Königs zu legitimieren und als nicht bloß private, sondern als wirklich öffentliche Gewalt zu erweisen, ohne auf das Volk Bezug zu nehmen oder dessen Willen überhaupt in Betracht zu ziehen. Insofern setzt diese Lehre die seit dem 17. Jahrhundert ausgebildeten Anschauungen vom Patrimonialstaate (oben: § 47) über dessen im Jahre 1918 besiegelten Untergang hinaus fort. § 165. Die Patrimonialstaatslehre hatte noch nicht an die so fragwürdige hausherrliche Muntgewalt, sondern an die der Hausverfassung eigentümliche natürliche Nachfolge der Kinder in das Erbe des Vaters (oben: § 91) angeknüpft (patrimonium = ahd. erbi, fatererbi, eigan, fatereigan, fateruodil: H. Götz, WB. 1999 S. 470), doch hatte sie dabei nicht frühmittelalterliche, sondern spätere, ein Jahrtausend jüngere Zustände im Auge. Beide Anknüpfungen dürften unhistorisch sein, denn die mittelalterliche Beachtung der Erbfolge bei der Königserhebung wird genauso wie bei der Befestigung des Dynastenprivilegs (oben: § 145) nicht auf partikularem Hausrecht, sondern auf dem öffentlichen Willen des Volkes beruht haben. Die tatsächliche Nachfolge der Söhne, seit dem 10. Jahrhundert dann des ältesten Sohnes oder nächsten männlichen Verwandten, nach dem verstorbenen Könige – obwohl schon bald von Interessenten zum subjektiven Recht des Königshauses (ius consanguinitatis, ius propinquitatis = Geblütsrecht, A. Wolf 1995 S. 67) erhoben – war bei Römern und Germanen lediglich ein politisches Mittel zu dem Zwecke gewesen, den nach dem Tode eines jeden Herrschers unvermeidlichen Machtwechsel in friedliche Bahnen zu lenken. Wirksame rechtliche Hilfsmittel zur Lösung dieses Problems nämlich boten weder die fiktive republikanische Verfassung des römischen Imperiums noch die Willensbildung nach dem Identitätssystem (das ich als bereits den Germanen vertraut gewesen betrachte), obwohl der Mangel an einer Nachfolgeordnung die Existenz aller Reiche bedrohte und noch heute bedroht, ins-
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besondere aber jener, in denen partikularistisch gesonnene Heerführer oder Adelsverbände miteinander um die Macht zu ringen pflegten (E. Pitz 1987 S. 520). Diesen Mangel vermochte auch die Lehre des Christentums nicht zu beheben. Seit die römischen Kaiser im 4. Jahrhundert Christen geworden waren, hatten sich die Bischöfe der christlichen Kirchen mit ihnen verbündet und ihre Bündnistreue alsbald auch auf die germanischen Könige übertragen, die den Imperatoren nachfolgten, denn sie bedurften des weltlichen Schutzes für ihren Glauben gegen Juden und Heiden und für den rasch wachsenden Bestand an irdischem Gute, über dessen Erträge sie verfügten, gegen die Machthaber in Städten und Provinzen. Sie vergalten den Fürsten diesen Dienst, indem sie das Herrscheramt in eine theozentrische Ordnung der Welt einfügten und auf diese Weise die weltliche Legitimation der Monarchen theologisch überhöhten. In der schriftlichen Überlieferung des Mittelalters hat diese ihre Staatsauffassung die profane oder laikale vollständig überlagert und nahezu jeder Möglichkeit beraubt, sich zu äußern (unten: Zwanzigstes Kapitel). Aus der biblischen Geschichte nämlich leiteten sie eine patriarchale Auffassung von der Herrschaft des Königs als Dieners Gottes und Vaters seiner Untertanen ab, die dem Herrscher eine gesteigerte hausherrliche Autorität beilegte, das Volk aber zu jener „Kindes- oder Diener-Pietät“ (M. Weber 1921 / 72 S. 582) ihm gegenüber verpflichtete, die dazu das Pendant bildete. Hier wurzelt die Begriffsbestimmung der Herrschaft als einer aus der Gewalt des Familienhauptes hervorwachsenden und über sie hinaus erweiterten fürsorgenden patria potestas, die von den Kirchenvätern bis herab auf die spätmittelalterlichen Staatsdenker bei den Gebildeten und Gelehrten die sittlich-rechtliche Auffassung aller Arten von Staatsgewalt und Obrigkeit bestimmte (F. Kern 1914 S. 6. Oben: § 41). Seit Kaiser Konstantins Bündnis mit dem Arianismus kam kein Patriarchalismus, kein Patrimonialismus mehr ohne eine politische Theologie aus, um Völkern und Herrschenden über die einfache empirische Tatsache hinwegzuhelfen, daß nur die Geschichte der Könige Interregna kennt, während das Volk immer da ist, daß nicht die Könige, sondern die Völker unsterblich sind und daß sich zwar die letzteren ständig neue Könige, niemals aber die Könige ihre Völker zu suchen brauchen. Si rex periit, regnum remansit (Wipo, Gesta Ch. c. VII): Diese Weisheit wird uns zwar erst durch einen Schriftsteller des 11. Jahrhunderts kundgetan, aber sie war gewiß uralt (unten: § 626). So lag es der theologischen Spekulation nahe, ihr und dem kontinuierlichen Dasein des Volkes die ebenso natürlich gegebene Nachfolge des Sohnes in die Rechte und Vollmachten des Vaters gegenüberzustellen: In ihr konnte man diejenige Institution der gottgewollten Ordnung erblicken, die die Interregna überbrücken und auch der Herrschaft Ewigkeit verleihen sollte. Ob freilich der Legitimität, die sich die Herrschenden auf diese Weise beilegen ließen und die sie emsig propagierten, ein entsprechender Legitimitätsglaube auf Seiten der Beherrschten entsprach, ob die kirchliche Lehre die Rechtsauffassungen des Laienvolkes überhaupt beeinflußt oder gar geprägt hat, das ist eine ganz andere Frage. Ihr aber gilt, obwohl sie sich nur selten einmal empirisch beantworten läßt
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(M. Weber 1921 / 72 S. 549), zumal das Volk seinen Willen oft nur tumultuierend zu äußern vermochte, unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Beherrschten dürften auf dem Standpunkte beharrt haben, daß die Erbfolge der Dynastien in den Staatsämtern nichts Heiliges oder Gottgewolltes, sondern ledigich ein von ihnen selbst ergriffenes praktisches Mittel zu dem doppelten Zwecke wäre, ihnen die Auswahl des am besten geeigneten Nachfolgers und während des Interregnums und Wahlverfahrens die Bewahrung des Landfriedens zu erleichtern. Denn wenn es auch die Völker erst seit 1789 unternommen haben, sich ihrer auf die Heiligkeit der Erbfolge pochenden absoluten oder patrimonialen Fürsten zu entledigen oder deren Gewalt wenigstens zu beschränken, so bedeutet das nicht, daß sie vorher des Rechtes, sondern nur, daß sie bis dahin des hierzu nötigen Willens entbehrten, zumal die Fürsten dieses ihr Recht insofern stillschweigend anzuerkennen pflegten, als sie es niemals wagten, die Rechte der Landstände, die der patrimonialen Theorie zufolge auf ihrem widerruflichen Privileg beruhten, durch gesetzliche oder richterliche Kassation aufzuheben, sondern es dabei bewenden ließen, sie außer Übung zu setzen, indem sie davon absahen, Ständeversammlungen überhaupt noch einzuberufen (E. Pitz 1987 S. 313 – 317, 524 f., 534 – 538). § 166. Erst die Naturrechtslehre der Neuzeit hat die monarchische Erbfolge aus der Zweckbindung gelöst, der sie das mittelalterliche profane Rechtsdenken unterworfen hatte, und sie statt dessen als Selbstzweck gesetzt. Jean Bodin bestimmte im Jahre 1583 den Begriff der Souveränität als absolute, ewige und unbefristete Staatsgewalt und lehrte, diese Gewalt sei zwar nach menschlicher Torheit oft genug den Magistraten oder dem Volke zugefallen, nach Gottes Willen aber sollte sie dem Fürsten zukommen, damit er als irdisches Abbild Gottes die Welt gerecht regiere. Souverän indessen sei der Monarch nur dann, wenn das Volk ihm die Staatsgewalt unwiderruflich und erblich überlasse. Die bedingungslose Erblichkeit der Krone stellte sich ihm als Voraussetzung für das Dasein eines wohlgeordneten, souveränen Staates dar (E. Pitz 1987 S. 200 f., 232 f.). Den Begriff des Patrimonialstaates bestimmte dann im Jahre 1625 Hugo Grotius, indem er aus dem fürstlichen Erbrecht an der Krone auf fürstliches Eigentum am Staate schloß: Einige Reiche stünden derart im Eigentum ihrer Beherrscher, daß diese nach Willkür, jedoch nicht zum Verderben der Untertanen, damit schalten und walten und sowohl zu Lebzeiten wie von Todes wegen darüber verfügen könnten. Ihnen stellte Grotius andere Staaten gegenüber, in denen die Souveränität beim Volke lag. Diesen Dualismus von Herrscherpersönlichkeit und personifiziertem Volke las er offenbar von dem ständischen Staate des späten Mittelalters und seiner Zeit ab, deren Trägern die Idee einer Fürst und Volk übergreifenden und vereinigenden Staatspersönlichkeit noch nicht aufgegangen war. Solange aber diese Idee nicht gedacht werden konnte, war die Vorstellung eines einheitlichen Staatswesens nur dann zu gewinnen, wenn man entweder den einen oder den anderen Bestandteil des Ganzen, entweder Volk oder Herrscher, zum Ganzen steigerte (O. Gierke 1913 S. 318 – 323. E. Pitz 1987 S. 520, 537). Die Juristen des 18. Jahrhunderts, die nach einer Rechtsgrundlage für die Entrechtung der Stände durch
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den absoluten Fürsten und für die Eigenstaatlichkeit der deutschen Territorien gegenüber dem Reiche suchten, entfalteten zu diesem Zwecke den ihnen von Grotius dargebotenen Begriff des Patrimonialstaates dahingehend, daß die Rechte der Stände auf widerruflicher fürstlicher Verleihung und Gnade beruhen sollten und das Volk wenn schon nicht rechtlos, so doch willenlos wie ein bevormundetes und zur Pietät verpflichtetes Kind gewesen wäre (oben: § 46. O. Brunner 1943 S. 167). Damit sprachen sie zugleich dem Mittelalter die Existenz eines wahrhaft öffentlichen Gemeinwesens und die Bekanntschaft mit einem wahrhaften Staatsbegriff überhaupt ab. Diese von Juristen für ganz praktische Zwecke ihrer Mandanten erfundene Theorie wurde alsbald von Historikern mit einer wahren Aussage über den Staat des Mittelalters verwechselt, und diese Verwechslung erhielt sich zähe am Leben, offenbar weil Spätere es den Erfindern zugutehielten, daß sie mit der dem Mittelalter entstammenden Verfassung des alten Deutschen Reiches noch als funktionierendem Rechtsgebilde und nicht nur als wissenschaftlicher Rekonstruktion bekannt gewesen waren. „In dieser Verbindung von stätiger und doch unaufhörlich fortschreitender Entwicklung liegt ohne Zweifel die größte Schwierigkeit für die Behandlung der deutschen Verfassungsgeschichte. Wo nie ein völliger Bruch mit der Vergangenheit durch gewaltsame Umwälzung oder gesetzgeberische Tätigkeit erfolgt, das Spätere überall im Früheren wurzelt, da gibt es auch keine Grenze für das Fortwirken einer einmal in die Darstellung aufgenommenen irrigen Ansicht“ (J. Ficker 1861 S. 14). Zwar vermochten sich bedeutende Gelehrte wie Otto Gierke und Heinrich Mitteis, die den Staat als Schöpfung des Volkes auffaßten („Für die Geschichte ist Staat jede Ordnung des Volkes zur Erreichung seiner politischen Ziele“, H. Mitteis 1953 S. 3), von jenem Irrtum frei zu erhalten, aber andere, unter ihnen besonders einflußreich Georg von Below (oben: § 49), zogen es vor, sich an dem Kunststück eines Beweises für die coincidentia oppositorum abzuarbeiten, indem sie einerseits die Öffentlichkeit und damit wahre Staatlichkeit des fränkisch-deutschen Reiches, andererseits aber dessen monarchischen, ohne Beteiligung des Volkes erschaffenen Charakter zu behaupten und so dem per definitionem privatrechtlichen Begriff des Patrimonialstaates einen öffentlichrechtlichen Sinn zu geben versuchten (unten: § 665). § 167a. Auf fatale Weise mischte sich immer wieder der Begriff des Feudalstaates (oben: § 127) in diese Diskussion ein, da er es erlaubte, den Fürsten als obersten Lehnsherrn aller Grundstücke im Lande und damit als Eigentümer des gesamten Staatsgebietes zu denken. Heinrich Mitteis, der einen germanischen Begriff von öffentlicher Staatlichkeit für gegeben und rechtsgeschichtlich nachweisbar hielt und daher im Lehnrecht, als zeitweise einzigem „Normensystem, das dem Träger der höchsten Gewalt die Durchsetzung seiner Machtansprüche gewährleistete,“ ein „in besonders hohem Grade funktionell öffentliches Recht“ wahrnahm, wollte zwar der „Ableitung des Vasallenrechts aus der Hausgemein-
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schaft, des Lehnrechts aus dem Hausrecht und der Herrenmunt nicht die große Rolle“ einräumen, „die ihr neuere Arbeiten zuteilen“ (H. Mitteis 1933 S. 8, 87 Anm. 240), aber bestreiten konnte er die Richtigkeit dieser Ableitung nicht, und daher ist auch die Lehre von der nach Lehnrecht verfaßten Staatsgewalt nicht gegen den Verdacht gefeit, das Verfassungsrecht des hohen Mittelalters und des alten Deutschen Reiches letzten Endes doch aus dem Hausrecht der königlichen Dynastien abzuleiten. Mit großer Konsequenz beschritt im Jahre 1938 Adolf Waas den Weg einer solchen Herleitung (oben: § 144b). Waas konstruierte eine Antithese von Herrschaftsrecht und Volksrecht, wobei die Herkunft des ersteren ein Geheimnis bleibt, da Waas es nicht mehr wagte, sie auf göttlichen Willen zurückzuführen. Was das Volksrecht und das „allgemeine volksrechtliche Königtum“ anlangt, so meinte er, dessen Verblassen habe dem Volke nur noch muntrechtliche Begriffe übriggelassen, um die Verfassung des Reiches zu beschreiben. Da ihm das Lehnrecht als Sonderart des Muntrechtes erschien, so trat nun das Muntrecht an die Stelle des Lehnrechts als funktionell öffentlichen Rechtes, aus dem Waas sogar den Königsbann und die königliche Gerichtsbarkeit erklären zu können glaubte. Alle diese Auslegungen sind unzutreffend (R. Scheyhing 1960 S. 322 – 324). Lehnrecht und Muntrecht konnten eben, wie alle anderen vermeintlich von der Herrschaft geschaffenen Rechte, nur dann öffentlich gelten, wenn das Volk ihnen diese Geltung beilegte, da weder Könige noch Bischöfe, Herzöge oder Grafen imstande waren, Rechtsgebote zu erlassen, wenn nicht das Volk sie nach den Regeln des Identitätssystems dazu ermächtigte. Diese Bevollmächtigung ging aber nie so weit, daß das Volk dadurch seine Souveränität eingeschränkt oder gar unwiderruflich auf den fürstlichen Mandatar übertragen und sich somit selbst, sei es für dessen Lebenszeit oder für die Dauer seines Hauses, entmündigt hätte. Könige herrschten nicht über Unmündige. Wie sie selbst für alle Staatsakte des Konsenses der Untertanen als Ausdrucks öffentlicher identischer Willensbildung bedurften, so auch jeder einzelne der von ihnen eingesetzten Beamten. Die Belehnung enthielt weiter nichts als eine indirekte, nämlich durch den König vermittelte und letzten Endes auf dessen Autorisierung durch das Volk zurückgehende Erteilung einer Amtsvollmacht, die immer noch der Annehmung des Belehnten durch die partikularen Untertanenverbände bedurfte, um rechtskräftig zu werden und die Untertanen zum Gehorsam zu verpflichten. Lehn- und Muntrecht, soweit sie funktional öffentliches Recht werden konnten, gewannen ihre Autorität weder nach dem Willen Gottes noch aus der Vernunft der von Gott geschaffenen Natur noch aus dem Hausrecht der zur Herrschaft gelangten Dynastien, sondern genauso wie alles Königsund Amtsrecht aus dem Willen des Volkes, mit dem sich der Wille der Herren immer wieder von neuem zu identifizieren bestrebt sein mußte, wenn er seine Gebote als rechtmäßig und rechtsetzend anerkannt sehen wollte. Nüchterner als viele Historiker beurteilte Otto von Bismarck alle diese Fragen. Er war sich dessen bewußt, daß die Legitimität der Monarchie allein auf dem Glau-
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ben an die göttliche Einsetzung der Monarchen beruhte und daß die Revolution, weil Ausdruck des ewigen Rechtes der Völker, nicht erst mit den Ereignissen von 1789 oder 1688 in die Welt gekommen war, und daher war ihm klar, daß in der empirischen Welt, in der sich die Staatskunst einrichten muß, mit den Prinzipien der Legitimität und der Revolution keine Politik zu machen sei. Namentlich in dem Brief an Leopold von Gerlach vom 30. Mai 1857, den er durch Aufnahme in die „Gedanken und Erinnerungen“ allgemein bekannt gemacht hat, spricht er aus, daß es im Europa seiner Zeit kaum noch Staaten gab, die nicht im revolutionären Boden wurzelten, und daß selbst die Preußen in ihrem „eignen staatlichen Leben . . . der Berührung mit der Revolution, der Benutzung revolutionärer Unterlagen an keinem Tage entgehen“ könnten. Und wie damals, so war auch vorher niemals ohne das Volk ein wirklicher Staat zu machen. § 167b. Das war es allerdings auch nicht ohne eine Regierung, und das hieß seit vormittelalterlichen Zeiten: nicht ohne Monarchie und Fürstentum. Denn das Recht des Volkes, über seine Verfassung und sein Schicksal selbst zu entscheiden, ging niemals mehr so weit, daß sich das Volk hätte seiner Regierung entledigen und für die Anarchie entscheiden können; vielmehr war es um des Wohles des Einzelnen und damit auch von Rechts wegen verpflichtet, eine Regierung über sich zu setzen. Wir stoßen hier auf eine rätselhafte Schwierigkeit, die der Historiker indessen lediglich zu registrieren braucht, denn sie zu lösen kann er dem Staats- und Rechtsphilosophen überlassen, und nur darauf muß er beharren, daß die Lösung nicht mit den Mitteln einer politischen Theologie unternommen werde. Das Problem besteht darin, daß jede Regierung von ihrem Volke mehr Rechte und Machtbefugnisse empfängt, als eine bloße Summe von Individuen ihr verleihen kann. Denn keinem Menschen stehen Hoheitsrechte über seinen Nächsten zu, und was der Einzelne nicht besitzt, das kann, so sollte man meinen, auch eine Vielheit von Personen weder besitzen noch der Verbandsperson, zu der sie sich vereinigen mögen, übertragen. Offensichtlich schaffen Menschen, sobald sie die auseinanderstrebenden und sich widersprechenden Einzelwillen zu einem Gesamtwillen bündeln, indem sie sich einen und sich samt und sonders dem Gesamtwillen unterwerfen, mit der Verbandshoheit etwas qualitativ völlig Neues. Im Verbande nämlich vermögen sie die Einzelwillen in einem Maße gleichzurichten, wie es in einer bloßen Personenvielheit niemals zu erreichen ist, genau so, wie sie mit dem Verbande eine nichtsterbliche Verbandsperson ins Leben rufen, obwohl jeder einzelne Genosse ein sterbliches Wesen bleibt. So sammelt sich in der Hand des geeinten Volkes ein Überschuß an Macht und Befugnissen und eröffnet seiner Regierung einen Ermessensspielraum, den keine volkliche Kontrolle, kein Konsensgebot ihr verschließen kann, ohne ihr die Erfüllung ihrer Führungsaufgabe unmöglich zu machen. Dieser durch praktisches Bedürfnis und geschichtliche Erfahrung gerechtfertigte Überschuß ist es, der es dem Volke verwehrt, sich seiner Regierung je wieder zu entledigen.
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Wie aber ist ein solches Gebot der politischen Praxis vor dem Forum menschlichen Rechtsempfindens zu rechtfertigen? Diese Frage läßt sich nur mit Hilfe einer von jenen bewußt falschen, fiktiven Vorstellungen beantworten, die wir uns, nach Auffassung der neukantianischen kritisch-positiven Erkenntnistheorie, nicht zu dem Zwecke erdenken, um in ihnen ein Abbild der Wirklichkeit zu erlangen, sondern um ein Werkzeug zu gewinnen, mit dessen Hilfe wir die wahre Welt erfassen und subjektiv zu begreifen versuchen können, um uns in ihrer Wirklichkeit zu orientieren und zu bewegen und um in ihr zu handeln (H. Vaihinger 1918. Unten: § 830). Derartige Fiktionen sind keine hypothetischen Annahmen über Wirkliches, die sich verifizieren oder falsifizieren ließen, sondern Instrumente, die brauchbar oder unpraktisch sein und auch dann keinen Anspruch auf Faktizität erheben können, wenn wir uns ihrer so bedienen, als ob ihnen etwas Wirkliches entspräche. Es ist bemerkenswert, daß nicht schon das Wissensvolk der Hellenen, sondern erst das Rechtsvolk der Römer den Abstand erkannt hat, der die logische Funktion der Fiktion von aller Seinsfaktizität trennt, denn es bedurfte, als mit dem Untergange des republikanischen Gesetzgebers alle Gesetzgebung zum Stillstande gekommen war, der juridischen Fiktion, um nach unaufhaltsam veraltenden Gesetzen den verwickelteren Rechtsverhältnissen einer neuen Zeit zu genügen, und das erreichte man, indem man diese analog zu den älteren, gesetzlich geregelten beurteilte, gleichsam als ob die Voraussetzungen für die Anwendung eines eigentlich nicht mehr passenden Gesetzes gegeben wären. Die für alle neueren Theorien der Gemeinde wichtig gewordene Lehre von der juristischen Person ist dafür ein typisches Beispiel (ebd. S. 247 – 254). In der Neuzeit, als die Verwendung derartiger Fiktionen in allen Wissenschaften in reichen Gebrauch kam, wurde sie sogar auf den Staat ausgedehnt. Andere Fiktionen, namentlich die Theorie des Staatsvertrages, wurden von den Staats- und Rechtsgelehrten zur Begründung des Staatsrechtes geschaffen (ebd. S. 257 – 280). Namentlich wäre absolut nicht ersichtlich, woher der Staat als Gesamtheit der Staatsbürger das Recht haben sollte, den einzelnen zu bestrafen, wenn uns nicht die Fiktionen von dessen Freiheit und Beitritt zum Staatsvertrage zu Hilfe kämen: Nur wenn jeder einzelne Staatsgenosse diesem zugestimmt und damit gelobt hätte, die Gesetze zu halten, könne er mit seiner Missetat den Staatsvertrag brechen und daraus die Gemeinschaft das Recht, ihn zu bestrafen, erlangen (ebd. S. 198 f.). Wenn also das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 20 Absatz 2 feststellt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, so ist darin die Forderung enthalten, alle zur Ausübung von Hoheitsrechten Berufenen sollten sich so verhalten, als ob die Staatsgewalt vom Volke ausginge, auch wenn niemand zu sagen weiß, wie die Personenvielheit des Volkes die Fähigkeit erlange, ihr als Quelle zu dienen. Entgegen der grammatischen Form des Satzes ist es kein empirischer Sachverhalt, der da ausgesagt wird, sondern das Verbot, der Staatsgewalt irgendeine andere Quelle zuzuschreiben, wie denn nicht nur von den mathematischen Fiktionen gilt, daß es gefährlich, ja verwerflich sei, in ihnen etwas Mysteriöses, Tran-
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szendentes oder Geheimnisvolles zu erblicken und damit irgendeine Mystik zu verbinden (ebd. S. 518), wie es im Falle der Staatslehre Patriarchalismus und Patrimonialismus zu tun pflegten. Wir haben es mit nichts anderem zu tun als mit unserem eigenen Geistes- und Seelenleben und unserer Art und Weise, uns in der wirklichen Welt zurechtzufinden.
Sechstes Kapitel
Partikularverbände II: Genossenschaften §§ 168 – 173. Einung und Eidgenossenschaft § 168. Hausgemeinschaften und die für sie sprechenden Väter oder Hausherren konnten untereinander nicht nur durch Ehebündnisse und andere ständebildende Vereinbarungen in zweiseitige, sondern durch Einungen auch in allseitige Verbindungen eintreten. Indem sie sich vereinigten oder einten, wie man im Ahd. noch prägnant zu sagen vermochte, waren sie imstande, zur Wahrung sei es nachbarlicher, sei es weiter ausgreifender gemeinsamer Interessen Genossenschaften ins Leben zu rufen, die nach dem Vorgange, durch den sie entstanden, auch selbst Einungen hießen und entweder als rein personenbezogene Verbände die Genossen überall, wo immer sie ihres Beistandes bedurften, mit helfender Hand begleiteten, oder aber als ortsbezogene Personenverbände die Teilnehmer vor allem im Rahmen eines Dorfes, einer Stadt, eines Landes mit Rat und Tat unterstützten. Obwohl die Quellen nichts davon wissen, ist es zweckmäßig, zwischen freien und herrschaftlichen Einungen zu unterscheiden, je nachdem, ob sich Hausväter unmittelbar von Mann zu Mann untereinander und gegenseitig verpflichteten (oben: § 12) oder ob sie dies mittelbar taten, indem sie sich einem und demselben Herrn ergaben, sei es einzeln und nacheinander oder gemeinsam und gleichzeitig. Die Bezeichnung „freie Einung“ für das erstgenannte Verfahren geht auf Otto Gierke zurück (O. Gierke 1868 S. 220 – 237. K. Kroeschell 1971 Sp. 911). § 169. Freie Einungen kamen auf niemandes Befehl, sondern allein durch den Willen derer zustande, die an ihnen teilhaben wollten und bereit waren, um des gemeinsamen Nutzens aller Teilnehmer willen Pflichten zu übernehmen, die die Genossen gemeinsam näher zu bestimmen und durch die Zuordnung entsprechender Rechte sowohl jedes einzelnen Teilnehmers als auch ihrer Gesamtheit zu rechtfertigen hatten. Da niemand zur Teilnahme bereite freie Männer dazu zwingen konnte, sich mit Pflichten zu beladen, außer ihnen selbst, so konnten freie Einungen nur dann entstehen und bestehen, wenn jeder Genosse sich selbst verpflichtete und den Ernst seiner Bereitschaft den anderen unter Eid oder gleichwertiger Bürgschaft feierlich und formell erklärte. Aus dieser Selbstverpflichtung aller entstand die Einung als besondere Rechtspersönlichkeit, deren Wille sich zwar aus den vereinigten Willen der Genossen erst ergab, von jedem Einzelwillen jedoch deutlich zu unterscheiden war, wie denn auch die Einung Rechte und Vermögenswerte besitzen konnte, die von denen jedes einzelnen Teilnehmers strikt getrennt
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wurden. Alle Verbandsmacht der Einung über das einzelne Mitglied beruhte auf dessen persönlich und freiwillig übernommener Pflicht, sich der Gesamtheit unterzuordnen und ihren Geboten zu gehorchen, soweit sie der Erreichung des gemeinsam festgelegten Verbandszweckes dienten. Die in feierlicher Form vollzogene Selbstverpflichtung der Genossen machte ihnen den Gehorsam zu einer Rechtspflicht, deren Erfüllung die Einung oder Gesamtheit der Teilnehmer von ihm erzwingen konnte (oben: § 15). Über die Errichtung freier Einungen ist den Quellen des frühen und hohen Mittelalters so gut wie nichts zu entnehmen, sehen wir von den Hinweisen in einigen karolingischen Kapitularien ab, deren Interpretation wir uns alsbald werden angelegen sein lassen. Genaueres erfahren wir erst aus den Stadtrechten und den von der Forschung noch nicht beachteten hansisch-niederdeutschen Bürgerrezessen des 14. und 15. Jahrhunderts, deren Zweck die Wiederherstellung einer zuvor an innerer Zwietracht zerbrochenen stadtgemeindlichen Einung war. Namentlich auf diese Quellen gründet sich die Lehre von der genossenschaftlichen identischen Willensbildung, mit der ich die Verfassungslehre eröffnet habe und an Hand deren ich die hier vorgelegte Lehre von den Genossenschaften entwickeln werde. § 170. Fast noch weniger erfahren wir aus den Quellen über die Errichtung herrschaftlicher Einungen. Sie bedurften zwar der regelmäßigen Erneuerung und mußten bei jedem Herrenfall neu begründet werden, weil Herren sterblich sind wie alle Menschen, aber das geschah in mündlicher Prozedur, über die uns zwar vereinzelte Berichte der Geschichtsschreiber vorliegen, jedoch keine Urkunden oder Rezesse, die uns die dabei beachteten Formen und Rechtsverhältnisse deutlicher zu erkennen geben als jene Berichte. Was wir an Nachrichten dazu besitzen, wird namentlich unten im Fünfzehnten Kapitel erörtert werden, wo das Verfahren der Beamtenerhebung im Zusammenhange behandelt werden soll. Der Bestand herrschaftlicher Genossenschaften beruhte darauf, daß sich jeder einzelne Genosse sei es persönlich (viritim), sei es gemeinsam mit allen anderen (samt und sonders) in den rechtsverbindlichen Formen des Eides, des Gelöbnisses oder der Huldigung mit dem Herrn verband und ihm zum Gehorsam verpflichtete. Wir finden zu lat. iurare (in aliquo) oder vovere als ahd. Äquivalent bei Notker dem Deutschen (iomanne) intheiza tuon und dem entsprechend zu ahd. intheiz die lat. Übersetzung votum „Versprechen, Gelöbnis, Verheißung“ (H. Götz, Wb. 1999 S. 361, 720). Namentlich wenn sich Männer in gemeinsamem Sprechen und Handeln verpflichteten, machte bereits der Vorgang sichtbar, daß sie eine Gemeinschaft bildeten und in Ansehung der übernommenen Pflichten Genossen waren (E. Pitz 1991 S. 256 f.). Ihre Genossenschaft aber pflegte den Tod des Herrn zu überdauern, sobald sie sich darauf verständigten, dem Herrn einen Nachfolger zu geben, einen neuen Herrn über sich zu erheben, indem sie ihm samt und sonders das Treueversprechen erneuerten, das sie seinem Vorgänger geleistet hatten. Während des Interdominiums oder Interregnums (unten: Einundzwanzigstes Kapitel) scheint sich also die Genossenschaft wie eine freie Einung verhalten zu haben, errichtet
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von den Genossen zu dem Zwecke, sich ein neues Haupt zu geben: Nicht sie hing von der Herrschaft ab, sondern diese von ihr, denn nicht sie war sterblich, sondern nur der Herr. Ihre Freiheit reichte allerdings nur hin, um einen neuen Herrn zu erheben, und sie war nicht dazu befugt, dies zu unterlassen: Die Existenz der Herrschaft stand nicht zu ihrer Disposition, es war ihr nicht erlaubt, statt ihrer eine (Adels-)Republik zu errichten oder die Anarchie zu wählen. Insofern war der Genosseneid innerhalb eines herrschaftlichen Verbandes ein Untertaneneid, und damit unterscheidet er sich deutlich von dem Eide, den sich freie Männer gegenseitig innerhalb einer freien Einung leisteten. Gleichwohl einte die gemeinsame Herrschaft die Genossen nur äußerlich. In Wahrheit nämlich lebten nicht nur die Untertanen, sondern auch die Herren in der Überzeugung, daß jede Genossenschaft „den letzten Grund ihres Verbundenseins im freien Willen der Verbundenen habe“ (O. Gierke 1868 S. 221), denn abgesehen von dem Könige, der die Spitze des gesamten, reich partikulierten Untertanenverbandes bildete, gehörte jeder Herr seinerseits wieder partikularen Einungen der Großen oder gar der reichsweiten Fürstengenossenschaft an, die ihren Gemeinwillen mit dem aller Freien identifizierte, wenn sie den König erhob. Wie die Macht des Herrn auf dem Beistande und Gehorsam beruhte, den ihm jeder einzelne Genosse gelobte, so die Existenz jedes Genossen auf dem Schutze, den ihm der Herr mit den Machtmitteln der Gesamtheit gewährte. Das Treueverhältnis war daher zweiseitig, es hatte Vertragscharakter und erzeugte beiderseitige Pflichten und Rechte. Wie jeder einzelne dem Herrn Treue gelobte in der Erwartung, dafür durch Wohltaten entschädigt zu werden, so die Genossenschaft aller derer, die den Schutz des Herrn nach einem und demselben Rechte genossen, wenn sie einen neuen Herrn über sich erhoben. Ihr Gelöbnis band sie nur solange, wie ihnen der Herr ihr Recht wahrte und keine rechtswidrigen Befehle erteilte (oben: § 116). Vom Tage seiner Erhebung an stand der Herr einem Verbande gegenüber, dessen Recht und Rechtsgefühl er zu achten hatte und von dem er sich, wenn es streitig wurde, das Recht weisen lassen mußte. Und wie den Herrn selbst, so konnte die Genossenschaft den vom Herrn eingesetzten Amtmann annehmen oder zurückweisen, wenn er bereit war oder sich weigerte, ihr Recht zu achten. § 171. Nicht nur die alte volle Freiheit der germanischen Edelinge, sondern auch die durch Akkumulation vermehrbare der Neufreien (oben: § 148) schloß das Recht ein, sich gegenüber ihresgleichen sei es mittelbar durch Annahme desselben Herrn, sei es unmittelbar von Mann zu Mann als Genossen zu verpflichten, auch wenn sie sich dadurch in gewisser Weise den Verbindlichkeiten entzogen, die sie gegenüber dem Könige zu erfüllen hatten (oben: § 117). Wenn sie, um Irrungen mit ihrem obersten, von ihnen selbst erhobenen Herrn zu vermeiden, diesem ihr Vorhaben anzeigten und seine Zustimmung oder Zulassung einholten, so bedeutete dies nicht, daß erst der König durch sein Privileg die Genossenschaft erschaffe, sondern nur die königliche Anerkennung dafür, daß die Genossen mit ihrer Schöpfung nicht in seine Rechtssphäre eingriffen (oben: § 36; M. Weber 1921 / 72 S. 417), wie immer auch die Reichskanzlei aus ihrer, vom Weltbilde der Geistlichkeit be-
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stimmten, Sicht auf das Königtum die Zulassungsurkunde formuliert haben mochte. Am Einungsrecht der freien Männer und des freien Volkes fand die Macht der Könige, die das Volk über sich erhob, eine Schranke, und niemals konnte sich das Volk zu dem Zwecke einen, seine Freiheit aufzugeben, indem es alle seine Befugnisse einem Herrn überantwortete. Diese dem germanischen Geiste entsprungene Einungsfreiheit war mit der Lehre der Kirche von der Unmündigkeit des Volkes und der gottgewollten Obrigkeit des Herrschers (oben: §§ 45, 165) ebensowenig zu vereinbaren wie mit dem individualistischen und vergleichsweise egoistischen Person- und Freiheitsbegriff des römischen Rechtes (oben: § 12), den im Spätmittelalter das gelehrte römisch-kanonische Recht allen herrschaftlichen Gegnern deutschrechtlicher Einungen und Kommunen als Waffe wieder zur Verfügung stellte. Von einem zwischen der privatrechtlich geschützten Freiheit des Einzelnen und der öffentlichrechtlichen Allmacht des Staates stehenden Genossenschaftswesen hatte daher weder in der römischen Republik noch im römischen Kaiserreiche die Rede sein können, und so war auch den in der Tradition des römischen Staats- und Rechtsdenkens lebenden romanischen Völkern des frühen Mittelalters das Einungsrecht von Hause aus unbekannt, und weder die lat. noch die romanischen Sprachen besaßen dafür einen Begriff. Das Rechtsgefühl der Germanen ließ es dagegen durchaus zu, die Freiheit des Einzelnen mit der Herrschaft des ihn schützenden Verbandes zu vereinbaren, ohne im Angewiesensein des Individuums auf den Rückhalt an einer Genossenschaft eine Minderung jener Freiheit zu empfinden. So wurden die romanischen Völker des Abendlandes erst infolge der Invasionen germanischer Heere und deren Niederlassung auf dem Boden des Römischen Reiches mit dem Genossenschaftswesen vertraut, nachdem bereits die Vulgarisierung des römischen Rechtes sie seit dem 3. Jahrhundert darauf vorbereitet hatte, sich germanische Lebensformen und Rechtsgedanken anzueignen. Obwohl daraus besonders im langobardischen, seit dem Jahre 951 mit Deutschland eng verbundenen Königreich in Italien großartige politische und rechtliche Schöpfungen entsprungen sind, hat sich doch der Genossenschaftsgedanke nirgendwo (und am wenigsten im anglonormannischen Rechtsgebiet) so kräftig entfaltet wie bei jenen germanischen Stämmen, die zum ersten Male im Frankenreiche Karls des Großen politisch zusammengefaßt waren und seit dem Ende des 9. Jahrhunderts das mittelalterliche Deutsche Reich errichteten. Denn hier hat es nach dem Absturze des 962 errungenen Kaisertums im Spätmittelalter alle Regungen des öffentlichen Lebens und alle Institutionen einer langsam sich in der Mehrstufigkeit entfaltenden Staatlichkeit grundlegend durchdrungen und geformt (O. Gierke 1868 S. 8 – 11, 296 – 300). § 172. Den germanischen Völkern bot das Genossenschaftswesen insbesondere das Mittel, um sich auch unter einem mancherlei römische Einrichtungen fortführenden Königtum als Depositare und Hüter ihres eigenen Rechtes zu behaupten. Sowohl bei freier als auch bei herrschaftlicher Einung war es der Wille der teilneh-
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menden Genossen, der die Rechtsbeziehungen der Mitglieder einerseits unter sich, andererseits zur Gesamtheit des Verbandes, den sie ins Leben gerufen hatten, regulierte. Einung der Personen bedeutete auch Einung ihrer Willen zu einem Gesamtwillen, und an diesen war nicht nur der Verband gebunden, wenn er mit einem Genossen in Streit geriet, sondern auch der Herr, den anerkennend sich der Verband konstituiert hatte, damit der Herr in seinem Namen spreche, an seiner Stelle das Wort führe oder halte. Im Gegensatz zu allem, was heimlich innerhalb des privaten Bereichs einer Hausgemeinschaft geschah, vollzogen sich Einungen und ihr Verbandsleben in der Öffentlichkeit. Nur herrschaftliche Verbände konnten in Einmütigkeit aller Willen allgemein gültiges oder Volksrecht erkennen, nur freie Einungen in gleicher Einhelligkeit ihr eigenes Recht innerhalb der von allen anerkannten volksrechtlichen Grenzen festsetzen oder willküren. „Der Reichtum des deutschen mittelalterlichen Genossenschaftswesens, bedingt durch höchst individuelle, und zwar vornehmlich rein politische Schicksale, steht und stand einzig in der Welt da“ (M. Weber 1921 / 72 S. 437), vor allem wegen der „Entwicklung und Erhaltung der dinggenossenschaftlichen Form der Justiz“, die jeden Gerichtsherrn dazu zwang, „Urteile und Weistümer nicht selbst und auch nicht durch Beamte, sondern durch Dingleute aus dem Kreise der Rechtsgenossen oder doch unter deren maßgebender Mitwirkung finden zu lassen, widrigenfalls sie nicht als wirklich objektiv verbindliche Rechtsweisung galten . . . Es ist klar, daß dies eine Garantie autonomer Rechtsbildung und zugleich körperschaftlicher und genossenschaftlicher Organisation darstellte, wie sie stärker nicht gefunden werden konnte. Das Entstehen dieser Garantie . . . war aber wesentlich politisch und verwaltungstechnisch bedingt: der Herr war in aller Regel militärisch derart in Anspruch genommen und verfügte so wenig über einen rationalen, von ihm abhängigen Verwaltungsapparat zur Kontrolle seiner Untergebenen, daß er von deren Gutwilligkeit abhängig war und auf ihre Mitwirkung bei der Wahrung seiner eigenen Ansprüche, damit aber auch der . . . Gegenansprüche der von ihm Abhängigen angewiesen blieb . . . Die . . . Gepflogenheit, das geltende Verbandsrecht periodisch und durch mündliche Zeugnisse festzustellen und weiterhin urkundlich in Weistümern niederzulegen, und die Gewöhnung der Abhängigen, diese Rechtszustände sich bei günstiger Gelegenheit durch Privileg bestätigen zu lassen, erhöhte die Garantien der Verbandsnormen“ (ebd. S. 438). § 173. Wie Männer im einzelnen vorgingen, wenn sie sich zu einem Verbande vereinen wollten, darüber wissen wir nichts; es war dies Sache mündlichen Verhandelns, das weder einer Beurkundung bedurfte, um sein Ziel zu erreichen, noch, als ein Geschäft, das ungebildete Laien um irdischer Zwecke willen in der Sprache des Volkes betrieben, die Aufmerksamkeit der lat. schreibenden Chronisten aus der Geistlichkeit mehr als beiläufig erregte. Um so höher ist der Aufschluß zu schätzen, den uns der ahd. Sprachgebrauch gewährt, soweit wir ihn aus den Übersetzungsgleichungen zu erhellen vermögen, die sich an einige Kapitularien Karls des Großen und seiner Söhne anknüpfen lassen. Denn König Karl war sich dessen bewußt, daß das Einungsrecht des Volkes die Königsmacht beschränkte, die ihm das-
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selbe Volk in seinen zahlreichen Teilverbänden übertragen hatte, wie denn die Existenz seines weit ausgedehnten und viele Völker umfassenden Reiches einzig und allein von der Treue und dem Treugehorsam abhing, zu dem sich die Untertanen bei seiner Erhebung zum Könige im Jahre 768 oder, wie in Sachsen, bei der nachträglichen Unterwerfung unter seine Herrschaft sei es persönlich oder samt und sonders, sei es durch das Wort ihrer Großen verpflichtet hatten. Diese Treuebindung war indessen nicht sonderlich stabil, wie wir aus einem Königsgesetz aus dem Winter 792 / 93 erfahren, das die allgemeine Vereidigung aller Untertanen anordnete, „weil soeben gewisse treulose Männer große Verwirrung in das Reich des Herrn und Königs Karl einpflanzen wollten und ihm nach dem Leben getrachtet haben, bei der Untersuchung aber aussagten, sie hätten ihm keine Treue geschworen“ (MGH. Capit. 1, 66 n. 25; unten: § 656). Nimmt man an, daß sich diese Männer zu ihrem gefährlichen Unternehmen in einer Schwureinung verbunden hatten und der Treuepflicht, die sie sich gegenseitig gelobt, den Vorrang vor der Untertanenpflicht einräumten, die sie vielleicht nicht persönlich, sondern nur indirekt und formal durch Worthalter übernommen hatten, so ließ das System der identischen Willensbildung mancherlei Schlupflöcher offen, deren sie sich mit einiger Spitzfindigkeit – und darin waren die Germanen nach allem, was wir über Wortklauberei im Rechtsstreit und über „vergiftete Eide“ wissen (H. Brunner 1872 S. 162, H. Hattenhauer 1988 S. 667 – 671, E. Pitz 2001 S. 221), wahre Meister – leicht bedienen mochten, um unerwünschte Verpflichtungen abzuleugnen, mit denen sie sich nicht eigenhändig und eigenmündig belastet hatten. Wie die allgemeine Vereidigung, die Karl im Jahre 792 / 93 gebot, beweist, betrachtete der König den Reichsuntertanenverband als eine einzige herrschaftliche Genossenschaft, konnte er doch sein Königsamt und damit seine königlichen Rechte und Pflichten nur von dem Willen desselben Volkes ableiten, dessen Recht die freien Untertanen dazu befugte, sich zu legalen Zwecken in freien Einungen zusammenzutun. Es galt also zwei von einem und demselben Volksrecht zugelassene, aber miteinander konkurrierende Institutionen gegeneinander abzugrenzen und aufeinander abzustimmen. Dies war zu erreichen, wenn sich die Getreuen des Königs untereinander von Rechts wegen nur noch so verpflichten konnten, daß sie in ihre Genosseneide einen Treuvorbehalt zugunsten des Königs aufnahmen, d. h. ihren Genossen oder dem Herrn, welchen sie annahmen, Treue und Beistand gegenüber jedermann nur noch insoweit versprachen, als sie damit nicht ihre Pflichten gegenüber dem Könige verletzten. Ohne diesen Treuvorbehalt mußte der Einzelne, sobald sich sein Verband oder sein Herr gegen den König wandte, in einen Pflichtenkonflikt geraten, in dem die Bindung an den fernen König nur allzu leicht hinter derjenigen an den Herrn und die Genossen zurücktreten mochte, mit denen jeder Hausherr tagtäglich zusammenlebte und auf deren Gunst er daher viel fühlbarer angewiesen war als auf die des meistens abwesenden Herrschers.
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§§ 174 – 191. Lateinischer und althochdeutscher Sprachgebrauch § 174. Im Verlaufe des 8. Jahrhunderts hatte die Sitte, derartige eidliche Verpflichtungen zum Schutze der eigenen Interessen einzugehen, offenbar so weit um sich gegriffen, daß der König die Gefahr zu spüren bekam, die ihm von ihr drohte, und der er sich nur dann zu erwehren vermochte, wenn er, solange er die volksrechtlich geschützte Sitte nicht unterdrücken konnte, wenigstens die Forderung des Treuvorbehalts zu seinen Gunsten nicht nur hinsichtlich des Vasalleneides (W. Kienast 1952 S. 47 – 84) und damit der herrschaftlichen Genossenschaften, sondern ganz allgemein und auch in den freien Einungen durchsetzte. Vor diesem Hintergrunde sind die folgenden königlichen Satzungen zu betrachten. Jahr 779. De sacramentis per gildonia invicem coniurantibus, ut nemo facere praesumat. Alio vero modo de illorum elemosinis aut de incendio aut de naufragio, quamvis convenentias faciant, nemo in hoc iurare praesumat (MGH. Capit. 1, 46 n. 20 c. 16). Jahr 789. Ut nec clerici nec monachi conspirationes vel insidias contra pastorem suum faciant (ebd. 1, 52 n. 22 c. 29). Jahr 789. Omnino prohibendum est omnibus ebrietatis malum, et istas coniurationes quas faciunt per sanctum Stephanum aut per nos aut per filios nostros prohibemus. Et praecipimus, ut episcopi et abbates non vadant per casas miscendo (ebd. 1, 62 n. 23 c. 26). Jahr 794. De coniurationibus et conspirationibus, ne fiant; et ubi sunt inventae, destruantur (ebd. 1, 73 n. 28 c. 31). Jahr 805. De iuramento, ut nulli alteri per sacramentum fidelitas promittatur nisi nobis et unicuique proprio seniori ad nostram utilitatem et sui senioris; excepto his sacramentis quae iuste secundum legem alteri ab altero debetur. – De conspirationibus vero, quicumque facere praesumserit et sacramento quamcumque conspirationem firmaverint, ut triplici ratione iudicentur, je nachdem ob sie aliquid malum per hoc bewirkt haben und die Täter auctores oder adiutores waren; si vero per dextras aliqua conspiratio firmata fuerit, si liberi sunt . . . , si vero servi . . . Et ut de caetero in regno nostro nulla huiusmodi conspiratio fiat, nec per sacramentum nec sine sacramento (ebd. 1, 122 n. 144 c. 9, 10). Jahr 822 / 23, Italien: Volumus de obligationibus, ut nullus homo per sacramentum nec per aliam obligationem adunationem faciat; et si hoc facere praesumpserit, tunc de illis qui prius illud consilium incoaverit aut qui hoc factum habet, in exilio ab ipso comite in Corsica mittatur; die anderen büßen den Bann oder, wenn sie dazu nicht imstande sind, empfangen sechzig Schläge (ebd. 1, 317 n. 158 c. 4). § 175. Wie diese sechs Satzungen zeigen, bestand am Hofe Karls des Großen noch keine festgelegte Terminologie des Einungswesens, gleichsam als ob die Notare des Königs erst jetzt damit begonnen hätten, nach lat. Ausdrücken für eine Sache zu suchen, für die, weil nur den germanischen Völkern vertraut, im Wort-
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schatz des Lat. und der romanischen Sprachen keine Namen vorhanden waren. Und die Eigenschaften dieser germanischen Institution boten ihnen offenbar keinen Anlaß, lat. Begriffe wie coetus, communio, foedus, societas oder universitas darauf anzuwenden, weil Personenverbände, die man mit diesen Worten zu bezeichnen pflegte oder hätte bezeichnen können, in nichts mit den Einungen übereinstimmten, von denen hier die Rede sein sollte und die sie lediglich zu umschreiben, nicht aber zu benennen vermochten. Ihre Umschreibungen zielten überall mehr auf den Vorgang selbst, auf die Einung in statu nascendi, als auf das Ergebnis oder den daraus hervorgehenden Verband, was darauf hinweisen mag, daß man die von den Verboten betroffenen Einungen nicht als dauerhafte Gebilde von eigener Wesenheit und beständigem, die beteiligten Personen überlebendem Dasein wahrnahm. Den Vorgang der Einung gaben die Notare wieder mit den Worten sacramenta invicem coniurare oder facere (779), conspirationes vel insidias facere (789), coniurationes facere (798), coniurationes et conspirationes facere (794), conspirationem facere et sacramento oder per sacramentum firmare (805), per sacramentum adunationem facere (822 / 823). Ein wichtiges Merkmal des Vorganges war demnach das Schwören, denn das bereits im Ahd. vorhandene Wort Eid kommt hier allein als Äquivalent für sacramentum in Betracht, wie sich insbesondere aus der Verbindung mit dem Verbum coniurare und aus dem synonymen Gebrauch des Substantivs coniuratio ergibt. Bemerkenswerterweise machte die Übersetzungssitte der karolingischen Kanzleien keinen Gebrauch von den Wörtern iuramentum und promissio, die ebenfalls als Äquivalente zu ahd. eid zur Verfügung standen, aber nichts von dem religiösen Hintergrunde angedeutet hätten, den der Begriff sacramentum evozierte. Mit dem Eide, den die zitierten Kapitularien meinten, war offensichtlich ein heiliges Geheimnis verbunden, mit dem Schwören eine heilige Handlung gegeben, denn das lat. Wort konnte auch mit ahd. heilîgheit, heilîgtuom, heilag girûni „heiliges Flüstern“, touganheit „Heimlichkeit“, uuihida „Heiligkeit, Reliquie“, opharuuîhida „Weiheopfer“ und uuizôd „lex, testamentum, eucharistia“ wiedergegeben werden. Lat. iuramentum und promissio betonten dagegen ein anderes in der Vorstellung vom Eide enthaltenes Bedeutungselement, nämlich das Versprechen, die Zusage oder Verheißung, die den Inhalt des Eides ausmachte; lat. promissio konnte nämlich auch mit ahd. giheiz und bigiht, lat. iuramenta loqui auch mit ahd. giheizan übersetzt werden. Das iuramentum für sich alleine – nur das Kapitulare von 805 gebraucht überhaupt dieses Wort – war nicht Gegenstand der königlichen Gesetzgebung, sondern erst das per sacramentum gegebene Versprechen (ut nulli alteri per sacramentum fidelitas promittatur, conspirationem facere et sacramento firmare ebd.). In der mhd. Sprache des späteren Mittelalters sind die beiden Vorstellungselemente selbständig geworden und ist es allein noch die profane Sphäre, in der der Eid erscheint. Denn lat. sacramentum wurde jetzt nur noch mit dem Lehnwort sacrament oder den Substantiven heiligkeit, verborgenheit, haimlichkeit, hil-
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ligdom wiedergegeben und enthielt ausschließlich den von der Kirche klar definierten Begriff der göttlichen Verheißung, während mhd. swore, schwur, eid nur noch lat. iuramentum übersetzten und zu lat. promissio, neben den alten Äquivalenten geheiß und verheißung, die Worte gelobe, gelobenisse, gelubde, gelofte neu erscheinen (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 506, 312, 464). Ein Gelöbnis im Sinne des feierlichen Versprechens hatte das Ahd. noch nicht gekannt, denn ahd. gilubida war weder zu sacramentum noch zu promissio ein Äquivalent; dem ahd. Verbum gilobôn kam nur erst die Bedeutung von billigen oder beistimmen zu. Vermittelt durch das Sinnelement „beipflichtend versprechen“, hat es die heutige Bedeutung „Gelöbnis“ erst im Mhd. erreicht. § 176. Der mit vergleichbaren Funktionen bei allen Völkern der Erde verbreitete Eid war bei den Germanen (J. De Vries 1964 S. 22 – 24. R. Schmidt-Wiegand 1982 S. 376 f. H. Drüppel in LMA 3 Sp. 1678 f. L. Kolmer 1989 S. 197 – 201, 225 – 231, 260 f. H. Hattenhauer 1992 S. 39 – 44. P. Prodi 1997 S. 20 f., 64 – 67) eine magisch-sakral ritualisierte Gewährleistung für die Verläßlichkeit des eigenen Wortes gewesen, eine bedingte Selbstverfluchung, mit der sich der Schwörende für den Fall des Meineides der unmittelbaren Ahndung seines Betruges durch eine zu diesem Zwecke angerufene Naturgewalt aussetzte, durch Blitzschlag etwa, durch Krankheit oder durch tödlichen Unfall, sehr häufig auch durch die Rache der als belebt gedachten eigenen Waffe: Wer seine Verheißung brach, der verdammte sich ipso facto selbst als meineidig (ahd. mein als Adjektiv gleich falsch, als Substantiv gleich Falschheit, Betrug, Verbrechen, sacrilegium), so daß der dadurch geschädigte Schwurverband nicht gerichtlich gegen ihn vorzugehen, sondern lediglich, als Vormund der gekränkten Natur, d. h. willkürlich die Rechtsfolgen festzusetzen brauchte, die an die Tat geknüpft sein sollten (oben: § 15). Ebensowenig wie die hausherrliche Gewalt über Mundlinge (oben: §§ 93a, 164) enthielt die eidgenossenschaftliche Verbandsmacht eine Gerichtsgewalt über die Genossen, galt sie im mittelalterlichen Sinne als Rechtsprechung. Die Rechtspflege unter geeinten Genossen erfolgte „unabhängig von den staatlichen Gewalten durch die Beteiligten selbst . . . Doch kann . . . von einer wahren Gerichtsbarkeit erst dann gesprochen werden, wenn die Staatsgewalt sie anerkennt, oder sie mit der von dieser übertragenen so verbunden wird, daß sie an dem Wesen derselben teilnimmt“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 2). Da die Verbände im Rechtsleben die natürliche Blutsverwandtschaft von Bruderschaften ersetzen sollten, auf der der Bestand der Hausgemeinschaften und Sippen beruhte (oben: §§ 103, 104), hatten die Genossen sie nach heidnischer Sitte im Wege einer rituellen physischen Blutsvermischung begründen müssen, jedoch war dieser Brauch bereits in der fränkischen Zeit dem Einflusse der christlichen Kirche erlegen und vom Brudereid verdrängt worden. Nur der feierliche Eid, den sich die künftigen Genossen und Schwurbrüder gegenseitig leisteten, war jetzt noch stark genug, um den Mangel der Blutsverwandtschaft auszugleichen und aus Männern beliebiger Abkunft künstlich Blutsbrüder zu machen (MGH. Capit. 1, 122 n. 44 c. 5; 2, 312 n. 273 B c. 19 und 13. R. Scheyhing 1960 S. 8 f. L. Kolmer 1989 S. 328 f.). Denn das Vertrauen auf den magischen
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Wirkungszusammenhang, den der feierlich geleistete Eid in Kraft setzte, wurde durch die Christianisierung nicht erschüttert. Längst hatte die Kirche das evangelische Schwurverbot (Mt 5, 33 – 35) dahingehend ausgelegt, daß es lediglich verboten wäre, sich selbst zu verfluchen oder gar den Himmel, die Erde, eine Naturgewalt oder einen anderen Teil der Schöpfung zu beschwören; dagegen galt es durchaus als Glaubensbeweis, um der Sicherung des Friedens willen und zur Wahrung von Ehre und Treue Gott selber zum Zeugen der Wahrheit anzurufen und es dem Allmächtigen anheimzustellen, auf welche Weise er einen etwaigen Meineid bestrafen wollte (M. Gerwing in LMA 3 Sp. 1673 f. L. Kolmer 1989 S. 47 – 51, 276 – 314). § 177. Der äußeren Form nach bestand der Eid aus der gesprochenen Formel und der zugehörigen Handgebärde. Vor Gericht unterlag der Schwörende dem strengsten Formenzwang, so daß er mit dem geringsten Verstoß gegen den vorgeschriebenen Wortlaut und Gestus den Abbruch der Schwurhandlung herbeiführte und im Rechtsstreit als zum Eide Zugelassener oder Verurteilter sachfällig wurde. In alter Zeit hatten die Franken den Eid mit Hand und Mund bei dem Säulenstein, wo das Königsgericht tagte, auf die Haselrute, die als Gerichtsstab oder richterliches Szepter diente, oder auf den steinernen Sitz des königlichen Richters in dem mit Haselruten umhegten Kreise (Lex Rib. III 2 S. 121 f.: ad stafflo in circulo et in corelo. Zur Bildsäule an der Gerichtsstätte B. E. Siebs 1967 S. 300 f.) geleistet. Dagegen mußte der schwörende Jude in einem aus Sauerampfer oder aus Dornen (hier ist die Deutung zweifelhaft) gestreuten Kreise stehen und die fünf Bücher Moses im rechten Arme halten, wobei allerdings auch ein lat. Exemplar genügte, wenn ein hebräisches nicht vorhanden war; auch schwur der Beweispflichtige bei dem Gotte seines Volkes, und bei der Selbstverfluchung zitierte er Texte des Alten Testaments (MGH. Capit. 1, 258 n. 131 c. 4 – 5. L. Kolmer 1989 S. 250). Der getaufte Germane schließlich setzte den allmächtigen Gott und dessen Heilige zu Eideshütern ein und legte den Eid auf ein Kreuz oder ein Evangelienbuch ab, wenn eine Kirche ihm diese Gegenstände zur Verfügung stellte, vorzugsweise aber legte er die Schwurhand auf ein Reliquiar, darin der beschworene Heilige in Gestalt seiner Gebeine körperlich anwesend war, denn Reliquien konnten auch Laien besitzen (L. Kolmer 1989 S. 233 – 243). Zahlreiche Heiligenviten wissen davon zu berichten, wie sich die als Garanten angerufenen Heiligen an ihren Verächtern für einen Eidbruch zu rächen verstanden. In ihrem Auftrage erlegten Pfarrer dem reuigen Sünder Bußleistungen auf, die aus den Bußbüchern des früheren Mittelalters allmählich in das kanonische Recht übergingen (ebd. S. 314 – 327). Wenig erfahren wir über die zum Eidesformular gehörigen Handgebärden (ebd. S. 243 – 246). Wenn kirchliches Mißtrauen gegenüber heidnischem Brauchtum der Grund dafür war, daß ein ahd. Glossator den einfachen Handschlag dem feierlichen Eide gleichsetzte (quoniam coniurastis danta kisuuarut edo kihantreihtot: W. Braune, Lesebuch 1928 S. 5 Nr. 4 Z. 29), so war dieser Absicht kein Erfolg beschieden, denn auch die jüngere, im späten Mittelalter bezeugte Handgebärde des Aufrek-
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kens von drei Fingern gen Himmel war ein symbolischer Ausdruck für den Anruf Gottes. § 178. Mochte wegen der magischen Wirkung des Eides ursprünglich eine zusätzliche Bestrafung des Eidbruchs durch weltliche Gerichte nicht vorgesehen gewesen sein, so blieb diese Tat, die man ebenso wie den Falscheid selber als Meineid bezeichnete, doch nicht ohne weltliche Rechtsfolgen. Denn der Schwörende bürgte für die Verläßlichkeit seiner Worte nicht nur mit der Kraft der bedingten Selbstverfluchung, deren Wirkung er sich im voraus unterwarf; vielmehr setzte er dafür auch seine Rechtspersönlichkeit ein, da er sich für den Fall des Meineides den Unrechtsfolgen des Ehrverlustes und der schändlichen Rechtsminderung aussetzte. So heißt es noch im Sachsenspiegel (Landrecht I 40): „Wer als treulos überführt wird oder als fahnenflüchtig aus des Reiches Dienst, dem spricht man seine Ehre und sein Lehnrecht ab, nicht jedoch das Leben.“ Der Treulose verlor namentlich die persönliche Eidesfähigkeit, und bei der überragenden Bedeutung des Schwörens im Rechtsleben war dieser Verlust gleichbedeutend mit dem Verlust der Rechtsfähigkeit überhaupt, konnte er doch schließlich sogar den Verlust der persönlichen Freiheit zur Folge haben, wenn sich nämlich der Betroffene hinfort überall durch einen Schutzherrn vertreten lassen mußte. Bei dem Genosseneide kam hinzu, daß er die Unterwerfung des Schwörenden unter die willkürliche Zuchtgewalt des Verbandes einschloß. Seit sich die germanischen Völker als Rechtsgenossenschaften und Gerichtsgemeinden oberhalb der Haus- und Geschlechterverbände konstituierten, um die Fehde zu unterdrücken und verfeindete Hausherren zur Sühneverhandlung zu zwingen, werden diese Verbände und die Fürsten, die sie über sich setzten, bestrebt gewesen sein, die strafrechtlichen Folgen für den Bruch des beschworenen Friedens über die bloße Ächtung des Widerspenstigen hinaus zu normieren. So bestimmte der fränkische Gesetzgeber bereits im Jahre 805: „Wenn einer nach der (beschworenen) Aussöhnung den anderen erschlägt, so entrichte er (dessen Verwandten) das Wergeld, und man schlage ihm die Hand ab, mit der er falsch geschworen; außerdem entrichte er an uns die Königsbannbuße“ als Strafe für den Bruch des Volks- und Landfriedens. Den Verlust der Schwurhand als „spiegelnde Strafe“ für den Bruch des Versprechenseides drohte König Karl II. im Jahre 864 seinen Münzern für den Fall an, daß sie die beschworenen Amtspflichten verletzten. Noch zu Beginn des 12. Jahrhunderts erklärte ein anonymer Autor zu dem einige Jahrzehnte zurückliegenden Tode des Gegenkönigs Rudolf: Nam abscisa Roudolfus dextera dignissimam periurii vindictam demonstravit, qui fidem domino suo regi iuratam violare non timuit; et tamquam alia vulnera non sufficerent ad mortem, accessit etiam huius membri poena, ut per poenam agnosceretur et culpa (Vita Heinr. IV p. 10). Für den Bruch des Brudereides aber war die schwerste Strafe, die die Genossen über den meineidig Gewordenen verhängen konnten, der Ausschluß aus dem Verbande und damit der Verlust des Gruppenstatus, d. h. der Zugehörigkeit zur Bruderschaft, die dem
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Verstoßenen ihren Schutz gegenüber Fremden und die Teilhabe an den von ihr etwa erworbenen Privilegien entzog (L. Kolmer 1989 S. 203 f.). § 179. Als außergerichtlicher Eid war der Genosseneid gewiß, was Formel und Handgebärde betraf, einfacher zu bestehen als der Eid, welcher über einen Rechtsstreit entscheiden sollte. Die Pflichten, welche ein jeder Genosse übernahm, wenn er die Einung beschwor oder mit Handschlag bestärkte, waren auch insofern bestimmte Pflichten, als ihr Umfang zugleich die Macht der Gesamtheit und des von ihr anerkannten Herrn begrenzte, der er sich durch sein Gehorsamsversprechen unterwarf. Gegenüber dem Herrn setzten die Schwurbrüder gemeinlich auf diese Weise die Geltung des dinggenossenschaftlichen Prinzips durch. Denn wenn sie sich gegenseitig Beistand und Hilfe gelobten, so ging es dabei nicht nur um bewaffnete oder materielle Hilfe gegenüber eidbrüchigen Bundesbrüdern oder außenstehenden Ungenossen, sondern auch um Beistand vor dem öffentlichen Gericht, wenn diese dort Klage erhoben oder von einem Genossen belangt werden mußten. Denn die Einung konnte niemanden von seiner gesetzlichen und seine Freiheit sichernden Dingpflicht vor den königlichen Gerichten befreien. Kaum ein gerichtlicher Prozeß war aber zu gewinnen, wenn der Beschuldigte die Behauptungen des Klägers nicht letzten Endes mit einem Reinigungseid abzuwehren vermochte. Damit indessen dieser Ausweg nicht mißbräuchlich beschritten wurde, erschwerte es das alte Recht, ihn zu betreten, indem es nach Eideshelfern verlangte, die bereit waren, gemeinsam mit dem Beschuldigten zu schwören und mit ihm die Gefahren des Meineides auf sich zu nehmen. Zu solcher Eideshilfe verpflichtet waren die leiblichen oder „gemachten“ Verwandten des in Rechtsnot befindlichen Beklagten, in erster Linie also in der Heimat seine Haus- und Sippengenossen und in der Fremde die gemeinsam reisenden Schwurbrüder, soweit sie unbescholten und hinreichend angesehen waren, um öffentlich als zeugenfähig anerkannt zu werden. Während ein solcher assertorischer oder Beweiseid dem Prozeßgegner die Wahrheit einer Aussage über Geschehnisse oder Rechtsverhältnisse garantierte, diente der promissorische oder Versprechenseid, der die Schwurbruderschaft begründete, zur Sicherung von zukünftigen Verpflichtungen und damit auch zur Begründung von Rechtsverhältnissen zwischen den gemeinsam Schwörenden. Der Unterschied zwischen assertorischen, auf Vergangenes zurückverweisenden und promissorischen, ein zukünftiges Verhalten in Aussicht nehmenden Eiden ist schon im Mittelalter erkannt und zum ersten Male von dem Theologen und Philosophen Thomas von Aquino im 13. Jahrhundert herausgearbeitet worden (L. Kolmer 1989 S. 52, 66). Während assertorische Eide im wesentlichen gemäß Gerichtsbeschluß von den Parteien in einem Rechtsstreit geschworen wurden, spielten promissorische oder Treueide eine entscheidende Rolle im politischen Leben des Volkes und bei der Festigung seiner verfassungsmäßigen Institutionen (H. Hattenhauer 1992 S. 8 – 13). Es gab im Mittelalter kaum einen herrschaftlichen oder genossenschaftlichen Verband, der ohne sie bestehen konnte. Der magisch-religiöse Hintergrund der Eidpraxis war indessen in beiden Fällen der gleiche.
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§ 180. Im frühen Mittelalter waren daher zunächst die Worte iuramentum und sacramentum insoweit zu Synonymen geworden, als beide mit ahd. eid übersetzt werden konnten (H. Götz, Wb. 1999 S. 361, 582). Mit Hunderten von Konzilsdekreten, die sie mittels der Bußpraxis den gläubigen Christen einzuschärfen bestrebt waren, regelten die Bischöfe die Schwurformen, die davon abhängige Gültigkeit oder Nichtigkeit der Eide und ihr Recht, Christen von formal oder inhaltlich kirchenrechtswidrigen eidlichen Versprechen zu entbinden, denn Eidestreue war fides im doppelten Sinne, nämlich Treue gegenüber den Eidgenossen, aber auch Treue zu Gott und Beweis wahren Glaubens an Gott, in dessen Namen, und an Gottes Heilige, auf deren Reliquien Christen den Eid ablegten (P. Prodi 1997 S. 57 – 66). Als deren und seine Worthalter und Vormünder auf Erden aber hatte Gott die Bischöfe eingesetzt, und daher pflegten Christen nach Möglichkeit Bischöfe oder Pfarrer hinzuzuziehen, wenn sie einen Eid auf sich zu nehmen hatten. Nachdem daran jahrhundertelang niemand Anstoß genommen, führten ein besseres Verständnis der christlichen Lehre und neue Formen der Frömmigkeit im 12. Jahrhundert dahin, daß die sich unter Leitung des römischen Bischofs reformierende Kirche diese Verstrickung der Geistlichkeit in weltliche Händel zu lösen und die Bundesbruderschaften ihres sakramentalen Charakters zu entkleiden suchte. So kam nun die synonyme Verwendung der Worte sacramentum und iuramentum außer Gebrauch. Ein einfaches, nicht mehr durch Reliquien oder Evangelienbuch vermitteltes Gelübde sollte an die Stelle des Eides treten (ebd. S. 113 – 118), wie es vielleicht schon immer benutzt worden war, wenn nur wenige und miteinander vertraute Männer Einungen errichteten, vergleichbar einer Hausgemeinschaft, innerhalb deren Pietät die gegenseitigen Pflichten regelte und man ebenfalls keiner Eide bedurfte, um ihren Bruch für sündhaft zu halten. Welchen Erfolg diese Bestrebungen hatten, kann man von dem oben dargestellten mhd. Sprachgebrauch und davon ablesen, daß in den niederdeutschen Städten, wo die jährliche Erneuerung des Bürgereides auf öffentlichen Schwörtagen nicht üblich war, die Verpflichtung des Bürgers im allgemeinen als lovede oder lofte „Gelübde“ bezeichnet wurde – nicht die Luft der Stadt, wie moderne Gelehrsamkeit meinte, sondern das Gelübde des zuziehenden Stadtbewohners, welches das Sakrament des Bürgereides ersetzte, machte frei (C. Gellinek 1989). § 181. Für das Tun des Genossen, der, bevor es dahin kam, den heiligen Eid ablegte, verwenden die zitierten Kapitularien die Verben iurare, invicem coniurare, fidelitatem promittere und immer wieder coniurationem (conspirationem, adunationem) facere. Zu iurare finden sich die ahd. Äquivalente giheizan „verheißen“ und suueren „schwören“; sie geben dem lat. Worte den Vorstellungsinhalt von „eidlich versprechen“. Bei dem Verbum coniurare kommt der reflexive Sinn hinzu („sich verbinden oder verschwören“). Daß der Schwörende dies zusammen und wechselseitig mit anderen tat, hörte man offenbar aus dem Präfix con- nicht heraus; das Kapitular von 779 setzte deswegen das Pronominaladjektiv invicem hinzu, das mit ahd.
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ein anderemo, untar in, samant, untar einanderemo wiedergegeben werden konnte. Zu coniurare finden sich die ahd., jeweils um das Reflexivpronomen zu erweiternden Übersetzungen (sih) giheizan oder biheizôn „sich anheischig machen, sich vermessen, etwas hoch und teuer versprechen“, (sih) gieiden „sich eidlich verpflichten“ oder sih bisuuerien „sich verschwören“, schließlich (sih) gieinôn „sich einen“ und (sih) gihantreihhen „sich mit Handreichung oder Handschlag verbindlich machen“. Dieser letztere Ausdruck bestätigt, was die Kapitularien von 779, 805 und 822 / 823 bezeugen, daß eine Genossenschaft auf zwei Wegen zustandekommen konnte, nämlich per sacramentum oder per aliam obligationem. Wie die ahd. Äquivalente gibintan und biheften zu lat. obligare dartun, bedeutete dieses Verbum das Binden, Befestigen oder Fesseln im materiellen und im übertragenen Sinne; man konnte damit die Bindung an einen Ehepartner durch die Ehe oder an Gott durch ein Gelübde bezeichnen, und das Partizip obligatus, das denjenigen benennt, der sich so gebunden hatte, konnte mit ahd. thiomuoti „demütig, untertan“ übersetzt werden (H. Götz, Wb. 1999 S. 439), wofür wohl nur in herrschaftlichen Genossenschaften Raum war, denn freie Einungen kannten keine Untertanen. Eine von diesen nicht beschworene Obligation werden wir vor uns haben, wenn in dem Kapitulare von 805 per dextras aliqua conspiratio firmata erwähnt wird. Derartige Einungen pflegte man lediglich durch Handschlag zu bekräftigen, ohne daß sich die Teilnehmer den unvorhersehbaren Gefahren einer eidlichen Selbstverfluchung aussetzten. Es waren dies Einungen für so alltägliche Zwecke wie die gegenseitige Hilfe im Falle jener Armut, die jedermann zu jeder Zeit als Folge von Invalidität, Feuersbrunst oder Schiffbruch ereilen konnte (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 4 S. 434 – 436. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 136 f., 177 – 179). Derartige Einungen sollten nach König Karls Willen zulässig bleiben, sofern sie nur nicht beschworen wurden; setzten sie sich jedoch andere, und zwar konspirative Zwecke, so blieben sie verboten, und die Teilnehmer machten sich strafbar. § 182. Inwieweit das Verbum facere in diesem Zusammenhange eine technische Bedeutung hatte, ist schwer zu entscheiden. Weder das Lat. der Karolingerzeit noch das Ahd., soweit wir dies an Hand der erhaltenen Übersetzungsgleichungen feststellen können, scheint bereits eine Bezeichnung für den (Eid-)Genossen im allgemeinen, auf aller Art Einungen anwendbaren Sinne des Wortes gekannt zu haben, da lat. coniurator und sein ahd. Äquivalent gieido, soweit wir wissen, lediglich den zum gerichtlichen Reinigungseide beigezogenen Eideshelfer bezeichneten. Daß lat. sacramentum auch diesen Reinigungseid meinen konnte, ergibt sich aus einem Kapitulare von 818 / 819: Si huius facti testes non habuerit, cum duodecim coniuratoribus legitimis per sacramentum adfirmet se defendendo eum interfecisse (MGH. Capit. 1, 280 n. 139 c. 1). Die Übersetzungsgleichung coniurator / gieido ist in einer irrigerweise dem Capitulare de villis beigefügten Glosse enthalten, so daß unklar bleibt, wovon der erläuterte Text handelte, zu dem es heißt: Hamedii, id sunt coniuratores, quos nos geidon dicimus (ebd. S. 91 Z. 10); wäre es paläographisch möglich, das erste Wort dieses Satzes als falsche Lesung von Sa-
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medii zu erklären, so hätten wir hier möglicherweise die Latinisierung eines ahd., aus dem Adverb sama, samo „ebenso, gleicherweise“ und dem Substantiv eid zusammengesetzten Wortes *sam-eido vor uns, die allerdings so ungebräuchlich gewesen wäre, daß sie ihrerseits einer Erklärung bedurfte. Die Präposition samant „zugleich mit, zusammen mit“ war übrigens mit lat. cum äquivalent (fac cum me = uuurke samant mir „steh’ mir bei!“), was auf die Übersetzung von coniurare Einfluß ausgeübt haben könnte. Völlig steht dahin, ob ahd. mahhôn „zusammenfügen, verbinden, passend machen“, das in der allgemeinen Bedeutung „bereiten, ausführen, tun“ lat. facere übersetzen konnte, vorzugsweise als Äquivalent des lat. Verbums in den angeführten, auf Einungen bezüglichen Kapitularien in Betracht kommt. Dafür könnte sprechen, daß ahd. mahhôn zu dem Adjektiv gimah „(mit etwas) verbunden, zugehörig, passend“ gestellt wird, von dem auch die Hauptworte kimachida „Verbindung, Zusammenfügung“ und kamahho „socius“ abgeleitet werden. Jenes übersetzte zugleich lat. contubernium „Haus- oder Tischgemeinschaft“ und lat. consortium „(Schicksals-)Gemeinschaft“; zu lat. contubernalis finden sich daher die Äquivalente ginôz und gisello, zu lat. consors jedoch gilôzo und giteilo; als Genossen konnte man den consors nicht bezeichnen, da ihm nicht das Schicksalslos, sondern die Verbandssatzung Rechte und Pflichten zuteilte. Dagegen gab das Hauptwort mahhâri „Macher, Bewirker“ in der Verbindung mahhâri uuesan „Urheber sein“ auch lat. facere in intransitiver Verwendung wieder. So erscheint es als möglich, in ahd. mahhâri und kamahho, gimahho den gesuchten allgemeinen Begriff für den Eidgenossen zu erkennen. Als notwendig anzunehmen brauchen wir einen solchen Begriff nicht; seine Bildung hätte ein beträchtliches Abstraktionsvermögen vorausgesetzt, da es offensichtlich eine Reihe spezieller Ausdrücke gab, mit denen man die Brüder und Genossen bestimmter, nach dem Gründungszwecke unterschiedener Arten von Einungen bezeichnete (z. B. confoederati, unten: §§ 605, 638). Nimmt man die Gleichung secundum contubernia = after giselloskeftin „gruppenweise“ hinzu, so ergibt sich als ein solcher Begriff das Substantiv gisello, welches speziell, als mit sal „Saal, Herrenhaus“ zusammengehörig, den Hausgenossen, dann aber auch den Freund oder Gefährten überhaupt bezeichnete. Hierher könnte auch as. stellinga ,die sich gemeinsam Aufstellenden‘ gehören (B. Schneidmüller in LMA 8 Sp. 107). Das ahd. Substantiv ginôz oder ginozzo „Genosse, Gefährte“ dagegen enthält den Stamm des Verbums niozzan, giniazan „(etwas) benutzen oder genießen, (an etwas) teilhaben“; unter Genossenverbänden verstand man daher gewiß in erster Linie solche, die eine Feld- oder Waldmark oder vergleichbare Vermögen wie Salzbrunnen oder privilegierte Münzwerkstätten gemeinsam verwalteten und nutzten. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man dem Worte ahd. nôz „Vieh“ zugrundelegt: Es hätte dann den Weidegenossen bezeichnet und „sich unter dem Einfluß von lat. socius zu einer allgemeinen Bezeichnung für ,Genosse, Teilhaber‘“ entwickelt. „Die historische Bezeichnung genôzscaft, die im Ahd. schon relativ früh zur Übersetzung von lat. foedus ,Bündnis‘ und contubernium ,Zelt-
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genossenschaft‘ benutzt worden ist, entspricht der Definition von Genossenschaft weitgehend“ (R. Schmidt-Wiegand 1999 S. 4). Mit dem lat. Worte socius übersetzten die Notare zwar auch ahd. ginôz und gimahho, aber den Eidgenossen schlechthin können sie darunter schwerlich verstanden haben, da sie mit socius auch das ahd. Adjektiv sibbi = blutsverwandt wiedergaben. So wird denn auch weder im Ahd. noch im Mhd. der Begriff der Einung jemals der lat. societas zugeordnet. § 183. Vielleicht kann man auf diesem Wege eine Erklärung dafür finden, daß die genannten Kapitularien der Jahre 779 bis 823 für Genossenschaft und Einung keines jener lat. Worte verwenden, denen im Ahd. Erweiterungen der Adjektive all = gesamt, ganz, jeder, gimeini = gemeinsam, zusammengehörig, gemeinschaftlich, allgemein, und *sam = von gleicher Beschaffenheit (hierzu das Adverb saman = zusammen, zugleich, und das Verbum samanôn = sammeln) entsprechen. Zu ahd. all (und as. al) gehören das Adjektiv allîh, allelîh = allgemein (sc. bekannt, verbreitet, üblich, gültig) und die Hauptworte allelîhhi, allîhheit = die Gesamtheit, das Ganze, die als Äquivalente zu lat. catholicus, generalis, publicus, universalis und universitas genannt werden. Zu dem Adjektiv gimeini (as. gimêni) stellen sich gimeinsam, dazu bit ein = (zugleich) mit ein(ander), das Verbum gimeinen, gimeinsamî haben = Gemeinschaft oder Umgang haben und die Substantive gimeinî, gimeinida (as. gimêntha), gimeinsamî, gimein lîb = Gemeinschaft, gemeinsames Zusammenleben, Gemeinde, sie ihrerseits Äquivalente zu lat. communis, generalis, communicare und communio. Diese ahd. Worte lassen sich auf eine indogermanische Wurzel *mei „wechseln, tauschen“ zurückführen, doch hatte schon in ahd. Zeit das Adjektiv gemein seine Bedeutung von „mehreren im Wechsel zukommend“ verschoben zu „mehreren in gleicher Art gehörig“ (F. Kluge, Wb. 1975 S. 246, 472). An ahd. saman und samanôn = sammeln, vereinigen, versammeln schließen sich das Adverb zisamane = zusammen, das Adjektiv samahafti = verbunden, coniunctus, das Partizip gisamanôt (mhd. gesament = gesamt) und die Hauptworte gisamani = Schar, samanunge oder samnung = Versammlung an. Man übersetzte damit lat. generaliter, generalis, congregare, convenire (convenire in unum = sih gisamanôn, samanqueman in ein „sich verschwören“) und congregatio, das letztere in doppelter Bedeutung als samahaftî = Vereinigung, Gesamtheit und als gisamani, samanunga = versammelte Menge, Versammlung, Gemeinde, Schar. Wie weit sich die Bedeutungen mancher dieser Worte untereinander und mit früher erörterten überschnitten, zeigt sich, wenn wir von den lat. Begriffen ausgehen, die man damit übersetzen konnte. Congregatio war danach gleichbedeutend nicht nur mit ahd. gisamani und samanunga, sondern auch mit githingi = Gerichtsversammlung und menigî = Menge, convenire nicht nur mit sih samanôn, sondern auch mit gihellan = übereinstimmen, generalis sowohl mit gimeini und samant = gemeinschaftlich, alle zusammen, als auch mit allîh = allgemeingültig, und alliu zumftlîh = sich auf alle beziehend, allen geziemend, universalis sowohl mit allelîh und samanthaftig = eine Einheit bildend, umfassend, zusammengehörig, als auch
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mit gimeini und gimeinlîh = allgemein bekannt, geläufig, gültig, universitas = Gesamtheit, das Ganze nicht nur mit allelîhhi, allîhheit, sondern auch mit einussi und samanthafti. Erst im Mhd., zuerst im Elsaß im Jahre 1125, erscheint das Substantiv al(ge)meinde, almende = was allen gemein ist (an Wald, Weide, Wasser und Wegen in der Gemarkung eines Dorfes); obwohl die Sache allen germanischen Völkern bekannt war und es daher Zufall sein wird, daß ein entsprechendes Wort weder im Ahd. noch im Englischen belegt ist, erscheint uns der Rückschluß auf die Existenz eines ahd. Wortes dieses Sinnes als problematisch (J. und W. Grimm, Wb. 1, 1854, Sp. 237. F. Kluge, Wb. 1975 S. 15. L. Carlen in LMA 1 Sp. 439). Diese Überschneidungen reichen zwar aus, um wahrscheinlich zu machen, daß sich die als Allheiten, Gesamtheiten oder Gemeinden bezeichneten Verbände ihrer Verfassung nach von den in den genannten Kapitularien angesprochenen Einungen nicht oder nicht wesentlich unterschieden, sie sind aber doch nicht so allgemein und umfassend, daß wir es für zufällig halten könnten oder müßten, wenn jene Kapitularien die Ausdrücke congregatio, communio, universitas nicht verwenden. Vielmehr ist anzunehmen, daß die Hofnotare und ihre Diktatoren alle diese Begriffe vermieden, weil sie vorwiegend oder ausschließlich gebietsbezogene Gemeinden bezeichneten, die es seit jeher überall in aller Öffentlichkeit gegeben hatte und deren Zweckmäßigkeit, ja Unentbehrlichkeit für gemeinsame Wirtschaftsführung und Erwerbsarbeit sich den Genossen mit solcher Gewalt aufdrängte, daß es keines gemeinsamen Schwures bedurfte, um sie zu gemeinsamer Willensbildung zu befähigen und ihren Gemeinwillen für den einzelnen bei Strafe verbindlich zu machen. Die Ortsgemeinden oder universitates gehörten zu den anerkannten und rechtmäßigen Einungen, welche unsere Kapitularien nicht zu erwähnen brauchten, da sie nur jene staatsgefährlichen und daher rechtswidrigen Einungen näher zu bestimmen hatten, deren Strafbarkeit sie den Untertanen einschärfen wollten. Diese heimlich beschworenen Verbände können ihrer Entstehung und ihrem Zwecke nach jedoch nie etwas anderes als rein personenbezogene Verbände gewesen sein. § 184. Als Synonyme zu coniuratio verwenden die karolingischen Satzungen nicht jene, sondern die Begriffe conspiratio und adunatio. Wie die Äquivalenz zwischen dem lat. Adverb conspiranter und ahd. einmuoto = einmütig zeigt, zielte das Verbum conspirare auf die Einmütigkeit oder Einhelligkeit, aus der die Einung hervorging; niemand konnte wider seinen Willen Genosse einer Einung werden, und gewiß konnte die Genossenschaft auch weitere Beschlüsse nur einmütig fassen. Es ist daher anzunehmen, daß die gemeinsame Willensbildung der Genossen von Anfang an nach den Regeln des Identitätssystems vor sich ging (oben: § 26). Denn ahd. gemeinmuotî war, ebenso wie die Substantive gihellî und ebanhellunga = Einhelligkeit (unten: § 186), äquivalent zu lat. concordia, und sowohl das Partizip gihellanti als auch das Adjektiv gihelli übersetzten zusammen mit dem Partizip gieinòt lat. concors. Damit aber werden wir auf einen Begriff geführt, der vor allen anderen als Grundbegriff des Identitätssystems angesehen werden kann (oben: §§ 26, 30. E. Pitz 2001 S. 226, 401).
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Lat. conspirare in malum gab dementsprechend ahd. einstimmi uuesan zi ubele, conspirare in mortem (Christi) ahd. einmuotîg uuesan zi tôde wieder; das Verbum bedeutete in dieser Verwendung soviel wie übereinstimmend oder einmütig beschließen. Darüber hinaus näherte es sich eng an den Sinn von coniurare an, denn wie diesem war ihm ahd. gihantreihhen, sih gieinôn, (sih) biheizan äquivalent. Hinzu kam der Ausdruck festi uuesan (uuidar iomanne), der besonders deutlich zeigt, daß man hier das Verbum im Sinne von sich verbünden (gegen), sich verschwören gebrauchte. Dem Verbalsubstantiv conspiratio und seinen ahd. Äquivalenten einnussida, einunga, gihantreihhida, birâtida kam demnach insbesondere die Bedeutung von Verschwörung oder Komplott zu. Dies bestätigt das Kapitulare von 779, welches conspirationes vel insidias facere sagt; mit lat. insidiae gab der Notar ahd. fâra = Nachstellung, Gefahr, Versuchung, wieder. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis führt die Betrachtung des Wortes adunatio. Mit dem Verbum adunare (oben: § 30) übersetzte man ahd. gieinôn und gieinîgen = vereinigen und sih gieinluzlîhhôn = sich (mit anderen) zu einem Ganzen verbinden; das letztgenannte Wort enthält denselben Stamm wie das Adverb einluzzi = einzeln, allein, und das Verbum hliozzan = losen, durchs Los erlangen. Adunatio war also die von Einzelnen erloste oder gewollte Vereinigung aller zu einem Ganzen, welches nur zustandekommen konnte, wenn alle Teilnehmer eines Willens oder einmütig waren: Dann aber handelten sie, als ob sie alle zusammen ein Ganzes oder eine einzige Person gewesen wären. Diese durch Einung einzelner Genossen geschaffene Einheit konnte man als unio oder unitas bezeichnen; zu jener finden wir die ahd. Entsprechung einnussa oder einnussi, zu dieser ahd. einìgheit, einnissi, einunga und einhafti oder thaz ein ist. § 185. Was Inhalt und Zweck der Einungen betrifft, so scheint das Kapitulare von 805 zwischen herrschaftlichen und freien Einungen zu unterscheiden und unter dem Herreneide ein Versprechen von Treue und Gehorsam zu verstehen, welches an sich nur dem Könige, einem Herrn (seniori) folglich nur mit Vorbehalt zugunsten des Königs (ad nostram utilitatem = nicht zum Schaden des Herrschers) beschworen werden durfte: per sacramentum fidelitas promittatur. Die der fidelitas zugrundeliegende fides konnte mit ahd. gilouba = Glaubwürdigkeit, (religiöser) Glaube, mit uuort = gegebenes Wort, Versprechen, und mit triuuua = Treue, Aufrichtigkeit, Glaubensfestigkeit, wiedergegeben werden; der ahd. Sprachgebrauch stellte also eine unmittelbare Verbindung zwischen dem irdischen Zwecke des Versprechens und dem religiösen Hintergrunde des darauf geleisteten Eides her, und darauf, daß die Treuepflicht auch den Herrn band, der ihren Inhalt nicht willkürlich, sondern nur mit Willen des Mannes bestimmen konnte, deutet die Übersetzung von lat. socia fide durch ahd. gimeinmuoto hin. Dem gegenüber hießen freie und herrschaftliche Einungen im Jahre 805 conspirationes, offensichtlich deswegen, weil sie zum Schaden des Königs beschworen wurden und deswegen strafbar waren. Bei den Tätern unterschied man zwischen auctores = Urhebern oder Anführern und adiutores = Helfern oder, wie es 822 / 23
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hieß, zwischen dem, qui prius illud consilium incoaverit aut qui hoc factum habet, und den übrigen Teilnehmern einer adunatio. Die Bestimmung scheint eher auf freie als auf herrschaftliche Einungen zuzutreffen und verrät uns, daß auch freie Einungen eines Hauptes und Führers bedurften, um zustandezukommen und handlungsfähig zu werden. Ob man aus dem Tenor des Kapitulars von 805 erschließen kann, daß auch der Genosseneid, welcher freie Einungen schuf, ausdrücklich ein (gegenseitiges) Treueversprechen enthalten habe, mag dahingestellt bleiben. § 186. Da es die Kapitularien an sich mit denjenigen (freien) Einungen zu tun hatten, die dem Königtum gefährlich werden konnten, erfahren wir – abgesehen von der Ausnahme, die die Satzung von 805 beiläufig einräumt, wenn sie von Eiden spricht, quae iuste secundum legem alteri ab altero debe(n)tur – lediglich aus dem Gesetz von 779, daß Männer, die zur Befriedigung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen Einungen mit Handschlag errichteten, nicht nur eine allgemeine gegenseitige Beistandspflicht übernahmen, sondern auch Rechte und Pflichten der Genossen durch Vereinbarungen, convenentias, genauer regelten (K. Kroeschell 1971 Sp. 911 und in LMA 3 Sp. 1746). In der Sprache der Kapitularien hießen einerseits Satzungen des kirchlichen Konzils oder des fränkischen Königs, andererseits frei ausgehandelte Vertragsbedingungen convenientiae, aber da die Notare den Begriff, um ihn zu erklären, mit statutum oder conditio kopulierten (MGH. Capit. 1 S. 129 Z. 35, 228 Z. 22, 264 Z. 6), dürfte es zulässig sein, den gemeinten Vertrag eine Willkür zu nennen, obwohl dieses Wort zwar bereits im Altfriesischen, aber im Hochdeutschen erst im 12. Jahrhundert belegt ist (F. Kluge, Wb. 1975 S. 860). Vielleicht war das Wort conven(i)entia selbst erst eine frankolateinische Neuschöpfung; die lat.-ahd Glossare kennen es nicht, sondern nur das Verbum convenire (oben: § 30) und die zugehörigen Substantive conventio und conventus (H. Götz, Wb. 1999 S. 150). In der konkreten Bedeutung von zusammenkommen, sich versammeln, sich vereinen, konnte das Verbum u. a. mit ahd. gihellan und sih samanôn wiedergegeben werden. Gihellan (zu hellan = ertönen, hallen) oder gihelli uuesan bedeutete mit einer Stimme reden oder einhellig, nämlich eines Willens sein, so, wie missehellan das Gegenteil besagte, nämlich nicht übereinstimmen, verschieden sein, differre. Wie das Partizip gieinôt, so konnten das Adjektiv gihelli und das präsentische Partizip gihellanti mit concors, die Substantive gihellî und ebanhellunga mit concordia übersetzt werden, während ahd. missihellan, ungihellî und missihelli mit lat. discordare, discordia, discors (oben: § 30) äquivalent waren und sich auf jene Zwietracht bezogen, die der Existenz jeder Genossenschaft ein Ende bereitete. Notker der Deutsche bezeichnete das Harmonieren der Töne als in ein hellan und übersetzte lat. improbi nequeunt convenire mit ahd. ni ist niouuicht alliu gihellî untar thên ubilôn = es herrscht niemals Einvernehmen unter den Ruchlosen. Wir dürfen daraus schließen, daß wie die Einung selbst, so auch der Vertrag oder die Satzung über ihre Zwecke nur einstimmig beschlossen und niemand wider Willen, d. h. ohne mitbeschlossen zu haben, dazu verpflichtet werden konnte, sie einzuhalten.
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Das Wort convenire konnte daher auch im Sinne von verhandeln, übereinkommen, sich verabreden, verwendet werden; als ahd. Äquivalente hierzu finden sich thingôn, sih einôn, sih gieinôn. Convenire in unum mit den Entsprechungen samanqueman in ein und sih gisamanôn bedeutete sogar speziell soviel wie sich (gegen jemanden) verschwören. In dieser Redewendung weisen lat. in unum und ahd. in ein wiederum auf das Einswerden der Meinungen und Stimmen und damit der Teilnehmer zu einer einzigen, von lediglich einem Willen bewegten Verbandsperson hin, wovon auch ahd. sih einôn, sih gieinôn redet. Das zu dem Verbum thingôn gehörige Hauptwort githingi, das speziell die Gerichtsversammlung zu bezeichnen pflegt, oder auch als Äquivalent zu lat. condicio = Bedingung genannt wird, diente im allgemeinen Sinne dazu, lat. conventio sowohl in der Bedeutung von Zusammenkunft oder Versammlung, als auch in der von Abmachung oder Vertrag, wiederzugeben. § 187. Davon, daß die Teilnehmer einer solchen Versammlung und Einung bei der Stipulation ihres Vertrages nicht nach Belieben verfahren, sondern gewisse Grenzen des Schicklichen, der Sitte, des Volks- und Landrechtes einzuhalten hatten, zeugt die Übersetzung von lat. convenire mit ahd. gifallôn = passen, gilimphan = geziemen, zukommen (hierzu das Adjektiv gilimphlih = passend), oder gizemmen = geziemen, wohl anstehen, passen, wovon uns das zugehörige Substantiv zumft, gizumft als Äquivalent zu lat. conventio = Abmachung, Vertrag (hier neben ahd. githingi) und zu lat. conventus in der speziellen Bedeutung des Klosterkonvents begegnet. Ist als Grundbedeutung von Zunft auch Schicklichkeit, Gesetzmäßigkeit, anzunehmen, so ergibt sich aus dem Sinne des als Gegenteil dazu dem Ahd. nachgebildeten as. Wortes missetumft = Uneinigkeit, Zwist (F. Kluge, Wb. 1975 S. 892), daß es sich dabei um eine vereinbarte oder gesatzte und in ihrer Geltung auf Einhelligkeit aller Teilnehmer beruhende, nicht jedoch um eine volksoder landrechtliche Gesetzmäßigkeit handelte. Zunächst im Sinne der Regel, nach der eine Genossenschaft lebt, gebraucht, begann das Wort im 13. Jahrhundert im hochdeutschen Sprachgebiet einen Verband von Handwerkern zu bezeichnen. Gleichzeitig und mit derselben Bedeutung erscheinen mhd. innunge und mnd. inninge (F. Keutgen 1903 S. 193 – 199, 228), abgeleitet von ahd. innôn = in einen Verband aufnehmen, verbinden, einem Äquivalent zu lat. recipere = annehmen, welches die Aufnahme eines ungebundenen, freien Mannes in einen bereits bestehenden Verband, seine Annahme als Genossen der bereits geeinten Personen bezeichnete. Das hochdeutsche Wort Innung hatte seine Heimat stets in Mittel- und Niederdeutschland; in Oberdeutschland blieb es unbekannt und wurde durch Zunft ersetzt. Da ahd. githinga und gizumft (neben einunga, gifuogsami = Gefüge von einerlei Beschaffenheit, zu fuogen = zusammenfügen, verbinden, vereinigen, passend machen, coniungere, und gemeinmuotigî = Einigkeit, Einmütigkeit, vgl. socia fide = gimeinmuoto) auch mit lat. foedus äquivalent waren, ergibt sich der Bedeutung nach nahezu eine Identität von lat. convenentia und ahd. einunga. Einung war eben nicht nur der Vorgang, mittels dessen sich Männer zur Genossenschaft zusammen-
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taten: coniuratio, conspiratio, und die dadurch geschaffene einheitliche Verbandsperson: unitas, sondern auch die Satzung, die sie bei der Gelegenheit zur Verfolgung ihrer gemeinsamen Zwecke aushandelten und durch Einmütigkeit und gemeinsamen Schwur oder Handschlag für sich verbindlich machten: foedus, conventio, convenientia, und später (mhd.) sogar die Bußstrafe, mit der die Genossenschaft auf den Bruch ihrer Satzung reagierte. § 188. Den karolingischen Hofnotaren war bewußt, wie unzulänglich und ungenau sie das Wesen der germanischen Einung mit den Worten der lat. Sprache zu beschreiben vermochten, denn nur aus diesem Grunde können sie im Jahre 779 zu dem Hilfsmittel gegriffen haben, das Gemeinte mit einem latinisierten Worte der Volkssprache zu erklären: „Über die Eide, die sie (sich) einer dem anderen bei (ihren) Gilden, per gildonia, schwören.“ Das mittellat. Hauptwort gildonia enthält ein gemeingermanischen Wort (ags. gegilde, altnordisch gildi), das im Deutschen zuerst in der mnd. Form gilde bezeugt ist. Da kontinentalwestgermanisch gilda in der Bedeutung von Gemeinschaft, festgeschlossene Personengruppe, stets feminini generis ist, während neutrale Formen Ausnahmen blieben und nur in der Bedeutung Gelage neben dem femininum häufiger vorkommen, auch die latinisierten Formen sonst stets feminina sind, haben wir in dem Kapitulare von 779 per gildoniam oder per gildonias zu lesen. Das darin enthaltene germanische Wort gehört zu dem ahd. Zeitwort geltan in dessen doppelter Bedeutung von solvere = bezahlen, vergelten, und sacrificare = opfern, Gottesdienst leisten, wie denn auch ahd. gelt sowohl Bezahlung als auch Opfer bedeutete (Ahd. Wb. 4 Sp. 204 – 208). So finden wir neben den oben genannten ahd. Äquivalenten zu lat. foedus auch heidangelt = Götzendienst. Gilden waren demnach Vereine oder Gemeinschaften, die sich der Veranstaltung von Opferfesten und -gelagen widmeten; daher rührte wohl das Übel der Trunkenheit, welches das zweite Kapitulare von 789 in einem Atem mit den beim heiligen Stephan beschworenen Bünden nennt; der Heilige wird hier als Eideshüter an die Stelle der uns unbekannten heidnischen Gottheit getreten sein, der man beim Julfeste das Bier für ein fruchtbares Jahr opferte und trank (H. Ehrhardt in LMA 5 Sp. 799). Unter einer Gilde hätten wir insofern also eine Opfergemeinschaft zu verstehen, von der wir nicht wissen, worauf sie im einzelnen beruhte, ob auf Blutsbruderschaft oder auf gemeinsamem Schwur oder auf beidem zusammen oder auf etwas Drittem. Ihre heidnische Abkunft erklärt es, daß die Klosterschulen weder das ahd. noch das mhd. Wort als Entsprechung zu lat. amicitia, consortium, fraternitas oder societas zuließen. Welche Mühen es die Kirchen kostete, das heidnische oder profane Tun der Gilden zu christianisieren, davon zeugt ein Gebot, das Erzbischof Hinkmar von Reims am 1. November 852 an alle Priester seines Bistums richtete (MGH. Cap. epp. 2 S. 43 f. cap. XVI). Danach sollte wegen der Versammlungen, die sie in der Volkssprache Gilden oder Bruderschaften nennen, de collectis quas geldonias vel confratrias vulgo vocant, lediglich soviel getan werden, wie mit (priesterlicher)
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Autorität, Nützlichkeit und Vernunft vereinbar war, und weder Priester noch andere Christen sollten es wagen, über dieses Maß hinauszugehen. Der Erzbischof erlaubte daher solche Vereinigungen, soweit sie Zwecken wie (gemeinsamem) Opfer von Kerzen zum Altar, gegenseitiger Fürbitte, Bestattung der Toten, Almosen und anderen frommen Werken dienten. Er untersagte dagegen alle Speise- oder Trinkgelage, weil sie häufig in schimpfliche Belustigungen, Rauferei, Totschlag, Haß und Zwietracht ausarteten, und bedrohte Kleriker, die dergleichen veranstalteten, mit dem Verluste ihres Weihegrades, Laien und Frauen dagegen mit dem Kirchenbann. Soweit eine Versammlung derartiger Gebrüder einmal notwendig wäre, conventus autem talium confratrum, si necesse fuerit, ut semel conveniant, weil ein Streit zwischen Mitbrüdern anders nicht zu schlichten sei, so sollte sie in christlichen Formen verlaufen; hernach mochte, wer wollte, vom Priester ein frommes Geschenk empfangen, gemeinsam mochten sie das Brot brechen und sich jeder einen Trunk reichen lassen, aber mehr durfte (kein Priester) ins Werk setzen, sondern jeder sollte sodann mit Gottes Segen nach Hause gehen. Wie conventus und convenire in diesem Texte nur in der einfachen Bedeutung des Wortes als Zusammenkunft oder sich versammeln begegnet, ohne daß der uns bekannte Vorstellungsgehalt der Worte voll ausgeschöpft würde, so könnte der Verfasser auch das Partizip collecta im Sinne von Versammlung deswegen gewählt haben, um das Vokabularium des heidnisch-profanen Einungswesens nach Möglichkeit zu meiden. Denn zu dem lat. Verbum colligere = zusammenbringen, sammeln, vereinigen, finden sich zwar als Äquivalente u. a. ahd. biheften, samanôn und gifuogen, die in reflexivem Gebrauche dazu geeignet waren, die Selbstverpflichtung des Eidgenossen zu bezeichnen; da man es aber auch mit thuuingan = zwingen, gifâhan = ergreifen, gefangen nehmen, halôn = herbeiholen, einladen, und lesan = sammeln, auswählen, wiedergeben konnte, beschreibt es die Sammlung der Gildegenossen eher aus der Sicht eines Anführers oder Urhebers als aus der der sich freiwillig vereinigenden Genossen. Urheber war für den Erzbischof der Priester, der offenbar die Gildebrüder einberief und die Versammlungen leitete. Wie lat. collecta, so mag das dem klassischen Latein noch unbekannte Wort confratria als ein frommer Begriff aus der religiösen Welt der einst heidnischen, jetzt aber christlichen Opfergemeinschaft zu erklären sein, der ebensowenig wie das Wort Gilde in die Welt des profanen Einungswesens verpflanzt werden kann. Das Kapitulare von 779 hatte solche Opfergilden geduldet, wenn sie nur nicht beschworen wurden; zweifellos jedoch hätte Hinkmar das Gildenwesen, als der Autorität des Priesters und der kirchlichen Bußpraxis abträglich, gerne völlig aus dem religiösen Leben seiner Diözese verbannt. § 189. Noch einmal begegnet uns in der karolingischen Zeit das Wort Gilde, und zwar in einem westfränkischen Kapitulare von 884, das den Dorfleuten in den Grafschaften untersagte, „Vereine zu machen, die sie in der Volkssprache Gilden nennen, gegen Leute, die etwas geraubt haben“ (MGH. Capit. 2, 371 n. 287 c. 14: ne collectam faciant, quam vulgo geldam vocant, contra illos, qui aliquid rapuerint); statt dessen sollten sie ihre Sache dem vom Bischof entsandten Priester und
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dem örtlich zuständigen Amtmanne des Grafen übergeben, damit alles in Vorsicht und Vernunft gebessert werde. Dem angegebenen Zwecke nach haben wir es hier mit freien, profanen Einungen zu tun, die ihren Mitgliedern Beistand und Schutz in den Gefahren gewährten, die einem Manne insbesondere dann drohten, wenn er in einem Falle handhafter Tat (oben: § 105) den Weg der an sich dem Opfer eines Verbrechens erlaubten Selbsthilfe beschritt. Denn wenn der Beraubte seinen Schaden früh genug wahrnahm, um den Räuber noch zu ergreifen und darüber das Gerüfte zu erheben, dann konnte es geschehen, daß er den Dieb, der sich der Fesselung widersetzte, erschlug, bevor die herbeigerufenen Nachbarn eintrafen, und sich nun selbst einem Mordverdacht ausgesetzt sah. Daher war zu seiner Rechtfertigung ein Kundmachungsakt erforderlich: In Gegenwart der herbeigerufenen Nachbarn mußte er den Leichnam an einem Kreuzwege auf einem Gerüste vierzehn oder – wenn der Getötete landfremd war – vierzig Nächte ausstellen und ferner vor Gericht einen besonderen Verklarungseid darauf leisten, daß er einen vertanenen Mann (de vita forfactum) erschlagen habe (K. Rauch 1951 S. 44 – 46). Aus diesem alten Eineide war im 9. Jahrhundert längst ein Helfereid (oben: § 179) geworden, zu dem der Beraubte die herbeigeeilten Nachbarn als wissende Eidhelfer beizog, und es mochte vielen Dorfleuten – denn fast immer handelte es sich um Vieh, das die Räuber und Diebe zu entführen trachteten – zweckmäßig erscheinen, sich durch Gründung von Einungen oder Gilden im voraus für den Fall zu sichern, daß sie einmal in die Lage des Mordverdächtigen gerieten und der vorgeschriebenen Zahl an Eidhelfern bedürftig werden könnten. Es waren also Versicherungsgilden gleich denen für den Fall von Feuer und Schiffbruch, die das Kapitulare von 779 erwähnt und die es bestehen lassen wollte, sofern sie nicht beschworen wurden. Jetzt, im Jahre 884, wollte der westfränkische König sie jedoch vollständig beseitigen und die Beschädigten ganz auf die ordentlichen Gerichte verweisen. Denn Kundmachungsakt und Verklarungseid waren, gleich den altfränkischen Spurfolge- und Anefangverfahren (H. Brunner / C. von Schwerin 1928 S. 645 – 671), Teile eines rechtlichen Formalismus, den jedes Verfahren der Selbsthilfe einhalten mußte, wenn es hinreichen sollte, in Ermangelung einer Staatsgewalt den Frieden zwischen streitenden Parteien zu sichern und zu weitgehende Selbsthilfemaßnahmen abzuschneiden (A. Roth in LMA 7 Sp. 2148. K. O. Scherner in LMA 1 Sp. 615). Weil den kollabierenden Königsschutz ersetzend, können mit den Rechtsschutzgilden die Friedensgilden verglichen werden, die in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts vielerorts entstanden, um in ihrer Region die Abwehr der Normannen und diesem Zwecke dienende bewaffnete Friedensordnungen ins Werk zu setzen (O. G. Oexle in LMA 4 Sp. 1452 f.). Dem Bemühen der karolingischen Könige, die private, mit Hilfe des Gerüftes nur notdürftig veröffentlichte Selbsthilfe überflüssig zu machen und durch von vornherein öffentliche Maßnahmen polizeilichen Charakters, die der königlich-gräfliche Niederrichter durchführen sollte, zu ersetzen (F. Staab 1975 S. 371 – 379), war Erfolg jedoch nur hinsichtlich der Spurfolge (Verfolgung des Räubers auf den Spuren des gestohlenen Tieres) beschieden, das
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dem deutschen Mittelalter nicht mehr bekanntgeworden ist. Handhaftverfahren und Anefang dagegen charakterisierten noch jahrhundertelang neben der Diebstahlsklage die strafrechtliche Sachverfolgung. § 190. Problematisch ist die Bedeutung des Satzgliedes per gildonia in dem Kapitulare von 779. Die lat. Präposition per übersetzte ahd. bî, das in kausaler oder modaler Bedeutung insbesondere bei den Verben des Schwörens verwendet wurde, um den Eideshüter zu bezeichnen. So oft auch lat. per durch die Präpositionen pro und propter ersetzt werden konnte (K. Rauch 1951 S. 31 – 37), denen als Äquivalent unter anderen Worten ebenfalls ahd. bî gegenüberstand, und so oft ahd. umbi, thuruh oder fora für bî eintreten mochten: nie erscheinen bei einem Verbum des Schwörens andere Präpositionen als lat. per und ahd. bî. So übersetzte man lat. quicumque iuraverit per templum mit ahd. sô huuer sô bî temple suerit = bei dem Heiligtum schwört (W. Braune, Lesebuch 1928 S. 25 Z. 1), oder lat. per salutem tuam! mit ahd. sô mir thîn heil helfe! oder sô helfe mir thîn huldi! Als König Karl im Jahre 789 alle Eidgenossenschaften verbot, die man bei dem Heiligen Stephan oder bei dem Könige und seinen Söhnen zu beschwören pflegte, wird daher der Heilige als Eideshüter an die Stelle der Gilden getreten sein, die in heidnischer Zeit das Opfer zum Julfeste ausgerichtet hatten; wie unter Christen der Heilige, so mag unter Heiden die Opfergilde, deren einer gewiß jeder Hausherr angehört hatte, die Wahrheit des Eides, den ein Mann schwor, gegenüber dessen Eidgenossen verbürgt haben. In diesem Sinne ist denn wohl auch das Kapitulare von 779 auszulegen: Wer bei (seiner) Gilde, per gildoniam, oder alle, die bei (ihren) Gilden, per gildonias, einen Eid ablegten, der oder die beschworen nicht die Gilde selbst; vielmehr muß diese bereits bestanden haben, bevor man bei ihr etwas beschwören konnte. Die herrschende Lehre, nach welcher der Begriff der Gilde mit dem der Schwureinung schlechthin gleichzusetzen ist und daneben kein Raum mehr für Einungen anderer Art (oben: § 183), geschweige denn für uneidliche Vereine bleibt (O. G. Oexle in LMA 4 Sp. 1452), ist demnach abzulehnen. Opfer- und Sicherheitsgilden stellten vielmehr spezielle Formen der Einung dar, neben denen andere, in anderen Formen und zu anderen Zwecken errichtete Einungen bestanden haben müssen. Wie man allgemein mit der Präposition lat. per oder ahd. bî die übernatürlichen Gewalten benannte, von deren Zorn man die Bestrafung des Meineidigen erwartete, so besagte das Schwören per gildonia(s), daß jeder Eidgenosse die Opfergemeinschaft, der er angehörte, als Bürgen für seine Treue und als Rächer für seine eventuelle Meineidigkeit anrief. Die Gilden traten hier also ebenso als Vormünder der als heidnische Gottheiten gedachten Naturgewalten auf, wie christliche Bischöfe und Priester im Namen Gottes und seiner Heiligen sprachen und tätig werden konnten, wenn diese etwa einen Meineidigen allzu lange ungeschoren ließen. Mit dem Verbot des Schwörens per gildonia bekämpften König Karl und seine bischöflichen Berater also auch eine Form außergerichtlicher Rechtspflege, die sowohl derjenigen der Grafengerichte als auch der der Sendgerichte eine unerwünschte
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Konkurrenz machten, wenn der König das Gerichts- und Gewaltmonopol der staatlichen Gesamtheit durchsetzen wollte. § 191. Mit dem Ende des 9. Jahrhunderts verschwindet das Wort Gilde, gleich vielen anderen altfränkisch-ahd. Rechtsworten, für mehr als drei Jahrhunderte aus dem Sprachgebrauche der schriftlichen Quellen. Zuerst im Jahre 1211 tritt es wieder auf, und da bezeichnete es die gemeine städtische Gilde, gilda communis, zu Riga. Seither begegnet es uns fast ausschließlich in nd. Urkunden als Name für städtische Berufsvereinigungen, geistliche Bruderschaften und Vereinigungen zu geselligen Zwecken und für deren Versammlungen. Dabei erinnert das ständige Begriffspaar der Worte gilde eder broderscop, broderscop unde gilde an die Abkunft der genannten Verbände von den frühmittelalterlichen Opfer- und Sicherheitsgilden: „Im Verein mit seinen englischen und nordischen Entsprechungen“ hatte sich das altdeutsche Substantiv seither „in den Randgebieten der Nord- und Ostsee ausgebreitet; in der kontinentalen Gruppe des Westgermanischen (dazu altfriesisch ielde, iold . . . ) gehört es bis ins 17. Jahrhundert fast ausschließlich dem hansisch-nd.-niederländischen Raum (Kerngebiete: Westfalen und nördliches und westliches Harzvorland) bis zu einer Südgrenze Brüssel – Löwen – Hamm – Kassel – Göttingen – Halberstadt – Zerbst – Frankfurt a. O. an. Erst später geht es in das gesamtdeutsche Sprachgebiet über“ (J. und W. Grimm, Wb. Bd. 4, 1949, Sp. 7485 f.).
§§ 192 – 196. Rechtsgeschichtliche Inhalte des althochdeutschen Sprachgebrauchs § 192. Nunmehr könnte ich mich an dem Kunststück versuchen, die genannten Kapitularien ins Ahd. zu übersetzen, doch ziehe ich es vor, sogleich die rechtsgeschichtlichen Ergebnisse zusammenzufassen, die sich aus der onomasiologischen Untersuchung der ahd. Weise, über Einungen zu sprechen, ergeben. (1) Der Personenverband der Einung entstand dadurch, daß sich jeder Teilnehmer einzeln und für seine Person an ihn band, was mit den Verben sih selbo biheften oder sih bintan ausgedrückt werden konnte. Die Bindung entstand aus einem Versprechen oder Gelöbnis, das den anderen Teilnehmern Sicherheit für das zukünftige Verhalten jedes Einzelnen gewährte; davon reden die Verben (sih) giheizan, (sih) biheizôn oder (sih) gibiheizôn. Das Versprechen pflegte man entweder durch Handschlag oder durch Eid zu bekräftigen, wofür die Worte (sih) gihantreihhen bzw. (sih) gieiden oder sih bisuuerien gebraucht wurden. Dieses Versprechen legte zwar jeder Teilnehmer in eigener Person, aber doch nur gemeinsam und gleichzeitig mit allen anderen, zu diesem Zwecke versammelten Genossen ab: Man gelobte zi ein andernên oder samant (invicem) und schuf auf diese Weise aus der Vielheit der teilnehmenden Personen die Willens- und Handlungseinheit einer Verbandsperson. Dieser Vorgang hieß (sih) gieinôn, (sih) gieinîgen, sih gieinluzlîhhôn.
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(2) Um Einungen ins Leben zu rufen, bedurfte es eines Urhebers oder mahhâri und anderer, die ihm als Helfer, ther hilfit oder helfâri (adiutor), Beistand leisteten; ob es ein bestimmtes, auf Genossenschaften aller Art anwendbares ahd. Rechtswort für den Teilnehmer (Genossen, Gesellen, Schwurmann) gab, ist uns zweifelhaft geblieben. Auch freien Einungen fehlte es in der Regel nicht an einem Haupte, doch konnten dessen Befugnisse und Pflichten und damit die Verbandsverfassung sehr verschieden reguliert werden, wovon hernach noch die Rede sein wird. Entstand eine Genossenschaft in gemeinsamer Ableistung eines Herreneides oder Treugelöbnisses, so mußte das Versprechen einen Treuvorbehalt zugunsten des Königs enthalten; andernfalls verstieß der Verband gegen das Volksrecht und konnte vom Könige verboten werden. Wegen politischer Gefahren, die aus Verschwörungen entsprangen, aber auch aus religiösen Gründen bekämpften Karl der Große und die Bischöfe des Fränkischen Reiches nicht das Einungswesen an sich, sondern die unter Bewahrung heidnischen Brauchtums mit Eiden beschworene Verbandsbildung. (3) Was das Wesen der Verbandsperson anlangt, so mag der als abstrakte Gesamtheit gedachte, auch zeitweilig abwesende, bereits verstorbene oder zukünftige, noch ungeborene Mitglieder umfassende Verband samahaftî, gizumft oder gifuogsamî, je nach der Art der Begründung aber entweder (gi)hantreihhida oder biheiz, biheizunga, eid oder eidsuuart geheißen haben. Sah man auf die Einheit der Verbandsperson, die mit dem gemeinsamen Gelöbnis ins Leben getreten war, und auf die Einheit des Verbandswillens, der alle Sonderwillen der Genossen in sich aufgesogen hatte, so konnte man die Substantive einunga, einîgheit, einnissa, einnussida, einhaftî, auch birâtida und allelîhhi, allîhheit (oben: § 183) benutzen, um ihm einen Namen zu geben. § 193. (4) Beschluß- und handlungsfähig war eine Einung dagegen nur durch die Versammlung der zu einer bestimmten Zeit erreichbaren und anwesenden Genossen, die man als githingi, gisamani, samanunga oder zumft bezeichnet haben mag und deren einmütigen Willen man mit dem der abstrakten Gesamtheit identifizierte. Die Tätigkeit der Versammlung hieß ebenfalls thing oder githingi, aber auch birâtida; die ahd. Äquivalente zu lat. consilium und deliberatio (H. Götz, Wb. 1999 S. 139, 181) zeigen, daß ahd. rât, girâti oder thing sowohl die Versammlung selbst als auch deren Vorhaben, dessen Beratung und das Beratungsergebnis, den Ratschluß, bezeichneten. Der Beschluß war, wie es bei Notker heißt, das, zi themo man sih einôt oder zi themo man ràtit, oder auch einfach die einunga; dasselbe Wort bezeichnete den Verband, seine Entstehung und seinen bestimmten Willen. (5) Die Beschlüsse der Einung und namentlich die Satzung, welche den Verbandszweck und die zu dessen Erreichung notwendigen Rechte und Pflichten sowohl jedes einzelnen Genossen als auch ihrer Gesamtheit regulierte, kamen durch Übereinstimmung aller Willen und Einmütigkeit aller Anwesenden zustande. Zu dem Verbum einôn gehörte das Partizip gieinôt = entschlossen, bereit, lat. praeparatus, und uuir birun gieinôt bei Notker heißt: wir stimmen überein (W. Braune,
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Lesebuch 1928 S. 106 Z. 26). Ferner konnte man in ein hellan oder einstimmi uuesan (oben: § 184) sagen, wenn die Versammlung nach Übereinstragen der Einzelwillen (oben: § 26) nur noch wie mit einer Stimme redete und unter den Genossen gimeinmuotigî = Einmütigkeit oder einîgheit hergestellt war. Da nur bei Einhelligkeit, Einmütigkeit, Einstimmigkeit ein Gemeinwille oder Beschluß zustandekam, bedurfte es keiner Zählung der Anwesenden und der Stimmen, sondern nur des im Laufe jeder Beratung zu erwartenden Verstummens von Gegenstimmen und Einsprüchen, damit die Versammelten die Beratung schließen und ihren Beschluß feststellen konnten. (6) Dessen Inhalt konnte nicht willkürlich gefunden werden; vielmehr mußte er gilimphan oder gizemmen = angemessen oder schicklich sein, d. h. er durfte Sitte und Recht nicht verletzen, da sich die Genossen sonst des Rechtsbruchs oder der Verschwörung schuldig machten und deswegen vom Könige vor dem Grafengericht angeklagt und verurteilt werden konnten, wie die Kapitularien von 805 und 822 / 823 bestimmten. § 194. Demnach nehmen wir mit Befriedigung wahr, daß, wenn von Genossenschaften und Einungen die Rede war, der ahd. Sprachgebrauch samt den in ihm zum Ausdruck gelangenden Rechtsgedanken vollkommen mit den ein halbes Jahrtausend jüngeren Redeweisen übereinstimmt, die wir in den Bürgerrezessen der niederdeutschen Hansestädte und in den Rezessen der deutschen Hanse, jener mehrstufigen, stufenweise partikulierten und sowohl aus physischen als auch aus Verbandspersonen zusammengefügten Großeinung des Kaufmanns und der Hansestädte, beobachten können und denen wir die (oben: §§ 15 – 27) einleitend resumierten Regeln des Systems identischer Willensbildung entnommen haben. Es dürfte demnach eine plausible, wenn auch weiterer Erhärtung bedürftige These sein, daß die Verfassung der deutschen Hanse auf Rechtsansichten beruhte, die älter waren als das Ostfränkisch-Deutsche Königreich und über dessen Anfänge hinaus bis ins frühe Mittelalter zurückreichen. Wenn es richtig ist, daß namentlich zur Beförderung gemeinsamer Erwerbsarbeit bestimmte und auf ewige Dauer über viele Generationen hinweg angelegte Einungen (oben: § 183) keiner Beeidigung bedurften, so mag es sich um so leichter erklären, daß die deutsche Kaufmannschaft, die wir uns als herrschaftliche, unter Königsschutz lebende Einung entstanden zu denken haben, nach dem spätestens 1272 eingetretenen Wegfall des Königsschutzes (E. Pitz 2001 S. 255) als unbeschworene freie Einung fortbestand und daß wir niemals etwas von einem gemeinhansischen Genosseneide (noch von zugehörigen Treuvorbehalten in hansestädtischen Bürgereiden) erfahren (ebd. S. 248, 288, 293). § 195. Die von der deutschen Hanse bewiesene Fähigkeit, in ihrem Machtbereich die kollabierende königliche Gewalt zu ersetzen und zu einer Zeit aus den Volks- und Landrechten ein allgemeines Stadt- und Handelsrecht zu entwickeln, als dazu weder das Reich noch die territorialen Dinggenossenschaften oder deren vom Könige ermächtigte fürstliche Häupter in der Lage waren, – diese Fähigkeit war den Einungen von Anfang an eigen, und sie war es, die einst König Karl dazu
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bewogen hatte, Verschwörungen im besonderen und Schwureinungen im allgemeinen zu verbieten, da die Genossenschaften eine von der Volksgemeinde, von König und Reich unabhängige Verbandsgewalt ins Leben riefen und zu deren Ausübung aus eigener Macht gebietende und Gehorsam erzwingende Häupter über sich setzten, während das Königtum seinerseits eben erst mühsam in einer immer noch vorstaatlich denkenden, nahezu verfassungslos lebenden kriegerischen Gesellschaft Fuß zu fassen versuchte. Denn wie wiederum die Rechtsgeschichte der deutschen Hanse beweist, war an solcher rechtsbildenden Kraft der Genosseneid dem bloßen Gelübde oder Handversprechen keineswegs weit überlegen. Dieser Eid nämlich war ebenso wie der kaum weniger kräftige, jedoch die Gemüter weniger belastende Handschlag nicht bloß äußere Form und ergänzende Bestärkung eines von den Genossen abgeschlossenen Vertrages, sondern er war selbst der Vertrag und zugleich die Satzung, die nicht schon mit den vorgängigen Verabredungen zustandekamen, sondern erst durch Gestus und Wort des paritätischen Versprechens, durch das sich die Genossen samt und sonders verpflichteten und einten. Versprechen und Eid waren also konstitutiv, erst sie ließen die Einung entstehen, erst sie schufen brüderliche Gleichheit unter den Genossen hinsichtlich der Verbandszwecke und Unterwerfung eines jeden unter diese Zwecke und unter die formlose, zumindest aber nicht gerichtsförmige Spruch- und Zwangsgewalt der Verbandsperson, für die die Genossen gemeinlich sprachen. Damit schufen Eid und Gelübde nach innen hin einen personal begrenzten, nämlich allein die Schwurgenossen erfassenden Rechts- und Friedensbereich, nach außen hin aber einen wehrhaften Verband, der jedem Mitgliede sowohl innerhalb des karolingischen und später des Ostfränkisch-Deutschen Reiches als auch außerhalb der Reichsgrenzen in der von Kaufleuten aufgesuchten Fremde Schutz und Hilfe sei es mit den Waffen, sei es mit gemeinsamem Zeugnis vor einheimischen und auswärtigen Volks-, Land- und Königsgerichten gewährte. Neues Recht freilich vermochten die Einungen, deren Satzungen nur die Schwurgenossen, nicht aber die Allgemeinheit des Volkes banden, nur dann zu schaffen, wenn Könige und Fürsten ihre Willküren (W. Ebel 1958. F. Ebel in LMA 9 Sp. 217 f.) sei es stillschweigend, sei es ausdrücklich mittels (Kommune-)Privilegs als allgemein und auch für Ungenossen verbindlich anerkannten – beides war insofern unproblematisch, als auf dem Gebiete des Privatrechts ihre Satzungen mit den Rechten materiell weitgehend übereinstimmten und nur über das Verfassungsrecht die Rechtsmeinungen weit auseinanderzugehen pflegten (E. Pitz 2001 S. 141, 255 – 257). § 196. Eine Privilegierung vorausgesetzt, konnte der gemeinsame Eid der Genossen eine Vorstufe neuen Rechts entstehen lassen, weil sich jeder einzelne mit seinem Schwur aus freiem Willen den Normen und Regeln der Gruppe unterwarf und diesen dadurch zu überpersonaler Gültigkeit verhalf. Allein auf der freiwillig übernommenen Eidespflicht fußte auch die Zuchtgewalt der Gruppe über ihre Mitglieder, denn ein Verstoß gegen die Regeln war zugleich stets Eidbruch. Der Eid
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schuf nicht nur Gleichheit unter den Genossen, sondern richtete sie mittels des Satzungsrechts auch in ihren individuellen Zwecken aufeinander aus. Außenstehende konnten daher später die Mitgliedschaft des Verbandes nur dadurch erlangen, daß sie als Beitrittseid denselben Eid leisteten, der bereits die älteren Genossen miteinander verband (W. Ebel 1958a. L. Kolmer 1989 S. 203 f.). Das Satzungsrecht einer geschworenen Genossenschaft konnte im Laufe langer Zeit so kräftig anschwellen, daß die Eidesformel in der Textmasse des beschworenen Stoffes schließlich quantitativ völlig unterging. Dennoch wurde es meistens erwähnt und niemals vergessen, daß sie es war, die das Versprechen zu gehorchen enthielt und damit die Geltung des Satzungsrechts garantierte (L. Kolmer 1989 S. 172, 264 – 275). Willkür hieß dieses Satzungsrecht, weil es wie der Verband selber seinen letzten Grund im freien Willen der Verbundenen hatte; gelten tat es zwar nur für die Schwurbrüder, dies aber um so strenger, als die Genossen mit dem Eide ihre Rechtspersönlichkeit und ihr Seelenheil auf die Treue zum selbsterkorenen Verbandsrechte verwettet hatten. Damit war eine Grundform gefunden, deren sich jeder Verband bedienen konnte, gleich welchen Zweck er verfolgte und gleich ob er reiner Personalverband blieb oder darüber hinaus, als Land- oder Stadtgemeinde, einen Gebietsbezug erlangte. Es war diese im Schoße der Einungen entspringende, vorstaatliche Rechtsquelle, die Karl der Große und nach ihm alle mittelalterlichen Könige fürchteten, weil sie sie nicht kontrollieren konnten. Denn jeder Genossen- und Gildeeid beschränkte an und für sich die Treue, die jedermann seinem Könige zu beschwören oder zu versprechen hatte (A. Holenstein 1991 S. 19 – 21, 121). Noch im 13. Jahrhundert bestimmte daher der Sachsenspiegel (Landrecht II 1): „Wenn sich Herren mit Eiden gemeinsam sichern (= verbünden), so haben sie wider das Reich gehandelt, wenn sie dabei das Reich nicht ausnehmen“, d. h. wenn sie die gewillkürte und beschworene Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Bundeswillen nicht durch einen Treuvorbehalt zugunsten des Reiches abschwächten; der Vorbehalt bewirkte, daß sie dem Verbande Gehorsam in jedem Konflikte mit Dritten schuldeten – ausgenommen jedoch wider König und Reich. Denn Willkürrecht und Land- oder Reichsrecht konnten durchaus miteinander kollidieren, und oft genug war es das ausgesprochene Ziel der Genossen, im Wege der Einung ein Recht in Geltung zu setzen, das Könige und Fürsten ihnen wissentlich verweigerten. Insofern ist es allein die staatliche Rechtsauffassung, die sich darin zu erkennen gibt, daß der Sprachgebrauch das gemeinsame Schwören gewöhnlich als Verschwörung interpretierte und daß, sobald Satzungs- und Reichsrecht kollidierten, dem Reichsrecht der Vorrang zukommen sollte. Derartige Geltungsvorbehalte zugunsten der übergeordneten Volks- und Gerichtsgemeinde und ihres Worthalters, des Königs, waren notwendig, um jene Kollisionen der Rechtsschöpfung verfassungsmäßig zu bewältigen. Andererseits konnte gewillkürtes Recht, wenn es für volks- und reichsrechtlich noch nicht normierte Handlungsfelder zunächst innerhalb des Rechtskreises der Einung neues Recht in der Praxis erprobte, das allgemein geltende Recht auch zum Nutzen der Allgemeinheit bessern und fortbilden.
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§§ 197 – 201. Personenbezogene herrschaftliche Genossenschaften § 197. Die Geschichte des Genossenschaftswesens im frühen Mittelalter liegt für uns, wegen nahezu undurchdringlichen Schweigens der Quellen, im Dunkeln. Als klassischer Fall der personenbezogenen herrschaftlichen Genossenschaft gelten die kriegerischen Gefolgschaften und wandernden Heere (unten: § 644), die seit dem 3. Jahrhundert in das Römische Reich einfielen und sich aus militärischen Gründen einer monarchischen Führung unterwarfen; den Heerkönig und die Krieger, die ihm folgten, wird ein Treueverhältnis aneinandergekettet haben, das die Gefolgsleute bei Erhebung des Königs samt und sonders und spätere Zuzüglinge in Beitrittseiden beschworen. Was die Form des gemeinsam abgelegten Treueversprechens anlangt, so schrieb noch im Jahre 1235 Kaiser Friedrich II. dem mit diesem Brauche offensichtlich nicht vertrauten Papste Gregor IX., die zum Reichstage in Mainz versammelten deutschen Fürsten und Großen hätten ihrem Könige und Kaiser die Heerfahrt gegen die Langobarden versprochen iuramento et fide prestitis . . . acclamantibus cunctis et in elevationem manuum offerentibus, que iuxta consuetudinem Germanorum est vinculum iuramenti (RI 52 Bd. 1 n. 2107. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 314 377, 382). Man schwor mit Hand und Mund (oben: § 177), jedoch nur die Fürsten sprachen die Eidesformel und berührten die Reliquien, ihre und des Königs Gefolgsleute traten durch unartikulierten Zuruf und Handzeichen der Verpflichtung bei. In der Wanderzeit waren mit dem militärischen Erfolg oder Mißerfolg der königlichen Kriegführung Existenz und Niedergang dieser wandernden Personenverbände eng verknüpft. Glückte ihnen die Vernichtung des Gegners und die Einnahme seines Landes, so begründeten die Heervölker Reiche und ihre Könige Dynastien, im Falle der Niederlage dagegen löste sich das Heer auf und das Königtum ging unter. Der im Kriege mit absoluter Befehlsgewalt ausgestattete König war im Frieden und bei allen politischen Entscheidungen vom Willen seiner Gefolgschaft abhängig und auf deren Zustimmung zu seinen Plänen angewiesen. Dieses Bild zeigen uns noch die Heere der Normannen im 9. Jahrhundert und bei der Eroberung Englands im Jahre 1066. § 198. Als personenbezogene herrschaftliche Verbände sind ferner die Genossenschaften geschützter Freier und Unfreier zu betrachten, die sich im Fränkischen Reiche unter der Herrschaft von Reichsbischöfen und Reichsäbten bildeten, denn selbst wenn der Beschützte oder Muntling von seinem Herrn auch ein Gut geliehen erhielt, was keineswegs immer der Fall war (oben: § 153), wenn also die Bindung des Mannes an den Herrn nicht nur persönlich, sondern auch dinglich begründet war, so hinderte doch die Streulage dieser Güter (oben: § 133b) sowohl die Schützlinge wie ihren Herrn daran, dem Personenverbande einen Gebietsbezug beizulegen und dem Herrn die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet zu verschaffen. Vollends fällt der Mangel an jedem Ortsbezug ins Auge, sobald Zensualen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machten und ihren Wohnsitz veränderten (oben: §§ 150, 151).
6. Kap.: Partikularverbände II: Genossenschaften
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Da das Schutzverhältnis durch Vertrag zwischen je einem Ergebungsmanne und dem Herrn begründet wurde und die Vertragstreue nicht beschworen zu werden brauchte, solange die Parteien sie gegebenenfalls vor dem Grafengericht einklagen konnten, war die genossenschaftsbildende Kraft der Schutzverhältnisse gering – sehr viel geringer als die der dinglichen Leiheverhältnisse, denen die grundherrlichen Hofverbände (unten: Elftes Kapitel) ihr Dasein verdankten. Immerhin beweist die mehrfach (oben: §§ 135b, 147, 159) erwähnte Existenz von Zinsgerichten altfreier Zerozensualen, daß das Schutz- und Muntverhältnis auch ohne Gebietsbezug imstande war, sich auf dem für Rechts- und Verfassungsgeschichte besonders wichtigen Gebiete des Gerichtswesens dahingehend geltend zu machen, daß die Munt- und Ergebungsleute aus den Dingverbänden der Grafengerichte ausscheiden und zu besonderen herrschaftlichen Gerichtsverbänden zusammentreten konnten, innerhalb deren nur Rechtsgenossen als Urteiler in Rechtsstreitigkeiten auftreten und dem Herrn das für ihre Genossenschaft gültige Recht weisen durften. Das gleiche gilt von der Vasallität: Selbst dann, wenn sie regelmäßig mit einer Benefizialleihe verbunden wurde, vermochte sie wegen der weitgestreuten Lage der Güter, die ein Lehnsherr zu vergeben hatte, keinen Gebietsbezug herzustellen. Gleichwohl setzte die Ausbildung von Genossenschaften und ständischem Sonderrecht sehr früh ein, da bereits Karl der Große seine Vasallen angewiesen hatte, sich bei der Erfüllung ihrer Lehnsdienste gegenseitig beizustehen. Vollends seit dem 11. Jahrhundert gewann das Lehnsverhältnis zunehmenden Einfluß auf Rechtsbildung und Verfassung, weil sich nun das feudale Genossenschaftswesen auch auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung geltend machte: Lehnsherren und Vasallen begannen, besondere Lehnsgerichte zu bilden (oben: § 134b), in denen die Mannen dem Herrn das Recht wiesen. Diese Gerichte erwiesen sich rasch als wirksame Instrumente zur Ausgrenzung der Lehnsgenossenschaften aus den volks- und landrechtlichen Dingverbänden und zur Ausscheidung von Standesrechten aus dem Landrecht. Ihre Schöpfung waren die jetzt aus der Altfreiheit hervorgehenden Standesgenossenschaften der Ritter, freien Herren, Landesherren und Reichsfürsten des jüngeren Reichsfürstenstandes. § 199. Zu höchster verfassungsgeschichtlicher Bedeutung gelangte das personenbezogene herrschaftliche Genossenschaftswesen infolge des Aufstiegs der neufreien ständisch-gewerblichen Schichten seit der zweiten Häfte des 10. Jahrhunderts. Besonders deutlich erweisen die Genossenschaften der Kaufleute, daß nicht ortsbezogene Personenverbände geradezu zur Förderung der Mobilität der Neufreien geschaffen wurden. Bereits die in dem Kapitulare von 779 (oben: § 174) erwähnten geschworenen Einungen, deren Genossen sich gegenseitig im Falle des Schiffbruchs beistehen wollten, lassen uns an Fernhändler denken, die gemeinsam ein Schiff bauten und ausrüsteten, es ein jeder mit seinen Waren befrachteten und als mitarbeitende Matrosen über See führten, die also auf der Suche nach lukrativen Märkten in der Fremde gemeinsam den Gefahren der großen Ströme und der offenen See begegnen wollten. Mit Nachrichten über die Kaufmannsgemeinde zu Tiel und die Kaufleute des Kaisers in London treten uns dann um das Jahr 1000 in
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Gestalt von Kaufmannsgilden die ersten berufsspezifischen laikalen Verbände entgegen, als Vorfahren einerseits der späteren Kaufmannshansen und Fahrtgemeinschaften von Fernhändlern, andererseits der Gewerbegilden oder Zünfte und Innungen an den Lokalmärkten und der auf religiöse und karitative Zwecke gestellten, meist städtischen Bruderschaften (W. Rösener in LMA 4 Sp. 1235. O. G. Oexle in LMA 4 Sp. 1452 f. E. Pitz 1991 S. 252 – 256. R. Schmidt-Wiegand 1999). Von den Kaufleuten zu Tiel erfahren wir, daß sie vom Könige die Befriedung der Wasserstraßen als Gegenleistung für ihre Zollpflicht erwarteten und daß sie kraft königlichen Privilegs die unter ihnen entstehenden Rechtsstreitigkeiten nicht nach Volks- oder Landrecht, sondern nach Willkür beilegten (Keutgen, Urk. S. 44 n. 75), was einschließt, daß sie deswegen nicht das gräfliche Gericht anriefen, sondern die Entscheidung unter sich nach Verbandssatzung trafen. Dieselbe Unterscheidung scheint um diese Zeit der St. Gallener Mönch und Schulmann Notker der Deutsche im Auge gehabt zu haben, als er, um Ciceros Begriffe ius gentium und ius civile zu erklären, dazu die ahd. Ausdrücke burgreht oder tietreht und quoneheite benutzte (G. Köbler 1971 S. 179 f., 192 f.). In ius oder Recht verwandelte sich die kaufmännische Willkür oder Gewohnheit erst dadurch, daß der König sie mittels Privilegs für rechtmäßig erklärte (ebd. S. 55) und das Recht des Kaufmanns in Königsrecht für den Kaufmann umwandelte. Bereits in der Karolingerzeit hatte die Kaufmannschaft in einem näheren Verhältnis zur königlichen Gewalt gestanden, da nur der König berechtigt war, Zölle zu erheben, und nur die Kaufleute verpflichtet, sie zu entrichten; wer immer sonst eigenes Gut zum eigenen Bedarf auf Land- und Wasserwegen verführte, war zollfrei – im Gegensatz zum Kaufmanne, der zum Verkauf und zur Befriedigung fremden Bedarfs bestimmte Güter auf eigene oder fremde Rechnung als Handelswaren auf die Märkte brachte, zwischen denen er reisend hin- und herpendelte (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 8 S. 287 – 303). Dieser Grundsatz war das ganze Mittelalter hindurch und solange gültig, wie die Zölle nicht als indirekte Steuern erkannt waren, sondern als Spesen des Kaufmanns galten, mit denen sich dieser den Schutz der Könige und ihrer Amtleute erkaufte (E. Pitz in LMA 9 Sp. 667 – 669). Denn die karolingischen Könige nahmen jeden Kaufmann, der darum nachsuchte, in ihren Schutz und stellten ihm einen Schutz- oder Paßbrief aus, der ihm den Königsschutz auch im Auslande sicherte. Seit der Mitte des 10. Jahrhunderts erwarben Bischöfe, Reichsäbte, Herzöge, Grafen, in deren Bezirk eine Kaufmannsgilde seßhaft war, beim Könige den für die Gesamtheit der Gilde gültigen Schutzbrief; wer als Kaufmann tätig werden wollte, mußte sich jetzt bei dem örtlichen Schutzherrn und dessen Gilde um die Zulassung zu dieser und um die Aufnahme in den Königsschutz bewerben. Die Gilden setzten Fahrtgemeinschaften oder Hansen derjenigen Gildebrüder ein, die gemeinsam auf Handelsfahrt in die Fremde gehen wollten. Diese Hansen waren Bruderschaften (fraternitates) oder Freundesbünde (amicitiae: U. Nonn in LMA 7 Sp. 1649 f.), die den Genossen einen Ersatz für die auf Blutsverwandtschaft beru-
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henden Schutzverbände ihrer Hausgemeinschaften und Sippen verschaffen sollten, auf deren Beistand sie in der Fremde oder gar im fernen Auslande im allgemeinen nicht mehr zählen konnten. Gleichwohl ist über Eide oder Gelübde der Gilde- oder Hansegenossen nichts bekannt. Wenn es sie gab, müssen es Herreneide (oder mit Treuvorbehalt zugunsten des Schutzherrn versehene Genosseneide), die Gilden und Hansen also herrschaftliche Einungen gewesen sein. Gewiß erkoren die Gilden auch den Wik- oder Hansegrafen, den der König oder als dessen Amtmann der jeweilige Stadtherr mit der Führung ihrer Hansen und der Ausübung des Königsschutzes nach innen, d. h. bei der Schlichtung von Streitigkeiten unter den Genossen, und nach außen, gegenüber den Herrschern der Zielländer, betraute (E. Pitz 1991 S. 255 f., 2001 S. 247 f.). § 200. Als herrschaftliche Gemeinden ohne Orts- oder Gebietsbezug können wir auch die jüdischen Gemeinden betrachten, deren Genossen sich wegen des Gegensatzes, in dem sie zu ihrer christlichen Umgebung standen, stets die Mobilität eines wandernden Volkes bewahren, bei fester Niederlassung aber auch den Anschluß an ihresgleichen suchen mußten. Denn seit dem Fall ihres Tempels zu Jerusalem waren die Juden ein Volk ohne Regierung, ohne Land und ohne Sprache geworden und sicherlich das an politischer Erfahrung ärmste Volk, das in Europa lebte, da sie sich nur in Gemeinden verfaßten, und wenn diese Gemeinden auch über das Abendland hinaus untereinander in verwandtschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen standen, so handelte es sich dabei doch um rein private Beziehungen zwischen jüdischen Häusern. Als Volk bar jeder politischen Ordnung, waren die Juden auf den Schutz der Kaiser und Könige angewiesen, in deren Reichen sie lebten und deren gemeines Volk sie zu fürchten gelernt hatten, da ihre Gemeinden klein waren und niemals mehr als einige Dutzend Haushalte zählten. Während die Juden unter sich und in Beziehung zu ihren Gemeinden nach jüdischem, von ihren Rabbinern gehütetem Rechte lebten, setzten die Völker und Könige zu ihrem Schutze christliches Judenrecht fest. Schon in karolingischer Zeit begaben sich Juden, die vorzugsweise als Kaufleute lebten, obwohl es auch Grundbesitzer unter ihnen gab, in den Schutz des Königs, ohne daß deutlich wäre, ob dies allgemein als nötig angesehen wurde (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 343 – 345). Doch konnten Juden wegen der besonderen Form des ihnen vom Judenrecht vorgeschriebenen Eides (oben: § 177) geschworene Einungen niemals gemeinsam mit Christen eingehen. Den sozialen Druck, der von der christlichen Mehrheit ausging und die Juden zu besonderer jüdischer Vergemeinschaftung anhielt, nahm das jüdische Recht der nach innen hin autonomen Gemeinden auf: Es verbot den Genossen, unter sich erregte Streitigkeiten vor christliche Gerichte zu bringen, und behandelte die Konversion eines Juden zum Christentum als Todesfall, nach dem die irdische Habe des Konvertiten dessen Erben zufiel. Da die christlichen Volks- und Landrechte diese Rechtsauffassung natürlich verwarfen, ließen die Judengemeinden zu Worms und Speyer sie sich im Jahre 1090 von Kaiser Heinrich IV. und 1157 von Friedrich I. bestätigen (DH. IV. 411 S. 546 Z. 39 bis 547 Z. 2, DH. IV. 412 S. 549 Z. 1 – 4, DF. I. 166 S. 285 Z. 30 – 33).
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Die innergemeindliche Gerichtsbarkeit war spätestens mit diesen Privilegien derart anerkannt, daß sie den Juden den Status einer den christlichen Dingverbänden gleichgestellten Urteilergenossenschaft und Rechtsgemeinschaft gewährte: Quodsi ipsi Iudei litem inter se vel causam aliquam habuerint determinandam, a suis paribus et non ab aliis iudicentur. Zugleich erhielt das von der Gemeinde über sich erhobene Haupt, qui preest synagoge (DH. IV. 411 S. 547 Z. 20), dessen jüdischen Titel die Reichskanzlei mit dem Worte Judenbischof wiedergab (DH. IV. 412 S. 549 Z. 28), eine der königlichen Bannleihe an christliche Gerichtsherren entsprechende Amtsvollmacht, für die die königlichen Notare freilich gar nicht erst nach einer lat. Bezeichnung suchten: Et si aliquando inter eos perfidus alicuius rei inter eos geste occultare voluerit veritatem, ab eo, qui est episcopus eorum, veritatem fateri cogatur (DF. I. 166 S. 286 Z. 13 – 16). Reichten die Machtmittel des Hauptes hierfür nicht aus, so konnten die Genossen, wenn sie wollten, die Sache dem Gericht des Stadtherrn oder des Kaisers übergeben (DH. IV. 411 S. 547 Z. 21 – 23, 412 S. 549 Z. 27 – 29): Si autem de magna causa inculpati fuerint, inducias ad imperatorem habeant, si voluerint (DF. I. 166 S. 286 Z. 16 – 17). Dasselbe Recht gewährte Erzbischof Friedrich von Bremen im Jahre 1114 einer fahrenden Genossenschaft holländischer Bauern, die sich in seinem Lande ansiedeln wollten (oben: §§ 151, 156): Er überließ ihrer Selbstverwaltung iudicia et placita secularis legis, ne ab extraneis preiudicium paterentur, . . . ut omnes rerum dissentiones inter se diffinirentur, jedoch so, daß sie maiorum placita sive iudicia rerum, si ipsi inter se diffinire nequirent, ad episcopi audientiam referrent, eumque secum ad causam diffiniendam ducentes . . . (Quellen hg. von G. Franz 1967 / 1974 S. 170 Z. 18 – 23). § 201. Mit dem 12. Jahrhundert endete allerdings die parallele Entwicklung jüdischer und christlicher Kaufmannsgemeinden. Je mehr die Feindschaft der von den Begleitumständen der Kirchenreform aufgewühlten und verunsicherten Christen die Existenz der Juden bedrohte, desto weniger konnten die jüdischen Gemeinden ihrer Verfassung einen Ortsbezug verleihen und ihrem gekorenen Schutzherrn mit der dem Grundgedanken der herrschaftlichen Einung gemäßen Parität gegenübertreten, um ihm den eigenen als Verbandswillen aufzunötigen, und desto höher stiegen die Schutzgelder, die sie dem Kaiser entrichten mußten, um im Notfalle wirklich auf seine Hilfe zählen zu können. Bald war der Kaiser nur noch wegen dieser Steuern an ihnen als seinen Kammerknechten interessiert. Daher bewahrten sich die Judengemeinden die Mobilität personenbezogener Verbände, ohne daß doch ihre Bereitschaft, sich jederzeit vertreiben zu lassen, sie wirksam vor der grausamsten Verfolgung geschützt hätte. Die christlichen Kaufmannshansen Niederdeutschlands dagegen schlossen sich zu derselben Zeit im Auslande zu dem Großverbande der mercatores imperii zusammen, der im 13. Jahrhundert mit Zulassung oder doch wenigstens ohne Widerspruch des deutschen Königs ein eigenes Siegel führte und zu der Zeit, da dem Königtum endgültig die Macht entglitt, um im Reiche und im Auslande als Schutzherr der Kaufleute tätig zu werden, soweit erstarkt war, daß er des Königsschutzes entbehren, aus der Verfassung der herrschaftlichen in die einer freien Einung hin-
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überwechseln und die königlichen Aufgaben dem Bunde der zu diesem Zwecke sich einenden Heimatstädte seiner Partikularverbände übertragen oder überlassen konnte (E. Pitz 2001 §§ 229, 232, 233, 257, 260, 290, 292, 299). Die Geschichte der deutschen Hanse lehrt freilich auch, daß das Einungsrecht und das aus ihm entfaltete System identischer Willensbildung nicht an sich darauf ausging oder dazu berufen war, derartige Großverbände staatlich zu verfassen und staatlich-schutzherrlichen Aufgaben aus sich heraus zu genügen, denn alle Versuche einer Zentralisierung der Willensbildung und der politischen Kräfte, welche der Rat der Reichs- und Hansestadt Lübeck als mächtigsten und beständigsten Hauptes der hansischen Großeinung unternahm, schlugen unter anderem auch deswegen fehl, weil dem Haupte das Recht fehlte, die Partikularverbände zur Annahme seiner Reformen zu zwingen (ebd. §§ 300, 303, 307, 311, 313, 317, 318) und das System identischer Willensbildung zum Repräsentativsystem fortzubilden (ebd. §§ 28.I, 360. 377). Offensichtlich waren freie Einungen konstitutionell dazu unfähig, das politische System der Repräsentation auszubilden, weil nach mittelalterlicher und deutscher Rechtsauffassung nur mit königlichen Prärogativen ausgestattete Häupter über die hierzu erforderlichen Vollmachten verfügten. Ein solches Haupt über sich zu erheben aber konnten sich die neufreien Kaufmannsverbände nicht mehr anmaßen, ohne das Standesrecht und die Reichsverfassung ihrer Zeit zu brechen. Im Rahmen des Reiches vermochte weder die Hanse der Kaufleute noch die Einung der Hansestädte je einen Gebietsbezug auszuprägen, verharrten ihre Städte stets im Zustande einer Diaspora innerhalb fürstlicher Flächenstaaten. Nur herrschaftliche Genossenschaften, die es über sich brachten, ihren Häuptern Königsrecht zuzugestehen, waren von Rechts wegen imstande, staatliche Aufgaben zu erfüllen.
§§ 202 – 216. Gebietsbezogene herrschaftliche Genossenschaften § 202. Trotz des Glanzes, in den die Machtentfaltung des gemeinen Kaufmanns von der deutschen Hanse das deutsche Spätmittelalter hüllt, war im allgemeinen mit dem Seßhaftwerden der germanischen Stämme und Völker in Mitteleuropa die große Zeit verfassungsbildender Kräfte lediglich personenbezogener herrschaftlicher Verbände zu Ende gegangen, obwohl es wandernde Personenverbände auf der Suche nach Rode- und Siedlungsland namentlich in der Zeit der deutschen Ostkolonisation immer noch gab; wir hörten bereits von der Gemeinde holländischer Auswanderer, die im Jahre 1114 mit dem Erzbischof von Bremen über ihre Niederlassung in dessen Lande verhandelte. Sobald aber die Menschen seßhaft geworden waren, begann das Territorialprinzip in der Verfassungsgeschichte seine Überlegenheit über die rein persönlichen Bindungen zu entfalten (K. G. Hugelmann 1955 S. 60). Es war der Vorteil der kürzeren Wege und des darum rascher und kräftiger wirksamen Schutzes, der jeden Hausherrn dazu bewog, dem Dingverbande des
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ihm am nächsten gelegenen Gerichtes beizutreten, anstatt das ferne Gericht zerstreut lebender Standesgenossen aufzusuchen, und den unmittelbar wirksamen Schutz des nahewohnenden Gerichtsherrn demjenigen eines Vogtes vorzuziehen, der ihm erst nach Tagen und mit nur mühsam zu versammelndem Gefolge der Standesgenossen zu Hilfe eilen konnte. Die Herren aber waren natürlich um der Arrondierung ihres Machtbereiches willen bestrebt, diese Tendenz zu fördern und ihr auch mit Gewalt zum Erfolge zu verhelfen (oben: § 147). Viele anfänglich bloß personenbezogene herrschaftliche Genossenschaften, denen es nicht gelang, im Laufe der Zeit einen Orts- oder Gebietsbezug auszubilden, sind daher schließlich in anderen Herrschaftsverbänden aufgegangen. Um alle Gelegenheiten zu beseitigen, die zwischen dem Bistum Utrecht und der Grafschaft Holland Zwietracht hervorrufen könnten, vereinbarten die beiden Landesherren im Jahre 1204, daß jeder von ihnen die Ministerialen und Unfreien, ausgenommen Ritter und ihre Kinder, die im Lande des einen wohnten, dem anderen aber dienstbar waren, dem anderen übergeben sollte und daß, wenn solche dienstpflichtigen Leute in Zukunft aus dem Lande (de terra) des Bischofs in die Grafschaft Holland oder umgekehrt aus der Grafschaft in das Land des Bischofs auswandern würden, sie Leute desjenigen Herrn sein und bleiben sollten, in dessen Hoheitsgebiet sie sich den Wohnsitz erwählen würden, in cuius dominio mansionem elegerint (OB Holland 1, 441 n. 267). Es muß sich bei diesen Dienstleuten um neufreie Muntleute oder Zensualen gehandelt haben, die ihrem Schutzherrn nur persönlich verpflichtet waren und daher Freizügigkeit genossen. Sie traten jetzt (endgültig) in die Landes- und Dinggemeinden ein, in deren Bezirk sie sich niederließen. § 203. Mit der Niederlassung auf dem Boden römischer Provinzen hatten sich die wandernden und insoweit rein personenbezogenen Gefolgschaften germanischer Heerkönige in gebietsbezogene Personenverbände verwandelt, denn die Beherrschung des eroberten und besetzten Territoriums samt der darauf ansässigen romanischen Bevölkerung war nun der Hauptzweck geworden, den die Könige und ihre Heere gemeinsam verfolgten. Diese Heere waren herrschaftliche Genossenschaften, die sich nicht nur in ihrem mehrfach gestuften und partikulierten Aufbau, sondern auch durch die ständige Mitwirkung an der königlichen Regierung auf allen staatlichen Ebenen von den Untertanen des römischen Imperiums unterschieden. Im Fränkischen Reiche hat sich dieser Grundzug der Reichsverfassung von der Zeit der großen Eroberungen des fränkischen Heeres im 5. und 6. Jahrhundert an bis auf das spätere Ostfränkisch-Deutsche Reich vererbt. Über dieses Fundament der Reichsverfassung hat man richtig gesagt: „An jedem Gericht nehmen die Volksgenossen teil, um deren Recht es sich handelt: Sie oder einzelne aus ihrer Mitte finden nach alter Weise das Urteil. Alle Gerichte waren daher auch Versammlungen des Reiches, des Herzogtums, der Grafschaft, des kleineren Bezirks, je auf welche dieselben sich bezogen, der durch besondere Rechtsverhältnisse Verbundenen, für welche ein eigenes Gericht gebildet war . . . Auf der
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Verbindung von König und Volk oder der Vertreter beider beruht die Handhabung des Rechts wie die Übung der Staatsgewalt überhaupt“ (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 8 S. 3 – 4). Dagegen unterhielt die kaiserliche Regierung in Konstantinopel weder in der Spätantike noch im Mittelalter kaum jemals unmittelbare politische Kontakte zu dem Volke, das sie ungeachtet der Vielfalt provinzialer Völker, die sie beherrschte, das römische nannte. Nur im Wege der Petition und des Reskriptsprozesses, der der Regierung lediglich eine streng justizförmige Reaktion auf ihre Anliegen gestattete, hatten die Kaiser Gelegenheit gehabt, von den Nöten und Bedürfnissen der Untertanen Kenntnis zu erhalten. Daraus erklärt sich die innenpolitische Schwäche des Römischen Reiches und die Unfähigkeit der Kaiser, den politischen und sozialen Zerfall zu verhindern (E. Pitz 2001a S. 29 – 33, 62 – 67, 96, 109, 132. Unten: §§ 784 – 786, 818). Die germanischen Königreiche dagegen ererbten aus ihrer Wanderzeit das Konsensprinzip und als sein Instrument die Reichsversammlung, auf der sich der König und die Großen in Einmütigkeit und Einvernehmen (consensus, einnussida, einrâtigi) zu setzen pflegten. Dabei fiel dem von jener erhobenen Könige keineswegs immer die Führung zu; die Großen aber erschienen dort weder als Herren ihrer und der königlichen Untertanen noch als deren sie entmündigende Repräsentanten, sondern als vollmächtige Worthalter des jeweiligen Partikularverbandes, der einen jeden von ihnen zu seinem Sprecher erhoben hatte und sein Haupt in derselben Weise nötigte, im Einvernehmen mit ihm zu handeln und seinen Konsens einzuwerben, wie es die Reichsversammlung der Großen vom Könige verlangte (ebd. S. 159 f., 192 – 194, 197 f., 200, 245, 253, 266, 273 f., 357 f., 369 f., 450. E. Pitz 2001 §§ 363 – 366). Namentlich das Recht des Volkes in Gesetzen festzulegen oder gar es zu verändern konnte ein germanischer König nur dann unternehmen, wenn er dazu den Konsens der Großen erlangte: „Es ist beschlossen und vereinbart unter den Franken und ihren Großen,“ so beginnt der bald nach 507 entstandene Vertrag über das salische Recht (Pactus legis Salicae), den der stolze und mächtige König Chlodwig aufzeichnen ließ, um als Gesetzgeber, wie er meinte, auch nach den Maßstäben des Römischen Reiches bestehen zu können – obwohl sich kein Imperator jemals dergleichen von seinem Volke hätte diktieren lassen. In der Befugnis, dem Könige das Verbands- und Reichsrecht zu weisen, kommt die rechtsgeschichtlich wichtigste Eigenschaft germanischer Genossenschaften zum Ausdruck, die sich auch die Großverbände der Königreiche bewahrten. Die Identität der Großen mit dem Gesamtverbande aller freien Untertanen und Verbandsgenossen aber wurde sichtbar in dem Treueide, den die Könige öffentlich von allem Volke einforderten (E. Pitz 2001a S. 266, 436, Ders., 2001 § 365). Von Anfang an trugen die Verfassungen der zum Zwecke der Gebietsherrschaft errichteten germanischen Königreiche und mit ihnen das Reich der Franken ein dualistisches Gepräge, ohne daß darüber die staatliche Einheit verlorengegangen wäre, da sowohl das Recht des Königs wie das der Reichsversammlung aus dem Willen des Volkes und des vom Volke beschworenen Untertanenverbandes hervorging.
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§ 204. Die auf den Untertanenverband gegründete Reichsgenossenschaft war daher vom Anfang der Geschichte germanischer Königreiche an sowohl herrschaftliche als auch gebietsbezogene Genossenschaft, und schon im 9. Jahrhundert machte sich im Frankenreiche bemerkbar, daß sie als solche den Vorrang vor jenen lediglich personenbezogenen herrschaftlichen Verbänden haben sollte, die die eben erst von den Karolingern begründete Vasallität ins Leben gerufen hatte. Denn anläßlich der Teilungen der Königsherrschaft unter den Söhnen Kaiser Karls und Ludwigs des Frommen wurde 806, 817 und 831 bestimmt, daß sich zwar jeder freie Mann, in welches Königs Teilreich er auch immer mit freiem Eigen oder Erbe angesessen sein mochte, jedem der Könige als Schützling oder Vasall ergeben, daß er aber Leihegüter oder Benefizien nur in dem Reiche annehmen dürfe, dessen König sein Herr sei (B. Kasten 1977 S. 177, 309, 402), womit zweifellos derjenige König gemeint war, in dessen Teilreich ein Mann mit seinem Haushalte ansässig war – denn Erb- und Eigengut durfte er in jedem Reichsteil besitzen – und zu den öffentlichen Lasten veranlagt wurde (unten: § 301) und dessen Herrscher er daher, gemeinsam mit allen anderen freien Männern, die hinsichtlich ihrer Rechtsverhältnisse seine Genossen waren, zum Könige erkoren und erhoben und durch sei es eidlich, sei es handlich gültig gemachtes Treueversprechen als seinen Herrn angenommen hatte. Sobald also zu der persönlichen Bindung des Ergebungsmannes an seinen Herrn, einer commendatio sine fidelitate (W. Kienast 1990 S. 79, 137), eine dingliche, mit Treugelöbnis verbundene hinzukam, hatten sich Könige und Mannen dem Territorialprinzip zu beugen. Denn den Teilreichen wies man jeweils geschlossene Gebiete zu, die durch linear gezogene Grenzen, terminos vel regni limites (MGH. Capit. 1 S. 128 Z. 25), von einander geschieden wurden, und wenn Kaiser Karl der Gesamtheit seiner Getreuen, omnibus fidelibus, seine drei Söhne als Erben seines Reiches benannte oder Kaiser Ludwig, ermahnt von derselben Gesamtheit, generalitas populi oder fideles nostri, dasselbe tat, so war damit das Recht dieser Gesamtheiten, sich ihre Könige zu erkiesen und zur Nachfolge nach dem Vater zuzulassen, nicht in Abrede gestellt. Dieses Recht des Untertanenverbandes war so selbstverständlich und unstrittig, daß es anläßlich dessen, was ein König über seine Erbschaft bestimmen konnte, keiner Erwähnung bedurfte. Nur wegen des durchaus strittigen, gesetzlich noch keineswegs anerkannten Eintrittsrechts der Enkel (oben: § 92) kamen die Kaiser daher darauf zu sprechen: Quod si talis filius cuilibet istorum trium fratrum natus fuerit, quem populus eligere velit ut patri suo in regni hereditate succedat, volumus ut hoc consentiant patrui ipsius pueri et regnare permittant filium fratris sui in portione regni quam pater eius, frater eorum, habuit (Divisio regnorum von 806: MGH. Capit. 1, 126 n. 45 c. 5; regni divisio von 831: ebd. 2, 20 n. 194 c. 1). Der Wille des wahlberechtigten Untertanenverbandes sollte also in diesem Falle dem der königlichen Erben vorgehen. Ein freier Mann aber, der einmal einen der Söhne zu seinem Könige erkoren und diesen durch sein Treugelöbnis zu seinem Herrn erhoben hatte, konnte einen solchen persönlich (wenn auch gleichzeitig mit
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allen anderen Getreuen) eingegangenen Herrschaftsvertrag ebensowenig einseitig aufsagen, wie ein Untertanenverband einseitig und ohne die Zustimmung seines königlichen Herrn beitrittswillige Freie (oder als solche auftretende entflohene Knechte, oben: § 150) in die herrschaftliche Genossenschaft der Untertanen aufnehmen durfte: ut quemlibet liberum hominem, qui dominum suum contra voluntatem eius dimiserit et de uno regno in aliud profectus fuerit, neque ipse rex suscipiat neque hominibus suis consentiat, ut talem hominem recipiant et iniuste retinere presumant (Divisio regnorum von 806: MGH. Capit. 1, 126 n. 45 c. 8). Im Jahre 831 fügte der Kaiser dem noch eine Bestimmung hinzu: nec non solum de liberis, set etiam de servis fugitivis statuimus observandum, ut nulla discordiis relinquatur occasio. Et hoc precipimus, ut nullus ex his tribus fratribus nobis in corpore consistentibus vel nostrum vel cuiuslibet alterius hominem sacramentum fidelitatis sibi promittere faciat et per hoc eum vel a nobis vel ab altero domino suo per uiusmodi sacramentum avertat et ad se adtraat (ebd. 2, 20 n. 194 c. 4). Das sacramentum fidelitatis, von dem hier die Rede ist, bezeichnet also den Untertaneneid (oben: § 185), durch den sich jeder freie Mann entweder dem Kaiser oder einem der drei Teilkönige ergeben mußte. Niemand konnte zweier Herren Getreuer und Untertan sein; die Untertanenverbände sollten streng gebietsbezogene, mit den geographisch genau begrenzten Teilreichen zusammenfallende Genossenschaften aller derer sein, die demselben Könige Treue gelobt hatten, und keinem der Könige war es gestattet, einen Getreuen des Kaisers oder eines anderen Königs an sich zu ziehen, indem er sich von ihm die Leistung des Untertaneneides versprechen ließ und ihm den mit dessen Annahme vollzogenen Eintritt in seinen eigenen Untertanenverband in Aussicht stellte. § 205. Von Schutzverhältnissen und Lehnspflichten, welche die Einheit und Geschlossenheit dieser gebietsbezogenen herrschaftlichen Genossenschaften gefährden oder sprengen könnten, ist erst im folgenden die Rede: Et unusquisque liber homo post mortem domini sui licentiam habeat se commendandi inter haec tria regna ad quemcumque voluerit; similiter et ille qui nondum alicui commendatus est (Jahr 806: MGH. Capit. 1, 126 n. 45 c. 10, Jahr 831: ebd. 2, 20 n. 194 c. 6). Et licentiam habeat unusquisque liber homo, qui seniorem non habuerit, cuicumque ex his tribus fratribus voluerit se commendandi (Jahr 817: ebd. 1, 270 n. 136 c. 9 Z. 18 – 19). Der liber homo dieser Kapitularien war der freie und freies Eigen besitzende Ergebungsmann, der sich zwar wegen seines Gutes kommendierte, aber zu seinem Schutzherrn in ein rein persönliches, hier nicht näher erläutertes Schutzund Dienstverhältnis trat, mochte man dieses nun als Vasallität oder als Wachszinsigkeit (oben: §§ 134a, 135a) oder wie immer bezeichnen. In diesen vertraglich begründeten, jedoch nicht beschworenen Bindungen, welche zwar die Ergebungsleute eines und desselben Herrn zu Rechtsgenossen machten, aber lediglich personenbezogene herrschaftliche Verbände konstituierten, sah man noch keine Gefährdung der königlichen Teilherrschaften und der Geschlossenheit ihrer Territorien und Untertanenverbände, eben weil sie keine eidlichen Treueverhältnisse begründeten.
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Eine solche Gefährdung trat jedoch ein, sobald der Schutzbefohlene oder Vasall, um seinem Herrn kostspieligere und damit politisch gewichtige Dienste leisten zu können, von diesem ein Lehen annahm, so daß die persönliche Beziehung zwischen Herrn und Mann nun sowohl durch ein sacramentum fidelitatis als auch durch eine dingliche Beziehung verstärkt wurde: Ut post nostrum ex hac mortalitate discessum homines uniuscuiusque eorum accipiant beneficia unusquisque in regno domini sui et non in alterius, ne forte per hoc, si aliter fuerit, scandalum aliquid possit accidere. Hereditatem autem suam habeat unusquisque illorum hominum absque contradictione, in quocunque regno hoc eum legitime habere contigerit (Jahr 806: MGH. Capit. 1, 126 n. 45 c. 9; Jahr 831: ebd. 2, 20 n. 194 c. 5); ut post discessum nostrum uniuscuiusque vasallus tantum in potestate domini sui beneficium propter discordias evitandas habeat et non in alterius; proprium autem suum et hereditatem, ubicumque fuerit, salva iustitia cum honore et securitate secundum suam legem unusquisque absque iniusta inquietudine possideat (Jahr 817: ebd. 1, 270 n. 136 c.9 Z. 14 – 18). Ein Mann, der sich einem Könige als Untertan und einem anderen als Vasall ergab, setzte sich damit einem skandalösen Widerstreit zwischen Untertanen- und Lehnstreue aus, der in derselben Weise wie eine coniuratio (oben: §§ 195, 196) Zwietracht (oben: §§ 30, 186) erregen und damit, wenn er die Genossen in den Widerstreit hineinzog, die Existenz sowohl des gebietsbezogenen Untertanen- als auch des personenbezogenen Lehnsverbandes untergraben konnte. Diese Gefahr ging zwar auch von dem Allodialbesitz aus, den ein Mann im Territorium eines anderen Königs besaß und der ihn dort ebenso treue- und wehrpflichtig machte wie im Reiche seines eigentlichen, durch den Wohnsitz bestimmten Herrn, aber die Begüterung in mehreren Teilreichen war vom Volksrecht geschützt, der Kaiser konnte sie nicht so einfach untersagen wie die treuewidrige Lehnsnahme, auch wenn natürlich jeder König das Eigengut eines Nicht-Untertanen zu konfiszieren pflegte, sobald dieser Recht, Ehre und Sicherheit seiner Herrschaft bedrohte und rechtswidrige Unruhe erregte. Um derartigen Pflichtenkonflikten, Zwietrachten und Unruhen zuvorzukommen, ordneten die Kaiser die genossenschaftsbildenden personalen Bindungen, soweit man sie eidlich und dinglich zu verstärken pflegte, dem Territorialprinzip unter: Die Untertanenpflicht und mit ihr das Recht des Territorialverbandes behielt verfassungsmäßig den Vorrang vor der Vasallenpflicht. Nach dem Tode Kaiser Ludwigs des Frommen verfuhren die Könige, so oft sie unter einander in Streit gerieten, nach diesem Grundsatze, und zwar stets mit der ihm gemäßen Rücksicht auf den höheren Rechtsschutz, der den Allodialbesitz vor dem Lehnsbesitz auszeichnete (MGH. Capit. 2, 68 n. 204 vom Jahre 847, III c. 2, 5; 2, 152 n. 242 vom Jahre 860, S. 158 Z. 19 – 29. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 21, 63, 457 f. E. Mühlbacher 1896 S. 224, 333, 478, 502 f.). Auch später im Mittelalter mußten sich die Lehnsverbände immer wieder dem Territorialprinzip unterwerfen und anpassen, sei es, um die Pflichten des Doppelvasallen (Vasallen zweier Herren: W. Kienast 1952 S. 100 – 103) oder, im werdenden deutschen
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Territorial- und Ständestaat, die Untertanen- und Lehnspflichten gegeneinander abzugrenzen. § 206. Der Untertanenverband der Karolinger erforderte wegen der riesigen Ausdehnung des Reiches eine mehrstufige Partikulierung, um sich einen gemeinsamen Willen bilden und diesem Ausdruck und politische Geltung verleihen zu können. Nachdem die Herrscher im Einvernehmen mit den Großen im 8. Jahrhundert die Stammesherzogtümer beseitigt hatten, war das Reich in etwa achtzehn (Teil-)Reiche oder regna gegliedert, an deren Spitze ein König (rex), Fürst (princeps), Herzog (dux) oder Markgraf (marchio) stand. Unterhalb derselben war der Untertanenverband in etwa fünfhundert Grafschaften aufgeteilt. Von diesen Verbänden entfielen acht regna und gewiß erheblich weniger als die Hälfte der Grafschaften auf das Ostfränkische Reich (W. Kienast 1991 S. 208, 578 f. C. Brühl 1995 S. 303 – 314). Wie das Gesamtreich, so waren die Teilreiche und Grafschaften monokephal und dualistisch verfaßt: Der Versammlung der Untertanen oder der Großen, die für jene das Wort hielten, stand die Person des von dieser Versammlung erhobenen oder angenommenen Hauptes gegenüber, die ihrerseits der Anerkennung und einer Ermächtigung durch das Haupt des nächsthöheren Verbandes oder des Kaiser-Königs bedurfte. Nach den Regeln des Identitätssystems war das Haupt jedes Verbandes gehalten, sich bei allen Entscheidungen oder Regierungshandlungen der Übereinstimmung seines Willens mit dem der Worthalter, und waren diese ebenso verpflichtet, sich der Identität ihres gemeinen Willens mit dem der jeweiligen Verbandsgemeinde zu vergewissern, wenn sie auf den Beistand der einzelnen Untertanen oder Verbandsgenossen rechnen und vor tumultuarischem Ungehorsam und Aufruhr des Volkes sicher sein wollten. Die hier ausgesprochenen Annahmen über die Verfassung der Grafschaften und lokalen Dingverbände sind von so grundlegender verfassungsgeschichtlicher Bedeutung, daß ihnen die Verfassungslehre in späteren Kapiteln weitere Aufmerksamkeit zuwenden muß. Den von Grafen geleiteten Dinggenossenschaften der altfreien Grundbesitzer (oben: §§ 133b, 135b), die sich im hohen Mittelalter mit Neufreien auffüllen mußten, um nicht zugrundezugehen oder zu reinen Adelsgerichten zu verkümmern (oben: §§ 155, 156), sind nicht nur die Untertanenverbände der Allodialherrschaften gleichzustellen, die wohl im wesentlichen aus Neufreien bestanden (oben: §§ 144, 158), sondern auch die Dingverbände der Hofgerichte, als deren Herren uns die Quellen nur die Häupter geistlicher Stifter und Klöster genauer zu erkennen geben: Bischöfe, Pröpste und Äbte, die der heutige, seit dem 18. Jahrhundert entstandene Sprachgebrauch in dieser Eigenschaft als Grundherren zu bezeichnen pflegt. Die Genossenschaften der hofrechtlichen Dingverbände bestanden zum Teil aus Knechten und Unfreien, zum Teil aus Freien (Inhabern von mansi ingenuiles unterschiedlichsten Alters und Ergebungsleuten). Sie alle nahmen an der Freiheitsbewegung der Karolingerzeit (oben: § 149) teil, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte die ständischen Unterschiede, welche zunächst zwischen ihnen noch bestanden, einebnete und ihre im Auftrage des geistlichen Grundherrn
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von Vögten gehegten Gerichte zu grafschaftsgleichem Range emporsteigen ließ (oben: § 157, unten: Elftes Kapitel). § 207. Die Grafschaften waren zweifellos von Anfang an zum Zwecke einer Gebietsherrschaft gegründete Verbände gewesen, während Allodial- und Grundherrschaften wegen der Streulage sowohl des Großgrundbesitzes als auch der Wohnungen ihrer Ergebungsleute zunächst nur personenbezogene Verbände einrichten konnten, bevor sie sich noch dem Drucke des Territorialprinzips ausgesetzt sahen: Nur dort, wo es ihnen im hohen Mittelalter gelang, Grundbesitz und Gerichtsgewalt zu geschlossenen Bezirken zu arrondieren, behaupteten sie nun die Unabhängigkeit ihrer Vogtgerichte von der Grafschaft, während sich in Streulage und Vereinzelung verharrende Hintersassen und Grundstücke früher oder später dem jeweils an ihrem Orte mächtigen Dingverbande unterwerfen mußten (unten: § 364). Alle diese Dingverbände, mochten sie nun, natürlich im Einvernehmen mit den Herzögen, Markgrafen, Königen der höheren Gebietsgenossenschaften, zu deren Großen ihre Häupter zählten, als solche Häupter Grafen, Allodialherren oder geistliche Herren bzw. deren Vögte über sich erheben, waren daher herrschaftliche Genossenschaften, denn das rechtliche Merkmal, welches die Dingleute zu unter sich gleichen Rechtsgenossen machte, war allein die – bei der Annehmung jedes im Wechsel der Generationen neu antretenden Herrn durch gemeinsam geleistete Huldigung bestärkte – Bindung aller an einen und denselben Herrn und umgekehrt des Herrn an sie, da er ihres Gehorsams bedurfte, um Herr zu sein, und sich von ihnen das im Verbande für ihn und die Genossen geltende Recht weisen lassen mußte, um dieses Gehorsams sicher sein zu können. Außerdem waren es gebietsbezogene Genossenschaften, da die Beherrschung eines bestimmten Territoriums entweder von Anfang an ihre Aufgabe war oder es doch im Laufe der Zeit werden mußte, wenn sich der Verband und seine Herrschaft eine dauerhafte Existenz sichern wollten. § 208. Ebenso, wie sich die freien Männer einerseits zu Dinggenossenschaften und Grafschaftsgemeinden, andererseits zu Untertanenverbänden der Regna und des Gesamtreiches, zu Teilreichs- und Gesamtreichsgemeinden, vereinten, um gegenüber den jeweiligen Verbandshäuptern als genossenschaftliche Befugnis die Rechtsweisung und Auslegung des Treue- und Unterwerfungsvertrages wahrzunehmen, durch den sie sich samt und sonders an das Haupt gebunden hatten, so taten es diejenigen, die regelmäßig die Ding- und Verbandsversammlungen besuchten und dort als Worthalter der Gesamtheit den Häuptern gegenübertraten. Denn in sehr viele Personen umfassenden Verbänden konnte man schwerlich noch alle Genossen auf einmal versammeln: Erkrankte, Verreiste, durch anderweitige Pflichten oder auch durch Armut Abgehaltene ließen die Zahl der Versammelten stets hinter der der Genossen überhaupt zurückbleiben, so daß man die Versammlung von der Genossenschaft selbst zu unterscheiden lernte und sie so für diese sprechen und beschließen ließ, als ob sie mit ihr identisch wäre (oben: § 16). Innerhalb der Versammlung wiederum tat sich sehr bald eine Gruppe von stets anwe-
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senden und für die Bildung des Verbandswillens unentbehrlichen Genossen hervor, für die die Quellen bis ins 12. Jahrhundert hinein lediglich die vage Bezeichnung als Große oder Bessere (oben: § 17) kennen. Diese Ausgrenzung engerer Kreise aus den Verbänden, die sich wiederum als Genossenschaften verfaßten und im Falle des Erfolges auch ständisch von der Allgemeinheit ihres Verbandes absonderten, ist ein Element jener überschwänglichen Ständebildung, die die deutsche Rechtsgeschichte des Mittelalters auszeichnet und von der der Nachbarländer in so auffälliger Weise unterscheidet (oben: § 163). In manchen Grafengerichten etwa zeigt sich im 12. Jahrhundert, wenn die urkundlichen Nachrichten darüber einsetzen, das seit dem Jahre 770 eingeführte Amt der Urteilsfinder oder Schöffen derart an den Besitz bestimmter Hofstellen oder an die Abstammung von bestimmten Geschlechtern gebunden, daß die Schöffenbarkeit zum Merkmal ständisch vom Dingvolke abgehobener, geschlossener Gruppen von Personen geworden war. Ebenso schloß sich von der Menge der altfreien Edlen und Großen, die zu den Reichsversammlungen der Regna und zu den Hoftagen der Könige erscheinen konnten, im Laufe der Zeit der Reichsfürstenstand ab (J. Fikker / P. Puntschart 1911 S. 174 – 180). § 209. Bereits die Karolingerzeit kannte einen bevorzugten Gerichtsstand der Großen, insbesondere der Bischöfe, Reichsäbte und Grafen, vor dem Könige (oben: § 140). Er hob die Gruppe dieser Männer aus der Gesamtheit des Standes der Altfreien insofern heraus, als nicht jeder Freie jenes Vorrecht in Anspruch nehmen konnte, die große Menge der Altfreien vielmehr weiterhin im Grafengerichte dingpflichtig blieb, auch wenn man eine bestimmte Standesgrenze noch nicht festlegte, sondern wohl im Einzelfalle darüber entschied, wer mächtig genug oder zu übermächtig war, um als Beklagter nur vor dem Könige zu Recht stehen zu müssen, wie denn auch keineswegs Klagen gegen einen Großen oder Fürsten schlechthin vom Königsgericht angenommen wurden, sondern nur solche wegen schwerer Missetaten, darum dem Beklagten Verlust des Lebens, der Ehre, der leiblichen Unversehrtheit oder des Amtes, das ihm der König verliehen hatte, als Strafe drohte; dagegen gehörten Klagen um Allodialgut eines Fürsten vor das Grafengericht, in dessen Bezirk es gelegen war, und Klagen aus dem Rechtsverhältnis zwischen Fürst und Untertan vor das Gericht des Fürsten selbst (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 143, 183). Diejenigen Fürsten und Mächtigen, die dem Rechtszwange der Grafen und Grafschaftsgerichte nur allzu leicht den Gehorsam verweigern konnten, werden sich wegen ihres bevorzugten Gerichtsstandes vor dem Könige gewiß auch hinsichtlich des Urteilens bald als besondere Genossenschaft betrachtet und sich keinem Urteil mehr unterworfen haben, das der König etwa noch von gewöhnlichen, für ihre Personen einem Grafengericht untergebenen Freien anstatt von einem Großen ihres Standes erfragen mochte. Wenn wir im 12. Jahrhundert, wo die Quellen reichlicher zu fließen beginnen, neben Bischöfen, Herzögen und Markgrafen zwar noch Reichsäbte und Grafen, nicht aber mehr Prälaten der Geistlichkeit und Edel- oder
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Freiherren jener fürstlichen Urteilergemeinschaft zugezählt finden, so wird sich die damit gegebene Standesgrenze nicht erst zu dieser Zeit herausgebildet haben, wo der Grafentitel bereits „mit sehr verschiedener landrechtlicher und lehnrechtlicher Stellung verbunden erscheint, sogar von Dienstmannen geführt wird“ (ebd. S. 175; oben: §§ 137a.b); vielmehr ist anzunehmen, daß sie bereits entstanden war, solange sich noch die Verfassung des Grafenamtes im ganzen Reiche die einheitliche, von den Karolingern geschaffene Gestalt bewahrte. Ausdrücklich bezeugen die Rechtsquellen freilich erst seit dem 13. Jahrhundert, als endlich auch die Grafen aus dem Reichsfürstenstande ausgeschieden waren, daß man es als unstatthaft betrachtete, nichtfürstliche Edelfreie – um von Neufreien zu schweigen – über sie urteilen zu lassen, daß also die freie Geburt allein nicht mehr genügte, um einen Mann zum Urteiler über einen schwerer Missetaten bezichtigten Fürsten zu qualifizieren. Wie überall, so war auch hier die im Gerichtswesen wirksame Genossenschaft verfassungsgeschichtlich besonders bedeutsam; in anderen Hinsichten nämlich konnte der Fürstenstand weitere Grenzen um sich ziehen. So gab es auf dem Gebiete des Eherechts und der Ebenbürtigkeit (oben: § 163) Fürstengenossen (oben: § 137b), die nicht zugleich Fürsten waren, sondern den Ständen der nichtfürstlichen Edlen angehörten, zu denen jetzt auch die Grafenhäuser zählten. In dieser sowie in anderen Richtungen war der Fürstenstand insofern im allgemeinen kein Geburtsstand, da ein Sohn, der das Fürstentum nicht erbte, der gerichtlichen und anderen Vorrechte des Fürstenstandes entbehrte und nur im Eherecht Fürstengenosse blieb – wie denn auch jeder freie Mann den Fürstenstand erwerben konnte, wenn er vom Könige die Belehnung mit einem Fürstentum erlangte (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 197 – 202). § 210. Als gebietsbezogene herrschaftliche Genossenschaften treten uns auch die Länder entgegen, in denen seit dem 12. Jahrhundert ein princeps oder dominus terrae auf Landesversammlungen gemeinsam mit den Großen des Landes als Worthaltern der eingesessenen Dinggenossenschaften und Land- oder Stadtgemeinden den Gemeinwillen feststellte und danach die Regierung führte. Otto Brunner (1943 S. 216, 229 = 1965 S. 188, 199) nennt als älteste im Gebiete des bayerischen Stammesrechts bezeugte die Länder Bozen und Österreich: Da „wir nach einer zwischen 1065 und 1077 anzusetzenden Urkunde den Grafen von Bozen cum consensu et complacito cunctorum comprovincialium handeln sehen und dabei Zeugen de ipsa provincia angeführt werden“, so sei „diese Grafschaft Bozen ein Land“ gewesen und habe über „eine Landesgemeinde, die Landleute, conprovinciales, compatriotae“ verfügt; bald darauf, im Jahre 1081, habe Markgraf Liutpold von Österreich in Gegenwart der Grafen und Angesehensten (primores) seines Herrschaftsbereiches (sui regiminis), also auf einer Landesversammlung, die bei der alten Gerichtsstätte zu Tulln stattfand, dem Könige Heinrich IV. abgeschworen und sich dem Gegenkönige Hermann zugewandt (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 92. Hdb. bay. G. 1981 S. 329. K. Lechner 1994 S. 112 f.). Zu derselben Zeit treten uns zum ersten Male Ausdrücke wie ius terrae oder mos patriae, mos provinciae entgegen,
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die uns anzeigen, daß die Länder als Rechtseinheiten nun die alten Stammesgebiete bzw. als das einheimische Recht weisende Personenverbände die alten regna und Stammesverbände abzulösen begannen (G. Köbler 1971 S. 70, 116. Derselbe 1974 S. 7). Als Untertanen- und Gerichtsverbände waren diese Länder zweifellos keine Schöpfungen erst des hohen Mittelalters, sondern Nachfolger der Regna oder jüngeren Herzog- und Fürstentümer und der Grafschaftsgemeinden der Karolingerzeit. Schon diese hatten patriae heißen können, worunter man den Rechtsbezirk verstand, dem eine freie Person von Geburt angehörte, in dem das Familiengut gelegen war und dessen Einwohnergemeinde das Recht jedes Eingeborenen schützte. Patria konnte daher ebenso die Grafschaft wie auch der Volksrechtsverband eines fränkischen Regnums oder Teilreiches heißen (Th. Eichenberger 1991 S. 89 – 101). Als ahd. Äquivalente zu lat. patria erhalten wir dementsprechend unter anderem die Substantive faterheim, faterlant, heimôti, uodil, fatererbi, fateruodil (H. Götz, Wb. 1999 S. 469). Grafschaften und Regna aber waren lediglich mannigfach in ihrer räumlichen Gestaltung, kaum dagegen in ihrer Verfassung verändert worden, seit die Könige aus sächsischem und salischem Hause die jüngeren Fürsten- oder Herzogtümer, um sie politisch zu entmachten, mehrfach aufgeteilt und wider sie die Fürstentümer der Bischöfe und Reichsäbte errichtet hatten. Diesem Zwecke hatte namentlich die Übertragung von Grafschaften auf die Kirchen gedient, durch die das zuvor nur dem Könige und den Herzögen zustehende Recht, von den Grafschaftsverbänden gewählte Grafen zu bevollmächtigen bzw. bevollmächtigte Grafen den Verbänden zur Annehmung zu präsentieren, auf die begünstigten Reichskirchen übergegangen war (unten: §§ 576 – 578). Und wie sich im 12. Jahrhundert im Reiche die Reichsfürsten als engere Genossenschaft und besonders vornehmer Stand über die Gesamtheit der zur Reichsversammlung zusammenkommenden Großen erhoben, so taten es in den Ländern die als Verbandssprecher zur Landesversammlung erscheinenden Großen: Als Landstände (z. B. principes terrae Bawariae, oben: § 158) grenzten sie sich von der Gesamtheit der Landesgemeinde ab. Die nicht nur auf das Deutsche Reich, sondern auf ganz Europa gesehen, früheste Nachricht über eine (allerdings nur geplante) Ständeversammlung hat uns der Chronist Galbert von Brügge zum Jahre 1127 hinterlassen. Sie bezieht sich auf das Regnum Flandern und legt der Versammlung nicht nur die Befugnis bei, den Landesherrn unter Berücksichtigung der Erbfolge zu kiesen, sondern auch von ihm einen Eid darauf zu fordern, daß er, der künftige Graf, ein gerechter, friedliebender, kompromißbereiter Herr und Anwalt des Gemeinwohls sein wolle. Als der zum Landesherrn angenommene Graf ein Jahr später dieses Gelübde brach, klagten die Bürger von Gent ihn deswegen vor der gräflichen curia an, auf daß er je nach dem Urteil der Großen das Grafenamt behalten oder es den Ständen zurückgeben sollte, damit sie es einem anderen geeigneten Manne anvertrauen könnten (F. Kern 1914 S. 100 Anm. 183, S. 435 f. W. P. Blockmans in LMA 8 Sp. 49).
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§ 211. Man sieht, wie sehr die Lehre vom Patrimonialstaate in die Irre ging, wenn sie behauptete, der Territorialstaat habe in seiner dualistischen Verfaßtheit keine höhere, Fürsten und Stände in sich aufnehmende Einheit gekannt (oben: §§ 49, 165, 166). Sie setzte dabei voraus, daß das Recht des Fürsten einer anderen, höheren, göttlichen Quelle entstammte als dem Willen des Untertanenverbandes, und mußte in sich zusammenbrechen, sobald man diese Voraussetzung bezweifelte und sich die zwar nicht aus allen Jahrhunderten des Mittelalters, aber doch hinreichend gut bezeugte Auffassung der Volks- und Landrechte zu eigen machte, nach welcher alles König- und Fürstentum vom Volke vergebenes Amt war, mochten Kirchenmänner und Fürstendiener um ihres Glaubens und Vorteils willen auch noch so beharrlich das Gottesgnadentum propagieren. Aber das Recht der Fürsten entsprang aus derselben Quelle wie das der Stände, nämlich aus dem Willen des Landes, und dieser gemeinsame Ursprung bedingte dessen verfassungsmäßige Einheit. Für das damit gegebene Wesen des Fürstentums war es ohne Belang, daß es als Institution nicht zur Disposition des Volkes stand. Denn die Landstände der deutschen Territorien waren nicht nur gebietsbezogene, sondern auch herrschaftliche Genossenschaften, die sich eben dadurch als Einungen konstituierten, daß sie samt und sonders und gleichsam zu gesamter Hand den erkorenen und vom Reichsoberhaupte ermächtigten Fürsten zu ihrem Herrn annahmen, indem sie ihm Treue und Beistand gelobten, solange er sein Versprechen einhielt, nicht zum eigenen, sondern zum gemeinen Nutzen des Landes zu regieren (oben: §§ 15, 16). Waren daher die Stände genötigt, in jedem Interdominium einen neuen Herrn über sich zu erheben, um sich selbst in der Huldigung neu konstituieren zu können, so erklärt es sich, daß das Institut der Landesherrschaft nach mittelalterlicher und in Deutschland von einer Mehrheit des Volkes bis 1918 bewahrter Rechtsüberzeugung genauso wenig zu ihrer und des Volkes Verfügung stand wie ihre eigene Existenz. Dieser Überzeugung war noch Otto von Bismarck, der Begründer des deutschen Bundesstaates von 1866 und 1871, wenn er jeglichen Absolutismus, sowohl den der Krone wie den des Parlamentes oder seiner Mehrheiten, für gleich unerträglich hielt: „Mir hat immer als Ideal eine monarchische Gewalt vorgeschwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftliche Landesvertretung soweit controlliert wäre, daß Monarch oder Parlament den bestehenden gesetzlichen Rechtszustand nicht einseitig, sondern nur communi consensu ändern können, bei Öffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller staatlichen Vorgänge durch Presse und Landtag“ (Gedanken und Erinnerungen Kap. 1. II, ferner Kap. 21. III und V). Es war diese Verfassung, die er in dem oben (§ 167) zitierten Brief vom 30. Mai 1857 allein als legitim bezeichnet hat (ebd. Kap. 8. II); seine Stellungnahme zur Huldigungsfrage vom 2. Juli 1861 (ebd. Kap. 11. II) aber liest sich wie eine letzte Verteidigung des Identitätssystems („Der König . . . hat das Recht, sich von jedem einzelnen seiner Untertanen und von jeder Korporation im Lande huldigen zu lassen, wenn ich auch an sich nicht von der praktischen Wichtigkeit seiner Ausübung durchdrungen bin“) gegenüber dem Re-
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präsentativsystem, dem Bismarck gleichwohl im Jahre 1866 für die Bundesverfassung den Vorzug gab. § 212. Das hohe Alter der Landesverfassung wird von der Onomasiologie der Worte Land und terra bestätigt. Unter den zahlreichen Bedeutungen, in denen man lat. terra in der Karolingerzeit verwenden und auf verschiedene Weise ins Ahd. übersetzen konnte, wären in diesem Zusammenhange hervorzuheben diejenige als Grundeigentums- oder Herrschaftsgebiet, ahd. (bei Notker) rîhhi, und eine zweite als bebaubarer Erd- oder Ackerboden, ahd. erda und (wiederum bei Notker) gilenti = Ländereien, Gelände. Das ahd. Substantiv rîhhi seinerseits übersetzte nicht nur lat. terra, sondern auch regnum = Herrschaft, Herrschaftsgebiet, Reich, und regio = Gegend, Landstrich, Gebiet. Zu dem Vorstellungselement terra = regnum wäre die Wortverbindung terra hostilis = fremdes oder feindliches Land zu stellen. Sie wird (von Notker) mit dem ahd. Substantiv elilenti wiedergegeben, das dem bestimmenden Wortteil eli = ander zufolge das Ausland als anderes Land dem eigenen oder Heimatlande gegenüberstellte. Die Eigenschaft des eigenen Landes als Friedens- und Rechtsbezirks ergibt sich weiter daraus, daß man mit dem ahd. Substantiv auch lat. exsiliatus = Verbannter und exsilium = Fremde, Ausland, Verbannungsort, wiedergeben konnte. Ahd. gilenti war äquivalent nicht nur zu lat. terra, sondern auch zu arva, culta und colonia; lat. terra übersetzte man damit insbesondere in den Verbindungen niugilenti = novalia, Rodeland, und selgelente, selilant, frîgilenti, terra salica = Herrengut, Herrenland. Derselbe doppelte Sinn kam dem Substantiv territorium zu, denn dieses konnte zwar ganz unbestimmt mit ahd. geginôti = Landstrich, Gegend, aber doch auch mit den sehr gegenständlichen Begriffen erdmarca = abgegrenztes Gebiet, Bezirk, und gibûrida = Nachbarschaft, Geburschaft, wiedergegeben werden. In der Verwaltungssprache der Benediktinerklöster, namentlich Fuldas, hießen territoria häufig die großen Schläge des Sallandes, deren man für die Dreifelderwirtschaft bedurfte, und so wurde das Wort vereinzelt auch in den Königsurkunden benutzt (Wartm. UB 2, 281 n. 680. MGH. DLD. 93 S. 135 Z. 12, DLdK. 77 S. 214 Z. 27, DO. I. 1 S. 89 Z. 43). Unter der Geburschaft haben wir uns die Genossenschaft der nahe beieinander wohnenden Leute vorzustellen, die sei es als freie Einung oder indem sie als Gesamtperson einen Herrn über sich setzte, das Territorium beherrschte. Dies ergibt sich auch daraus, daß ahd. gibûrida und mhd. geburschaft auch lat. vicinia oder vicinitas übersetzten. Außerdem verstand man unter dem lat. Singular vicinus den gibûro = Einwohner, Nachbarn, während der Plural vicini dasselbe wie liute oder lantliut bedeuten konnte. Die Nachbarn waren demnach Bewohner und Bebauer eines Landes, das mit dem als territorium oder erdmarca bezeichneten Bezirk identisch gewesen sein muß, wenn uns auch eine Übersetzungsgleichung lat. terra, territorium = ahd. lant nicht ausdrücklich überliefert ist. An das Vorstellungselement Land schließt sich der Gebrauch des Wortes Territorium in den königlichen Immunitätsprivilegien an. Darin nämlich pflegte der König das an seine Grafen, Richter und Prokuratoren adressierte Introitusverbot für
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alle Güter des Begünstigten in quibuslibet provinciis aut territoriis regni nostri, in quibuslibet pagis et territoriis infra ditionem imperii oder ähnlich auszusprechen (DLD. 27 S. 33 Z. 37, DLD 63 S. 87 Z. 1 – 2, DLD 75 S. 110 Z. 16; DLJ 7 S. 343 Z. 8 – 9; DK. III. 139 S. 224 Z. 35, DK. III. 146 S. 235 Z. 16; DArn. 23 S. 34 Z. 20 – 21, DArn. 26 S. 38 Z. 27; DLdK. 66 S. 197 Z. 37. E. E. Stengel 1910 S. 611 f., 634). Das territorium wird dabei mit provincia und pagus gleichgesetzt, worunter dem Zusammenhange nach in der Regel der Amtsbezirk eines Grafen verstanden werden muß. Eine Straßburger Fälschung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts fügt dem Begriff im Introitusverbot denn auch folgerichtig die Worte vel comitatibus bei (DLD. sp. 180 S. 260 Z. 26). Der Fälscher folgte bereits dem mhd. Sprachgebrauch, der lat. territorium nur noch als Äquivalent zu dt. Landgebiet, Landrecht, Landgericht, Landschaft, Herrschaft, verwandte (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 580). Ebenso stehen ahd. gibûrida, geuui, lant und rîhhi nebeneinander als Äquivalente zu lat. regio; unter diesem Substantiv konnten demnach sowohl die regna, in die das karolingische Reich eingeteilt war, als auch die Grafschaftsbezirke begriffen werden, für die lat. pagus = ahd. geuui, der Gau, wie wir noch sehen werden (unten: § 280), der meistbenutzte Ausdruck war. Sowohl die regna wie die comitatus hätten demnach offensichtlich auch als Länder oder Genossenschaften der beieinander wohnenden Landleute bezeichnet werden können. In lat. pagensis = Landsmann, Gaugenosse, und seinem Äquivalent gilanto haben wir also ein Synonym zu lat. vicinus vor uns, und zu dem Singular gilanto gehörte der Plural lantliuti, der uns übrigens (bei Notker) ausdrücklich als Übersetzung von lat. incolentes = Bewohner eines Landes, Einheimische, bezeugt ist und insofern wiederum ein Licht auf die gegenteilige Bedeutung von lat. exsiliatus und ahd. elilenti wirft. Zu ahd. lantliuti erhalten wir ferner als Entsprechung lat. provinciales; daß mit deren Personenvielheit die Genossenschaft der ein Land bebauenden und beherrschenden Geburen gemeint war, ergibt sich aus der Beobachtung, daß zu lat. provincia nicht nur der unbestimmte ahd. Ausdruck landscaf, sondern auch der in diesem Sinne bestimmte Begriff gibûrida gehörte. Erinnert man sich der Bedeutung des Wortes Provinz im klassischen Latein, wo es den einem Staatsbeamten vom Volke oder Kaiser übertragenen Geschäftskreis bezeichnet hatte, so mag das Wort in karolingischer Zeit besonders gut auf den von einer herrschaftlichen Genossenschaft beherrschten Bezirk gepaßt haben, da ja an der Spitze des Verbandes ein sowohl vom Volke erhobener als auch vom Könige ermächtigter Worthalter und Amtmann zu stehen hatte. Zweifellos konnte dieser Verband auch als Volk bezeichnet werden. Zu lat. populus sind die ahd. Äquivalente folc und liut = Völkerschaft, Bevölkerung (eines Landes), überliefert, und es ist gewiß Zufall, daß uns dazu zwar das Kompositum burgliut = Stadtvolk, nicht jedoch lantliut oder landthiot = Landesvolk, im Lande ansässiges Volk, als Entsprechung bezeugt wird. § 213. Bereits Otto Brunner (1943 S. 206 – 226, 265 – 268 = 1965 S. 180 – 196, 231 – 324) hatte, als er die herrschende Lehre von der Entstehung der Länder in
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Frage stellte (oben: § 50), die Vermutung begründet, daß die Länder des späteren Mittelalters zwar nicht ihrer geographischen Erstreckung und Begrenzung nach, wohl aber in ihrer verfassungsmäßigen Beschaffenheit älter seien, als jene Lehre annahm. Brunner wandte sich gegen die Annahme, Entstehung und Verfassung der Länder seien von der Landesherrschaft her zu erklären: Zuerst hätten Landesherren, wie sie uns als principes oder domini terrae seit dem 12. Jahrhundert in den Quellen begegnen, ein zu diesem Zwecke hinreichendes Bündel von Herrenrechten erwerben und in einer Hand vereinigen müssen, bevor sie hätten das Land als Gebiet, auf das sich diese Rechte bezogen, zusammenfassen und erschaffen können. Dagegen erkannte Brunner in dem Lande eine von aller Herrschaft unabhängige und vor ihr dagewesene Einheit: „Länder heißen ja auch die bäuerlichen Landesgemeinden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich einen Landamman setzen, aber keinen Landesherrn außer dem König haben.“ Gekennzeichnet sei das Land vielmehr durch die Existenz einer politisch handlungsfähigen Landesgemeinde und durch den Besitz eines Landrechtes, dem sich die Gemeinde unterworfen habe. Daher sei das Land „eine Einheit unabhängig von einem Herrn, und jedenfalls ist seine Einheit nicht allein vom Landesherrn begründet.“ Länder könnten einen Herrn haben, aber sie müßten es nicht (M. Weltin 1990 S. 340 – 343). In dieser Überzeugung sah sich Brunner dadurch bestärkt, daß die Worte terra und territorium als Rechtsworte bereits längst vor dem 12. Jahrhundert und zu einer Zeit verwendet worden waren, als sie noch keine Gebietsherrschaft im Sinne der herrschenden Lehre hatten bezeichnen können, weil es damals den Begriff des Landesherrn noch nicht gab. Um den Sinn jener Worte zu bestimmen, bediente sich Brunner der von Philipp Heck entwickelten Methode (oben: §§ 52 – 54), auf die auch unsere Verfassungslehre sich beruft und die uns gebietet, von dem deutschen oder volkssprachlichen Worte auszugehen, das mit lat. terra, territorium, wiedergegeben werden sollte. Auf diesem Wege fand Brunner, daß das gesuchte Wort ahd. lant gewesen sei, daß dieses „eine bestimmte Art von Rechtsgenossenschaft bedeuten“ konnte und daß sich diese Bedeutung „auf deutschem Boden jedenfalls schon für die Karolingerzeit erschließen läßt“. Um den Schluß zu stützen, berief er sich insbesondere darauf, daß ahd. alilandi den Verbannten oder Friedlosen bezeichnet und daß ahd. lant in der regelmäßigen Entgegensetzung zum Walde speziell das nutzbar gemachte und besiedelte Land bedeutete. Da unter Verbannung (oben: § 70) der Ausschluß aus dem Frieden einer Rechtsgemeinschaft zu verstehen sei, müsse das Wort Land zu der Zeit, als das Kompositum alilandi gebildet wurde, bereits auch zur Bezeichnung der ausschließenden Rechtsgenossenschaft verwendet worden sein, die nichts anderes als ein Verband der das Land bebauenden und beherrschenden Leute gewesen sei. In diesem Sinne verstanden, habe Land auch mit lat. provincia, regio und pagus übersetzt werden können, und wie eine Reihe von längst bekannten Belegen (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 5 S. 191 – 194) erweise, gehörte dazu ein populus oder Personenverband, wie ihn auch ahd. lant bezeichnete.
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§ 214. Andeutungsweise erörterte Brunner auch den herrschaftlichen Charakter der als Land bezeichneten Rechtsgenossenschaft. Wenn bis um 1200, so meinte er, das Wort provincia häufiger als terra gebraucht werde und der Wandel von jenem zu diesem zeitlich mit dem Hervortreten der Landesherren zusammenfalle, so hätten, nachdem in älterer Zeit die Stellung des Herrn im Lande Amtscharakter getragen, die Chronisten und Notare nunmehr die erbliche Gewere betonen wollen, die dem Herrn am Lande zukam. Der Wandel der lat. Bezeichnungen habe jedoch nur die Stellung des Herrn betroffen, der zugrundeliegende deutsche Ausdruck sei unverändert geblieben. „Schon dies deutet darauf hin, daß das Wesen des Landes nicht von der Landeshoheit her verstanden werden, sondern umgekehrt diese von der Natur des Landes her erklärt werden muß.“ Die Entstehung des Landesfürstentums setze einen Wandel nicht der Institution Land, sondern der Reichsverfassung voraus: Sei zuvor der König Herr der das Reich bildenden Stammesländer gewesen, so müsse er sich jetzt „von der unmittelbaren Herrschaft über die zerfallenden Stammesländer auf eine (überwiegend lehenrechtliche, nicht landrechtliche) Herrschaft über die Landesherren und die anderen reichsunmittelbaren Gebiete“ zurückgezogen haben. Nur wenn der König von seiner Landesherrschaft zurücktrat, sich auf eine lehnrechtliche Herrschaft beschränkte und auf die Bannleihe verzichtete, hätten Herzöge, nur wenn König und Herzog ihr entsagten, auch Grafen zu Landesherren werden können. Denn nicht nur herzogliche Amtsbezirke, sondern auch Grafschaften seien zu landrechtlichen Einheiten oder Gerichtsgemeinden geworden, die letzteren im Rahmen eines größeren, aber ebenfalls Land genannten Bereichs, des Stammeslandes eines Herzogtums. Letzten Endes mußte Brunner jedoch das rechtliche Verhältnis, welches den Herrn mit dem Lande verband, unerklärt lassen. Einerseits bestimmte er das Land als Gerichtsbezirk, in dem eine Landesgemeinde ansässig war; andererseits mochte er nicht ausschließen, daß die Gebietsherrschaft eines Hochgerichtsherrn doch die Voraussetzung für die Ausbildung eines Landes gewesen sein könne. Ob es nun dem jüngeren Reichsfürstentum der herzogsartigen Gewalten oder der eine Stufe tiefer stehenden Grafschaften und hochfreien Immunitäten gelungen sei, zur Landesherrschaft zu gelangen, so sei es doch überall die landrechtliche Gerichtsgewalt gewesen, die den Weg dazu freimachte, und habe der Herr nur dann Erfolg haben können, wenn nach Landrecht lebende Landleute als Gerichtsgemeinden vorhanden waren, die er bei politischem Geschick ebenso zu einer neuen, größeren Landesgemeinde zusammenfügen mochte, wie umgekehrt sein Ungeschick oder gar der Wegfall der Herrschaft die Zersprengung des Landes zur Folge haben mußte (wie einst in der Wanderzeit, oben: § 197). § 215. Wie mit Recht festgestellt worden ist (M. Weltin 1990 S. 340 f., 361, 368 – 370), hat diese Unentschiedenheit dazu geführt, daß Brunner in seinem zentralen Anliegen meistens unverstanden geblieben oder mißverstanden worden ist: Die meisten Leser hätten Herrschaft als zentralen Begriff seiner Lehre aufgefaßt, wogegen das Wesensmerkmal Landesgemeinde in der seitherigen Diskussion um das Wesen des mittelalterlichen Landes kaum eine Rolle gespielt habe (siehe
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J. Weitzel 1985 S. 170 – 172, F. Graus 1986 S. 562 – 569). Richtig verstanden und in modifizierter Form verwendet, könne daher Brunners Landesbegriff der verfassungsgeschichtlichen Forschung immer noch neue Wege erschließen. Gegen eines der Mißverständnisse seiner Kritiker (M. Weltin 1990 S. 343 – 356) hat Brunner sich noch selber verwahrt, nämlich dagegen, daß seine „Ansicht vom Wesen des Landes eine leere Abstraktion bedeute“, gleichsam als ob die Länder Schöpfungen eines subjektlosen Rechtes gewesen seien, dieses verstanden als nach eigenen Gesetzen für sich selbst lebende und wachsende Wesenheit oder Geistesmacht, die von sich aus Begriffe wie Land und Volk habe hervorbringen und in die Verfassungsgeschichte einpflanzen können (O. Brunner 1943 S. 224 = 1965 S. 195). Es war dies die dem dogmatischen deutschen Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts eigentümliche Auffassung vom Rechte, die nur in dem spätabsolutistischen preußischen Staate hatte entstehen können, wo das Gesetzesrecht von einer Monarchie geschaffen wurde, die sich dazu einer nur ihr ergebenen Beamtenschaft bediente und alle anderen politischen Kräfte und gesellschaftlichen Interessen davon ausschloß. Nun hatte Brunner selbst als erster darauf aufmerksam gemacht, daß der hierbei zugrundegelegte, Staat und Gesellschaft von einander scheidende und einander entgegensetzende Staatsbegriff erst der Neuzeit angehört, dem Mittelalter dagegen ganz fremd war (O. Brunner 1943 S. 124 – 134 = 1965 S. 111 – 120) – genauso fremd, können wir hinzufügen, wie den seit dem 18. Jahrhundert zuerst in Nordamerika und dann auch in Europa herangewachsenen Republiken, deren Staatsgewalt sich nirgendwo in der gleichen Entfernung von Volk und Gesellschaft erhalten konnte, wie das in Preußen und im Deutschen Reiche der Fall war. Um so mehr muß dem heutigen Leser ins Auge fallen, daß Brunner dort, wo er von der Kennzeichnung des Landes durch das doppelte Merkmal einer Rechtsgenossenschaft oder Landesgemeinde und eines Landrechtes spricht, niemals beide derart zu einander in Beziehung setzt, daß er der urteilenden und das Recht weisenden Landesgemeinde sowohl die dafür den sprachlichen Ausdruck schaffende Erkenntnis des Landrechts als auch die erinnernde Bewahrung und Überlieferung des erkannten Rechtes zuschriebe. Anstatt zu erklären, wie er es doch eigentlich tun wollte, daß die mittelalterliche Gesellschaft aus den ihre Länder bebauenden und in ihnen wirtschaftenden Genossenschaften bestand, die zugleich die Vielzahl der alten Landrechte schufen, und daß das mittelalterliche deutsche Recht, weil noch nicht von Fachleuten gepflegt, den Funktionen Staatsgewalt, Rechtspflege, Wirtschaft und Gesellschaft keine getrennten Rechtssphären zuwies, – statt dies zu tun, wählte Brunner den passivischen und daher unscharfen Ausdruck, Länder seien „Gerichtsbezirke, in denen Landrecht gesprochen wird, in denen eine Landesgemeinde vorhanden ist“ oder „sich eine Landesgemeinde und ein einheitliches Landrecht herausgebildet hat“ (ebd. 1943 S. 223, 266 = 1965 S. 194, 231 f.). § 216. Dieselbe Unklarheit herrscht hinsichtlich der Stellung des Hochgerichtsoder Landesherrn. So, wie Brunner den sprachlichen Wandel kommentiert, in des-
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sen Verlauf lat. provincia von dem Worte terra verdrängt wurde, während für mhd. land ein unveränderter Gebrauch vorauszusetzen sei, muß man annehmen, daß die Ausbildung der Landesverfassung ein Werk des Königs und der Fürsten gewesen sei, das sich unabhängig vom Rechtsempfinden und von der Rechtsweisung der Gerichts- und Landesgemeinden vollzogen habe, und daß das Paktieren zwischen Landständen und Fürst, in dem sich im Spätmittelalter die verfassungsmäßige Einheit des Landes konstituierte, erst eine Erfindung des 13. Jahrhunderts gewesen sei. Dem freilich widersprechen die von Brunner selbst beigebrachten, bis in das 11. Jahrhundert zurückführenden Beispiele für die Existenz einer Landesverfassung in der Grafschaft Bozen und der Markgrafschaft Österreich (oben: § 210). Aus diesen Tatsachen ist bereits die einzig mögliche Folgerung gezogen worden, daß nämlich – während Brunner den Hochgerichts- und späteren Landesherren offensichtlich von Anfang an außerhalb der Landesgemeinde stehen läßt – dieser vielmehr seit jeher und zumindest seit der karolingischen Zeit dem Lande integriert war als eine für dessen Funktionieren unerläßliche, weil die Einung der Genossen verbürgende und sichernde, monarchische Instanz (M. Weltin 1990 S. 369 – 372). Wie hiermit das Land als gebietsbezogene und monokephale herrschaftliche Genossenschaft gekennzeichnet ist, ohne daß dieser Begriff, von dem unsere Überlegung ausgegangen ist, bereits gefaßt worden wäre, so ist zu erwarten, daß die Lehre von der identischen Willensbildung, die wir der Verfassungslehre zugrundelegen, imstande sein wird, die Widersprüche und Unklarheiten zu beheben, die dem Werke von Otto Brunner anhaften, die wir jedoch nicht als Makel, sondern als notwendige Merkmale eines ersten mutigen Schrittes in die richtige Richtung bewertet wissen wollen. Nur das Identitätssystem, das die Herren der Grafen-, Land- und Immunitätsgerichte sowohl als deren Worthalter wie als Rechtsgenossen des nächsthöheren Verbandes und die Worthalter dieser höheren „Reiche“ oder Länder zugleich als Fürstengenossen des Ostfränkisch-Deutschen Reiches gelten und handeln läßt, kann die von Brunner getroffene Einordnung der Länder in größere, aber ebenfalls Länder genannte Bereiche erklären: Wir haben es da mit den Erscheinungsformen der Abstufung und Partikulierung des Reichsuntertanenverbandes zu tun, die sich als das zentrale Problem der Verfassungslehre herausstellen werden. Wie noch genauer zu entwickeln sein wird (unten: Dreizehntes Kapitel), erklärt das Identitätssystem die Erhebung der Gerichts- und Landesherren einerseits mit deren Wahl oder Annehmung von Seiten des Landes als partikularen Untertanenverbandes, andererseits aber mit der hoheitlichen Ermächtigung durch den vom Gesamtvolke erhobenen und in dessen Namen handelnden König (oben: § 167b). Nur dieses System vermag die Rechtsbegriffe zu begründen, auf denen die Stellung des Herrn innerhalb und inmitten der Rechtsgenossenschaft beruhte, indem es ihn einerseits zum Haupte des Landes erhöhte, andererseits aber an dessen Willen und Rechtsweisung band. Nicht erst die Herrschaft, sondern bereits die Rechtsgenossenschaft hatte den Gebietsbezug auf das Land enthalten, das die Genossen gemeinsam nutzen und beherrschen wollten, und wie die Herrschaft nicht ohne Land und Landesvolk, so konnte auch die Landesgenossenschaft nicht ohne Land
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und ohne ein Landeshaupt existieren. Legt man das Identitätssystem zugrunde, so wird sichtbar, daß die schweizerischen Eidgenossen, als sie im 13. Jahrhundert ihren angestammten Landesherrn verließen und statt seiner einen Landamman über sich erhoben (oben: § 213), lediglich die Verfassung ihres Hauptes, nicht aber die des Landes veränderten: Herangewachsen als herrschaftliche Genossenschaft, konstituierten sie sich nun als freie Einung.
Siebtes Kapitel
Freie Einungen
§§ 217 – 218. Freiheit der Willensbildung § 217. Freie Einungen von Hausvätern, die sich auf niemandes Befehl, sondern allein aus dem freien Willen der Teilnehmer zusammenschlossen und niemanden von Rechts wegen zur Teilnahme zwingen konnten (oben: §§ 12, 169, 186), unterlagen im Karolingerreiche einer strengen und bis zu der Empörung der Söhne gegen Kaiser Ludwig den Frommen gewiß auch wirksamen Kontrolle durch die königliche und gräfliche Gewalt, die dafür sorgte, daß Verbandszwecke und Satzungsrechte nicht gegen Volksrecht und königliches Gebot verstießen, daß sich die Genossen nicht eidlich verschworen (oben: § 174) und daß sie keine Gerichtsbarkeit begründeten, indem sie vom Könige nicht ermächtigte Richter über sich erhoben und Zwangsgewalt gegen Ungenossen beanspruchten (oben: §§ 172, 176, 187, 196). Da sich die altfreien Krieger und Hausväter des frühen Mittelalters die Bildung weiträumiger Friedens- und Rechtsgemeinden nur in Form von Königreichen, Herzogtümern, Bistümern und Grafschaften hatten vorstellen können, deren herrschaftliche Ordnung die Franken im 8. Jahrhundert in eine feste und für viele Jahrhunderte maßgebliche Form gebracht hatten, war der Rechtsraum gering und auf das Lokale beschränkt, in dem sich jetzt noch freie Einungen bewegen konnten. Der herrschaftlichen Rechtsordnung hatten sich auch die Neufreien zu fügen, deren Zahl seit dem 9. Jahrhundert beharrlich anwuchs. Sie aber waren mehr als die Altfreien auf das Hilfsmittel der Einung angewiesen, da sie der Vermögen, die sie sich unter Ausnutzung ihrer Freizügigkeit und Erwerbsfreiheit erarbeiteten, nur dann sicher sein konnten, wenn sie sich zu deren Verteidigung vereinigten. So kommt es, daß sich das Einungswesen in der deutschen Verfassungsgeschichte im Gleichschritt mit der Neufreiheit in den Vordergrund schob. Die Neufreien aber haben nicht nur herrschaftliche, sondern auch von Königen, Bischöfen und Grafen als bedrohlich empfundene und daher bekämpfte freie Einungen geschaffen, auch wenn sie es niemals wagten, den Häuptern, die sie dabei über sich erhoben, königliche Prärogativen beizulegen (oben: § 201). Freie Einungen, die keinen öffentlichen Gerichtsherrn über sich hätten anerkennen müssen, hat es zwar seit dem 13. Jahrhundert in der französischen Grafschaft Flandern (G. von Below 1913 S. 93. Ch. Petit-Dutaillis 1947 S. 21 f.) und im Königreich Italien, niemals aber im Ostfränkisch-Deutschen Reiche gegeben.
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1. Teil: Die Gemeinden
Da im Königreich Italien die vom Könige den Bischöfen übertragenen Hoheitsrechte längst von diesen auf die Stadtgemeinden übergegangen waren, nahm es bereits Kaiser Friedrich I. als gegeben hin, daß dort Städte verfassungsmäßig die Stelle einnahmen, welche in Deutschland den Fürsten vorbehalten war (MGH. DF. I. 241 S. 33 Z. 22 – 27, DF. I. 718 S. 254 Z. 2 – 4, 15 – 17: J. Ficker 1861 S. 66, 141), wie er sie denn auch als Reichsvasallen den Bischöfen und Grafen gleichstellte, die sie zuvor enteignet hatten (A. Haverkamp 1970 S. 484, 520), und ihnen, wie einst den Fürsten, den Gerichtsstand vor seinem persönlichen Gericht einräumte (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 202, 204). Sodann gelang es den Städten im Kampfe gegen Kaiser Friedrich II., nach der fürstlichen auch die königliche Gewalt zu vernichten und sich dadurch vollkommen frei und herrenlos zu machen. Doch konnten sich nur die großen Städte in diesem Status erhalten, während die kleineren nur allzu bald wieder eine Herrschaft über sich anerkennen mußten, nun freilich diejenige einer stärkeren Kommune, nicht mehr einer fürstlichen Person. Da in Deutschland das Königtum nur vorübergehend (von 1250 bis 1273) verschwand, war den freien Einungen völlige Herrenlosigkeit hier unerreichbar; nur die Hanse der deutschen Kaufleute erlangte während des Interregnums tatsächlich die Verfassung eines herrenlosen Verbandes, da kein König je wieder den Versuch gemacht hat, seine Hoheit ihr gegenüber zur Geltung zu bringen. Für deutsche Land- und Stadtgemeinden war als höchster Grad der Freiheit nur die Reichsunmittelbarkeit zu gewinnen. § 218. In vielen landsässigen Städten waren die Bürgerschaften des Spätmittelalters freie und herrschaftliche Genossenschaften zugleich, da die Bürger sich gegenseitig und ihrer Gemeinschaft den Bürgereid, dem Stadtherrn aber mit der Huldigung den Untertaneneid leisteten. Man sah darin so wenig einen Widerspruch, daß beide Eide sogar in einen gefaßt, die Huldigung in den Bürgereid integriert werden konnte (W. Ebel 1958 S. 70 – 77. A. Holenstein 1991 S. 32. P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 152). In der Regel ging überhaupt die orts- oder gebietsbezogene freie Einung aus einer herrschaftlichen hervor, da die altfreien Reichsgründervölker der Frühzeit überhaupt nur herrschaftliche Einungen gekannt und als solche auch die Gerichtsverbände eingerichtet hatten, denen noch in der Karolingerzeit alle Lokalverwaltung oblag. Gewöhnlich entstanden freie Land- und Stadtgemeinden dadurch, daß sich das herrschaftliche Dingvolk auch außergerichtlich versammelte und dabei als freie Einung konstituierte. Hiermit löst sich auch der alte Streit um die Frage, ob die Landstände des deutschen Territorialstaates im Kerne freie Einungen oder Zwangsverbände waren, ob sie ihr Dasein freier Einung zu verdanken hatten oder damit bloß ein Akzidens ihres Wesens gewannen (F. Keutgen 1918 S. 147 – 152). Der Begriff der freien Einung erfordert also nicht, daß ein Personenverband überhaupt von aller Herrschaft frei, daß er herrenlos sei, sondern lediglich, daß er sich (auch) unabhängig von herrschaftlicher Leitung einen Gemeinwillen bilden könne, und wenn er dabei gewiß stets auf die Interessen der Herrschaft Rücksicht
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zu nehmen hatte, so machte doch der Wille, diesen gegenüber gemeinsam das Interesse der Untertanen zu vertreten, den eigentlichen Zweck der gemeindlichen Emanzipation zu freier Einung aus. Obwohl die Herren die Aufgaben, die die Gemeinden aus diesem Anlasse in Selbstverwaltung übernahmen, gar nicht mehr selbst zu erfüllen vermochten, kränkte deren freie Einung ihren Stolz und erschwerte ihnen damit das Leben. Kein Wunder daher, daß sie, was die Rechtmäßigkeit des Freiheitsstrebens ihrer Untertanen anlangte, andere Ansichten hegten als diese, ja sich von ihnen bedroht fühlten, denn „Kommunalismus erträgt Herrschaft . . . Allerdings begünstigt er fürstliche, adelige und geistliche Herrschaft nicht“ (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 158). Das Verhältnis der freien Einungen zu ihren Gerichtsherren war daher immer prekär. Während sie selbst ihre Eigenständigkeit verteidigten, waren die Herren stets bestrebt, sie im Status herrschaftlicher Genossenschaften zu erhalten. Durch die Einung verbanden sich die Teilnehmer vertraglich sowohl jeder einzelne mit jedem anderen als auch mit der Gesamtheit aller derart, daß die Gesamtheit als Verbandsperson gegenüber den Genossen zwar eine selbständige Existenz führte, aber verpflichtet war, die Sonderzwecke jedes Genossen zu fördern (oben: § 12). Die Einzelwillen durften ebenso wenig die Gesamtheit lähmen wie diese sie unterjochen. Die Genossen besiegelten den Einungsvertrag mit einem eidlichen oder uneidlichen Versprechen, dessen Kern das Gelöbnis war, sowohl sich gegenseitig als auch dem Verbande insgesamt beizustehen, um die vereinbarten Zwecke zu erreichen, und dem Verbandswillen Gehorsam zu erweisen, solange der Einzelne auf dessen Bildung den ihm gebührenden Einfluß zu nehmen vermochte (oben: §§ 15, 169). Einung hieß nicht nur der Vertragsschluß, sondern auch die dadurch geschaffene verbandliche Rechtspersönlichkeit; erst im späten Mittelalter begann sich dafür das vom gelehrten Recht geschaffene Lehnwort Körperschaft einzubürgern (O. Gierke 1868 S. 562, 220 ff. K. Kroeschell 1971 Sp. 911. E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1147 f.). Das Versprechen schloß die Pflicht jedes Genossen ein, sich in Streitigkeiten, die aus der Einung entstanden, der Entscheidung zu unterwerfen, die die Gesamtheit treffen würde, anstatt sich mit einer Klage an das Grafen- oder Königsgericht zu wenden, was an sich jedem Genossen, als freiem Manne, freistand und auch immer wieder geschah, wenn einer den Spruch der Einung für ungerecht hielt. Hieraus ergab sich eine Konkurrenz zwischen einungsrechtlicher und gerichtlicher Streitbeilegung, die das Verhältnis der freien Einungen zu den Gerichtsherren nachhaltig belastete.
§§ 219 – 227. Frühe Orts- und Landgemeinden § 219. Da sich in der fränkischen Zeit, seit jedermann seßhaft geworden war, alle öffentliche Ordnung auf die herrschaftlichen Genossenschaften der Dingverbände und Regna gründete, bot sich für freie Einungen nur noch inner- oder unterhalb der von Grafen geleiteten Dinggenossenschaften, auf der Ebene der Dorf- und
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Landgemeinden, ein Tätigkeitsfeld. In der bäuerlich lebenden altfreien Bevölkerung, deren Hausväter mangels ausreichender Mobilität zur Sammlung mehrerer Haushalte in agnatischen Geschlechterverbänden kaum zu gelangen vermochten und vielfach darauf angewiesen waren, sich in den Schutz einer Reichskirche zu ergeben (oben: § 135a), trat an die Stelle des Geschlechtsverbandes die Interessengemeinschaft der Nachbarn als jener bäuerlichen Hausherren, die in derselben Gemarkung siedelten und ihre Höfe zu Weilern oder Dörfern zusammenlegten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob es der altfreie Eigentümer selber war, der den Hof bewirtschaftete, oder ob dies ein persönlich und dinglich von ihm abhängiger, also unfreier Mann tat. Je kleiner die Hofstelle war, und schon in den herrschaftlichen Einkünfteverzeichnissen des 9. Jahrhunderts ist die stark differierende Besitzausstattung von Voll- und Kleinbauern bezeugt, desto wesentlicher war für den Inhaber der Rückhalt an den Dorfgenossen, denn nur die Nachbarn, kaum aber die vielleicht weit entfernt wohnenden Verwandten konnten sich bei außergewöhnlichen Katastrophen und bei den regelmäßig wiederkehrenden, jahreszeitlichen Arbeitshäufungen gegenseitig Hilfe leisten, nur sie nahmen unmittelbaren Anteil an den Familienereignissen, von denen der Bestand der Hofstellen und Betriebe abhing, wie es Geburten, Hochzeiten und Todesfälle zu sein pflegten. Schon in der fränkischen Zeit traten daher Nachbarn als Zeugen oder Sachverständige auf, wenn es bei Streitigkeiten eines Dorfgenossen mit dem Dorf- oder Gerichtsherrn oder bei Unfrieden zwischen zwei Dorfgemeinden des Beweises für die traditionellen Rechtsverhältnisse bedurfte (W. Rösener in LMA 1 Sp. 1567). Wie sich einst in der Frühzeit der griechischen Geschichte die Nachbarn für die gegenseitige Sicherheit kollektiv verantwortlich gefühlt hatten und verpflichtet gewesen waren, auf jeden Hilferuf hin zur Unterstützung des Bedrohten herbeizueilen, weil Raub und Diebstahl nur gelingen konnten, wenn die nachbarliche Hilfe versagte, so bildeten die germanischen Dorfgenossen einen Rechtshilfeverband (oben: § 189), der zwar, als künstliche menschliche Schöpfung, zunächst nicht so fest geknüpft war wie die im Kerne auf natürlicher, verwandtschaftlicher Bindung beruhende Hausgemeinschaft, der dafür aber eines kräftigeren Wachstums fähig war als jene, da er eine Vielzahl von Hausherren und Hausgenossenschaften in sich aufnehmen konnte, auch wenn zwischen ihnen keine Blutsverwandtschaft bestand. § 220. Aus der Frühzeit der deutschen Verfassungsgeschichte ist fast nichts über diese gebietsbezogenen, auf gemeinsame Ansiedlung gegründeten Genossenschaften bekannt, da sich das Rechtsleben der Bauern noch ausschließlich mündlich vollzog. Wir haben also wiederum die ahd. Sprachdenkmäler zu befragen, und immerhin kennt schon der um 830 entstandene ahd. Tatian (M. Wehrli 1980 S. 57 f.) das Adjektiv nachbarschaftlich, und zwar in der Wendung gifeht gibûrscaflîh, die dem lat. Ausdruck für Bürgerkrieg entspricht (Ahd. Wb. Bd. 1 Sp. 1555, Bd. 3 Sp. 683 f. G. Köbler in LMA 2 Sp. 1107) und darauf schließen läßt, daß man die Siedlungsgenossen in lat. Texten als cives bezeichnete. Seit im 6. Jahrhundert die spätantike römische Stadtverfassung zerfallen war, hatte man unter cives die reichsten Grundbesitzer eines Stadtbezirks verstanden, die sich in der lokalen Selbstver-
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waltung betätigten, etwa als Bischofswähler oder, bei Herrscherwechseln, als zeremonielle Annehmer des neuen Königs und seines Gerichtsbeamten, des Grafen (M. Weidemann 1982 T. 2 S. 307 – 319. E. Pitz 1991 S. 93 – 95). Um diese altfreien Bürger von den jüngeren, erst seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts als politisch aktiv hervortretenden neufreien Stadtleuten zu unterscheiden, bediene ich mich für sie des Ausdrucks Herrenbürger (E. Pitz 1991 S. 288 f.). Seit sich bei den Franken und den rechtsrheinischen, später zum deutschen Volke zusammengewachsenen Stämmen das Bedürfnis hervortat, hierzu eine ahd. Übersetzung zu finden, bot sich offensichtlich vor allem das Wort gibûro (oben: § 93) an, das seit dem 8. Jahrhundert infolge der Gleichsetzung mit lat. civis den Sinn von Dorfnachbar, Dorf- oder Stammesgenosse, annahm (Ahd. Wb. Bd. 1 Sp. 1554 f. W. Rösener in LMA 1 Sp. 1563 f. G. Köbler in LMA 2 Sp. 1107). Als lat. Entsprechung für gibûro findet sich in den ahd. Glossen neben civis auch vicinus = Nachbar (W. Schlesinger 1954 S. 113 f.), doch wird der Plural gebûra ebenso mit lat. civici, municipes, incolae, affines, domestici, contubernales, contribuales, rustici, coloni oder proles wiedergegeben, also mit Bezeichnungen für Personengruppen, die sich nicht so sehr durch gemeinsames (politisches) Handeln als vielmehr durch passive Gemeinsamkeiten auszeichnen, wie es eben der Grundbedeutung des Wortes gebûra als Miteinwohner oder Nachbarn entsprach. Von den ahd. Äquivalenten ausgehend, kann man also nicht annehmen, daß das lat. Substantiv cives die Teilhaber an einem besonderen Recht oder gar Genossen einer zu dessen Erhaltung bestimmten Gemeinde kennzeichnen sollte. Eher haben wir uns darunter die ihren Rechts- und Standesverhältnissen nach sehr verschiedenen und nur wegen gemeinsamen Wohnens an einem und demselben Orte als Einheit erkennbaren habitatores oder incolae vorzustellen (G. Köbler 1966 S. 56 – 58). § 221. Was die cives in den Quellen des 9. bis 11. Jahrhunderts auszeichnet, das ist also das (gemeinsame) Wohnen in einer Siedlung, entweder das habitare in civitate, einem städtischen oder befestigten, oder das circa habitare in einem bestimmten, als geschlossen oder abgrenzbar angesehenen nichturbanen Bereich. Da habitare = sich (irgendwo) aufhalten, (be)wohnen, mit ahd. bûan übersetzt werden konnte, waren cives alle diejenigen, welche in derselben Stadt oder Gemarkung ein Haus erbaut hatten und bewohnten (oben: § 162a) oder – da habitare auch mit ahd. artôn = das Land bebauen, und ahd. bûan mit lat. colere = Land bebauen, ansässig sein, äquivalent war (H. Götz, Wb. 1999 S. 298, 113, 50) – gemeinsam oder nebeneinander in einer und derselben Gemarkung bäuerlich wirtschafteten und dort beneficia oder possessiones innehatten (G. Köbler 1966 S. 47, 54). Zu demselben Ergebnis führt die Betrachtung der lat. Ortsbegriffe des Frühmittelalters (G. Köbler 1972 S. 18 – 21). Deren ahd. Äquivalente lassen erkennen, daß für die Wortwahl der Volkssprache das Merkmal der Befestigung den Ausschlag gab: Unabhängig von ihrer Größe und sonstigen Beschaffenheit hieß jede befestigte Siedlung burg oder purg und jede offene Siedlung thorph oder dorf, denn ahd. burg erscheint als Entsprechung ausschließlich zu lat. arx, castrum, castellum, civi-
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tas und urbs und stellte damit befestigte Königshöfe wie Grone oder Werla auf eine Ebene mit Rom und Jerusalem, den Hauptstädten der christlichen Welt; dagegen gab man mit ahd. dorf einzig und allein lat. villa und vicus, daneben allerdings auch oppidum und municipium wieder, zwei lat. Begriffe, die offenbar nicht recht in die einheimische Terminologie einzupassen waren, weil ihrer altrömischen Definition hier nichts Wirkliches mehr entsprach. Ganz außerhalb dieser Begrifflichkeit steht ahd. stat, das allein mit lat. locus, jedoch nie mit einem der lat. Siedlungswörter übersetzt wurde, daher denn auch ahd. coufstat zwar einen Ort, an dem man etwas kaufen konnte, nicht jedoch unbedingt eine Siedlung meinte, wenn natürlich auch in Städten und Dörfern Kaufstätten vorhanden sein konnten. Die An- oder Abwesenheit von Handel und Marktverkehr bildete vor der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts noch kein Merkmal, das man bei der Charakterisierung von Ansiedlungen und der Abgrenzung der Burg gegen das Dorf beachtet hätte. Damit ist nicht gesagt, daß es nicht bereits stadtsässige Berufskaufleute gegeben habe. Ein solcher war gewiß jener Lantfrid, der in den Jahren 791 und (vor) 813 das Kloster Fulda mit Gold, Silber, beweglicher Habe, Unfreien und selbsterworbenem Gute beschenkte, das im Hafengebiet der Stadt Mainz belegen war; eines seiner Werkhäuser lag bei den Kornspeichern oder, wie die Urkunde sagt, iuxta loca qui illorum civium vel totius vulgarici sermonis dictu nuncupantur ad hrachatom in ripa Hrenis fluvii (UB Fulda 1, 286 n. 190, 317 n. 219. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 172. L. Falck 1972 S. 49). § 222. Innerhalb des Begriffs der befestigten Siedlung trat jedoch den historischen Quellen zufolge eine weitere Unterscheidung ein. Unter lat. civitas oder urbs verstanden die germanischen Völker auf später deutschem Boden noch im 9. Jahrhundert ausschließlich die in römische Zeit zurückgehenden, daher ummauerten und mit einer Bischofskirche ausgestatteten linksrheinischen Städte, so daß es östlich des Rheins und nördlich der Donau, wo den Römerstädten vergleichbare Siedlungen nicht anzutreffen waren, auch keine civitates geben konnte (W. Schlesinger 1954 S. 143 – 145. G. Köbler in LMA 1 Sp. 2113 f.). Seit dem Jahre 880 etwa trat jedoch ein Wandel im Sprachgebrauch ein. Seither konnten auch im Inneren des Ostfränkischen Reiches Siedlungsstätten als civitates und urbes bezeichnet werden, weil man die Begriffe nun auf alle Burgen mit zentralörtlichen Funktionen sei es weltlicher, sei es geistlicher Art zu erstrecken begann, also sowohl auf Bischofsburgen oder befestigte Domimmunitäten, wie sie seit Bonifatius’ Zeiten neugegründet worden waren, als auch auf befestigte Formen jener Höfe (curtes), von denen aus die karolingischen Könige das Reichsgut verwalten ließen (W. Schlesinger 1954 S. 147. E. E. Stengel 1953). Derartige befestigte Herren- oder Königshöfe waren die Mosapurc regia civitas, in der König Arnulf im Jahre 890 urkundete (DArn. 75), und die urbs, die Heimo zu der Zeit in der bayerischen Ostmark erbauen sollte (DArn. 32), ferner die achtzehn urbes, die das noch vor 900 entstandene jüngste Stück des Hersfelder Zehntverzeichnisses im sächsischen Hosgau nennt (UB Hersfeld 1, 65 n. 37 c. 2), die
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ummauerte civitas Weilburg an der Lahn (DKo. I. 26) und dann später die bereits erwähnten Königspfalzen Grone und Werla. Über die Gründe des sprachlichen Wandels lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht ist in ihm „zugleich ein Anzeichen für die Ausgliederung Deutschlands aus dem karolingischen Reiche“ zu erkennen, einen Vorgang also, der zeitlich mit dem Aufkommen der ostfränkisch-deutschen Adelsherrschaft korrespondiert (oben: § 139) und im Bereich des Burgen- und Städtewesens mit der Abwendung von den letzten, im Karolingerreiche noch gepflegten Resten spätrömischer Staats- und Verwaltungstradition verbunden war (W. Schlesinger 1954 S. 148 f.). § 223. Wie aber steht es um die Verfassung, um das Rechtsleben dieser orts- und gebietsbezogenen, auf das Zusammenwohnen von Hausvätern begründeten Gemeinschaften? Bildeten sie sich einen Gemeinwillen und waren sie in der Weise rechts- und handlungsfähig, daß wir ihnen den Status von freien Einungen oder Genossenschaften beilegen können? Ist anzunehmen, daß man von ihnen in lat. Sprache als universitas, communio, generalitas, congregatio hätte sprechen können (oben: § 183)? Aus dem Gebrauch des Wortes civis geht das nicht ohne weiteres hervor. Als ahd. Entsprechungen dazu erhalten wir einerseits den Singular burg(v)âri, der auch lat. oppidanus, municeps und urbanus übersetzte, und andererseits den Plural burgliuti als Glosse zu lat. cives und urbani. Insoweit bezeichnete das Wort die Männer (die Endung -uara gehört zu ahd. wer und lat. vir) oder Leute von der Burg, ohne daß damit mehr als die bloße Tatsache des Lebens im urbanen Bereich oder, wie in der Lantfrid-Urkunde, die Zugehörigkeit zur städtischen Sprachgemeinschaft ausgedrückt wäre (G. Köbler 1966 S. 57). Aber eine rechtliche Komponente in dem Sinne, daß sich die Burg- oder Stadtbewohner durch ein gemeinsames Recht von anderen Leuten unterschieden, geschweige denn sich durch den Besitz einer allen gemeinsamen Freiheit vor anderen ausgezeichnet hätten, ist in dem Sprachgebrauch des 9. bis 11. Jahrhunderts noch nicht zu erkennen und war auch in der historischen Wirklichkeit dieser Zeit noch nicht gegeben. Namentlich in den alten Bischofsstädten waren nebeneinander beamtete freie Grundbesitzer wie König, Bischof, Propst und Abt, altfreie Grundeigentümer, freie Ergebungsleute der ersteren und unfreie Hintersassen ihrer aller neben fremden Kaufleuten und Juden, die im Königsschutz standen, derart ansässig, daß sich ihrer aller Grundbesitz in Streulage über das ganze Stadtgebiet verteilte und überall miteinander vermengte (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 130, 176, 201 f.). Eine Gemeinschaft aller Burgleute hätte also Männer sehr verschiedener Rechtsstellung und damit auch Angehörige verschiedener Personalverbände (oben: §§ 198 – 201) zu einer gebietsbezogenen Gemeinde zusammenfassen müssen. Davon aber ist vor dem Ende des 11. Jahrhunderts in den Quellen nichts zu bemerken. Denn solange hießen cives nicht nur die Burgleute, sondern auch die Dorfbewohner, oder wie Notker der Deutsche schreibt: cives etiam dici possunt, qui in agris habitant in demo geuue, genauso, wie beide Gruppen auch ahd. gebûra genannt wurden. Dieses ahd.
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Substantiv konnte man jedoch, wenn die Vorstellung von cives gemeint war, nicht mit Begriffen wie provinciales oder pagenses wiedergeben, womit man die in einem Lande sitzenden Rechtsgenossen zu bezeichnen pflegte (G. Köbler 1966 S. 58 f. Oben: § 212). Cives wohnten zwar neben anderen in dem Gau, machten aber nicht die Gauleute schlechthin aus; sofern sie zum pagus gehörten, mußte man dieses lat. Wort mit ahd. thorf und thorfliut = Dorf und Dorfbewohner übersetzen, während es im Sinne von Land(rechtsgemeinde) mit ahd. geuuimez = Gaubezirk wiederzugeben war (H. Götz, Wb. 1999 S. 460). Soweit cives in Burgen oder Städten hausten, dürfte das Volk von gibûra, burgâra oder burgliut, soweit sie in offenen Siedlungen lebten, dagegen von gibûra oder thorfliut gesprochen haben. § 224. In den Königsurkunden des 9. und 10. Jahrhunderts kommt das Wort civis nur sehr selten vor, wie bei einem ganz dem lokalen Gemeinschaftsleben angehörigen Begriff nicht anders zu erwarten ist. Kaiser Karl III. gewährte im Jahre 885 der Kirche zu Chalon-sur-Saône das Recht der kanonischen Bischofswahl, weil die cives daselbst den baldigen Tod ihres hochbejahrten Hirten befürchteten (MGH. DK. III. 119); für gewöhnlich sah die Kanzlei jedoch den Klerus und die populi einer bischöflichen Kirche als Kiesende an (MGH. DKn. 22 und Vorurkunden). Als König Arnulf seinem Getreuen Heimo für dessen Eigenbesitz im Grünzgau in der Ostmark die erbliche Gerichtsbarkeit verlieh, wies er ihm auch ein Drittel der davon dem Gau- und Markgrafen zustehenden Gerichtsgefälle zu, qui dicuntur civiles banni und de gente inibi in proprio suo residente oder de eodem populo anfielen (MGH. DArn. 32 S. 48 Z. 26 – 31); das Adjektiv läßt darauf schließen, daß man das Grafschaftsvolk, das dort dingpflichtig war, oder dessen Worthalter, die dem Grafen die Urteile wiesen, hätte auch als cives bezeichnen können. Derselbe Personenkreis war gemeint, als Kaiser Otto I. im Jahre 972 die cives Curienses nach Konstanz bestellte, um sie nach dem wahren Eigentümer des Hofes zu Zizers zu befragen, denn die Urkunde nennt als Erschienene elf namentlich genannte Personen aliosque eiusdem comitatus optimos quam plures (MGH. DO. I. 419b S. 573 Z. 20, 28 – 29). In dem Inquisitionsakt heißen dieselben Leute electi viri ex Retia und veri homines aliique obtimi ex Retia (DO. I. 419a S. 573 Z. 13, 19 – 20). Wiederum treten als cives die Vornehmsten und Worthalter des Grafschaftsvolkes in Erscheinung; unter ihnen befanden sich auch diejenigen Nachbarn des Hofes zu Zizers, die über dessen Rechtsverhältnisse genau unterrichtet waren und von ihnen aus eigener Erfahrung und eigenem Willen ein wahrhaftes Zeugnis geben konnten. § 225. Von einer Gemeinde, welche die cives innerhalb einer Grafschaft und offensichtlich unabhängig von ihr gebildet hatten, berichtet ein Diplom aus dem Jahre 951, mit dem König Otto I. dem Kloster Fulda den Wildbann im Walde von Echzell bestätigte. Zu dem seit 782 von dem Abte von Fulda verwalteten Königshof Echzell gehörte nämlich ein Forst, in dem prius erat communis civium venatio; von jetzt an durfte jedoch niemand mehr den Forst in der Absicht, darin zu jagen, betreten, ohne die Erlaubnis des Abtes zu besitzen (MGH. DO. I. 131). Diese Er-
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laubnis hatte bis dahin zweifellos die Gemeinde der Jagdberechtigten erteilt, denn auf die Existenz einer solchen dürfen wir aus dem gemeinen Jagdrecht aller cives schließen. Da der Forst zur königlichen Grundherrschaft gehörte (C. Dasler 2001 S. 87 f.), bedurfte die neue Regelung weder einer Beleihung des Abtes mit dem Königsbann noch der Zustimmung der Jagdgemeinde, wie es erforderlich gewesen wäre, wenn der König kraft amtlicher Hoheit durch Übertragung des Wildbanns das Jagdrecht in Gebieten privaten Grundbesitzes regulierte. Ebenso gewährte Kaiser Konrad II. im Jahre 1029 dem Bischof von Minden das Forstrecht über ein Gebiet, welches im Entergau lag, mit Zustimmung civium in eadem silva usque modo communionem venandi habentium (MGH. DKo. II. 137. C. Dasler 2001 S. 149). Gleich den cives des Entergaus müssen die cives von Echzell edelfreie Dinggenossen ihrer Grafschaft gewesen sein, derjenigen der Wetterau, in der Echzell gelegen war, denn wollte man sie zur familia des Königs- oder Klosterhofes rechnen, so hätte es keines königlichen Gebotes bedurft, um ihrem Verbande die Verfügung über das Jagdrecht zu entziehen. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir diese cives mit den Personenkreisen vergleichen, die zur Verleihung des königlichen Wildbannes an geistliche Fürsten ihre Zustimmung erteilen mußten. Wie sich mit Hilfe einer tüchtigen Göttinger Dissertation jetzt leicht feststellen läßt, bezeichnete die Reichskanzlei diese Gruppen zunächst als populus (DO. II. 50, DH. III. 260. C. Dasler 2001 S. 122, 182) oder milites in circuitu habitantes (DO. III. 43. Ebd. S. 235), sodann seit der Regierung Kaiser Heinrichs II. als vicini comprovinciales, provinciarum illarum optimates oder comprovinciales inibi predia habentes (ebd. S. 49, 68, 69, 75, 95, 133, 147, 246) oder auch zugleich als compagienses (ebd. S. 248), und seit Heinrich IV. als quicumque aliquod predium aut beneficium in his prescriptis terminis possederunt oder ähnlich (ebd. S. 99, 118, 120, 127, 192, 280). Kaiser Heinrich III. gewährte statt dessen dem Inhaber des Wildbannes pacem et securitatem de caeteris conterminalibus oder comprovincialibus et circumsedentibus (ebd. S. 95, 117, 244). Alle diese Ausdrücke schreiben die Jagdberechtigten jenem Personenkreise zu, den wir als grundbesitzende Herrenbürger, Landleute, Nachbarn und Dorfleute bereits kennengelernt haben (oben: § 212), und wie in den lat. Worten terra und territorium die doppelte Vorstellung von einem höheren, grafschafts- oder landesweiten Personenverbande und von dem engeren der beisammenwohnenden Burg- und Dorfleute enthalten war, so ist es bei den cives als Herrenbürgern und Umwohnenden der Fall, aus denen sich die Genossenschaften der Jagdberechtigten zusammensetzten. Diese Jagdgenossenschaften, communionem venandi habentes o. ä. (C. Dasler 2001 S. 149, 192, 210, 246, 248), dürfen wir für freie und unbeschworene Einungen halten, da sie überall älter, nämlich zur Zeit, da der König seine Verfügungen über Jagdrecht und Wildbann erließ, bereits vorhanden waren und überall dem Anscheine nach eine den Interessen des Königs, der geistlichen Fürsten und der freien Bauern widersprechende Politik betrieben, der der König nicht anders als durch Einforstung der Jagdgebiete und Bestellung geistlicher Großer zu deren Ver-
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waltern begegnen konnte, was schwerlich möglich und nötig gewesen wäre, wenn die Jagdgenossen bereits den König oder seinen Amtmann zum Herrn angenommen hätten. Wären sie jedoch Eidgenossen gewesen, so hätte dies dem Könige und seinen Grafen gewiß eine Handhabe geboten, um die rechtliche Existenz ihres Verbandes in Frage zu stellen. Gewiß konnte sich schon im 8. und 9. Jahrhundert niemand mehr an eine Einung erinnern, mit der diese Genossenschaften begründet worden sein mochten. § 226. Dasselbe wird von den Genossen der Nachbarn gelten, die gemeinsam die Äcker einer und derselben Feldmark bestellten und sich wegen Wege- und Weiderechten und Nutzung der Allmende seit jeher hatten untereinander verständigen müssen, ohne daß es jemals einer aktuellen Einung und eines ausdrücklichen Beitritts der im Wechsel der Generationen einander als Hofbesitzer nachfolgenden Genossen, geschweige denn eines Beitrittseides bedurft hätte. Alle diese (gebietsbezogenen) Genossenschaften dürften unbeschworene und herrschaftsfreie Verbände gewesen sein und deswegen auch keine Verbandsgerichtsbarkeit besessen haben; man betrachtete ihre Willküren als nach Landrecht gültige Vereinbarungen und trug aus dem Vertragsverhältnis entspringende Streitigkeiten vor den Gerichten des Grafen und seiner Unterrichter aus. Eine solche durch unbeschworenen Vertrag begründete und von keinem Herrn bewilligte Einung dürften jener Walto und seine vierzehn namentlich genannten Gefährten (socii = Sippengenossen?) gebildet haben, die von einer villa Berghohe aus ungenutzten Grund und Boden nahe dem Flüßchen Haune als captura oder Bifang, d. h. durch rechtsförmliche Eingrenzung und Aneignung, in Besitz genommen hatten und diesen Bifang später, im Jahre 801, dem Kloster Fulda derart schenkten, daß Herrschaft (dominium) und Nutzungsrecht auf dieses übergehen sollten (UB Fulda 1, 397 n. 275 und S. 639 s. v. socii. M. Gockel 1976 S. 6, 18 – 23). Die fünfzehn socii waren altfreie Grundbesitzer und Dinggenossen des Grafengerichts, dessen Rechtsprechung der Bifang solange unterlegen haben wird, bis er ihm durch die Klosterimmunität entzogen wurde. Für einen anderen in diesem Gebiet belegenen Bifang, den vierzehn genannte freie Grundeigner gemeinschaftlich dem Kloster Fulda übertragen hatten, ist es bezeugt, daß die Klage weiterer Männer wegen eines Anteils an dem angeeigneten Lande im Grafengericht beigelegt worden ist: Anno 827 factus est conventus publicus in loco qui dicitur Suuarzesmuore, bei dem der Bifang gelegen war, wozu Abt Hraban von Fulda, Graf Poppo und dreizehn genannte maiores natu de comitatu eius erschienen waren, und hier wurde die Klage ita diffinita et pacata, daß der Abt die Kläger entschädigte und diese vor den genannten nobiles viri erklärten, quod ulterius in illa captura nullam communionem habeant (Loersch / Schröder / Perels, Urk. S. 31 n. 44 = Quellen hg. von G. Franz S. 96 n. 37). Das Rechtsverhältnis, in dem die Genossen der captura untereinander standen, war also eine communio oder Gemeinde (H. Götz, Wb. 1999 S. 120), und da die Aneignung des Bifangs das Abmarken seiner Grenze voraussetzte, können wir wohl von einer
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Markgemeinde sprechen. Die Markgenossen waren zugleich Rechts- und Dinggenossen der Grafschaft und hätten in anderem Zusammenhange zweifellos auch als cives bezeichnet werden können. Derartige Jagd- und Markgenossenschaften stehen zu den Grafschafts- und Dingverbänden in demselben Verhältnis, das wir auch zwischen den beiden wesentlichen, in den Begriffen terra, territorium, pagus, land, gebûra, gibûrida usw. enthaltenen Vorstellungselementen angetroffen haben, nämlich des engeren zu dem weiteren Gemeindeverbande, des Teils zu dem Ganzen, welches dem lokalen öffentlichen Leben als verfassungsmäßiger Rahmen diente. Das Wort civis scheint besonders gut dazu geeignet gewesen zu sein, den zur Teilnahme an diesem öffentlichen Leben berechtigten Verbandsgenossen zu bezeichnen, soferne wir es dabei mit freien, von keiner Herrschaft gelenkten Einungen zu tun haben. § 227. So ergeben sich gegenüber dem unpolitischen, von Inhalten rechtlicher Bedeutung noch ganz freien Gebrauche des Wortes civis, der oben festgestellt worden ist, doch etliche sachliche Hinweise darauf, daß cives mehr miteinander gemein hatten als den Wohnort. Notker der Deutsche spricht denn auch einmal über streitige Fragen, die, wenn sie inter cives ausgetragen würden, civiles hießen, was im Ahd. purgliche alde gebûrliche bedeute (W. Braune, Lesebuch 1928 S. 60 Z. 50 – 51. Ahd. Wb. Bd. 1 Sp. 1552 f.). Damit meinte er streitige Beratungen über die Eignung bestimmter Personen für öffentliche Ämter, wie sie zu Ciceros Zeiten nach den Regeln der Rhetorik auf dem Forum ausgefochten worden waren, und ihnen stellte er die Disputationen der Philosophen gegenüber, die keine civiles seien. Für städtische und für Burschaften überhaupt, was immer sie auch an eigenen Angelegenheiten zu verwalten haben mochten, waren derartige politische Beratungen in ahd. Zeit zweifellos charakteristisch. Sie werden die cives nicht nur dann, wenn Bischöfe zu kiesen oder zu vertreiben waren oder der König anzunehmen war, sondern auch bei anderen Anlässen bewegt haben. Die ahd. Bezeichnung für die Frühformen von Gebietsgemeinden könnte gibûrskaf gelautet haben, wenn es auch für diesen Sprachgebrauch Belege in größerer Zahl erst seit dem Ende des 12. Jahrhunderts gibt (W. Schlesinger 1954 S. 113 f. G. Köbler in LMA 2 Sp. 1107) und in dieser Zeit die Beziehung des Wortes auf einen nicht mehr notwendigerweise dörflichen Personenverband von Grund- oder Grundstücksbesitzern, also auf eine städtische oder bäuerliche Realgenossenschaft, bereits deutlich hervortritt. Das Wort darf nicht als Bauerschaft verstanden werden, da sich der Rechtsbegriff des Bauern oder Landwirts (rusticus) erst seit dem 10. Jahrhundert allmählich und in demselben Maße herausbildete, wie die soziale Differenzierung des Volkes in Bauern und Ritter (oder Berufskrieger) voranschritt (W. Rösener in LMA 1 Sp. 1563 f. G. Köbler in LMA 1 Sp. 1571 f., 2 Sp. 1107). Bis dahin waren alle Hausherren und Verbandsgenossen freie Männer mit Gerichtsstand vor den öffentlichen oder königlichen Gerichten, auch wenn sie in Burgen oder Städten wohnten. So gibt es aus späteren Zeiten zahlreiche Belege für urbane geburschap, burmeister, burmal und bur-
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recht, und so erklärt es sich, daß das Bürgerrecht in Köln noch 1180 Burschaft hieß und daß der Bürgereid auf den Geburhäusern der Kölner Kirchspiele geleistet wurde, wo die Amtleute der Teilgemeinden auch die Bürgerlisten führten (M. Groten 1995 S. 8 f.). Nichts freilich deutet darauf hin, daß die Gemeinden der cives bereits in früher Zeit besondere, vom Volksrecht abweichende, oder richtiger gesagt, materiell über das Volksrecht hinausgehende Ortsrechte ausgebildet hätten. Zwar hat Notker um die Jahrtausendwende auch einmal in einigen Sätzen, die den Historikern durch den Abdruck an prominenter Stelle (Keutgen, Urk. 1901 S. 44 n. 74) seit langem bekannt sind, von einem Burgrecht gesprochen, aber der Passus gehört wiederum in eine Beschreibung altrömischer Zustände mit der schulmäßigen Erklärung des Unterschiedes, den die antike Rechtstheorie zwischen natürlichem und positivem Rechte oder, wie Notker sagte, zwischen ius naturale und der consuetudo iuris civilis herausgearbeitet hatte, und dafür erfand der Verfasser das ahd. Wort burgreht als Glied-für-Glied-Übersetzung von lat. ius civile. In den genannten Sätzen führt Notker zwei Beispiele für jenes positive Recht an, das in seinen schriftlosen Zeiten nur als Gewohnheitsrecht existierte, nämlich das von den Kaufleuten auf dem Jahrmarkte im Streite ausgehandelte Vertragsrecht und das rechtsförmlich durch Urteil im Gericht gewiesene Recht, wie es in Rom die iuridici erkannt hätten, „die das Burgrecht im Ding sagten“ (G. Köbler 1974 S. 6, 11 – 13, 67 – 70). Sein Zeugnis ergibt also nicht mehr, als daß zu seiner Zeit cives oder Herrenbürger auch als Urteiler oder Schöffen in den öffentlichen Gerichten ihrer Grafschaften anzutreffen waren (oben: § 199). Es besteht also kein Grund, um Notkers Burgrecht mit dem spätmittelalterlichen Stadtrecht gleichzusetzen und die Existenz einer geschworenen Einung von Bürgern in Konstanz anzunehmen (so W. Schlesinger 1954 S. 97 ff.), die dieses Stadtrecht bereits im 10. Jahrhundert geschaffen und Notker zu seiner Begriffsbildung angeregt habe. Weder coniurati cives noch ein ius civile im Sinne des späteren ius civitatis noch ein ius mercatorium als allgemeines, interlokal gültiges Handelsrecht sind im Ostfränkisch-Deutschen Reiche vor dem Beginn des 12. Jahrhunderts nachweisbar (G. Köbler 1966 S. 49 f., 62, und 1974 S. 2, 5, 7, 70 f. A. Cordes 2001 S. 178).
§§ 228 – 236. Ortsgemeindliche freie Willensbildung § 228. Schon im 10. Jahrhundert ist allerdings zu bemerken, daß das Einungsrecht in besonderem Maße allen jenen zu Hilfe kam, die aus der Unfreiheit heraus zu einer neuen Freiheit emporstrebten, denn dazu bedurfte jeder einzelne von ihnen der Freilassung durch seinen Herrn, und dessen Wille ließ sich leichter beeinflussen, wenn die Interessenten ihm zu einem Verbande geeint gegenübertraten, als wenn jeder von ihnen für sich alleine sein Glück versuchte. Das erste Beispiel hier-
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für gewährt uns eine Privaturkunde aus Lothringen (Quellen hg. von G. Franz 1967 / 1974 S. 118 n. 46), die eine im Jahre 967 zu Metz öffentlich vollzogene Handlung beschreibt. Diese Urkunde ist nicht nur vom geistlichen Herrn der Petenten, von dessen Hochvogte Pfalzgraf Dietrich, von dem Richter Anselm und einundzwanzig namentlich genannten Laien bezeugt, sondern auch von einem Kanzler Johannes geschrieben und unterschrieben, in dem wir einen der letzten öffentlichen Gerichtsschreiber vor uns haben, die in der fränkischen Zeit vom Könige oder vom Grafen für den Bezirk einer jeden Grafschaft bestellt worden und an allen Dingstätten einer Grafschaft tätig gewesen waren. Bei den Völkern rechts des Rheins freilich hatte selbst Kaiser Karl der Große diese Institution nicht einwurzeln können, aber auch in Lothringen und Alamannien war sie seit dem 9. Jahrhundert im Begriff, dem Mißtrauen des germanischen Rechtsgefühls wider Schrift und Schriftbeweis und der Zersetzung der Grafschaften durch Immunitäts- und Vogtgerichte wieder zu erliegen (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 591 – 594. G. Despy 1961 S. 1128 – 1132). Die Urkunde berichtet, die Leute von dem Klostergute Maurivilla seien dem Abte von St. Arnulf zu Metz zu ungemessenen Diensten verpflichtet gewesen, nun aber hätten sie dem Abte die Forderung, postulatio (Quellen hg. von G. Franz S. 118 Z. 32), vorgetragen oder ihn gebeten, expetere (ebd. Z. 19 – 20), ihre Pflichten zu bemessen und auf das in den umliegenden kirchlichen Bannbezirken, potestates (ebd. Z. 25), übliche Maß herabzusetzen. Nach langer Beratung mit den Klosterbrüdern habe der Abt beschlossen, gemäß dem Vorschlage seines Vogtes, den sehr viele seiner geistlichen und weltlichen Getreuen unterstützten, die Forderung zu erfüllen, da auch die Leute von dem Klostergute den neuen Normen einer wie der andere oder samt und sonders zugestimmt hätten, ipsis . . . hominibus cunctis pariter assentientibus. Notker übersetzte zu der Zeit lat. pariter unter anderem mit ahd. samosô und samant (H. Götz, Wb. 1999 S. 464), und mhd. Glossare geben als Äquivalente miteinander, gleichlich, sämtlich, an (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 413). In einer Trierer, ebenfalls von einem cancellarius angefertigten Privaturkunde von 952 heißen die Leute eines villicus, der in ihrem Namen mit dem Erzbischof paktierte, sui pares oder sui sodales (G. Franz, Quellen S. 116 n. 45). Was der Abt seinen Bauern damit vergönnte, war eine Freiheit, wenn auch gewiß keine so vollkommene, wie sie die erst zwei Jahrhunderte später in Lothringen aufkommenden chartes d’affranchissement gewähren sollten. Indessen verbesserte er die individuelle Rechtsstellung der Hörigen doch so weit, daß die Urkunde ihre Rechte am in Sondernutzung gehaltenen Boden und an der Allmende als ius oder libertas ingenuitatis und als libera possessio bezeichnen konnte (ebd. S. 120 Z. 18 – 20. G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 5 S. 300. Ch.-E. Perrin 1935 S. 230 – 232). Es handelte sich für jeden einzelnen der Nachbarn oder Genossen lediglich um einen ersten Schritt auf der Skala der Freiheiten, die man durch Akkumulation von Teilfreiheiten schließlich doch einmal bis zur höchsten Sprosse der vollen Neufreiheit erklimmen konnte (oben: § 148).
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Aber nicht darin liegt die Bedeutung der Urkunde, sondern in dem bemerkenswerten und uns hier zum ersten Male bezeugten Umstande, daß sich die hörigen Bauern eines grundherrlichen Haupthofes gemeinlich, die als Urteilsweiser in dessen Hofgericht bisher lediglich einen herrschaftlichen Verband gebildet hatten, jetzt von ihrer Herrschaft emanzipierten, ihr als geeinte Genossenschaft in deren älterer Form, nämlich noch nicht durch Worthalter, sondern als samt und sonders (oben: § 16) Handelnde, gegenübertraten und dem Willen des Herrn einen eigenen Verbandswillen entgegensetzten. Dies geht vor allem daraus hervor, daß sie den Konflikt mit ihrem Herrn nicht in dem Hofgericht zu Maurivilla ausfochten, in dem sie lediglich als herrschaftliche Genossenschaft agieren und nur gemeinsam mit dem Herrn einen Verbandswillen haben konnten, sondern ihn vor das grafengleiche Vogtgericht zu tragen vermochten, in dem sie als Neufreie und mit dem Herrn gleichberechtigte Partner auftraten. § 229. Man hat Vermutungen darüber angestellt, ob die Bauern die Einwilligung des Abtes und die Verbesserung ihrer Rechtslage durch eine in der Urkunde nicht erwähnte einmalige Zahlung erkauft (Ch.-E. Perrin 1935 S. 236) oder gar durch Gewaltandrohung erzwungen hätten, da doch die Bauern der Normandie, um ähnlichen Forderungen Nachdruck zu verleihen, nicht mehr nur dorfgemeindeweise mit ihren Herren verhandelten, sondern auf Versammlungen innerhalb der Grafschaften je zwei Worthalter erkoren, um ihre Willen auf einer Landesversammlung übereinzutragen, bevor sie im Jahre 987 zu offenem Aufruhr schritten: Rustici, unanimes per diversos totius Normannice patrie comitatus plurima agentes conventicula, iuxta suos libitus vivere decernebant, quatinus tam in silvarum compendiis quam in aquarum commerciis, nullo obsistente ante statuti iuris obice, legibus uterentur suis. Que ut rata manerent, ab unoquoque cetu furentis vulgi duo eliguntur legati, qui decreta ad mediterraneum ferrent roboranda conventum. Das vom Herzoge entsandte Heer jedoch, non morans iussa, cunctos confestim legatos cum nonnullis aliis cepit, truncatisque manibus et pedibus inutiles suis remisit, qui eos a talibus compescerent; so entsagten die rustici ihren contiones und kehrten an die Pflüge zurück (Gesta Norm. Duc. V 2. R. Hilton 1973 S. 70 f.). Wenn hier die bäuerliche Einungsbewegung so rasch zu einem landesweiten Gemeindebunde fortschreiten konnte, so dürfte sie allerdings von freien Bauern, von cives oder Herrenbürgern, getragen worden sein, die sich in der Verwaltung der Grafschaften entsprechende Erfahrungen angeeignet hatten, wie denn auch ihre Forderungen nicht die Höhe von Diensten und Abgaben, sondern die freie Nutzung der Allmende betrafen. Was das Herzogtum Oberlothringen und die Bauern von Maurivilla anlangt, so mögen die Nachrichten aus der Normandie sie angespornt haben, doch dürften solche Überlegungen hinfällig werden angesichts der Tatsache, daß der normannische Bauernaufstand von 987 der letzte in einer langen Reihe frühmittelalterlicher Ereignisse dieser Art geblieben ist und daß die Urkunde des Metzer Vogtgerichtes
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von 967 noch heute im Original erhalten ist – überliefert worden sein kann sie aber schwerlich im Besitz der begünstigten Dorfgemeinde zu Maurivilla, sondern wohl nur im Archiv der geistlichen Dorfherrschaft, von der jene Erwägungen annehmen, sie habe das Übereinkommen als Niederlage erfahren: Wäre jedoch das der Fall gewesen, so hätte sie die Urkunde schwerlich so sorgfältig asserviert. Die Anerkennung der Gemeinde, die in der Annahme der Postulation lag, muß also doch wohl auch in ihrem Interesse gelegen haben. Gleichwohl ist deutlich, daß das Vorgehen der Bauern etwas Revolutionäres an sich trug, da sie sich gemeinlich einen Willen unabhängig von ihrem Herrn und folglich in freier Einung gebildet hatten, auch wenn sie sich das Verfahren ihrer Willensbildung zuvor unter dessen Leitung in ihrem Hofgerichte angeeignet hatten. Die freie Einung ging aus der herrschaftlichen hervor, obwohl sie auf einem anderen Rechtsgedanken beruhte. Weil sich die Bauern in der gemeinsamen mündlichen Weisung und Bewahrung ihres Rechtes bereits im Hofgericht geübt hatten, bedurfte es keines Schwurbundes, um sie jetzt in freier Einung handlungsfähig zu machen. Weder die Herrschaft noch der Vogt konnte daher gegen sie gemäß den alten Verboten (oben: § 174) wie gegen Verschwörer vorgehen. § 230. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts mehren sich die Zeugnisse für selbständige Tätigkeit neufreier Gebietsgemeinden. Nach einer unechten, inhaltlich aber wohl glaubwürdigen Urkunde Herzog Rudolfs von Schwaben (1057 – 1080) brachten die Bewohner der Länder Uri und Glarus, incolae provinciarum Uranie et Clarone, unter Umgehung des gräflichen oder herzoglichen Landesherrn einen Grenzstreit unmittelbar vor das Gericht König Heinrichs IV. Als Worthalter von Uri erhoben dort nämlich dessen Herrenbürger, cives enim Uranie, Klage wegen Übergriffen, die von den Genossen in Glarus, a concivibus Clarone, begangen worden seien (Quellenwerk Schweiz I, Bd. 1, 40 n. 83. J. Fikker / P. Puntschart 1911 S. 155. H. Maurer 1978 S. 136 Anm. 42, S. 203, 208, 212). Nicht viel jünger werden die Zustände sein, die uns eine in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gefälschte und im Gewahrsam der begünstigten Gemeinde überlieferte Königsurkunde (MGH. DH. II. 532) zu erkennen gibt: Der König habe omnes homines Bergalliensis comitatus in seinen Schutz genommen und ihnen iura et libertatem bestätigt, und da er sich bei ihnen hinfort nur noch durch einen Sendboten, certus nuncius, vertreten lassen wollte, habe er Herzögen oder Grafen, die im Lande ständig hätten anwesend sein können, ausdrücklich seine Vollmacht entzogen. Dies lief auf die nahezu uneingeschränkte Anerkennung einer herrschaftsfreien Grafschafts- oder Landesgemeinde und ihrer Selbstverwaltung hinaus. Nur gewisse Abgaben, die dem Bischof von Chur als Inhaber der Grafenrechte zustanden, dauerten fort; sie wurden jedoch von den Gemeinden im Lande selbst erhoben und an den Bischof abgeführt, weil dieser keine eigene Verwaltung im Lande hatte einsetzen können (O. P. Clavadetscher 1964 S. 222, 225). Die Landleute des Bergell dürften aus wenigen Altfreien und vielen neufreien, auf altem Königsgute sitzenden Zinsleuten bestanden haben (ebd. S. 220, 226).
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Um die gleiche Zeit, so ist zu vermuten. entledigten sich die Friesen östlich der Lauwers soweit ihrer gräflichen Herrschaft, daß ihre Gemeinden auf gemeinsamen Landesversammlungen nach eigenem Willen das allgemeingültige Landrecht formulieren konnten (H. Schmidt 1975 S. 53 – 56). § 231. Als politisch und verfassungsgeschichtlich besonders einflußreich erweisen sich die orts- oder gebietsbezogenen freien Einungen dort, wo das Verbandsinteresse die Untertanen mehrerer verschiedener Herrschaften ergriff und damit deren personenbezogene Untertanenverbände oder herrschaftliche Genossenschaften zu zersetzen drohte. Dies war insbesondere in den Bischofsstädten der Fall, wo der Grundbesitz vieler altfreier Herren und Herrenbürger gestreut im Gemenge lag und die Amtsgewalt der Grafen viel stärker beschränkt war als auf dem Lande, weil die stadtsässigen Bischofs-, Stifts- und Klosterkirchen vielfach mit Immunität begabt waren und im Verlaufe des 9. Jahrhunderts das königliche Zoll- und Münzrecht erworben hatten (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 133, 135. E. Pitz 1991 S. 145 – 148). Zudem mißtrauten die zuwandernden neufreien Gewerbeleute den vom Könige eingesetzten Grafen und bischöflichen Stadtherren, deren nach Volksund Landrecht urteilende Gerichte rechtliche Selbsthilfe und Fehde nicht so weit einzudämmen vermochten, wie es das Friedensbedürfnis der Marktbeschicker verlangte (oben: § 162b). Daher taten sie sich in Einungen zusammen, um sowohl dem Einzelnen beim Aufstieg auf der Skala der Freiheiten behilflich zu sein als auch das gemeindliche Friedensinteresse gegen Stadtherren und Altfreie durchzusetzen. Ihre Worthalter fanden diese neufreien Gewerbe- und Kaufleute unter den altfreien Herrenbürgern und Dinggenossen der dem gräflichen Dingstuhle in der Stadt zugeordneten Gerichtsgemeinde, die als solche längst an gemeinsame, wenn auch herrschaftlich geleitete Willensbildung gewöhnt waren. So sehen wir als erste die Bürger zu Worms im Jahre 1073 einen eigenen, gegen den Stadtherrn gerichteten politischen Willen entfalten: Sie vertrieben die Ritter des Bischofs, welcher Gegner des Königs geworden war und, um nicht in ihre Hände zu fallen, die Flucht ergriffen hatte, aus der Stadt, zogen bewaffnet und geordnet, armati instructique, dem Könige entgegen, nahmen ihn zum Herrn an, cum magna pompa a civibus in urbem susceptus est, leisteten ihm den Treueid, iusiurandum dant, erhoben unter sich eine Steuer zu seiner Unterstützung, sumptus . . . ex sua re familiari singuli pro virili portione offerunt, und verpflichteten sich, ihm als Krieger zu dienen (Lampert, Ann. a. 1073 S. 169). Ohne Worthalter und Führer der geeinten Bürger zu nennen, zählt der Chronist die Taten der geeinten Bürger auf, denen ebenso viele Beschlüsse einer allen Aufgaben der Selbstverwaltung gewachsenen Bürgerversammlung entsprochen haben müssen. In den Tagen oder Wochen, die zwischen ihrer Verlassung des Bischofs und der Annahme des Königs vergingen, bildeten sie eine freie und wenn nicht durch Genosseneid, so durch gleichwertiges Gelöbnis gestiftete Einung. Dies alles bestätigt eine Königsurkunde, kraft deren der königliche Stadtherr den Bürgern zum Danke und zweifellos zum Ausgleich der Aufwendungen, die
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ihrer jeder einzelne zu seiner Unterstützung getätigt, eben diese einzelnen von der Zollpflicht befreite, der sie als reisende Kaufleute überall im Reiche unterlagen (oben: § 199). Das Diplom gibt die königliche Rechtsauffassung genauer wieder, als es der Chronist tut, und blieb im Gewahrsam der Bürger bis auf die Gegenwart erhalten (MGH. DH. IV. 267 mit S. LXII Anm. 193). Es berichtet, Uvormatiensis civitatis habitatores seien treuer omnibus cuiuslibet urbis civibus gewesen, weil sie unaufgefordert und wider den Willen des Stadtherrn und aller Fürsten, contra omnium voluntatem, dem Könige in besonderer fidelitas gedient und communi civium favore die Stadttore geöffnet hätten. Da lat. favere unter anderem mit ahd. sô uuellen und mhd. holt sin übersetzt werden konnte (H. Götz, Wb. 1999 S. 257, L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 227), deutet das in ungewöhnlicher Weise rhetorisch ausgestaltete Diktat – die den Wormsern zugewandte Belohnung sollten sich omnium civitatum habitatores zum Beispiel nehmen – die eigenständige, der stadtherrlichen widersprechende gemeinsame Willensbildung der Bürger hinreichend deutlich an. Sie anzuerkennen wird der Reichskanzlei nicht leichtgefallen sein, da der König Privilegien zugunsten der Bürger herkömmlicherweise nur dann auszugeben pflegte, wenn der Stadtherr als Worthalter der Bürger dazu den Antrag gestellt hatte, die Stadtgemeinde also als herrschaftlicher Verband behandelt wurde. Auf die einungsrechtliche Grundlage der bürgerlichen Beschlüsse, die der König der Sache nach ohne Vorbehalt akzeptierte, da das Beschlossene ihm so nützlich gewesen war, geht denn auch das Diplom mit keinem Worte ein. Schon häufig ist bemerkt worden, daß der König es vermied, sie ausdrücklich anzuerkennen, indem er die Zollbefreiung der Personenvielheit aller einzelnen Iudei et coeteri Uvormatienses zuwandte (H. Büttner 1960 S. 403). Die Wormser Juden (oben: § 199) hatten ebenfalls der Bürgereinung angehört und mögen sich in besonderem Maße an der Steuer beteiligt haben, die die Stadt dem Könige reichte. § 232. Schon im nächsten Jahre folgten die Kölner dem Beispiele der Wormser, wie wir hören, unter Führung eines Rates ihrer primores (Lampert, Ann. a. 1074 S. 185 Z. 30, 187 Z. 29), doch fehlen uns nun für lange Zeit alle Urkunden, mit deren Hilfe wir die Rechtsauffassungen der Beteiligten bestimmen könnten. Das Wort Kommune findet sich nördlich der Alpen zum ersten Male in den Annalen der Bischöfe von Cambrai zum Jahre 1076 (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 7 S. 396 – 398), in dem sich die Einwohner gegen ihren abwesenden Bischof verschworen und ihn dazu zwangen, ihre frei errichtete Einung anzuerkennen, doch widerrief der Bischof bei erster Gelegenheit seine Zusage und ließ sich von neuem Treue schwören, womit die herrschaftliche Genossenschaft der Stadtleute wiederhergestellt war. Die ersten genau dokumentierten Annehmungen eines Stadtherrn, die die europäische Geschichte kennt, sind seit 1105 in Dalmatien zu verzeichnen (L. Steindorff 1984 S. 180 f.). Sie erweisen sich als wahre Herrschaftsverträge, die die Rechte und Pflichten des Stadtherrn genau festlegten, und die Bürger ließen sich von dem Herrn alle Zusagen beschwören, bevor sie ihm ihrerseits Treue gelobten
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(E. Pitz 1991 S. 264 f. Unten: § 261). Da uns aus dem Ostfränkisch-deutschen Reiche entsprechende Quellen fehlen, müssen wir den Wandel der Rechtsauffassungen, der sich jetzt auch hier vollzog, wiederum von der Rechtssprachgeschichte ablesen. Zwei beachtliche Veränderungen sind da zu beobachten (G. Köbler 1966 S. 47, 1972 S. 22). Hatte die Sprache zuvor, was die Siedlungsformen anlangt, lediglich zwischen befestigter und offener Siedlung, zwischen Burg und Dorf unterschieden, so machte sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts der Übergang zu einer Dreiheit der Begriffe geltend, weil der Unterschied zwischen Burgen, die nichts weiter als Wehranlagen in agrarischer Umgebung darstellten, und solchen, die Handwerker, Markthändler und Fernhändler beherbergten und deren Wirtschaftsleben nicht mehr von den Fronhofsbetrieben geistlicher Grundherren, sondern von Marktverkehr und Geldumlauf bestimmt wurde, unübersehbar geworden war. Da diese zweite die jüngere und neuere Form der Burg bildete, schuf sich die Sprache für sie ein neues Wort, indem sie dafür das bisher in der Terminologie der Ortsbegriffe ganz farblos gebliebene Substantiv stat = locus, Stätte, Ort, in Gebrauch nahm. § 233. In ähnlicher Weise wandelte sich der Sinn des Wortes civis oder gebur. Hatte man unter civis zuvor den Herrenbürger verstanden, den die Teilnahme am öffentlichen Leben sei es ländlicher, sei es urbaner Gebiets- oder Ortsgemeinden auszeichnete, so trat der Begriff nun in engere Beziehung zur civitas oder Stadt in dem neueren Sinne dieser Worte. Mehr und mehr ging die sich zum Mhd. fortbildende Volkssprache dazu über, das lat. Äquivalent civis den Städten vorzubehalten und dagegen die Landleute als Bauern, rustici, villani, abzusetzen. Wo man aber, wie weithin in Ostsachsen und den ostelbischen Kolonisationsgebieten, fortfuhr, auch die Genossen von Landgemeinden cives zu nennen, da unterschied man von ihnen die Stadtleute entweder als cives civitatis oder indem man auf sie den in Frankreich für Bewohner offener, unbefestigter Marktsiedlungen geschaffenen und sowohl nach Spanien wie nach Deutschland ausstrahlenden Begriff burgensis oder Bürger übertrug. Im Deutschen Reiche erscheint das neue Wort zuerst in Lothringen im Jahre 1066 zu Huy und 1083 zu Cambrai, dann 1099 in Mainz und 1120 in Freiburg im Breisgau (E. Pitz 1991 S. 290). Merkwürdigerweise führte die Ablösung des Begriffs der Stadt vom Burg-Begriff nicht zu der entsprechenden Wortbildung Städter für die Marktanwohner, obwohl man doch einer Bezeichnung für diese bedurfte, die sich gegenüber den noch sehr verschiedenen Rechtsstellungen der der Neufreiheit erst zustrebenden Stadtbewohner (omnes civitatem nostram Lubeke inhabitantes, cuiuscumque fuerint conditionis, MGH. DF. I. 981 S. 265 Z. 11 – 12, Jahr 1188) neutral verhielt und insofern die angemessene Entsprechung zu dem jetzt neugeschaffenen lat. terminus civitatenses bilden konnte (ius . . . civitatensium omnium ordinum tocius civitatis sc. Augustensis, DF. I. 147 S. 247 Z. 40 – 41, Jahr 1156). In den romanischen Sprachen entwickelte sich nicht wie im Deutschen mlat. burgensis, sondern jenes im deutschen Sprachraume selten belegte mlat. Wort (Mlat. Wb. II 5 Sp. 664) zum
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Rechtsbegriff für den städtischen Bürger (italienisch cittadino, französisch citoyen, englisch citizen, spanisch ciudadano). An die Stelle der älteren Personalität und Dinglichkeit aller individuellen Rechtsbeziehungen trat nun überall die Territorialität, die zuerst im Augsburger Stadtrecht erscheint (O. Gierke 1873 S. 636), denn civitatensis war jeder in der Stadt wohnende Mann, mochte er seinem Stande nach nun Kleriker (DF. I. 147 S. 248 Z. 1 – 6, 28 – 29), freizügiger Zensuale (ebd. S. 249 Z. 8 – 13) oder Ministeriale (ebd. S. 248 Z. 27), herren- und standesloser Zuwanderer (ebd. S. 249 Z. 6 – 8), altfreier Herrenbürger und Grundeigentümer (ebd. S. 249 Z. 3 – 6, 44 – 46) oder gar Edelfreier und Landesherr sein, wie deren nicht nur die Stadt Köln (Lac. UB 3, 358 n. 606 S. 359 Z. 7 – 12) im 13. Jahrhundert etliche zu concives anzunehmen pflegte. § 234. Dieselbe Bedeutung nahm im Mhd. das Wort Bürger an. Denn das war die zweite augenfällige Veränderung, die gegen Ende des 11. Jahrhunderts um sich griff: Im Inhalte des Wortes civis begann eine rechtliche Komponente hervorzutreten, die dem mit der Übersetzung als (altfreier) Herrenbürger wiedergegebenen Begriff des civis noch fremd gewesen war, denn sie ging aus von dem Genossenrecht des neufreien Stadtbewohners, der sich an den jetzt aufkommenden freien Einungen beteiligte und damit teilhatte sowohl an der Durchsetzung als auch am Genuß des Stadtrechtes, welches seine noch unvollkommene Freiheit zu erweitern und zu befestigen berufen war. In derselben Zeit, da sich das neue deutsche Wort Stadt verbreitete, entstand auch ein Stadtrecht, das sich nun deutlich vom Landrechte zu unterscheiden begann, weil dieses der Entfaltung der neuen Freiheit aller aus der Hörigkeit emporkommenden Personen und Stände sehr viel langsamer stattgab als jenes. Die Existenz eines solchen ius civile oder commune ius civium ist uns zum ersten Male in einem Diplom vom Jahre 1101 bezeugt, mittels dessen Kaiser Heinrich IV. die Besitzungen und Rechte des Domkapitels zu Speyer bestätigte und unter anderem die im Dombezirk geltende lex immunitatis und Hofgerichtsbarkeit gegen das Stadtrecht der cives oder forenses und ihres öffentlichen Gerichtes, ius publicum, abgrenzte (Keutgen, Urk. S. 5 n. 11 = MGH. DH. IV. 466 S. 631 Z. 25 – 39. Oben: § 162b). Bis dahin ist weder der Ausdruck ius civile noch sein späterhin beständiges Pendant ius terrae in den Quellen nachzuweisen; ius terrae tritt erstmals zwischen 1080 und 1088 auf (oben: § 210). Erst jetzt also begann man, Land- und Stadtrecht zu unterscheiden und der nun durchdringenden Unterscheidung sprachlich gerechtzuwerden (G. Köbler 1974 S. 5, 7). Wie die Rechtssprachgeschichte beweist, waren nicht mehr die cives oder Herrenbürger des frühen Mittelalters, sondern die neufreien civitatenses oder burgenses Schöpfer und Nutznießer dieses Rechtes. So gelangte in der sächsisch-salischen Kaiserzeit die Freiheitsbewegung, die in der Karolingerzeit bereits angebrochen, aber nicht aus der Vereinzelung derer, die in Verhandlungen mit ihren Herren ihre rechtliche und wirtschaftliche Lage zu verbessern suchten, herausgekommen war, zu neuem Schwunge, seit die mit dem Siege
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über die Ungarn von 955 abgeschlossene Befriedung Mitteleuropas dem Wirtschaftsleben frische Kräfte eingehaucht und das Wachstum der Marktsiedlungen beschleunigt hatte. Sowohl auf dem Lande wie in den Städten kam seither die Gemeindebildung im Wege der freien, dem Willen der Herrschaften trotzenden Einung in Gang, die zugleich den Aufstieg der Gemeindegenossen unterschiedlichster rechtlicher Bindung zu der allen gemeinsamen, weil alle Herrenrechte an den Individuen schwächenden neuen Freiheit der Städte, Dörfer und Länder erleichterte. Längst hat man gesehen, daß es in späterer Zeit nicht wenige Landgemeinden gab, die selbständiger waren als manche Städte, daß die Privilegierung von Dörfern, Tälern, Weichbilden, Flecken oder wie immer man die Landgemeinden nennen mochte, der Stadtrechtsverleihung vergleichbar ist und daß beides im Zuge einer gesamteuropäischen Freiheitsbewegung erfolgte, in deren Verlauf sich die kommunale Selbstverwaltung von der Zuständigkeit der Gerichtsgemeinden abspaltete (F. Steinbach 1964 S. 257, 285 f.). Aber daß weder Stadt- noch Landgemeinden „systemimmanente Hervorbringungen von Herrschaft“ oder herrschaftlichen Privilegien waren, sondern „Neuschöpfungen aus dem Willen von Menschen, die in einem konkreten räumlichen Bezug leben“ und deren Voluntarismus sich in reinster Form in der Verschwörung Ausdruck verschaffte (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 150), das ist doch eine recht junge Erkenntnis, die namentlich von der allgemeinen Verfassungsgeschichte noch nicht aufgenommen noch in das rechte Verhältnis zu den herrschaftlichen Gewalten gesetzt worden ist, die herkömmlicherweise im Mittelpunkte der Aufmerksamkeit stehen. § 235. Sehr glücklich hat Peter Blickle für die von den neufreien Ständen geschaffene Lebensform der gebietsbezogenen freien Einung den Begriff Kommunalismus geprägt und erklärt, in ihn sei „die dreidimensionale These eingelagert . . . , Bauern und Bürger seien erstens hinsichtlich der Verfassung ihres Alltags durch die Institution Gemeinde gleich organisiert, besäßen zweitens eine gemeinsame gesellschaftliche Grundlage darin, daß sie arbeiteten, und hätten drittens ein dieser Gesellschaft und ihren Institutionen kongeniales Wertesystem hervorgebracht“ (ebd. Bd. 1 S. VII). Was das erste anlangt, so könne man von Kommunalismus nur dort sprechen, wo die im Gemeindebezirk ausgeübte Verwaltung nicht von der Herrschaft, sondern von der Gemeinde eingesetzt worden sei; die Kommune sei nicht aus herrschaftlichen oder staatlichen Strukturen zu erklären, auch wenn sie herrschaftliche Verwaltungsaufgaben auftragsweise mitübernehmen konnte: Ihr Rat aber müsse ganz von der Gemeindeversammlung abhängig werden und diese ihrerseits ein Geschöpf freier Gruppenbildung oder coniuratio sein, wenn sich die Gemeinde von einer Institution des Herrn zur autonomen Kommune fortbilden sollte (ebd. Bd. 2 S. 101, 123). Zwar gebe es viele Gründe, um bürgerliche und bäuerliche Gesellschaft voneinander zu sondern: „die unterschiedliche Größe der Siedlungen, die verschiedenen Formen des Wirtschaftens, die divergierenden Grade der Freiheit und Rechtsautonomie . . . Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind in-
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dessen eher gradueller als prinzipieller Art,“ denn schaue man auf die Verfassungen, so „ergibt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung . . . , an der in erster Linie überraschend ist, daß sie bislang nicht aufgedeckt wurde“ (ebd. Bd. 1 S. 67). „Überall in Oberschwaben gibt es einen Fokus für die Organisation des Zusammenlebens, der nicht von Herrschaft abgeleitet werden kann – die Gemeinde. Darin liegt das gemeinsame institutionelle Substrat von Stadt und Dorf“ (ebd. S. 40). Was die gemeinsamen gesellschaftlichen Grundlagen betrifft, so sei der Kommunalismus hervorgebracht von den laboratores oder dem gemeinen Manne, dem nichtadligen freien Steuerpflichtigen, für den sich allerdings die deutsche Sprache keinen dem französischen roturier gleichwertigen, sowohl Bauern als auch Bürger treffenden Begriff gebildet habe. Ermöglicht habe den Kommunalismus ein grundsätzlicher Wandel der Arbeitsorganisation von der auf den Herrenhof einer Villikation orientierten zur an das Haus des Arbeiters gebundenen und auf den Markt ausgerichteten, teils individuellen, teils genossenschaftlichen Wirtschaftsweise; begleitet habe diesen Wandel die Verdichtung älterer Streusiedlungen zu Dörfern, Märkten und Städten, die neue, nur von den Nachbarn gemeinlich zu lösende Sicherheits- und Ordnungsprobleme schuf. Wie sich der Binnenraum der Gemeinde nach Häusern gliederte, so hätten sich die politischen Rechte der Bauern und Bürger an die Häuser geknüpft; die Häuser waren es, auf denen die gemeindlichen Pflichten derart lasteten, daß z. B. nur Hausväter kommunale Ämter übernehmen konnten und mußten (ebd. Bd. 1 S. 45, 48, 78, 132, 176 f., Bd. 2 S. 1, 127). § 236. In den Mittelpunkt des kommunalen Wertesystems, dessen Wesen, was die Dorfgemeinde betrifft, vom herrschaftlichen Ursprunge unserer Quellen überall verschleiert werde, rückt Blickle das Friedensbedürfnis der Bauern und Bürger: Die coniuratio sei pax iurata, der Kommunalismus daher wichtigster Gegner des Fehderechts gewesen, dessen sich die Herren nur unter seinem Drucke begeben hätten (ebd. Bd. 2 S. 160 f., 175 – 185). Dem Friedensbedürfnis des gemeinen Mannes entsprang das nicht zu widerlegende Argument des gemeinen Nutzens, das in Süddeutschland die Gemeinden seit dem Ende des 12. Jahrhunderts gegenüber den Landesherren erfolgreich geltend machten (A. Diehl 1937 S. 299 – 312. P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 88 – 106). Denn nicht der Nutzen der Herrschaft, sondern nur der der Gemeinde hieß Gemeinnutzen (P. Blickle Bd. 1 S. 103). Jeder Bürger und Bauer war für den Frieden in seiner Gemeinde selbst verantwortlich und mußte Streitenden jederzeit persönlich Frieden gebieten; dies war eine genuin kommunale, von allen Dorfgenossen beschworene Aufgabe (ebd. Bd. 1 S. 33). Freilich waren Bauern dazu auch durch den Herreneid verpflichtet, so, wie sich Dorfgemeinden Satzungen nur so zu geben vermochten, daß sie nach beschlossener Willkür entsprechende Suppliken und Beschwerden an den Herrn richteten (ebd. Bd. 2 S. 112 – 116, 122, 137. Oben: § 228). In den oberdeutschen Städten dagegen versammelten sich einmal im Jahre am Tage der Ratswandlung alle Besitzer eines Hauses und des Bürgerrechtes zum sogenannten Schwörtage, um den Friedensschwur und das dadurch von der Gemeinde geschaffene Recht zu erneuern und die Schwörenden zum Gehorsam gegenüber
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der Gesamtheit und ihren Worthaltern zu verpflichten (ebd. Bd. 2 S. 23, 41 f., 51, 113 f., 136). Im hansisch-niederdeutschen Rechtsgebiet war zwar der jährliche Schwörtag unbekannt, aber die alljährlich mit der Ratsumsetzung verbundenen Burspraken hatten dieselbe Rechtswirkung (E. Pitz 2001 §§ 203 – 208). Obwohl sich Schwur und Gelöbnis als religiöse Akte auf die Glaubenstreue der Genossen bezogen (oben: §§ 175 – 178), erklärte man sich die Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit weder als gottgewollt noch aus Gottes- und Herrenfurcht im Sinne des Patriarchalismus (oben: § 165), sondern allein als Folge seines freien Willens, denn beide Seiten waren berechtigt, den beschworenen Vertrag zu kündigen, der einzelne Genosse, den Bürgereid und sein Bürgerrecht aufzusagen, wenn er sein Haus verkauft hatte und die Stadt verlassen wollte, und die Gemeinde, wenn er das Stadtrecht brach oder wenn sie es für nötig hielt, dieses Recht willkürlich zu ändern. Mochte man anderswo der Fiktion eines unveränderlichen Rechtes vertrauen und deswegen dem ältesten Herkommen den Vorzug vor allen Neuerungen geben: im kommunalen Satzungsrecht galt grundsätzlich die jüngste Willkür, die alles ältere einschlägige Satzungsrecht zum Erlöschen brachte (F. Kern 1919 S. 61. B. Kannowski 2001 S. 111).
§§ 237 – 242. Grundrecht der Freien und Privilegienrecht im Widerstreit § 237. Mit den Ereignissen der Jahre 1073 zu Worms und 1074 zu Köln war ein Streit zwischen König, Stadtherren und Gemeinden an den Tag getreten, der anhielt, solange sich das Deutsche Reich seine mittelalterliche Verfassung bewahrte. In diesem Streite stand die Auffassung der Neufreien und ihrer Gemeinden, daß das Einungsrecht ein jedem freien Manne angeborenes Grundrecht sei und daß sich daher die durch Einung geschaffenen Gemeinden ihr Tätigkeitsfeld unabhängig von aller Staatsgewalt eröffneten (oben: §§ 12, 72), gegen die Überzeugung der Fürsten, daß Einungen, weil gegen die königliche Gewalt und die vom Könige eingesetzte Stadtherrschaft gerichtet, grundsätzlich rechtswidrig und verboten seien und daher, um rechtmäßig bestehen zu können, der Zulassung durch königliches oder stadtherrliches Privileg bedürften, als einer Ausnahmegenehmigung, die die Herren widerrufen dürften, sobald die Gemeinden von der Vollmacht, die ihnen die Bürger erteilten, indem sie sich einten, einen das Fürstenrecht verletzenden Gebrauch machten (F. Keutgen 1918 S. 24. P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 325. Oben: §§ 185, 196). Wir stehen hier an dem Urquell der Grundrechtsproblematik, die seit dem 17. Jahrhundert im Mittelpunkte aller europäischen Verfassungsstreitigkeiten steht. In der Sicht der hier entwickelten Verfassungslehre drehte sich der Streit um ein Scheinproblem, welches sich daraus ergab, daß sich weder das Volk noch die Großen und Fürsten von dem Charakter der Untertanenverbände als herrschaftlicher Genossenschaften und von dem daraus folgenden Charakter des Fürsten- und Kö-
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nigtums als eines vom Volke durch Herrschaftsvertrag vergebenen Amtes Rechenschaft gaben, obwohl sich im 9. Jahrhundert natürlich noch jedermann daran erinnerte, daß die Karolinger im Jahre 751 / 752 nur mit Hilfe einer Wahl, bei der die Großen für das Volk sprachen, hatten die königliche Würde erlangen können, und obwohl sich seit 887 dieser Vorgang sowohl bei der Verlassung Kaiser Karls III. als auch bei der Erhebung von Herzögen und Königen mehrfach wiederholte. Wäre man sich dieser Auffassung des Volkes vom Wesen aller Herrschaft und der Affinität der älteren herrschaftlichen zur neueren freien Genossenschaft bewußt gewesen, hätte man es ausgesprochen, daß beide: Herrschaft und Gemeindeversammlung, legitime Rechte gleichen, im Willen des Volkes gelegenen Ursprungs ausübten, so hätte sich jener Streit niemals zum offenkundig unlösbaren Rechtsstreit auswachsen können, sondern wäre ein Streit um Interessen und Rechte geblieben, der nach den Regeln identischer Willensbildung und nach dem Maßstabe des Gemeinwohls hätte geschlichtet werden können und müssen. Denn maßgeblich für jedes Urteil ist und war der Rang der Gemeinde als Depositars des geltenden Rechtes, das sie ebenso als Dingvolk im Gerichte dem Herrn zu weisen wie als versammelte Gemeinde sich selbst nach Willkür zu satzen befugt war. Die Herrschaft aber war in beiden Fällen an diesen Willen gebunden, da die Gemeinde sie zum Hüter von Recht und Gesetz berufen und in allen gewichtigen Dingen an den Konsens des Untertanenverbandes gebunden hatte, mochte nun der Herr als aktiver Teil darüber mit seinem Volke vertraglich paktieren oder das Recht von ihm erfragen oder aber als passiver Teil das vom Volke gewillkürte Recht auf dessen Antrag bekräftigen, indem er seine Postulation oder Supplik genehmigte und bewilligte (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 40, 43 f., 100, 138 f.). § 238. Die Interessen, um die es dabei ging, resultierten aus der seit dem 10. Jahrhundert von den Neufreien ausgebildeten neuen Wirtschafts-, Siedlungs- und Lebensweise des Kommunalismus und aus den dadurch erzeugten neuen Problemen öffentlicher Ordnung und Sicherheit, die die Stadtherren mit ihren auf eine ältere Lebensform zugeschnittenen Verwaltungsmethoden und Hilfskräften gar nicht zu lösen imstande waren. Tatsächlich mußten daher die Stadt- und Dorfherren die neue kommunale Selbstverwaltung wider Willen überall bestehen lassen. Wenn sie sich gleichwohl damit nicht abfinden und die volksrechtlichen Grundlagen der Kommunebildung nicht anerkennen konnten, so hatte dies seinen Grund darin, daß ihnen die Philosophie und Wissenschaft ihrer Zeit dabei nicht nur nicht zu Hilfe kam, sondern sie vielmehr in der volksrechtsfeindlichen Auffassung ihrer eigenen Stellung als derjenigen bestärkte, die ihnen die christliche Kirche beilegte und der zufolge alle Obrigkeit von Gott und nicht vom Volke eingesetzt war. Denn die ausschließlich von Klerikern gepflegte Wissenschaft des Mittelalters war grundsätzlich keine empirische Wissenschaft, sondern durch den Glauben gebundene Auslegung der Bibel und, seit dem 12. Jahrhundert, der juristischen ratio scripta, die man in den wiederentdeckten Gesetzsammlungen Kaiser Justinians vor sich zu haben meinte (H. J. Berman 1991 S. 248 – 260). In den spätrömischen Kai-
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sergesetzen aber spiegelte sich die Rechtsordnung eines Staates wider, der den kommunalen Partikularverbänden keinerlei eigenständiges Rechtsleben gestattet hatte und daher dem germanischen Einungswesen keinerlei rechtlichen Charakter, keinerlei Rechtmäßigkeit zuerkennen konnte (O. Gierke 1881 S. 34 ff. und öfter). Das Staatsdenken der Gelehrten konnte daher nur auf dem mosaischen Patriarchalismus, auf dem Gottesgnadentum des altjüdischen Absolutismus, auf Jesu Gleichgültigkeit gegenüber dem römischen Untertanenverhältnis und auf dem justinianischen Absolutismus aufbauen. § 239. Sucht man daher in Deutschland nach mittelalterlichen Zeugnissen für die volksrechtlichen Grundlagen des Einungsrechtes, so verweigert uns das Schweigen der Quellen (oben: § 13) nahezu jeden Erfolg. Die italienischen Juristen freilich waren nicht so wirklichkeitsfremd, daß sie nicht doch der Erfahrung Gehör geschenkt und die Praxis freien Verbandshandelns in den Städten des Königreichs Italien beobachtet hätten und danach zu dem Begriff einer Körperschaft gelangt wären, deren Rechtssubjektivität sich von der der Summe der persönlichen Verbandsmitglieder unterschied und die sich ihren Gemeinwillen nicht durch vertragliche Addition der Einzelwillen bildete, wie es die römische Fiktionstheorie von der privaten juristischen Person annahm, sondern in öffentlicher, die divergierenden Einzelwillen aufsaugender Integration und Identifikation (O. Gierke 1881 S. 1 ff. H. Stradal 1978 Sp. 1526). So fanden sie in den Beziehungen des Verbandsganzen einerseits zu den Mitgliedern, andererseits zu dem Herrn wirkliche, objektiv gegebene Rechtsverhältnisse vor, die allen Seiten komplementäre Befugnisse und Pflichten zuwiesen (O. Gierke 1881 S. 301). Auch nahmen sie die zu ihrer Zeit in Italien in voller Übung stehende Praxis, der zufolge der König über ganze Gemeinden Acht und Bann verhängen konnte, als fraglos rechtmäßig hin, obwohl die Auffassung der Korporation als deliktsfähig, gleichsam als ob sie mit der Summe der Mitglieder identisch wäre, nur den Germanen (oben: § 71), nicht jedoch dem römischen Rechte vertraut war (ebd. S. 234 ff., 440 ff.). Da die Erfahrung insoweit der juristischen Analyse zugänglich war und der Begriffsbildung eine feste Grundlage bot. legten die Juristen der Gemeinde ohne weiteres die Rechte der Autonomie und Rechtsprechung, der Selbstversammlung, der Aufnahme neuer Mitglieder und der Wahl von Vorstehern bei. Aber sobald sich später beim Studium der justinianischen Rechtsquellen diese Befugnisse als eigentlich dem Kaiser und seinen Nachfolgern zustehende Hoheitsrechte herausstellten, nahmen die Juristen gleichwohl und aller Erfahrung zum Trotze sofort als zweifellos an, daß eine Gemeinde in demselben Umfange wie etwa der Stadtherr als Einzelner solche Rechte nur im Wege der Privilegierung vom Herrscher zu erwerben vermochte (ebd. S. 215, 301, 451 ff. u. ö.). Daher beobachteten sie zwar, was die kommunale Autonomie betraf, die Regeln der identischen Willensbildung, aber da ihnen die ratio scripta verbot, den Herrscherwillen als Rechtsquelle zu eliminieren oder ihn dem Willen des Untertanenverbandes unterzuordnen, konnten sie darin doch nicht mehr als eine irreguläre Sonderform der
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vom Stadtherrn gebotenen Repräsentation erblicken, so daß sie bei dem begrifflichen Zwitter der Identitätsrepräsentation (oben: § 14) stehenbleiben mußten. § 240. In Deutschland aber kam es nicht einmal zu derartigen Ansätzen einer wissenschaftlichen Beobachtung des volklichen Rechtslebens. Bis auf den heutigen Tag herrscht daher in der Frage, ob Stadtrecht auf gemeindlicher Willkür oder auf herrschaftlichem Privileg beruhte, die größte Verwirrung (z. B. bei H. J. Berman 1991 S. 569 f.), zumal die Geschichte des Kommuneprivilegs im Ostfränkisch-Deutschen Reiche unerforscht ist, gewiß unter anderem auch deswegen, weil sie eine Rechtsgeschichte des Privilegs überhaupt voraussetzt, welche berücksichtigt, daß Privilegien niemals oktroyiert, sondern stets nur gemäß den Bitten der Betroffenen gewährt werden konnten. Günstiger ist die Situation in Frankreich, wo Kommuneprivilegien bereits seit 1128 schriftlich erteilt worden und erhalten geblieben sind (Ch. Petit-Dutaillis 1947 S. 40 – 44). Das französische Recht kann hier zum Vergleich herangezogen werden, weil Könige und Landesherren solche Privilegien zunächst nur für Stadt- und Landgemeinden in dem Gebiet zwischen Somme, Maas und Loire erteilt haben, wo einst, als es noch Neustrien hieß, die eingewanderten Franken zwar die romanische Sprache der Unterworfenen angenommen, ihr angestammtes germanisches Recht jedoch bewahrt und auch den beherrschten Romanen annehmlich gemacht hatten. Da zudem erst spät im 13. Jahrhundert französische Juristen begannen, gemeine römischrechtliche Begriffe auf das Kommunewesen anzuwenden (ebd. S. 36), können wir darauf rechnen, in den frühen westfränkischen Kommuneprivilegien dieselben Rechtsgedanken germanischer Herkunft anzutreffen wie in denen des Ostfränkisch-Deutschen Reiches. Hiernach nun scheinen die Fürsten den Stadt- und Landleuten die Errichtung beschworener Einungen zunächst in mündlicher Form ohne weiteres gestattet zu haben, da die Kommunen bereit waren, wichtige Gemeinschaftsaufgaben auf dem Gebiete des öffentlichen Bauwesens, der Allmendnutzung und der Gewerbeaufsicht zu erfüllen, die sonst der Herrschaft zur Last gefallen wären und sie gezwungen hätten, ihrer vornehmen adligen Erhabenheit über dergleichen lediglich nützliche, wenn auch gemeinnützige Anliegen zu entsagen. Weil die ersten kommunalen, später als Freiheiten bezeichneten Rechte auf diese Weise ohne herrschaftliche Lenkung entstanden, begehrten die Bürger, sobald sie ihr Recht beurkundet wissen wollten, zunächst nur die Konfirmation dessen, was sie bereits besaßen, nämlich communiam . . . ad eosdem usus et consuetudines quos dicti burgenses tenuerant ante institucionem communie (ebd. S. 26). Die Bürger hatten demnach bereits unter sich nach Eidesrecht gültige Regeln ausgehandelt, die namentlich die Steuerpflichten des Einzelnen und seine Gewerberechte, aber auch den Beitritt zur Kommune und deren Schiedsgerichtsbarkeit in allen die kommunalen Gewohnheiten betreffenden Streitigkeiten bestimmt haben werden. Der Kommuneeid, der die Genossen zu gegenseitigem Beistande verpflichtete, mußte natürlich den Treuvorbehalt zugunsten des Königs in sich aufnehmen und den Vorrang des im Gericht des Stadtherrn gewiesenen Rechtes der Stadtherrschaft
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anerkennen (ebd. S. 31). Inhalt des Privilegs war weiter nichts als die Erlaubnis, einen Schwurverband zu bilden (ebd. S. 37), womit nichts über den Freiraum gesagt war, den der Herr der Gemeinde für ihre Willküren einzuräumen bereit war, und mit Rücksicht auf ihre eigenen Einkünfte scheuten sich die Herren durchweg, ihnen volle Autonomie und Selbstverwaltung zu gewähren (ebd. S. 52 – 57). Damit tat sich ein weites Feld für Irrungen zwischen Herrschaft und Gemeinde auf, die schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts manche Herrschaften dazu veranlaßten, Kommuneprivilegien wieder zu kassieren (ebd. S. 12). § 241. Damit aber war die Frage aufgeworfen, wie weit ihr Kassationsrecht reichen sollte. Mit ihr befaßte sich jedoch zunächst niemand, und als sich später die Gelehrten ihrer annahmen, konnten sie sie nicht anders als im Sinne des biblischen Gottesgnadentums und des römischen Absolutismus beantworten. Man darf sich darüber, daß in diesem Rechtsstreit das bessere Recht beim Volke lag, auf dessen Gehorsam alle Macht der Fürsten letzten Endes beruhte, nicht dadurch täuschen lassen, daß die Kanzlisten, die die Privilegien diktierten, bei den Gelehrten in die Schule gingen und dem fürstlichen Absolutismus das Wort redeten, indem sie vorgaben, der Fürst gewähre aus freier, ihn selbst zu nichts verpflichtender Gnade, was ihm die Untertanen demütig bittend vortrugen, da er seine Gewalt von Gott empfangen habe und daher nur Gott von seinem Tun Rechenschaft zu geben brauche. Dagegen fand der volksrechtliche Standpunkt, daß die Kassation nur soweit reichen dürfe, wie die Bürger gemeinlich das von ihnen selbst erbetene Orts- oder Stadtrecht verletzten, daß sie aber niemals das Einungsrecht des freien Mannes überhaupt beseitigen könne, im 12. und 13. Jahrhundert keinen Fürsprecher, der ihn schriftlich niedergelegt hätte. Dies gilt auch für den volksrechtlichen Grundsatz, daß keine Gemeinde nach Herrenfall und Interdominium den Amtsnachfolger zum Herrn anzunehmen brauchte, bevor dieser nicht ihre Privilegien bestätigt habe, und daß sie jedem Herrn die unter dieser Bedingung geschworene Treue aufzusagen und den Herrn zu verlassen berechtigt sei, wenn er seinerseits die der Gemeinde zuerkannten Rechte und damit die Schutzpflicht verletzte, um deretwillen allein ihm die Neufreien Dienst und Gehorsam versprochen hatten (E. Pitz 2001 §§ 193 – 195, 199, 254. Oben: § 152). Wir können diese volklichen Rechtsauffassungen nur vom politischen Verhalten der Bürger, d. h. vom Gange der Stadtgeschichten ablesen. Der Machtkampf konnte einerseits, wie in Flandern und im Königreich Italien geschehen, bis zur Vernichtung der Stadtherrschaft, andererseits, wie es im Zeitalter des neueren europäischen Absolutismus zur Regel wurde, bis zur Vernichtung des freien Einungsrechtes ausgefochten werden, und zwischen den beiden Extremen findet sich jene Fülle möglicher Kompromisse, die uns auf den ersten Blick die Geschichte der europäischen Stadtrechte als ein ungewöhnlich dorniges Problem erscheinen läßt. § 242. Was das Ostfränkisch-Deutsche Reich anlangt, so ist die Geschichte des Kommuneprivilegs bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts (weiteres unten: § 504)
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nur in den rheinischen Bischofsstädten zu verfolgen, und bereits Julius Ficker hat dazu, allerdings im Rahmen einer Untersuchung, die einem anderen Gegenstande, nämlich dem fürstlichen Konsensrecht in Reichssachen, gewidmet war, die entscheidende Frage gestellt, die im Ganzen, nämlich in ihrer Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des Reiches, bis heute nicht beantwortet worden ist: wie nämlich der Widerspruch in den Verfügungen der Reichsgewalt zu erklären sei, die namentlich zur Zeit Kaiser Friedrichs II. zwischen Gewährung und Kassation des Kommuneprivilegs hin- und herschwankte (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 84 – 89). Ficker hatte den Eindruck gewonnen, daß der König und seine Räte den Stadtgemeinden günstig gesinnt waren, obwohl das strenge Recht auf Seiten der Bischöfe war und diese es durch Fürstenspruch, welcher den König band, gemäß dem gemeinen Interesse des Fürstenstandes durchsetzten (ebd. S. 86). Georg Waitz dagegen meinte, nachdem Kaiser Heinrich V. die zweite, übrigens anläßlich einer zwiespältigen Bischofswahl errichtete, Kommune zu Cambrai kassiert habe, weil sie die Rechte des Reiches verletzte, hätten die deutschen Könige an dieser Stellungnahme gegenüber der Kommunebewegung fast unablässig festgehalten (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 7 S. 396 – 398). Beide Auffassungen verkennen, daß die bürgerlichen Schwureinungen ihren Rechtsgrund nicht in dem königlichen oder stadtherrlichen Privileg hatten, obwohl dieses selbst natürlich mit allen rhetorischen Mitteln versuchte, in den Lesern eben diesen Eindruck zu erwecken, sondern in dem freien Willen der Stadt- oder Landbewohner, die sich eidlich zu gegenseitigem Beistande gegen alle Willkür der Herren verpflichteten. Aber nur dann, wenn man diesen Rechtsgrund in den Mittelpunkt stellt und das Privileg lediglich als Bestätigung dafür erkennt, daß die Einung das Herrenrecht nicht verletzte (oben: § 171), ist es zu verstehen, daß keine Kassation des Kommuneprivilegs jemals eine Kommune aus der Welt geschafft hat, solange sich die deutsche Rechtsauffassung gegenüber der römischen der studierten fürstlichen Räte behauptete und die Fürsten der Macht entbehrten, deren es bedurfte, um die Landstände, in die sich die Gemeinden eingereiht hatten, zu entrechten. Dahin aber ist es erst im 17. Jahrhundert gekommen. Ein richtiges Bild vom Mittelalter wird man daher nur dann gewinnen, wenn man von der Rechtsauffassung des Volkes ausgeht, nach der es eben dieses Volk war, welches nicht nur aus eigenem Rechte Kommunen errichtete, sondern auch, als herrschaftliche Genossenschaft verfaßt, Könige und Fürsten über sich erhob und zu ihrem Amte ermächtigte, und wenn man sich daran erinnert, daß die wissenschaftliche, christlich-gemeinrechtliche Staatsauffassung und Herrscherideologie zwar bereits im Mittelalter ersonnen und im adlig-höfischen Zeremoniell dem Volke anschaulich demonstriert worden ist, daß ihre Lehren aber erst seit dem 16. Jahrhundert allmählich zur vorwiegenden Überzeugung des Volkes geworden sind.
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§§ 243 – 252. Kämpfe um das Einungs- und Behördenrecht § 243. In den rheinischen Bischofsstädten sowie in Augsburg und Regensburg war das Stadtvolk, dessen Wort einst der Bischof und die Herrenbürger geführt hatten und jetzt seine meliores führten, nicht nur berechtigt, den Bischof zu kiesen und nach Bestätigung seiner Privilegien zum Herrn anzunehmen, sondern auch, durch den zum Herrn und Worthalter erhobenen Bischof an der Königswahl teilzunehmen und dem Könige die Stadttore solange verschlossen zu halten, bis auch er die Privilegien erneuerte. Als herrschaftliche Genossenschaft erkannte der städtische Bürgerverband, der außerhalb Gerichtes zugleich als freie Einung auftrat, also zwei Herren an, nämlich den König und den Bischof. Dies war eine Folge davon, daß die Könige aus dem sächsischen Hause damit begonnen hatten, den städtischen Dingstuhl aus seiner Grafschaft herauszulösen und an Stelle des Grafen, in dessen Amtsbezirk die Bischofsstadt gelegen war, deren Bischof zum Vertreter der königlichen Gewalt und damit zum Gerichts- und Stadtherrn zu bestellen. Als erste erlangte die erzbischöfliche Kirche zu Trier im Jahre 898 diesen Vorteil, als König Zwentibold aus ihrer seit langem mit Immunität begabten Grundherrschaft eine Grafschaft machte (MGH. DZw.18, DLdK. 17. E.Pitz 1991 S. 148). Den gleichen Status gewährte König Otto I. im Jahre 948 den Bischöfen zu Cambrai (DO. I. 100. R. Fossier in LMA 2 Sp. 1407 f. U. Nonn 1983 S. 120 f., 221. St. Patzold 2001 S. 79), bald darauf, nämlich gewiß noch vor 962, den Erzbischöfen von Köln (U. Nonn 1983 S. 188. E. Pitz 1991 S. 279) und im Jahre 965 dem Erzbischof von Magdeburg (DO. I. 300); wohl noch im 10. Jahrhundert werden ihn alle Bischöfe überhaupt erworben haben. Er beruhte darauf, daß der bischöfliche Stadtherr einerseits vom freien Volke seiner Stadt in sein Amt gekoren, andererseits aber auch vom Könige dazu bevollmächtigt und zum Amtmann eingesetzt wurde. Das freie Stadtvolk nun verstärkte sich seit dem 10. Jahrhundert durch die wachsende Zahl von Neufreien, die sich ihm anschlossen. In der Mehrzahl werden die späteren civitatenses oder ihre Vorfahren zuvor der bischöflichen familia angehört haben und vom Bischof selbst zu ihrem neuen Stande freigelassen worden sein. Was sie betraf, so machte sich noch lange der Umstand bemerkbar, daß seit jeher das gesamte Gut der bischöflichen Reichskirchen und mit ihm die bischöfliche familia eigentümlich dem Reiche zustand und vom Könige dem zeitigen Kirchenfürsten nur zur Verwaltung übergeben oder geliehen wurde. Daher kommt es, daß die bischöfliche Ministerialität nicht nur bis ins 13. Jahrhundert hinein rechtlich derjenigen des Reiches gleichgestellt war, sondern auch nach jeder Erledigung des Bischofsstuhles und für die Dauer der Sedisvakanz unmittelbar dem Könige unterstand (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 231). Was die Ministerialität der Laienfürsten betrifft, so ist das Eigentum des Reiches an ihr nur für das Herzogtum Bayern bezeugt, dessen Dienstleute noch im 13. Jahrhundert als Reichsministerialen galten (ebd. S. 233 – 237); bei den anderen Laienfürsten war es früh in Vergessenheit geraten, daß sie insoweit im Auftrage des Königs Reichsgut verwalteten (ebd. S. 240).
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Um so mehr mußte es die geistlichen Stadtherren verdrießen, daß die Königsunmittelbarkeit ihrer Zensualenverbände und Dienstmannschaften immer noch ihre Stellung als Amtleute nicht nur der Könige, sondern auch des Reichsuntertanenverbandes, der jene erhoben hatte, für jedermann sichtbar herausstrich, zumal ihre Ministerialen längst als neufreie meliores in den Dienst der bischöflichen Stadtgemeinde getreten waren und ebenso wie die Bürgerschaft selbst auch bei besetztem Stuhle insofern in unmittelbarer, den Bischof umgehender Verbindung zum Könige standen, als sie ihm zu Dienstleistung und Steuerzahlung verpflichtet waren (oben: § 162). § 244. So geschah es, daß sich der Bischof von Augsburg, nachdem er in der Aufgabe versagt, in Abwesenheit des Königs die Stadtgemeinde vor den Übergriffen seiner Vögte zu schützen, gemeinsam mit Klerus und Volk gemeinlich seiner Bischofsstadt den König, sobald dieser die Stadt besuchte, darum bitten mußte, sich von Klerus und Volk das Stadtrecht weisen zu lassen und das Weistum mit seinem Diplom, auctoritate sui privilegii, zu konfirmieren (MGH. DF. I. 147 S. 247 Z. 28 – 44). Von der Stadtherrschaft des Bischofs blieb da nichts weiter übrig als die Funktion des vornehmsten Worthalters der Gemeinde und eines Amtmanns des Königs, dem, wenn er selbst in der Stadt verweilte, die Amtsgewalt derart heimfiel, daß er den Bischof übergehend selbst an die Spitze der Gemeinde trat. Auf Verlangen der städtischen Ministerialen mußte der Bischof den Burggrafen, den Münzmeister und den Pfarrer einsetzen, und auf Klage der Gemeinde hin Burggrafen und Vogt wieder aus ihren Ämtern entfernen (ebd. S. 248 Z. 27 – 29, 249 Z. 27 – 29). Daß die Gemeinde im Besitz des Kommuneprivilegs sei, wurde von niemandem bestritten und bedurfte daher nicht nur keiner Bestätigung, sondern nicht einmal der Erwähnung. In Mainz geriet Erzbischof Arnold im Jahre 1158 in größte Bedrängnis und langanhaltende Streitigkeiten mit der Gemeinde, weil Ministerialen und Bürger ihm unter Berufung auf ein früheres stadtherrliches Privileg die vom Kaiser gebotene Heersteuer verweigerten. Der Stadtherr sah sich gezwungen, vor dem Kaiser ein Urteil der Reichsfürsten über die Steuerpflicht seiner Dienstmannen zu erfragen, bevor er sich über das Privileg seiner Vorgänger hinwegsetzen konnte. Vor dem Könige erlangte er jedoch nur das Recht, seine Lehnsmannen zu besteuern, nicht jedoch die Bürger (Reg. Eb. Mainz 1, 363 n. 67, 367 n. 74. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 356, 360, L. Falck 1972 S. 152, A. Gerlich in LMA 1 Sp. 1003). Aus diesen Verhältnissen dürfte sich der für die Geschichte des königlichen Kommuneprivilegs in der Stauferzeit so typische Wechsel zwischen Gewährung und Kassation des Einungsrechts erklären. Der König und die Bewohner der Bischofsstädte verteidigten aus wohlverstandenem eigenem Interesse den aus der karolingischen Reichsverfassung ererbten Zustand, dem zufolge die Bischöfe königliche Beamte und die freien Stadtleute gemeinlich Glieder des Reichsuntertanenverbandes waren, während die Bischöfe seit Abschluß des zwischen Papst und
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Kaiser im Jahre 1122 zu Worms ausgehandelten Vertrages aus dem amtmännischen Verhältnis zum Könige heraus- und einer der laienfürstlichen gleichkommenden Stadtherrschaft zustrebten, die das Stadtvolk dem Reiche entfremdet und vollständig mediatisiert hätte. So provozierten die Bischöfe einen Rechtsstreit mit ihren Untertanen, der sich um die Frage gedreht haben muß, ob in das Gelöbnis, welches die Stadtleute nach Erneuerung ihrer Privilegien jedem neuen Bischof zu leisten hatten, ein Treuvorbehalt zugunsten des Königs aufzunehmen war oder nicht, denn ein solcher Vorbehalt hätte die Amtmannschaft des Stadtherrn betont und daher dem Interesse der Stadtgemeinde entsprochen. Der König mußte daher stets dazu bereit sein, den Stadtleuten das Einungsrecht zuzusprechen, sofern er gewiß sein konnte, daß den Bürgern selbst daran gelegen war, den Genosseneid mit einem Treuvorbehalt allein zu seinen, nicht jedoch zu Gunsten des Stadtherrn auszustatten. So war es letzten Endes der im Investiturstreit aufgebrochene politische Gegensatz zwischen Bischöfen und Königtum, der die bis dahin einige Stadtherrschaft in eine divergierende Zweiheit zerfallen ließ und seit 1122 in zunehmendem Ausmaße die Geschichte der Reichsverfassung beeinflußte, worin die eigentümliche, zunächst nur in den Bischofsstädten bestehende Situation der Bürgergemeinden ihren Grund hatte, eine Situation, die es ihnen ermöglichte, sich als freie, vom Könige zugelassene Einungen den Pflichten zu entziehen, die ihnen als herrschaftlichen Einungen gegenüber den von ihnen erhobenen und vom Könige ermächtigten Stadtherren oblagen. Alles weitere war eine Frage der Macht und der politischen Geschicklichkeit. § 245. Erst als Kaiser Friedrich II. zu der Überzeugung kam, die Herrschaft über Italien und das Stillhalten der Reichsfürsten gegenüber seiner Italienpolitik müsse ihm wichtiger sein als die Bewahrung der karolingischen Grundlagen der Reichsverfassung, verzichtete der von ihm eingesetzte deutsche König Heinrich (VII.) am 23. Januar 1231 auf die Verteidigung des alten Rechtes und des bischofsstädtischen Kommuneprivilegs, indem er ein von Sprechern des Bischofs zu Lüttich (MGH. Const. 2 S. 413 Z. 19) erfragtes Weistum der Fürsten kraft seiner königlichen Vollmacht sanktionierte, dem zufolge hinfort weder bischöfliche Residenz- noch andere Städte irgendwelche Einungen (communiones), Willküren (constitutiones), Bünde (colligationes), Verbündnisse (confederationes) oder Schwureinungen (coniurationes) errichten durften; etwa bestehende Einungen hatten sie daher für rechtswidrig zu erkennen (abiudicare), und hinfort durfte weder der König ohne Zustimmung des Stadtherrn noch dieser ohne den Willen jenes einer Stadtgemeinde das Kommuneprivileg gewähren (MGH. Const. 2, 413 n. 299 = Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 418 n. 106). Ein Jahr später erneuerte Kaiser Friedrich diese Bestimmungen, indem er nicht nur die Kommunen und die ihnen von Königen und Kaisern, sondern auch die von Erzbischöfen und Bischöfen gewährten Privilegien kassierte (Const. 2, 191 n. 156 = Quellen 1977 S. 428 n. 113. Unten: §§ 258, 259). Zumindest die Erzbischöfe von Bremen, Köln, Mainz, Trier und Besançon und die Bischöfe von Worms, Regensburg, Straßburg, Metz und Hildesheim ließen sich besiegelte Ausfertigungen dieses kaiserlichen Ediktes aushändigen. Exemplare des
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Reichsweistums vom Vorjahre besaßen zumindest der Erzbischof von Mainz und die Bischöfe von Würzburg, Worms und Lüttich. Bei dem Reichsspruch und dem kaiserlichen Edikt handelte es sich um nichts weniger als um den Versuch, die alte Einheit von königlicher und bischöflicher Stadtherschaft dadurch wiederherzustellen, daß man das im Rechtsbewußtsein des Volkes fest verankerte, dem freien Manne angeborene Einungsrecht im Wege der Reichsgesetzgebung beseitigte, soweit das neufreie Stadtvolk betroffen war – von den Landgemeinden ging offensichtlich keine gleich starke Bedrohung des in dem Weistum zum Ausdruck gelangenden Fürstenrechtes aus. Erfolg jedoch konnte das Reichsgesetz schwerlich erzielen, es sei denn vom Rechtsgefühl des Volkes zur Kenntnnis genommen worden, und in der Tat hat es dem Kommunalismus der neufreien Bevölkerung ebenso wenig ein Ende gesetzt, wie dies je zuvor die Revokationen einzelner Kommuneprivilegien vermocht hatten, zumal die Stadtherren gar nicht daran dachten, das Einungsrecht dort, wo es ihnen geboten erschien, nur noch mit königlicher Erlaubnis zu gewähren. Die Kommuneprivilegien der geistlichen und weltlichen Fürsten haben daher je ihre eigene Rechtsgeschichte und bedürfen jeweils besonderer Untersuchung (B. Diestelkamp 1961. H. Patze 1962 S. 465 – 496). Im Gegensatz zu jenen Reichsstädten, die zum Königsgute gehörten und deren Stadtherr daher der König selber war, bildeten die Bischofsstädte später die Gruppe der freien Reichsstädte, da sie eben nur insofern zum Reiche gehörten, als es ihnen gelungen war, sich von der vom Könige eingesetzten bischöflichen Stadtherrschaft zu befreien. Dieselbe Stellung, wenn auch nicht den Titel freier Reichsstädte, erwarben sich die mächtigsten unter den landsässigen Städten des Reiches. Sie erlangten im 15. Jahrhundert den Gerichtsstand vor dem königlichen Hof- bzw. Kammergericht und wurden dem Reiche steuerpflichtig, wenn sie sich der Aufnahme in die Reichsmatrikel nicht zu entziehen wußten (E. Pitz 2001 S. 282 – 285). § 246. Zu dem Streit um das Einungsrecht der freien Hausherren war indessen längst ein zweiter hinzugekommen. In ihm ging es um die Frage, ob Schwureinungen von Bürgern, die bereits als herrschaftliche Verbände einen vom Könige ermächtigten Fürsten zum Worthalter (oben: § 199) und Stadtherrn angenommen hatten, auch als freie Einungen dazu berechtigt waren, ein Haupt, einen Rat, eine Behörde über sich zu setzen, die ihre Amtsvollmacht nicht vom Könige oder Stadtherrn, sondern allein von den geeinten Stadtleuten empfing und damit die von aller Herrschaft unabhängige Freiheit der Einung öffentlich mit einer die Herren empörenden Deutlichkeit sichtbar machte. Wie für die Gemeindebildung, so war auch für die Behördensetzung der Ausgangspunkt auf dem Lande und in den Städten derselbe. In der Verfassung der Dorfgemeinden gibt sich dieser anfängliche Zustand noch nach den Quellen des späteren Mittelalters deutlich zu erkennen, da es nur den Städten und den überlokalen Landesgemeinden, die sich an der Nordseeküste und in den Schweizer Alpen ausbildeten, dank der rasch wachsenden Zahl der Einwohner gelang, die Frühform der genossenschaftlichen Gemeindeverfassung zu überwinden und mit der Annahme der Ratsverfassung
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seit dem Ende des 12. Jahrhunderts alle Eigenschaften der jüngeren Genossenschaft, universitas civium, oder vollendeten Korporation (oben: §§ 16, 17) zu erwerben. § 247. Dagegen blieb es auf dem Lande im allgemeinen bei der Burschaftsverfassung, d. h. einer bloßen Personenvielheit aller Genossen (universi cives), deren Gemeinwille sich nicht von dem Willen der Summe aller Teilnehmer abzuheben vermochte und daher auch keine Haupt- oder Amtmannschaft ausbildete, um sich zu artikulieren. Namentlich in Niederdeutschland blieb die Zahl der bäuerlichen Genossen in der Regel zu gering, um gegen die erstarkenden Dinggenossenschaften und deren vom Könige bestellte gräfliche oder vogteiliche Richter aufzukommen, den Anschluß an die erfolgreiche Einungsbewegung des Bürgertums und des ritterlichen Adels zu finden und sich damit die Umbildung zur Körperschaft zu erkämpfen (O. Gierke 1868 S. 634, 665, 1873 S. 488, 494. G. Dilcher in LMA 4 Sp. 1209 – 1211). Den Unterschieden in der Gemeindeverfassung lag ein sehr wesentlicher Unterschied in den Zwecken und Aufgaben zugrunde, welche die Gemeinden auf dem Lande und in den Städten zu erfüllen hatten. Den bäuerlichen Gemeinden oblag es vor allem, innerhalb des Dorfes und seiner Gemarkung für die in Aufnahme kommende Fruchtwechsel- und Dreifelderwirtschaft den Flurzwang zu handhaben. Außerdem drängten Bevölkerungszuwachs, verdichtete Besiedlung und ausgreifende Rodung die Bauern dazu, der Allmende (oben: § 183) und dem abnehmenden Bestande an Wäldern, d. h. an Nutzholz, Brennholz und Viehweide, gemeinsame Pflege angedeihen zu lassen. Daher taten sich die Hofbesitzer mehrerer Dörfer zu Markgenossenschaften (oben: § 226) zusammen, die jedem einzelnen Hofe einen gerechten Anteil an der Marknutzung zuwiesen und Holzgrafen bestellten, die die knapper werdenden Ressourcen vor Raubbau und Diebstahl schützten. Zudem waren in der Regel Dorfgemeinde und Pfarrgemeinde eng miteinander verbunden, denn Kirchenfabrik und Armenfürsorge stellten den Dorfleuten und ihrem Pfarrer gemeinsam zu lösende Aufgaben. All dies legte es den Gemeinden nahe, einen Verwalter einzusetzen; so kam die Funktion eines Vorstehers der Dorfgemeinde auf, für die sich seit dem 12. Jahrhundert vom Niederrhein bis nach Ostsachsen die mnd. Bezeichnung Burmeister, lat. magister civium, verbreitete. Aber dieses Amt hob sich kaum von der Gemeinde ab, denn es ging unter den Geburen, vicini oder concives, wie man die Vollbauern nannte, der Reihe nach um und war in seinen Entscheidungen jeweils an die Rechtsweisung der versammelten Dorfgenossen gebunden (K. Kroeschell in LMA 1 Sp. 1604 f. G. Köbler in LMA 1 Sp. 2111). Ihre Amtsautorität empfingen Holzgrafen und Burmeister allerdings de iure vom Landesherrn, denn dessen Macht war gewöhnlich groß genug, um die Bildung bäuerlicher Schwureinungen nachhaltig zu unterbinden. Daher konnten die Dorf- und Markgenossen ihre Amtleute im allgemeinen zwar erwählen, sich aber nur stillschweigend zum Gehorsam ihnen gegenüber verpflichten. Die Zwangsgewalt der bäuerlichen Verbände und ihrer Amtleute beruhte formal stets auf ausdrücklicher oder stillschweigender landesherrlicher Delegation, nicht auf freier Einung.
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Oder täuscht uns da die Dürftigkeit der Quellen? In Oberdeutschland, wo sich als Bezeichnung für die dörfliche Behörde der Ausdruck Vierer am weitesten verbreitete, scheint deren genossenschaftlicher Auftrag deutlicher hervorzutreten, da die Gemeindeversammlung ihre Vorsteher nicht nur wählte und vereidigte, sondern ihnen auch ihr Gebotsrecht delegierte, während die Herrschaft die Bestallung lediglich bestätigte, ohne den Vierern ein Gebots- oder Bannrecht zu übertragen (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 30 f., 50, 52). Offensichtlich war in den zahlreichen Zwergterritorien Oberdeutschlands die Macht der Landesherrschaft der der niederdeutschen Fürsten unterlegen. Dies geht auch daraus hervor, daß in den Landständen der meisten geistlichen und weltlichen Territorien Oberdeutschlands seit dem 15. Jahrhundert nicht nur Bürger-, sondern auch Bauerngemeinden vertreten waren, deren Landtagsboten zwar häufig zugleich ein herrschaftliches Amt bekleideten, gleichwohl aber das nach den Regeln des Identitätssystems (oben: § 22) beschränkte kommunale Mandat besaßen, kraft dessen sie die Landtagsbeschlüsse lediglich ad referendum oder auf Hintersichbringen annehmen konnten: Ihre Wortführung bedurfte der Ratifikation durch die Gemeinden. Folglich fanden nach jedem Landtage Gemeindeversammlungen statt, ohne deren Zustimmung kein Landtagsabschied für eine bestimmte Gemeinde Rechtskraft erlangte. Erst im 17. Jahrhundert, als das Zeitalter des Absolutismus begann, gelang es den Fürsten, den Gemeinden das freie Mandat zu oktroyieren, das die Landtagsboten in Repräsentanten verwandelte (oben: § 23) und den Einfluß der Landesregierung stärkte (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 137 – 140). § 248. In Niederdeutschland aber blieb es dabei, daß die Bauern zwar Versammlungen zur Regulierung ihrer kommunalen Angelegenheiten abhalten, dabei aber nicht anders tätig werden konnten denn als Personenvielheit (universi cives) und durch deren vereinigte Hände. Denn mit gesamter Hand (communi manu) handelte eine Mehrheit von Menschen, die zwar als Gesamtheit Träger von Vermögensrechten waren, aber doch der verfassungsmäßigen willentlichen Identität mit bevollmächtigten Häuptern entbehrten und daher keine Möglichkeit besaßen, ihren Verband einmal zur Körperschaft fortzubilden. Die gesamthänderische Verfügung war seit jeher den germanischen Hausgemeinschaften vertraut, soweit diese mit dem Tode des Hausvaters ihr natürliches Haupt zu verlieren, gleichwohl aber unter den Söhnen fortzubestehen pflegten (oben: §§ 91, 100. O. Gierke 1873 S. 923 – 958. F. Ebel in LMA 4 Sp. 1363), und schon in älterer Zeit ist sie von den künstlich geschaffenen Genossenschaften mit und ohne Gebietsbezug vertraglich nachgeahmt worden. In diesem Status der Burschaft oder älteren Genossenschaft befanden sich noch zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Bürger von Worms, die im Jahre 1106 das ausschließliche Recht der Wormser Erbfischer, mit Fischen Handel zu treiben, durch eine gewillkürte Strafnorm derart schützten, daß die von einem anderen Manne zum Weiterverkauf erworbenen Fische beschlagnahmt „und gleichmäßig unter die Marktbürger verteilt werden sollten“ (Keutgen, Urk. S. 351 n. 253). Offensichtlich besaß die Wormser Gemeinde noch keine Kommunalbehörde, die das verfallene
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Gut hätte einziehen und zu Gelde machen können, um es zum Nutzen der Gemeinde zu verwenden. Vielmehr eilten auf den Hilferuf der geschädigten Fischer hin alle auf dem Marktplatz in Geschäften tätigen Bürger herbei, um gemeinsam die Hände auf die Ware des Übeltäters zu legen und sie sofort unter sich an jeden einzelnen mitwirkenden Genossen zu verteilen. Zu der gesamthänderischen Beschlagnahme und sofortigen Verteilung unter sich waren die Versammelten deswegen berechtigt, weil die Personenvielheit der Marktbesucher noch als identisch mit der Bürgergemeinde überhaupt galt (O. Gierke 1873 S. 351 f., 354. E. Pitz 1991 S. 370). In derselben Weise sollte nach dem Sachsenspiegel (Landrecht III 64, 11) der Burmeister die im Dorfgericht verhängten Geldstrafen gemeinsam mit den Gerichtsgenossen im Trinkgelage verzehren (daz ist der bûre gemeyne zu virtrinkene). § 249. Erst in den Städten mit ihrer Vielzahl von Einwohnern und neuartigen sozialen Aufgaben konnte und mußte diese einfache Verfassung überwunden und zur geordneten, durch beamtete Worthalter für alle Bürger verbindlich handelnden jüngeren Form der Genossenschaft fortgebildet werden. An die Stelle der Personenvielheit aller Bürger (universi cives) trat der selber personhaft auftretende, nach Rechtsregeln verfaßte Verband der Bürger (universitas civium), der sich um seines wichtigsten Zieles willen, und das war die genossenschaftliche Sicherung des inneren Friedens in der Stadt, auch einfach als Frieden (pax) oder Freundschaft (amicitia) bezeichnete. Aus der früheren Zeit der Personenvielheit aller Bürger (universi cives) erhielt sich jedoch im Strafrecht der Kommunen noch lange die genossenschaftlich mit gesamter Hand vollzogene Strafe der Hauszerstörung, mit der man schwer meineidig gewordene Bürger belegte. Sobald aber die Untätigkeit des Stadtherrn das Stadtvolk dazu nötigte, sich selbst wichtiger gemeinnütziger Bau- oder Ordnungsaufgaben anzunehmen, mußte die Gemeinde aus ihrer Mitte kundige und vertrauenswürdige Männer bestimmen, um von ihnen Pläne machen, Aufträge vergeben und jeden einzelnen Bürger nach Maßgabe der ermittelten Kosten zur Beihilfe veranlagen zu lassen. Dafür kamen in ersten Linie Schöffen und Kaufmannsgilden in Frage, da jene die notwendige Verwaltungserfahrung im stadtherrlichen Gericht erwerben konnten, wohin die Gemeinde sie als Worthalter ihrer Rechtsauffassungen entsandte, während die Kaufleute es gewohnt waren, auf ihren gemeinsamen Handelsfahrten in der Fremde für gemeinsame Bedürfnisse Sorge zu tragen. So bildeten die Gemeinden Beschlußverfahren für die Feststellung des Gemeinwillens und eine intermittierend tätige Haupt- oder Amtmannschaft aus, um das Beschlossene zu vollstrecken (E. Pitz 1991 S. 325 f.). Bis dahin nur in der Zusammenfassung als herrschaftlich gelenkte Gerichtsgemeinde zu kontinuierlicher gemeindlicher Tätigkeit befähigt, gingen die Stadtleute und neufreien Bürger nun außerhalb der gerichtlichen Aufgaben zu solcher Tätigkeit über, indem sie zunächst eine formlose, im Kreise der Beteiligten flüssige, während ruhiger Zeiten immer wieder abbrechende Worthalter- oder Haupt-
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mannschaft über sich setzten und zu den anstehenden Aufgaben hinreichend bevollmächtigten, indem sie ihr die auf den Bürgereid und das darin enthaltene Beistands- und Gehorsamsversprechen jedes Einzelnen gegründete kommunale Zwangsgewalt gegen widersetzliche Genossen übertrugen. Aus solcher formlosen Vorstandschaft freilich mußte sich eher oder später, sobald die Einzelaufgaben zu beständiger, keine Unterbrechung mehr duldender Tätigkeit zusammenschossen, eine Behörde entwickeln, deren Handeln einerseits an den Gesamtwillen der Genossen gebunden war, andererseits aber auch deren jeden einzelnen verbindlich machte, die Folgen und Kosten mitzutragen. Der Vorstand wuchs zum Organ heran (O. Gierke 1868 S. 270 ff.), wie man mit einem den Quellen fremden und von unerwünschten Bedeutungselementen nicht freien Ausdruck sagen könnte, da die Zeitgenossen weder daran dachten noch dazu imstande waren, einen Begriff von gleich hoher Abstraktion für das neue verfassungsrechtliche Gebilde zu prägen, das sie zu schaffen im Begriffe waren. § 250. Seit im 10. Jahrhundert die Könige begonnen hatten, auf Bitten der Bischöfe, die dabei zweifellos als Sprecher des Stadtvolkes auftraten, den Dingbezirk des in der Stadt errichteten Schöffenstuhls aus der Grafschaft herauszulösen, in deren Gau die Bischofsstadt gelegen war (oben: § 243), hatte sich die Möglichkeit ergeben, rein städtische, d. h. nur noch mit freien Stadtbewohnern besetzte Schöffenkollegien zu bilden, und da diese immer häufiger Rechtsfragen zu beantworten hatten, die sich erst aus den typisch städtischen Lebens- und Wirtschaftsformen ergaben, erwuchs allmählich aus den Erkenntnissen der städtischen Schöffenkollegien ein Stadtrecht, das zwar in den Grundzügen mit dem Landrechte, auf dem es aufbaute, übereinstimmte, aber materiell über das Landrecht hinauswuchs und namentlich in Verfassungsfragen bald auch zu diesem in Widerspruch trat. Da freiwerdende Sitze auf der Schöffenbank von der Gemeinde, oder in deren Auftrage von den Schöffen selber, besetzt wurden, lag es nahe, daß sich die Gemeinde ihrer Schöffen auch in außergerichtlichen Angelegenheiten als Worthalter und Vorsteher bediente. Da die von ihr erkorenen Schöffen aber ihre Amtsvollmacht von dem Bischof erhielten, der nun in seiner Stadt an die Stelle des Grafen getreten war, und ihm deswegen einen Amts- und Treueid leisteten, so gerieten sie alsbald in Schwierigkeiten, wenn der Wille der Gemeinde den Unwillen des Stadtherrn erregte und sich die Gemeinde als Schwureinung konstituierte, um ihre Absichten auch im Kampfe gegen den Stadtherrn durchzusetzen. Da waren die Pflichten, welche die Schöffen gegenüber der Gemeinde übernahmen, sobald sie den Bürgereid leisteten, kaum noch mit denen zu vereinbaren, die sie auf Grund jenes Amtseides dem Stadtherrn schuldeten, und es war zu entscheiden, ob sie in den Bürgereid einen Treuvorbehalt zugunsten des Stadtherrn aufzunehmen hätten. Wahrscheinlich löste sich dieses Rechtsproblem von selbst, da der Bürgereid einen (ausgesprochenen oder stillschweigenden) Treuvorbehalt zugunsten des Königs enthalten haben wird und man behaupten konnte, da der Stadtherr königlicher Amtmann sei, könne die Treue zu ihm keine anderen Pflichten begründen, als Bürger und Schöffen gegenüber dem
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Könige übernommen hätten. Und so erhob sich das Problem tatsächlich nicht als rechtliche, sondern nur noch als politische Streitfrage. Wir sahen bereits, wie sehr die bürgerliche Auffassung den Interessen der Könige entsprach und wie leicht daher die Herrscher bereit waren, sie durch Gewährung des Kommuneprivilegs zu bestärken und zu rechtfertigen. Aber vielfach bewogen Standesinteressen jener Schöffen, die altfreien grundbesitzenden Geschlechtern oder der stadtherrlichen Ministerialität angehörten oder entstammten und mit scheelen Blicken auf das neureiche Stadtvolk schauten, die Schöffenkollegien dazu, das stadtherrliche Interesse mehr zu fördern als das bürgerliche. Dieselbe Situation entstand in der Stauferzeit in denjenigen Städten Frankens und Schwabens, wo der König selber jener Stadtherr war, dem die Schöffen durch Amtseid und die eingesessenen Ministerialen nach Dienst- oder Lehnrecht verpflichtet waren. Daher kommt es, daß sich die Bürger im 12. Jahrhundert von den Schöffen abzuwenden und nach anderen Möglichkeiten umzusehen begannen, um das gemeindliche Interesse zu wahren und, sobald dieses eine fortlaufende Geschäftsführung erforderte, die Stadt zu verwalten. § 251. Über die Gestalt dieser frühen kommunalen Institutionen ist wenig bekannt, am meisten noch über die wohl im zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts in eine neue Form gekleidete Richerzeche zu Köln, die sich im Bürgerhause zu versammeln pflegte und nicht nur damals das erste Stadtsiegel anfertigen ließ, sondern auch alljährlich die beiden Bürgermeister erwählte, die die Geschäfte der Stadt führten. Da einer derselben, und zwar jener, der auch das Siegel verwahrte, zugleich Schöffe war und die Schöffen in der „Bruderschaft der Reichen“ überhaupt eine maßgebende Rolle spielten (L. Böhringer in LMA 7 Sp. 831), könnte die Verfassung der Richerzeche von den Schöffen entworfen worden sein, die sich durch diese Maßnahme in den Stand setzten, weiterhin „als Kommunalbehörde die Bürgergemeinde zu leiten und ihre Belange nach außen zu vertreten“ (M. Groten 1995 S. 4), obwohl ihre amtliche Bindung an den Stadtherrn besonders eng, und enger als in anderen Städten, war, weil „die höchste richterliche Gewalt des Erzbischofs . . . von der anderer Bischöfe wesentlich verschieden“ war insofern, als „er nicht bloß Gerichtsherr, sondern selber Richter war ohne Vertretung durch den Vogt“: Er selbst empfing daher vom Könige den Gerichtsbann, saß dem Gerichte vor und erfragte von den Schöffen das Urteil (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 235 – 240). Wie sich zuvor bereits die zweifellos durchweg altfreien Häuser oder Geschlechter, welche die Schöffenstühle zu besetzen pflegten, nach deutscher Gewohnheit (oben: § 208) zur Standesgenossenschaft vereinigt und als Bessere oder Reichere von dem Stadtvolke abgesondert hatten, für das sie im Gerichte das Recht erkannten, so tat es auch die Richerzeche, da sie allein befugt war, neue Brüder in ihren Verband aufzunehmen, und nur aus dem Kreise ihrer Genossen die Bürgermeister erkor. Bemerkenswerterweise gründete sich bereits die Verfassung der Richerzeche auf die Prinzipien der Annuität und Kollegialität, die sich alle späteren
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Kommunalbehörden angeeignet haben; Kollegialität war bereits im 11. Jahrhundert bei den Bauern der Normandie zu beobachten (oben: § 229). Da sich alle älteren Genossenschaften als herrschaftliche konstituiert und zum Haupte eine einzelne Person für deren Lebenszeit erhoben, mithin sich eine monokephale oder monarchische Verfassung gegeben hatten, ist in der Annahme jener Grundsätze gewiß eine bewußte Entscheidung für eine andere Ordnung zu sehen, die auf der Erfahrung beruht haben mag, welche die freien Einungen zuvor mit gesamthänderischen oder von intermittierenden Häuptern geführten Verwaltungen gemacht hatten. Ihr Vorteil muß in der Möglichkeit gelegen haben, die jeweils amtierenden Bürgermeister und späterhin Ratmannen einer strikteren Kontrolle zunächst durch ihre Standesgenossen, dann aber auch durch die Stadtgemeinde zu unterwerfen, sobald jeweils zwei Worthalter sich in den Geschäften untereinander abstimmen und ihr Amt alljährlich an neue Amtleute übergeben, bei der Gelegenheit aber vor der Öffentlichkeit des Verbandes oder gar der Stadt über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegen mußten. Während bei monarchischer Amtsführung die Kontrolle durch einen Kollegen ganz entfiel (sie wurde ersetzt durch die der Großen, die für den Untertanenverband sprachen und an deren Konsens der Fürst bei allen Entscheidungen gebunden war) und ein das Volk in seine alte Freiheit entlassendes Interregnum nur im Wechsel der Generationen eintrat, wiederholte sich das Intermagisterium oder Interconsilium in der Kommunalverwaltung auch dann noch in jedem Jahre, als die Gemeinden zur Ratsverfassung übergegangen waren. „Nie handelt ein einzelner für die Gemeinde. Wie alle Ausschüsse der Bürgerschaft, so gehen auch alle Führungsorgane sowie deren Teilausschüsse von der Mehrzahl aus . . . Während also die stadtherrlichen Beamten, Vogt oder Schultheiß, Richter oder Rektor, auch Münzmeister und Zöllner, fast immer Einzelpersonen sind, besteht der gemeindliche Staatsgedanke spätmittelalterlicher Fassung – in der Stadt wie auf dem Lande übrigens! – auf Kontrolle und Beratung durch kollegiale Bindungen . . . Geteilte und gemeinsame Verantwortung wird höher gestellt als intuitiver Entschluß und Eigenverantwortung der Einzelpersönlichkeit“ (H. Stoob 1980 S. 358. E. Pitz 2001 S. 212. Oben: § 17). Mit der alljährlichen Wiederkehr des Interconsiliums hängt eine zweite, der Monarchie fremde Neuerung zusammen, nämlich „die Periodizität der Gemeindeversammlung“, die als Verfassungsgrundsatz ebenfalls „zu den genialen Hervorbringungen des Kommunalismus“ zählt (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 136), denn zu jeder Ratsumsetzung gehörten der ungebotene Schwörtag oder die Bursprake, mittels deren die Bürger ihre Einung und die Bevollmächtigung ihrer Worthalter erneuerten und jedes Bestreben ihrer Häupter hintanhielten, sich zu verselbständigen und zur Obrigkeit über sie zu erheben. § 252. In den meisten Städten dürfte die frühkommunale Phase, in der die Gemeinde durch die Bürgerversammlung, sei es mit deren gesamter Hand oder im Wege spezieller Ermächtigung von Fall zu Fall eingesetzter Worthalter, zu handeln
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pflegte, erst mit dem Übergange zur Ratsverfassung zu Ende gegangen sein. Ratmannen oder ein Stadtrat werden erstmals erwähnt zu Basel um 1185 / 90, zu Utrecht 1196, zu Worms 1198, zu Lübeck 1201, zu Soest vor 1213, zu Straßburg vor 1214 und zu Köln 1216 (M. Groten 1995 S. 69 – 74). Ratsverfassung bedeutete Zerlegung der gemeindlichen Verwaltung in bestimmte, sachlich gebotene Aufgabenfelder, Ermächtigung bestimmter Ratmannen zur Verwaltung je eines derselben gemäß dem Grundsatze der Annuität und Kollegialität, Wahrung der Verwaltungseinheit durch gemeinsame Beratungen und Entscheidungen aller Ratmannen unter Vorsitz der Bürgermeister, Wahrung des Vorrangs des Gemeindewillens vor dem Ratswillen einerseits durch Erhaltung des Rechtes der Bürger, sich zu versammeln, und der Periodizität ungebotener Bürgerversammlungen, andererseits durch Zerlegung der Gemeindegeschäfte in gewöhnliche, in denen den Bürgermeistern, außergewöhnliche, in denen dem gesamten Rate, und hochbeschwerliche, in denen der Bürgerversammlung die letzte Entscheidung zusteht, und schließlich das Recht der Stadtgemeinde, einen Rat, der diese Verfassung bricht, zu verlassen und auch gewaltsam seines Amtes zu entsetzen (E. Pitz 2001 S. 211 – 230): „Der Lackmustest für den Kommunalismus sind Revolten,“ die dazu dienten, „die Kompetenzen der Gemeinde zu erhalten oder zu erweitern“ (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 116, 246 – 263). Wegen ihrer Unfähigkeit, die rasch wachsende Verwaltungsarbeit der ebenso rasch wachsenden Städte selbst zu meistern, mußten Stadtherren und Schöffen es dulden, daß immer mehr Stadtgemeinden die Ratsverfassung bei sich einführten und darüber hinaus bestimmte gemeinnützige Aufgaben den Handwerksämtern überließen. Es ist schwer vorstellbar, daß eine so komplizierte Ordnung anders als durch ausdrücklichen Beschluß der Bürgerversammlung hätte eingeführt werden können, geschweige denn, daß Kaiser Heinrich VI. sie nach dem Vorbilde des italienischen städtischen Konsulates den Bischofsstädten oktroyiert und dadurch in Deutschland heimisch gemacht habe (so H. Planitz 1954 / 1975 S. 300): Weder hätte irgendein auf den Konsens und Gehorsamswillen seiner Untertanen angewiesener König in jener Zeit zu dergleichen den erforderlichen Sachverstand und die politische Macht besessen, noch wären die Stadtleute auf eine derartige Nachhilfe angewiesen gewesen. Historiker, die so urteilen, sind ein Opfer der Herrschaftspropaganda, die unsere Quellen durchtränkt hat, und unfähig, hinter dem Schein dieser Propaganda das seiner selbst sichere und mächtige Volk zu erkennen, das erst in der Neuzeit dazu erzogen worden ist, in allen Nöten Abhilfe nicht von sich selbst, sondern von der Regierung zu erwarten. So haben zweifellos überall die Schöffen, die später (soweit Stadt- und Landgerichte überhaupt die Schöffenverfassung angenommen hatten) stets einen Teil der Ratsstühle besetzten, an dem Entwurf und der Annahme der Ratsverfassung mitgewirkt, denn bei ihnen war der Sachverstand vorhanden, der den Beratern des Königs und der Stadtherren abging. Nur in Köln kam es zu einer Konkurrenz zwischen Schöffen und Rat, mit dem Ergebnis, daß die Schöffen, nachdem sie jahrzehntelang den Rat bekämpft und jeder Aufwertung seiner Befugnisse ent-
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gegengetreten waren, schließlich, gleich der Richerzeche, aus der Stadtregierung verdrängt und auf ihre gerichtlichen Aufgaben beschränkt wurden (M. Groten 1995 S. 74, 161 – 169, 301 – 309). Die Stadtherren allerdings dünkte überall die Gemeinde, welche einen Rat über sich setzte, an ihre Ehre zu rühren. Sie wollten um ihre Erlaubnis gefragt werden, damit der Schein ihrer Hoheit keinen Abbruch erlitte.
§§ 253 – 259. Der Streit um das richtige Recht bleibt ungelöst § 253. Merkwürdigerweise haben die um das Kommuneprivileg und die Ratsverfassung geführten Kämpfe weder unter den Beratern des Königs noch in der Reichskanzlei noch in den Städten eine begriffliche Durchdringung der juristischen und staatskundlichen Probleme angeregt, wie sie jetzt in Italien und in England einsetzte. Auf der britischen Insel hatte die starke normannisch-angevinische Königsgewalt freien Einungen der Untertanen keine Entfaltung gestattet (oben: § 171); vielmehr forderte der König dort seit 1176 von allen rechtsfähigen Einwohnern seines Reiches einen Untertaneneid und gliederte damit jedermann in eine herrschaftliche Genossenschaft ein, die sich schon 1215 communa totius Angliae nannte (K. Kluxen 1987 S. 57). Seither bestärkten die Könige, indem sie die Richter ihres Hofgerichtes regelmäßig das ganze Land als königliche Legaten bereisen ließen, die Untertanen in der Überzeugung, die allen Freien ohnehin eingeboren war, daß nämlich alle Gerichtsbarkeit im Lande und in den Städten letztlich vom Könige abstamme. Im Kreise der königlichen Richter aber setzte schon im 12. Jahrhundert eine wissenschaftliche Bearbeitung des von der königlichen Rechtsprechung geschaffenen gemeinen englischen Rechtes (common law) ein (ebd. S. 46 f., 51), die diese Überzeugung vernünftig begründete. So kam das englische Recht zu dem Vorzuge, als einziges unter allen germanischen Rechten bereits im Mittelalter der wissenschaftlichen Durchdringung nach den in Italien dafür entwickelten und alsbald auch in Paris, Oxford und Cambridge, nicht aber in Deutschland gelehrten Methoden unterzogen zu werden. Denn in Italien und Frankreich machten die Gelehrten nicht die langobardischen, burgundischen und fränkischen Volksrechte an sich selbst zum Gegenstande ihres Studiums, sondern nur Fragmente davon, soweit solche die Praxis des römischen und kanonischen Rechtes beeinflußt hatten, auf das es ihnen eigentlich ankam. In Deutschland aber blieb alle Rechtspflege weiterhin Laienrichtern überlassen, denen niemand eine Anleitung zu wissenschaftlichem Studium des Rechtes und zu begrifflicher Klärung und Widersprüche auflösender Begründung ihrer Erkenntnisse nahelegte. So kommt es, daß sich das deutsche Königsgericht in seinen Urteilen in einer Art und Weise selbst zu widersprechen vermochte, wie das in England im 13. Jahrhundert nicht mehr möglich war.
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So hatte König Friedrich II. zunächst, und zweifellos auf Bitten der Bürgergemeinde zu Basel hin, unter Umgehung des Bischofs dort einen Stadtrat eingesetzt, oder richtiger: den von der Gemeinde gesetzten Rat als rechtmäßige Institution anerkannt. Aber am 13. September 1218 zu Ulm erfragte er auf Verlangen des Bischofs hin ein Weistum der Fürsten und Magnaten darüber, ob der König befugt sei, ohne Wissen und Willen des Bischofs in dessen Stadt Basel einen Rat zuzulassen oder einzusetzen, und nachdem die Versammelten einhellig die Frage verneint und er ihr Urteil für gerecht erkannt hatte, setzte er den Rat zu Basel ab und löste ihn vollkommen auf; das Privileg aber, das er denen von Basel (Basilienses) gegeben, kassierte er (MGH. Const. 2, 75 n. 62), ohne hierzu die Bürger anzuhören und ohne zu begründen, warum er, was er zuvor als Recht der Bürger bestätigt hatte, jetzt für Unrecht erkannte, geschweige denn, daß sich die das Urteil weisenden Fürsten von dem Konflikt zwischen dem Willkürrecht der freien Untertanen und dem Hoheitsrecht des Stadtherrn Rechenschaft gegeben und versucht hätten, den Widerspruch aufzulösen. Niemandem kam zu Bewußtsein, daß dieser Widerspruch einst, als noch die Bischöfe Sprecher der Gemeinden gewesen und die Privilegien, deren das Volk bedurfte, beim Könige erwirkt hatten, nicht vorhanden gewesen und daß seither ein Wandel der Reichsverfassung vor sich gegangen war, der die Fürsten auf Kosten des Volkes begünstigte. Es war sich auch niemand dessen bewußt, daß die Ratssetzung auf dem Willkürrecht beruhte, das sich freie Einungen zu setzen befugt waren und das auch der Bischof und die Fürsten anerkannten, da sie nicht soweit gingen, den Baselern das Kommuneprivileg zu entziehen. Vielmehr erkannten der König und die geistlichen Fürsten das Stadtrecht zwar beiläufig, aber ausdrücklich an, als der König am 26. April 1220 unter anderem bestimmte, daß kein königlicher Sendebote in einer Bischofsstadt Hoheitsrechte an sich ziehen dürfe außer zur Zeit eines königlichen Hoftages, daß er aber selbst dann sowohl die Hoheitsrechte des Fürsten, iurisdictionem principis, als auch das Recht der Stadtgemeinde, consuetudinem civitatis, zu beachten habe (MGH. Const. 2, 86 n. 73 c. 10). Zu lat. iurisdictio werden uns als mhd. Äquivalente gebietende Gewalt, gebietendes Recht, Gewalt des Rechtes oder eines Herrn, genannt (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 312), und seit jeher verstand man im Ostfränkisch-deutschen Reiche darunter nicht die Erkenntnis des Rechts, welche Sache der Hof- und Dingversammlungen oder ihrer Schöffen war, sondern dessen hoheitliche Anwendung (iurisdictio vel aliqua potestas puniendi maleficia: Const. 2 S. 75 Z. 6, iurisdictio sive in theloniis sive in monetis seu aliis officiis: ebd. S. 90 Z. 27 – 28). Consuetudo dagegen war alles (nicht notwendigerweise gerichtsförmlich gewiesene und vom Könige oder dessen Amtmann sanktionierte) positive Recht und namentlich die nach Belieben von Kaufleuten und Genossen freier Einungen unter sich gewillkürte oder vereinbarte Satzung (oben: § 227). § 254. Die Verhältnisse änderten sich um einen weiteren Grad, nachdem Friedrich II. die Kaiserkrone empfangen und begonnen hatte, beständig in Italien zu ver-
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weilen. Zwar ließ er in Deutschland „eine besondere Reichsregierung“ zurück, bestehend aus seinem Sohne Heinrich, dem römischen König, und aus Reichsverwesern oder Reichsräten, doch hatte er keineswegs die Absicht, unmittelbaren Eingriffen in die Regierung Deutschlands und in den herkömmlichen Gang der Geschäfte zu entsagen, da er die politischen Kräfte des Reiches den Zielen dienstbar machen wollte, die er in Italien verfolgte. So erhob sich die Frage, „wie nun eine solche kaiserliche Regierung . . . von Italien . . . aus mit dem Einwilligungsrechte der deutschen Fürsten zu vereinigen war“, da diese nicht verpflichtet waren, dem Kaiser nach Italien zu folgen (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 160). Auch diese Frage blieb verfassungsrechtlich unbeantwortet. Zwar kam dem Kaiser, um sie zu seinen Gunsten zu entscheiden, die italienische Rechts- und Staatswissenschaft zu Hilfe, die Friedrich seit 1224 auch in Neapel lehren ließ, um Juristen für die Regierung seines Königreichs Sizilien heranzuziehen, aber damit war für das deutsche Recht um so weniger gewonnen, als er seinen Professoren jede freie, praxisnahe Behandlung kommunaler Autonomie untersagte und den Studenten nur die staatsfromme Korporationstheorie des justinianischen Rechtes (O. Gierke 1881 S. 129 – 185) einimpfen ließ. Denn in Bologna hatten allerdings zu seinem Verdrusse die Rechtsschulen längst damit begonnen, auch die vom römischen Rechte nicht gedeckte, weil langobardisch-fränkischen Rechtsauffassungen entsprungene Praxis der italienischen Kommunen zum Gegenstande juristischer Betrachtung zu machen, auch wenn ihnen deren germanische Herkunft ebenso verborgen blieb wie die darin gründende Unvereinbarkeit mit dem römischen Recht. So bereitete ihnen denn auch die Analyse der Rechtsbeziehungen innerhalb der bürgerlichen Korporation oder universitas civium, in denen überall germanisches Einungsrecht am Werke war, die größten Schwierigkeiten. Zunächst (O. Gierke 1881 S. 204 ff., 218, 425 ff.) hatten sie sich als Subjekt der Verbandsrechte die Gesamtheit der einzelnen Genossen gedacht, wie sie innerhalb der Gemeinden als Volksversammlung sichtbar zusammentrat, und den übereinstimmenden Willen aller dort Anwesenden mit dem Korporationswillen, gemeinsames Wollen und Handeln Aller, etwa bei Wahlen, mit dem Handeln der Körperschaft selber gleichgesetzt. Dann aber hatten sie bemerken müssen, daß dies nur bei einstimmigem (nach deutschrechtlicher Ansicht gleichsam gesamthänderischem) Beschluß der Versammelten zulässig war und daß sich aus der Summe von Einzelwillen nur ein sehr fragwürdiger Gemeinwille ergab, sobald sich bedeutende Minderheiten der Zustimmung entzogen. Ebenso hatte die Beobachtung ohne weiteres ergeben, daß die Gemeinden vermögens- und rechtsfähig waren; schwer aber war eine Erklärung dafür zu finden, daß den einzelnen Verbandsgenossen keine Haftung für Schulden seiner Gemeinde traf. Das Verhältnis der als Schuldner gedachten, unsichtbaren Verbandsperson oder Gesamteinheit zur Gesamtvielheit der im arengo versammelten Mitglieder und zur Summe der lediglich zusammenwohnenden Einzelnen blieb unter den Juristen daher bis zum Ende des Mittelalters strittig, weil sich der
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deutschrechtliche Grundsatz der Identität natürlich aus ihren römischen Rechtsquellen nicht ableiten ließ. § 255. Denn auch wenn sie nun allmählich lernten (ebd. S. 219 ff., 312 ff., 331 ff., 595 ff.), von der bloßen Addition der Einzelwillen deren Integration zum Gesamtwillen zu unterscheiden und das Tätigwerden der Gemeinde durch erwählte und bevollmächtigte Häupter zu erfassen, ließen sich diese Schwierigkeiten nicht überwinden, weil die Juristen die dem Identitätssystem eingeborene Einhelligkeit der Willensbildung und die Folgepflicht der Minderheit, welche jene ermöglichte, nicht durchschauten, sondern ihren Erklärungen das Majoritätsprinzip zugrundelegten, wie es sich jetzt, unterstützt von den Kanonisten, in der Praxis der kirchlichen Wahlkörper herausbildete, mit der Folge, daß sie die beobachtete identische Willensbildung sogleich in die der Repräsentation verbogen (oben: § 14). Problematisch blieb auch die Deduktion der Hauptmannschaft. Gemäß den bestehenden germanischen Verfassungseinrichtungen sah man es zwar als selbstverständlich an, daß jede universitas ein (ererbtes oder erkorenes) fürstliches Oberhaupt besaß, aber damit war noch nichts für die Verfassung der Kommunalbehörden gewonnen. Indessen entdeckte man bald, daß diese Behörden im Namen und Auftrage der Gemeinden handelten und daß sich ihr Wirken direkt nur auf die Verbandseinheit, auf die einzelnen Verbandsmitglieder aber lediglich indirekt bezog, da nur der Verband für das Handeln seiner Amtleute haftete. Des weiteren unterschied man die Vollmachten, welche der Verband den zu Häuptern erhobenen Männern als Amt verlieh, von deren persönlichen oder privaten Befugnissen, was bei erblicher Hauptmannschaft oder Herrschaft nahezu unmöglich war, aber bei befristet und durch Wahl vergebenen Ämtern mit Erfolg versucht werden konnte. Indessen die endlosen Kämpfe, die die italienischen Städte mit den Kaisern aus staufischem Hause um die Abgrenzung des hoheitlichen Herrenrechtes gegen das gesatzte Verbandsrecht ausfochten, vermittelten den vom Geiste des römischen Rechtes geleiteten Juristen doch in erster Linie die Auffassung der Stadtgemeinde als eines an und für sich zum Staatsdienste berufenen Verbandes, einer Lastengemeinde, die keines eigenen Willens bedurfte, da ihre Häupter und Behörden sie gegenüber dem Staatsganzen hinreichend vergegenwärtigten oder repräsentierten. Wie immer, wenn sich ihr Gedankengang von dem Beobachtbaren abwandte und dem Erfordernis kausaler Erklärung zu genügen versuchte, so konnten sie sich auch hier nur noch von der ratio scripta leiten lassen, die sie in dem Corpus der justinianischen Gesetzbücher beschlossen fanden. Die aber gebot ihnen, die Gemeinden als willensunfähig und kaiserlicher Bevormundung bedürftig zu betrachten, und das konnte Friedrich II. und seinen Beratern nur recht sein. In Italien war es bereits ein Gemeinplatz geworden, die Deutschen als rationis expertes, voluntatem pro iure habentes auszugeben und ihre Fürsten als Männer more Teutonicorum sine lege et ratione voluntatem suam pro iure statuentes (Burchard von Ursberg S. XX, 54 Z. 18 – 55 Z. 1); dies war der Standpunkt des gelehrten römisch-kanonischen Rechtes der Zeit, von dem aus sich kein Zugang zu der deutschrechtlichen
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Funktion der Urteiler als Depositare und Worthalter des ungeschriebenen einheimischen Rechtes auftat. § 256. So ist es zwar nicht erstaunlich, daß sich der Kaiser auf diesen Standpunkt stellte, wohl aber, daß sich auch manche deutschen Fürsten bereitfanden, ihm dahin zu folgen. Es waren dieselben, die im Jahre 1226 auch die Ladung des Kaisers zu einem Hoftage befolgten, der zwar in deutschen Angelegenheiten beschließen, zum ersten Male aber und wider alles Herkommen nicht auf deutschem Boden, sondern im Königreich Italien stattfinden sollte (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 161 – 164. K. G. Hugelmann 1955 S. 439 f.). Zu ihnen zählte Bischof Gottfried von Cambrai, der erschienen war, um dem Kaiser vorzutragen, es sei zwischen ihm und den Bürgern von Cambrai vereinbart worden, die beiderseits erworbenen königlichen Privilegien ad curiam Alemannie deferre . . . et ea in ipsa presentare, ut per iudicium eiusdem curie videretur, que pocius ex ipsis, cassatis aliis, deberent firmitatem roboris obtinere (MGH. Const. 2, 134 n. 106, hier: S. 134 Z. 24 – 28). Nun sei zwar er, aber niemand von Seiten der Bürger (gemeinlich) hier erschienen, denn die anwesenden Bürger hätten nec mandatum nec procurationis litteras vorzuweisen; überdies bestritten sie die Zuständigkeit des inzwischen nach Borgo San Donnino verlegten Tages, dicentes non esse curiam Alemannie ubi nostra (des Kaisers) esset persona (ebd. Z. 30 – 34). Der Bischof begehrte daher, daß gemäß Urteilen früherer deutscher Hoftage die Privilegien der Bürger kassiert, die seiner bischöflichen Kirche dagegen bestätigt würden. Kaiser Friedrich war geneigt, dem stattzugeben, weil die Bürger (gemeinlich) weder erschienen noch ihre Privilegien eingesandt, jedoch durch jeder Vollmacht entbehrende (einzelne) Bürger eine Einrede erhoben hätten, die er als verbrecherisch (frivolus gleich mhd. freuelle, vnnutze, trugene, logenachtich, L. Diefenbach, Glossarium S. 248. MGH. Const. 2 S. 414 Z. 27) erachtete, cum ibi sit Alemannie curia ubi persona nostra et principes imperii nostri consistunt (ebd. S. 135 Z. 3 – 4). Daher bestimmte er mit Rate der anwesenden Fürsten in Urteilsweise, daß die Privilegien der Bürger ungültig, die der bischöflichen Kirche dagegen gültig sein sollten. Zudem untersagte er den Bürgern, sich in der vom Stadtrecht vorgeschriebenen Form, die die Identität der Anwesenden mit der Gemeinde garantierte, zu versammeln: ne sono campane ad aliquam convocationem civium faciendam ammodo predicti cives utantur vel ad sonum ipsum convenire presumant (ebd. Z. 10 – 12). Der Bischof sollte befugt sein, libere pro sua voluntate Richter und Schöffen einzusetzen, nulla iurisdictione predictis civibus nomine communie vel consuetudinum quas pacem nominant reservata (ebd. Z. 14 – 17). Man sieht, wie sich der Kaiser und die Fürsten der Gedanken des justinianischen Absolutismus bedienten, um das ihnen lästige Recht der freien Einung zu vernichten, ohne dafür einen nach deutschem Rechte stichhaltigen, den Vorrang des Herrenrechts vor dem Volksrechte erweisenden Grund aufsuchen zu müssen. Denn nur nach römisch-kanonischem Rechte galt als nicht erschienen, wer zwar anwesend, aber nicht hinreichend bevollmächtigt war; nur nach diesem
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Rechte hätten die beim Reichshoftage eingetroffenen Bürger einer schriftlichen Vollmacht ihrer Gemeinde bedurft, damit sie sie vor dem Kaiser repräsentieren könnten (E. Pitz 2001 §§ 2, 3, 24 – 26); nach deutschem Rechte und nach den Regeln des Identitätssystems waren sie als Sprecher ihrer Gemeinde ausgewiesen, solange sie sich der Identität ihres Willens mit dem der Gemeinde gewiß und daher nicht genötigt waren, von ihrem Referenzrecht Gebrauch zu machen (oben: § 22). Zwar erkannte der Kaiser inkonsequenterweise die deutschrechtliche Vollmacht der bürgerlichen Sendeboten dadurch an, daß er deren „Protest gegen die Rechtsgültigkeit der außer Landes erfolgten kaiserlichen Entscheidungen in deutschen Angelegenheiten, soweit diese zur Kompetenz des deutschen Hoftages gehörten, überhaupt“ anhörte (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 163). Aber wichtiger als juristische Konsequenz war ihm die Gelegenheit, dem, vom römischen Standpunkte aus gesehen, lügenhaften Einwande der Bürger die eigene Auffassung entgegenzusetzen, daß der deutsche Hoftag von Rechts wegen ein Attribut der kaiserlichen Person sei, und um des Scheins des behaupteten Rechtes willen vermied er es an dieser Stelle sogar, seine Umgebung als principes Alemannie zu bezeichnen, um statt dessen von den Fürsten des Kaisertums zu reden. „Die Anschauung von der rechtlichen Wirksamkeit der großen Gliederungen des Reichs ist damit völlig beseitigt; der Kaiser konnte danach im entferntesten Winkel seines Erbreiches mit Zuziehung einzelner italienischer Bischöfe die folgenschwersten Verfügungen für Deutschland treffen. Und ohne Festhalten dieses Grundsatzes war allerdings ein fortwährendes Eingreifen in die Regierung Deutschlands für ihn nicht durchzuführen“ (ebd.). § 257. Die deutschen Fürsten, und zwar nicht nur diejenigen, die um ihres Eigennutzens willen dem Kaiser nach Italien gefolgt waren, mochten die kaiserliche Inkonsequenz unbeanstandet lassen und die in den Kauf zu nehmende Erschütterung der in Deutschland bestehenden Rechtsgrundsätze nicht nur deswegen begrüßen, weil Friedrich ihr Stillschweigen mit unbegrenzter Nachgiebigkeit gegenüber ihren politischen Velleitäten bezahlte: „Solange er aus Italien nur Verfügungen zugunsten der Fürsten traf, hatten diese allerdings keinen Grund, seine Berechtigung dazu genauerer Prüfung zu unterziehen“ (ebd. S. 164). Gewiß war es ihnen ebenso erwünscht, nicht mehr daran erinnert zu werden, daß sie der Annehmung von Seiten der Bürger bedurften, um die Stadtherrschaft, die ihnen der Kaiser übertrug, tatsächlich zu erlangen, und daß sie um dieses Zieles willen gezwungen waren, vorher die Privilegien und das Einungsrecht der Bürger zu bestätigen, – nicht mehr daran erinnert zu werden, daß sie nicht als Personen, sondern als Sprecher ihrer Untertanen zu den Hoftagen geladen wurden und dort nicht den eigenen, sondern den Gesamtwillen ihres Untertanenverbandes zu vertreten hatten, wie ihnen denn sehr wohl bewußt war (MGH. Const. 2, 420 n. 305), daß sie daher einer Kontrolle von Seiten ihrer Untertanen unterlagen, die diese, wenn der Hoftag, ihnen leicht erreichbar, in Deutschland gehalten wurde, auch tatsächlich wahrzunehmen vermochten.
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Die deutsche Regierung König Heinrichs (VII.) konnte sich denn auch gegen die Inkonsequenz und Unrechtmäßigkeit des kaiserlichen Verfahrens nicht verschließen. Auf eine Klage der Bürger von Cambrai hin lud sie den Bischof auf den 18. November 1226 vor den königlichen Hoftag nach Würzburg, wo der Beklagte persönlich, die Kläger aber per procuratores sufficienter instructos (Const. 2, 407 n. 292, hier: S. 407 Z. 26) erscheinen sollten: Nach deutschem Rechte verlangte man von ihnen keine schriftliche Vollmacht, sondern lediglich hinreichende Unterrichtung über den Willen ihrer Gemeinde. Gegen den Widerspruch des Bischofs verhandelte nun der König den Streitfall von neuem und ließ ihn formal korrekt durch Spruch der Fürsten und Edlen, inhaltlich jedoch genauso wie zuvor entscheiden. Die Bürgerschaft war damit wenn schon nicht ihrer Kommune entkleidet, so doch in die Verfassung der cives universi der älteren, behördenlosen Genossenschaft zurückversetzt; der König aber bestätigte ihr die dem ganzen Verfahren zugrundeliegende Reichsunmittelbarkeit und Rechtsfähigkeit, indem er civibus universis Cameracensibus das Urteil schriftlich mitteilte und ihnen befahl, es zu erfüllen (Const. 2, 409 n. 293). Zu einer Begründung des Urteils und der Verdammung des bürgerlichen Einungsrechtes war es wiederum nicht gekommen. Offensichtlich war bei Hofe niemand anzutreffen, dessen Rechtskenntnisse hingereicht hätten, um sie zu geben und damit auch die juristische Inkonsequenz aufzudecken, zu der die römische Interpretation der deutschen Königsgewalt den Kaiser und dessen Hoftag in Italien genötigt hatte. Hierzu hätte es wissenschaftlich geschulter Kenner des einheimischen, dem ganzen Reiche gemeinen Rechtes bedurft, wie sie zu der Zeit am englischen Hofe zu Westminster bereits verfügbar waren, in Deutschland aber selbst dann vermißt worden wären, wenn der königliche Hof bereits von dem späteren Ruhme des ostsächsischen Schöffen Eike von Repgow erreicht worden wäre. § 258. Der Kaiser aber fuhr fort, von Italien aus in die deutschen Geschicke einzugreifen, um die deutschen Fürsten für sich einzunehmen. Ein weiteres Mal lud er sie zu einem allgemeinen Hoftage nach Italien, und zwar zum 1. November 1231 nach Ravenna. Tatsächlich fand sich dort eine nicht unbedeutende Anzahl von ihnen ein, ging es doch unter anderem darum, endgültig die Autonomie der deutschen Bischofsstädte zu unterdrücken. In der Urkunde, die darüber Auskunft gibt (MGH. Const. 2, 191 n. 156), ist die Rhetorik des kaiserlichen Absolutismus nun voll entfaltet, aber der Diktator sah sich deswegen dazu genötigt, wichtige Bestandteile des Formulars der deutschen Königsurkunde, nämlich Inskription, Promulgation und Petition, gänzlich beiseitezulassen und die Pönformel gewaltsam zu entstellen, weil sie mit dem Charakter eines allein aus kaiserlicher Rechtseinsicht und Willensmacht entspringenden Ediktes unvereinbar waren. Auf die Intitulation ließ er also sogleich die seinem Zwecke uneingeschränkt dienliche Arenga folgen: Aus dem Willen Gottes, der Könige und Fürsten in ihre Würden einsetze und über alle den kaiserlichen Stuhl gesetzt, bekleide der Aussteller die Würde der römischen Monarchie, Romanae monarchiam dignitatis, mit der
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Fülle herrscherlicher Gewalt, plenitudo potestatis (ebd. S. 192 Z. 37); der kaiserlichen Majestät gezieme es, imperatoriam condecet maiestatem, diejenigen, durch die sie den Ruhm ihrer Hoheit, celsitudo, ergriffen habe und auf denen diese beruhe – so gefiel es dem Diktator, Wahl und Ermächtigung des Kaisers durch die Fürsten verdunkelnd zu umschreiben –, sie, die mit ihm (natürlich von Gott) dazu berufen seien, sich in die Amtspflichten zu teilen, vocati sunt nobiscum in partem sollicitudinis (S. 192 Z. 39), in ihren alten Rechten zu beschützen und mit neuen Rechten zu zieren. Hier ist nicht von dem Kaisertum die Rede, welches einst die Könige Karl und Otto mit Hilfe ihrer Heervölker errichtet, sondern von einem dem deutschen Rechte ganz fremden, eben römischen Kaisertum. Mit der allein dem Herrscher erteilten Machtfülle und der ihr entgegengesetzten Arbeitslast, die die Fürsten mit ihm zu teilen hätten, zitierte der Diktator zudem eine Redewendung, die einst Papst Leo I. (ep. 14 c. 1, Migne, P. L. tom. 54 col. 671) auf das päpstliche Gottesgnadentum gemünzt und die seither der kuriale Sprachgebrauch beharrlich im Umlauf erhalten hatte. An die Arenga schließt sich unvermittelt die Narratio des Diploms an mit der Behauptung, der Kaiser selbst habe in seiner Sorge für Fürsten und Reich den Anstoß zu dem folgenden Gesetz gegeben, ohne einer Anregung von außen oder einer Klage zu bedürfen: Da es in Deutschland wegen Mangelhaftigkeit und Mißachtung des Rechtes, ex defectu iuris pariter et neglectu (S. 193 Z. 2), nur schändliche Gewohnheiten gebe, die verschleiertes Unrecht darstellten und daher sowohl das Recht der kaiserlichen Fürsten, principes imperii, als auch die Autorität des Kaisertums verkürzten, obliege es der kaiserlichen Fürsorgepflicht, sollicitudo, jenen verdorbenen Gewohnheiten entgegenzutreten, damit nichts die Freiheiten verkürze, die seinen Fürsten als Gaben seiner Hoheit zukämen. Damit ist bereits die Disposition eröffnet: Durch dieses sein öffentliches Gebot und Gesetz, hac nostra edictali sanctione (S. 193 Z. 10 – 11), kassiere der Kaiser alle Kommunen, comunia, Räte, Bürgermeister und anderen Amtleute in allen deutschen Bischofs- und sonstigen Städten, die von der Gesamtheit der Bürger, ab universitate civium, ohne Erlaubnis des Erzbischofs oder Bischofs eingesetzt würden, ebenso wie alle Bruder- oder Genossenschaften von Handwerkern und alle Verkürzungen des stadtherrlichen Münzrechtes. Da die Verwaltung der vom Könige übertragenen Bischofsstädte und Güter seit jeher allein den Erzbischöfen und Bischöfen und den von diesen ausdrücklich eingesetzten Amtleuten zustehe, ungeachtet etwa entgegenstehenden Stadtrechtes, non obstante abusu aliquo (S. 193 Z. 22), kassiere er alle von Kaisern oder Stadtherren ausgegebenen Privilegien oder Schriftstücke, die dergleichen zum Schaden der Fürsten und des Kaisertums gestatteten. § 259. Nun endlich war freilich der Punkt erreicht, an dem sich der Kaiser und sein Diktator der Unwirklichkeit ihres Kaiserbegriffs bewußt werden und sich zu einiger Rücksicht auf die ganz anders geordnete Verfassung des Deutschen Reiches bereitfinden mußten, wenn sie überhaupt darauf rechneten, mit der Publikation des Gesetzes nördlich der Alpen irgendeine rechtliche Wirkung zu erzielen. Daher fügte der Diktator, bevor er das Diplom mit der kanzleimäßigen Pönformel und Kor-
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roboration und dem Schlußprotokoll zu Ende brachte, einen Satz ein, welcher den wesentlichen Rechtsinhalt der – zuvor an ihrem traditionellen Platze, weil der römischen Kaiserideologie abträglich, unterdrückten – Petitio nachzutragen hatte, einen Satz nämlich, der die Entstehung des „Gesetzes“ auf Antrag und auf Rechtsweisung der Fürsten hin betrifft, wie der Kaiser selber zugeben mußte: protestantes hanc nostre constitutionis seu sanctionis seriem exquisitam ex decreto principum et ex nostra certa sciencia in forma iudicii processisse (S. 193 Z. 29 – 31; zu exquirere = ersuchen: L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 219). Wie im Jahre 1226 stand der Kaiser nicht davon ab, sich damit einer Inkonsequenz schuldig zu machen, die auch die Klausel ex nostra certa sciencia nicht beheben konnte, obwohl diese, ebenso wie die zuvor (S. 193 Z. 22) verwandte Klausel non obstante eine Erfindung der päpstlichen Kanzlei, just zu diesem Zwecke erdacht worden war: nämlich um zu verschleiern, daß der Kaiser (ebensowenig wie der Papst) aus absoluter Wissens- und Machtfülle handelte, sondern auf Antrag hin und gemäß der Weisung der Fürsten, an deren Willen er bis in den Wortlaut der Disposition hinein gebunden war. Gewiß war allen Beteiligten bewußt, daß sein kaiserliches Edikt in Deutschland schon deswegen keine Geltung erlangen konnte, weil es nicht auf deutscher Erde inmitten der Getreuen, die in der Inskription hätten angesprochen werden müssen, öffentlich beraten und beschlossen worden war (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 165), ganz abgesehen davon, daß Kaiser und Fürsten den betroffenen Stadtgemeinden hier jedes rechtliche Gehör verweigerten. Da man keine dieser Einreden entkräften konnte, zog man es vor, sie unerwähnt zu lassen – aber wen hätte man damit täuschen können? Es ist unglaublich, aber wahr, daß sich, soweit wir wissen, vier deutsche Erzbischöfe und fünf Bischöfe (oben: § 245) besiegelte Ausfertigungen dieses „Gesetzes“ aushändigen ließen, das nicht nur sie selbst, die Fürsten, zu Kreaturen des Kaisers erniedrigte, sondern auch das deutsche, nur mündlich und von Laien tradierte Recht, auf dem wie die Reichsverfassung, so ihrer aller Fürstenstand beruhte, als Unrecht und Bosheit (frivolus S. 193 Z. 28) schmähte, ohne daß sie den von ihnen erhobenen König und Kaiser an seine beschworene Amtspflicht erinnert hätten, dieses Recht zu schützen: und dies alles zu einer Zeit, da die Großen des Königreichs England aus geringerem Anlaß wegen des vermeintlich besseren römisch-kanonischen Rechtes vor ihrem Könige erklärten: Nolumus leges Angliae mutari (K. Kluxen 1987 S. 62 f., 65). Immerhin ist zu ihren Gunsten anzunehmen, daß sie sich gescheut haben, das Edikt mit seiner nach deutschen Rechten abwegigen Kaisertheorie in Deutschland und vor ihren Untertanen zu publizieren. In der deutschen Rechtsgeschichte jedenfalls hat es keine Spuren hinterlassen, und niemanden hat es dazu veranlaßt, die Rechts- und Verfassungsfragen, die es aufwarf, zu erörtern – ganz anders, als es anderthalb Jahrhunderte früher geschehen war, nachdem Papst Gregor VII. mit dem Anspruch der römischen Kirche auf die Fülle irdischer Gewalt hervorgetreten war.
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§§ 260 – 269. Albert von Köln: Ein Gelehrter beurteilt das Einungsrecht (Jahr 1258) § 260. Wie wenig tatsächlich diese an den Höfen des König- und Kaiserreiches mit Rate etwa anwesender Fürsten und des Kanzlers ausgetragenen stadtverfassungsrechtlichen Streitigkeiten die begriffliche Durchdringung der Probleme beförderten, und das bedeutet gewiß auch: wie wenig die am Hofe getroffenen Entscheidungen die Überzeugungen des Volkes betreffend sein Einungsrecht und die rechte Verfassung seiner Gemeinden zu beeinflussen vermochten, das verrät uns das in dieser Hinsicht bemerkenswerteste Dokument, das uns aus dem späteren Mittelalter überkommen ist: nämlich der sogenannte Große Schied, der im Jahre 1258 die zwischen dem Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden (1238 – 1261) und der Stadt Köln schwebenden verfassungsrechtlichen Differenzen aus der Welt schaffen sollte, denn dieser Schiedsspruch war im wesentlichen das Werk eines Gelehrten von europäischem Range und zugleich des größten Gelehrten, den Deutschland damals besaß, nämlich des Dominikanerlesemeisters Albert von Köln (Quellen Köln 2, 380 n. 384. H. Stehkämper 1977 und 2001). Erzbischof Konrad, der bis dahin der Stadt immer wieder Zugeständnisse gemacht hatte, um sich ihre Unterstützung für seine Reichs- und Territorialpolitik zu sichern, benutzte im Jahre 1257 einen Moment städtischer Schwäche dazu, seine Stadtherrschaft wieder zu festigen. Nach kurzer Fehde mußten gewisse Übeltäter aus den Reihen der kölnischen Geschlechter und die wegen des Frevels der Stadt ebenfalls belangten „guten Leute“ ihn in demütigender Weise um Gnade bitten. Nach gegenseitiger Verzeihung aller Missetaten und Errichtung einer ganzen Urfehde zwischen beiden Seiten erneuerten die Kölner den Huldigungseid, während Konrad gelobte, als gnädiger und guter Herr Stadt und Bürger zu beschirmen: Dar na sal die stait irnuwen ire hulde deme erchebischove bit dime eyde alse gewonlich is, inde hie sal in wieder gelovin bit gutin truwen, da hie in gut inde ein gnedich here sal wesin. Inde sal si beschirmen alse zereghte ein erchebischof sine burgere (Quellen Köln 2, 378 n. 382. H. Stehkämper 1977 S. 304, 366. M. Groten 1995 S. 184 f.). Es kam also zu einer Erneuerung des Herrschaftsvertrages, den Konrad einst nach seiner Wahl und der königlichen Ernennung zum Stadt- und Landesherrn mit seinen Untertanen eingegangen war, um von ihnen (worüber allerdings nichts bekannt ist: Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 907) als Stadtherr angenommen zu werden (oben: § 170). Eine solche Erneuerung hatte bereits nach einer Fehde im Jahre 1252 gemäß einer Bestimmung stattgefunden, die der schon damals als Schiedsrichter tätige Lesemeister Albert im sogenannten Kleinen Schied formuliert hatte: Ordinamus etiam arbitrando, ut dictus archiepiscopus Coloniensis ciues Colonienses in libertatibus et iuribus suis, que vel scripto vel antiqua et bona consuetudine usque ad ista tempora sunt obtenta, tam infra muros quam extra manuteneat foueat et defendat. Et ut similiter econverso ciues Colonienses archiepiscopum promoueant fideliter, secundum quod ei sunt iuramentis propriis
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obligati, tam in iudiciis quam in aliis iuribus suis (Quellen Köln 2, 311 n. 306, hier: S. 313 Z. 9 – 15). § 261. Die ciues aber werden den Huldigungseid nicht als singuli, d. h. jeder für sich allein, abgelegt haben, da der Stadtherr niemals darauf hoffen konnte, alle Bürger einer so großen Stadt dazu anhalten zu können; ja, sie schworen gewiß nicht einmal als zur Bürgerversammlung einberufene universi. Vielmehr wird sich die Gemeinde so, wie es im Jahre 1258 bei der Niedersetzung des Schiedsgerichts geschah, durch vollmächtige Worthalter verpflichtet und belastet haben. Am 20. März 1258 nämlich erteilte die von Richtern und Schöffen geleitete Bürgergemeinde dem Bürgermeister Hermann und sieben genannten Männern aus dem Meliorate (M. Groten 1995 S. 186) schriftlich die speziell für diese Handlung verfaßte Vollmacht iurandi in animas nostras, daß sie den zu findenden Schiedsspruch als verbindlich annehmen und ihr Stadtsiegel daranlegen werde (Quellen Köln 2, 379 n. 383). Ein Meineid der vollmächtigen Worthalter setzte danach das Seelenheil aller ihrer Mandanten aufs Spiel: Wir van werscheffe inde geheisze der burgere van Colne hain up den heiligen gesworen up unse selen inde der burgere gemeinlighe (ebd. 2, 376 n. 381 und S. 391 Z. 12). Der Erzbischof dagegen leistete den Eid auf den Schiedsvertrag – wie gewiß zuvor auf den Herrschaftsvertrag – persönlich oder, wie sein Nachfolger im Jahre 1271 sagte: iuramento proprio hec omnia in animanm nostram iuramus (Lac. UB 2 S. 359 Z. 42). Wie die Könige längst die Existenz der Bürgergemeinden in ihren Bischofsstädten anerkannt hatten, indem sie deren Bitten um Privilegien entgegennahmen und erfüllten, weil sie der Gemeinden bedurften, um durch sie von den Bürgern Geldsteuern zu erlangen (Quellen Köln 2 S. 310 Z. 6 – 10, 312 Z. 16 – 21), so hatten es auch die Stadtherren tun müssen, nicht nur um mit der Annehmung Anspruch auf den Gehorsam jedes einzelnen Bürgers und auf die Verwaltungsleistungen der Gemeinde zu erhalten, die sie nicht aus eigenen Kräften zu erbringen vermochten, sondern auch um im Streitfalle eine praktisch beklagbare Gesamtperson vorzufinden, die sie gerichtlich in Anspruch nehmen konnten. Wenn nun aber Erzbischof Konrad zum zweiten Male bereit war, seinen Streit mit der Stadt einem Schiedsgericht zu übergeben, so erkannte er damit die Gemeinde nicht nur als rechtsfähige Gesamtperson, sondern auch als ihm selbst gleichrangig an (H. Stehkämper 1977 S. 304 f., 336, 2001 S. 360). Bei der Einsetzung des Schiedsgerichtes (Quellen Köln 2, 376 n. 381) verpflichteten sich beide Parteien eidlich und im voraus, den erbetenen Schiedsspruch anzunehmen und auszuführen, wobei der Erzbischof es abermals duldete, daß nicht die einzelnen Bürger, sondern die Worthalter der von ihnen gebildeten Gemeinde in ihrem Namen den Eid ablegten. § 262. Vollständig freilich wäre die Gleichberechtigung nur dann, wenn man darüber hinwegsieht, daß kein einziger Laie bürgerlichen oder neufreien Standes zum Schiedsrichter berufen wurde, denn neben dem Dominikaner Albert bestellten
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die Parteien lediglich geistliche Herren zu Schiedsleuten. Es waren vier Kölner Domherren und Stiftspröpste und sämtlich Standesgenossen des Erzbischofs, da sie wie dieser dynastischen oder edelfreien Geschlechtern des Kölner Landes entstammten. Der Stadtgemeinde mochten sie gleichwohl erträglich sein, weil man sie zu den civitatenses im weiten Sinne dieses Wortes (oben: § 233) rechnen konnte, hatten doch in der vorangegangenen Fehde neben Bürgern und Juden auch Kleriker die Stadtmauern gegen den Erzbischof verteidigt. Gewiß nur als Beratern, wie die Schiedsleute sie zuziehen konnten, eröffnete sich Worthaltern der Gemeinde die Möglichkeit, auf den Spruch Einfluß zu nehmen. Grundlagen der Entscheidung sollten des Erzstiftes und der Stadt „Recht von Köln, Freiheiten, gute und redliche Gewohnheiten und Handfesten“ sein, welche beide Parteien dem Schiedsgericht vorzulegen oder mit Zeugen nachzuweisen hatten (Quellen Köln 2, 376 n. 381. H. Stehkämper 1977 S. 345 – 347). Das gemeine römische oder Kaiserrecht blieb ausgeschlossen, und schwerlich hat Erzbischof Konrad es gewagt, den Schiedsleuten das kaiserliche Edikt von 1231 vorzulegen, von dem sich sein Amtsvorgänger eine im Januar 1232 zu Ravenna gegebene Ausfertigung verschafft hatte (MGH. Const. 2 S. 191 Z. 26 – 29. M. Groten 1995 S. 110 f.). Im übrigen stellten die Parteien es dem Schiedsgericht frei, nach strengem Rechte erkennend oder „nach redlichem Dingen“ vermittelnd zu verfahren (H. Stehkämper 1977 S. 338), wenn die bloße Rechtsanwendung zu untauglichen Ergebnissen geführt hätte. Albert empfahl sich als Schiedsmann gewiß nicht nur dadurch, daß er weder Fürsten noch Städten als Amtmann verpflichtet war, sondern auch deswegen, weil er mit der Autorität des Ordensmannes und Seelsorgers zerstrittene Christen zum Frieden zu ermahnen und miteinander zu versöhnen berufen war (ebd. S. 340 f., 366, 382). Einen weiteren in seiner Person gelegenen Vorteil mochten die Bürger darin finden, daß er zwar Gelehrter, nicht aber Jurist und daher nicht der Gefahr ausgesetzt war, sein Urteil über deutsche Rechtsverhältnisse nach der ratio scripta auszurichten. Nur einmal hat er sich auf das ius commune als normgebend bezogen, und da ging es um das Ämterrecht und um den Brauch, neue Schöffen nicht nur für vakante Stellen zu kreieren (Quellen Köln 2 S. 390 ad 33), was auch nach deutschem Rechte hätte als Mißbrauch gekennzeichnet werden müssen, wenn man sich an dem Gebot des gemeinen Nutzens orientierte. Die vier neben Albert zu Schiedsrichtern bestellten Geistlichen besaßen als in der Güterverwaltung erfahrene Geschäftsleute zweifellos ebenfalls genauere Kenntnisse deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes als des römisch-kanonischen oder gemeinen Rechts (H. Stehkämper 1977 S. 333). Albert beschränkte sich strenge darauf, zu den Propositionen der Parteien Stellung zu nehmen, wobei er sich des Rates „rechtskundiger und anderer frommer Männer“ bediente und der Gewohnheit des Landes und der Stadt folgte; etliche textliche Erweiterungen des Begriffs consuetudo ergeben, daß er darunter nicht nur das von der Gemeinde beschworene Stadtrecht, sondern auch die ungeschriebene Verfassung des Schöffengerichtes und der Stadtherrschaft verstand (ebd. S. 345 f.).
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Demnach entschied Albert über die von den Parteien geltend gemachten Rechte, indem er die wirklich vorhandenen öffentlichen Gewalten akzeptierte, ohne sie auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu befragen und ohne sich jemals auf landfremde oder allgemeine Rechtsgedanken zu berufen (ebd. S. 333, 346 f.). Weder materiell noch der Form oder juristischen Methode nach sind Einflüsse des italienischen gelehrten Rechtes auf das Urteil nachweisbar. Wie der Große Schied, so zeichnen sich auch alle anderen von Albert gefundenen Schiedssprüche „nicht nur dadurch aus, daß sie die Rechtsfälle mit scharfen Begriffen und feinen Scheidungen kunstvoll lösten . . . Anspruchsvolle logische und juristische Konstruktionen waren, so ist zu schließen, ebenfalls dem Ziel seiner Rechtshandhabung, dem allseitigen dauerhaften Frieden, nicht angemessen“ (ebd. S. 379 f.). Die Parteien wenigstens werden, da sie einen Spruch nicht nach gelehrtem, sondern nach deutschem Rechte begehrten, nichts dergleichen von ihm erwartet haben. § 263. Da Erzbischof Konrad das Kommuneprivileg, das seine Amtsvorgänger und er selbst durch stillschweigende Duldung der Gemeinde und ihrer Tätigkeiten den Bürgern gewährt hatten, nicht in Frage stellte, bot sich dem Schiedsgericht kein Anlaß dazu, die Rechtmäßigkeit der bürgerlichen Einung überhaupt festzustellen, geschweige denn sie zu begründen. Wie es der Erzbischof in seinen Propositionen tat, so nahm Albert die Rechts- und Parteifähigkeit, die Vermögensund Schuldfähigkeit und das Siegelrecht der communitas civium Coloniensium (Quellen Köln 2 S. 313 Z. 31, 382 Z. 40, 383 Z. 35, 391 Z. 20), der civitas Coloniensis (ebd. S. 380 Z. 29, 387 Z. 3), der scabini et universi cives Colonienses (ebd. S. 312 Z. 2) oder, wie er in der Regel zu sagen pflegte, der cives Colonienses überall als gegeben an. Offensichtlich hatten auch auf städtischer Seite Bürgermeister, Schöffen und Ratmannen nichts dagegen einzuwenden, als cives von Köln bezeichnet zu werden, da sie ja nur Worthalter der Gemeinde waren und ihr Wille nur dann etwas galt, wenn er mit dem Willen aller Bürger identisch war. Als gegeben und unstrittig konnte Albert auch die durch Gemeinde- bzw. kanonische Wahl und königliche Ermächtigung erworbenen Rechte des Stadtherrn, die bei dessen Annehmung begründeten Rechte der Gemeinde und die durch den Herrschaftsvertrag von beiden Parteien anerkannten Pflichten durchweg voraussetzen. Dann allerdings machte sich bemerkbar, daß nicht die Stadt, sondern der Erzbischof es war, der seine Rechte bedroht und daher sich gezwungen sah, die Rolle des Klägers zu übernehmen. Die Bürger jedenfalls waren weit davon entfernt, irgendwelche grundsätzlichen Rechtsfragen aufzuwerfen, da sie die Existenz ihrer Gemeinde als gesichert ansehen konnten. Was sie den Schiedsleuten an Klagen wider den Stadtherrn vortrugen (ebd. S. 387 f.), bezog sich lediglich auf insgesamt einundzwanzig verschiedene Weisen, wie der Erzbischof die im Herrschaftsvertrage übernommene Pflicht verletzte, seine Untertanen und Bürger in ihren wohlerworbenen Rechten zu beschützen und gegen jedermann zu verteidigen. Anders dagegen Erzbischof Konrad: Er stellte an die Spitze seiner Propositionen die nicht als Klage formulierte und daher als Grundsatz zu verstehende Aussage,
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daß er in der Stadt Köln höchster Richter, iudex, sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Dingen sei und daß daher alle hoheitliche Rechtsanwendung, iurisdictio (oben: § 253), von ihm abhinge: Niemand könne dort von Rechts wegen solche hoheitliche Gewalt ausüben, ohne die Befugnis dazu von ihm empfangen zu haben (Quellen Köln 2 S. 381 c. 1 – 2). Im Gegensatz zu anderen Bischöfen nämlich war der von Köln in seiner Bischofsstadt nicht bloß Gerichtsherr, sondern selbst Richter: Ausgenommen in Blutfällen, konnte er persönlich dem Schöffengericht vorsitzen, ohne sich durch den Vogt vertreten lassen zu müssen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 237, 240). Auf jenen Grundsatz ließ er dreiundfünfzig spezielle Klagen wider die städtischen Gewohnheiten folgen, deren Rechtswidrigkeit er zwar ohne dies ausdrücklich zu erklären, aber doch offensichtlich daraus herleitete, daß sie jenen Grundsatz verletzten. § 264. Es war also nicht des Erzbischofs Ziel, die Gemeinde zu beseitigen, obwohl ihn das Kaiseredikt von 1231 / 32 dazu sehr wohl berechtigt hätte. Was er beanstandete, war lediglich deren Behördenrecht, wie man die Befugnis der Bürger nennen kann, ohne seinen Willen Ratsversammlungen und Bürgermeister oder sonstige Amtleute in der Stadt oder in den Kirchspielen und Handwerksbruderschaften über sich zu setzen und sie zur Erfüllung gemeindlicher Aufgaben und Pflichten zu ermächtigen (M. Groten 1995 S. 188 – 191). Nicht die umfassende Rechtsfähigkeit der Gemeinde focht er an, wohl aber ihre Fähigkeit, sich unter Ausschluß ihres Stadtherrn einen Gemeinwillen zu bilden und danach zu handeln, gleichsam als ob sie für sich alleine unmündig wäre und von Rechts wegen nur erst durch den Hinzutritt ihres Schutzherrn Willens- und Handlungsfähigkeit erlange. Es ging also um die Frage, ob die Stadtgemeinde, die ja zugleich als stadtgerichtliche Dinggenossenschaft einen herrschaftlichen Verband bildete, der des vom Könige ermächtigten Gerichtsherrn bedurfte, damit seine Urteile vollstreckt werden könnten, – ob die Stadtgemeinde auch außerhalb Gerichtes nur als herrschaftlicher Verband mit herrschaftlicher Exekutive bestehe oder ob sie sich da als freie Einung konstituieren und ihren Worthaltern den eides- und einungsrechtlichen Gehorsam zuwenden konnte, der es ihr erlaubte, den Gemeinwillen, zumindest gegenüber den Eidgenossen und Bürgern selber, aus eigener Kraft zu vollstrecken. Und da ist es nun bemerkenswert und für die damals möglichen Einsichten in das deutsche Recht kennzeichnend, daß es Albert nicht gelang, sich diesen Unterschied zwischen Land- oder Gerichtsrecht und Einungs- oder Stadtrecht deutlich zu machen. In der Tat war es schwierig genug, diese Aufgabe zu lösen, da die Schöffen zugleich im Gerichte als stadtherrliche und außer Gerichtes als gemeindliche Amtleute auftraten. Es wäre daher darauf angekommen, die Einheitlichkeit der Schöffeninstitution als Schein und bloße Personalunion zweier rechtlich ganz verschiedener Ämter zu durchschauen, worauf immerhin der Umstand einen Hinweis bot, daß die Schöffen als Amtleute des Gerichtes auf dem Hofe des Erzbischofs (in curia) und in dessen Palast tätig wurden, während sie sich zu den Gemeindegeschäften auf dem Bürgerhause (der domus civium) versammelten.
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Einen Hinweis darauf, daß auch Albert hier den Kern des Problems suchte, mag man darin sehen, daß er die Beschwerden über die Schöffen an den Anfang seines Schiedsspruches stellte, was weder der Erzbischof noch die Bürger in ihren Propositionen getan hatten. Allerdings läßt sich ein Teil der erzbischöflichen Klagen dahingehend zusammenfassen, daß die Bürger sein Gericht verächtlich machten, indem sie es zu ruinöser Untätigkeit zwangen und damit die stadtherrlichen Gefälle verkürzten, denn sie hielten es für Bürgerpflicht, ihre internen Streitigkeiten nicht vor Gericht auszutragen, sondern von der Gemeinde schlichten zu lassen – aber betont an den Anfang seiner Klagen hatte der Stadtherr diese Beschwerden nicht gestellt. Ein zweiter Block seiner Beschwerden betrifft bestimmte der Selbstverwaltung des Schöffenkollegs unterliegende Tätigkeiten der Schöffen im stadtherrlichen Gerichte, darunter deren Recht, durch Abgang eines Schöffen freigewordene Sitze (sedes vacantes) auf der Schöffenbank mittels Annehmung (assumere: prop. aep. 4; E. Pitz 2001 S. 231 Anm. 448) oder Wahl (eligere, electio: prop. aep. 33, 34) neuer Schöffen selbst zu besetzen. Es waren dies Fragen landrechtlicher Natur, die bisher durch Verträge zwischen Erzbischof und Schöffen geregelt worden waren (prop. aep. 6, 10, 12) und von denen man nicht einsieht, warum der Gerichtsherr die Stadtgemeinde für im Gerichte und bei der Urteilsweisung auftretende Mißstände verantwortlich machte. Hier hätte geklärt werden müssen, in wessen Auftrage die Schöffen das Recht der Wahl und Annehmung neuer Schöffen und der Urteilsweisung ausübten, ob in dem des Stadtherrn oder der Gerichtsgemeinde oder der Stadtgemeinde? Wie wir noch sehen werden, war das zweite der Fall. § 265. Eine dritte Gruppe erzbischöflicher Beschwerden betrifft das Gebaren der Richerzeche, deren Amtleute alljährlich die Bürgermeister erwählten (eligere, ebd. 25, 28): Sie kämen ohne Wissen des Klägers im Bürgerhause zusammen, errichteten Willküren (statuunt quicquid volunt) und machten diese als besondere Gewohnheiten und als Recht geltend, ohne daß der Erzbischof sie autorisiert habe (ebd. 42). Zu Bürgermeistern erwählten sie zwar sub debito iuramenti, quos credunt rei publice et civitati magis expedire et esse utiliores, aber nicht ohne sich des öfteren von denen, die das Amt erstrebten, Geld geben zu lassen (ebd. 28). Auch könnten die Amtleute der Richerzeche den Bürgermeistern keine Hoheit übertragen (iurisdictionem conferre), da ihnen diese selbst nicht zukäme und nur der Erzbischof sie übertragen könne (ebd. 25). Hätte sich nicht auch hier sofort die Frage erheben müssen, wer den Amtleuten die erwähnten Befugnisse verliehen habe und wem sie das mit dem Amtseide bekräftige Versprechen gaben? Und wenn dies die Stadtgemeinde war, ob sie dazu nicht nach Einungsrecht befugt gewesen wäre? Da der Erzbischof durch sein Verhalten ihr Kommuneprivileg bestätigt hatte und es erneut tat, solange er das Wahlrecht der Amtleute überhaupt hinnahm, so widersprach er sich selbst, wenn er die Geltung ihrer Willküren von seiner Zustimmung abhängig machte und die auf freiwillig beschworener Beistands- und Gehorsamspflicht der Bürger beruhende Gebots- und Zuchtgewalt der Bürgermeister als Hoheit (iurisdictio) charakterisierte. Schon damals galt offenbar der Satz, das Wesen
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der Einung sei unerforscht und unverständlich, und erzeugte den Irrglauben, die kommunalen Behörden seien – mit einem Ausdrucke, den die mhd. Sprache jetzt als Oberbegriff für alle mit Hoheitsrechten ausgestatteten Personen zu bilden begann (RWB 10 Sp. 215 – 227), der aber in einem Verfassungsdokument der Stadt Köln zum ersten Male im Jahre 1513 gebraucht worden ist (H. Stehkämper 1994 S. 1088. E. Pitz 2001 S. 230 f., 241) – Obrigkeiten gewesen. Dieselben Bedenken erwecken die Beschwerden des Erzbischofs wider den Rat, den die Bürger über sich erhoben und um dessen Taten es sich wohl meistens handelte, wenn der Stadtherr die cives Colonienses anklagte, denn auf der Identität des Ratswillens mit dem der Bürger gemeinlich beruhte die Vollmacht des Rates: Obwohl die Schöffen ex debito iuramenti das Landrecht verteidigen müßten, weshalb das Stadtvolk (civitas) seit alters nach ihrem Rate und mit Zustimmung des Erzbischofs regiert werde, pflegten die Bürger, ohne dazu den Willen des Stadtherrn einzuholen, Mitbürger (suos concives) in den Rat der Stadt zu wählen (eligere); die Erwählten aber hätten weder der Stadt noch der (Kölner) Kirche Treue geschworen, und da nicht nur Schöffen dazu gewählt würden, werde die Stadt nach dem Rate unvereidigter Männer, de consilio non iuratorum, regiert (prop. aep. 43). So gäben die Bürger ohne sein Wissen Schuldverschreibungen unter Stadtsiegel aus, obwohl sich die Stadt ohne seinen Rat und Konsens von Rechts wegen niemandem verpflichten könne (ebd. 48). Wieder wußte der Erzbischof nur von Untertanenund Amtseiden, die ihm und seiner Kirche und der von seinen Amtleuten regierten Stadt zu leisten waren, wieder weigerte er sich, die Formen zu beachten, welche die geeinten Bürger bei der Ermächtigung ihres Rates einhielten, und die darin ausgedrückten Rechtsgedanken aufzufassen; abermals schließlich widersprach er sich selbst, wenn er zwar den Bürgern das Kommuneprivileg und die darin enthaltene Vermögensfähigkeit zugestand, ihnen aber das Recht absprach, ohne seinen Willen einen Gemeinwillen zu bilden (denn die Ratmannen hießen so nicht deswegen, weil sie sich selbst, sondern weil sie die Gemeinde berieten) und zu vollstrecken oder das Gemeindevermögen zu belasten. § 266. Daß Unwissenheit und Unverständnis Erzbischof Konrads weder durch das Standesinteresse eines Fürsten von hochadliger Erziehung noch durch das obrigkeitliche Verständnis von Herrschaft, das ihn die Kirche lehrte, bedingt waren, obwohl ihm dies alles zweifellos den Zugang zu den genannten Rechtsfragen verstellte, das dürfen wir aus dem Umstande folgern, daß auch den Bürgern keines der von uns erwarteten Argumente zur Verfügung stand, mit deren Hilfe sich ihr Einungsrecht hätte begründen und in seinen verfassungsrechtlichen Konsequenzen entfalten lassen. Denn weder in ihren eigenen Propositionen noch in ihren Einlassungen auf die stadtherrlichen Beschwerden (die wir allerdings nur insoweit kennen, als sie sich in dem Schiedsspruch niedergeschlagen haben) sind solche Argumente formuliert worden. Um so erstaunlicher und schwerer zu verstehen ist, was der gelehrte Dominikaner Albert aus all dem gemacht hat. Er verrät uns nämlich nicht, welche Gründe ihn dazu bewogen, vorab sonderlich über sämtliche Beschwerden des Stadtherrn betreffend die gerichtliche Selbstverwaltung der Schöf-
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fen zu entscheiden und danach erst auf den Grundsatz einzugehen, aus dem der Erzbischof die Berechtigung aller seiner Beschwerden hergeleitet hatte. So können wir nur vermuten, daß ihm, möglicherweise nach Anhörung rechtskundiger Bürger, der Unterschied zwischen gerichtlichen und kommunalen Befugnissen der Schöffen und damit die Verknüpfung beider in einer bloßen Personalunion zum Bewußtsein gekommen war. Für diese Vermutung spricht der Umstand, daß Albert offensichtlich, was den vom Erzbischof aufgestellten Grundsatz betrifft, die Befugnisse der Herrschaft von denen der Gemeinde zu sondern bestrebt war. Kurz und knapp nämlich erkannte er an, daß die summa potestatis et rerum tatsächlich beim Stadtherrn läge, aber dem stellte er sehr ausführlich als ebenso gewisse Tatsache gegenüber, daß unter dem Stadtherrn nicht nur Richter, die von ihm die Jurisdiktion hätten, sondern auch Amtleute stünden: sunt tamen . . . sup ipso et ab ipso iudices iurisdictionem habentes et officiati, nämlich die seit alters von der Richerzeche erkorenen Bürgermeister; diese pflegten die Einhaltung bestimmter schriftlich abgefaßter Satzungen zu beschwören, wenn sie eingesetzt würden, quando ponuntur, und wenn sie diese Satzungen ausführten und einhielten, so sei dies von hohem Werte für die Erhaltung der Stadt (diffinitio ad prop. aep. 1 et 2). Albert unterschied also deutlich erstens zwischen der hoheitlichen Verwaltung, die dem Stadtherrn, und der kommunalen, die den Bürgermeistern oblag, zweitens aber, hinsichtlich der Bürgermeister, zwischen der Wahl, bei der es lediglich um die Auslese geeigneter Personen ging, und der Einsetzung in das Amt, die mit der Leistung des Amtseides auf das Stadtrecht verbunden war. Mit Hilfe dieser Distinktionen war es Albert zwar gelungen, aufs erste dem Widerspruch zwischen Anerkennung der Gemeinde und Verweigerung des Behördenrechtes zu entkommen; es gelang ihm jedoch nicht, die damit gewonnene Rechtseinsicht konsequent durchzuführen. Dem entscheidenden Worte nämlich gab er die grammatische Form des Passivs (quando ponuntur), und so vermied er es, festzustellen oder zu erfragen, wer die Bürgermeister einsetzte, vereidigte und bevollmächtigte. Gewiß ergibt der Zusammenhang, daß dies alles die im Bürgerhause versammelten Genossen der Richerzeche taten, aber daß diese ihrerseits die Vollmacht dazu von der als Einung verfaßten Bürgerschaft empfingen, sobald und solange die Bürger die Verwaltung der Bürgermeister durch ihren Gehorsam stillschweigend guthießen, das sprach Albert nicht aus. Wir wissen nicht, ob er diese einungsrechtliche Grundlage des bürgermeisterlichen Regiments erkannt hat oder nicht, und erfahren nicht, ob sich die Bürger selbst ihrer klar bewußt waren, obwohl es doch nahegelegen hätte, dem stadtherrlichen Grundsatz eine Aussage darüber entgegenzusetzen. Nur das dürfte sicher sein, daß die Bürger selbst eine solche Aussage von dem Schiedsgericht nicht verlangt haben. § 267. Die Tatsache, daß Albert darüber nichts hatte in Erfahrung bringen können, weil die Bürger es ihm weder mitteilen noch erklären konnten, läßt sich aus dem Zusatz erschließen, den er der genannten Bestimmung hinzufügte: Verletzten
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die Bürgermeister hinfort den Amtseid, so machten sie sich doppelt meineidig, weil sie ja auch zu Lasten der Seelen aller Bürger geschworen hätten, den vorliegenden Schiedsspruch einzuhalten. Die in dem Falle begangene Sünde (reatum) hätten sie vor dem kirchlichen Richter zu verantworten, über die Missetat aber möge richten, wer dazu die Vollmacht habe: forefactum vero iudicet, qui de hoc potest iudicare. Wie ist es zu verstehen, daß der Schiedsrichter keinen Ausspruch zu der im kölnischen Verfassungsstreit doch keineswegs nebensächlichen Frage tat, wer nach weltlichem Rechte über Amtsmißbräuche der Bürgermeister zu richten hatte? Richter konnte da doch nur derjenige sein, der den Bürgermeistern den Amtseid abnahm und die Amtsvollmacht verlieh, und da Albert bereits erklärt hatte, daß dies nicht der Stadtherr war, da die Bürgermeister außerhalb des Kreises jener Richter standen, die der Stadtherr mit der Jurisdiktion begabte, so ist anzunehmen, daß Albert weder von seinen rechtskundigen Beratern noch von den Bürgern darüber hatte belehrt werden können, von welcher Art die Amtsgewalt der Bürgermeister war, daß und wie das Stadtvolk sie ihnen durch Vermittlung der Amtleute von der Richerzeche und der Ratmannen übertrug und daß das Volk befugt war, eidbrüchige Bürgermeister zu verlassen, ihnen den Gehorsam zu verweigern und sie in den tumultuarischen Formen des Aufruhrs aus dem Bürgerhause zu verjagen, wenn sie sich politischen Versagens gegenüber dem gemeinen Nutzen der Stadt schuldig gemacht, oder gar sie vor dem Hochgericht zu verklagen, wenn sie ihnen Vergehen wider das Landrecht vorwerfen konnten (E. Pitz 2001 S. 255 – 273). Offenkundig war es für einen Gelehrten des 13. Jahrhunderts undenkbar, daß es neben der Jurisdiktionsgewalt, die von oben herab, vom Könige über den Stadtherrn, zu den Richtern gelangte, eine ihr gleichwertige Gebots- und friedensrichterliche Schiedsgewalt gab, die von unten, vom Volke her zu dessen Bürgermeistern hinaufstieg, und daß damit der stadtherrlichen Gewalt nicht nur überhaupt eine Grenze, sondern sogar eine juristisch näher bestimmbare Grenze gezogen war. Alberts Erklärung, das eidgemäße Wirken der Bürgermeister sei von hohem Werte für die Erhaltung der Stadt, ist gewiß nicht als Sollens-, sondern als Seinsaussage zu verstehen, insofern als zu bestätigen war, daß Vasallen und Amtleute des Stadtherrn für sich allein nach Herkunft, Anzahl und Sachkenntnis gar nicht dazu fähig waren, die Stadt Köln zu verwalten und ihren gemeinen Nutzen zu wahren. Einen Rechtssatz von der Art, daß die „Existenzfrage“ in seinen Augen bereits die Gesetzmäßigkeit des Stadtrechts begründet hätte (H. Stehkämper 1977 S. 357), kann Albert schwerlich darin erblickt haben, da es ihm weder gelang, dessen auch den Erzbischof bindende Rechtsgeltung zu erweisen, noch die in den Propositionen des Erzbischofs an den Tag tretenden Widersprüche in logischen juristischen Deduktionen und Distinktionen aufzulösen. Nahe liegt uns freilich auch eine Vermutung, die sich häufig beim Studium mittelalterlicher Urkunden einstellt: Der Aussteller nämlich habe unscharfe Formulierungen bewußt gewählt, weil er bestimmte Rechte einer Partei oder Dritter zwar kannte, aber sie als unerwünschte nicht dokumentieren wollte (A. Wolf 1995 S. 151 – 153).
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§ 268. Nach tatsächlicher Anerkennung der Stadtgemeinde und ihres Willens bedurfte Albert einer Regel, nach der er kommunale und herrschaftliche Befugnisse gegeneinander abgrenzen konnte. Auch diese Regel hat er weder als Grundsatz ausgesprochen noch als rechtmäßig zu erweisen versucht, so daß man gemeint hat, er habe sie „von einem Idealbild staatlichen Zusammenlebens“ hergeleitet, „das Stadtherr und Bürger in enger Bezogenheit aufeinander sah und eine möglichst breite Partizipation am politischen Handeln bejahte“ (M. Groten 1995 S. 190). So, wie die Regel aus den Einzelentscheidungen zu den ihm vorgelegten Propositionen des Erzbischofs und der Bürger hervorgeht, läßt sie sich jedoch bereits aus dem Herrschaftsvertrage ableiten, der Stadtherrn und Gemeinde miteinander verband. Dieser Vertrag, mit dessen Erneuerung Albert die Einsetzung des Schiedsgerichtes überhaupt erst ermöglicht hatte, bedingte die Aufnahme eines Treuvorbehalts zugunsten des Königs und des Stadtherrn in den Bürgereid und in alle Amtseide, die die Gemeinde den von ihr bevollmächtigten Bürgermeistern, Ratmannen und Elektoren (Quellen Köln Bd. 2 S. 391 Z. 21, 28 – 31, 392 Z. 5) abforderte: Dicimus quod ab hiis, quorum interest, de antiqua consuetudine de communitate civium quidam probi et prudentes assumi possunt ad consilium civitatis, qui iurabunt, quod fideliter ea, que expediunt rei publice, secundum suam conscientiam promouebunt, nihil penitus in preiudicium domini archiepiscopi et ecclesie attemptantes (ebd. Bd. 2 S. 395, diff. ad prop aep. 43). Wiederum fragt man sich, warum Albert kein einziges Wort über die Bedingung des Treuvorbehalts und ihre verfassungsrechtlichen Konsequenzen verliert, obwohl sich doch aus ihr der in allen Einzelentscheidungen befolgte Grundsatz ergibt, daß Landrecht und die darauf beruhende Stadtherrschaft dem Stadtrechte stets vorzugehen hätten: Die Bürger „durften grundsätzlich nichts zum Schaden von Erzbischof und Kirche unternehmen“ (M. Groten 1995 S. 190. H. Stehkämper 1977 S. 357). Erfüllten sie jedoch diese Bedingung, so war auch der Erzbischof als ihr Schirmherr dazu verpflichtet, ihr Einungsrecht mit selbständiger Willens- und Behördenbildung zu achten, ohne von ihren Amt- und Ratmannen besondere Amts- oder Diensteide zu verlangen (H. Stehkämper 1977 S. 357 – 359) und ohne behaupten zu dürfen, daß er selbst erst durch sein Kommuneprivileg die Gemeinde ins Leben gerufen habe. Die Kommune war ein Geschöpf der einigen Bürger, und der Stadtherr hatte durch sein Privileg lediglich festzustellen, daß sie nicht in seine land- und hoheitsrechtliche Sphäre eingriffe (oben: §§ 171, 242). Ihrerseits schirmten sich die Stadtleute gegen diese Sphäre keineswegs völlig ab; der Einzelne konnte sich auch gegen den Willen der Gemeinde, die Gemeinde auch gegen den Willen ihrer Behörde auf den Schutz des Stadtherrn berufen: Wenn die Mächtigen der Gemeinde Satzungen geben wollten, von denen sich Bruderschaften und das gemeine Stadtvolk beschwert fühlten, oder wenn sie in rechtswidriger Weise gegen Einzelne vorgingen, dann mochten sich die Betroffenen an das Gericht des Stadtherrn wenden, und der Herr war verpflichtet, ihnen zu ihrem Rechte zu verhelfen (Quellen Köln 2 S. 393 f., diff. ad prop. aep. 22, 26). Albert brauchte wohl nicht zu erwähnen, daß, wer als Einzel-
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ner eine solche Klage erheben wollte, zuvor der Gemeinde die Treue aufsagen mußte, um nicht das Gelübde des Einwohners oder den Bürgereid zu verletzen. § 269. Wie in vorkommunalen Zeiten, als die Stadtleute lediglich eine herrschaftliche Genossenschaft gebildet hatten und nur durch die gemeinsam dem Stadtherrn gelobte Treue geeint waren, so blieb der Erzbischof auch zur Zeit der freien Gemeinde Verbandshaupt, dem die Schiedsleute zwar nicht das Recht beilegten, die Stadt zu regieren, wohl aber die Pflicht, eine Rechtsaufsicht über sie zu führen und einzuschreiten, sooft die Gemeinde unwillig oder unfähig war, Recht und Ordnung in der Stadt zu erhalten (H. Stehkämper 1977 S. 359). Das Landrecht setzte der Willkür der Bürger Schranken: Sie konnten es ihren Bedürfnissen gemäß entfalten und auslegen, aber gegen seine Grundsätze durften sie nicht verstoßen. Dies war die vierte Bedingung, die der Schwabenspiegel namhaft machte, damit gemeindlich gewillkürte Gewohnheiten Bürgerrecht heißen könnten: Von gueter gewonheit. Daz heizet burger reht, swa(z) [1.] ein iegelich stat ir selber setzet zerehte [2.] mit ir kuniges oder mit ir fürsten willen und [3.] nach wiser liute rate und [4.] als reht si und als hie vor gesprochen ist, man mac die gewonheit mit den liuten behaben, so ist si gut ane scrift als mit scrift. Swaz der keiser und die fursten den steten rehte hant gegeben, und diu si selb gemachet hant mit ir gunst, daz ist reht, ob ez ioch niht gescriben ist (Swsp. c. 44). Darüber, daß die Willkür Recht sei und bleibe, hatte der Stadtherr zu wachen; diese Pflicht übernahm jeder Fürst, sobald er das Kommuneprivileg erteilte. Viel Arbeit aber haben sich die hohen Herren aus dieser Pflicht nicht gemacht. Den herausragenden Anteil am Ausbau des deutschen Rechtes, der den genossenschaftlichen Willküren zukommt, haben allein und aus eigener Kraft die Stadtgemeinden erbracht. Gerade während des späteren Mittelalters, als die Schwäche des Königtums den Reichsgesetzgeber nahezu vollständig lähmte, bewiesen die Bürgerschaften und Stadtgemeinden nicht nur auf dem Gebiete der Stadtverfassung und der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auch in der Ausgestaltung des Prozesses, des Privatrechts und namentlich des Handelsrechts eine rechtsschöpferische Kraft, wie sie selbst das Einungsprinzip nur in einer jungen, von wirtschaftlichem und kulturellem Aufschwung beflügelten Schicht des Volkes freizusetzen vermochte.
§§ 270 – 274. Zum Stande der Forschung § 270. An dieser Stelle werden wir uns füglich zu fragen haben, ob wir heute mehr wissen oder überhaupt wissen können als der Lesemeister und Gelehrte Albert, der im Gegensatze zu uns inmitten jener Welt lebte, deren Rechtsdenken wir zu erfassen bestrebt sind. Lassen wir das zweite Glied der Frage als allzu verfänglich auf sich beruhen (H. G. Gadamer 1990 S. 198 f., 277, 301, 342), so wäre im übrigen zu antworten, daß uns mehr zu wissen nur dann möglich wäre, wenn sich
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die hier vertretene These bewährte und bewahrheitete, der zufolge herrschaftliche und freie Einung einer und derselben Wurzel entspringen, nämlich dem Willen des Volkes, sich zur Erreichung seiner politischen Ziele eine Verfassung zu geben. Denn es war ein und dasselbe Volk, welches von seinen verfassungsgebenden Befugnissen Gebrauch machte, wenn es einerseits Monarchen, andererseits Kommunalbehörden über sich erhob. Es erklärt sich also nicht aus Unterschieden der Rechtsauffassung, sondern lediglich aus solchen der historischen Umstände und politischen Ziele, wenn sich die Völker im frühen Mittelalter, als Großreiche zur Beherrschung und Befriedung weiter Gebiete zu errichten waren, monokephale, später jedoch zur Einrichtung des gemeindlichen Lebens kollegial-annuitäre Regierungen gaben: In beiden Fällen nämlich war es das Volk, von dem die Oberen und Behörden ihre Vollmacht empfingen. Nicht nur Schöffen- und Ratskollegien, sondern auch Könige, Herzöge, Bischöfe und Grafen konnten nur deswegen und nur solange im Namen des Volkes handeln und von ihm Beistand und Gehorsam fordern, wie sie imstande waren, ihren Willen mit dem des Volkes zu identifizieren. Das Volk aber war stets, wenn seine Worthalter dazu nicht mehr imstande waren, berechtigt, ihnen den Gehorsam zu verweigern, sie zu verlassen und gewaltsam aus ihren Ämtern zu verjagen, um andere Personen an ihre Stelle zu setzen. Nur dann, so ist folglich anzunehmen, wenn man von solcher Einheit des Volkswillens und Rechtsdenkens als Grundlage aller Verfassungsbildungen ausgeht, läßt sich der Streit zwischen monarchischer Herrschaft und freier Gemeinde als Scheinproblem durchschauen, welches sich überhaupt nur erheben kann, wenn sich diese Grundlage aus dem Gedächtnis der Völker verliert. Eine solche Auffassung von dem mittelalterlichen Staatsgrundgesetz wird nicht widerlegt, sondern lediglich modifiziert durch den Umstand, daß kein Volk und kein gemeindliches Glied des Untertanenverbandes dazu berechtigt war, sich jeglicher Regierung zu entledigen und die Anarchie zu wählen (oben: § 167b), obwohl zu allen Zeiten die Identifizierung der Einzelwillen in einem Gemeinwillen der von diesem getragenen Regierung mehr Macht verlieh, als sich aus bloßer Addition der einzelnen Willen ergeben mag. Das verfassungspolitische Problem bestand nicht in der Schwierigkeit, diese Übermacht zu beseitigen, sondern in der Kunst, sie zu kontrollieren und in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen (oben: § 236, unten: § 653b). Eben dieser nicht logisch aus der Summierung der Einzelwillen, sondern nur politisch aus deren Integration in einen Gesamtwillen zu erklärende Überschuß an Regierungsmacht freilich war es, der dem zur Mystifikation neigenden Denken des Mittelalters dieselben Rätsel aufgab wie dem der Neuzeit, denn obwohl deren aufgeklärter Historismus den Schlüssel zu dem Problem fand, bestärkte er doch auch durch sein Überborden in der Französischen Revolution wieder die romantischen Gegenkräfte. Aber zu jeder Zeit fand in jenem Überschuß an Macht der Gedanke seine festeste Stütze, daß die Gewalt zu regieren übermenschlicher und außerirdischer Herkunft, nämlich von Gott mit der Schöpfungsordnung eingesetzt sei.
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Aus solcher Wurzel erwuchs die im mittelalterlichen und im romantischen Denken so einflußreiche biblische Interpretation des Politischen, daß oder als ob die Menschen erst durch ihr Verhältnis zu dem einen Schöpfergotte auch unter sich ein rechtliches Verhältnis begründeten, daß oder als ob Patriarchen und Könige, die Gesalbten des Herrn, berufen seien, dieses Verhältnis zu installieren, und daß folglich alle Obrigkeit (potestas, Röm. 13, 1 – 3, magistratus et potestates Luk. 12, 11, principatus et potestas praesidis Luk. 20, 20) von Gott sei. Die entgegengesetzte hellenistische Auffassung des Menschen als zoon politikon, das von Natur aus in Gemeinden lebe, war schon in der Spätantike nur noch wenigen griechischen Gelehrten und gebildeten Römern bekannt. Gemeinschaftshandeln, dessen vielfältige Einrichtung wir heute Staat nennen, war daher der Wissenschaft des Mittelalters, für die wir Albert von Köln haben sprechen lassen, nur als Folge eines Herrengebotes verständlich – und umgekehrt Herrschaft nur als die dem Fürstenhause von Gott zum Erbe verliehene Befugnis zu befehlen oder zu verbieten. Zu gewaltsam aber widersprach diese als subjektives Recht dem Herrn beigelegte Gewalt dem Freiheitsgefühl der Untertanen, als daß die Beobachter und Geschichtsschreiber sie hätten vom regierten Volke herleiten oder als von ihm verliehen auffassen können. Nur Gott, so meinten sie, konnte Herrschaft gewähren; dem kiesenden Volke blieb nur übrig, durch rauschhafte, inspirierte Einmütigkeit aller die Anwesenheit des heiligen Geistes bei der Erhebung des Erben zum Herrn so deutlich zu offenbaren, daß sich niemand von Rechts wegen weigern konnte, dem Gekorenen Treue zu geloben. Gemeinschaftshandeln verstanden die Gelehrten daher stets als Handeln der Könige, Fürsten und Herren, deren Befehlen die Untertanen Folge geleistet hatten. Handelten Männer ohne einen solchen Befehl oder gar ihm zuwider, so galt dies wie den Herren, so den Chronisten als Willkür, Aufruhr oder frivole Verschwörung. § 271. Aus solchem Denken entsprangen die neuzeitliche Lehre vom Patrimonialstaate (oben: § 166) und die von Talleyrand auf dem Wiener Kongreß erfundene Legitimitätsidee, mit der ein politischer Realist wie Bismarck so wenig anzufangen wußte (oben: § 167a). Gleichwohl sind diese Vorstellungen, vermittelt durch so bedeutende Gelehrte wie Otto Gierke (oben: § 36) und Max Weber (1864 – 1920), noch heute mächtig. Denn ihnen und der Verfassungswirklichkeit seiner Zeit zuliebe bestimmte Gierke Herrschaft und Genossenschaft nicht als aufeinander bezogene und ineinander verschränkte, sondern als selbständige, voneinander unabhängige und auch je für sich in der Geschichte wirksame politisch-rechtliche Gestaltungsprinzipien. Um dieser Setzung willen deutete er die herrschaftliche Genossenschaft kühn als herrschaftliche Schöpfung: Der Herr mochte wohl anordnen oder dulden, daß seine Getreuen einen Verband bildeten, doch habe sodann die Genossenschaft ihr Recht von ihm hergeleitet. Denn für das Landrecht existierte nur der Herr, nur an Willensäußerungen des Herrn knüpfte es Rechtsfolgen, ohne der Mitwirkung der Genossen zu gedenken, wie überhaupt deren Rechte immer mehr hinter ihren
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Pflichten und Diensten zurückgetreten seien (O. Gierke 1868 S. 155 ff.). Das Erfordernis genossenschaftlicher Rechtsweisung und Zustimmung, welches die Identität des Verbandswillens mit dem Herrenwillen sicherte und von Fall zu Fall die Vollmacht des Herrn erneuerte, für den Verband zu sprechen, wurde mit dieser Lehre genauso entwertet wie mit der Behauptung, die fränkischen Großen, die im Königsgericht das Urteil fanden, seien nicht von Rechts wegen das fränkische Volk, ihre gerichtliche Tätigkeit lediglich unverbindliche Beratung des Herrschers gewesen (J. Weitzel 1985 S. 68 – 70). So sah Gierke als bewiesen an, was er doch nur voraussetzte: daß nämlich Genossenschaftswesen und genossenschaftliche Rechtsfindung auf die niederen, lokalen Kreise des Volkes beschränkt, aus der Sphäre königlicher Herrschaft dagegen ausgeschlossen gewesen seien. Eine gemeinsame irdische Wurzel beider Rechtssphären galt ihm als ebenso undenkbar wie die Überlegenheit des Volksrechtes über das Herrenrecht. Für das Mittelalter postulierte er vielmehr einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihnen und die Höherwertigkeit der Herrschaft, da sie den Staat habe ersetzen müssen, dessen Idee sich damals noch nicht enthüllt habe und dem Volke unerträglich gewesen wäre. Denn erst die „moderne deutsche Staatsidee“, so meinte er, erreiche die „Versöhnung der uralten Genossenschaftsidee und der uralten Herrschaftsidee, . . . deren feindlicher Gegensatz . . . in einer höheren Einheit seine Lösung finden soll“ (O. Gierke 1868 S. 833). Und nicht auf Grund empirischer Erkenntnisse, sondern um der Allgemeinheit jenes Antagonismus willen behauptete Gierke, kommunale Behörden seien zwar aus dem Willen der Bürgerschaft und als deren Organe entstanden, doch hätten sie sich seit den Zunftkämpfen des 14. Jahrhunderts zu Obrigkeiten mit eigenem Herrschaftsrecht entwickelt: Wie auch hätte ansonsten die spätmittelalterliche deutsche Stadt in der alles bestimmenden Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft ihren Platz finden können, wie wäre „die Durchführung des Staatsgedankens im Rahmen des städtischen Gemeinwesens“ (O. Gierke 1873 S. 733) möglich gewesen, wenn die Gemeinden nicht aus sich heraus Obrigkeiten hervorgebracht hätten (E. Pitz 2001 § 216)? Otto Gierke ist heute vergessen, nicht dagegen Max Weber, der doch von Gierke die Ansicht übernahm, die Genossenschaft sei eine Angelegenheit unterer Schichten und daher nur eine zweitrangige Form der Bildung politischer Verbände gewesen. Wie sehr Weber auch als Rechtssoziologe den Begriff der Legitimität über das traditionelle Verständnis hinaus erweiterte, so beharrte er doch darauf, in ihr eine Eigenschaft allein von Herrschaft zu erkennen. Den Maßstab hierfür gewährte ihm das Recht der herrschaftlichen Verbände und ihrer Königreiche, und nach ihm urteilte er, wenn er seine Typologie der Städte unter die Überschrift „Die nichtlegitime Herrschaft“ stellte (M. Weber 1921 / 1972 S. 727. J. Weitzel 1985 S. 102 f.) Jede Eidverbrüderung neufreier Bürger oder Landleute bedeutete, gemessen an diesem Maßstabe, die „revolutionäre Usurpation“ einer ihnen nicht zustehenden Gewalt, aus der ein Recht nur dann entstehen konnte, wenn die legitime politische Herrschaft die Untertanengemeinde durch ihr Privileg legitimierte (M. Weber
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1. Teil: Die Gemeinden
1921 / 1972 S. 749). Noch im Jahre 1971 urteilte ein so gründlicher Kenner des alten deutschen Stadtrechtes wie Wilhelm Ebel, genau genommen, habe das Regiment des Rates zu Lübeck auf usurpierter Macht beruht (E. Pitz 2001 S. 144 f.). § 272. So sehr diese Auffassung auch auf den ersten Blick von den Quellen, die im hohen Mittelalter ausschließlich und im späten Mittelalter vornehmlich aus geistlichen Federn erflossen, bestärkt wird, so ist ihr doch bereits entgegengehalten worden, daß sich das Mittelalter einen anderen Begriff von Legitimität gemacht haben müsse als das 19. Jahrhundert und daß die Mediävistik unter Herrschaft nicht die Kompetenz, zu entscheiden und Entscheidungen durchzusetzen, zu verstehen habe, wie es die modernen Sozial- und Handlungswissenschaften tun, sondern primär Schutz und Hilfe bei gegenseitiger Rechtsbindung des Herrn und seines Untertanenverbandes (O. Brunner 1968), was, wie die vorliegende Verfassungslehre behauptet, nichts anderes heißt, als daß sie nach germanisch-deutschem Rechtsverständnis auf dem Herrschaftsvertrage beruhte, den das Volk bei jeder Erhebung und Annehmung eines Herrn zu erneuern pflegte, und wenn dies unartikuliert und mündlich geschah, so beweist das nur die Selbstverständlichkeit des Vorganges, dessen Gebotensein als solches niemals bestritten wurde und daher weder jemals den Gesetzgeber in Tätigkeit versetzte noch die Schriftsteller dazu bewog, ihn zu beschreiben und zu analysieren. Ebenso ist die im deutschen Rechte begründete Legitimität der Verfassungsgebilde, die im späten Mittelalter in Stadt und Land von freien Einungen geschaffen und von den Fürsten zwar bekämpft, aber regelmäßig vertragsweise anerkannt worden sind, neuerdings von Peter Blickle glanzvoll erwiesen worden. „Die Gemeinde,“ so schreibt er, „spricht sich in Gemeindeversammlungen politisch aus, sei es durch Gemeindebeschlüsse, voluntaristische Akte, die schließlich die Form von Satzungen annehmen können, sei es, daß sie ihr Recht, das Alltägliche zu organisieren, an eigens dafür geschaffene Institutionen delegiert.“ Die Versammlung, die vielfach kurzerhand selbst als Gemeinde bezeichnet (und so mit ihr identifiziert) werde, habe die Verbandsgewalt derart inne, daß Räte, Vierer, Bürgermeister, Ammänner oder wen immer sie als Behörde über sich erhebe, ihre Vollmacht, ihr Mandat allein von ihr erhielten, ohne ein eigenes Recht daran zu erlangen (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 40 f.). In Ermangelung eines eigenen Rechts auf die Macht war das Regiment nicht prinzipiell von der Gemeinde geschieden, sondern die Gemeinde regierte sich selbst durch die Gemeindeversammlung, die den jährlich neu gewählten Amtspersonen unter Eid den schuldigen Gehorsam gelobte, auf dem alle Amtsmacht beruhte (ebd. S. 48, 23). Stets sei das Stadtrecht daher Satzung der Bürgerschaft geblieben, auch wenn der Rat in ihrem Namen das Satzungsrecht ausübte (ebd. S. 45 f.). Zwar habe der Rat wegen der Gebotsgewalt, die die Gemeinde ihm beilegte, „obrigkeitlichen Charakter“ getragen, und dieser habe sich im Verlaufe des 15. Jahrhunderts sogar verstärkt (ebd. S. 26, Bd. 2 S. 143); gleichwohl habe er lediglich den Willen der Gemeinde zu vollziehen gehabt, wie sich besonders deutlich in
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kritischen Zeiten zeigte, wenn sich die Gemeinde gegen ihn empörte und sich, ihn umgehend, durch zeitweilig erhobene Ausschüsse handlungsfähig machte (ebd. Bd. 1 S. 26, 43). „Zwar besteht zwischen Rat und Bürgerschaft ein wechselseitiges Verhältnis von Schutz und Gehorsam, doch die Gemeinde sieht im Rat immer und zuerst ihr repräsentatives Organ, nicht ihre Obrigkeit, und insofern galt selbst bei den Zeitgenossen der Auflauf der Gemeinde als ,legitim‘“ (ebd. S. 144). Erst die Reformation habe die Räte in der Auffassung bestärkt, daß ihr Regiment Herrschaft (oder gottgewollte Obrigkeit) wäre (ebd. Bd. 2 S. 224), und wenn sie damit auch die Rechtsverhältnisse nicht gründlich zu verändern vermochten, so sei doch die daran anknüpfende „Theoretisierung der Gemeinde“ (ebd. Bd. 2 S. 286 – 348) der Beobachtung des deutschrechtlichen Wesens der Gemeindeverfassung und ihrer Legitimität nicht günstig gewesen. § 273. Zwar bezeichnet Blickle das kommunale Behördenrecht als Repräsentation, doch beschreibt er nicht die gemeinrechtliche Identitätsrepräsentation (oben: §§ 6, 255), sondern die deutschrechtliche Identität beziehungsweise zahlreiche ihr zugehörige Einzelheiten, deren systematischen Zusammenhang er freilich nicht erkennen konnte, weil das von ihm durchforschte oberdeutsche Rechtsgebiet keine den niederdeutschen Hanserezessen vergleichbaren Quellen besitzt, aus denen sie sich als ein in der Praxis der Ratssendeboten zwar fern aller Theorie, aber konsequent und widerspruchsfrei gehandhabtes System von Regeln für die gemeindliche und übergemeindliche, städtebündische Willensbildung herleiten läßt (E. Pitz 2001). Zu den von Blickle in Oberdeutschland beobachteten Elementen des Identitätssystems gehören die gemeindliche Willensbildung im akklamatorischen Verfahren, die nach Wichtigkeit der Geschäfte abgestufte, mehr oder weniger vollständige Beteiligung der Gemeinde (ebd. § 66) und die zu gültigem Beschließen erforderliche Einhelligkeit, bei der die schiere numerische Mehrheit nicht den Ausschlag gab (P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 43, Bd. 2 S. 68, 132 – 138), ferner die Bestellung der Landtagsboten in der Gemeindeversammlung, die ihren Sprechern lediglich ein spezielles oder imperatives Mandat erteilte, daher den Boten im Landtage das Referenzrecht (oben: § 22) zustand und Landtagsbeschlüsse in den Gemeinden erst dann gültig wurden, wenn deren Bürgerversammlung sie ratifiziert hatte; daraus folgte der für das Identitätssystem typische, oft über Monate oder gar Jahre hin anhaltende Zwischenzustand, in dem das Land darauf wartete, bis alle Gemeinden seinem Willen zugestimmt hatten (P. Blickle Bd 1 S. 100 f., 138 f., 151 ff.). Nun hat Blickle sehr wohl bemerkt, daß dies alles weder mit dem System repräsentativer Willensbildung noch mit dem freien, unbedingten, nicht an den Konsens der repräsentierten Gemeinde gebundenen Mandat des Repräsentanten vereinbar ist (ebd. Bd. 2 S. 138, 264 f., 269, 280 f.), und da er sich wohl aus diesem Grunde einer Definition der Begriffe Organ und Repräsentation enthalten hat, so verschwimmt in seiner Darstellung gelegentlich (ebd. Bd. 2 S. 145 – 149) die Grenze zwischen rechtlichem und sozialem Begriff der Repräsentation, und die Vermutung
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1. Teil: Die Gemeinden
kommt auf, daß zwischen altdeutschem Kommunalismus und moderner Repräsentation ein Zusammenhang bestehen könne (ebd. S. 160). Der grundlegende verfassungspolitische Umbruch, der mit dem Übergang vom Identitätssysstem zum Repräsentativsystem (oben: § 28) verbunden war, kann da freilich nicht sichtbar werden. Denn nach dem Recht der Identität, auf der alle mittelalterliche Legitimität von Hoheit und Staatsgewalt beruhte, konnten Kommunalbehörden weder Obrigkeiten noch Repräsentanten ihrer Gemeinden sein. § 274. Allein die Annahme, sowohl die herrschaftliche als auch die freie Form der Einung und mit ihnen die mittelalterliche Staatsgewalt seien aus einer und derselben Wurzel entsprungen, dürfte geeignet sein, den Übergang vom Identitätszum Repräsentativsystem und damit die Verwandtschaft zu erklären, die zwischen den beiden Grundformen öffentlicher Willensbildung besteht. Denn ganz offensichtlich hat die Repräsentation ihren Ursprung in der herrschaftlichen Genossenschaft, während alle genossenschaftlich-gemeindliche Freiheit wesentlich davon abhing, daß die Willensbildung im Reiche oder Staate nach den Regeln des Identitätssystems erfolgte (oben: § 201). So ließ das auf das Recht des Eroberers gegründete normannisch-angevinische Königtum in England nirgendwo freie Einungen zu politischer Bedeutung gelangen; es duldete nur herrschaftliche Genossenschaften, deren Freiheit in ihrer Königsunmittelbarkeit bestand. Was in Deutschland allein den bischofsstädtischen und wenigen großen landsässigen Stadtgemeinden gelang, nämlich sich die Reichsunmittelbarkeit zu bewahren und dadurch den Stadtherrn in der Stellung eines königlichen Amtmanns festzuhalten oder ihn gar politisch und rechtlich ganz auszuschalten, das war in England der Regelfall der Gemeindeverfassung. Denn seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erreichte das englische Königtum nicht nur die Überleitung der wichtigsten Kompetenzen der Grafengerichte auf das Königsgericht und dessen Reiserichter (J. Hatschek 1913 S. 255, 275), sondern auch die Umwandlung der Grafschaft in einen Kommunalverband, zu dessen Versammlung der königliche Sheriff nicht nur die freien geistlichen und weltlichen Allodialbesitzer, sondern auch die Dorf- und Stadtgemeinden derart zu laden hatte, daß sich jene durch vier freie Männer und diese durch zwölf Bürger vertreten lassen mußten; seither formulierte die Grafschaftsversammlung den Gemeinwillen der gesamten Grafschaft, da jeder freie Grafschaftsgenosse und jeder der Grafschaft angehörige Verband juristisch als im Grafengericht anwesend gedacht wurde (ebd. S. 95 – 97). Hier nun entstand das Institut der Repräsentation, weil König und Sheriff von den Gemeinden verlangten, bedingungslos mitzutragen und auf sich zu nehmen, was ihre Vertreter in der Grafschaftsversammlung dem Könige zusagen würden (ebd. S. 210 – 214). Aus der Gliedschaft der Land- und Stadtgemeinden nicht nur in der Grafschaft, sondern auch im Reichsuntertanenverbande ergaben sich alsbald auch ihre Zusammenfassung in der Reichsgemeinde, comuna totius Angliae, und ihre Repräsentation in dem Parlament, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Teilverband innerhalb der königlichen und Reichsversammlung der Gemeinden verfassungsmäßig Gestalt annahm.
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Vergleicht man hiermit den Gang der deutschen Verfassungsgeschichte, so treten die Folgen klar hervor, die der Kollaps des Königtums in dem Thronstreit von 1198 bis 1212 und im Interregnum von 1245 bis 1272 nach sich zog. Im Jahre 1231 zog sich der deutsche König zugunsten der Fürsten auch formal von der verfassungspolitischen Aufgabe zurück, den Kommunalismus der neufreien Stände in die Reichsverfassung einzupassen und so deren zerfallene karolingische Grundlage durch ein neues Fundament zu ersetzen, wofür sich in England die Repräsentation der Gemeinden in der Reichsversammlung als das geeignete Mittel erwies. Dieser Rückzug des deutschen Königtums fiel in eine Zeit, als die Fürsten noch nicht darauf vorbereitet waren, die ihnen überlassene staatspolitische Aufgabe zu erfüllen. Daher streiften die deutschen Gemeinden jetzt endgültig die Bande herrschaftlicher Genossenschaften ab und erstritten sich das Recht der freien Einung und Willensbildung, und sie waren mächtig genug, um den Identitätsgrundsatz zu der Norm zu machen, die ihr Verhältnis zum Lande beziehungsweise zum Reiche, ihre Befugnisse als Land- oder Reichsstände regulierte. Die Blüte des deutschen Einungswesens im Spätmittelalter bedeutete verfassungsgeschichtlich einen Stillstand der Entwicklung zu einer Zeit, als im romanisch-englischen Teil des Kontinents das Prinzip der herrschaftlichen Genossenschaft modernere Formen staatlicher Verfassung hervorbrachte.
Achtes Kapitel
Die Grafschaft §§ 275 – 279. Die grafschaftliche Dinggenossenschaft § 275a. Als einer der gebietsbezogenen herrschaftlichen Einungen, aus denen sich der Untertanenverband des karolingischen Reiches zusammensetzte, ist der Grafschaft bereits mehrfach gedacht worden, haben wir uns doch die fränkische Reichsgenossenschaft (oben: § 204) als in Regna und auf lokaler Ebene unterhalb derselben in Dingverbände gegliedert vorzustellen, und deren gab es im 9. Jahrhundert nur erst die Grafschaften, aus denen kirchliche Immunitäten und weltliche Allodialherrschaften noch nicht ausgenommen waren (oben: §§ 206 – 207). In den grafschaftlichen Dinggenossenschaften waren uns die Depositare der Volksrechte entgegengetreten, die ihre in verfassungsgeschichtlicher Sicht wichtigste Aufgabe in den Formen der dinggenossenschaftlichen Justiz erfüllten (oben: § 172). Ihr Aufgabenfeld umfaßte alle Bereiche lokalen Zusammenlebens der Menschen in einer agrarischen, jedoch bereits mit Geldbesitz und Marktverkehr vertrauten Gesellschaft. Im Laufe des hohen Mittelalters konnte sich daher die kommunale Selbstverwaltung als Aufgabe besonderer Einungen und Behörden von der Zuständigkeit der Gerichtsgemeinde abspalten (oben: § 234). Einst hatten die fränkischen Könige in ihrem Reiche die Grafschaftsverfassung einführen können, weil sie überall bereits Dingverbände vorfanden, die von den freien Hausvätern jeglicher Nachbarschaften eingerichtet und mit Häuptern (den Thunginen der fränkischen Volksrechtssprache) versehen worden waren. Mehrere Dingverbände dieser Art hatten die Könige der Aufsicht, und soweit ihre Versammlungen Gerichte sein sollten, dem Vorsitz eines Grafen unterstellt, als dessen Untergebene nun die Verbandshäupter und ihre Nachfolger, die Zentenare, Tribune, Schultheißen der karolingischen Zeit, ihre Aufgaben erfüllten, ein jeder von ihnen für seinen Dingverband zugleich Vertreter, vicarius, des Grafen und gemeinsam mit diesem von den Dinggenosen zu ihrem Haupte erhoben oder angenommen (unten: § 313. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 391 – 399. H. Drüppel in LMA 4 Sp. 1323). Die Gesamtheit der Grafschaftsleute oder pagenses faßten die Schriftsteller des 9. und 10. Jahrhunderts vornehmlich unter dem Begriff populus zusammen, dem in seiner doppelten Bedeutung einerseits als Völkerschaft oder Bevölkerung eines Landes, andererseits als vulgus, Volksmenge, versammeltes Volk, in erster Linie das ahd. Substantiv folc, as. folk, äquivalent war (H. Götz, Wb. 1999 S. 500); ahd.
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1. Teil: Die Gemeinden
diot(a) findet sich daneben nur noch in der Verbindung heidinêr thiot als Entsprechung zu lat. populus gentium. Da die Gelehrten hiervon das zuerst zu 786 belegte und um die Mitte des 11. Jahrhunderts wieder untergegangene frankolat. Adjektiv theodiscus ,volkssprachlich‘ oder ,die germanischen Volkssprachen betreffend‘ ableiteten (das in neuerer Zeit und vielfach auch heute noch fälschlich mit nhd. deutsch übersetzt wird), waren mit ahd. diot offenbar vornehmlich religiös-kulturelle Vorstellungen verbunden (C. Brühl 1995 S. 181 – 205, 2001 S. 62 – 69), wie sie auch in dem Gaunamen Theotmalli (oben: § 76) und dem Ortsnamen Dietkirchen zum Tragen kamen. Auf Grund dieser Umstände liegt es nahe, die Grafschaften als Nachfahren vorstaatlicher Friedensgemeinden (oben: §§ 62 – 64) und Gemeindestaaten (oben: § 89) und die an ihrer Spitze stehenden Grafen als Nachfolger der von deren Personenverbänden erhobenen oder gewählten und ermächtigten Häupter oder Satrapen (oben: §§ 74 – 77) zu betrachten, ungeachtet aller Veränderungen, die eingetreten sein müssen, als die fränkischen Könige diese Verbände verstaatlichten. Denn der König wurde seinerseits von den versammelten Sprechern der Dinggemeinden erhoben, die als mit dem Gesamtvolke der Franken identisch auftraten und handelten, und die Erhebung oder Ermächtigung der Grafen gehörte zu den Kompetenzen, mit denen das Volk seinen König hatte ausstatten müssen, um ihn regierungsfähig zu machen und die Reichseinheit zu sichern. Zuletzt noch führte König Karl der Große nach Unterwerfung des bis dahin republikanisch und föderativ verfaßten Volksstaates der Sachsen die Verstaatlichung der sächsischen Satrapien und Gauverbände durch, indem er auf einem Reichstage zu Lippspringe im Jahre 782 dem Lande und Volke die Grafschaftsverfassung auferlegte und sächsische Adlige zu Grafen ernannte (unten: § 341). § 275b. Anders als ahd. diot bezeichnete lat. populus seit der Spätantike vornehmlich politische und soziale Gegebenheiten (St. Esders 1997 S. 118 – 120, 260, 434 Anm. C. Brühl 1995 S. 243 – 255, 2001 S. 78 – 83). So benutzen die Annalisten und Geschichtsschreiber des 9. und 10. Jahrhunderts häufig Ausdrücke wie cunctus populus, clerus et populus, tanta populi multitudo, conventus populi, frequentia populi oder consensus populi, die uns einerseits die geringere soziale Schätzung dieses Volkes im Gegensatz zu den principes und proceres, andererseits aber dessen Unentbehrlichkeit bei der politischen Willensbildung zu erkennen geben. Selten dagegen findet sich populus in Verbindung mit Völkernamen. Als Bezeichnungen für die durch Sprach- und Rechtsgemeinschaft ausgezeichneten Völker der karolingischen Regna und späteren Herzogtümer oder gar für den gesamten fränkischen und später ostfränkischen Reichsuntertanenverband boten sich eher lat. gens und natio an. Nur selten wurde dafür auch populus benutzt, so daß sich die drei Begriffe insofern als austauschbar erweisen. Für kleinere Gruppen dagegen, wie sie die Bewohner einer civitas, eines Landes, eines Gaues oder andere Unterabteilungen einer gens ausmachten, war vorzugsweise lat. populus in Gebrauch. Selbst Untergaue und Kirchspiele scheinen ihr ei-
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genes Volk gehabt zu haben, da die Bewohner einer Grafschaft auch im Plural als populi bezeichnet werden konnten. In einer Königsurkunde von 888 heißen die Bewohner eines im Grafschaftsgau Grunzwiti, dem Grünzgau in der bayerischen Ostmark, gelegenen Dingbezirks nebeneinander cives (oben: §§ 219, 222), denn ihre Bannbußen waren civiles banni, oder gens oder populus (MGH. DArn. 32 S. 48 Z. 26 – 31). In den Traditionsnotizen des Bistums Freising erscheinen die zu den öffentlichen Rechtshandlungen Versammelten als populus sowohl im Singular wie im Plural, sonst aber als pagenses, personae qui aderant, homines qui . . . in ipso placito residebant, sedentes et stantes, boni homines (Belege bei G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 405 – 407). Häufig erwähnen den populus der pagenses oder Gauleute die im Bodenseeraume für das Kloster St. Gallen ausgestellten Privaturkunden des 9. Jahrhunderts. So ließ Bischof Gebhard von Konstanz im Jahre 868 placito habito . . . populoque circumquaque congregato den Zehntbezirk der Kirche zu Birndorf im Allgäu feststellen (Wartm. UB 2, 198 n. 585), ließ ein Grundeigner namens Moyses im Jahre 884 eine Schenkung in publico placito sub frequentia populi bekräftigen, wobei des Grafen nur in der Datierung gedacht wird (ebd. S. 245 n. 639), und versammelte Abt-Bischof Salomom von St. Gallen und Konstanz im Jahre 890 die Großen, principes, der Grafschaften im Thurgau, im Linzgau und in Churrätien cum reliqua populorum multitudine, um die Allmendrechte des Klosters im Rheingau feststellen zu lassen, worüber alle Großen von den drei Grafschaften gemeinsam, primates omnes de illis tribus collecti comitatibus, unter Eid ihre Aussage machten (ebd. S. 281 n. 680. Unten: § 287). In den Fuldaer Traditionen dieser Zeit findet sich die Grafschaftsversammlung öfters als conventus publicus bezeichnet, womit wohl nichts anderes gemeint ist als der conventus populi. So lesen wir etwa: Facta haec traditio in conventu publico in villa Sundheim coram comite et iudicibus suis, wozu Popo comes, Adalfrid und weitere sechsundzwanzig Zeugen der Tradition sowie dreizehn Zeugen der Investitur namentlich genannt werden (Dronke C. d. S. 175 n. 388, Jahr 819). Actum publice in villa Nordheim (ebd. S. 200 n. 454, Jahr 824) bedeutet sicherlich ebensoviel wie an anderer Stelle actum in villa Eigratesheim in conventu publico (ebd. S. 202 n. 459, Jahr 825). Das versammelte Volk aber war das Grafschaftsvolk. Denn am 25. Februar 825 factus est publicus conventus Popponis comitis et totius comitatus eius in terminis villae quae dicitur Geismari, factaque est exquisitio magna in eodem conventu über die Mark des Klosters Hünfeld, und jeder, der in illo placito als unberechtigter Inhaber von Grund und Boden innerhalb der Mark erfunden wurde, hoc secundum legem illorum coram supra nominato comite et omni conventu restituit (ebd. S. 201 n. 456). Von einem ähnlich großen conventus publicus, bei dem Poppo comes et maiores natu de comitatu anwesend waren, war (oben: § 226) bereits die Rede. Im hohen Mittelalter scheint sich an diesen Verhältnissen wenig geändert zu haben. König Otto I. verfügte im Jahre 961 über Eigengut eines ungetreuen Vasallen
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1. Teil: Die Gemeinden
Diotmar, das im Radenzgau in der Grafschaft Berchtolds gelegen und ihm zuvor durch Urteil des Volkes zugesprochen, iam iuditio populi ad nostrum ius redactum, worden war (MGH. DO. I. 217. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 27. E. von Guttenberg 1927 S. 14). Wegen der Dürftigkeit der Quellen ist es schwer, für die Zeit bis zum 12. Jahrhundert hin näheres über die Grafschaftsverbände auszumachen (oben: § 154). Aber noch im Spätmittelalter bezeichnen die Quellen die Gerichtsgemeinden der sächsischen Gogerichte als populus oder populi, neben (com)populares, provinciales, cives, villici und nd. gohelüde, lude, lantlude, dat (ghantze) lant (G. Landwehr 1964 S. 158 f., 166). § 276a. Es ist die für das Verständnis der Institution Grafschaft entscheidende Frage, wie sich mit der Verstaatlichung des Dingverbandes die Formen änderten, in denen sich die Bestallung der Grafen vollzog. Nach herrschender Lehre hätten die fränkischen Könige die Wahl der Dingvorsteher durch das Dingvolk beseitigt und die Grafen nach eigenem Willen ernannt, und die Quellen bestätigen diese Annahme insofern, als sie von Grafenwahlen nichts, sehr viel dagegen von königlicher Ernennung und späterhin Belehnung der Grafen zu berichten wissen. Geht man aber von den Regeln identischer Willensbildung aus, so ergibt sich ein anderes Bild. Denn danach ist die Auslese der für das Grafenamt geeigneten Person von deren Ermächtigung oder Bekleidung mit der Amtsgewalt zu unterscheiden, und wenn die letztere nun Sache des Königs war, dem die zum Reichsvolke und zur Erhebung des Königs versammelten Dingvölker sie in Auftrag gegeben hatten, so ist damit über die Formen der Auslese noch nichts ausgesagt. Die Quellen freilich machen uns darüber keine Angaben, aber ihre Aufmerksamkeit ist, wie wir wissen, ausschließlich auf das Tun und Dürfen der Herrscher und Mächtigen gerichtet und läßt die Rechte und Rechtsansichten des Volkes fast immer im Dunklen. Indessen maßgeblicher Einfluß der Dinggenossenschaft auf die Erhebung und Amtswaltung des Grafen muß gewiß vorausgesetzt werden, weil und seit König Chlothar II. im Jahre 614 dem fränkischen Adel hatte zugestehen müssen, daß in keiner Provinz mehr ein auswärtiger Richter eingesetzt werde, ordinetur – wie üblich, verwandte man, um die königliche Würde zu schonen, das Verbum, das ein vom Volke an den König gerichtetes Verbot enthielt, im genus passivum –; vielmehr sollte der Graf aus den eingesessenen Grundbesitzern der Grafschaft genommen werden und den Dinggenossen mit seinen Gütern für jeden Schaden haften, den er durch Mißbrauch der Amtsgewalt anrichtete (MGH. Capit. 1, 20 n. 9 c. 12). „Das wurde ausschlaggebend für die ganze weitere Entwicklung“ (F. Keutgen 1918 S. 87. Unten: §§ 557 – 566). Der Einfluß, der seither den Dinggenossenschaften bei der Auslese der Grafen zustand, macht es verständlich, daß Karl der Große zwar darum bemüht war, eine Vererbung des Amtes zu verhüten und niedriggeborene oder aus anderen Gründen von ihm abhängige Männer anstelle solcher aus alteingesessenen und in ihrem Gau mächtigen Geschlechtern zu Grafen zu ernennen, daß er aber doch immer wieder auf angesehene Einheimische Rücksicht nehmen mußte und diese sich, wie im Besitz hoher Ämter überhaupt, so nicht selten
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auch in der Verwaltung bestimmter Grafschaften oder Gaue behaupteten, in denen sie Vertrauen genossen und begütert waren (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 384 – 387. M. Borgolte in LMA 4 Sp. 1633. Unten: § 339). Denn „nur der findet Gehorsam, nur durch dessen Vermittlung kann auch der König auf Gehorsam rechnen, der bei den Regierten bereits Ansehen genießt“ (F. Keutgen 1918 S. 88). Was die Auslese oder Kur dieser Männer anlangt, so brauchte darüber nichts bestimmt zu werden, da die Regeln des Identitätssystems keine weiteren Formen für das Kiesen vorschrieben, als daß sie den reichen und mächtigen Verbandsgenossen sowohl die beste Eignung für das Amt als auch die Stimmführung bei der Kur zusprachen und für die Willensbildung des kiesenden Verbandes eine Einhelligkeit erforderten, die weder durch Zählen noch durch Wägen von Einzelstimmen festzustellen, sondern lediglich aus dem Ausbleiben jeglichen oder dem Verstummen verlautbarten Widerspruchs abzuleiten war. Wie die Einhelligkeit zustandekam, war gleichgültig. Namentlich kam nichts darauf an, ob der König oder der abtretende Graf oder Sprecher der Dinggenossen den ersten Vorschlag einer geeigneten Person machten: Bevollmächtigen konnte der König nur einen Mann, gegen dessen Ermächtigung sich kein Widerspruch erhob (oder zu erheben wagte). Da den Dingverbänden viel daran gelegen sein mußte, einen Mann zum Grafen zu erheben, der beim Könige angesehen und einflußreich war, sprach vieles dafür, den ersten Vorschlag dem Herrscher zu überlassen oder gar ihn von ihm zu erbitten. Beschritt man diesen Weg, so mußte der vom König Erkorene hernach den Beifall des Dingvolkes zu seiner Ermächtigung gewinnen, das Dingvolk mußte ihn einhellig zu seinem Haupte und Grafen annehmen, und schwerlich wird es sich dazu entschlossen haben, sofern der ihm präsentierte Amtmann nicht die Gewähr bot, das Recht und den gemeinen Nutzen der Dinggenossen und deren hergekommene Verfassung zu beschützen und zu mehren. Gewiß ist es denkbar, daß der König dem Dingvolke wider dessen Willen Grafen aufzwingen konnte, aber nichts spricht dafür, daß dies regelmäßig oder auch nur häufig geschehen wäre, denn schwerlich hätte sich ein Graf auf die Dauer ohne den Beistand seiner Untertanen in seinem Amte behaupten können, besaß er doch weder die Machtmittel, um das Volk nachhaltig zu knechten, noch die Sachkunde, um sämtliche Verwaltungsdienste zu erbringen, deren das alltägliche Leben des Dingvolkes bedurfte (oben: § 238). Dies läßt sich vor allem daraus ableiten, daß selbst die mächtigsten Könige die dinggenossenschaftliche Aufteilung der hoheitlichen Funktionen auf den Grafen als Gerichtsherrn und auf die Dinggenossen als Zeugen und Urteiler nicht beseitigten. § 276b. Die Annehmung, ahd. ananemunga, intfangnissa, heißt im Lat. assumptio (H. Götz, Wb. 1999 S. 59). Für die zahlreichen Fälle von Annehmung, die das Mittelalter kannte, ist es bezeichnend, daß das Verbum assumere auch synonym mit advocare = berufen, eligere = kiesen, promovere = befördern und sublimare = erheben, gebraucht werden konnte (Mlat. WB. Bd. 1 Sp. 1095 Z. 23 – 51). Es ist also nicht gerechtfertigt, die Annehmung des Grafen durch das Dingvolk zur be-
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deutungslosen Formalität oder gar zu einem Akte gehorsamer Unterwerfung unter den Willen des Königs oder gar des Grafen selbst zu erklären. In Wirklichkeit kam, wenn das zu diesem Zwecke versammelte Dingvolk den ihm vom Könige präsentierten Grafen zu seinem Gerichtsherrn oder Richter annahm, einer der Herrschaftsverträge zustande, auf denen alle mittelalterliche Staatlichkeit beruhte (oben: §§ 232, 260), und nur dann, wenn er einhellig vom Könige, den eventuell die Reichsversammlung verbindlich beriet, vom Grafen und vom Dingvolke gutgeheißen wurde, hatte die königliche Ermächtigung des Grafen Rechtsfolgen (unten: § 591). Es ist daher anzunehmen, daß, wenn der König den Grafen bevollmächtigte, bevor dieser vom Volke seine Annehmung erwirkt hatte, die königliche Bestallung nur unter Vorbehalt ausgesprochen werden konnte. Angaben der Quellen hierzu und zu den anderen Verfahrensschritten der Grafenerhebung dürfen wir allerdings nicht erwarten, da die Volksrechte, wie wir wissen, nicht wissenschaftlich bearbeitet wurden und sich daher niemand der in dem Vorgange zusammenfließenden Institutionen so bewußt zu werden versuchte, wie es unserem Bedürfnis entspricht zu verstehen, was da geschah. Das Schweigen der Quellen über electio = Kur, praesentatio oder nominatio = Benennung, assumptio = Annehmung und investitura = Ermächtigung oder Belehnung der Grafen hat daher nicht allzu viel zu bedeuten. Für die konstitutive Kraft der Annehmung und des darin enthaltenen Herrschaftsvertrages war es unerheblich, ob das Volk den Anzunehmenden erkor oder dem Könige zur Ermächtigung präsentierte oder ob der König die Kur an sich zog und den von ihm Erlesenen und Ermächtigten dem Volke präsentierte. So erklärt es sich, daß das Wort comitatus beziehungsweise sein ahd. Äquivalent (unten: § 284) in der von Laien gesprochenen Rechtssprache des Mittelalters mit der Unschärfe verwandt wurde, die für eine laikale Fachsprache typisch ist. Die rechtskundigen Laien liebten es, Definitionen zu meiden und Begriffsinhalte, die gelehrte Beobachter mühelos voneinander trennten, ineinander übergehen und verfließen zu lassen. Wie wir noch ferner sehen werden, sind in dem Begriff vier verschiedene Bedeutungen zu erkennen. Comitatus hieß nämlich nicht nur (1) das vom gräflichen Dingverbande beherrschte und topographisch abgrenzbare Gebiet (unten: § 286) und nicht nur (2) der Dingverband selber, soferne er sich zur Ausübung seiner Verbandsrechte im conventus publicus versammelte (oben: § 275b), sondern auch (3) das Recht des Königs oder Herzogs, Grafen zu ernennen oder zu ermächtigen oder dem Dingvolke zur Annahme zu präsentieren, und (4) das Recht, das der Graf dadurch und durch die Annehmung von Seiten des comitatus in demselben erlangte, also die Grafenwürde (unten: § 285). § 277. Den besten Einblick in das öffentliche Leben grafschaftlicher Dinggenossenschaften gewähren uns Urkunden, welche Gerichtsverfahren beschreiben. Wie das Amt des öffentlichen Gerichtsschreibers, der namens des Grafen solche Urkunden ausfertigte (oben: § 228), so entstammt allerdings auch die Beurkundungssitte
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an sich der Rechtskultur des Römischen Reiches, die die Franken einst in Gallien kennengelernt, aber nur mit geringem Erfolge im Rheinlande und östlich des Rheins zu verbreiten getrachtet hatten. Die Überlieferung von Gerichtsurkunden ist daher in dem ostfränkischen Teil des Karolingerreiches sehr dürftig. Grafenurkunden aus älterer Zeit bewahren nur die Formelsammlungen, in denen Kleriker und Mönche seit dem Ende des 6. Jahrhunderts Mustertexte von Privaturkunden aller Art zusammengetragen haben. Einige von ihnen entstammen den salfränkischen und alamannischen Gebieten des Frankenreiches (U. Nonn in LMA 4 Sp. 649), in denen eine rein germanische Bevölkerung angesessen war. Eine solche, im Bodensee-Kloster Reichenau aufgezeichnete Formel läßt den Grafen selbst über seine Tätigkeit berichten (MGH. FF. p. 362 n. 40. Hübner, Gerichtsurk. 1891 S. 24 n. 145), wie folgt: Als ich, erlauchter Herr Graf soundso, vir inluster comis ill., in dem und dem Gau in dem und dem Dorfe mit Urteilsfindern und Sühnemittlern und vielen anderen Leuten zur Erkenntnis des Rechts gesessen war, in pago illo resedissem in villa illa cum iudicibus et reginburgis et aliis populis multis ad discendum iudicium, da trat vor uns der Mann da mit Namen soundso (und erhob Klage gegen einen Mann namens soundso, daß) er ihm zu Unrecht seine Sachen weggenommen habe, ei per malo ordine res suas tulisset. Und wir untersuchten die Klage sorgfältig durch Nachbarn der Parteien, nachdem (der Kläger) Bürgen gestellt und (seine Sache) beschworen hatte, et nos hanc causam per vicinos eorum diligenter adquisivimus per fideiussores positos et sacramentum iurata. Und sie sagten so aus, wie uns die Klage kundgetan hatte, und der andere, mit Recht gefordert, konnte es nicht leugnen und sich nicht rechtfertigen und setzte ihn durch Pfandgabe vor unseren Augen wieder in den Besitz, per suum wadium ad nostram presentiam eum revestivit, und nachdem er bestätigt hatte, sich in jeder Hinsicht des Besitzes entledigt zu haben, cum se recognovisset in omnibus exuatum, und nachdem das Recht oder Urteil gesprochen war, definito iudicio, da kehrte der andere hier, der gegen ihn Recht hatte, nachdem er gemäß dem Gesetz der Alamannen in den Besitz eingesetzt worden in unserem Gerichte, secundum legem Alamannorum vestitu manu in palacio (lies: placito) nostro, zu seinem Anwesen zurück. Und da diese Klage vor uns mit Urteil entschieden worden ist durch unsere Urteilsfinder oder Sühnemittler als bestallte Richter und sehr viele andere Dinggenossen, die ebendort standen, nämlich die und die, ante nos fuit diiudicata et iudicibus nostris vel reginburgis nostris vel iudicibus constitutis et aliis pagensis plurimis ibidem sistentibus, hoc sunt illi et illi, so soll jeder, der dies anficht, der Dinggenossenschaft, in publico, sechzig Schillinge und (dem rechtmäßigen Besitzer) das Zweifache des Streitwertes bezahlen und mit seiner Forderung abgewiesen werden. – Handzeichen der sieben Zeugen, die dabeistanden, als dieses Urteil gefunden wurde, ubi istum iudicium fuit definitum. Handzeichen des Grafen soundso und der Urteiler, nach deren Spruch dies inhaltlich so gefunden worden ist, et iudicibus, quorum ista continentia definita fuit. § 278. Die Aussagen der Grafenurkunden werden ergänzt durch solche Urkunden, die eine vor Gericht siegreiche Partei von einem Schreiber aufsetzen ließ,
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den sie selbst hinzuzog, um sich die Kenntnis des Urteils dauerhaft zu sichern. Eine solche notitia aus dem Jahre 806 oder 807 hat sich im Archiv des Klosters St. Gallen sogar im Original erhalten (Wartm. UB 1, 177 n. 187. Altmann / Bernheim 4. Aufl. S. 221 n. 109. K. Kroeschell 1972 S. 90 – 92, mit deutscher Übersetzung. Hübner, Gerichtsurk. 1891 S. 29 n. 175). Ausgefertigt in Rätien, trägt sie zwar in den Namen der Zeugen und Schöffen und in sprachlichen Eigenheiten wie dem häufigen Abfall des auslautenden Konsonanten m, deutlich ein ungermanisches Gepräge, wie es für die rätoromanische Privaturkunde auch sonst typisch ist (O. Redlich 1911 S. 41 – 43), aber in der Gerichtsverfassung und dem Verfahren, das sie schildert, ist nichts Römisches mehr enthalten. Da der Vorsitzende, Graf Hunfred, ebenso wie ein seit 817 bezeugter rätischer Schultheiß Folcwin einen alamannischen Namen trägt, dürften beide Männer von Kaiser Karl in ihre Ämter eingesetzt worden sein, um in Churrätien eine fränkische Grafschaft einzurichten (H. Fichtenau 1971 S. 40 f.), und wenn auch der Notar Bauco nicht als amtlicher Gerichtsschreiber zu erweisen ist, so bediente er sich doch eines so offensichtlich fränkischen Diktats, daß das Dokument nicht der Gruppe der rätoromanischen Privaturkunden zuzurechnen ist (ebd. S. 43, 76). Der Gerichtsort Rankweil (ad campos) liegt in der Talebene des Rheins am Fuße des Bregenzer Waldes im heutigen Bundesland Vorarlberg. Hier spielte sich am 7. Februar 806 oder 807 folgendes ab: Als der erlauchte Herr Hunfred, Graf von Rätien, Unfredus vir illuster Reciarum comis, auf dem Königshofe, in curte, zu Rankweil an öffentlicher Malstatt gesessen war, cum resederet . . . in mallo publico, um aller Leute Klagen anzuhören und richtige Urteile festzustellen, ad . . . recta iudicia terminanda, da kam dorthin ein Mann namens Rothelm mit der Klage, ihm und dem Flavius sei in rechtswidriger Weise, in contradrictum, eine Hufe Landes weggenommen, tollatum, worden, die ihnen von Seiten seiner Ehefrau zugekommen sei und nach den Gesetzen, legibus, sein Eigen sein müsse, weil sie bereits dem Ururgroßvater seiner Ehefrau gehört hätte. Daraufhin rief der Graf Zeugen zusammen, die aus demselben Gau kamen, qui de ipso pago erant, und forderte sie bei dem Treueide, per ipsam fide et sacramento, den sie ihrer aller Herrn (dem Könige und Kaiser) geschworen hätten, dazu auf, die Wahrheit über alles zu sagen, was sie darüber wüßten. Ihre Aussage gibt die Urkunde in direkter Rede wieder: „Bei dem Eide, den wir unserem Herrn gegeben haben, wir wissen, daß da ein Mann namens Mado gewesen ist, der dort seinen eigentümlichen Boden, suum solum proprium, gehabt hat, dessen Grenze wir kennen; er liegt neben und grenzt an eben den Mansus, dessentwegen dieser hier klagt . . . Er (Rothelm) ist Eigentümer, ipse est dominus, denn . . . es ist das Eigentum dieser Männer hier (der Kläger Rothelm und Flavius), und ihres muß es nach den Gesetzen sein von Seiten ihres Ahnen Quintus, istorum hominum proprium est et illorum legibus esse debet de parte avii illorum Quinti.“ Daraufhin gebot der Graf, daß die Zeugen auf (das Land) gehen und die Grenzmale zeigen sollten, die sie genannt hatten. Dies geschah in Anwesenheit vieler Edler, nobiles, die der Graf mit den Zeugen ausgesandt hatte. Als dies zu Ende gebracht
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war, fragte der Graf die Schöffen, wie sie über die Klage urteilen wollten, interrogavit ipse comes illos scabinios, quid illi de hac causa judicare voluissent. Den Spruch der Schöffen führt die Urkunde wiederum in direkter Rede an: „Gemäß dem Zeugnis dieser Männer hier und gemäß Eurer (des Grafen) Untersuchung, vestra inquisitione, urteilen wir, judicamus, daß so, wie es geteilt und begrenzt ist und die Grenzmarken zwischen beiden Hufen gesetzt sind, diese Männer hier ihrer (beider) Eigen haben sollen, ut isti homines illorum proprium habeant, ohne irgendjemandes Widerspruch auf ewig; und was dem Königsgut zugesprochen und mit Grenzmarken vor Zeugen zugeteilt worden, quod in dominico dictum et terminis divisum coram testibus fuit, soll zugunsten unseres Herrn (Königs) in Besitz genommen werden, receptum sit a parte domni nostri.“ Deswegen erschien es den Klägern geboten, für sich und ihre Erben vom Grafen und den Schöffen eine Niederschrift über den Schöffenspruch zu erhalten, damit sie den Mansus hinfort unangefochten besitzen, possedere, könnten. Verhandelt, actum, auf dem Königshofe zu Rankweil an öffentlicher Malstatt im siebten Jahre des Kaisertums des Augustus Karl, im achtunddreißigsten Jahre seines Königtums im Frankenlande und im vierunddreißigsten in Italien. Gegeben am 7. Februar unter dem Grafen Hunfred, datum VII idus Februarii sub Unfredo comite. Zum Schluß nennt die Urkunde die Namen der fünfzehn Zeugen und der Schöffen, die sich (offensichtlich) mit weiteren anwesenden Dinggenossen über ihren Spruch verständigt hatten, haec nomina scabiniorum: Valeriano usw., sämtlich im Ablativ, qua etiam et aliis plurimis. Das Ganze beglaubigte der eigens hierum ersuchte Notar mit seiner Unterschrift: Ego itaque Bauco rogitus scripsi et subscripsi. § 279. In diesen Urkunden zeigt sich die Grafschaft als eine Veranstaltung altfreier, in ihrem Bezirke beisammen wohnender Grundbesitzer, die einander Nachbarn waren und den Rechtsfrieden unter sich wahrten, streitende Genossen im Gerichte aussöhnten und nicht nur alle in der Grafschaft bestehenden Rechtsverhältnisse, sondern auch die in ihr geltenden Gesetze des Volkes, davon ihr Verband einen Teil ausmachte, kannten, sie im Gedächtnis bewahrten und bei Bedarf durch Zeugen und Schöffen erkennen und aussprechen ließen: Weder jene noch diese sprachen für sich; vielmehr hielten sie das Wort in Gemeinschaft und im Einvernehmen mit den Dinggenossen, welche die Zeugen begleiteten, wenn sie liegende Rechte wahrzunehmen, und um die Schöffen herumstanden, so oft diese ein Urteil zu finden hatten. Die Gaugenossen des Breisgaus und ihre Sprecher erinnerten sich noch im Jahre 828 der Namen der Freien, die vor mehr als einem halben Jahrhundert von König Pippin angewiesen worden waren, bestimmte ihm zustehende Zinse hinfort dem Kloster St. Gallen zu entrichten (Wartm. UB 1, 289 n. 312. RI2 n. 845. Hübner, Gerichtsurk. 1891 S. 46 n. 261); es müssen die Urgroßväter oder Großväter der zu ihrer Zeit zinspflichtigen Genossen gewesen sein. Unsere Urkunden nennen sie populi multi, Männer de ipso pago, wo das streitige Gut lag, pagenses plurimi oder nobiles; aus ihnen bestand das Grafschafts- oder Dingvolk, und was dort geschah, wo sie versammelt waren, das war oder geschah öffentlich, pu-
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blicum, publice, wie auch die Gerichtsstätte, mallus publicus, öffentlich hieß, weil sie dem Volke gehörte. Zu den altfreien Grundbesitzern zählte man auch den König, sofern er in der Grafschaft begütert war. Nur darin genoß dieser, wenn er wegen seiner Güter in Rechtshändel geriet, einen Vorzug vor den Grafschaftsleuten, daß ihm in diesem Falle als Partei das Inquisitionsrecht und als Könige die Inquisitionsgewalt zustand: Als seine ihm zur Treue verpflichteten Untertanen mußten die Dinggenossen, wenn sein Gutsverwalter es verlangte und sein Amtmann, der Graf, es anordnete, unter Eid über die Rechtsverhältnisse des Königsgutes aussagen, und der Spruch der nach Inquisitionsrecht aufgebotenen Zeugen war unanfechtbar (H. Brunner 1872 S. 38 f., 84 – 87, 106 – 126. G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 4 S. 425 – 428. H. Brunner / C. von Schwerin 1928 S. 687 – 691). Da Kaiser Karl im Jahre 802 allen Bewohnern seines Reiches einen Treueid auf seine Person hatte abnehmen und ihnen einschärfen lassen, daß zu den Treuepflichten auch der Schutz der Reichsgüter gehörte (unten: § 666), brauchte Graf Hunfred zu Rankweil die von ihm benannten Zeugen nicht noch einmal und speziell zu vereidigen, sondern sie nur an ihre bereits beschworenen Pflichten zu erinnern (A. Holenstein 1991 S. 127 – 138). Die pagenses waren Untertanen nicht des Grafen, sondern des Königs, und ihre Genossenschaft bildete einen Teil des Reichsuntertanenverbandes. Der von ihnen angenommene Graf war nicht ihr Herr, sondern lediglich Vertreter und Amtmann ihres Königs und gleich dem Könige ihr Dinggenosse (E. von Guttenberg 1927 S. 290), da er nach ihnen zustehendem Indigenatsrechte in der Grafschaft selbst begütert sein sollte. Nur dann, wenn eine Volksversammlung an öffentlicher Malstatt zusammentrat und der Graf ihr vorsaß und ihre Verhandlungen leitete, galt die Versammlung als Gericht. Der Graf erteilte den Rechtsuchenden das Wort, nahm Prozeßbürgschaften an, bestimmte im Inquisitionsverfahren die Zeugen und die Form des Beweises, erfragte vom Umstande oder von den Schöffen das Urteil, verkündete es und signierte mitsamt den Zeugen und Urteilern den Urteilsbrief. Nicht jedoch bei ihm, sondern bei Zeugen und Schöffen als Sprechern des Dingvolkes lag das maßgebliche Wissen über Lage und Grenzen aller Grundstücke, über deren Eigentümer und die Herkunft ihres Rechtes und über die im Lande geltenden Gesetze (unten: § 310). Gegenüber der Selbsttätigkeit des Gerichtsvolkes blieb die Person des Vorsitzenden noch für lange Zeit eine recht blasse Figur (K. Kroeschell 1968 S. 43. Dazu Wartm. UB 1, 38 n. 36). Erst im hohen Mittelalter, als die Menge der altfreien Grundbesitzer dahingeschwunden war und immer mehr Neufreie in das Dingvolk eintraten (oben: §§ 120, 133a, 153 – 156), wandelte sich das Verhältnis des Gerichtsherrn zum Dingvolke. Jener, der einst primus inter pares und königlicher Amtmann gewesen war, konnte sich nun als Herr gebärden, soweit sich nicht das Dingvolk außergerichtlich als freie Einung konstituierte und es unternahm, seine Königsunmittelbarkeit zu verteidigen (oben: §§ 217, 229 – 231, 243).
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§§ 280 – 285. Dinggenossenschaft und Grafschaft § 280. Aus der Bezeichnung der grafschaftlichen Dinggenossen als pagenses (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 378 A. 2) und pagenses eines comes (J. Prinz 1942 S. 330 f.) ist zu erschließen, daß der von ihnen gemeinsam, als Nachbarn, bewohnte und angebaute und von ihnen gemeinlich, als Dinggenossenschaft, beherrschte Bezirk in der Regel pagus oder, in den Volkssprachen, Gau hieß. Das Wort pagensis wurde in diesem Sinne bereits so sehr als Substantiv empfunden, daß man davon wiederum ein spezielles Adjektiv pagensalis ableiten konnte (unten: §§ 281, 285). Wie wir wissen (oben: § 212), machte der ahd. Sprachgebrauch zwischen Gaugenossen, Landsmannen, Landleuten (das Kompositum Landesvolk ist nicht belegt), zwischen Gelände, (Acker-)Land, Geburschaft, Gau, Land und Reich genauso wenig scharfe Unterschiede, wie es der mittellat. Sprachgebrauch zwischen pagensis, vicinus, provincialis, populus und terra, territorium, vicinia, pagus, regio, provincia tat. So wurden denn auch in den Quellen der Karolingerzeit zur Bezeichnung des Grafschaftsgebietes ebenso statt pagus fortwährend Ausdrücke wie Provinz, Territorium oder Mark verwendet, wie man lat. pagus auch für Landschaften und Bezirke gebrauchte, die größer oder kleiner als ein Grafschaftsgau sein und sogar Unterabteilungen in einem solchen bilden konnten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 380). Es mag dies darin begründet sein, daß die Gaue keine statischen geographischen Gegebenheiten waren, sondern bereits eine lange Geschichte hinter sich hatten, bevor sie in den Urkunden und Annalen der Karolingerzeit aufscheinen und damit zu unserer Kenntnis gelangen (U. Nonn 1983 S. 36 – 38). Die Masse der Belege für das Wort pagus findet sich in Urkunden, die mit einem Gaunamen die Lage von Orten und Besitztümern bestimmen und dabei auf klare geographische Angaben bedacht waren. Da konnte es vorkommen, daß verschiedene Petenten oder Notare einen und denselben Ort verschiedenen Landschaftsgauen zuordneten, wenn das Gelände diesen keine eindeutigen Grenzen setzte oder es gestattete, innerhalb ihrer Teilräume auszuscheiden. Die ersten Gaunamen mögen sich einem Volke aus den Siedlungsmöglichkeiten frühgeschichtlicher Zeiten ergeben haben, als es zum Anbau geeignete Böden oft inselhaft inmitten von Wald und Ödland gelegen antraf. Die Benennung von Gauen nach ganz unbedeutenden Bächen, die sich z. B. beim Radenzgau in Mainfranken oder in Niederlothringen beim Ahrgau oder Swiftgau findet, läßt vermuten, daß sich im Laufe der Zeit beim Ausbau des Landes der Name des Gaues weiträumig ausdehnte, der Gau also vom Urgau zum Großgau heranwuchs, der sich dann auch über unbesiedeltes Ödland erstreckte, bis er an Flüssen, Bächen, Wasserscheiden mit benachbarten Raumeinheiten ebenfalls expandierender Siedlerverbände zusammenstieß. In den ahd. Sprachdenkmälern begegnet uns das geuui als Neutrum in der Bedeutung von Gegend oder Umgebung, darunter zweimal auch als Glosse zu lat. pagus, ebenso im Mhd. gou, gewe, geu im Sinne von Gegend, Landschaft, Land als ein Begriff, der seinen Gegenstand den Vorstellungen von Stadt oder Ge-
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birge entgegensetzte, aber keinerlei politische Bedeutungselemente enthielt – dies im Gegensatz zu dem neuhochdeutschen, seit dem 17. Jahrhundert belegten maskulinen Kunstwort Gau (U. Nonn 1983 S. 38 f.). § 281. Die genannte Erscheinung mag aber auch verfassungsgeschichtliche Ursachen haben, denn die Sitte, die Gerichtsbezirke grafschaftlicher Dinggenossenschaften als pagi zu bezeichnen, ist sehr alt, besonders in Gallien (und Italien), wo bereits die Römer das Staatsgebiet in civitates und deren Landgebiete in pagi eingeteilt hatten und wo in fränkischer Zeit sowohl das Territorium einer civitas als auch dessen Unterabteilungen pagus genannt wurden. Aber nur in den romanischen Reichsteilen hatten die fränkischen Grafen gleich den Bischöfen in civitates residieren können. In Austrasien dagegen waren die grafschaftlichen Dingbezirke rein ländliche Gebiete (oben: §§ 220 – 223), und daher konnten sie auch insgesamt als pagi oder Gaue bezeichnet werden, also denselben Namen erhalten wie die Teilgaue innerhalb gallischer civitates. Dies lag um so näher, als die Grafschaften zweistufig aufgebaut waren (oben: § 153). „Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, daß es in jedem Comitat mehrere Gerichtsstätten gab, an denen der Graf wirkte,“ daß der Graf also seinen Amtsbezirk ebenso regelmäßig zu bereisen hatte, wie der König das Gesamtreich im Herumreisen regierte, indem er die Teilreiche möglichst regelmäßig besuchte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 52 f. U. Nonn 1983 S. 215. M. Borgolte 1984 S. 78 A. 3) oder durch Königsboten besuchen ließ. Je nach der Zahl dieser öffentlichen Malstätten setzte sich eine Grafschaft demnach aus drei, vier, fünf oder aus mehr Untergerichtsbezirken zusammen (G. Meyer von Knonau 1877 S. 109 – 113. H. Aubin 1920 S. 51 – 85), deren Dingvolk, geleitet von einem Zentenar oder Schultheißen (oben: § 275a), soweit möglich, seine örtlichen Geschäfte besorgte, in allgemeinen Angelegenheiten aber mit den anderen Dingvölkern zur Versammlung der pagenses unter Vorsitz des Grafen zusammenkam. Namentlich Kaiser Karl der Große wirkte darauf hin, die allgemeinen von den lokalen Aufgaben derart abzugrenzen, daß über Beschuldigungen und Klagen, die einen freien Mann das Leben, die leibliche Unversehrtheit, die Freiheit oder sein Eigentum an Land und hörigen Leuten kosten konnten, als causae maiores nur in Gegenwart des Grafen oder eines kaiserlichen Gewaltboten geurteilt werden durfte, während alle causae minores oder geringeren Sachen, nämlich Klagen, die auf unblutige Bestrafung des Beschuldigten oder auf Herausgabe von Fahrhabe und Geld zielten, vor dem Stellvertreter des Grafen im Niedergericht, dem Zentenar oder Schultheißen oder Vicarius, zu behandeln waren (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 378 – 382, Bd. 8 S. 62 f. H. Aubin 1920 S. 85. H. Hirsch 1922 S. 13 – 68, 190 – 193. H. Drüppel in LMA 4 Sp. 1323 f. F. Ebel in LMA 7 Sp. 1591 f.). Daß lat. pagus den gesamten Amtsbezirk des Grafen bezeichnete, seit sich das Haupt oder der Vorsteher des Dingverbandes königlicher Ermächtigung erfreute und den Grafentitel führte, das ergibt sich bereits aus einer Stelle der Lex salica (tit. 50 § 3), wo der Kläger angewiesen wird, sich ad grafionem loci illius, in cuius
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pago manet, zu wenden (U. Nonn 1983 S. 45). Wir haben es mit einem zweistufigen Aufbau sowohl der Königsherrschaft als auch der Grafschaft zu tun, der die Zentralgewalt dem Könige nebst zum königlichen Palaste hinzutretender Reichsversammlung, die lokale Verwaltung der einzelnen Gaue oder Distrikte dem Grafen und zum Teil der Versammlung aller Gaugenossen, pagenses, und zum Teil deren Teilverbänden überließ. Diesen bereits von den Herrschern aus merowingischem Hause geschaffenen Staatsaufbau hat König Karl der Große nur noch allgemeiner und namentlich in den östlichen Teilen des Reichsgebietes überall durchgeführt, wo die Franken nicht auf eine ältere römische Bezirkseinteilung zurückgreifen konnten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 376). Daher hatten gallofränkische Notare die Rechtsgeschäfte, die sie zu beurkunden pflegten, in negocia hominum tam in palatio quam in pago, und die darüber auszufertigenden Urkunden in cartas regales sive pagensalis einteilen können (H. Bresslau 1912 – 31 Bd. 1 S. 3, Bd. 2 S. 230, 237), je nachdem, ob die Sachen am königlichen Hofe oder in der Grafschaft zu verhandeln waren. Als König Karl im Jahre 772 einen Priester Arnold in seinen Schutz nahm, befahl er daher allen seinen Getreuen, falls jemand Klage wider den Beschützten erhebe, sollten alle Sachen, die sie nicht in der Grafschaft mit Urteil beenden könnten: quas in pago diffinire non potueritis, der Entscheidung durch den König vorbehalten bleiben (Wartm. UB 1, 64 n. 65 = MGH. DKar. 1, 100 n. 60). § 282. Mit der Zusammenfassung mehrerer partikularer Dinggemeinden zu einer Grafschaft mag es zusammenhängen, daß, was sich uns als Name eines Urgaus in den Regna des Großreiches darstellt, in den Quellen der Karolingerzeit auf den Bezirk einer ganzen Grafschaft angewandt wurde. Die Ausdehnung des Namens auf einen weiträumigen Dingbezirk oder Gerichtsgau, der anders als bloße Siedlungsräume scharfer, am besten durch Wasserscheiden und Flußläufe bestimmter Grenzlinien bedurfte, ist jedenfalls am einfachsten mit der Einführung der Grafschaftsverfassung durch die karolingischen Herrscher des 8. Jahrhunderts zu erklären (U. Nonn 1983 S. 36). Manche Zweideutigkeit in der späteren Zuordnung mancher Dörfer oder Besitztümer zu bestimmten Gauen dürfte sich daraus erklären, daß aus dem Bestande an Landschaftsnamen, die das Volk im Verlaufe der Besiedlung und Binnenkolonisation geprägt hatte, anläßlich der politischen und administrativen Raumeinteilung des Karolingerreiches etliche nun zur Bezeichnung von Grafschaftsgemeinden ausgewählt oder auf partikulare Dingverbände übertragen wurden. In Lothringen jedenfalls sind die kleinsträumigen Gaue, die, wie der Swiftgau, nach Zwerggewässern benannt waren, in der Regel nicht zu Grafschaftsbezirken erweitert worden. Sie können hilfsweise als Untergaue klassifiziert werden. „Vielleicht waren sie politische Unterbezirke des Comitats (centenae, Hundertschaften): eine noch offene Frage an die landesgeschichtliche Forschung“ (ebd. S. 254. H. Aubin 1920 S. 30 f.). Wieder andere Gaunamen lebten nur als Landschaftsnamen ohne jede politische Bedeutung fort. Vielfach läßt sich aber auch beobachten, daß ältere, auf größere
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Räume bezügliche Landes- oder Volksnamen auf einen Teil ihres Geltungsbereiches eingeengt wurden, wenn der Umfang dieser Länder die Aufteilung in mehrere Grafschaftsvölker empfahl. So lebten in Lothringen die Namen Hamaland, gleich Land des bereits im 3. Jahrhundert als politischer Verband erloschenen Volkes der Chamaven, und Hattuarien, im ostrheinischen Franken der alte Volksname der Hessen, in Sachsen die Namen der Heerschaften Westfalen, Engern und Ostfalen (oben: § 77) als Grafschaftsnamen nur noch für einen Teil des einst darunter verstandenen Gebietes fort, und der Vertrag von Meersen (MGH. Capit. 2, 193 n. 251) aus dem Jahre 870 nennt uns Ribuarien, Elsaß, Brabant, Hasbanien als Regionen, die aus zwei, vier, fünf nicht einzeln genannten Grafschaften bestanden. Es sind Namen älterer politischer Einheiten, die jetzt nur noch als Landschaftsnamen Geltung besaßen und hilfsweise als Großgaue bezeichnet werden mögen, da Brabant, Hasbanien und Ribuarien anderweitig urkundlich als pagi, zudem Ribuarien in erzählenden Quellen als terra, ducatus und regio bezeugt sind (Lothringen: U. Nonn 1983 S. 58, 68 f., 74 – 78, 110 f., 132 f., 164 – 188. Sachsen: J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 346 f., 371, 444). Es wäre demnach auf diejenigen Gaue, die sich als durch Vorgänge der Besiedlung geschaffene oder als ältere politische, aber von den fränkischen Königen ihrer Funktion beraubte Gebilde zu erkennen geben und deren Namen daher weiter nichts als geographische Bezeichnungen, als Landschaftsnamen waren, hilfsweise die Unterscheidung der Grafschaftsgaue einerseits von Großgauen oder Ländern, andererseits von Klein- oder Untergauen anzuwenden und anzunehmen, daß sich die von den Karolingern eingerichteten Grafschaftsgemeinden, die bestehende Dingverbände nach Möglichkeit schonen und fortsetzen mußten, im Sinne dieser Unterscheidung an die alte Landschaftsgliederung anschlossen. Denn der König wird lediglich darauf gedrängt haben, daß die Dinggenossenschaften, da sie ja staatliche Verwaltungsaufgaben erfüllen sollten, jeweils einigermaßen gleich große Bezirke unter ihre Aufsicht nahmen und daß daher größere Landes- oder Gaugemeinden der Aufteilung in mehrere Grafschaften, Kleingaue dagegen der Angliederung an benachbarte Grafschaften zustimmten, innerhalb deren sie als Untergaue oder Untergerichtsbezirke erhalten blieben (U. Nonn 1983 S. 201 – 210). Der von den Königen geförderte Landesausbau und der Aufbau der Grafschaftsverfassung bildeten den pagus vom natürlichen Siedlungsraum zum staatlichen Verwaltungsbezirk fort, ohne jedoch die Verwendung von Gaunamen als bloßen Landschaftsbezeichnungen außer Kurs zu setzen. Nur dann also, wenn man lediglich die Grafschaftsbezirke, nicht aber deren Unterbezirke und nicht auch die Länder oder Großgaue als Gaue auffaßt, kann man sagen, eine gleichmäßige Gauverfassung sei durch das ganze Reich hindurchgegangen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 381 f. H. Aubin 1920 S. 30 f.). § 283. In derselben Weise wird der König verfahren sein, als er im Jahre 782 die Grafschaftsverfassung in Sachsen einführte. Es ist schwer vorstellbar, daß er dabei anders als in der eben beschriebenen Weise in die vorgefundene altsächsische Gau-
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verfassung (oben: §§ 76, 77) eingreifen konnte. Wir haben es hier mit einem der schwierigsten Probleme der deutschen Verfassungsgeschichte zu tun; es besteht darin, daß nach den Königsurkunden des 10. bis 12. Jahrhunderts wie überall im Reiche, so auch in Sachsen die Grafschaftsverfassung durchgeführt war, während uns die sächsischen Quellen seit dem 13. Jahrhundert vielfach nebeneinander zwei Formen des grafschaftlichen Dingverbandes nennen, nämlich Freigrafschaft und Gografschaft, ohne daß, wegen annähernd gleicher Kompetenzen, die eine als Unterbezirk der anderen zu erklären wäre. Folglich ist es die Frage, ob beide aus der alten, von Karl dem Großen eingeführten Grafschaft entsprungen oder ob für eine von ihnen eine andere Wurzel anzunehmen ist (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 323 – 336). Nun sind neuerdings abermals (unten: § 458) beachtliche Argumente zugunsten der These zusammengetragen worden, daß die Godinge und Gogerichte des Spätmittelalters aus der vorkarolingischen altsächsischen Gerichtsbarkeit hervorgegangen seien (K. Bemmann 1992). Sie betreffen im einzelnen (W. Laur 1994) die Vermutung, (1) daß die in den frühmittelalterlichen Quellen als lat. pagi erwähnten Rechts- und Aufgebotsbezirke bereits im As. mit dem Worte gâ oder gô bezeichnet wurden, (2) daß der Gauvorsteher, dessen Amtsbezeichnung Beda mit lat. satrapa wiedergab, im As. bodo = Bote, bevollmächtigter Sendebote, hieß, (3) daß im 9. oder 10. Jahrhundert die Gerichtsverbände mehrerer Boten (in den nordalbingischen Gauen waren es jeweils vier, die zugleich Kirchspiele bildeten) in einem größeren Gauverbande zusammengefaßt wurden, den nun überall ein vom Könige ermächtigter Graf zu leiten hatte (ausgenommen in Nordalbingien: hier verblieb man bis ins 13. Jahrhundert bei der Ermächtigung des Vorstehers durch das Gauvolk, das seinem Haupte den Titel Overbode beilegte), (4) daß die Boten, welche die alten, jetzt in Untergaue und Großkirchspiele verwandelten Goe leiteten, die Amtsbezeichnung gôgrêve erhielten, aber weiterhin von ihrem Dingvolke erkoren und ermächtigt wurden, so daß uns hier das Grundwort grêve in einer anderen und älteren Bedeutung erhalten geblieben wäre als derjenigen eines Königsboten oder Vertreters des Königs, die es seit Jahrhunderten im Fränkischen Reiche angenommen hatte, (5) daß sich die Goe, die uns seit dem späten Mittelalter als Sprengel der Godinge begegnen, aus kleineren Einheiten entwickelten, als sie die altsächsischen Gaue dargestellt hatten, daß aber manche gogerichtliche Malstätte und mit ihr dann wohl auch das Gericht selbst auf ein altes Gauding zurückgehen mag, das später als Gogericht nur noch für eine Untereinheit des Gaues zuständig war. Diese Annahmen hätten den Vorteil, die sächsischen Grafschaften mancher Absonderlichkeiten zu entkleiden und ihnen dieselbe Entwicklung zuzuschreiben, welche die Grafschaften in den anderen Regna des Ostfränkisch-deutschen Reiches nahmen. Die späteren Freigerichte wären demnach von den Grafengerichten des 9. Jahrhunderts herzuleiten, die sich gegen die Aufnahme neufreier Landleute sperrten, sich daher zu Standesgerichten (großbäuerlich oder ritterlich lebender) Altfreier fortbildeten (oben: § 161) und in ihren Grenzen früh erstarrten, weil die Zahl der adligen Geschlechter überall stagnierte oder abnahm. Als Adelsgerichte über-
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lebten sie besonders in Westfalen. Im übrigen Sachsen hatten die Bemühungen der zu Landesherren aufgestiegenen Gerichtsherren mehr Erfolg, dem Adel ihr persönliches Gericht als Freigericht zu empfehlen, so daß sie aufhören konnten, die alten Malstätten zu bereisen, und die dort gehaltenen Dinge erloschen, weil niemand mehr bei ihnen sein Recht suchte. Die Unter- und Niedergerichte der Grafschaften nahmen eine andere Entwicklung, weil sich ihr Dingvolk durch den Zuwachs an neufreien Genossen (oben: § 82) bis ins 14. Jahrhundert ständig vermehrte, was manche Teilung alter Gobezirke und Gründung neuer Dingstätten zur Folge gehabt haben wird. Zudem bewährten sie sich als die eigentlichen Gaudinge, weil sie, wie überall im Reiche (H. Hirsch 1922 S. 212 – 217. E. von Guttenberg 1927 S. 371 – 374), die an sich gräfliche Hoch- und Blutgerichtsbarkeit erlangten, während die Inhaber der gräflichen Gewalt zu Landesherren aufstiegen. Über all diese Wandlungen hinweg aber bewahrten sich die Dinggenossenschaften bis zum Ende des Mittelalters das altsächsische Recht, ihre Gografen selbst zu kiesen und zu erheben (G. Landwehr 1964 S. 165 – 168). Im Hochstift Bremen, wo dem Erzbischof die Einsetzung oder Belehnung aller oberen Richter oder Greven und aller niederen Richter, Gogreven und Vögte zustand, beklagte Erzbischof Johann Rode (1497 – 1511), daß sich im Volke das Bewußtsein der Lehnbarkeit völlig verloren habe: Seine Vasallen übten die Blutgerichtsbarkeit aus und verkauften ihre richterlichen Rechte, ohne irgendeinen Fürsten um die Ermächtigung zu ersuchen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 411. E. von Lehe 1926 S. 28 mit A. 3, S. 30, 33, 112 f.): Offenbar hatten sie an der Vollmacht genug, die ihnen die Dinggmeinden erteilten, indem sie sie nach vollzogener Kur und geleistetem Amtseide (E. von Lehe 1926 S. 33, 121 f., 126) zu Richtern und Gogreven annahmen! § 284. Die Abhängigkeit der Grafen von dem Willen der Grafschaftsgemeinden muß sich sowohl dem Bestreben Karls des Großen, seines Sohnes Ludwig und seines Enkels Lothar, ihr Königtum zum Großkönig- oder Kaisertum zu erhöhen, um die Zentralregierung zu stärken, als auch dem Willen der Grafen, die Fesseln der Volksbeamtenschaft abzustreifen und sich zu Herren über das Dingvolk ihrer Grafschaft zu erheben, auf ärgerliche Weise in den Weg gestellt haben. Im übrigen stimmten jedoch die Interessen der Herrscher und der Grafen keineswegs vollständig überein. Denn gewiß war Karl dem Großen daran gelegen, die Grafen zu Werkzeugen seines Willens zu machen, nicht aber daran, die altfreien Hausherren und ihre Dinggemeinden durch sie oder andere Schutzherren (oben: § 133b) mediatisiert zu sehen. Ebendies aber mußte die Absicht der Grafen sein: nämlich das Recht der Dinggenossen, sie anzunehmen oder abzuweisen, und damit den mit dem Volke einzugehenden Herrschaftsvertrag politisch und rechtlich zu entwerten und ihre Ermächtigung durch den König zur einzigen Quelle ihrer Befehlsgewalt zu steigern. Wir hören daher bereits seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts von Versuchen der Grafen, die freien und auf den König vereidigten Untertanen durch übermäßige
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Belastung mit Königsdiensten materiell derart zu schwächen, daß sie ein persönliches und dingliches Schutzverhältnis zu ihnen eingehen mußten. Da sie als Worthalter ihrer Dinggenossenschaften den königlichen Hof besuchten und dort, mit anderen Großen zur Reichsversammlung vereinigt, den Herrscher verbindlich berieten, bot sich ihnen die Chance, dieses ihr Interesse in den Maßnahmen der Reichsregierung durchzusetzen. Wie weit ihnen dies gelungen ist, steht dahin, da Kaiser Karl bestrebt war, mit Hilfe der Königsboten, die er regelmäßig die Grafschaften bereisen und Klagen der Untertanen wider die Grafen verfolgen ließ, diesen Machenschaften zu steuern. Nach herrschender Lehre wären die gräflichen Häuser trotzdem erfolgreich gewesen, da ja Karls Sohn und Enkel das Institut der Königsboten verkommen ließen; so hätten sie die ihnen übertragene Amtsgewalt zur Eigenhoheit und Familienherrschaft fortbilden können (oben: § 138) – wenn nicht gar schon immer die fränkische Grafengewalt bloß den Sonderfall einer allgemeinen Adelsherrschaft dargestellt habe, für die zwar keinerlei Rechtsgrundlagen zu erkennen sind, die aber trotzdem die gesamte Verfassung des hochmittelalterlichen Staates getragen haben soll (unten: §§ 341 – 344, 553). Wären indessen die genannten Ausschreitungen mancher karolingischen Grafen gegenüber königsdienstpflichtigen Freien Äußerungen einer solchen Adelsherrschaft gewesen, so würden sie diese sofort als rechtswidrige Gewaltherrschaft und bloße Usurpation hoheitlicher Befugnisse kennzeichnen. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum sich freie Grafschaftsgemeinden eine solche Unterjochung hätten gefallen lassen sollen. Die These vom Übergang der Grafenhäuser zur Eigenhoheit kann sich auch nicht auf den Gebrauch berufen, den die Königskanzlei von den Worten pagus und comitatus machte. Ein und derselbe Bezirk nämlich konnte, wenn man ihn sich von der Genossenschaft der pagenses beherrscht dachte, als pagus, wenn man ihn aber als Amtssprengel des comes oder Grafen ansah, den die Gauleute und der König eingesetzt hatten, als comitatus oder Grafschaft bezeichnet werden. Ahd. grasceffi erscheint bereits in der wohl um die Mitte des 10. Jahrhunderts in Trier angefertigten Übersetzung eines karolingischen Capitulare (unten: § 345) als Äquivalent zu lat. comitatus (MGH. Capit. 1, 378 n. 182: S. 380 Z. 9 – 10, 17 – 18; ebd. S. 381 Z. 10 – 11 per comitem = turuch then grauun). So verwandte man denn zur Bezeichnung des Gerichtsbezirks abwechselnd und ohne besonderen Unterschied sowohl den einen wie den anderen Ausdruck, und daher müssen in der Sicht der Reichskanzlei Grafschaft und Gau im allgemeinen zusammengefallen sein. Die Grafschaft aber konnten Petenten und Notare entweder nach dem Gau, dem sie entsprach, oder nach der Person des Grafen, der ihr vorstand, benennen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 378 f. H. Aubin 1920 S. 30). Wenn aber Kapitularien und karolingische Königsurkunden in gleicher Bedeutung wie comitatus auch das Wort ministerium verwenden, so kann dies allein der Sicht des Königs auf die Institution entsprochen haben, denn als ahd. Äquivalente dazu erhalten wir die Begriffe ambahti und thionôst (H. Götz, Wb. 1999 S. 405), die den Grafen als Dienstmann eines Herrn, nicht aber als Worthalter seiner Standesgenossen kennzeichnen.
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§ 285. Das lat. Wort comitatus, das in alter Zeit soviel wie Gefolge oder Begleitung bedeutet hatte, begegnet uns in dem neuen, mittelalterlichen Sinne als Grafenamt, Grafenwürde, Grafschaft, zuerst in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in einer erzählenden Quelle. Seit etwa 780 begann sich dann auch der karolingische Königshof seiner zu bedienen (Mlat. Wb. 2 Sp. 926 f. U. Nonn 1983 S. 39), und nun können wir verfolgen, wie es im Sprachgebrauch der Reichskanzlei in etwa einem halben Jahrhundert den Ausdruck pagus mehr und mehr verdrängte (U. Nonn 1983 S. 45 – 47). In den Kapitularien begegnet uns der comitatus zum ersten Male zum Jahre 786, und zwar in einer Instruktion für die Königsboten, die im ganzen Reiche den Untertaneneid auf den König einfordern sollten (MGH. Capit. 1, 66 n. 25. Unten: § 657). Zu vereidigen war die Gesamtheit des Reichsvolkes, cunctas generalitas populi, bestehend aus Geistlichen und Laien aller Stände im Alter von zwölf bis siebzig Jahren, soweit sie die Gerichtstage, placita, ihrer Dingverbände besuchten und zum Dienste tauglich waren, und zwar sowohl selbständige Dingleute als auch Ergebungsleute von Bischöfen, Äbten, Grafen oder wem immer, sive pagenses sive episcoporum et abbatissuarum vel comitum homines et reliquorum homines (oben: §§ 134, 135), sowie schließlich alle Unfreien in gehobenen Positionen (oben: § 153). Die Königsboten hatten die Namen der Vereidigten, die Grafen diejenigen aller Abwesenden zu verzeichnen, und zwar namentlich derer, die, wiewohl von Geburt aus einem Dingverbande zugehörig, qui infra pago nati sunt et pagensales fuerint, in eine andere Grafschaft, de comitatu ad aliud comitatu, entflohen, um sich dem Eide zu entziehen; wer sich aber in einer anderen Geburschaft niederlassen, in illo vicinio habitare, wollte, der sollte dort auch den Eid ablegen. Die Königsboten aber sollten diesen Auftrag keineswegs in Abwesenheit des Grafen eines jeden Gaues, sine comite de ipso pago, erfüllen. Man sieht nicht nur, daß der Notar, der Karls Gebot aus der Volkssprache ins Lat. übersetzte, pagus und comitatus synonym verwandte, sondern auch, daß er darunter den räumlichen Bezirk oder Sprengel verstand, auf den sich der nachbarschaftliche Verband der Gauleute und die Amtsgewalt des Grafen bezogen. Dem Kapitular zufolge gehörte jeder königliche Untertan bis hinauf zum Bischof, Abte, Grafen und Königsvassen einem Grafschaftsverbande an, muß also das Reich lückenlos in Grafschaftsgaue eingeteilt gewesen sein. Bis zum Jahre 831 läßt sich der Gebrauch des Wortes pagus in den Kapitularien weiter verfolgen. Danach verschwindet es daraus bis auf einen vereinzelten Beleg aus dem Jahre 895, als die in Tribur zum Konzil versammelten Bischöfe noch einmal von dem Umsiedler als de uno pago et episcopatu in alium pagum et episcopatum adveniens sprachen (MGH. Capit. 2, 196 n. 252 c. 42a). Besonders eindringlich tritt der Ersatz der dinggenossenschaftlichen Vorstellung, die mit lat. pagus verbunden war, durch die königsamtliche in den offiziellen Reichsteilungsdokumenten bzw. Teilungsplänen hervor: Während darin bis 831 entweder allein von pagi die Rede ist oder aber pagus und comitatus synonym gebraucht werden, ist
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seit 837 von den pagi nichts mehr zu vernehmen, die lokalen Verwaltungsbezirke des Reiches hießen jetzt nur noch comitatus (U. Nonn 1983 S. 47 – 50). Dem Wechsel der Perspektive, unter der die Herrscher und die Reichsregierung die territoriale Gliederung des Reiches erfaßten, schloß sich alsbald die Reichskanzlei an. Hatte sie sich zunächst, wenn in Königsurkunden liegende Güter zu lokalisieren waren, lediglich der Angabe des pagus (locus x in pago y, oben: § 280), daneben dann seit Anfang des 9. Jahrhunderts auch des comitatus bedient (locus x in comitatu N., J. Prinz 1942 S. 340 f.), so fand unter Kaiser Lothar I. die Doppelformel locus x in pago y in comitatu N. Eingang in die Diplome (ebd. S. 350. U. Nonn 1983 S. 207). Ohne die ältere Formel zu verdrängen, blieb sie länger als zwei Jahrhunderte und solange in Gebrauch, wie die Könige überhaupt imstande waren, über Reichsgut im Wege der Schenkung oder Vergabung zu verfügen. Es ist nun die Frage zu stellen, ob die Dingverbände diesen Wandel der königlichen Perspektive zur Kenntnis nahmen und ob sich infolgedessen die Rechtsauffassung des Volkes vom Grafenamte den Ansichten des Hoch- oder Reichsadels über die gräfliche Herrschaft angepaßt hat. Es dürfte gute Gründe geben, um diese Frage zu verneinen oder sie jedenfalls nicht ohne weiteres zu bejahen (oben: §§ 50, 145 – 146, 211, 215 – 216, 245, 272).
§§ 286 – 292. Grafschafts- und Wildbannbezirke § 286. Seit seinem ersten Auftreten in dem Kapitular des Jahres 786 ist der Gebrauch des Wortes comitatus in bestimmtem räumlichem Sinne, nämlich als fest umgrenzte territoriale Verwaltungseinheit, in den Kapitelgesetzen bis zum Ende des 9. Jahrhunderts mit zahlreichen Stellen zu belegen. Die Belege beziehen sich in breiter geographischer Streuung auf alle Teile des Fränkischen Reiches und erweisen damit die Existenz einer Grafschaftsverfassung als charakteristischen Elements der fränkischen Staatsordnung, die im oder seit dem 8. Jahrhundert das ganze Reich erfaßte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 376 – 408. H. K. Schulze 1973 S. 345 – 348. U. Nonn 1983 S. 43, 50). Die Zahl der Grafschaften ist mit etwa fünfhundert anzunehmen (oben: § 206). Was Alamannien betrifft, so deutet vieles darauf hin, daß Kaiser Ludwig der Fromme bald nach 817 eine Neuordnung der gräflichen Verwaltung veranlaßt hat, in deren Verlauf dieser Reichsteil „lückenlos in Comitate eingeteilt“ und „flächendeckende, klar abgegrenzte Grafschaften“ eingerichtet wurden, deren Bestand „bis zum Ende der Karolingerzeit ohne wesentliche Änderung“ nachweisbar ist (M. Borgolte 1984 S. 160, 252, 254). Nicht jene Länder oder Gaue, die weiter nichts als Landschafts- und Siedlungsräume darstellten, wohl aber diese Grafschaften und solche Gaue, die sich mit dem Herrschaftsbereich grafschaftlicher Dinggenossenschaften deckten, bedurften einer klaren Abgrenzung gegenüber benachbarten Gerichtssprengeln, da man von jedem
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Grundstück und jedem freien Hausherrn genau wissen mußte, welcher Gerichtsverband sie beschützte und vor welchem Gericht ein freier Mann wegen dinglicher oder persönlicher Klagen zu Recht zu stehen hatte. Ein genauer Grenzverlauf kann daher nicht für die Gaue, sondern nur für die Grafschaften (bzw. für solche Gaue, die mit Grafschaften identisch waren und daher in den Urkunden abwechselnd sowohl pagus wie comitatus heißen) ermittelt werden, wenn auch in Ermangelung zeitgenössischer Quellen meistens nur durch Rückschluß aus den Landesbeschreibungen des 15. und 16. Jahrhunderts, als die Fürsten die Grenzen der aus den Grafschaften hervorgegangenen Hochgerichtssprengel mit Zuziehung der ältesten Leute der Gerichtsdörfer begehen, versteinen und beschreiben ließen. Denn diese Grenzen waren gewöhnlich, ebenso wie der Ort der namengebenden Gerichtsstätte, sehr dauerhaft, da das Gewohnheitsrecht der Gerichtsinsassen zähe an den alten Verhältnissen festhielt und Veränderungen derselben zuerst königlicher und später landesherrlicher Genehmigung bedurften (MGH. DF. I. 546 S. 6 Z. 8 – 10. Const 2, 211 n. 171 c. 8. E. von Lehe 1926 S. 7 – 9, 104 – 111. E. von Guttenberg 1927 S. 368 – 374). Da die Lage der Grafschaften des 9. Jahrhunderts aus den urkundlichen Zuschreibungen der Gauorte zu ihnen im allgemeinen bekannt ist, läßt sich aus den Außengrenzen der an ihrer Peripherie gelegenen späteren Hochgerichtsbezirke der Verlauf der Grafschaftsgrenzen mit hoher Sicherheit erschließen. § 287a. Wie die Siedlungsgaue, so wurden die Grafschaften vielfach nicht linear, sondern durch Grenzsäume voneinander geschieden, deren Böden nicht urbar gemacht waren, sondern lediglich extensiver Allmendnutzung durch die anliegenden Gebur- oder Nachbarschaften und deren jagdberechtigte cives (oben: §§ 219, 225) unterlagen. Diese Grenzräume konnten namentlich im Gebiet der Mittelgebirge erheblichen Umfang erreichen. Gleichwohl waren es keineswegs grafschaftsfreie Zonen: auch in ihnen konnten nur die Bewohner der Grafschaften die Nutzung und andere Rechtsverhältnisse regulieren und das Vereinbarte im Gedächtnis bewahren, und dazu gehörte auch, wenn es darüber Streit gab, die Aufteilung des Gebietes entlang gemeinsam festzusetzenden linearen Grenzen. Eine im Kloster St. Gallen aufbewahrte Formel berichtet von solchen Separationen, die immer wieder notwendig wurden, weil der Großhaushalt des Klosters die Allmenden ungleich stärker zu belasten pflegte als die Haushalte der gewöhnlichen Freien (MGH. FF. S. 383 n. 9). Diese Formel sah vor, daß eine Versammlung vornehmer und gewöhnlicher Gauleute, conventus procerum vel mediocrium, über den Streit zwischen der Kirche und den übrigen Gauleuten der anliegenden Orte, reliquos eorundem locorum pagenses, entscheiden sollte. Es ging um die Frage, ob in einem bestimmten Walde die anderen Herrenbürger, caeteri cives, aus eigener Vollmacht oder nur gemäß widerruflicher Erlaubnis des Klosters zur Nutzung berechtigt wären (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 372 – 378). Dieser Wald muß zugleich ein Grenzwald inmitten verschiedener Grafschaften gewesen sein, denn die Teilung sollten unter Aufsicht
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von Königsboten je zehn, sieben und sechs Sprecher der Nachbarschaften dreier verschiedener Grafschaften vornehmen: decem primores de comitatu N. et alii septem de comitatu N. sexque alii de comitatu N., qui viciniores esse videbantur, diviserunt eundem saltum, und zwar so, daß ein Klosterforst ausgeschieden, der übrige Forst aber unter Aufsicht des Klosters in gemeinsamer Nutzung verbleiben sollte. Mißachteten die pagenses die Gebote des Klosterförsters, so sollte der Abt den Grafen und die übrigen Vornehmen, die Zeugen der Separation gewesen, auffordern, sie zur Vertragstreue zu zwingen. Wollten sie aber diesen Zeugen nicht beistimmen, so waren sie vor dem Kaiser zu beklagen. Denn die Schiedsleute hatten die Grenze nicht nur vor den Königsboten, sondern auch vor dem zuständigen Gaugrafen, coram comite pagi illius, gezogen. § 287b. Wie sich aus einer im Jahre 890 im Kloster St. Gallen angefertigten Notitia (Wartm. UB 2, 281 n. 680) ergibt, konnten, wenn in dem betroffenen Waldgebiet die Grafschaftsgrenzen noch nicht linear bestimmt und versteint waren, derartige Separationen mit ihrer Definition Hand in Hand gehen. Wegen etlicher Bauernhöfe im Rheingau, die dem Kloster zur Zeit Kaiser Ludwigs mit Wissen des Volkes geschenkt worden und zur Nutzung legitimiert waren, in pago Ringouve de justis et publicis traditionibus atque legittimis curtilibus, war das Kloster so gut wie jeder freie Mann und Grundbesitzer, liber homo de sua proprietate, sowohl am urbaren Lande als auch an der Waldung berechtigt, ausgenommen an den Wäldern, die unter Königsbann stünden, quae in regio banno sunt. Da jetzt aber der Königshof zu Lustenau alle diese Nutzungen im Rheingau für sich beanspruchte, hatte Abt-Bischof Salomon alle Fürsten der drei anliegenden Grafschaften, omnes principes de tribus comitatibus, im Thurgau, im Linzgau und in Churrätien mit allem übrigen Volke (oben: § 275b) an der Einmündung des Rheins in den Bodensee versammeln lassen, um die Rechte des Königshofes und des Klosters zu erfragen. Die Zeugen, es waren neunundzwanzig Personen vom Thurgau, sieben von Rätien und sechzehn vom Linzgau, erklärten unter Eid, gesehen zu haben und zu wissen, daß den Klosterhöfen im Rheingau die Nutzung in einem Bezirk, dessen Grenzen sie beschrieben, mit allen Herrenbürgern des Gaues, cum illis civibus, gemeinsam zustünden. Bei demselben Eide schieden sie die Grenze der Grafschaft zwischen Thurgau und Rheingau, eodem quippe juramento et comitatus diviserunt terminum inter Turgouve et Ringouve, die unter anderem vom Mon(d)stein an bis zum Bodensee in der Mitte des Rheins verlief. Offenbar war sie nicht hier im offenen Lande der Rheintalaue, sondern draußen in jenen Bergwäldern noch unvermarkt gewesen, auf die sich auch die streitigen Weide- und Holzrechte des Königshofs und des Klosters bezogen. Die Urkunde wirft mancherlei Probleme auf, unter anderem deswegen, weil sie dem Bischof von Konstanz keinerlei königlichen Auftrag beilegt, um den geschilderten Konvent einzuberufen und ihm vorzusitzen. Derartige Versammlungen mehrerer Bischöfe oder Grafen, die Streitigkeiten schlichteten gleichsam, als ob sie Gerichte gewesen wären, „nahmen, vorzüglich in der späteren karolingischen Zeit, wohl den Charakter von förmlichen Provinzialversammlungen an, oder ent-
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fernten sich von allen hergebrachten Ordnungen“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 412 f., Bd. 3 S. 378 A. 2. H. K. Schulze 1973 S. 85 f.). Problematisch ist aber auch, daß die Notitia uns den Rheingau zwar als Verband von Freien, deren Höfe am urbaren und wüsten Lande und deren cives zur Jagd berechtigt waren, beschreibt, aber keine Großen des Rheingaus an der Zeugenaussage teilnehmen läßt. Wir müssen annehmen, daß sie diese zu den Fürsten des Linzgaus rechnet, weil der Rheingau zu der Zeit keinen eigenen Grafen hatte, sondern von dem anwesenden Grafen des Linzgaues namens Ulrich mitverwaltet wurde, dem Kaiser Arnulf auch den Königshof Lustenau übertragen hatte (M. Borgolte 1984 S. 195). § 288. Jene Bergwälder, in denen die Grafschaftsgrenze noch nicht fixiert und von denen ein Teil zugunsten des Königs eingeforstet war, übergriffen die Wasserscheide zwischen Rhein und Thur in einer Tiefe von 12 bis 15 km. Nur aus dem Mondstein am Rheine hatte bereits ein merowingischer König ein Grenzzeichen in Form eines Mondes aushauen lassen, um die Grenze zwischen dem Regnum Burgund und dem Herzogtum Churrätien zu markieren (MGH. DF. I. 128 vom Jahre 1155, S. 214 Z. 17 – 18). Wenn man jetzt aber weitere Irrungen zwischen den Nutzern von beiden Seiten her befürchtete, die erfahrungsgemäß nicht ohne Tätlichkeiten, blutende Wunden und Totschläge ausgetragen zu werden pflegten, so war es gewiß zweckmäßig, im voraus festzulegen, welches Gericht für den Tatort und damit für die Bestrafung der Gewalttäter zuständig sein sollte. Zu ihnen zählten auch die Wilderer, die sich dort die Jagd anmaßten. Es war bereits davon die Rede, daß das Jagdrecht von den Herrenbürgern, großen Grundbesitzern oder Optimaten der an das meistens bewaldete Jagdgebiet anrainenden Lande oder Grafschaftsverbände sowohl ausgeübt als auch vergeben wurde (oben: § 225), und daher ist anzunehmen, daß nicht nur Streitigkeiten um die Zulassung zum Jagdrecht, sondern auch Strafklagen wegen unerlaubter Jagd auf wilde Tiere vor den Grafengerichten ausgetragen und namentlich Wilddiebstähle mit der den Grafen als höchstes Strafmaß zustehenden Bannbuße von 12 oder 15 Schillingen geahndet wurden. Aus dieser Gerichtsbarkeit dürften sich nun früh bestimmte Probleme ergeben haben, die es erforderlich machten, den König mit ihr zu befassen. Denn wenn das Jagdgebiet auf der Grenze zwischen zwei Grafschaften, wie in unserem Falle zwischen denen im Rheingau und im Thurgau, gelegen war und die Jagdgenossenschaft daher Angehörige zweier oder dreier Dingverbände vereinigte, so mochte es im Einzelfall durchaus zweifelhaft sein, welches der beteiligten Grafengerichte zuständig war. Zudem war das Waidwerk seit jeher eine standesgemäße Beschäftigung für die feinen Leute, für die cives und principes eines Landes, die sich den Dinggenossenschaften jederzeit zur Verfügung stellten, um namens ihrer Gerichts- und Verwaltungsdienste zu übernehmen, dagegen aber mit Billigung des Volkes das Jagdrecht als Lohn oder Entschädigung für sich beanspruchten. Nicht selten treffen wir daher in den Zeugenlisten der Wildbanndiplome die Grafen selber als Jagdberechtigte und Mitglieder von Jagdgenossenschaften an. Sie und ihre Jagdgefährten gehörten
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also dem Stande jener potentes an, gegen die die urteilsweisenden Dinggenossenschaften ihren Willen nur mühsam oder gar nicht durchsetzen konnten und die daher schon zur Zeit Karls des Großen ihren Gerichtsstand vor dem Könige erhielten (oben: § 140). Zum ersten Male erfahren wir von der Befugnis des Königs, das Jagdrecht zu vergeben, aus einer Notitia des Klosters St. Emmeram zu Regensburg aus dem Jahre 829 (C. Dasler 2001 S. 155, 264). Dessen Abt Lantpert hatte König Ludwig von Ostfranken darum ersucht, seinem Kloster Mondsee zu Mehrung der Einkünfte den Abersee samt umliegendem Forst zu übergeben und einen Königsboten zu ernennen, der Abt und Konvent in den Besitz einwiese. Dieser Forst, dessen Grenze beschrieben wird, lag auf der Wasserscheide zwischen Salzach und Traun und umfaßte das Schafberg-Leonsberg-Massiv zwischen Abersee, Ischl, Traun, zwei Weißen Bächen und Abersee im heutigen Oberösterreich. Der König erfüllte die Bitte, und sein Missus vollzog weisungsgemäß die Investitur, ille missus iussionem dominicam implens vestituram peregit. Er war vielleicht ein Amtsvorgänger jenes Wichad, der als Untergebener des Wito ministerialis regis und princeps super omnes forestes einige Jahrzehnte später entsandt wurde, um Bischof Embricho von Regensburg (864 – 891) mit einem königlichen Forst beim Kloster Wörth zu investieren (MGH. DLD. 152). Wie die Investitur vor sich ging, meldet uns die Notitia nicht. Sie kann nur in der Öffentlichkeit einer Versammlung der umliegenden Dingverbände und der Jagdgenossenschaft verrichtet worden sein, deren Einverständnis der Abt gewonnen haben muß, bevor er sich an den König wandte, und gemeinsam dürften die Versammelten die in der Urkunde angegebene Grenze bezogen und markiert haben. Denn die Investitur verpflichtete jedermann, die dem Kloster gewährten Befugnisse zu respektieren, ut nullus . . . aliquam contrarietatem in his rebus facere auderet, und bestimmte, daß niemand anders in dem See Fische fangen und in dem umgrenzten Gebiet auf die Jagd gehen durfte, ut nemo alienus in hoc lacu piscari auderet neque in supradictis locis venationem exercere (MGH. DLD. 1). § 289. Für die beteiligten Grafschaften und Jagdgenossen mag der Vorteil dieser Regelung darin gelegen haben, daß ihnen anstatt des fernen, schwer erreichbaren Königs nun der Abt des benachbarten Klosters Mondsee als unparteiischer Schiedsrichter in ihren Streitigkeiten zur Verfügung stand. Denn mehr als ein Schiedsrichter konnte er nicht sein, da der König ihm keine Zwangs- oder Banngewalt verlieh. Fanden seine Weisungen keinen Gehorsam, so mußte er zweifellos in derselben Weise, wie es die oben erörterte Formel von St. Gallen beschreibt, die Übeltäter beim Grafen oder hilfsweise vor dem Könige beklagen, der durch Königsboten im Bunde mit den beteiligten Grafen gegen sie vorgehen konnte. Den Potentes aber mochte es verdrießlich sein, daß Jagdfrevel nur mit der dem Grafen als Höchststrafe zustehenden 15-Schilling-Buße geahndet werden konnte. Da sie Zugang zum Königsgericht hatten, war es ihnen möglich zu erreichen, daß den Tätern durch den Herrscher die 60-Schilling-Buße des Königsbanns angedroht
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wurde, die nur der König verhängen (lassen) konnte. Als König Zwentibold im Jahre 897 den Erzbischof von Trier dazu ermächtigte, in den Forsten seiner Kirche das Jagdrecht zu verleihen, benutzte die Reichskanzlei zum ersten Male den Ausdruck, daß der betreffende, genau begrenzte Wald sub banno nostro sit, daß der König ihn per bannum nostrum omnibus prohibemus et ex ea forestem facimus, und daß, wer ohne Erlaubnis des Erzbischofs darin jage, bannum nostrum solvere cogatur (MGH. DZw. 13). Als König Otto I. ein halbes Jahrhundert später diese Verfügung bestätigte, fügte er hinzu, daß die Bannbuße (nicht länger an den königlichen Schatz, sondern) an den Erzbischof und dessen Vogt zu entrichten sei (MGH. DO. I. 110, S. 194 Z. 1. C. Dasler 2001 S. 201 f.). Dem Bischof von Osnabrück dagegen überwies er im Jahre 965 einen mit Königsbann belegten, nostro banno munitum, Forst derart, daß jeder Jagdfrevler debitum pro delicto in regalem fiscum zu entrichten hätte (MGH. DO. I. 302). Dieser Übergang der aus dem Königsbann erfließenden Einnahme, des bannum huiusmodi culpa (durch den Jagdfrevel) nostro debitum fisco (DO. II. 66. C. Dasler 2001 S. 85 A. 265), auf die mit der Jagdhoheit bewidmete Kirche wurde nun zur Regel. Er war aber nicht der Hauptzweck der Begünstigung, wie denn auch immer noch nicht von einer königlichen Verleihung des Wildbanns die Rede ist. Dieser Begriff begegnet uns zum ersten Male in einem Diplom vom Jahre 973, mit dem Kaiser Otto II. dem Erzbischof von Köln omnes bestias innerhalb angegebener Grenzen et potestatem banni que super eas ad regiam pertinuit potestatem – übrigens cum populi consensu: der Erzbischof hatte also die Einwilligung der Grafschaftsleute eingeholt – bestätigte (MGH. DO. II. 50. C. Dasler 2001 S. 122 Anm. 482). Daraus machte die Kanzlei Kaiser Heinrichs II. das bannum bestiarum oder super feras, zu dem unter Heinrich IV. das volkssprachliche Äquivalent Wildbann hinzukam. Vom Könige hieß es nun: forestum wiltpannum dedimus (DH. IV. 47), bannum unum quod vulgo wildban dicitur . . . in proprium concessimus (DH. IV. 222, 229), damit der Bewidmete und seine Nachfolger liberam eiusdem wiltpanni potestatem habeant (DH. IV. 61), ohne daß sich an dem Inhalt des Rechtes als Jagdhoheit irgendetwas geändert hätte: Das Wildbannrecht enthielt vor allem die Befugnis zu jagen, die unter den königlichen Bann gestellt, d. h. deren Verletzung mit der Königsbannbuße bestraft wurde (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 264. C. Dasler 2001 S. 6, 20, 244). Wenn um das Jahr 1080 die Wildbannverleihungen ein plötzliches Ende fanden, so zeigt dies ebenso sehr deren Zusammenhang mit der – jetzt schwindenden – richterlichen Autorität, die die Potentes als Jagdberechtigte dem Könige beilegten, als auch die zwar hohe standespolitische, aber geringe verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Wildbanns. Als die Kirchenfürsten nach dem Wormser Konkordat darangingen, ihre vom Reiche erworbenen Befugnisse zur Landesherrschaft auszubauen, bedurften sie dazu der Wildbannrechte nicht mehr (C. Dasler 2001 S. 262 f.). Der Jagdbann war offensichtlich in den herzoglichen und gräflichen Rechten enthalten, mit denen der König sie reichlich versehen hatte (unten: § 323b).
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§ 290. Der Wildbann ist demnach als ein Fragment des Königsbannes zu betrachten, dem der Verzicht des Grafen auf ein entsprechendes Fragment seiner Banngewalt derart entsprach, daß die Zuweisung von Wildbanngebieten – die Dinglichkeit oder der Gebietsbezug des Rechtes geht aus den regelmäßig angegebenen Begrenzungen hervor; es war kein Herrenrecht über Menschen – an Bischöfe und Reichsäbte die Herrschaft der gräflichen Dinggenossenschaften über sich selbst und ihren Gau, ihre Grafschaft nicht verkürzte. Namentlich entgingen der Grafschaft keine Bußeinnahmen, da sich die potentes, um deren Jagdfrevel es hier ging – denn Unfreie und Neufreie konnten die ein Vermögen verschlingenden Bußgelder ohnehin nicht entrichten; ihre Wilddiebstähle wurden zweifellos stets in den Gaugerichten geahndet, wenn der Förster sie nicht auf frischer Tat ertappte –, und an ihrer Spitze die Grafen selber ihrer Justiz entzogen und nur dem Könige, ihrem Herzog oder eben Bischöfen und Reichsäbten Gehorsam erwiesen: und eben auch die Bannbußen dem Könige entrichteten, selbst wenn dieser sie den Kirchenfürsten zuwies. Regelmäßig (oben: § 225) erwähnen die Diplome daher, daß der König das Bannrecht cum populi consensu (MGH. DO. II. 50. C. Dasler 2001 S. 122 A. 482) oder mit Beifall der Großen, hier: eines Herzogs, zweier Grafen und der übrigen in dem Bannbezirk Begüterten, collaudantibus . . . ceterisque, qui infra predictos terminos predium possident, verleihe (DH. IV. 157: C. Dasler S. 120 A. 469). Das aber waren die Dinggenossen der Grafschaft oder des Gaues, an oder in dem der Forst gelegen war, und nicht selten vermelden die Diplome diese Zugehörigkeit eines Wildbanngebiets zur Grafschaft, so König Otto I. für Utrecht 944: interdicimus ut nullus comitum aliorumve hominum in pago forestensi quod est in comitatu Everhardi . . . bestias . . . venari . . . presumat (DO. I. 62. C. Dasler S. 221 A. 1029), oder König Heinrich IV. für Eichstätt 1080 bezüglich eines Wildbannbezirks, der in zwei genannten Gauen und Grafschaften genannter Grafen gelegen war (DH. IV. 323. C. Dasler S. 77 f.). Einzelne Diplome konnten denn auch beide Angaben miteinander verbinden. So übergab Kaiser Heinrich III. im Jahre 1050 einen Forst, der in comitatu Eberhardi comitis, und einen zweiten, der in comitatu Ottonis comitis gelegen war, dem Bischof von Chur jeweils cum consensu predicti comitis . . . caeterorumque comprovincialium (DDH. III. 251, 252. C. Dasler S. 68 f. A. 173, 183). Wenn Kaiser Heinrich II. aber einmal ex consensu et voluntate . . . omnium circa habitancium, qui ibi iuxta, dort in der Nähe, predia habere noscuntur verfügte und dem Bewidmeten pacem et securitatem . . . de ceteris comprovincialibus et circumsedentibus zusagte (DH. II. 327. C. Dasler S. 94 f.), so sieht man, daß die Landes- oder Gauleute (oben: §§ 210, 212) auch dann, wenn sie nicht in, sondern vor dem Forste begütert waren, in dem Bannbezirk Nutzungsrechte besaßen, die ihnen mit der Einrichtung eines Wildbannbezirks weder entzogen noch geschmälert werden konnten, wie denn der Erzbischof von Trier in einem fünfzig Jahre lang währenden Streit erfuhr, welchen Widerstand sie einem Wildbannherrn entgegensetzten, der dies zu tun unternahm (C. Dasler S. 210 – 220).
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§ 291. Zu diesen Rechten der Gauleute gehörte das Bifangrecht, kraft dessen jeder als Besitzer einer freien Hofstelle zur Allmendnutzung berechtigte vicinus oder pagensis unbebauten Grund und Boden auf dem Gemeindelande durch rechtsförmliche Eingrenzung und Inbesitznahme seiner besonderen oder eigentümlichen Nutzung oder Herrschaft unterwerfen konnte (K. Kroeschell in HRG Bd. 1 Sp. 418 – 420). Die einschlägigen Verben waren apprehendere und capt(iv)are, wozu als ahd. Äquivalent bifâhan, gifâhan gehört (H. Götz, Wb. 1999 S. 48, 89). So besaß im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts Burggraf Papo von Regensburg in silva communi Nordwald nuncupata tale predium silvaticum, quale ipse cum suis sequacibus contra suam proprietatem Stevininga prospiciens circumeundo sibi in proprium ad eundem locum Stevininga captivaverat (Loersch / Schröder / Perels, Urk. S. 59 n. 74). Gegen die Mitte des 11. Jahrhunderts zog Graf Hermann von Kastl mit seinen Knechten und Bauern von den berechtigten Hofstätten, de legitimis curtiferis, bei Willing (in Oberbayern) in den freien Wald an eine Stätte, die Helingerswenga genannt wurde (heute Bayrischzell zwischen Kufstein und Schliersee am Hange der Bayerischen Alpen), um ihn für sich und seine Gattin ohne allen Widerspruch so in Besitz zu nehmen, apprehendere, wie es Sitte war und ist, einen gemeinen Wald, communem silvam, von den rechtmäßigen Hofstätten aus in Besitz zu nehmen, und er beanspruchte ihn zu Eigentum, in potestatem sui iuris vendicavit, in angegebenen Grenzen sowohl nach Volksrecht, populari more, nämlich mittels Ringelns der Bäume, Rodens mit Feuer und Erbauens von Häusern, als auch durch dreitägiges Sitzen, tridua sessione (R. Hübner 1930 S. 207), an demselben Orte, den nach Erbrecht zu behalten Recht ist, quod hereditario iure hereditatem retinere mos est. Nach einiger Zeit zogen die Knechte und Bauern der erwähnten Herrschaft, dominatio, wiederum von Willing aus in denselben Wald und vergrößerten den Besitz und begrenzten ihn zu eines jeden Verfügung, suisque dominiis determinaverunt. Seitdem wird der Wald von dieser Hausgenossenschaft, familia (oben: § 93), gerodet und bewohnt. Dies berichtet uns der Chronist Konrad von Scheyern (MGH. SS. 17 S. 615 Z. 28 bis 616 Z. 7). Wir hören nichts davon, daß die Inhaber rodeberechtigter Höfe für ein solches Vorhaben der Zustimmung derer bedurften, die dort das Jagdrecht besaßen. Wenn die Okkupanten ihnen oder anderen Rodungssiedlern gegenüber Rechtsschutzes bedurften, so war dafür zweifellos die Grafschaft zuständig, in deren Bezirk der Wald und der Bifang gelegen waren (oben: §§ 156, 226) und deren Dinggenossenschaft die völkische Sitte und das Volksrecht hütete, nach dessen Normen die Bauern und ihr Haus- und Grundherr den Bifang in Besitz genommen hatten. In dieses Recht konnte selbst der König nicht eingreifen, wenn er einen sei es vollständig unberührten, sei es zum Teil in Anbau genommenen Wald einforstete und dem Wildbannrecht unterwarf. Neuerdings ist eindeutig nachgewiesen worden, daß der königliche Wildbann dem Berechtigten keinerlei Rodungshoheit oder Vollmacht gewährte, in seinem Bezirke Interessenten zum Roden zuzulassen und sie seiner Gerichtsbarkeit oder Herrschaft zu unterwerfen (C. Dasler 2001 S. 25 – 34).
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§ 292. Das Ergebnis dieser um der Anschaulichkeit willen angestellten Überlegungen heißt: Weder der siedlungsgeographische Befund, dem zufolge sich namentlich in den Wald-Heide-Gebieten des norddeutschen Tieflandes und in den Mittelgebirgen die besiedelten Böden inselartig und ohne flächigen Zusammenhang über die unberührte Naturlandschaft verteilten, noch der rechtsgeschichtliche Befund, dem zufolge die Urwälder, welche die Siedlungsinseln voneinander trennten, im 9. bis 11. Jahrhundert vielfach dem königlichen Wildbannrecht unterstellt wurden und waren, stellt die Annahme einer das ganze Fränkische Reich erfassenden Einteilung in Grafschaften in Frage. Weder berechtigen noch nötigen uns diese Befunde zu der Annahme, die Sprengel der grafschaftlichen Dinggenossenschaften, deren Zentren jene Siedlungsinseln ausmachten, hätten sich auf diese Inseln derart beschränkt, daß es außerhalb derselben grafschaftsfreie, weil unbewohnte Räume gegeben habe. Die Grafschaften umfaßten vielmehr auch die das Siedelland umgebenden Ödländereien und Grenzsäume, in denen die Grafschaftsleute zu vielfachen Nutzungen berechtigt waren. Sie waren ringsum linear begrenzt oder einer solchen Begrenzung fähig, sobald sich ein Bedarf dafür herausstellte, sie festzulegen. Die Grenzen der vom Könige eingerichteten Wildbannbezirke konnten die der Grafschaften überschneiden, ohne daß diese mehr als die Jagdhoheit an den Bannherrn abzutreten brauchten. Überall muß die Jagdhoheit, weil und bevor der Graf und sein Dingvolk der Einrichtung eines Wildbanns zustimmten, ein Zubehör der Grafenrechte gewesen sein, was zwei Diplome König Heinrichs IV. vom Jahre 1063 sogar ausdrücklich bestätigen (MGH. DDH. IV. 112, 113, S. 148 Z. 2, 149 Z. 30). Da sich die hier genannte Grafschaft zu der Zeit noch als geschlossener territorialer Bezirk darstellt (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 402 f.), muß folglich auch Jagdfrevel noch vom Grafengericht geahndet und das Jagdrecht vom Grafenbann beschützt worden sein. Spaltete der König den Wildbann von der Grafschaft ab, so blieben davon alle anderen gräflichen Bannrechte und alle Nutzungsrechte der Dinggenossen über den und in dem eingeforsteten Bezirk unberührt, namentlich das an den Hofstätten des Gaues hängende Bifangrecht und die Gerichtsbarkeit über den durch Apprision neugeschaffenen Grundbesitz. Als am Ende des 11. Jahrhunderts die Einrichtung von Wildbannbezirken außer Gebrauch kam, erwies sich alsbald die Dürftigkeit ihres rechtlichen Inhalts: Denn nirgendwo sind Wildbanninhaber zur Landeshoheit gelangt, stets haben die Landesherren auch die Jagdhoheit an sich gebracht und wieder mit den Grafenrechten vereinigt, auf denen die Landeshoheit im wesentlichen beruhte (C. Dasler 2001 S. 34 – 36, 261 – 263). Richtet man den Blick auf die wesentliche Funktion der Grafschaften, nämlich darauf, den Freien das Gericht über sich und ihr Eigentum zu sichern, ihnen die Befehle des Königs bekanntzumachen, königliche Konfiskationen zu legalisieren und dem Könige Krieger und Steuern zuzuführen, so gelangt man zu dem Schluß, daß die Grafengerichte in Deutschland zwar jünger waren und seit dem 10. Jahrhundert weniger gut bezeugt sind als in Frankreich, daß sie aber ebenso fest etabliert waren und den Adel ebenso strikt kontrollierten wie dort. Die Quellen erge-
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ben weder that the nobility was more defined and privileged in Germany than elsewhere (n)or that everyone who belonged to families that historians now call the high nobility (Hochadel) was automatically free of comital iurisdiction (S. Reynolds 1994 S. 411 – 413).
§§ 293 – 300. Dingvölkischer Schutz der Genossenrechte § 293. Zu den öffentlichen Aufgaben, die die grafschaftlichen Dinggenossenschaften zu erfüllen hatten, gehörte in erster Linie die Sicherung der eigenen Existenz. Diese aber hing davon ab, daß sich die altfreien, großbäuerlich oder kleingrundherrlich lebenden Hausherren, aus denen sich das Dingvolk zunächst im wesentlichen zusammensetzte (oben: §§ 133b, 135b, 206), im Stande ihrer Freiheit und Königsunmittelbarkeit zu erhalten verstanden und den Velleitäten der wenigen Potentes und großen Grundherren zu widerstehen vermochten, die sie in ihre Munt oder gar unter ihre Hausherrschaft zu zwingen versuchten, um sie auf diese Weise zu mediatisieren. Die Gerichtsurkunden der Karolingerzeit nun zeigen uns, wie häufig jene Großen einzelne Personen als hörige und dienstbare Leute anzusprechen pflegten, wie oft jedoch die Angesprochenen im Grafengericht obsiegten und ihre Freiheit entweder bewahrten oder nach einer Zeit der Hörigkeit zurückgewannen. Die Freien waren den Potentes nicht schutzlos ausgeliefert. Vielmehr beschützte sie das öffentliche Gericht besonders, seit König Karl alle Urteile über Eigentum und Freiheit eines Mannes zu schwerwiegenden Rechtssachen, causae maiores, erklärt hatte, die nicht im Niedergericht, sondern nur unter Vorsitz des Grafen oder königlicher Missi gefällt werden durften (A. Dopsch 1921 / 22 T. 2 S. 29. Oben: § 281). Denn es war die Aufgabe der Königsboten, an Bischöfen und Grafen alle Verletzungen der Amtspflicht zu korrigieren, und alles Volk oder jedes einzelne Dingvolk, omnis populus, sollte wissen, daß jeder Dinggenosse, dem der Graf nicht sein Recht werden ließ, seine Klage an sie oder an den König bringen konnte, der sie jenen zur Entscheidung überweisen würde (MGH. Capit. 1, 308 n. 151 c. 2 vom Jahre 825). Es ist zwar aus dem 9. Jahrhundert nur ein Fall bekannt, in dem einfache, dem Herrscher lediglich durch Untertaneneid verpflichtete Freie ihre Sache bis vor das Königsgericht getragen haben (MGH. DKar. 216. W. Kienast 1990 S. 180), es spricht aber nichts dafür, daß dies ein Ausnahmefall war, solange sich das Rechtsleben der sich im genossenschaftlichen Verbande ihrer Gerichtsgemeinden selbst schützenden, ihrer Stärke bewußten Freien mündlich vollzog. Es ist also in karolingischer Zeit ein heftiger Widerstand des Königs und der Dingverbände gegen die Versuche der Mächtigen, freie Leute zu verknechten und zu mediatisieren, feststellbar (A. Dopsch 1921 / 22 T. 2 S. 33), und da in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, als das Königtum begann, in der Aufgabe des Freienschutzes zu versagen, alsbald die von den vereinigten Dingvölkern der Teilreiche
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erhobenen Herzöge an ihre Stelle traten, ist nicht zu sehen, warum dieser Widerstand erfolglos gewesen sein und sich der Bestand an Grafschaftsfreien und deren Dingverbänden nicht noch Jahrhunderte lang trotz abnehmender Zahlen (oben: § 120) erhalten haben sollte (oben: §§ 133a, 147). Im Jahre 941 wies das Grafengericht der bischöflichen Immunität zu Cambrai die Klage des Schutzherrn gegen eine zwar zinspflichtige, aber freie Frau um die Leistung von Knechtsdiensten mit der Begründung zurück, das vom Gesetz geschützte ius nativum der Frau verwehre es dem Herrn, aus deren Kopfzinspflicht eine dingliche Belastung ihrer Güter abzuleiten und auf diesem Wege das zur Grafschaft gehörige freie Gut dem Hofrecht zu unterwerfen (G. Despy 1961 S. 1134 – 1141). Allein daraus, daß bis ins 13. Jahrhundert hinein bäuerlich lebende Altfreie und ihre Genossenschaften so wenig Urkunden oder andere schriftliche Denkmäler erzeugt haben, daß wir heute wahrscheinlich gar nicht mehr alle einst vorhanden gewesenen Gruppen erfassen können, während die geistlichen Grundherren die Zahl ihrer Hörigen und Hofverbände emsig dokumentierten, – allein daraus wird man jenen Schluß gewiß nicht ziehen dürfen. § 294. Eben dies scheint aber eine Lehre zu tun, die den mittelalterlichen Staat und das Volk, das sich in ihm und den Staatseinrichtungen seine Verfassung ab, als Schöpfungen der Könige und Fürsten ansieht und meint, die Bauern seien „weder im staatlichen Aufbau noch im Landesausbau durch organisatorische Leistung hervorgetreten; sie sind vielmehr Instrumente der Politik geworden“ (Th. Mayer 1943 S. 5). Diee Lehre läßt sich freilich nur dann durchführen, wenn man die Existenz von Gerichtsvölkern altfreier Bauern und Kleingrundherren leugnet, und dazu bot sich deswegen die Möglichkeit, weil sie in den urkundlichen Quellen lediglich geringe Spuren hinterlassen haben und man unter Berufung darauf die karolingischen Kapitularien, die von der allgemeinen Durchführung der Grafschaftsverfassung und vom Schutz der Freien durch die Königsboten Zeugnis geben, als Ausdruck gutgemeinter höfischer Absichten beiseiteschieben konnte, denen in Ermangelung einer königlichen Exekutive kein über die Hofkreise hinausreichender Quellenwert zukommen sollte. Statt dessen entwarf man das Bild eines Königtums, welches sich, unterstützt von einer Handvoll Hochadliger, in kraftvollem Tatendrang einen politisch beherrschbaren Raum schuf und darin neue Formen staatlicher Herrschaft und bäuerlicher Freiheit begründete. In diesem Bilde „war die Besitzergreifung eines Landes durch die Rodung ein Vorgang von großer politischer und staatenbildender Tragweite. Rodung in diesem Ausmaß war aber nur durch den Einsatz einer entsprechenden Zahl von Rodungsleuten möglich, solche zu gewinnen war daher das Bestreben der Rodungsunternehmer“ (ebd. S. 12). „Am günstigsten blieb das Verhältnis“ der rodenden Bauern zum Staate dann, „wenn das Königtum selbst oder unmittelbar Beauftragte die Rodung ausführen ließen: auf Königsboden, auf herrenlosem Wildland, das nach den Grundsätzen des geltend gemachten Bodenregals in Anspruch genommen wurde“ (R. Kötzschke 1943 S. 284). Deutlich erkennbar war dies alles zwar erst in den Quellen zur Kolonisation in Ostelbien im
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12. und 13. Jahrhundert, wo doch das Königtum gar nicht mehr in Erscheinung trat und alle Macht bei den Landesherren lag, „doch handelt es sich hier nicht um grundsätzlich neue Bestimmungen, die einzelnen Elemente sind vielmehr im Westen wohl schon in erheblich früherer Zeit ausgebildet und nach dem Osten übertragen worden . . . Die Annahme, daß schon im alten Reichsgebiet solche Bevorrechtung stattgefunden hat, findet ihre Begründung darin, daß auch im alten Siedlungsraum weite Landschaften erst im Mittelalter neugerodet werden mußten; es liegt daher nahe, auch bei den ,freien Bauern‘ im Altsiedelland an Ausbausiedler, an Bauern auf Rodungsland zu denken“ (Th. Mayer 1943 S. 12 f.). So galt nun die in den germanischen Volksrechten bezeugte ständische Altfreiheit als von der Militärmacht erobernder Karolingerkönige und ihrer adligen Helfer spätestens im 9. Jahrhundert vernichtet und alle spätere bäuerliche Freiheit als vom Könige durch Rodungsprivileg verliehen, ohne daß man bedachte, daß Menschen bereits frei sein mußten, damit sie sich um dieses Privileg bewerben konnten (oben: § 151). Sogar ein dem gar nicht vorhandenen Grundsatz „Stadtluft macht frei“ (oben: § 180) entsprechender Grundsatz „Rodung macht frei“ wurde postuliert und der vom König privilegierte Forst wegen der Möglichkeit, darin zu roden, zu einer Keimzelle der Landeshoheit und zum Prototyp der Flächenherrschaft erhoben, denn „dort galt der Grundsatz ,Luft bindet an die Fläche‘, ordnet in die Flächenherrschaft ein“ (Th. Mayer 1954 S. 327. K. Bosl 1970 S. 717). Dies alles ist nicht nur wegen der Verwechslung der neufreien Rodungsunternehmer des 13. Jahrhunderts mit den alten Gerichtsherren, die den Okkupanten Rechtsschutz gewährten (oben: §§ 291, 292), unannehmbar und heutzutage mit Recht verworfen (H. K. Schulze 1974). § 295. Indessen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Grundeigentumsrechte der Hausherren bedurften des dinggenossenschaftlichen Schutzes. Dieser beruhte, wie wir wissen, darauf, daß die Dinggemeinde die Rechte jedes einzelnen Genossen in ihrem kollektiven Gedächtnis bewahrte und daher jedem Haus- und Grundherrn im Notfalle mit ihrem Zeugnis zu Hilfe kommen konnte. Über diesen für das öffentliche Leben der grafschaftlichen Dingvölker so typischen Gegenstand geben die von den Reichskirchen gesammelten Traditionsnotizen beredt Auskunft. Auf jenes öffentliche Wissen der Gerichtsgemeinde (R. Hübner 1930 S. 206 – 208, 261) bezogen sich die Tradenten, wenn sie omnem alodem meam, quam in hac die presenti in justa vestitura in proprium habere visus sum (Wartm. UB 1, 342 n. 372), oder Güter, sicut in hodierna die a nobis possessa noscuntur, tam divisa inter nos quam etiam ea, que in commune adhuc habere videmur . . . quidquid in hac die presente in pago nuncupante Folcholdsbaar visi sumus habere . . . sicut nos in hac die vestiti sumus (ebd. S. 175 n. 186) veräußerten. Das Gemeindewissen entsprang daraus, daß jeder Genosse mit eigenen Augen sehen konnte, wer bestimmte Grundstücke und Ländereien in bestimmter Weise nutzte und zu nutzen berechtigt war, weil niemand ihm den Gebrauch streitig machte. Schon bei Vertragsabschluß empfahl es sich daher, nicht nur die Vertreter des empfangenden
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Klosters, sondern auch die Nachbarn, vicinos, auf die Grundstücke zu führen (ebd. S. 110 n. 117), damit es über deren Identität hinfort keinen Zweifel gebe. Der Gemeinde war aber auch bekannt, von welchen Vorfahren dem Inhaber sein Recht überkommen war (oben: §§ 278, 279) oder unter welchen Umständen und von wem er es erstmals erlangt hatte. Ein Graf Isenbard etwa tradierte dem Kloster St. Gallen, quicquid in ipsa fine vel marca pater meus nobis moriens dereliquid et nos vestiti sumus, und ein gewisser Adalman, quicquid mihi pater meus moriens in hereditate succedendo . . . dimisit, quidquid cedente paternica hereditate ego possessor esse videor (ebd. S. 146 n. 154, 150 n. 159), und Abt Cozbert berichtet, daß ihn der Konvent von St. Gallen auf Grund einer Inquisition ohne Widerspruch in den Besitz genannter Güter gesetzt habe, cuius inquisitionis vestitura sine aliqua interpellationis molestia recte perpendentes me vestierunt, und daß er seinerseits als licenter et potestative vestitus diese Güter dem Kloster übergebe (ebd. S. 211 n. 221). Die Öffentlichkeit der Auflassung bot Dritten, die etwa Anrechte auf die Nutzung der tradierten Grundstücke zu besitzen meinten, Gelegenheit, diese geltend zu machen bzw., wenn sie dies unterließen, ihnen zu entsagen. Dies war so selbstverständlich, daß wir nur selten lesen, der Tradent habe dem Kloster omnia libera voluntate manu potestativa nulloque contradicente übergeben (ebd. S. 175 n. 186). Investitur im Gericht war um der Öffentlichkeit willen nicht erforderlich. Wer sie dort erlangen wollte, weil allein das Gericht ihm darüber eine amtliche Urkunde ausstellen konnte, der mußte in einem Scheinprozeß, den der Veräußerer ihn gewinnen ließ, vor Gericht ein Urteil wider diesen erstreiten. Erst seit dem 11. und 12. Jahrhundert ersetzte man dieses streitige Verfahren allmählich durch eines der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in dem der Tradent seinen Willen, das Grundstück zu verlassen, erklärte und die gerichtliche Entscheidung dem Erwerber die Gewere verschaffte (R. Hübner 1930 S. 262 f. W. Ogris in HRG 1 Sp. 251 f.). Wer sich im auf diese Weise öffentlich anerkannten und von niemandem angefochtenen Besitz befand, der konnte über seine Rechte mit vollmächtiger Hand, potestativa manu (Wartm. UB 1, 13 n. 11, 145 n. 153, 175 n. 186; oben: § 117), gegebenenfalls communi manu mit Mutter, Sohn oder Vogt (ebd. S. 321 n. 345, 338 n. 364, 340 n. 366) verfügen. Wenn aber jemand solchen Besitz anfocht und vor Gericht unterlag, so bekannte er öffentlich, in jeder Hinsicht entkleidet, se in omnibus exuatum, zu sein und sich des gesamten Gutes entledigt zu haben (oben: § 277). § 296. Die vestitura oder Bekleidung mit dem vom Tradenten verlassenen Gute war der regelmäßig erforderliche zweite Teil jenes Doppelaktes, aus dem die Übereignung liegender Rechte bestand (oben: § 95. UB Hersfeld 1, 44 n. 26). Vorangegangen nämlich war der Vertrag, den Veräußerer und Erwerber miteinander schlossen. Er erlegte beiden Seiten bestimmte Pflichten auf, darunter dem Tradenten die Pflicht, das Gut aufzulassen und den Erwerber damit zu bekleiden. Von dem Begriff der vestitura machen die Traditionsnotizen des 9. Jahrhunderts noch kaum
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Gebrauch. Das Wort und sein gedanklicher Inhalt (oben: § 94) waren noch so jung, daß sie sich der Rechtssprache der Dingverbände und Notare noch nicht eingeprägt hatten. Die Traditionsnotizen unterscheiden überhaupt nicht strenge zwischen Vertrag und Auflassung oder Investitur. Da der erklärte Wille des Tradenten – haec omnia potestativa manu . . . tradita ac delegata esse volo (Wartm. UB 1, 308 n. 334, 323 n. 348, 234 n. 349, 325 n. 350) war eine häufig benutzte Wendung – die Auflassung regelmäßig zur Folge hatte, dünkte es die Notare nicht nötig, des Unterschiedes zu gedenken und den Neologismus vestitura aufzugreifen. Lat. tradere und traditio aber konnten durchaus beides, sowohl die Willenserklärung des Tradenten als auch die pflichtgemäß vorzunehmende Auflassung zugunsten des Erwerbers bezeichnen, denn wir erhalten als Äquivalente zu lat. tradere unter anderem ahd. antuuurten (dazu uuidar antwuuurten = resignare), bifelhan = bergen, übergeben, anvertrauen, geban = reddere, irgeban, hinageban, gilâzan = verlassen, cedere, und sellen oder firsellen = liefern, verkaufen. Offenbar kam es den Vertragsparteien nicht darauf an, die Wahrung der vom Volksrecht vorgeschriebenen Formen dokumentieren zu lassen, obwohl davon die Rechtsgültigkeit des Erwerbs abhing, sondern darauf, die Öffentlichkeit ihres Tuns und die Namen der Zeugen festzuhalten, die als Worthalter des Dingvolkes diese Öffentlichkeit herstellten. Die Notitia nämlich war, wie alle Privaturkunden, anfechtbar. Der Inhaber konnte mit ihr sein Recht nur solange beweisen, wie er keinen Gegner fand, der ihm widersprach. Trat ein solcher auf, so mußte er die Wahrheit dessen, was die Urkunde aussagte, erhärten, indem er auf den Eid der Zeugen zurückgriff, deren Namen die Urkunde bewahrte, und er behauptete sein Recht, wenn sie beschworen, gesehen zu haben, wer mit dem Gute bekleidet worden und seither im Besitz war (O. Redlich 1911 S. 47, 62). Denn nicht die Niederschrift oder Überreichung der Urkunde, sondern allein der rechtsförmliche, mit der Auflassung sichtbar gemachte Wille des Tradenten und die Bekleidung des Erwerbers vor Zeugen konstituierte das Rechtsgeschäft. Vor dem analphabetischen Dingvolke taugte die Urkunde lediglich als Symbol für die Vestitur oder reale Tradition, die die Kontrahenten vor aller Augen auf dem Grundstück vorzunehmen hatten: „Gleichwie die festuca (Stab, Halm) vom Veräußerer dem Empfänger zugeworfen oder aber auf den Boden gelegt und dann überreicht wurde, so geschah es mit der Carta. In Gegenwart der beiden Parteien, der Zeugen und des Schreibers wird das Pergament, auf welchem die Carta geschrieben werden soll, auf den Erdboden gelegt. Der Aussteller hebt das Pergament vom Boden auf; dies heißt cartam oder pergamenum de terra levare, levatio cartae. Dies in Händen haltend gibt der Aussteller eine dem Rechtsgeschäfte entsprechende Willenserklärung ab, überreicht es dem Empfänger und bittet den Schreiber die Carta zu schreiben. Nunmehr, nach der levatio und traditio des Pergamentes, folgt die Niederschrift, oder wenn der Kontext schon vorher geschrieben war, die Vollendung der Urkunde durch die Signa, die Unterschrift des Schreibers und oft durch die Datierung“ (ebd. S. 50).
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§ 297. Unterschied der Notar zwischen Abschluß und Vollzug des Vertrages, so konnte er dies im Datum vermerken: Haec traditio primum placita (!) et facta est in illa feria 4, 7. Kal. Octobris, coram N. seniore comite et subscriptis proceribus ac plebeiis, adque roborata est in ill. 5. die Kalendarum earundem, feria 6. coram illo comite iuniore et multitudine procerum ac popularium, quorum hic pauci admodum sunt adnotati (MGH. FF. p. 435 n. 4). Aber auch wenn er es offenließ, auf welchen Verfahrensschritt sich Ort und Datum bezogen, unter denen er die Handlung geschehen ließ, stets pflegte er doch anzugeben, welcher Art die Öffentlichkeit war, auf die es dabei ankam. Actum in villa xy publice, das war das mindeste, was er hierzu anzugeben hatte. Dabei konnte es sich um die Willenserklärung des Veräußerers handeln, die bei Prekarienleihen stets in dessen Hause, in unseren Beispielen also im Kloster St. Gallen, vor sich ging: Actum in ipso monasterio puplice (Wartm. UB 1, 46 n. 45, 69 n. 71, 239 n. 249), soferne nicht darauf noch eine öffentliche Handlung an anderem Orte folgte: Actum in campo qui dicitur Paumcartun publici (ebd. S. 62 n. 63). Oft begab man sich aber auch zum Vertragsabschluß an einen Ort, der als villa publica an sich schon die Öffentlichkeit der Handlung sicherte, weil er Mittelpunkt eines Gaues oder Kirchspiels und Ort einer Gerichtsstätte war. So tradierte man Güter, die im Argengau am Bodensee gelegen waren, in der villa publica Langenargen, die wie der Gau ihren Namen von der Argen erhalten hatte, die dort von Nordosten her in den Bodensee mündet, und es bedeutete gleichviel, ob man Actum Arguna villa publica oder Actum in villa Arguna publice schrieb (ebd. S. 58 n. 58, 144 n. 152, 129 n. 137. H. Bresslau 1912 – 31 Bd. 2 S. 456). Was an solchen öffentlichen Orten verhandelt wurde, spielte sich coram frequentia oder frequentatione populi ab (ebd. S. 184 n. 194, 185 n. 195, 203 n. 214), und zu der Volksmenge gehörten die Zeugen, die den Vorgang in das öffentliche Gedächtnis aufnehmen sollten. Daher veräußerte die Tradentin Fagund ihre Güter libera voluntate sanoque consilio manu potestativa coram plebe et bonis hominibus, quorum nomina subter adnotata noscuntur (ebd. S. 189 n. 199). Die Auswahl der Zeugen war erkennbar nicht dem Belieben der Parteien überlassen. Die zum Zeugendienste befähigenden Eigenschaften besaßen nur die boni homines, die wir häufig an einem und demselben Tage als Zeugen mehrerer Traditionen verschiedener Tradenten antreffen (ebd. S. 157 n. 166 und 165 n. 175, 174 f. n. 185 und 186, 262 ff. n. 279 bis 282, 297 n. 322 – 324). Diese für die Menge der als plebs oder populus zusammengefaßten namenlosen Urkundszeugen sprechenden Männer gehörten einer immer wiederkehrenden Gruppe namentlich genannter Personen an, die in ihrer Gesamtheit als proceres, principes, primates, primores, optimates populi bezeichnet wurden. Wer dieser jeder grafschaftlichen Dinggenossenschaft eigenen Oberschicht angehörte, das war im einzelnen Falle niemals zweifelhaft, obwohl die boni homines persönlich keinerlei Titel führten und sich nicht durch Standesgrenzen von den Dinggenossen überhaupt unterschieden. Was sie auszeichnete und die Notare dazu bewog, sie als
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Gruppe hervorzuheben, das war ihre Eignung für bestimmte, öffentlich zu erfüllende Gemeinschaftsaufgaben (V. Ernst 1916 S. 71 – 73. F. Keutgen 1918 S. 67 f.). An den öffentlichen Orten konnten die Dinggenossen auch die Amtleute der Grafschaft erreichen, wiewohl die Handlung nur ausnahmsweise einmal in mallo publici (ebd. S. 13 n. 11), in publico mallo coram comite R. (ebd. S. 260 n. 277) oder in placito publico (ebd. S. 275 n. 297, 299 n. 325) vor sich ging. Die Öffentlichkeit der Grafschaftsgemeinde war keineswegs nur in den Gerichtsversammlungen gegeben; daher konnte sie sich später in die gerichtliche und eine kommunale aufspalten. So vollzog sich die Tradition des Pratold coram presentibus judicibus et cetero populo, quorum hic signacula continentur: Signum domini Ratoldi missi domini regis, signum Wolfgaeri judicis, signum Landolti tribuni, worauf die Zeichen elf weiterer unbetitelter Männer folgen, die für das angekündigte übrige Volk eintraten (ebd. S. 113 n. 120). § 298. Grafen und niedere Richter (iudices, tribuni, centenarii) waren in der Regel an der Öffentlichkeit des Dingvolkes nicht anders als die boni homines beteiligt, nämlich als bei Gelegenheit auftretende Zeugen (Wartm. UB 1, 101 n. 108, 232 n. 240. MGH. FF. p. 435 n. 4). Bei außergerichtlichem Vergleich über eine zuvor in publico mallo verhandelte Sache erwarteten die Schreiber, daß Graf und Zentenar dabeisein würden: Actum in loco qui dicitur Lamis in presentia comitis Pindari vel centurionis Zoteri ceterique populi, quorum haec sunt nomina (MGH. FF. p. 382 n. 5). Wir finden sie auch als Berater der Kontrahenten, denn mehr hat es nicht zu sagen, wenn einmal bei einer Prekarienleihe zu dem Zeichen des vornehmsten Zeugen bemerkt wird: videlicet Caramanni comitis, in cuius consilio actum est (Wartm. UB 1, 237 n. 246). Die Anwesenheit eines Königsboten bei der Tradition des Pratold (oben: § 297) unterstreicht die königsunmittelbare Stellung der Gerichtsgemeinde, die dem Grafen nur den Vorrang eines königlichen, vom Volke angenommenen Amtmanns übrigließ, denn hier wird zwar der Niederrichter, nicht aber der Graf genannt, an dessen Stelle gewiß der Königsbote die Versammlung leitete. Ein Tradent namens Altirih verfügte über im Thurgau gelegene Güter sogar im königlichen Palaste zu Worms, wohin ihn acht Zeugen und der häufig im Thurgau tätige Notar Cozbreht begleitet hatten (ebd. S. 300 n. 326), ohne daß wir erfahren, aus welchem Grunde sich der Tradent dorthin begeben hatte. Nur ganz selten hören wir, daß die Tradition in Gegenwart des Grafen (ebd. S. 129 n. 137, 144 n. 152), vor dem Tribun oder Niederrichter (ebd. S. 43 n. 42) oder vor einem gräflichen missus im öffentlichen Gericht (ebd. S. 299 n. 325) vorgenommen worden sei, und ebenso selten setzte ein amtlicher Gerichtsschreiber, cancellarius, die betreffende Urkunde auf, dies etwa bei der Tradition des Pratold, die vor einem Königsboten, einem den Grafen verfangenden Richter und dem Niederrichter verhandelt worden war (ebd. S. 113 n. 120). Denn es war nicht vom Rechte geboten, daß die Auflassung im Gericht vor sich ging, und wir kennen die Gründe nicht, aus denen dies gleichwohl gelegentlich geschah.
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Gleichsam als ob die Abwesenheit des Grafen ihnen unbehaglich gewesen wäre, begannen die Notare des alamannischen Rechtsgebietes im Einzugsbereich des Klosters St. Gallen im zweiten Viertel des 8. Jahrhunderts, die Datierung nach Regierungsjahren des fränkischen Königs um den Namen eines Grafen zu erweitern (M. Borgolte 1984 S. 29, 46 f.), und da sie hierbei nicht das Amtsjahr des Genannten anführten, das offenbar nicht so allgemein bekannt war wie die Zählung der Herrscherjahre, sondern den Ausdruck „sub N. comite“ wählten, so ist anzunehmen, daß sie den Grafen als staatlichen Amtmann charakterisieren wollten. Denn jeder Kleriker war mit der Formel „sub Pontio Pilato (crucifixus et sepultus)“ vertraut, in der die Präposition sub sowohl, gleich ahd. untar, den verantwortlichen Vorgesetzten, als auch, wie ahd. bî, dessen Amtszeit kennzeichnete (H. Götz, Wb. 1999 S. 632). Dies kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn die Grafenformel unmittelbar auf die Angabe des Königsjahres folgt: Actum . . . in anno primo regni Carlomanni regis sub Ruadharti comite (Wartm. UB 1, 52 n. 52, 61 n. 62, 95 n. 101), . . . anno XXXVIII regnante domno nostro Carolo in Francia et septimo imperii ejus sub Hruadberto comite (ebd. S. 180 n. 190), . . . anno XXXVIII Karoli imperatoris sub Oadalrico comite et sub centenario Elilant (ebd. S. 193 n. 203, 272 n. 292). Aber ein fester Platz für die Grafenformel wollte sich im Schlußprotokoll der Privaturkunde nicht einstellen. Die Schreiber verbanden sie nicht nur mit dem Actum-Vermerk, der herkömmlicherweise die Orts- und Jahresangabe enthielt, sondern auch mit dem Datum, das, von jenem durch die Zeugenliste getrennt, das Tagesdatum mit der Unterschrift zusammenfaßte (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 2 S. 446, 454 – 457, 465 f.), wie es denn auch im Belieben des Schreibers stand, sie gänzlich auszulassen und des Grafen sowenig zu gedenken, wie es sonst im Fränkischen Reiche üblich war. Rückte auf diese Weise die Grafenformel an das Ende der Urkunde, so betonte der Notar damit die amtliche Stellung des Grafen, unter dem er seine Arbeit verrichtete: Ego itaque Cozpreht . . . IIII non. junias, die jovis, anno XI Hludowici imperatoris, sub Erchanbaldo comite rogatus scripsi et subscripsi (Wartm. UB 1, 261 n. 278), . . . rogatus anno XII Hludowici imperatoris scripsi et subscripsi. Notavi diem Lunis X kal. Novembr. sub Disone comite (ebd. S. 273 n. 294), . . . notavi in VI. id. Sept. et sub Ruachario comite scripsi et subscripsi (ebd. S. 285 n. 308). Wählte der Notar diese Anordnung, so stellte er sich selber als namens des Grafen amtierend dar, auch wenn er nicht den Kanzlertitel führte und daher gewiß nicht wirklich zum Grafschaftsschreiber bestellt war. § 299. Aus all dem muß man schließen, daß uns in der Grafenformel derjenige Graf genannt wird, in dessen Amtsbezirk die Tradition öffentlich vollzogen worden war, dessen Dingvolk die dabei anwesenden Zeugen angehörten und dessen Gericht für etwa daraus erwachsende Streitigkeiten zuständig war. Folglich muß, wenn uns in einer Tradition des Grafen Gerold nach Bischof Agino von Konstanz, Abt zu St. Gallen, dem Empfänger der Güter, und Imma, Mutter des Tradenten, ein Graf Perihtilo und ein judex Arnolt als Zeugen genannt werden, während der Schreiber sub ipso Gerolto comite datierte (Wartm. UB 1, 101 n. 108), der Tradent
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zugleich Gaugraf gewesen, der gräfliche Zeuge dagegen als eingesessener Grundbesitzer und Dinggenosse tätig geworden sein. Anders die erwähnte Prekarienleihe, bei der Graf Caramann als erster Zeuge und als Berater der Parteien erscheint; sie wurde nämlich von dem Schreiber auch sub Caramanno comite datiert und unterschrieben (ebd. S. 237 n. 246). Wenn die, wie wir hörten (oben: § 298), im königlichen Palast zu Worms vertraglich beschlossene Tradition des Altirih vor einem häufig im Thurgau, wo die tradierten Güter lagen, tätigen Notar sub Erchanbaldo comite datiert und unterschrieben wurde (ebd. S. 300 n. 326), so überrascht es uns nicht, daß Erchanbald anderweitig als Gaugraf des Thurgaus bekannt ist. Da die Auflassung nicht vor Gericht vorgenommen zu werden brauchte, gab die Grafenformel mit der Verwendung der Präposition sub die in der Notitia bezeugte Rechtshandlung sehr genau als zwar im Amtssprengel, nicht aber in Anwesenheit des genannten Grafen vollzogen zu erkennen. War der Graf oder ein anderer königlicher Amtmann ausnahmsweise einmal anwesend, so konnte der Schreiber daher bemerken, daß er in presente Ruadperto comite den Vorgang notierte (ebd. S. 129 n. 137) oder daß Erfcher servus dominicus resedebat, den Vorsitz hatte (ebd. S. 196 n. 206, 197 n. 207). Ebenso datierte später einmal in Bayern der Notar nach der Amtszeit des königlichen Forstmeisters, dessen vollmächtiger Bote Auflassung und Investitur vorgenommen hatte (MGH. DLD. 152. Oben: § 288). So ist gewiß zu Recht die Verbreitung der Grafenformel während der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts damit erklärt worden, daß „sie dazu dienen konnte, comitale Herrschaft zu bezeichnen“, und zwar „im Hinblick auf deren räumlich-herrschaftlichen Aspekt“: In diesem „Indikator der Grafschaftsverfassung“ habe sich „die Erfahrung der erneuerten, nun endgültig gefestigten fränkischen Herrschaft“ über die Alamannen niedergeschlagen, „aus der Sigle für die fränkische Fremdherrschaft entwickelte sich die Grafenformel zum gewöhnlichen Diktatelement zur Kennzeichnung der ordentlichen Grafengewalt“, wie davon abzulesen ist, daß sich in den Jahren von 817 bis 919 der Anteil der Privaturkunden, welche diese Formel enthalten, von 50% der in St. Gallen bewahrten cartae bis auf 95% erhöhte (M. Borgolte 1984 S. 70 f., 249. Unten: § 337). § 300a. Auf eine andere Weise könnte der abwesende Graf als Hüter des königlichen Schatzes an dem Grundstücksverkehr interessiert gewesen sein, den das Drängen der Kirchen auf Ausbildung von Individualeigentum und Seelgerät (oben: §§ 100, 128b) in Gang gesetzt hatte. Einem der Spätantike entstammenden Brauche folgend, pflegten nämlich die Tradenten den Erwerber dadurch in seinem Besitzrechte zu schützen, daß sie sowohl sich selbst als auch ihre Erben und sonstige dritte Personen einer Konventionalstrafe unterwarfen, falls sie jemals der Tradition zuwiderhandeln und mit Berufung auf ihre Beispruchsrechte versuchen würden, das geschenkte Gut für sich zurückzugewinnen. Die Traditionsurkunden geben dem in einer Pönformel Ausdruck, der zufolge der Übeltäter dem Erwerber una cum fisco egenti oder cogente das Doppelte des Verkehrswertes zu entrichten hatte,
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ohne dafür das Gut zurückzuerhalten oder damit die Traditionsurkunde zu entkräften (J. Studtmann 1932 S. 276 – 279). Diese Formel dürfte der Rechtspraxis insofern entsprochen haben, als Franken und Langobarden offenbar die antiken Institutionen mit neuem, germanischem Rechtsinhalte erfüllt hatten, indem sie die römische Vertragsstrafe als Verhängung einer Buße für den Geschädigten und die Fiskalstrafe als fredus, als den gesetzlichen Anteil der Dinggemeinde (oben: § 107) oder des Königs (oben: § 109) an dieser Buße auffaßten. So verpflichtete das alamannische Volksrecht den anmaßlichen Kläger dazu, auf Grund der Zeugenaussagen multam quam carta continet zu bezahlen, und in Schwaben und Bayern bedienten sich die Privaturkunden noch bis ins 11. Jahrhundert hinein unserer Pönformel (J. Studtmann 1932 S. 283, 285, 316, 345). Das fredus zugunsten des Fiskus einzutreiben aber war Sache der Grafen, wie uns die Immunitätsprivilegien seit dem 9. Jahrhundert immer wieder versichern (E. E. Stengel 1910 S. 631 ff.), ebenso, wie es, sofern der König nichts anderes bestimmt hatte, Pflicht der Grafen und Zentenare war, dem königlichen Fiskus zustehende Zinse einzuziehen (Wartm. UB 1, 289 n. 312 = RI 12 n. 845). Gleichwohl betreten wir brüchigen Boden, wenn wir uns fragen, ob die Drohungen der Pönformeln Wirkungen zeigten oder ob es leere Worte waren, mit deren Rechtsfolgen niemand mehr ernsthaft rechnete (J. Studtmann 1931 S. 330, 354). Die zähe Bewahrung der Formel braucht nicht unbedingt für deren innere Leere zu sprechen, da sie nicht auf Gedankenlosigkeit beruhen muß, sondern dem freien Willen der Notare zuzuschreiben sein mag, und die Art und Weise, wie sie sie variierten, kann als Ausdruck solcher Freiheit und als Zeugnis dafür verstanden werden, wie lange volkliche Rechtsauffassungen vom Erbenlaub den kirchlichen Vorstellungen vom freien Verfügungsrecht des Hausvaters in den Weg getreten sind. § 300b. Wenn sie etwa schrieben, der Täter sollte indiscutienti fisco coactus zahlen (Wartm. UB 1, 54 n. 55), so meinten sie, der Fiskus, also der zuständige Graf, sollte die Klage der angegriffenen Kirche richterlich untersuchen (H. Götz, Wb. 1999 S. 203) und den für schuldig Befundenen zwingen, das fredus zu zahlen und das Recht zu achten, und wenn es heißt, (unacum) sociante fisco, sociante fisco distringente, cum cogente fisco oder coagente fisco coactus exsolvat (ebd. S. 56 n. 57, 105 n.111, 108 n. 113, 128 n. 138, 233 n. 241), so meinte der Notar, der Fiscus solle oder werde der Klage beitreten und gegen den Überwundenen amtlichen Zwang ausüben. Nun finden sich synonym mit fiscus verwendet nicht nur fiscus dominicus, aerarium regis, fiscus regis oder rei publicae (ebd. S. 96 n. 102, 118 n. 126, 125 n. 134, 189 n. 199), sondern auch fiscus proximus, adiacens fiscus, fiscus in proximo iacens (ebd. S. 182 n. 191, 216 n. 225, 285 n. 301) und iudex, iudex publicus, iudex qui eo tempore fuerit (ebd. S. 9 n. 8, 70 n. 72, 228 n. 235). Ist daraus zu schließen, daß die Schreiber von dem fiscus keine klare Vorstellung hatten, sondern versuchten, einen unverständlichen Ausdruck zu interpretieren? Richtiger war es da gewiß,
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wegen der Sache auf das Volksrecht zu verweisen: quod si quis fecerit, illa componat que in lege Alamannorum continentur (ebd. S. 335 n. 360, 338 n. 363), den Empfänger der Zahlung aber gar nicht mehr zu erwähnen (ebd. S. 291 n. 314, 311 n. 337). Auch spricht es nicht für Vertrauen in die gräfliche Exekutive, wenn der Abt von St. Gallen in einer sub Warino comite datierten Urkunde, ohne des Grafen weiter zu gedenken, den pagenses Erlaubnis und Auftrag gab, das tradierte Gut an sich zu nehmen, um es dem Kloster zurückzugeben, falls er es in vertragswidriger Weise veräußerte (ebd. S. 38 n. 36). Der Ausdruck fiscus publicus ist mir in den Traditionen des Klosters St. Gallen nicht begegnet, doch scheinen bayerische Privaturkunden ihn zu kennen und mit dem mallus publicus, der völkischen Dingstätte, gleichzusetzen (Hübner, Gerichtsurk. 1891 S. 28 n. 168, 169), und in einer oben (§ 277) bereits angeführten Formel findet sich das publicum als Empfänger der auf den Betrag der Königsbannbuße festgesetzten Fiskalmult. Es ist geboten, dem weiter nachzugehen, scheint es doch darauf hinzuweisen, daß der Fiskus nicht nur als königlicher und vom Grafen namens des Königs verwalteter Schatz, sondern auch als Schatz des gräflichen Dingvolkes angesehen worden ist, das ihn dem Könige als Hilfsmittel zur Erfüllung seiner Amtsaufgaben zur Verfügung gestellt hätte.
§§ 301 – 306. Grafschaftlicher Reichsdienst I: Heerfolge und Fiskus § 301. Im Dienste des Königs bildeten die Grafschaftsgemeinden ein Heer, und jede von ihnen machte eine Abteilung des Reichsheeres aus (oben: § 122). Die Heerfahrt oder Heerfolge war eine volks- und landrechtliche Pflicht und zugleich ein Recht des freien Mannes (oben: §§ 122 – 124), denn auf ihrer Erfüllung und damit auf der öffentlichen oder volksrechtlichen Stellung einer Person im Grafschafts- oder Reichsverbande beruhte das Waffenrecht, welches nur dem freien Manne zukam und nur ihn dazu befähigte, Waffen zu tragen. Als Waffenträger aber war er befugt, sich daheim und zu Friedenszeiten im Gericht auf das prozessuale Beweismittel des Zweikampfes mit Waffen (statt mit Stein oder Knüttel) zu berufen, im Kriege aber das Recht der Heerfolge auszuüben. Erst sehr viel spätere Zeiten haben dem Waffenfähigen auch das Fehderecht vorbehalten (H. Fehr 1914 / 17 I S. 111 – 113). Seit der König Kriege in fernen Teilreichen oder gar jenseits der Reichsgrenzen nur noch mit berittenen Vasallen zu führen pflegte, beschränkte sich die Heerfahrtpflicht auf die Landwehr oder Landfolge, d. h. auf den Krieg zur Verteidigung des eigenen Landes gegen feindlichen Einfall. Die Landwehrpflicht ging regelmäßig der lehnrechtlichen oder Vasallenpflicht vor, denn im Jahre 847 forderten die Großen des Reiches von den drei Herrschern, unter die sie das Königtum aufgeteilt hatten, daß jeder Vasall, in wessen Teilreich er auch angesessen sein mochte, seinem Herrn im Heere oder anderweitig dienen sollte, nisi talis regni invasio, quam
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lantweri dicunt, quod absit, acciderit, ut omnis populus illius regni ad eam repellendam communiter pergat (MGH. Capit. 2, 68 n. 204 c. 5. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 574 f. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 287. Th. Eichenberger 1991 S. 116 f. Oben: § 204). Ein anderes Capitulare der Zeit handelt de lantweri id est de patriae defensione (ebd. 2 S. 71 Z. 29), von der Verteidigung eines Landes, jener Einheit, daraus sich die Teilreiche und ihre Untertanenverbände zusammensetzten. Das Reichsvolk bestand aus der Summe der Grafschaftsvölker und ihrer – auch die Vasallen umfassenden – Freien, denn nur diese besaßen eine patria, so etwa die Brüder Hupert und Isanbert, die dem Kloster St. Gallen ihren ererbten Besitz mit der Einschränkung vermachten, si in militia qualibet patria(e) militaverimus (et) nobis deus locum dederit, ut ipsis rebus non indigiamus (Wartm. UB 1, 138 n. 146). In Hinsicht auf die Landwehr war jeder freie Mann, sein Gut oder seine Macht mochte groß oder gering, seine Treue nur dem Könige oder auch einem anderen Senior oder Potens geschuldet sein, dem Könige und dem Grafen untergeordnet (H. Fehr 1914 / 17 I S. 122 f.), die sie zu Oberen und Worthaltern angenommen hatten, auch wenn diese manchen armen Freien (oben: §§ 122, 123) nur noch durch Vermittlung seines Schutzherrn zum Heere aufbieten konnten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 605 – 607. E. von Guttenberg 1927 S. 289 f.). So war das fränkische Heer im 9. Jahrhundert noch immer ein Volk in Waffen. Wenn Kaiser Karl im Jahre 811 beklagte, daß Bischöfe, Reichsäbte und Grafen die armen Freien zum Heere einberiefen, die Wohlhabenden aber freistellten, und daß manche pagenses ihrem Grafen den Befehl verweigerten (MGH. Capit. 1, 164 n. 73 c. 5 – 6), so paßt dies ebenso wenig zur Beschränkung der Heerfolgepflicht auf einen schmalen Stand von Berufskriegern wie Kaiser Ludwigs des Frommen Befehl an die Königsboten von 829, zu ermitteln, wieviele freie Männer nicht nur obenhin in jeder Grafschaft, sondern auch genau in jeder Centene oder Unterabteilung derselben wohnten, und alle diejenigen schriftlich zu erfassen, die imstande seien, zum Heere zu dienen (ebd. 2, 17 n. 193 c. 7), oder wie desselben Kaisers Gebot, jeder Missus solle in seinem Amtssprengel das königliche Aufgebot coram populo derart verlesen lassen, daß sich niemand mit Unkenntnis desselben entschuldigen könne (ebd. 1, 333 n. 167 c. 7. H. Fehr 1914 / 17 I S. 118). Alle diese Bestimmungen und dazu die Gebote Kaiser Karls, denen zufolge Königsboten und Grafen die freien Männer nach Maßgabe ihres Vermögens zu Heeresdienst und Selbstausrüstung heranzuziehen hatten und gegebenenfalls durch mehrere Arme gemeinsam einen Krieger ausrüsten lassen sollten (oben: §§ 123, 131, 132), setzen voraus, daß die Grafen regelmäßig und vermutlich alljährlich am Tage eines der drei echten Dinge die pagenses und ihre Waffen zu mustern verpflichtet waren. Diese Musterung ging zweifellos öffentlich und so vor sich, daß der Graf in seinen Entscheidungen an den Rat und die Rechtsweisung der pagenses gebunden war und die Wehrpflichtigen dawider die Entscheidung des Königs oder seiner Boten anrufen konnten.
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§ 302. Es fragt sich, wie lange diese Einrichtungen und damit die Grafschaftsgemeinden als Landfolgeverbände Bestand hatten. Da Thietmar von Merseburg (VI 19) zum Jahre 1005 berichtet, König Heinrich II. habe im Sommer, während er mit einem Schiffsheere die Friesen zur Ordnung zwang, sowohl bei Hofe wie in allen Grafschaften seines Reiches, in palatio et in omnibus regni suimet comitatibus, auf den 16. August bei Leitzkau zum Heereszuge gegen Polen aufbieten lassen, und Berthold von Reichenau (S. 312) zu 1078 erzählt, die Bischöfe von Basel und Straßburg sowie die Herzöge Welf und Bertold von Schwaben hätten Bauern grafschafts- und zentenenweise auf sich und wider den König vereidigt, rusticisque quos per comitatus sibi adiuratos in auxilium undique coegerant, . . . rusticos undique per omnes illarum partium centenarias adversum se conjuratos, bevor sie sie gegen Heinrich IV. ins Feld geführt, so scheinen die Grafschaften als Heervölker im 11. Jahrhundert noch intakt gewesen, vielleicht sogar durch die Aufnahme des neufreien Land- und Stadtvolkes (oben: §§ 156, 230 – 232) gestärkt worden zu sein. Dafür spricht auch, daß die Stadtherren im 12. Jahrhundert begannen, die Landfolgepflicht ihrer Bürger auf die Verteidigung der Stadtmauern zu beschränken (oben: § 162b). Zu dieser Zeit begann das Recht der Musterung und des Aufgebots von den Grafen auf die Landesherren überzugehen, ohne daß sich dadurch jedenfalls mancherorts an den Rechten und Pflichten der freien Leute viel geändert haben wird. In einer undatierten Notitie aus der Zeit vor 1178 berichtet Bischof Gottfried von Utrecht über seinen Streit mit dem Grafen von Holland de liberis episcopii hominibus, dessen Entscheidung Erzbischof Philipp von Köln an sich gezogen habe (unten: § 456). Auf der Tagfahrt erfragte dieser in sentencia a comite Gelrensi, si liber aliquis servicio obligatus imperatori se et bona sua, pro quibus ex debito servire tenetur imperio, coniugio vel iuramento alienare possit ab imperio? quod predictus comes Gelrie asseruit in sentencia nequaquam fieri posse. Dieser Rechtsmeinung des Grafen von Geldern traten der Graf von Cleve, der Burggraf von Utrecht und andere sowohl (alt- oder) edelfreie als auch ministerialische (oder neufreie) Urteiler, tam nobiles quam ministeriales, bei. Der Graf von Holland, der durch dieses Urteil die Freien verloren hatte, cum per sentenciam eos amisissest, habe seinen Ansprüchen an sie allerdings keineswegs entsagt (OB Holland 1, 345 n. 192). Da die dem Reiche dienstbaren Freien als freizügige Männer keineswegs willenlose Objekte der Herrschsucht ihrer vom Reiche eingesetzten Oberen, sondern wenn auch nicht mehr Standes-, so doch immer noch Rechtsgenossen der Grafen und Edlen gewesen sein werden, die das Urteil fällten, so spricht alles dafür, daß die grafschaftlichen Dingverbände am Niederrhein im großen und ganzen noch intakt waren. Wie das Miturteilen von Ministerialen zeigt, waren die reichsdienstbaren Freien im Begriff, in dem Stande neufreier Leute aufzugehen. Da der Graf von Holland seinen Ansprüchen nicht entsagte, zog sich der Streit weiter hin bis zu dem oben (§ 202) erwähnten Vergleich von 1204, der für die Ministerialen eine neue Ordnung schuf, hinsichtlich der Ritter altfreier Abkunft aber alles beim alten ließ. Für
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die Freiheit dieser Leute und ihre Pflicht, dem Reiche Heer- und Hoffahrtdienste zu leisten, war es ganz unerheblich, daß ein früherer König sie, wie es im 11. Jahrhundert häufig geschehen war, wegen der Reichsdienste dem Grafen entzogen und an den Bischof verwiesen hatte. Auch wenn die Landesherren jetzt von den Schiedsrichtern erfahren wollten, wem von ihnen sie zugehörten, utrum hii liberi homines episcopi vel comitis de jure esse debeant et cui prefati XXIIII predictos liberos homines addixerint, hic eos sine contradictione obtinebit, so waren es deswegen keine willenlosen Untertanen, um die es ging, da es ihre und die Rechtsauffassung des Landes war, die die Schiedsleute aussprechen würden. Vom Könige hatten sie allerdings keinen Schutz ihrer Freiheit und keine Verfügung über ihre Dienste mehr zu erwarten, da zu der Zeit der staufisch-welfische Thronstreit seinen Höhepunkt erreichte und die Landesherren daher den Willen des Königs straflos ignorieren konnten. Der gräfliche Dingverband war als Teil des Reichsheeres jedenfalls dem Rechtsbewußtsein der Niederländer noch gegenwärtig; dazu paßt es, daß die Grafen Floris III. (gestorben 1197) und Dirk VII. (1190 – 1203) von Holland ihren Willen gelegentlich in offenen Briefen omnibus fidelibus sub ditione sua constitutis oder universitati fidelium bekanntmachten (OB Holland 1, 106 n. 170, 110 n. 178, auch 136 n. 232 vom Jahre 1213). Im sächsischen Rechtsgebiet, dessen Gogerichte ich aus der altsächsischen Gerichtsverfassung herleiten und als Hochgerichte der neufreien Landleute auffassen möchte (oben: § 283), blieb der Dingverband des Gos bis zum Ende des Mittelalters als Landwehrverband erhalten, als dessen erwähltes Haupt der Gogreve alljährlich Heerschau zu halten und die Gerichtsleute nebst ihren Waffen zu mustern hatte (E. von Lehe 1926 S. 128. G. Landwehr 1964 S. 180 f.). § 303. Es ist bereits zur Sprache gekommen, wie wenig wir darüber wissen, ob die karolingischen Herrscher von ihren freien Untertanen Steuern erheben konnten und was es mit den Zinsen und Tributen auf sich hatte, die ihnen mancherorts von freien Leuten und deren freiem Grundeigentum geschuldet wurden (oben: §§ 129, 131). So hören wir von pagenses fiscalini, die zu einzelnen Leistungen an den Fiskus verpflichtet waren (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 228, 320 f.); gewiß war damit der örtliche Fiskus gemeint, den der König durch den Grafen verwalten ließ. Wenn der König, wie die Quellen sagen, solche Leute einer Kirche schenkte, so war damit nicht mehr gemeint, als daß sie den Fiskalzins hinfort dieser Kirche zu entrichten hatten; in jeder anderen Hinsicht gehörten sie weiterhin ihrem Grafschaftsverbande an, wie es zweifellos auch alle diejenigen Freien taten, die auf Königsland, in terra dominica, wohnten und deren Zeugenfähigkeit Kaiser Ludwig im Jahre 829 regelte (MGH. Capit. 2, 17 n. 193 c. 6), mochten sie nun außerdem eigenen Grund und Boden besitzen oder nicht. Denn nur das Zeugnis der pagenses et veraces homines sicherte im Jahre 826 dem Kloster St. Gallen den jährlich fälligen Fiskalzins bestimmter freier Leute im Breisgau (oben: § 279), die ihm einst König Pippin derart abgetreten hatte, daß sie und ihre Erben censum quod ad fiscum per-
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solvi solebant, dem Kloster entrichteten, exhiberent et persolverent, ohne daß Grafen, Zentenare oder Königsboten sie daran hinderten (Wartm. UB 1, 289 n. 312). Zu den jährlichen, längst der Höhe nach fixierten und auf Grund und Boden radizierten Steuern mochten außergewöhnliche hinzukommen, etwa wenn ausnahmsweise einmal der König die Gastungspflicht des Grafen in Anspruch nahm. Die Pflicht dagegen, Königsboten und fremde Gesandte zu beherbergen und zu befördern, oblag wohl in der Regel nicht mehr den Dinggenossenschaften, sondern dem Grafen nebst gewissen, vom Herkommen dazu bestimmten Leuten (C. Brühl 1968 S. 61 f., 81, 101, 111). Aus der Grafschaftsverfassung, wie Karl der Große sie in Sachsen eingeführt hatte, dürfte sich erklären, was wir aus zwei Kaiserurkunden des beginnenden 11. Jahrhunderts über den Fiskus im Ambergau (im westlichen Harzvorlande) erfahren. Im Jahre 1001 übergab Kaiser Otto III. der Bischofskirche zu Hildesheim die Burg Dahlum, die im Gau Ostfalen oder Ambergau in der Grafschaft der Söhne Graf Ekberts gelegen war, und dazu „den Fiskus, den wir bis jetzt zu unseren Händen von den freien Männern aus jenem Gau, de liberis hominibus per eundem pagum, empfingen“ (MGH. DO. III. 390). Kaiser Heinrich II. jedoch muß beides von dem Bischof zurückgefordert haben, denn im Jahre 1009 übertrug er dem Reichsstift Gandersheim den Hof Dahlum in pago Amberga in comitatu vero Wichmanni comitis und dazu „den Bann in dem genannten Ambergau, der speziell zu unseren Händen gehört, (nämlich) fünfhundert Widder, welche die freien Leute jetzt und ihre Voreltern zu Zeiten unserer Vorgänger stets pflichtmäßig zu der genannten Stätte entrichtet haben, als ein Zubehör des genannten Hofes Dahlum“, bannum ad nostras manus specialiter pertinentem in predicto pago Amberga, quingentos arietes, quos ex debito liberi homines nunc vel antecessorum nostrorum temporibus ipsi et parentes ipsorum ad supra dictum locum semper solverunt, una cum prescripta curte Daleheym. Den Freien aber gebot er, sich niemals einem anderen (Schutz- oder Muntherrn) zu ergeben als der Gandersheimer Kirche, statuentes, ut nullus predictorum liberorum alicui preter Gandeneshemensi se subdat ecclesie (MGH. DH. II. 206). § 304. Die Grafschaft, in welcher der befestigte Königshof Dahlum lag, wurde seit dem im Jahre 994 eingetretenen Tode Graf Ekberts von dessen Söhnen verwaltet. Sie erstreckte sich nach einer Urkunde aus dem Jahre 1021 (MGH. DH. II. 444. H. Goetting 1973 S. 270) über den Flenithigau zwischen Innerste und mittlerer Leine sowie über die beiden westlich der Leine daran angrenzenden Gaue Aringon und Suilberi. Unter dem Gau Ostfalen des Diploms von 1001 ist daher ein Großgau zu verstehen, nämlich die sächsische Heerschaft oder Provinz Ostfalen, die über das Leinebergland weit hinaus nach Norden bis an die Elbe ausgriff. Der Beschaffenheit des Berglandes gemäß, wo bewaldete Höhenrücken kleine Tallandschaften voneinander trennen, umfaßten der Flenithi sechs und die Grafschaft acht Kleingaue, deren jeder vermutlich einen gräflichen Dingstuhl enthielt und einem eigenen Niederrichter (Gogreven?) unterstand; einer davon war der Ambergau. Es gab
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daher acht Dingverbände, die Ekberts Söhne unter sich hatten verteilen können. Da nach anderen Königsurkunden die villa Lutter (am Barenberge) im Jahre 1001 in pago Ventsgoi, einem der genannten Kleingaue, in burgwardio quoque Dalehem atque comitatu Herieldi comitis, acht Jahre später aber Königsdahlum im Ambergau im Komitat des Ekbert-Sohns Wichmann gelegen war (DO. III. 417. DH. II. 206), so hatten die östlichen Kleingaue wohl Wichmann zum Grafen angenommen, und dieser wird sich (in einem derselben?) durch den (Vice)Grafen Herield haben vertreten lassen, solange er selbst mit Kaiser Otto III. in Italien verweilte (H.-J. Freytag 1951 S. 54). In den freien Männern, die dem Könige den Fiskus in Gestalt jener alljährlich zu entrichtenden fünfhundert Widder darreichten, die sie seit jeher dem Könige schuldeten, ist die Dinggemeinde des Ambergaus zu erkennen, die einen Partikularverband innerhalb der grafschaftlichen Dinggenossenschaft neben den sieben der anderen Kleingaue ausmachte. Denn es sollten nicht hundert einzelne Freie je fünf oder zweihundert einzelne je zwei oder drei, sondern sie alle zusammen oder zu gesamter Hand die fünfhundert Hammel abliefern, wozu sie wohl am ehesten imstande waren, wenn sie genossenschaftlich eine Schäferei auf dem Gemeinlande betrieben und als Verband die dort beschäftigten Hirten anstellten. Da weder der Graf noch der Villicus des Königshofes, sondern allein die freien Leute gemeinlich mit dieser Naturalsteuer belastet waren, so dürften jene Amtleute mit dem Steuergeschäft gar nichts zu tun gehabt, sondern dieses allein der Genossenschaft und ihrer Selbstverwaltung oblegen haben. Der Graf war nur insofern betroffen, als er die pünktliche Lieferung zu besorgen und gegebenenfalls mit der Strafe des Königsbannes zu erzwingen hatte. Man hat diese Freien natürlich neuerdings zu fränkischen Staatssiedlern und Königsfreien erklärt (H. Goetting 1973 S. 269), aber ein Grund dafür ist nicht zu erkennen (E. Molitor 1943 S. 314 f. H.-J. Nitz 1989 S. 458 – 474). Mich erinnern sie eher an die altsächsischen Freien, die einst in partikularen ständischen Gauverbänden zusammengetreten waren, um je zwölf Sprecher zur Volksversammlung nach Marklo zu entsenden (oben: §§ 80 – 82). „Der Ursprung und Charakter dieser Verhältnisse liegt im Dunkeln“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 387): Das ist gewiß richtig, was den Rechtsgrund dieser besonderen Form des Königsdienstes (dazu O. P. Clavadetscher 1964 S. 221 f., 226 f.), nicht jedoch, was den verfassungsrechtlichen Rahmen betrifft, in dem ihn die Dinggenossen des Ambergaus erbrachten. § 305. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß der Fiskus, den Otto III. zu seinen Händen empfing, und der Bann, der Heinrich II. speziell zu seinen Händen gehörte, eines und dasselbe meinten, nämlich die alljährlich zu des Königs freier Verwendung auf den Königshof in Dahlum zu treibenden fünfhundert Hammel. Der Sprachgebrauch ist vieldeutig und verwirrend und bedarf weiterer Erhellung. Er scheint darauf hinzudeuten, daß das Wort Fiskus in dem Sinne, wie man es im 9. Jahrhundert auf die Grafschaft bezogen hatte, nämlich als Erhebung aller im Gebiete der gräflichen Dinggenossenschaft anfallenden Einnahmen und deren Weiter-
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leitung an den König (oben: § 300a) eben so, wie Otto I. noch 951 omnem fiscum de ipso Curiense comitatu, sicuti actenus ad regalem pertinebat cameram et potestatem, veräußerte (MGH. DO. I. 139), jetzt nicht mehr verstanden wurde, obwohl die Sache noch vorhanden war. Da die villa Lutter im Ventsgau und im Dahlumer Burgward gelegen war, bezeichnete man als Burgward vermutlich den Fiskalbezirk, in dem der villicus, welcher unter Aufsicht des Grafen den Königshof Dahlum verwaltete, die königlichen Einkünfte einzuziehen hatte. Ebenso vieldeutig wie fiscus ist der Begriff bannus (Mlat. Wb. 1 Sp. 1341 – 1348, unten: § 320 – 322). Ganz allgemein verstand man darunter jedes hoheitliche Gebot, Verbot oder Edikt samt den darin festgesetzten Strafen, genauer dann die hoheitlichen Befugnisse oder die Amtsgewalt, die der König entweder persönlich wahrnahm oder durch seine Amtleute ausüben ließ. Im zweiten Falle nahm das Wort den Sinn von Vollmacht oder Ermächtigung an (ebd. Sp. 1344 Z. 24 – 51). Sofern der König aber einen Amtmann dazu ermächtigte, Einkünfte zu erheben, benutzte man bannus metonymisch dazu, auch diese dem Könige zustehenden Zinse und Steuern zu bezeichnen (ebd. Sp. 1345 Z. 34 – 70). Man kann in diesem Sinne vom Fiskalbann sprechen, und eben so hat Kaiser Heinrich II. das Wort verwendet, nämlich als Vollmacht, in seinem Namen die Jahressteuer der Dinggemeinde des Ambergaus einzutreiben und jeden Widerstand dagegen zu bestrafen. Nichts anderes meinte Otto I., als er seinen Fiskus aus der Grafschaft Chur cum districtione iusta ad eundem fiscum inquirendum . . . cum omni integritate ac legitima inquisitione veräußerte (DO. I. 139). Rechtmäßiger Zwang und Inquisitionsrecht waren Königsrechte, die einst nur dem Grafen übertragen worden waren. Es ist also nicht richtig zu sagen, der König habe dem Stift Gandersheim den Königsbann und den Widderzins verliehen (H. Goetting 1973 S. 269), weil so der Bann als eine besondere Herrschaftsmacht erscheint, die den Ambergau zu einem der Grafschaft entzogenen Banngebiet gemacht hätte, darin „freie Bauern“ saßen, „die dem König unmittelbar untertan“ und seinem Schutze besonders verpflichtet gewesen wären (A. Waas 1938 S. 86). Diese Annahme beruht insofern auf einem Schlusse e silentio, als sie es nicht für Zufall, sondern für bedeutsam hält, daß wir nichts darüber erfahren, ob etwa dem grafschaftlichen Fiskus entsprechende Einkünfte auch aus den anderen Dingbezirken zustanden, die gleich dem Ambergau der gräflichen Dinggenossenschaft angehörten. Der Königsbann, der seit 1009 der Äbtissin zu Gandersheim zustand, war seinem Gegenstande nach ein ebenso spezieller Bann, wie es andernorts der Wildbann (oben: § 292) war, und ebenso wenig wie dieser stellte ein solcher Fiskalbann den Bestand der Grafschaft in Frage. Es gibt keinen Grund für die Annahme, die Freiheit der Ambergauleute und ihr Gerichtsstand vor dem Grafengericht seien in irgendeiner Weise davon berührt worden, daß sie die dem Könige geschuldeten Widder nicht mehr nach Königsdahlum, sondern nach Hildesheim oder Gandersheim zu treiben hatten. In der Tat ist die Grafschaft von der Neuordnung des Fiskus Königsdahlum so wenig betroffen worden, daß sie im Jahre 1021 für sich selbst zum Gegenstande
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einer königlichen Schenkung taugte. Denn in diesem Jahre übertrug Kaiser Heinrich II. dem Stift Gandersheim talem comitatum qualem Boto comes ex imperiali nostro tenuit munere, infra hos quippe pagos, die wir bereits kennen, als dem Flenithi mit seinen sechs Untergauen, dem Suilberi und dem Ambergau (statt des Aringon? MGH. DH. II. 444). Das Stift wird den Stiftsvogt mit der Wahrnahme der Grafenrechte beauftragt und ihn zu diesem Zwecke dem Kaiser zum Empfang des Grafenbannes und den Gauleuten zur Annehmung präsentiert haben. Seit 1134 nennen uns die Quellen Namen dieser Vogt-Grafen und der von ihnen eingesetzten Vize- oder Lehnsgrafen. Als letzte erscheinen die Grafen von Wernigerode zu 1225 als comites de Amberga. Erst nachdem die Äbtissin im Jahre 1259 die Stiftsvogtei dem Herzog von Braunschweig und Lüneburg übertragen hatte, sind ihre Grafschaftsrechte in der Landeshoheit des Welfenhauses aufgegangen (H. Goetting 1973 S. 270 f.). Ihr gegenüber hatten sich nun die Dinggemeinden als Freiengerichte (ebd. S. 264, 270. E. Molitor 1943 S. 314 f.) oder als Gogerichte (oben: § 283) zu behaupten. § 306. Daß die freien Leute dem Fiskus ihrer Grafschaft zu Handen des Königs direkte und indirekte Steuern, censum et vectigalia, schuldeten, ist uns auch anderweitig bezeugt. So bestimmte Kaiser Heinrich III. im Jahre 1043, daß alle freien Bewohner des Eisacktals, die zum Bistum Brixen gehörten, omnes liberi in valle Norica residentes ad episcopatum . . . pertinentes, niemandem Zins und Steuer entrichten und keinerlei Gerichtszwang unterliegen sollten, nulli censum aut vectigalia persolvent aut aliquo publico districtui subiaceant (MGH. DH. III. 109). Wie diese Verfügung zu interpretieren ist, ergibt sich aus der Arenga des Diploms, denn da heißt es, der König erwerbe sich die Liebe und Treue seiner Getreuen, fideles, indem er ihnen Wohltaten erweise und sie dieselben annähmen, denn wenn er ihren Willen und ihre Bitten erfülle, so ermuntere er sie damit zu um so eifrigerer Königstreue. Der Kaiser erfüllte also eine Forderung, die die freien Leute aus gemeinem Willen erhoben hatten und die sie dem Kaiser durch ihren Bischof Poppo und durch den Markgrafen Ekkehard (II. von Meißen) vortragen ließen. Die Erfüllung des Gesuchs aber gab der Kaiser der fidelium universitas, dem Gesamtverbande seiner Getreuen, bekannt, innerhalb dessen wir uns die Gemeinde der Freien im Nuritale als einen Partikularverband zu denken haben. Ihnen als den Begünstigten dürfte die Reichskanzlei daher auch das Diplom ausgehändigt haben. So mag es sich erklären, daß die Ausfertigung nicht erhalten geblieben, sondern nur eine Abschrift in dem Stiftskopiar des 14. Jahrhunderts überliefert ist. Die Urkunde ist demnach zweifellos nach Maßgabe des oben (§ 230) erörterten Spuriums DH. II. 532 zu erklären: Der König nahm die (Leute der) Talgemeinde derart in seinen Schutz, daß nur er oder sein vollmächtiger Bote etwas von ihnen fordern und sie nur ihm mit Gerichtsfolge, Zinsen und Steuern dienen sollten, aber kein Herzog, Markgraf, Graf oder gräflicher Exaktor ihnen zu gebieten habe. Damit gingen das Landgericht und der grafschaftliche Fiskus in die Selbstverwaltung der Talgemeinde über, die sich gewiß keinen besseren Königsboten erkiesen konnte als den Bischof von Brixen, dessen Kirche sie bereits jetzt zugehörten und der
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ihrer Königsunmittelbarkeit weit weniger abträglich sein würde als der ungenannt bleibende Graf, dem sie bisher zu folgen und zu dienen hatten. Mit Recht hat man gesagt, wenn in dieser Weise über Freie verfügt werde, so könne es sich nicht um eine Handvoll Adliger, sondern nur um eine breitere bäuerliche Schicht freier, an keinen Grund- oder Leibherrn gebundener Leute gehandelt haben (O. Stolz 1943 S. 174). Gleichwohl ist auch von diesen Freien, deren Königsunmittelbarkeit die Arenga so wortreich darstellt, behauptet worden, wegen der ihnen auferlegten Pflichten und weil sie vom König an den Bischof gekommen seien, sei ihre Freiheit eine vermeintliche (daher nur in Anführungsstrichen nennbare): Es könne sich nicht um Altfreie gehandelt haben (Th. Mayer 1943 S. 14). Gemeint ist offenbar, daß nur solche Freie, deren Freiheit auf königlichem Privileg beruhe und daher widerruflich gewesen sei, auf diese Weise hätten mit Abgaben belegt und diese einer Kirche geschenkt werden können. Aber der Text des Diploms erheischt die umgekehrte Erklärung: Nur weil die Talleute Altfreie und durch ihre Worthalter an Königswahl und Reichsregierung beteiligt waren, hatten sie auch als Grafschaftsleute, die sie bis zum Jahre 1043 gewesen waren, Königsdienst geleistet, sich dem Bischof als königlichem Amtmann ergeben und ihn zum Herrn annehmen und sich schließlich als Petenten an den König wenden können, um ihre Exemtion von der Grafschaft zu erreichen. In anderen Teilen Tirols, wo die Altfreien immer pagenses blieben, gab es noch im Jahre 1276 „Güter, die freies Eigen heißen und dem Grafen nach dem Rechte der Grafschaft und Landesherrschaft in besonderer Weise zugehören“: als Güter nämlich derjenigen Leute, die der gräflichen Gewalt ohne die Zwischenstelle eines Grundherrn untergeordnet waren (O. Stolz 1943 S. 176).
§§ 307 – 310. Grafschaftlicher Reichsdienst II. Gerichtsfolge und Schöffengericht § 307. Ungleich nachhaltiger als Heerfolge und Steuerpflicht hat die Gerichtsfolge, die alle freien Hausherren und grafschaftlichen Dinggenossen ihrem Könige und dessen Amtmann schuldeten, ihre Spuren in der Verfassungsgeschichte hinterlassen. Die Bereitschaft der Freien, diese Pflicht zu übernehmen und durch ihre Worthalter dem Könige bei dessen Erhebung die notwendigen Vollmachten zu erteilen, entsprang der tiefen Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, die schon in vorstaatlichen Zeiten die Gemeinden zu einem Verhalten bewogen hatte, welches streitende Genossen dazu nötigte, sich zu versöhnen und Blutfehden durch Bußzahlungen aus der Welt zu schaffen (oben: §§ 106, 107). Da sich aber Germanen nur im Kriegsfalle Häupter erkoren und mit Gewalt über Leben und Tod der Einzelnen ausstatteten, während in Friedenszeiten ihre Ersten lediglich als Kenner des Rechtes Streitigkeiten zu dämpfen vermochten (inter suos ius dicunt controversiasque minuunt: Caesar, Bellum Gallicum 6, 23), hatte es des römischen Vorbildes und der christlichen Lehre bedurft, damit die Franken, nachdem sie Gallien er-
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obert, auch im Frieden Könige über sich setzten und ihnen erlaubten, sich der Wahrung des inneren Friedens anzunehmen. Schon die Merowingerkönige hatten daher allgemeine Friedensgebote erlassen und die Gerichtsgemeinden dazu auffordern können, ihrer passiven Haltung gegenüber Friedensbrechern zu entsagen und beklagte Täter mit blutigen Strafen zu belegen oder zur Sühne zu zwingen (oben: § 108), während die Volksrechte der Franken die Aufgabe der Gemeinden weiterhin darauf beschränkten, als neutrale Sühnemittler den Parteien den Weg des Rechtes aufzuzeigen (oben: §§ 53, 68, 70). So ging aus dem Zusammenwirken des Königs mit den Gerichtsgemeinden die dinggenossenschaftliche Form der Justiz (oben: §§ 172, 202) hervor, die im deutschen Mittelalter von aller Rechtspflege eingehalten worden ist. Da der König, vertreten durch den von der Dinggenossenschaft als Haupt angenommenen Grafen, stets in den Volksversammlungen anwesend war, sofern sie als Gerichte anerkannt sein sollten, und dort seinen politischen Willen zur Geltung brachte, vollzog sich nun der Übergang von dem alten Verfahren der Fehdesühne zur öffentlichen Gerichtsbarkeit in dem Maße, wie sich die Grafengerichte von der Friedensbereitschaft der Parteien unabhängig zu machen und um des Gemeinwohls willen ihre Urteile auch gegen den Willen der Parteien zu vollstrecken begannen. Die Macht dazu gab ihnen die Pflicht zur Gerichtsfolge, die jeder freie Mann dem Grafen wider den Ungehorsam eines Genossen leisten mußte. Je größer aber der Erfolg, mit dem dies geschah, um so mehr kräftigte sich wiederum die Position des Königs und seiner Grafen (F. Beyerle 1915. J. Weitzel in LMA 7 Sp. 1514), die in den Privaturkunden des 9. Jahrhunderts, wie wir sahen, nur erst schattenhaft in Erscheinung trat. § 308. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Rechtssprachgeschichte wider. Denn die lat.-ahd. Übersetzungsgleichungen zeigen, daß noch der Karolingerzeit die Vorstellung von einer Rechtspflege fehlte, die als Richten Aufgabe von Richtern und Gerichten gewesen wäre (G. Köbler 1970 S. 58). Lat. iudicare wurde nämlich im Ostfränkischen und As. in der Regel mit tuomen = meinen, behaupten, im Bayerischen und Alamannischen mit sonan = stillmachen, zum Stillstande bringen, im Fränkischen daneben auch mit teilen oder urteilen, entsprechend lat. iudex mit ahd. / as. tuomo, soneo, Urteiler wiedergegeben. Die Wortgruppe richten, Richter, Gericht tritt dagegen erst um die Jahrtausendwende bei Notker in St. Gallen als Äquivalent zu lat. iudicare, iudex, iudicium auf, und da stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die schließlich im Mhd. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts die ahd. Worte, ausgenommen das Verbum urteilen, völlig verdrängte (ebd. S. 72 – 108). In der Karolingerzeit finden wir das Verbum richten nicht als Äquivalent zu lat. iudicare, sondern zu regere, dirigere oder corrigere, und häufig ist auch ahd. rihtari = lat. rector belegt. Stets handelt es sich darum, daß ein Einzelner als Vorgesetzter nach feststehenden Regeln, nämlich den christlichen Geboten, seine Untertanen auf den rechten Weg wies. Tat dies der König, so handelte er nach dem Vorbilde des Bischofs, dem eine potestas corrigendi secundum ordinem canoni-
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cam gegeben war. War aber solches Richten bestimmt durch die Bindung an feste, für alle Beteiligten unstreitig gegebene Gesetze, so konnte vor dem Richter stets nur der Sachverhalt streitig sein – eine Vorstellung antik-christlichen Ursprungs, die den germanischen Volksrechten ganz fremd war (ebd. S. 108 f.). Für sie setzte Streitschlichtung vielmehr voraus, daß eben die Rechtsfrage zweifelhaft war, daher allererst die richtige Norm für die Entscheidung gefunden werden mußte. Dies aber war nicht Aufgabe des Königs oder Grafen, sondern Sache der Gerichtsgemeinde, an deren Rechtsmeinung der Richter gebunden war, wenn er anschließend den Parteien gebot, gemäß dem Urteil Frieden zu halten. Umgekehrt war es nicht des Amtes von Urteilsfindern, jemanden zur Einhaltung des Gesetzes zu zwingen. Was ihnen oblag, war vielmehr, das im Einzelfalle anwendbare Gesetz zu erkennen. Wenn also seit dem 11. Jahrhundert an die Stelle der karolingischen Gleichungen iudicium = tuom, sona, Urteil und correctio = Gericht die beiden neuen Gleichungen iudicium = Gericht und sententia = Urteil traten, und wenn iudicium nun auch die örtliche Bedeutung annahm, die einst lat. placitum, conventus, concilium und ahd. ding oder mal (mallus) gehabt hatten (ebd. S. 112), so kommt darin die Aufwertung des Gerichtshalters gegenüber der Gemeinde, der vollziehenden gegenüber der rechtweisenden Gewalt zum Ausdruck, die das karolingische Königtum mit seiner Landfriedens- und Verfassungspolitik eingeleitet hatte, als es sich nach kirchlichem Vorbilde der Aufgabe annahm, in Vertretung Gottes jeden Verstoß gegen das als göttlich gedachte irdische Gesetz ebenso gerecht wie unnachsichtig wieder geradezurichten. § 309. Wie sehr die Landfriedenspolitik der Karolinger die Stellung des Königtums befestigte, ist daran zu erkennen, daß König Karl der Große insofern an die Stelle der Gemeinden trat, als ihm das Friedensgeld überlassen blieb, welches zuvor die Gemeinden als Anteil an der dem Bluträcher oder Geschädigten zustehenden Buße von den Missetätern gefordert hatten (oben: §§ 109, 110, 300a). Die königliche Politik bedeutete allerdings auch eine zunehmende Belastung der freien Männer, da sich die Hausväter häufiger als in alten Zeiten und schließlich alle vierzehn Tage einmal zum Gericht versammeln mußten. Vermehrt um die Heerfolge, führte diese Belastung dazu, daß sich die Edelinge in potentes, die ihr gewachsen waren, und in pauperes schieden, die darüber ihre Hauswirtschaft vernachlässigten und so ihre Existenz gefährdeten (oben: §§ 121 – 123). Um diesen Übeln abzuhelfen, bestimmte König Karl in Kapitelgesetzen, deren Datum und Wortlaut nicht überliefert ist (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 404 – 407. H. Hirsch 1922 S. 191 – 193. R. Schröder / E. von Künßberg 1932 S. 179 – 181. F. L. Ganshof 1965 S. 399 – 402), wohl zunächst, daß die Grafen die Sühnemittler oder Rachinburgen, die sie bis dahin von Fall zu Fall aus (den boni homines) der versammelten Dinggenossenschaft besonders ausgewählt hatten, durch sieben ständige, ein für allemal er- oder benannte und zu diesem Amte besonders gut geeignete Urteilsweiser ersetzen sollten. Für diese Kenner des Rechts, die mit ihrem
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Urteil nicht nur für diesmal zwischen zwei Parteien Frieden und Ordnung, sondern auch für immer und zwischen allen Dinggenossen geltendes Recht schaffen sollten (J. Weitzel 1985 S. 112 f., 475, 694, 786, 798 – 802), verbreitete sich zwischen 770 und 780 allgemein die vorher nicht nachweisbare Bezeichnung scabinus oder Schöffe. Die vornehmste Aufgabe der Schöffen bestand darin, gerecht zu urteilen. In einem seiner frühen Kapitularien, der „Allgemeinen Ermahnung“ von 789, die er „in der friedebringenden Absicht eines frommen Gemütes gemeinsam mit unseren Beratern, den Bischöfen,“ abgefaßt hatte, leitete Karl diese Pflicht aus dem Willen Gottes und der Heiligen Schrift her: „Wem die richterliche Gewalt gegeben ist, der soll gerecht urteilen, wie es geschrieben steht: ,Richtet gerecht, ihr Menschenkinder‘, ohne Geschenke zu fordern, ,denn Geschenke machen die Herzen der Weisesten blind und bringen die Sache derer zu Fall, die im Recht sind‘, ohne Schmeichelei und Ansehen der Person, wie es im Deuteronomium heißt: ,Urteilet, wie es gerecht ist, mag der Kläger Dinggenosse (civis) sein oder Fremder; die Personen dürfen keinen Unterschied machen, denn das Urteil ist Gottes Sache‘. Zuerst muß deshalb der Urteiler (iudex) sorgfältig das Gesetz erlernen, das dem Volke von weisen Männern gegeben worden ist, damit er nicht aus Unwissenheit vom Pfade der Wahrheit abweiche, und wenn er das gerechte Urteil erkannt hat, sehe er zu, daß er weder um etlicher Schmeichler willen noch aus Liebe zu einem Freunde, weder aus Furcht vor den Mächtigen noch einer Belohnung halber von dem geraden Urteil abweiche. Wir halten es für eine Pflicht des Anstandes, daß die Urteiler nüchtern seien, wenn sie Klagen anhören und darüber entscheiden“ (MGH. Capit. 1, 52 n. 22 c. 63). Später, als der Kaiser darauf bedacht war, nach dem Beispiele seiner römischen Amtsvorgänger das aufgeschriebene Recht nach Kräften zu mehren, ordnete er ferner an, „daß die Urteiler nach dem geschriebenen Gesetze richtig urteilen sollen und nicht nach persönlichem Ermessen“ (ebd. 1, 91 n. 33 c. 26. F. L. Ganshof 1965 S. 402). Es ist anzunehmen, daß die Texte der Volksrechte, deren Sammlung und Niederschrift der Kaiser veranlaßte, weite Verbreitung gefunden haben. Seine eigenen Gesetze ließ Karl durch Versendung von Abschriften und deren öffentliche Verlesung im ganzen Reiche bekanntmachen, und wenn die Richter in jedem Falle zu prüfen hatten, ob ein Übeltäter unwissentlich oder aus bösem Vorsatz oder gar in spitzfindiger Auslegung des Gesetzes das Recht gebrochen habe, so setzt diese Bestimmung ebenfalls voraus, daß das (aufgezeichnete) Recht auch unter Laien weithin bekannt war (W. Hartmann 1992 S. 2 f., 7 – 9, 11). § 310. Des weiteren verfügte der König in Fürsorge für die bäuerlich lebenden Freien von geringer Wirtschaftskraft, daß die Zahl der Gerichtstage, denen alle freien Gerichtsleute Folge leisten mußten, auf drei Termine im Jahre begrenzt werden sollte. Diese Versammlungen fanden alsbald an festgelegten Jahrestagen statt, zu denen der Graf nicht mehr ausdrücklich einzuladen brauchte. Sie sollten nicht länger als drei Tage dauern. Man bezeichnete sie als placitum generale, commune
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oder publicum, als concilium, conventus publicus, als mallus oder mallus publicus; der Ausdruck mallus legitimus oder placitum legitimum, annuum, maius, zu deutsch echtes oder ungebotenes Ding, war im 9. Jahrhundert noch kaum in Gebrauch, wurde aber später allgemein üblich (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 370 A. 1, Bd. 8 S. 47 f.). Waren wegen der für das streitige Verfahren vorgeschriebenen Fristen weitere Termine nötig, so setzte der Richter solche als gebotene Dinge über sechs Wochen oder vierzig Tage nach Bedarf an. Zu ihnen brauchte aber nur noch zu erscheinen, wer dort als Kläger, Beklagter, Zeuge oder Schöffe etwas zu verrichten hatte. Alle anderen Dinggenossen waren hier von der Gerichtsfolge befreit (ebd. Bd. 4 S. 383, Bd. 8 S. 52). Da jede Grafschaft mehrere Dingstühle oder Gerichtsstätten, malli, umfaßte (oben: § 281) und der Graf an jeder derselben fortwährend Gericht zu halten hatte, konnte eine und dieselbe Sache in verschiedenen Terminen an verschiedenen Orten verhandelt werden, denn das Gericht des Grafen bezog sich immer auf die ganze Grafschaft, nicht nur auf den partikularen Dingverband oder Dingbezirk, an dessen Malstatt es sich versammelte. Die echten Dinge waren daher vermutlich Gauversammlungen, wo auch immer sie stattfanden; was dort getan und gesagt wurde, das gescheh noch im Jahre 1045 comite Hermanno, Adolfi filio, in loco qui nominatur Rechne cum provincialibus placitum habente (Lac. UB 1, 112 n. 181), noch 1118 vor dem Grafen, der die Tradition eines Gutes regio banno confirmavit in quodam placito, ubi omnes sui comitatus homines auditores et testes erant (Erhard C. d. 1, 143 n. 185), noch 1144 vor dem Grafen, qui omnes liberos comitatus sui utpote ad diem legitimum liberi consilii adunaverat, ut cum eis et per eos quod facturum erat firmissime faceret (Erhard C. d. 2, 38 n. 249. G. Waitz Bd. 4 S. 373 – 376, Bd. 8 S. 52 – 55. Unten: § 591). Wie die Freien oder Landesleute, so gehörten die Schöffen nicht den partikularen Dingverbänden, Goen, Zentenen, sondern der ganzen Grafschaft an; insofern konnten sie sehr wohl als Schöffen des Grafen bezeichnet werden (G. Waitz Bd. 4 S. 395, Bd. 8 S. 57), obwohl sie natürlich Worthalter der grafschaftlichen Dinggenossenschaft waren und blieben: Denn seit es ihres Amtes war, das Urteil zu finden, verloren die Gerichtshalter: Grafen, Zentenare, Schultheißen und schließlich auch der König, das Recht, daran mitzuwirken und auf die Erkenntnis des Rechts Einfluß zu nehmen. Aus der zentralen Funktion der Rechtspflege verdrängt, sahen sie sich auf die Rolle des Gerichtsherrn beschränkt, dessen Amtes es lediglich noch war, das Verfahren zu leiten, die von den Schöffen erkannten Urteile rechtskräftig zu machen und die Vollstreckung zu überwachen, während die Schöffen im Verhältnis zum Umstande, d. h. zu dem im Kreise um Richterstuhl und Schöffenbank herumstehenden Dinggenossen, lediglich Ersturteiler waren, deren Erkenntnis derart des Beifalls, der Bestätigung und Bekräftigung durch alle Dinggenossen bedurfte, daß jeder einzelne von ihnen das Recht behielt, den Schöffen sein Folgeurteil zu verweigern und ihren Spruch anzufechten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 407, Bd. 8 S. 60 f. J. Weitzel in LMA 7 Sp. 1515. F. Battenberg in HRG 4 Sp. 1463).
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Gemäß den Regeln identischer Willensbildung mußte jedes Urteil einstimmig ausgesprochen werden. Die Einhelligkeit war gegeben, wenn niemand, weder Schöffe noch Dinggenosse, dem gefundenen Weistum widersprach (oben: § 26). Es war dies so selbstverständlich, daß die Quellen darüber kaum jemals reden, und wenn sie einmal erwähnen, daß die Schöffen unanimiter judicaverunt, so ergibt sich daraus allein natürlich mit Sicherheit weder, ob dies erforderlich (G. Waitz Bd. 4 S. 401 f.), noch ob damit auch die möglicherweise stillschweigend erteilte Zustimmung des Dingvolkes gemeint war, in dessen Namen die Schöffen handelten. Zweifelhaft kann uns gleichwohl weder das eine noch das andere sein.
Neuntes Kapitel
Die Grafschaft im Reiche §§ 311 – 318. Königliches und völkisches Amtsrecht § 311. Unter den Gesichtspunkten, die sich aus unserer Kenntnis des Identitätssystems ergeben, ist auch die Bestallung der Schöffen zu betrachten. Die älteste mir bekannte Ordnung für diesen Gegenstand entstammt dem Jahre 1171. Aus früheren Zeiten liegen nur einige Weisungen vor, welche die Kaiser Karl, Ludwig und Lothar in den Jahren 803 bis 832 an ihre Königsboten richteten und die daher im wesentlichen den Anteil beleuchten, den der fränkische König an der Bestallung beanspruchte. Sie lauten folgendermaßen: – MGH. Capit. 1, 114 n. 40 (Cap. missorum 803) c. 3: ut missi nostri scabinios advocatos notarios per singula loca elegant et eorum nomina, quando reversi fuerint, secum scripta deferant. – Ebd. 1, 147 n. 61 (Cap. Aquisgranense 809) c. 11: ut iudices advocati praepositi centenarii scabinii, quales meliores inveniri possunt et Deum timentes, constituantur ad sua ministeria exercenda. – Ebd. 1, 149 n. 62 (Cap. missorum 809) c. 22: ut vicedomini praepositi advocati (centenarii scabinei) boni et veraces et mansueti cum comite et populo eligentur (et constituantur ad sua ministeria exercenda). – Die eingeklammerten Worte sind nur in zwei von fünf Handschriften enthalten. – Ebd. 2, 14 n. 192 (Cap. missorum Wormatiense 829) c. 2: ut missi nostri, ubicumque malos scabinos inveniunt, eiciant et totius populi consensu in locum eorum bonos eligant; et cum electi fuerint, iurare faciant, ut scienter iniuste iudicare non debeant; c. 4: Volumus ut quicumque de scabinis deprehensus fuerit propter munera aut propter amicitiam vel inimicitiam iniuste iudicasse, ut per fideiussores missus ad presentiam nostram veniat. De cetero omnibus scabinis denuntietur, ne quis deinceps etiam iustum iudicium vendere presumat. – Ebd. 2, 63 n. 202 (Cap. missorum italicum 832) c. 5: De iudicibus inquiratur, si nobiles et sapientes et Deum timentes constituti sunt; iurent, ut iuxta suam intelligentiam recte iudicent et pro muneribus vel humana gratia iustitiam non pervertant nec differant et, quod iudicaverint, confirmare sua subscriptione non dissimulent. Ubi autem tales non sunt, a missis nostris constituantur et idem sacramentum facere cogantur; quodsi viles personae et minus idoneae ad hoc constitutae sunt, reiciantur. Similiter et notarii . . .
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1. Teil: Die Gemeinden
Demnach wiesen die Kaiser ihren Boten im wesentlichen zwei Aufgaben zu, nämlich erstens das Auslesen, eligere, der am besten für das Amt geeigneten Personen und zweitens deren Bestallung. § 312. Was die Auslese anlangt, so trugen sie dieses Geschäft nur einmal den Boten selber auf, ut . . . elegant (Jahr 803); wenn es dagegen heißt: ut . . . scabini . . . cum comite et populo eligentur (J. 809), so sind gewiß die Königsboten als inneres Subjekt zu dem ins Passiv gesetzten Verbum zu ergänzen, aber welcher Anteil im einzelnen ihnen, dem Grafen und dem Dingvolk an der Kur zukam oder zukommen sollte, das blieb offen und war zweifellos unerheblich, wenn, wie wir annehmen, die Kur nur bei Einhelligkeit aller Versammelten gelang, nämlich eben dann, wenn die Boten totius populi consensu (J. 829) koren. Die Kapitularien von 829 und 832 scheinen vorauszusetzen, daß die Missi bereits amtierende Schöffen vorfanden und nur insoweit zur Kur schreiten sollten, als sie der Korruption überführte Schöffen hatten absetzen müssen; es bleibt demnach eine Möglichkeit, daß derart abgesetzte Schöffen zuvor ohne Mitwirkung von Königsboten allein vom Grafen und dessen Dinggenossen erkoren und bestallt worden seien. Daß der König den Dingvölkern die freie Wahl gestattete und sie lediglich zu gewissenhafter Kur ihrer Schöffen anleiten wollte, könnte man auch aus der Satzung von 809 herauslesen. Nur die bei erfolgreicher Kur vorausgesetzte und gewiß erst nach öffentlicher Diskussion (oben: § 227) erreichte Einmütigkeit aller Beteiligten macht es verständlich, daß die Kaiser und ihre Notare Formulierungen treffen konnten, die es nach heutigem Verständnis an Eindeutigkeit fehlen lassen. Schwerlich hätten die Missi einer Grafschaft Schöffen oktroyieren können, die das Dingvolk anzunehmen nicht bereit war. In jedem Falle konnte die Auslese nur per singula loca, also in den einzelnen Grafschaften, stattfinden, die die Königsboten regelmäßig zu besuchen hatten, wie ja auch die geeigneten Personen nur in den jeweiligen Dinggenossenschaften gefunden werden konnten. So hatten diese zumindest eine Vorauswahl unter ihren proceres und meliores zu treffen, denn woher hätten die Missi die Personalkenntnisse nehmen sollen, deren es bedurfte, um aus ihnen die besonders gottesfürchtigen, wahrhaftigen, friedliebenden, edlen und weisen auszulesen? Geeignet waren gewiß nur Reiche, die weniger leicht als viles personae (J. 832) käuflich waren, unter ihnen aber nur solche, die in besonderem Maße rechtskundig waren, weil ihre Väter sie das Volksrecht und die lokalen Rechtsverhältnisse hatten auswendig lernen lassen (oben: §§ 52, 53), wozu nicht wohl jeder freie Bauer, sondern nur diejenigen imstande waren, deren Reichtum ihnen das Maß an Muße und Abkömmlichkeit gewährte, dessen es bedurfte, um lernen und als Zeuge aller wichtigen Rechtsgeschäfte (oben: § 297) beständig in der Grafschaft herumreisen zu können. Auf die mit Prüfung der Idoneität verbundene Auslese sollten die Missi die Vereidigung (J. 829), die Einsetzung in das Amt, constituere ad ministerium (J. 809, 832), und die Verzeichnung der Namen zuhanden des Königs (J. 803) folgen las-
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sen. Wieder läßt der Wortlaut der Gesetze die Frage offen, ob die Missi Vereidigung und Bestallung selbst ausführen (J. 829, 832) oder sie durch die Grafschaft vornehmen lassen sollten (J. 809, 832), und ob die Vereidigung der Bestallung vorausging oder ihr nachfolgte (J. 832). Da der Eid die drei Amtspflichten der Schöffen bestimmte, nämlich nach bestem Wissen zu urteilen, jede Korruption zu meiden und kein Verfahren zu verschleppen (J. 829, 832. R. Scheyhing 1960 S. 6 – 18. L. Kolmer 1989 S. 111 f.), sollte man annehmen, daß die Schöffen ihn vor der Bestallung oder Einweisung in ihre Stellen auf der Richterbank ablegen mußten. Da beides öffentlich vor den versammelten Dinggenossen vor sich gegangen und von der Dinggemeinde sei es stillschweigend und ohne Widerspruch, sei es durch Beifall und Zuruf gutgeheißen worden sein muß, ist es verständlich, daß die kaiserlichen Anweisungen an die Missi weder die Einzelheiten zu regeln noch gar die Frage zu beantworten brauchten, ob die Schöffen ihre Amtsvollmacht durch die Missi vom Könige oder durch die versammelten pagenses von der Grafschaft empfingen. Ebenso unbestimmt blieb die Zahl der Edlen, die zum Schöffendienste zuzulassen waren; es mochten mehr sein als die (mindestens?) sieben, die regelmäßig auf den Dingversammlungen anwesend sein sollten. § 313. Den angeführten Kapitularien ist demnach der Wille des fränkischen Königtums zu entnehmen, bei Einführung der Schöffenverfassung den Grafen ein Zusammenwirken des Dingvolkes mit dem Herrscher vorzuschreiben, wie es von der Verfassung herrschaftlicher Genossenschaften ganz allgemein erfordert wurde und daher bei der Bestallung königlicher Amtleute überhaupt beobachtet werden mußte. Denn nicht nur für Schöffen sollte es gelten, sondern für das gesamte Gerichtspersonal, nämlich für Gerichtsschreiber (O. Redlich 1911 S. 64. H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 592, Bd. 2 S. 179 mit Anm. 3. F. Bougard 1995 S. 67. Oben: §§ 228, 277, 298), Vögte (Fürsprecher), Vitztume, Prévôts und Zentenare. Wie noch des näheren zu zeigen sein wird (unten: Sechzehntes Kapitel), folgte man denselben Regeln, wenn es um die Bestallung der Gerichtsherren ging, und das waren nicht nur der König und die Grafen, sondern auch Herzöge, Bischöfe und Reichsäbte, kurzum alle Personen, die seit dem 10. Jahrhundert den Reichsfürstenstand ausmachten. Die Regeln werden uns hier zum ersten Male erkennbar: Die karolingischen Schöffeneide stellen „das erste einwandfreie Zeugnis einer nicht vom römischen Recht beeinflußten Beamtenernennungsform dar“ (R. Scheyhing 1960 S. 22), und deren Kennzeichen war das Zusammenwirken des Königtums mit dem Untertanenverbande. Weder die (als Wahl interpretierbare) Benennung oder Präsentation von Seiten der Untertanen noch die mit der Vereidigung verbundene Bevollmächtigung oder Investitur mit der Amtswürde durch den König reichten jede für sich alleine aus, um rechtmäßig einen Amtmann zu konstituieren, sondern beides mußte zu diesem Zwecke zusammenkommen. Was zunächst die Schöffen und das niedere Gerichtspersonal anlangt, so bestimmte die versammelte Dinggemeinde, die ihre Urteiler-, Zeugen-, Fürsprecher-
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1. Teil: Die Gemeinden
und sonstigen Befugnisse an jenes abtreten sollte, aus ihrer Mitte die Männer, denen sie das dafür notwendige Vertrauen entgegenbrachte. Als Personenvielheit, die nur communi manu handlungsfähig war, konnte sie jedoch ihr Wahlrecht lediglich unter Anleitung ihres königlichen Herrn oder seines Amtmannes ausüben, wie es ja auch der nicht nur vor Gott, sondern auch und in erster Linie vor dem Volke, das ihn über sich erhoben hatte, für Frieden und Recht verantwortliche König war, der die Schöffen in ihr Amt einsetzte, indem er sie durch seine Bevollmächtigten auf die zwar von ihm formulierten, aber vom Volksrechte verlangten Amtspflichten vereidigen ließ und sie mit dem Sitz auf der Schöffenbank bekleidete. Das Erfordernis der Einhelligkeit für alle bei der Bestallung zu fassenden Beschlüsse setzte voraus, daß der König in Übereinstimmung mit dem Willen eines jeden Dingvolkes handelte, und daher war es weder notwendig noch möglich zu bestimmen, ob die Schöffen ihre Amtsvollmacht von ihren geeinten Dinggenossen oder von ihrer aller gemeinsamem obersten Worthalter empfingen. Die gekorenen, vereidigten und bestallten Schöffen sprachen hinfort, wenn sie das Recht erkannten, im Namen und als Worthalter der grafschaftlichen Dinggenossenschaft. § 314. Im Ostfränkischen Reiche mußte bereits König Ludwig um die Mitte des 9. Jahrhunderts die Entsendung von Königsboten in die Grafschaften einstellen, und es ist unklar, wer bei Bestallung der Schöffen an ihre Stelle getreten ist (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 8 S. 58). In Betracht kommen die in den Volksrechtsgebieten oder Regna hervortretenden Herzöge, aber auch die Grafen und die Schöffenkollegien selber, die im Auftrage des Dingvolkes die Aufgabe erfüllten, für freiwerdende Plätze auf der Schöffenbank aus dem Dingvolke geeignete Personen auszuwählen und sie dem Gerichtsherrn zur Vereidigung und Bestallung zu präsentieren (oben: § 264). Der irreführende Begriff der Kooptation für dieses später vom Volke und von den Gerichtsherren allgemein anerkannte Wahlrecht sollte vermieden werden (E. Pitz 2001 S. 231, 433). Wie es oft geschah (oben: § 145), so erleichterten sich auch die Gemeinden und die in ihrem Namen handelnden Wahlgremien ihre vom Streit der Interessenten und vom Aufruhr derer Anhänger überschattete Aufgabe dadurch, daß sie die Eignung zum Amte insbesondere davon herleiteten, daß bereits der Vater ihnen als Schöffe gedient hatte. So entstand der Anschein, als ob das Schöffenamt in bestimmten Familien erblich oder an den erblichen Besitz bestimmter bäuerlicher Grundstücke gebunden sei (oben: § 147). Von diesem Problem redet die bereits erwähnte Schöffenwahlordnung, die Erzbischof Philipp von Köln im Jahre 1171 für die Stadt Andernach verkündete (Keutgen, Urk. S. 12 n. 18). Mag das Schöffengericht dieser Stadt nun aus dem Hofgericht des dortigen Königsgutes oder aus dem Freiengericht eines partikularen gräflichen Dingverbandes oder aus der Vereinigung beider hervorgegangen sein, worauf neben der Verdoppelung der karolingischen Siebenzahl der Schöffen auf vierzehn auch der Umstand hinzudeuten scheint, daß den echten Dingen, legitimis iurisdictionibus, que annuatim coram comite vel advocato ventilantur, sowohl der Graf wie der Vogt vorsitzen konnten: das Dingvolk des Stadtgerichts bestand im
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Jahre 1171 längst nicht mehr aus sei es unfreien, sei es altfreien Bauern, sondern in der Mehrheit aus neufreien Handwerkern und Kaufleuten. Deren Rechtsauffassungen aber deckten sich oft nicht mehr mit denen der Schöffen, die offenbar immer noch bestimmten, nach altem Herkommen allein als schöffenbar geltenden bäuerlichen Geschlechtern entnommen wurden. Im übrigen zeigt die Urkunde, daß das Schöffengericht auch sonst noch den Regeln nachlebte, die bereits die fränkischen Kaiser verkündet hatten, abgesehen davon, daß an deren Stelle der Erzbischof von Köln als Stadt- und Landesherr getreten war und daß dieser seine Entscheidung nicht mehr nach fränkischem Rechte, sondern nach kölnischem Landrecht traf, nämlich mit Rate der versammelten Landstände, deren Willen er mit dem des Landes identifizierte, communicato igitur priorum Coloniensis ecclesie et nobilium terre qui tunc presentes aderant consilio, wie denn auch die Schöffen nach dem Stadtrecht des Landes urteilen sollten: S. matris Colonie aliarumque civitatum nostrarum consuetudines imitantes, in dicendis sententiis iura ipsarum pro iuribus observabunt. Wie früher der Kaiser und König, so war jetzt auch der Landesherr weder Gesetzgeber noch Quelle des Schöffenrechts, sondern lediglich Richter über die Rechtmäßigkeit seiner Anwendung. Dies ergibt sich daraus, daß er nicht motu proprio handelte, sondern auf Antrag der Stadtgemeinde, ex predicte civitatis petitione, und daß sein Diktator die entscheidenden Verben im genus passivum verwandte, um es auf diese Weise offenzulassen, wer die damit beschriebenen, von der Stadt erbetenen oder eingeforderten Rechte begründete und ausübte: Mehr konnte er zugunsten seines Herrn nicht tun. § 315. Die Stadt hatte dem Erzbischof vorgetragen, ihre Schöffen seien seit jeher nicht aus den besten, reichsten und mächtigsten Dinggenossen ausgelesen, electi, sondern aus den geringen und armen angenommen, assumpti, und in ihr Amt eingesetzt worden, ad iura dicenda sunt constituti. Daher seien häufig rechtswidrige Urteile ergangen, weil arme Schöffen es gegenüber den Drohungen mächtiger Parteien kaum einmal wagten, gemäß dem Gesetz das Recht zu weisen. Der Erzbischof stimmte den Petenten zu, daß ein so übles und gefährliches Herkommen reformiert werden müsse, in melius commutandum fore. Daher gestattete oder ließ er zu, indulsimus (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 295), daß vierzehn Schöffen aus den Weisesten, Besten und Mächtigsten ausgelesen werden und der Stadtgemeinde, civitati, das Recht weisen sollten. Offenbar verstört darüber, daß der Gerichtsherr lediglich die Zulässigkeit dessen, was die Dinggenossen tun wollten, zu beurteilen, weiter aber nichts zu sagen hatte, behauptete der Diktator zwar nun, der Erzbischof habe die vierzehn Schöffen zugelassen und der Stadt vorgesetzt, XIV scabinos . . . electos . . . civitati iura dicturos indulsimus et prefecimus, aber sein geschicktes Spiel mit dem A. c. I. verschlägt dagegen, daß er das Verbum indulgere beibehielt, ebensowenig wie die Behauptung, der Stadtherr habe geboten, statuentes, daß ein Schöffe von seinem Amte nur dann zurücktreten dürfe, wenn er den physischen oder den Klostertod starb
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oder schwer erkrankte oder in Armut verfiele. Vergebens sucht der Diktator den Eindruck zu erwecken, daß des Stadtherrn Wille den Bürgern Maß und Norm setzte, denn nirgendwo behauptet er ernsthaft, daß er an der Kur, Vereidigung und Bestallung der Schöffen beteiligt war. Lediglich feststellen läßt er den Stadtherrn ferner, daß die Schöffen geschworen hätten, bei der Rechtsfindung weder auf Drohungen noch auf Belohnungen zu sehen, sondern ohne Arglist allein dem Gesetze und dem Recht der kölnischen Städte zu folgen. Weiter dekretierte der Erzbischof, was doch nur kölnisches, ihm von den versammelten Prioren der Kirche und Großen des Landes gewiesenes Recht gewesen sein kann, daß nämlich die Abwesenheit eines Schöffen die Urteilsfindung nicht hemmen, sondern in Hochgerichtssachen der einhellige Spruch von sieben, in Niedergerichtsfällen von drei oder vier Schöffen für ein gültiges Urteil ausreichen sollte. Schließlich hielt er es für nützlich, perutile duximus, den Schöffen die freie (also vom Willen des Gerichtsherrn unabhängige) Kur zu gestatten, liberam eis electionem concedere, wenn die Stelle eines verstorbenen Schöffen zu besetzen war. Es kann kein Zweifel sein, daß auch dieses altem Andernacher und kölnischem Herkommen entsprach (oben: § 264) und seinen Rechtsgrund nicht im Willen des Stadtherrn, sondern in dem auch ihn bindenden Volks- und Landrecht besaß. Nur das stand in seiner Macht, und damit schließt die Urkunde, einen Schöffen, der aus rechtmäßigem Grunde dem jährlichen echten Ding fernblieb, vor willkürlicher, capitosa, Ahndung durch den Richter zu schützen, sofern er von ihm eine Beurlaubung erkauft hätte. Als Richter werden an dieser Stelle Graf und Vogt genannt, offensichtlich als vom Erzbischof eingesetzte und vom Stadtvolke angenommene Gerichtsherren. Graf und Vogt waren zweifellos auch die Instanz, welche dem neugekorenen Schöffen den Amtseid abnahm. Darüber brauchte die Urkunde ebenso wenig etwas zu sagen wie über die Form, in der sich die Ermächtigung oder Bestallung der Schöffen vollzog, und über manches andere, was wir gerne wüßten, was aber damals nicht strittig war und daher keiner Regelung bedurfte. Gewiß waren die Gerichtsherren nicht mehr dazu befugt, die Eignung des Erkorenen zu prüfen und ihm gegebenenfalls die Bestallung zu verweigern. Die Gemeinde konnte daher der Meinung sein, daß sie die Schöffen nicht nur erwählte, sondern auch bevollmächtigte. Andernfalls hätte sie die Schöffen schwerlich als Kommunalbehörde anerkannt, sobald sich die gemeindliche Selbstverwaltung von der Zuständigkeit der Dingversammlung abspaltete (oben: §§ 234, 250). Fragt man sich, warum die Bürger und Dinggenossen von Andernach überhaupt die von ihnen selbst beschlossene Gerichtsreform dem Erzbischof zur Genehmigung vorlegten, so mag die Antwort sein, sie hätten sich bestätigen lassen wollen, daß sie nach Landrecht verfuhren und daß daher keines der Geschlechter, die bisher die Schöffenbank besetzt hatten, mit einer Klage wegen Entzugs einer Rechtsame beim Landesherrn (und beim Könige?) Gehör finden werde. Die Vollmacht, das eigene Gericht zu reformieren, kam ihnen nicht aus dem Willen oder durch
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Privileg des Königs oder Landesherrn, sondern nach Volksrecht zu. Es scheint nicht nur, sondern es war wirklich so, daß „das Urteileramt nach Gewohnheitsrecht an bestimmte Leute kam und nicht etwa nach freiem Ermessen durch den Gerichtsherrn vergeben wurde“ (H. Vollrath 1982 S. 63). § 316. Es ist die Frage, ob dies auch für die fränkischen Kaiser des 9. Jahrhunderts zutrifft oder ob die angeführten Kapitularien weitergehende Befugnisse in ihren Händen voraussetzen. Denn es ist offensichtlich, daß der Schöffendienst (ebenso wie der Dienst der Grafen, Vögte und Zentenare) nach dem Willen Kaiser Karls ein königliches Amt, ministerium, sein sollte: Was Sühnemittler und Urteilsweiser bis dahin getan hatten, um einer genossenschaftlichen oder volksrechtlichen Pflicht zu genügen, das sollte nun zu einer vom Könige (oder in dessen Auftrage von Königsboten oder vom Grafen) verliehenen Berechtigung und damit zugleich zu einer Pflicht werden, die man dem Könige schuldete (F. L. Ganshof 1965 S. 400. F. Battenberg in HRG 4 Sp. 1464). Wohl nur von diesem Standpunkte aus konnte Kaiser Ludwig im Jahre 829 bestimmen, „daß ein jeglicher Schöffe, dem nachgewiesen wird, wegen einer Gabe oder aus Freundschaft oder Feindschaft unrecht geurteilt zu haben, (für sich) Bürgen stellen und dann fortgeschickt werden und vor unsere Person kommen soll,“ um sich wegen seines Vergehens zu verantworten. Da er selbst darüber richten wollte, betrachtete der Kaiser das Delikt der Rechtsbeugung nicht mehr als Verbrechen am rechtsuchenden Volksgenossen, das es nach Volksrecht war, sondern als Amtspflichtverletzung, die als solche den königlichen Rechtsbereich und die königliche Verantwortung vor Gott berührte. Nur dann aber war der Herrscher imstande, dort für das rechtmäßige Handeln seiner Amtleute einzutreten, wenn sein königliches Amt ihn dazu befugte, die Dienstvergehen seiner amtlichen Vertreter zu bestrafen. Offenbar war Kaiser Ludwig der Ansicht, mit dem Amtseide, den sie ihm leisteten, unterwürfen sich die Schöffen einer amtsrechtlichen Gerichtsbarkeit, wie ja jeder promissorische Eid den Schwörenden dem korrigierenden Gutdünken dessen oder derer zu unterstellen pflegte, die den Eid entgegennahmen. So ist es sehr wahrscheinlich, daß der Kaiser und seine (geistlichen) Berater dem Herrscher die Vollmacht beilegten, von Amts wegen für die königlichen Amtleute neues Recht zu setzen, und daß sie, wenn sie die Amtsdelikte der Schöffen als Bruch des Amtseides auffaßten, eine Lücke im Verfassungsrecht schlossen, die erst mit der Einführung des Schöffendienstes entstanden war, weil die Volksrechte bis dahin dergleichen als besonderen klagbaren Tatbestand gar nicht gekannt, sondern lediglich als Bruch der allgemeinen Untertanenpflicht verfolgt hatten. Wenn es dem Kaiser gelang, für seine Befugnis, Amtsdelikte und ihre Bestrafung zu normieren, allgemeine Anerkennung zu finden, so konnte er die Vereidigung der Schöffen zum Vorteile der königlichen Gewalt als Hebel benutzen, um deren Beschränkung durch das im Volke lebendige Recht insofern zu überwinden, als sich die Amtspflichten nicht länger auf die Volksgenossen und deren Dinggemeinde, sondern nur noch auf den Herrscher bezogen (R. Scheyhing 1960 S. 18 – 22).
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§ 317. Wir werden später die christlich-kirchliche Auffassung vom Herrscheramte, die sich hier äußert, samt dem Verlauf ihrer Rezeption durch die Karolingerkönige ausführlich zu behandeln haben, da sie die Amtsgewalt des Königs nicht mehr von dem Auftrage herleitete, den das Volk seinem Könige erteilte, wenn es ihn erkor und über sich erhob, sondern von dem einen Schöpfergotte, der sich seines Volkes lediglich bediente, um zu offenbaren, welchen Mann er ihm zum Lenker und Zuchtmeister ausersehen habe. Da die Kirchenmänner, welche diese Auffassung verfochten, zugleich die Urheber so gut wie aller uns heute als Erkenntnisquellen vorliegenden Texte waren, tritt sie uns unvergleichlich viel beredter und geschlossener entgegen als die volksrechtliche Auffassung vom Herrscher, und bis heute vermag sie als Kennzeichen des Mittelalters die letztere völlig in den Schatten zu stellen. Selbst für einen so aufmerksamen Beobachter wie Friedrich Keutgen, der den Staatsbegriff jener Zeit als auf die Bildung des Verbandswillens durch „die gemeinsame Tätigkeit in der Volksversammlung, sei es als politische Körperschaft, sei es als Gericht,“ begründet erkannte und sich dessen bewußt war, daß „die Überlassung der Souveränität an die Inhaber der Staatsgewalt . . . als auf Vertrag beruhend gedacht“ ward (F. Keutgen 1918 S. 8, 16) – selbst für einen solchen Beobachter ergab sich dennoch aus der klerikalen Beredsamkeit der Quellen ein „Dualismus der Rechte“ hier des Volkes und dort des Königs als Kennzeichen des germanischen Staates, der es verhinderte, „daß der Herrscher als bloßer Beauftragter des Volkes gilt, als reiner Beamter ohne eigenes Herrenrecht. Fürst und Volk stehen einander ein für allemal als selbständige Träger eigener Rechte gegenüber . . . Ebenso verhält es sich mit den Selbstverwaltungsverbänden“ (ebd. S. 22 f.) Der Denkfehler dieser Ansicht liegt, wie leicht zu erkennen ist, in der Gleichsetzung des Königtums mit der Regierung, wie sie die christliche Staatsauffassung lehrte, während in der mittelalterlichen Wirklichkeit der König gemeinsam mit den Großen, den Worthaltern des Volkes, an deren Rat er gebunden war, das Reich regierte, aber auch in der Auffassung des Herrschaftsvertrages als eines Vertrages unter Gleichen, da ihn doch das Volk diktierte, auch wenn es unter Kontrahierungszwang stand, da es sich nicht der Anarchie ergeben durfte. Aus diesen Denkfehlern resultiert das Scheinproblem eines vom Volkswillen unabhängigen Herrscherrechtes, das uns bereits mehrfach beschäftigt hat (oben: §§ 2, 41, 167b, 270) und weiterhin beschäftigen wird. Das wahre Verhältnis des Königs zum Volke ergibt sich aber daraus, daß sich selbst ein so mächtiger Herrscher wie Kaiser Karl an der Willensbildung des Volkes und der Erweiterung oder Reform völkischen Rechtsdenkens nur insofern beteiligen konnte, als es ihm gelang, seinen königlichen Willen mit dem der Großen und des Volkes, für das sie sprachen, zu identifizieren, daher er niemals in seinem Gewissen so frei war, wie es die Lehre von seiner Verantwortung allein vor Gott behauptete. Stets blieb er durch die Rücksicht auf die Rechtsüberzeugungen seiner Untertanen beschränkt. Kaiser Ludwigs Versuch, die Amtsdelikte der Schöffen zu definieren und vor sein Gericht zu ziehen, konnte daher die Verantwortung der Schöffen gegenüber dem Dingvolke, das sie erkor und dem vom Könige gesetzten
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Gerichtsherrn zur Vereidigung präsentierte, nicht aufheben und fand überdies mit dem Zusammenbruch seiner Autorität im Jahre 830 ein Ende. § 318. Daß Karl der Große mit seinen Kapitelgesetzen die Schöffenverfassung lediglich kraft solcher Identifikation seines königlichen Willens mit dem des Volkes einzuführen vermochte, daß die neue Auffassung des gerichtlichen Urteils, auf der sie beruhte, im Rechtsgefühl des Volkes bereits vorbereitet war und daß daher wegen der Vorteile, die sie den freien Haus- und Grundherren bot, das Schöffeninstitut vom Volke bereitwillig angenommen wurde, das sieht man daran, daß sich das siebenköpfige Schöffenkollegium nicht nur in den Zentenen und Grafschaften, sondern überhaupt als Grundform der Gerichtsverfassung fast über das ganze Ostfränkisch-Deutsche Reich hinweg verbreitet hat. Denn nicht nur die immunitätsgeschützten Gerichte kirchlicher Grundherrschaften (MGH. Const. 1 S. 642 Z. 17, 37), sondern auch die im Zuge des Landesausbaus neu eingerichteten Land-, Hofund Allodialgerichte in Dörfern und Städten bedienten sich seiner als Vorbildes, womit zugleich gesagt ist, daß nicht jedes im Spätmittelalter bezeugte Schöffengericht auf einen karolingischen Dingverband zurückgeführt werden kann (J. Weitzel in LMA 4 Sp. 1515. F. Battenberg in HRG 4 Sp. 1464 – 1466). Nur bei den Friesen und bei den nördlichen Sachsen (E. von Lehe 1926 S. 127) kommt weder der Name der Schöffen noch eine entsprechende Einrichtung vor. Darauf geht der Unterschied zwischen dem Holstenrechte, das so, wie die Lübekker es im Ostseeraume verbreiteten, lediglich Vogtdinge mit urteilendem Umstande kannte, und dem Magdeburger Recht zurück, welches die Schöffenverfassung östlich der Elbe bis nach Schlesien und Polen hin bekanntmachte. Im übrigen aber finden wir im hohen Mittelalter Schöffengerichte nicht nur in den fränkischen Landen von der Schelde bis zum Böhmerwalde, sondern, wenn auch nicht überall – so nicht im Freiburger Stadtrechtskreise – , so doch häufig genug in Schwaben (P. F. Stälin 1882 – 87 S. 152, 328, 333, 728 f.) und in Bayern, wo bereits eine Königsurkunde aus der Mitte des 9. Jahrhunderts (MGH. DLD. 66) ihrer gedenkt, bevor noch die wohl im Jahre 995 auf einem Landtage zu Ranshofen gefaßten Beschlüsse (Const. Ransh.) dem Herzoge die Amts- und Disziplinargewalt über sie beilegten. Noch ein bayerisches Landfriedensgesetz von 1256 ermahnte die Grafen oder Richter, in ihren Grafschaften vier Männer aus dem Dingvolke zu Schöffen zu erwählen (MGH. Const. 2, 596 n. 438 c. 70). Ja, sogar im Königreich Italien, und hier besonders gut verfolgbar in den Gerichtsurkunden, die nördlich der Alpen ganz außer Gebrauch kamen, erreichten die drei ersten karolingischen Kaiser die Annahme des Schöffeninstituts, wenn auch noch während des ganzen 9. Jahrhunderts die Notare das Urteil von der vollen Gerichtsversammlung ausgehen lassen und seine Weisung durch die Schöffen als weniger wichtig darstellen (F. Bougard 1995 S. 24 – 31, 140 – 158). Noch im 13. Jahrhundert haben daher italienische Juristen das Schöffengesetz Kaiser Lothars I. von 832 kommentiert (oben: § 117). Im einzelnen läßt sich die Entwicklung der Schöffengerichte während des 9. bis 12. Jahrhunderts jedoch allenfalls in Italien verfolgen. Was wir hinsichtlich des
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Ostfränkisch-Deutschen Reiches erkennen können, macht jedoch deutlich, wie wenig die königlichen Gebote bewirkten, wenn sie nicht von den Dinggenossenschaften für gut befunden und angenommen wurden. Wo das Volk an den alten Gewohnheiten festhielt, gelang es dem Königtum nicht, gegen seinen Widerstand der neuen Institution zu Ansehen zu verhelfen und die freie Dinggenossenschaft von der Rechtsweisung auszuschließen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 407). Die im völkischen Rechtsbewußtsein fest verankerte Anschauung, daß es ein Vorrecht des freien Mannes sei, persönlich an der Urteilsfindung im Landgericht teilzunehmen, war selbst durch ein wiederholtes Gebot des karolingischen Gesetzgebers nicht ohne weiteres zu beseitigen. So haben im südlichen Sachsen zwar die Grafen- und Freigerichte die Schöffenordnung angenommen, die Nieder- oder Gogerichtsgemeinden aber an der genossenschaftlichen Rechtsfindung festgehalten (G. Landwehr 1964 S. 171 – 174).
§§ 319 – 323. Grafenbann und Königsbann § 319. Höchst problematisch bleibt jeder Versuch zu unterscheiden, welches die Vollmachten waren, die der Graf einerseits von seinem Dingvolke, wenn es ihn zum Haupte annahm und ihm Gehorsam gelobte, und andererseits vom Könige empfing, wenn dieser ihm den Amtseid (oben: § 316) abforderte und ihn zu seinem Worthalter und Stellvertreter gegenüber den Dinggenossen bestellte. Nimmt man die durchschnittliche Amtszeit eines Grafen mit zehn Jahren an und bedenkt man, daß Karls des Großen Untertanenverband in etwa fünfhundert Grafschaften aufgeteilt war (oben: §§ 206, 286), so muß die Bestallung von Grafen zu den alltäglichen Geschäften der Reichsregierung gehört haben. Trotzdem wissen wir nichts über die Formen, welche dabei eingehalten wurden, und fast nichts über die Befugnisse, die der König seinen Grafen übertrug. Ein Nachdenken darüber, was die Bestallung verfassungsrechtlich bedeutete, setzte in der Reichskanzlei nämlich erst am Ende des 11. Jahrhunderts ein, nachdem das Emporstreben der Immunitätsgerichte und der Kirchenvögte, die ihnen vorsaßen (unten: Elftes Kapitel), aber auch der Allodialherrschaften (oben: §§ 136 – 146) begonnen hatte, hier und da die Grafschaftsverfassung und damit die königliche Gerichtshoheit ernstlich zu gefährden (H. Hirsch 1922 S. 134, 182). Weil einst aber der Fortschritt von der fakultativen Sühnevermittlung im Ding der Vizinengemeinden zur Sühne erzwingenden, geordneten Gerichtsbarkeit des Rechtszwanges einer über den Gemeinden stehenden Ordnungs- und Friedensmacht bedurft hatte, die noch dem wildesten, selbst der Gerichtsfolge aller Genossen trotzenden Friedensbrecher überlegen war, so hatte umgekehrt die Anwesenheit der Grafen als Worthalter dieser höchsten Zwangsgewalt in allen Dingbezirken erheblich dazu beigetragen, die Gerichtsbarkeit der Dinggenossenschaften in ein Machtinstrument des Königtums zu verwandeln. Denn im Namen des Königs und so, als ob dieser selbst aus seinem Munde spräche, übte der Graf als Gerichtsherr
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(oben: §§ 308 – 310) Gebotsgewalt und Gerichtszwang gegenüber dem Dingvolke, dessen Schöffen und den Recht brechenden oder suchenden Dinggenossen aus. Was es aber im einzelnen damit auf sich hatte, darüber erfahren wir nach dem Verstummen der Kapitulariengesetzgebung für mehrere Jahrhunderte weiter nichts, als was uns die Königsurkunden über die Vogtgerichtsbarkeit verraten, und wir müssen annehmen, daß, was sich daraus für die Entwicklung der heutzutage sogenannten Bannleihe ergibt, in etwa auf die Grafengerichte übertragen werden kann (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 39 f.), deren Verfassung und Kompetenzen sich anzueignen die Vögte beharrlich bestrebt waren (unten: § 583). § 320. Von Anfang an waren die fränkischen Könige einer von dem spätrömischen Vorbilde abgelesenen zentralistischen und amtsrechtlichen Auffassung der Gerichtsbarkeit gefolgt, die auf unmittelbarer, von keiner herzoglichen Zwischengewalt unterbrochener Beziehung des Königs zu den Grafen und auf gesetzlicher, von den Volksrechten grundsätzlich rezipierter Regelung der Gerichtsverfassung beruhte. So bedurfte es zunächst jenseits der gesetzlichen keiner besonderen Übertragung des königlichen Rechtszwanges auf die Grafen (R. Scheyhing 1960 S. 239 und in LMA 1 Sp. 1414 f., 1420. H. Drüppel in LMA 4 Sp. 1324). Um die Gebots- und Zwangsgewalt des Königs zu bezeichnen, benutzte man aber keine lat. Rechtsworte und Begriffe mehr, sondern den gemeingermanischen, jetzt latinisierten Ausdruck bannum oder bannus regius. Dieser meinte das förmlich oder feierlich ausgesprochene und daher Gehorsam bewirkende, aber auch bei Ungehorsam den Zorn und die Strafe des Königs ankündigende Herrscherwort. Wie alle Begriffe volklicher vorwissenschaftlicher Rechtssprache, so war auch der Begriff des Bannes vieldeutig und in seiner geschichtlichen Entwicklung unberührt von rationaler Reflexion. Im 9. Jahrhundert verstand man darunter offenbar „die Summe aller Zwangs- und Strafrechte, die dem König zustehen“ (H. Hirsch 1922 S. 174, nach A. Waas), jedoch sprach man vom Banne meist mit Einengung auf bestimmte Sachen, in denen der König besondere Befugnisse besaß, wie etwa dem Forstbann (oben: §§ 288 – 290), dem Fiskalbann (oben: § 305), dem Marktbann (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 282) oder dem Burgbann. Der im 9. Jahrhundert wegen der Normannengefahr immer stärker werdende und wegen der Ungarn bis 955 anhaltende Zwang, die Befestigungen der alten Römerstädte links des Rheines instandzusetzen und neue Fluchtburgen anzulegen, führte dazu, daß entweder der König oder als sein Amtmann der Ortsbischof oder der Graf der Region das Landvolk baupflichtig machte und ihm dafür einen Anspruch auf Nutzung der Burg gewährte, wie es in Umrissen die Mauerbauordnung für die Stadt Worms erkennen läßt, die mit größerem Recht dem Bischof Thietelach (891 – 914) als dessen Nachfahren Burchard (1000 – 1025) zugeschrieben wird (Keutgen, Urk. S. 23 n. 31. H. Büttner 1960 S. 395 f. L. Falck 1972 S. 73 – 75). Wenn aber das zur Burg oder Stadt Worms mauerbaupflichtige Volk überhaupt eine besondere Gemeinde außerhalb seiner Grafschaften bildete, so kann dies nur eine herrschaftliche Genossenschaft gewesen sein, die der Bischof kraft einer ihm vom Könige verliehenen Banngewalt schuf. Eine solche findet sich zum ersten Male in
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einer Königsurkunde von etwa 940 für das Reichskloster Corvey (MGH. DO. I. 27) benannt als bannus super homines qui ad prefatum coenobium et ad civitatem circa illud debent constructam confugere et in ea operari. Die Annahme, diese Banngewalt sei von hausherrlicher Muntgewalt des Königs oder Abtes abgespalten (W. Schlesinger 1956 S. 146), ist unhaltbar, denn die Leute wohnten in drei genannten Gaugrafschaften, deren Grafen der König die potestas banni quem burgban vocant ausdrücklich entzog: Wie der Forstbann, so wurde der Burgbann von der Grafengewalt oder vom Grafenbann abgespalten. § 321. Weitaus häufiger als auf die Jagd- oder Befestigungshoheit engte sich der Gebrauch des Königsbanns auf die Friedens- und Gerichtsgewalt ein, die das Volk seinem Könige bei dessen Erhebung und Annehmung durch den Mund der Worthalter seiner lokalen Dingverbände einmütig zu übertragen pflegte. So konnte der König, wenn er selber Gericht hielt, dem Rechtsbrüchigen nach Volksrecht Geldbußen bis zu der für den Königsbann kennzeichnenden Höhe von sechzig Schillingen oder fünf Mark auferlegen, einer horrenden und nur von den Mächtigsten und Reichsten im Lande aufzubringenden Summe, durch die sich ein Mann sogar von der Todesstrafe zu lösen vermochte, der er etwa wegen schweren Rechtsbruchs und Aufruhrs wider den König verfallen war (oben: §§ 106, 107). An dieser Strafund Bußgewalt hatten des Königs bevollmächtigte Amtleute in geringerem Maße Anteil. Unter Vorsitz des Grafen befanden die Volksgerichte auf den drei jährlichen echten Dingen (oben: § 310) über die Hochgerichtsfälle (oben: § 281) unter dem Grafenbann von 15 oder 30 Schilling. Die vom Dingvolke erkorenen (oben: §§ 283, 313) und vermutlich namens des Königs von dem Grafen, den sie vertraten, ermächtigten Niederrichter (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 75 – 77) schließlich sanktionierten die ihnen auf den gebotenen Dingen gewiesenen Urteile bei der für Schultheißen und Zentenare typischen Buße von fünf oder siebeneinhalb Schillingen. Nun war der Königsbann ein übertragbares Recht. Wenn der König ihm dazu die Vollmacht gab, so konnte auch der Graf bei der Strafe des Königsbanns gebieten, so etwa in Wahrnehmung der fiskalischen Interessen des Königs oder als Hüter seiner Burgen, und da die Städte im Rechtssinne königliche Burgen waren und sich daher des höheren Friedens erfreuten, auf dessen Bruch der Königsbann stand, so ist im hohen Mittelalter das Sechzig-Schilling-Gewedde oft in den Händen ihrer Burggrafen nachweisbar (H. Hirsch 1922 S. 182). Nur den sächsischen Grafen hatte einst König Karl, um das fränkische Staats- und Kirchenrecht einem feindseligen Volke gegenüber zu festigen, allgemein die Vollmacht gegeben, über die Hochgerichtsfälle unter Königsbann und bei der Bannbuße von sechzig Schillingen zu dingen. Weil aber der König die Bannrechte, welche sich seiner Funktion als oberster Richter zuordneten, länger als alle anderen und auch dann noch behauptete, als die übrigen bereits rechtlich oder politisch den Landesherren anheimgefallen waren, so haben sich die für den Rang der Gerichte typischen Bußen oder Gewedde des alten Kompositionen- oder Bußstrafrechts in vielen Landschaften des Reiches bis ins Spätmittelalter hinein erhalten. Namentlich die Bußzahl sechzig gestattet
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uns bis herab ins 15. Jahrhundert, die betreffende Gerichtsgewalt aus königlicher Ermächtigung des Gerichtsherrn oder Richters herzuleiten (H. Aubin 1920 S. 189 f. E. Kaufmann in HRG 1 Sp. 308 f.). Von diesen Bußen, die in fränkischer Zeit der Schultheiß (ahd. sculdheizo, lat. scultetus, causidicus, exactor publicus) einzutreiben hatte, führte der Graf zwei Drittel zugunsten des Königs an den grafschaftlichen Fiskus ab. Ein Drittel aber stand ihm zu eigener Verwendung zu. Es waren diese Gefälle, welche die Gerichtsbarkeit zu einer wichtigen Einnahmequelle und die Gerichtsherrschaft zu einem für geistliche und weltliche Herren erstrebenswerten Besitz und schließlich zur Gerechtsame (oben: § 99) machten. Seit dem Ausgange des 9. Jahrhunderts sehen wir den König mit Immunität begabten kirchlichen Anstalten oder den Vögten, die deren Vorsteher einsetzten, um sich nicht selbst mit dergleichen irdischen Geschäften zu beladen, seinen Bann schenken, um ihnen die beiden Königsdrittel als Einkünfte zuzuwenden. Zu diesem Zwecke freilich mußten die Prälaten oder ihre Vögte nun im Immunitätsbezirk die Gerichtsbarkeit ausüben, die bis dahin den Grafen gehört hatte; jedoch konnten sie dies mit Rücksicht auf ihren geistlichen Stand nur insoweit tun, als die Urteile nicht am Leibe oder Leben des Beklagten zu vollstrekken waren. Einen Täter, der keine Buße zahlen konnte oder wollte, durften sie, nachdem das Dingvolk ihn verurteilt hatte, zur Exekution dem Grafen überstellen. Bis in den Anfang des 12. Jahrhunderts prägten allein das Bußstrafrecht und seine Erträge die Beurteilung und Wertung der hohen, außerhalb der kirchlichen Immunitäten von den Grafen gehandhabten Gerichtsbarkeit (H. Hirsch 1922 S. 172, 176, 183). § 322a. Aber nicht nur die beiden Königsdrittel aus den Hochgerichtsgefällen verstand man zu dieser Zeit unter dem Königsbanne, sondern auch, in freilich zunächst sehr unbestimmter Weise, die Amtlichkeit des Vorsitzes im Hochgericht (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 387 A. 2). Die Übertragung des Bannes auf eine Kirche nämlich setzte deren Vogt in eine direkte Beziehung zum Könige, obwohl nicht dieser, sondern die Kirche ihn gekoren und bestellt hatte, und stellte ihn damit gleichberechtigt neben den Grafen, dessen Aufgaben er innerhalb der Immunität übernahm. Wie der Graf im Landding, so übte er im Immunitätsgericht das Amt des Vorsitzenden unter königlicher Bevollmächtigung aus (H. Hirsch 1922 S. 134). Die Funktion der mit dem Banne verliehenen Ermächtigung, das Hochgericht zu leiten, trat also deswegen hervor, weil außer dem Könige und der Hofgerichtsgemeinde (unten: Elftes Kapitel) eine weitere physische oder Verbandsperson Anteil an der Bestallung des Hochrichters gewann. Im Falle der Vogtei war dies die bevogtete Kirche, sofern der König bereit war, ihr das Recht der Vogtwahl zu belassen. Was die Grafschaft betrifft, so ergab sich seit dem Ende des 10. Jahrhunderts ein gleiches Verhältnis, da die Könige begannen, Grafschaften an Bistümer oder Reichsklöster zu verschenken (unten: §§ 580, 583). Spätestens in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hatten so gut wie alle älteren, nach der Benediktinerregel lebenden Klöster vom Könige das Recht der Vogt-
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wahl erhalten. Es waren Klöster, die entweder deswegen, weil das Reich sie dotiert, oder weil ihre Stifter sie dem Schutz des Königs unterstellt hatten, als Reichsklöster dessen Vogtei unterstanden und mit dem Königsbanne begabt waren. Mit dem Worte bannus bezeichnete die Reichskanzlei daher auch das Verhältnis des Königs zu allen Klöstern, die der Königsschutz gegenüber jeglichen Ansprüchen sicherte, welche Dritte als laikale Stifter von Kirchengut nach Eigenkirchenrecht (unten: § 356) gegen sie erheben konnten. Ihnen verschafften König und Reich damit einen Zustand kirchlicher Unabhängigkeit von der Welt, den Kirchenleute seit der Mitte des 11. Jahrhunderts als Freiheit der Kirche, libertas ecclesiae, bezeichneten (H. Hirsch 1922 S. 174 f.). Zu dieser Zeit hörten die Könige auf, neue Klöster auf Reichsgut zu gründen, und seit dem Investiturstreit weigerte sich der Adel, aus seinem Gute dotierte Klöster weiterhin dem Reiche zu schenken oder sie unter dessen Schutz zu stellen. Damit entfiel aber auch der königliche Schutz dieser Adelsklöster (oben: § 136) vor eigenkirchenrechtlichem Gebrauch – oder in den Augen der Frommem: Mißbrauch – der Herrenrechte ihrer Stifter, der den älteren Klöstern die libertas ecclesiae verbürgt hatte. Daher forderten nun die geistlichen Fürsprecher der Kirchenreform diese adligen Stifter und Klosterherren auf, die Vögte ihrer Stiftungen mit dem Königsbanne ausstatten zu lassen. Der Empfang des Königsbannes durch den Vogt sollte ausdrücken, daß dieser nicht mehr im Auftrage der Stifter, sondern auf Grund königlicher Vollmacht amtierte und amtlicher Aufsicht des Königs unterstand; insoweit also war das Kloster nun reichsunmittelbar. Durchgeführt findet sich diese Konstruktion zum ersten Male in dem Diplom König Heinrichs IV. für das Reformkloster Hirsau aus dem Jahre 1075 (MGH. DH. IV. 280 mit Nachtrag S. 730 f.): . . . loci ipsius abbas cum consilio fratrum . . . aptum et utilem advocatum, undecumque sibi placuerit, eligat. Hic denique abbate petente a rege accipiat bannum legitimum et ter in anno . . . placitum iustum pro causis et necessitatibus monasterii rite peragat. Nullum autem aliud servitium . . . sibi pro hoc concedi recognoscat nisi tercium bannum et consuetudinariam iusticiam et legem, quam ceteri advocati in aliis liberis monasteriis habent . . . (ebd. S. 360 Z. 28 – 42). Wahl und Ermächtigung des Vogtes sind hier sorgsam voneinander geschieden. Der Königsbann ermächtigte den Vogt dazu, anstatt des Grafen die drei echten Dinge zu hegen, auf denen der sühnegerichtliche Teil der Hochgerichtsbarkeit erledigt wurde, und von deren Erträgen das Grafendrittel für sich zu behalten, während die beiden Königsdrittel dem Kloster verblieben (H. Hirsch 1922 S. 117 – 180. R. Scheyhing 1960 S. 199 ff.). § 322b. Der Begriff der Bannleihe für das, was hier bestimmt wurde (E. Kaufmann in HRG 1 Sp. 314 f. R. Scheyhing in LMA 1 Sp. 1420), wird sich aus der modernen Wissenschaftssprache nicht mehr entfernen lassen. Gleichwohl ist er falsch oder zumindest irreführend insofern, als er die Vermutung fördert, der König habe den Bann, die Amtsvollmacht des Hochrichters und schließlich das Grafenoder Richteramt nach Lehnrecht vergeben. Das war aber eindeutig nicht der Fall,
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denn was der König tat, wenn er die Vollmacht ausgab, heißt regelmäßig bannum committere, concedere, conferre, confirmare, tradere, contradere, dare, largiri oder tribuere, und ebenso regelmäßig wird hinsichtlich des Begünstigten gesagt: bannum (a rege, a regia manu, ab imperio) accipere, adquirere, habere, obtinere, recipere, suscipere oder tenere, wogegen Wendungen wie bannum dare vel infeodare oder iure feodali dependere (MGH. Const. 1 S. 684 Z. 20) erst im 13. Jahrhundert begegnen und nicht mehr den König, sondern Reichsfürsten zum Subjekt haben (Mlat. Wb. 1 Sp. 1341 – 1348). In Übereinstimmung hiermit bezeugt noch das Landrecht des Sachsenspiegels, daß der Richter den Königsbann vom Könige zu empfangen habe, ihn aber nicht ein zweites Mal zu empfangen brauche, falls der König sterbe, wenn also das eintritt, was im Lehnrecht als Herrenfall bekannt ist (Ssp. Ldr. I 59 § 1), und wenn es dann später (III 64 § 5) heißt, nur der König selber dürfe den Königsbann verleihen, lyen, er dürfe aber niemandem die Bannleihe, den ban zu lîene, verweigern, dem (von einem Fürsten) das Gericht geliehen sei, gelegen is, so setzte der Spiegler hier ausdrücklich hinzu: Ban lîet men âne manscaph, um deutlich zu machen, daß zwar Fürsten die Gerichtsherrschaft mitsamt Einkünften zu Lehen besaßen und vergaben, daß aber auf die Vergabe des Königsbanns an den Richter das Lehnrecht keine Anwendung fand, da bei ihr weder die lehnrechtliche Form der Mannschaft zu beobachten war noch lehnrechtliche Folgen wie der Herrenfall eintraten. Dies aber waren für das Lehnrecht so unbedingt wesentliche Formen und Folgen, daß kein Zweifel am landrechtlichen Charakter der Bannübertragung übrigbleibt. Das Landrecht verwandte das Wort leihen immer noch in dem ursprünglichen Sinne einer Hingabe ohne Übertragung des Eigentums, eines Überlassens und Annehmens auf Borg (E. Mayer 1899 Bd. 2 S. 350 f. F. Keutgen 1918 S. 106 f. mit Anm. 156i. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 324 f. S. Reynolds 1994 S. 438). So machte die Hingabe und Annahme der Banngewalt deutlich, daß der Hochrichter immer noch Amtmann jenes Königs war, den sich die Deutschen eigentlich „zum Richter über Eigen und Lehen und über jedermanns Leib“ erkoren hatten (Ssp. Ldr. III 52 § 2. R. Scheyhing in HRG 1 Sp. 1420. E. Pitz 2001 S. 432). § 323a. König Heinrich IV. ergriff das Angebot, das ihm die Kirchenreformer und der ansonsten antiköniglich gesonnene Adel machten, um nach dem Zusammenbruch der königlichen Herrschaft über die Reichskirchen eine Staatsreform einzuleiten, die es dem Königtum unter völlig veränderten Umständen weiterhin gestatten sollte, sich die Gerichtshoheit als Stütze des königlichen Amtes zu bewahren. Diese von seinem Sohne, Kaiser Heinrich V., zum Erfolge geführte Verfassungspolitik schuf nicht nur den neuen Typus des nicht mehr reichseigenen, sondern nur noch reichsunmittelbaren Klosters (J. Ficker 1861 S. 329); vielmehr machte sie sich überhaupt den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Auslese oder Nomination einer für das Richteramt geeigneten Person und deren Ermächtigung zum Ausüben dieses Amtes zu eigen. Bis dahin war man sich dieses Unterschiedes nicht bewußt gewesen, sondern hatte den Anteil, der dem Könige an der Auslese der Grafen zustand und in Einhelligkeit mit der jeweiligen Dinggenossen-
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schaft wahrzunehmen war, unter dem Begriff des comitatus zusammengefaßt mit der königlichen Befugnis, dem Grafen die Vollmacht des Hochrichters bei Grafenbann zu übertragen. Es war dies eine der vier Bedeutungen, in denen das Wort comitatus gebraucht wurde (oben: § 276b), und zwar namentlich dann, wenn der König diesen comitatus auf eine Kirche übertrug, wie es seit dem Ende des 10. Jahrhunderts üblich wurde (unten: § 576). Das damit gegebene Problem trat jedoch erst zu Tage, als während des Investiturstreits die Rechte und Pflichten der Bischöfe und Reichsäbte im ganzen strittig wurden und man sich endlich daranmachte, die vom Reiche herrührenden und zum Reichsdienst verpflichtenden Kirchengüter oder iura regalia von denen zu scheiden, die den Kirchen auf Grund anderweitiger Rechtstitel als freies Eigentum zustanden. Wie wir später sehen werden, hatte sich der Begriff der Regalien im Laufe des 11. Jahrhunderts als Bezeichnung für diejenigen Rechte ausgebildet, die der König, wenn er durch seine Bestallung einem Grafen den Komitat überantwortete, an dieser Grafschaft für sich und seine Kammer zurückbehielt und die er lediglich auf Bischöfe, nicht jedoch auf weltliche Fürsten und Dinggrafen zu übertragen pflegte (unten: § 577). Im Jahre 1111 verständigten sich Kaiser Heinrich V. und Papst Paschalis II. in Rom darauf, folgende Rechte als Regalien zu betrachten: Burg- oder Stadtgrafschaften, Herzogtümer und Markgrafschaften, sodann Grafschaften, Münzen, Zölle, Märkte, Reichsvogteien, Zentgrafen- oder Niedergerichtsrechte und Fisken oder Reichshöfe (MGH. Const. 1, 140 n. 90: S. 141 Z. 28 – 30). Diese Aufzählung umfaßte als erstes die Reichsfürstentümer in ihren drei Formen, sodann die vielfach hinsichtlich der Gerichtsherrschaft von diesen abhängig gewordenen Grafschaften und Reichsvogteien und schließlich die geringen nutzbaren Regalien und Fisken, mit deren Verwaltung karolingische Könige allein ihre Grafen hatten beauftragen können, die die sächsisch-salischen Herrscher aber vielfach von der Grafschaft abgespalten und anderen Getreuen speziell zugewiesen hatten, ohne sie jedoch damit zu privatisieren (F. Keutgen 1918 S. 123 – 125). Erst dann, wenn die grafschaftlichen Dinggenossenschaften, die die Stätte oder den Geltungsbereich eines Regalrechtes beherrschten, ihr Interesse daran verloren und darauf verzichteten, auch ihrerseits die Belehnten als Zöllner, Münzer, Markt- oder Niederrichter oder Meier anzunehmen, trat die Privatisierung ein, unterlag die Vergabe nur noch dem Lehnrecht und verwandelten sich die Regalrechte in Rechtsame ihrer Inhaber (oben: § 99). § 323b. Weiter vereinbarten Kaiser und Papst im Jahre 1122 zu Worms, daß der König jedem zum Bischof oder Abte Erwählten die Regalien als ungesonderte Gesamtheit oder Inbegriff der seiner Kirche zustehenden weltlichen Rechte unter dem Symbol des Szepters und gegen Übernahme der daranhängenden Reichsdienste übergeben sollte, bevor der Bewidmete die geistlichen Weihen empfinge (MGH. Const. 1, 160 n. 108). Die Investitur oder Bekleidung mit den Regalien, die den Erwählten zum geistlichen Reichsfürsten erhob, aber sollte sich in den Formen des Lehnrechts vollziehen: Der Erwählte mußte dem Könige Treueid und Mannschaft
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leisten und im Herrenfall den Nachfolger um die Erneuerung der Investitur bitten. Gewiß bildete man dieses Verfahren und Recht der Vergabe der weltlichen Fürstentümer nach, die der König unter dem Symbol der Heerfahne den zum Empfang berechtigten Laien verlieh. Endlich verfügte das Reich nun über eine Definition des Begriffs Fürstentum und des Verhältnisses der Fürsten zum König, das seit der Auflösung des Karolingerreiches und der Entstehung von Großgrafschaften und Herzogtümern in dessen Regna in den Jahren 887 bis 919 (unten: Vierzehntes Kapitel) unklar und strittig gewesen war. Wie aber stand es um das Verhältnis der Grafschaften und Reichsvogteien zu ihnen und zum Könige? Unausgesprochenermaßen war in dem Begriff der Regalien sowohl der Grafenbann als auch, soweit zuvor vom Könige einer Kirche verliehen, der Königsbann enthalten, da die Fürsten nicht nur berechtigt waren, die ihnen übertragenen Gerichtsherrschaften an Grafen und Vögte weiterzuverleihen, sondern auch sie persönlich zu verwalten, also selbst den echten Dingen vorzusitzen und die Erkenntnisse der Urteilsweiser unter Grafen- und gegebenenfalls Königsbann zu sanktionieren. Wollten sie aber hierauf verzichten und die Gerichtsherrschaft einem Grafen oder Vogte verleihen, so machte sich ein fataler Unterschied zwischen Szepter- und Fahnenlehen bemerkbar. Die geistlichen Fürsten nämlich waren nach Kirchen- und Standesrecht unfähig, dem Gerichte vorzusitzen, wenn es Bluturteile zu fällen hatte, weil „die Kirche nicht nach Blut dürstet“, daher der Königsbann „nicht auch nur vorübergehend in geistlicher Hand liegen konnte“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 40). In den Szepterlehen war daher der Königsbann nur in dem herkömmlichen Sinne enthalten, nämlich als Amtsvollmacht, um über Leib und Leben eines Mannes nach den Regeln des sogenannten Bußstrafrechts zu richten, während die Fahnenlehen den Laienfürsten auch die Gewalt verliehen, alt- oder neufreie Missetäter an Leib und Leben zu strafen oder, wie man jetzt abgekürzt zu sagen sich gewöhnte, über das Blut eines Menschen zu richten und Leibes- oder Lebensstrafen an ihm zu vollstrecken. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts verbreitete sich nämlich unter dem Einfluß eines neuen Landfriedensrechtsbewußtseins unter Fürsten und Völkern die Überzeugung, daß es unrecht sei, wenn reiche Verbrecher mit Geld ihr verwirktes Leben vom Kläger und Richter zurückkaufen (oben: §§ 106, 107) könnten, daß aber auch der Richter, der kein Geld mehr annahm, einer höheren Ermächtigung teilhaftig sei, die man Blutbann nannte. Diese Vollmacht aber durften geistliche Fürsten weder vom Könige annehmen, noch konnten sie sie an ihre Grafen und Vögte weitergeben. Solange Bischöfe und Reichsäbte diese Beschränkung ihrer Rechtsfähigkeit anerkannten – und das war im 12. Jahrhundert noch meistens der Fall – , blieb es daher dabei, daß die von ihnen mit Gerichten belehnten Grafen und Vögte den Königsbann, worunter man jetzt den Blutbann verstand, direkt vom Herrscher empfangen mußten. Da der König aber auch den Blutbann in den Formen des Amtsrechts vergab, das seine Vorgänger im Auftrage des Volkes und daher in Auslegung der Volks-
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und Landrechte geschaffen hatten, blieben die Grafen und Vögte der geistlichen Fürstentümer noch zu einer Zeit königliche Amtleute und ihre Dingverbände königsunmittelbare Partikel des Reichsuntertanenverbandes, als die von den Laienfürsten eingesetzten Richter schon in den Status landesherrlicher Beamter hinüberwechselten, da es der fürstliche Landesherr war, von dem sie den Blutbann und alle Amtsgewalt empfingen, und folglich die Dingverbände, denen sie vorsaßen und deren Häupter sie sein sollten, der Mediatisierung entgegengingen. Die während des 12. Jahrhunderts bestehende verfassungsrechtliche Differenz zwischen Szepterlehen und Fahnenlehen oder geistlichen und weltlichen Fürstentümern wird ihren Teil dazu beigetragen haben, daß sich in jenen der Kommunalismus der Gerichtsleute (oben: §§ 235, 236) besonders kräftig entfaltete und eine aus der Königsunmittelbarkeit hervorgehende neue Verbandsfreiheit bis in die Neuzeit hinein lebendig erhalten konnte. § 323c. Nur ein Dokument ist mir zur Hand, welches beweisen könnte, daß nicht nur in den Reichsvogteien, sondern auch in den Dinggrafschaften der Anteil des Gerichts- oder Landesherrn an der Bestallung des Richters von dem des Königs in der angegebenen Weise getrennt worden ist, nämlich so, daß jenem die Kur und diesem die Ermächtigung oder Übertragung der Amtsgewalt zustand. Dieses Dokument bezieht sich auf die Grafschaft im friesischen Oster- und Westergau zwischen Lauwers und Flie (unten: § 495), die die Reichsregierung, gelähmt vom Streite der Könige, seit 1126 sowohl dem Bischof von Utrecht als auch dem (Reichs- oder Groß-)Grafen von Holland übergeben hatte (RI 4, 1, 1 n. 123). Deren Streit war es, den Kaiser Friedrich I. im Jahre 1165 auf einem Hoftage zu Utrecht durch Vergleich zu schlichten suchte, und davon handelt das erwähnte Dokument (MGH. DF. I. 497 S. 423 – 425. Urk.regesten S. 307 n. 393). Es stammt also aus einer Zeit, in der man den Begriff des Fürstentums nicht mehr durch den königlichen comitatus, sondern schon durch die Summe der Grafenrechte oder Regalien definierte, von denen die Gerichtsbarkeit eines ausmachte, und man daher gelernt hatte, daß in der Kur auch die Investitur des Gekorenen mit den Regalien enthalten war und zusammen mit jener dem Gerichtsherrn zustand (ebd. S. 425 Z. 3 – 7). Das war die Zeit, in der sich die spätere Sprachgewohnheit und Rechtsauffassung ausbildete, nach der der Dinggraf von dem Fürsten das Gericht und vom Könige den Bann empfing (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 323 f.). Die maßgebliche Bestimmung des Vergleichs lautet: Statuimus igitur, ut eque participent predicto comitatu Frisonum, episcopus videlicet et comes . . . Ambo concorditer eligent sibi comitem, qui vices eorum gerat in predicto comitatu, qui presentatus ab eis domino imperatori bannum et potestatem iudicandi a manu domini imperatoris accipiet et iuramentum prestabit, quod pro dilectione vel odio vel pro argento vel auro vel alicuius rei gracia in predicto comitatu neutri faciet iniuriam nec pro unius magis promovebit commodum et proficuum quam alterius (ebd. S. 424 Z. 36 – 41). Der von den Gerichtsherren erkorene Graf erhielt demnach den Rang eines Vizegrafen und hatte dem Kaiser den Diensteid eines Hofbeamten (unten: § 421) zu leisten, der ihn dazu verpflichtete, keinen seiner beiden Dienstherren
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(neutri) gegenüber dem anderen zu begünstigen oder zu verkürzen. Es handelt sich also nicht um einen Richtereid, der dem Vizegrafen Neutralität gegenüber den Rechtsuchenden auferlegt hätte (R. Scheyhing 1960 S. 219 – 221 mit Anm. 91. L. Kolmer 1981 S. 113 f.); darüber etwas zu bestimmen hatte der Kaiser keinen Anlaß, weil das Verhältnis der Gerichtsherren zur Grafschaftsgemeinde weder strittig noch Gegenstand des Vergleichs war. Es ist daher zu vermuten, daß der Vizegraf dem Kaiser neben dem Diensteide auch einen Richtereid leisten mußte, wenn es nicht überhaupt erst die friesische Dinggemeinde war, die ihm denselben bei der Annehmung abforderte: Stammt doch eben aus Friesland das einzige Zeugnis für die Gebräuchlichkeit solcher Eide, das uns aus dem Ostfränkisch-deutschen Reiche des 9. bis 12. Jahrhunderts erhalten geblieben ist (unten: § 501). Nach allem, was wir über die friesischen Zustände dieser Zeit wissen (unten: § 496), ist es ganz unwahrscheinlich, daß die Gauleute, denen der Komitat, wie die Urkunde betont, als comitatus Frisonum (ebd. S. 425 Z. 32, 35) auch immer noch gehörte, einen ohne ihren Willen und unter Mißachtung ihres Indigenatsrechtes (oben: § 276a) von den Gerichtsherren ernannten Ding- oder Vizegrafen jemals zum Richter angenommen und ihm Gehorsam und Beistand versprochen hätten, wenn er nicht auch ihnen selbst auf den Namen des Kaisers (unten: § 501) die Amtspflichten und den Herrschaftsvertrag beschworen hätte. Die Friesen hatten sich längst jeder fürstlichen Gewalt entzogen, die sich zwischen sie und den „südlichen König“ hätte einschieben können und wollen. Sie werden es mit Wohlgefallen gehört haben, daß der Vergleich die Kur ihres Dinggrafen grundsätzlich zum Königsrecht und damit die Vizegrafschaft zur Ausnahme von der Norm erklärte, indem er bestimmte: Quodsi ipsi concorditer comitem eligere non possint, dominus imperator pro consilio suo comitem eliget et illi dabit bannum (ebd. S. 424 Z. 42 – 44). Konnten sich die Gerichtsherren nicht einigen, so fiel das Kurrecht an den König zurück, dem das Volk es, als es ihn erhob und ihm huldigte, übertragen hatte: Der ursprüngliche und normale Zustand stellte sich wieder her, daß nämlich die Befugnisse zu kiesen und zu bestallen ungetrennt in der Hand des Königs lagen. Dies war der Verfassungszustand, den einst Kaiser Karl der Große hergestellt und mit Hilfe der Königsboten, die ihn bei der Bestallung der Gaugrafen vertreten konnten, wohl auch verwirklicht hatte. Aber im Ostfränkischen Reiche hatten seine Nachfolger diese Ordnung nicht aufrechterhalten können. So müssen wir annehmen, daß die Neubegründung des Ostfränkischen Reiches in den Jahren 887 bis 925 (unten: § 382), die mit der Erweiterung des Grafschaftssystems um Allodialherrschaften (oben: §§ 136 – 139) und Immunitätsgerichte (unten: §§ 374 – 376), mit der Einrichtung von Großgrafschaften und niederen Herzogtümern, die den königlichen Komitat verwalteten, und mit der Konstitution der vier Teilreichsverbände als Wähler der Könige und ihrer vizeköniglichen Herzöge (unten: Vierzehntes Kapitel) zusammenfiel, auch die Überführung der Gau- und Dinggrafschaften in Vizegrafschaften in Gang gesetzt und zusammen mit oder parallel zur Entwick-
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lung der Vogtgerichte im Verlaufe des 10. und 11. Jahrhunderts zum Abschluß gebracht hat. Diese Neubildung war ein notwendiges Pendant zu dem Aufbau des Landesfürstentums, der ebenso allmählich und so unbeobachtbar vor sich ging, daß man erst nachdem er abgeschlossen war, nämlich im Wormser Konkordat von 1122, eine erste Definition für es fand. Für die Dinggrafschaften und Vogtgerichtsgemeinden wären das konstitutive Merkmal die allmähliche Trennung der Kur von der Bestallung und das Ringen zwischen Gerichtsvölkern, Gerichtsherren und Königen um eine Teilhabe an diesen beiden Befugnissen gewesen.
§§ 324 – 330. Grafschaft, Land und Landesherrschaft § 324. Darüber, wie es mit der Bannleihe zu halten sei, konnte erst nach Jahrzehnten im Reiche Einmütigkeit erzielt werden, denn die Bildung eines gemeinen Willens nach den Regeln des Identitätssystems war ein schwerfälliges Beginnen, da es in allen Partikularverbänden und auf mehreren Verbandsebenen Einmütigkeit erforderte und das Ziel erst dann erreichte, wenn alle Häupter und Herren ihm zustrebten und alle Minderheiten ihrer Folgepflicht nachkamen. Wie wir noch sehen werden, war dieses Ziel noch im Jahre 1149 nicht erreicht, als König Konrad III. den am 21. August zu Frankfurt versammelten Fürsten eine Klage des Klosters Saint-Remi zu Reims wider dessen Vogt, den Pfalzgrafen Hermann bei Rhein, zur Entscheidung vorlegte und die Fürsten einhellig für Recht erkannten, quod nullus posset causas vel lites, que ad advocatorum ius pertinerent, audire vel terminare vel placita advocatie tenere, nisi qui bannum de manu regia recepisset (MGH. Const. 1, 181 n.127 = DKo. III. 210. H. Aubin 1920 S. 242. H. Hirsch 1922 S. 180). Zweifellos wurde diese Regel, der zufolge Hoch- oder Blutrichter nur sein konnte, wer dazu die Vollmacht persönlich vom Könige empfangen hatte, nicht nur auf die Vogtgerichte, sondern auch auf die Grafendinge angewandt, mit der Folge, daß man sich so, wie es noch der Sachsenspiegel (Ldr. III 64 § 5. F. Keutgen 1918 S. 107 f.) lehrt, nunmehr sämtliche Grafen mit jener einst außerordentlichen Gerichtsgewalt ausgestattet dachte, deren Kennzeichen die Königsbannbuße von sechzig Schillingen bildete und zu der nun, ohne vom Spiegler erwähnt zu werden, die Blutgerichtsbarkeit hinzukam. Wirklich verständlich wird das Frankfurter Reichsweistum vom 21. August 1149 wohl erst dann, wenn wir annehmen, daß die Fürsten, die es fanden, ihre persönlichen sei es institutionellen, sei es dynastischen und alle Standesinteressen hätten abwägen müssen gegen die der Dingvölker, aus denen sich ihre Untertanenverbände oder Länder zusammensetzten, und daß sie sich dabei, gewiß notgedrungen, gegen jene und zugunsten des Interesses ihrer Landesherrschaft entschieden, das um diese Zeit in der deutschen Verfassungsgeschichte hervorzutreten beginnt. Denn dieses Interesse wurde zweifellos auch auf der Frankfurter Tagfahrt nachhaltig vertreten von den principes terrae oder episcopatus, jenen optimates, proceres, primates, barones terrae, die uns vereinzelt bereits im 11., häufig dann im 12. Jahr-
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hundert begegnen (J. Ficker 1861 S. 35 – 37, 65, 77) und die ihre fürstlichen Häupter auf den Reisen zum Könige zu begleiten pflegten. Die Aufspaltung der Rechte, welche einst Karl der Große und die ostfränkischdeutschen Könige bis dahin in Gemeinschaft mit dem kiesenden oder annehmenden Dingvolke in unproblematischer Einheit den Grafen übertragen hatten, unter anderem in Gerichtsherrschaft und richterliche Vollmacht war, wie bereits angedeutet, eine Folge auch davon, daß in den Jahren 888 bis 919, während der Auflösung des Karolingerreiches, die Teilreichsvölker Herzöge über sich erhoben und auf diese Weise in Sachsen, Franken, Schwaben und Bayern zwischen das von ihrer Gesamtheit als Reichsvolk eingesetzte Königtum und die gräflichen Häupter der lokalen Dinggenossenschaften eine Haupt- oder Amtmannschaft eingefügt hatten, deren Pflichten und Befugnisse sich von den königlichen nicht erkennbar unterschieden. Daher hatte sich das seit 919 von dem liudolfingischen Hause erneuerte Königtum im Kampfe gegen die Herzöge konsolidieren müssen. In diesem Ringen gewann es aber nur deswegen die Oberhand, weil es die Herzogtümer einzuziehen, aufzuteilen und durch Übertragung der Komitatsrechte auf Bischöfe und Reichsäbte derart einzuengen imstande war, daß es am Ende des 11. Jahrhunderts über eine Vielzahl herzoglicher sowie meist geistlicher herzogsgleicher Gewalten gebot, deren jeder einzelnen es weit überlegen war, solange sich ihre Inhaber nicht zum Reichsfürstenstande oder Reiche zusammenschlossen und ihm mit geeintem Willen gegenübertraten. Diese Einung der geistlichen und weltlichen Fürsten gegen den König hatte seit dem Jahre 1075 der Investiturstreit ausgelöst. Unter ihrem Schutze bauten die Fürsten sowie eine Anzahl von Grafen, die der König, anstatt sie ihnen unterzuordnen, immer noch persönlich mit der Gerichtsherrschaft belieh, ihre Rechtsstellung im 12. und 13. Jahrhundert zur Landesherrschaft aus. § 325. Hinter diesen verfassungsgeschichtlichen Vorgängen standen Machtkämpfe und Rangstreitigkeiten um Gerichtsherrschaft und Amtsvollmacht, die, so eifrig sie auch von denjenigen adligen Häusern ausgefochten wurden, die imstande waren, den Thron des Reiches, die Herzogs- und Bischofsstühle und die Grafschaften zu besetzen, dennoch alle jene Rechte unberührt ließen, die seit alters hinsichtlich der Kur, Annehmung und Ermächtigung der Richter den Dinggenossenschaften zustanden und die selbst Kaiser Karl der Große nicht hatte beseitigen wollen und können. So wenig waren diese Rechte von jenen Händeln betroffen, daß sie niemals Gegenstand von Verhandlungen und Vergleichen zu sein brauchten und daher auch in den Urkunden des hohen Mittelalters nirgendwo in Erscheinung treten. Dem Interesse der Dingvölker indessen muß die Rechtsauffassung entsprungen sein, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Aufspaltung der königlichen Vollmacht der Grafen in lehnbare Gerichtsherrschaft und hoheitliche Amtsvollmacht herbeiführte. Denn während kein Grund zu erkennen ist, aus dem den Fürsten an der Bewahrung der richterlichen Amtseigenschaft gelegen gewesen sein sollte, wo sie doch sonst gerade das Lehnrecht zielbewußt dafür einsetzten, ihren
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Vorrang vor den nichtfürstlichen Edlen, Grafen und Magnaten zu festigen (F. Keutgen 1918 S. 94 f. O. Brunner 1965 S. 232. S. Reynolds 1994 S. 64 – 73 und öfter, oben: § 127), waren die vom Eintritt neufreier Genossen gestärkten Dinggemeinden, wie wir bereits sahen (oben: §§ 243, 244), sehr wohl daran interessiert, sich die Königsunmittelbarkeit zu bewahren, und wenn sie zu diesem Zwecke im Bunde mit dem Königtum die Beamtung sogar der Gerichtsherren als geltendes Recht zu bewahren trachteten, so dürfen wir dies noch viel mehr hinsichtlich der Richter vermuten, die diese Gerichtsherren in den echten Dingen vertreten sollten. Es ist daher anzunehmen, daß die Fürsten, die dem Könige am 21. August 1149 in Frankfurt das Weistum betreffend die Bannvergabe an die Vögte erteilten, dies unter Hintansetzung ihrer fürstlichen Interessen lediglich deswegen taten, weil sie sich an den Willen und die Rechtsauffassung der Dingverbände gebunden fühlten, auf deren Gehorsam und Gerichtsfolge ihre fürstliche Gewalt beruhte. Demnach hätten sie einer Rechtsansicht Ausdruck verliehen, die unter den Vornehmen und Schöffen jener Gerichtsverbände, deren Herren sie sein wollten, in Geltung stand und die siebzig Jahre später der ostsächsische Schöffe Eike von Repgow in seinem Spiegel des Sachsenrechtes niedergelegt hat, ja, die noch im Jahre 1282 König Rudolf als Willen der principes vel nobiles terrae gelten ließ, wenn es um die Landeskonstitution ging (MGH. Const. 3, 300 n. 305. O. Brunner 1965 S. 181 – 194). § 326. Dem Schicksal der grafschaftlichen Dinggenossenschaften prägte im 9. bis 12. Jahrhundert die Zerstückelung ihrer Einheit den Stempel auf. War schon in fränkischer Zeit jeder Dingstuhl eines Kleingaus oder einer Zentene, an dem der Graf des Jahres dreimal den ungebotenen Dingen vorsaß, dem Wesen nach für die ganze Grafschaft zuständig gewesen, so hatte sich endlich jeder einzelne Dingstuhl zu einer cometia, einem vollkommenen Grafengericht mit eigenem Schöffenkollegium oder Urteilerverbande entwickelt und als Dinggemeinde verselbständigt, die mit benachbarten Dingvölkern allerdings durch die Person des gemeinsamen Grafen weiterhin verbunden war (oben: §§ 243, 283. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 14 – 21, Bd. 5 S. 194 – 196. H. Aubin 1920 S. 85 f. E. von Guttenberg 1927 S. 199, 236, 371. E. Klebel 1957 S. 184 f. K. F. Krieger 1979 S. 266 f. H. Hoffmann 1990 S. 458 – 461). Derselbe Graf aber verband sie auch mit den Dinggemeinden einerseits der Immunitäten, zu deren Vogt er von deren geistlichen Herren bestellt worden war (oben: §§ 156, 157), und andererseits der Allodialgerichte, die seine Vorfahren etwa auf ihrem Hausgute eingerichtet haben mochten (oben: §§ 136 – 141, 158), ohne für sie jemals beim Könige um die Banngewalt nachgesucht zu haben (H. Aubin 1920 S. 244 f.), dieses beides Dingverbände, die sich unter ihren geistlichen oder allodialen Gerichtsherren zuvor von den alten fränkischen, territorial geschlossenen Gaugrafschaften und deren Dinggenossenschaften abgesondert hatten. Gerichtsherren, die auf diese Weise etliche Cometien, Vogteien und Allodialgerichte in einer Hand vereinigten, gewannen damit zwar an Rechten alles wieder zurück, was die karolingischen Amtsgrafen infolge der Zerstückelung ihrer Spren-
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gel zuvor verloren hatten, aber die mannigfach zusammengesetzte Summe ihrer Dingbezirke deckte sich so gut wie niemals mehr mit dem Territorium einer fränkischen Grafschaft, die gewöhnlich eine Gaugrafschaft gewesen war (oben: § 282). Ihre Herrschaftsbereiche bezeichnete man daher mit einem Worte, das uns bereits beschäftigt hat (oben: §§ 46 – 50, 210 – 216), als terrae oder Länder und sie selbst mit Ausdrücken, die bis dahin der deutschen Rechtssprache fremd gewesen waren, als principes provinciae, principes oder capita terrae und seit dem Ende des 12. Jahrhunderts immer häufiger als domini terrae oder Lendesherren (F. Keutgen 1918 S. 130). Noch mehr aber als dem Herrn muß seinen Gerichtsgemeinden an einer Gemeinschaft mit anderen Dingverbänden desselben Landes gelegen gewesen sein, da sie zu klein waren, um in ihren Rechtsweisungen Autonomie zu behaupten. Ihre Dinggenossen waren auch anderswo begütert, sie gingen Ehen mit Auswärtigen ein, verlegten ihren Wohnsitz dorthin und gingen als Marktbeschicker und -besucher auswärtigem Erwerb nach. Dies alles mußte die Schöffen eines Landes zu Beratungen und Versammlungen zusammenführen, um ihrer Rechtsprechung die notwendige Einheitlichkeit zu sichern. Der Landesherr stand also in dem Bestreben, seine Gerichtsherrschaften zur politischen Einheit zu verschmelzen, nicht allein da. Vielmehr traf er auf ein gleichgerichtetes Interesse der Landleute, über das er sich nicht hinwegsetzen durfte, wollte er nicht auf Widerstand stoßen. „Wichtiger für alles weitere wird daher, daß der Begriff des Landes Körperlichkeit gewinnt in seinen Bewohnern. Sie meinen die Wendungen ,terrae consuetudo‘, ,des landes sit und reht . . . und gewonheit‘: denn das Land selbst“, als geographische Erscheinung, „hat keine Sitten, Rechte und Gewohnheiten“ (ebd. S. 131 f. O. Brunner 1965 S. 231 – 239). Wie also das Vorstadium der Landesherrschaft in der Gerichtsherrschaft, so ist das der späteren Landstände in derartigen Landdingen zu suchen, deren Gerichtsbarkeit auf volksrechtlichem Grunde beruhte und Landrecht schuf. Mit Lehnswesen und Lehnrecht hat dies alles nichts zu tun. Denn Lehnrecht verband den Herrn mit Vasallen, wo immer sie wohnen mochten (oben: § 198), und verpflichtete diese zu Hof- und Heerfahrt, ohne sie doch dazu zu berechtigen, gehört und hinzugezogen zu werden. Dagegen war das Land ein Verband mit Gebietsbezug (oben: § 210), gewährten Volks- und Landrecht den Landdingen ebenso wie später den Ständetagen ein Recht darauf, ihre Stimme zu erheben, an der Regierung mitzuwirken, den Landesherrn unter Bedingungen eines Herrschaftsvertrages anzunehmen und ihm bei Bruch derselben Widerstand zu leisten (F. Keutgen 1918 S. 157 f. O. Brunner 1965 S. 233. Unbrauchbar E. Schubert in LMA 5 Sp. 1653 – 1655). § 327a. Dem widerspricht nicht das bekannte Diplom vom Jahre 1156, mit dem Kaiser Friedrich I. die Mark Österreich zum Herzogtum erhob und als Lehen ausgab (MGH. DF. I. 151). Denn sein Gegenstand war der Rechtsstreit, der zwischen den Herzögen Heinrich von Österreich und Heinrich von Sachsen wegen des Her-
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zogtums Bayern schwebte und den der Kaiser in zwei Schritten beendete. Zuerst nahm er von jenem die Resignation (Auflassung) des Herzogtums und von diesem die der Mark Österreich entgegen, die bisher bayerisches Lehen gewesen, nun aber Reichslehen werden sollte. Diesen Schritt tat der Kaiser zwar in Gegenwart vieler Fürsten, nicht aber gemäß deren Rechtsmeinung: Offenbar betrachtete man das Herzogtum als ein Reichsamt, zu dessen Aufteilung und lehnrechtlicher Vergabung an geeignete Personen der König lediglich des Konsenses der betroffenen Fürsten und Untertanenverbände bedurfte. Ihrer aller Einwilligung hatte vorher gewonnen werden müssen und war offenbar notorisch, daher das Diplom ihrer nicht zu gedenken brauchte. Anders stand es dagegen um die Erhebung der Markgrafschaft zum Herzogtum. Sie betraf die Reichsverfassung, weil sie die Zahl der weltlichen Fürsten und die Befugnisse eines derselben vermehrte, und konnte daher nur nach einhelligem Rate und Urteil aller Fürsten, de consilio et iudicio principum . . . , omnibus principibus approbantibus, vor sich gehen. Gemäß diesem Weistum erst wandelte der Kaiser die Mark in ein Herzogtum um und gab er dieses dem bisherigen Markgrafen und dessen Gemahlin derart zu Lehen, daß sie und ihre Kinder es zu Erbrecht vom Reiche, hereditario iure a regno, besitzen, es bei erbenlosem Tode frei einem Dritten zuwenden und jedermann hindern konnten, ohne ihre Zulassung darin Gericht zu halten, in eiusdem ducatus regimine sine ducis consensu vel permissione aliquam iusticiam . . . exercere. Es versteht sich von selbst, daß dieses Urteil die Rechte des längst bestehenden Landes Österreich (oben: § 210) nicht berührte und von ihnen nicht zu reden brauchte, weil sie zwischen den beiden Heinrichen nicht hatten strittig sein können und überhaupt von niemandem einseitig verändert werden konnten. Nicht also das Land, sondern allein Kaiser und Reich verpflichteten sich durch das Urteil, jeden nach Erbrecht dazu befugten Nachfahren des Herzogspaares und gegebenenfalls jede andere von diesem designierte Person als für das Herzogsamt geeignet anzunehmen und mit dem Herzogtum zu belehnen; nur sie machten sich verbindlich, wider Willen des Herzogs im Lande keine Richter einzusetzen, wobei man es gewiß mit Absicht offenließ, ob damit die Leihe einer Gerichtsherrschaft oder die amtliche Übertragung des Königsbannes auf von wem immer gekorene oder belehnte Richter gemeint war, denn es mochte zwischen Herzog und Land durchaus strittig sein, ob die Richter weiterhin aus königlicher Vollmacht amtieren oder nunmehr allein den Herzog vertreten sollten. Nichts also sagt das Urteil vom 17. September 1156 darüber aus, daß oder ob auch das Land jeden Erben des Herzogspaares als zum Landesherrn geeignet werde ansehen und annehmen müssen, auch wenn er nicht mit Zustimmung des Landes designiert worden wäre noch sich zuvor durch Bestätigung des Landrechts für dieses Amt qualifiziert hätte, nichts auch darüber, daß oder ob das Land jeden vom Herzog gesetzten Richter werde hinnehmen müssen, bevor er vom Könige analog zu dem Frankfurter Reichsschluß von 1149 die Banngewalt empfangen hätte. Seine
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Bereitschaft, Heinrich und Theodora zu Herren anzunehmen, brauchte das Land nicht zu bezeugen, da es sie ja bereits als Markgrafen über sich gesetzt hatte. § 327b. Anders lagen die Verhältnisse bei der Errichtung des Herzogtums Würzburg im Jahre 1168. Denn diese Maßnahme zog lediglich den Schlußstrich unter die weit zurückreichende Ausbildung eines Landes (oben: § 210, unten: § 451. M.-L. Crone 1981. W. Petke in RI 4, 1, 1 n. 151 S. 98); sie war weder ein Urteil über umstrittenes Fürstenrecht noch ein bloßer Vertrag zwischen Kaiser und Bischof, sondern über den Vertrag hinaus auch Willensäußerung des Landes, für das der Bischof in herkömmlicher Weise (oben: §§ 231, 306) das Wort führte und Wohltaten entgegennahm. Denn auf dem Reichstage, in generali curia, zu Würzburg erschien vor Kaiser Friedrich I. Bischof Herold an der Spitze des Domkapitels und einer ansehnlichen Menge Edelfreier und Ministerialen, cum omni ecclesie conventu et spectabili liberorum et ministerialium multitudine, um die Bestätigung jeglicher Gerichtsbarkeit zu erbitten, welche Bischöfe, Kirche und Herzogtum von Würzburg seit jeher besessen hätten (MGH. DF. I. 546 S. 5 Z. 25 – 30). Die Identität der drei Petenten, des Bischofs, des Domkapitels und der Volksmenge, mit den drei Rechtsträgern, Bischof, Kirche und Herzogtum, ist unübersehbar, das Herzogtum zudem eine als Land bereits bestehende rechts- und handlungsfähige, jedenfalls als Petent beim Reiche zugelassene Verbandsperson. Als Worthalter und Mandatar dieser Verbandsperson nun ließ die Reichskanzlei den jeweils lebenden Würzburger Bischof auftreten. Denn in der Disposition des Diploms heißt es, der Kaiser übergebe und bestätige die Gerichtsbarkeit zwar dem Bischof Herold und seinen Nachfolgern, er tue dies jedoch wegen der Fürsprache der Domherren und überwunden von dem unabweislichen Verlangen der anwesenden Alt- und Neufreien, pro . . . interventu sacri collegii predicte ecclesie . . . ac liberorum et ministerialium indefessa supplicatione devicti (ebd. Z. 38 – 40). Die herzogliche Gerichtsbarkeit bestimmten Fürsprecher und Bittsteller als volle, im ganzen Bistum und Herzogtum von Würzburg und in allen darin gelegenen Dingverbänden, cometiae, zu übende Gewalt, um über schweren Landfriedensbruch, über Eigen, Lehen und eigene Leute und über das Leben beklagter Dinggenossen Gericht zu halten (ebd. Z. 41 – 44, S. 6 Z. 4 – 5). Diese Hoch- und Blutgerichtsbarkeit über die Landleute und Petenten sollte niemand anders ausüben als der Bischof-Herzog oder dessen beauftragter Richter, nisi solus Wirzeburgensis episcopus et dux vel cui ipse commiserit (ebd. S. 6 Z. 6 – 7). An dieser Stelle erwartet man eine Bemerkung über die Pflicht der Richter, vom Könige die Amtsvollmacht oder Banngewalt zu empfangen. Indessen mag dies zwischen dem Lande und dem Herzoge ebenso umstritten gewesen sein wie in Österreich und anderswo (H. Aubin 1920 S. 242 f.) und die schwer deutbare Bestimmung veranlaßt haben, daß ausnahmsweise die Grafen das Gericht über diejenigen Freien, die das Volk Bargilden nennte und die in den Cometien wohnten, nach der bestehenden Ordnung auch fernerhin zu empfangen hätten, hoc excepto quod comites de liberis hominibus, qui vulgo bargildi vocantur, in comitiis habitan-
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tibus statutam iustitiam recipere debent (ebd. S. 6 Z. 6 – 7). Das Bargilden- oder Zentgericht muß demnach immer noch als königliches Gericht gegolten haben und im Namen des Königs abgehalten worden sein (Ph. Heck 1931 S. 254 ff.), auch wenn die Landleute die Forderung, die Zentgrafen müßten den Königsbann empfangen, nicht durchsetzen konnten. Der Bischof-Herzog, der ebenso wenig wie der Markgraf von Österreich an dem Frankfurter Reichstage vom 21. August 1149 teilgenommen hatte, war offenbar nicht gewillt, dessen Weistum analog auf sich und die Zentgrafen anzuwenden und eine Folgepflicht gegenüber dem Reichsspruch anzuerkennen. Und wohl nur an die Dingverbände der Cometien und Zenten (anders: E. von Guttenberg 1927 S. 373) konnte sich das Verbot richten, innerhalb des Herzogtums und seiner Grafschaften ohne Erlaubnis des Bischof-Herzogs neue Dingstätten einzurichten und Zentgrafen einzusetzen, ne aliquis . . . aliquas centurias faciat vel centgravios constituat (ebd. S. 6 Z. 8 – 9). Das Recht der Dingverbände, beides zu tun, war damit anerkannt, wenn sie sich seiner auch nicht mehr einseitig bedienen konnten. § 328. Da die zu gräflichem und dynastischem Range emporgetiegenen Edelfreien des Würzburger Landes nicht mehr vor den Zentgrafen, sondern nur noch vor dem Bischof-Herzog und Landesherrn und dessen iudicium provinciale zu Recht standen (E. von Guttenberg 1927 S. 198 A. 99, 336), haben wir in den Ministerialen, deren gemeinsam mit jenen erhobenes Begehren Bischof Herold dem Kaiser vortrug, die Sprecher und Worthalter der jetzt vornehmlich aus Neufreien bestehenden Zentgerichtsgemeinden zu sehen (oben: § 159), Sprecher also jener Kreise, die in den Zenten die Richterstühle und Schöffenbänke besetzten, die Grundbesitzverhältnisse bezeugten, dank ihrer Rechtskenntnis die Land- und Stadtrechte tradierten (oben: § 162) und damit die Rechtseinheit des Landes ebenso verbürgten, wie es drei Jahre später im kölnischen Lande die Prioren und Edlen taten, deren Rat befolgend Erzbischof Philipp von Köln die Andernacher Schöffenordnung sanktionierte (oben: § 314, auch § 302). Kein Zweifel, daß sie sich, wenn sie als Petenten, den Bischof-Herzog beaufsichtigend, vor die um den Kaiser versammelten Reichsfürsten traten, schon damals mit dem Lande oder Herzogtum in derselben Weise identifizierten, wie es später die Landstände taten (oben: §§ 13, 38), indem sie erklärten, sie seien das Land. Im Lande des Bischofs von Bamberg, das im wesentlichen aus der Grafschaft im Radenzgau hervorging, war schon im Jahre 1015 eine Hochstifts- und Landesangelegenheit, nämlich ein Austausch von Gütern, denen zweifellos Hofgerichte und folglich Hofgerichtsgemeinden anhingen, mit dem Abte zu Fulda mit Einwilligung der Domkanoniker, ritterlichen Edelfreien und neufreien Ministerialen, assensu et voluntate omnium fratrum militum et servientium, behandelt worden (MGH. DH. II. 335 S. 426 Z. 9). An der Spitze der sieben edelfreien Zeugen des Vertrages standen der Vogt, der den Bischof im Grafengericht vertrat, und der Graf, in dessen Dingbezirken (DH. II. 366) die beiden an Fulda aufzulassenden Stiftshöfe gelegen waren. Die ebenfalls zu siebent (der von Karl dem Großen vorgeschriebenen Schöffenzahl, oben: § 309) als Zeugen genannten servientes sind
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als Worthalter des bambergischen Hof- und Vogtdingverbandes (unten: Elftes Kapitel) anzusehen, die gemeinsam mit sieben Edelfreien das Interesse des Landes Bamberg vertraten, wie denn ebenfalls je sieben milites et servientes als Zeugen für das Land von Fulda, ferner sechs Bischöfe als solche für das Reich anwesend waren (DH. II. 335 S. 426 Z. 13 – 19). Der anschließend von Kaiser Heinrich II. als oberstem Herrn des Reichskirchengutes beurkundete Vorgang hätte ohne das Zeugnis dieser Männer weder die beteiligten Länder noch das Reich verbindlich gemacht. In den bambergischen und fuldischen Rittern des Jahres 1015 können wir die Nachkommen jener principes oder primores oder maiores natu de comitatu erkennen, die uns im 9. Jahrhundert als freie Grundeigentümer, Zeugen und Schöffen in den Grafschaften begegneten (oben: §§ 275b, 287, 297). Ihnen standen nun die servientes aus den Immunitäten beider Kirchen insofern gleich, als sie ihr Mitbestimmungsrecht nicht in eigener Sache, sondern in einer öffentlichen Angelegenheit ausübten (E. von Guttenberg 1927 S. 179, 291, 300, 303 f.): „Durch Zeugendienst und Beratungsrecht“ waren die Ministerialen „schon seit dem 11. Jahrhundert an den politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen ihres Herrn beteiligt, in ihnen liegt die Wurzel des landesherrlichen Beamtentums wie der territorialen Landstände“ (ebd. S. 326). Zu ihnen gesellten sich aber immer mehr Edelfreie nicht zuletzt deswegen, weil sie vom Bischof Lehen annahmen, um sich die Heerfahrtlast zu erleichtern (oben: § 317b), zugleich aber um ihrer Freiheit willen darauf bedacht, die Stammsitze ihrer Häuser aus dem Lehnsverbande herauszuhalten (ebd. S. 247, 295 f.). „So bildeten sich in den geistlichen Territorien Verhältnisse aus, die als die Grundlage ständischer Mitwirkung bei öffentlichen Angelegenheiten anzusehen sind. Daß ähnliches sich aber auch in den weltlichen Fürstentümern fand, ist an sich nicht zu bezweifeln und auch wenigstens an einigen Beispielen zu belegen“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 311). § 329. Es war also gewiß keine Neuerung, sondern lediglich die Feststellung längst bestehenden, wenn auch in Zweifel gezogenen Rechtes, als am 1. Mai 1231 vor König Heinrich und dem zu Worms versammelten Reichshofe ungenannte Petenten die Rechtsfrage stellten, ob Landesherren einem Lande Satzungen geben und neue Lasten auferlegen dürften, ohne dessen Worthalter zu beteiligen, si aliquis dominorum terre aliquas constituciones vel nova iura facere possit melioribus et maioribus terre minime requisitis. Als einhellige Meinung der Fürsten stellte der König fest, daß weder fürstliche noch andere Herren dazu befugt wären ohne vorgängige einmütige Bewilligung des Landes, nisi meliorum et maiorum terre consensus primitus habeatur (MGH. Const. 2, 420 n. 305. F. Keutgen 1918 S. 142 – 144, 160 – 167). Die anonymen Petenten sind schwerlich unter den Reichsfürsten zu suchen, da sie als solche wohl nicht ungenannt geblieben wären. So ist anzunehmen, daß es alt- oder neufreie Worthalter eines bestimmten Landes waren, die namens der Landesinsassen ein solches von ihrem Landesherrn behauptetes Satzungsrecht anfochten, Männer, deren Landesgemeinde als reichsunmittelbar aner-
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kannt war, da der Reichshof ihre Frage zur Beantwortung annahm, und deren Recht auf Mitbestimmung im Lande König und Reich mit ihrem Beschluß unter ihren Schutz stellten. Die besonders guten (tauglichen) und großen (alten) Männer des Landes sprachen weder für die fürstlichen Vasallen noch für die Hintersassen, weder für den Lehns- noch für den Hofverband des Landesherrn, sondern für königsunmittelbare, als Umstand mit sekundärer Gesamtstimme sowohl zur Königswahl als auch zum königlichen Hoftage zugelassene alt- oder edelfreie Dynasten und Prälaten und für die neufreien Genossen von Land- und Stadtgemeinden (J. Schultze 1970 S. 70 f.), die in dem Lande mit freiem Eigen oder Lehen angesessen waren, wessen Vasallen oder Zensualen auch immer sie sein mochten, und die der Herr erst noch zu Untertanen gewinnen und dazu bewegen mußte, ihn als Landesherrn anzunehmen, denen aber daran gelegen war, ihre Reichsunmittelbarkeit zu behaupten, und die, wenn der König sie schon, was Landfrieden und Rechtsschutz betraf, an einen Fürsten verwies, diesem als Landesherrn doch nicht mehr Zugeständnisse zu machen und Dienste zu leisten bereit waren, als sie dem Reiche schuldeten. Wie sie im Reiche zur Teilhabe am Regimente berechtigt waren, so wollten sie es auch im Lande sein. Wenn der Herr aber versuchte, sie und die verschiedenen Dingverbände, denen sie angehörten, gegeneinander auszuspielen, indem er einzeln mit ihnen verhandelte, sobald er ein Anliegen an das Land hatte, so zwang er sie dazu, sich in freier Einung zusammenzutun, um ihm gemeinsam zu widerstehen und sich als Land eine kontinuierliche Existenz zu verschaffen (F. Keutgen 1918 S. 149 – 152) – frei in dem oben (§ 218) angegebenen Sinne, der nicht Freiheit von Herrschaft überhaupt, wohl aber eine vom Gebote des Herrn unabhängige Willensbildung meinte. Es hing auch nicht vom Belieben des Landesherrn ab, sondern stand allein bei den meliores et maiores des Landes, wen sie als Genossen in ihre Einung aufnehmen wollten. Die neuen Rechte, die die Herren ihnen auferlegen wollten, dürften in erster Linie finanzieller Natur gewesen sein. Zwar sind Beispiele für die Steuerbewilligung durch Landesinsassen bereits aus dem 13. Jahrhundert bekannt, aber der Bedarf trat noch selten auf. Sobald er jedoch regelmäßiger wiederkehrte, befestigte er die Landesverfassung dahingehend, daß sich die meliores et maiores terrae im Wege der bereits (oben: §§ 163, 208) beschriebenen Abschließung vom Landesvolke als Landstände konstituierten (ebd. S. 158 f. G. von Below 1923 S. 57 f.). § 330. All dies kann weder im Interesse der Fürsten und Landesherren noch in dem Kaiser Friedrichs II. gelegen haben, der jene um seiner Italienpolitik willen um jeden Preis zufriedenzustellen trachtete und gemeinsam mit ihnen darauf sann, sowohl die Reichsunmittelbarkeit der Stadt- und Landgemeinden als auch das Recht der freien Einung zu vernichten (oben: §§ 256 – 259). Und so sehen wir uns abermals (oben: § 325) zu der Annahme verleitet, daß die Fürsten den Wormser Reichsspruch vom 1. Mai 1231 nur notgedrungen von sich gaben, nämlich auf Ver-
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langen der meliores et maiores ihrer eigenen Länder, deren genug im Umstande des Hoftages versammelt gewesen sein werden, um ihren Willen kundzutun, und deren Konsens die Fürsten auch auf dem Hoftage suchen mußten, wenn sie ein Weistum zu finden hatten, wollte nicht jeder von ihnen sein eigenes Land zum Widerstande reizen und sich den Gehorsam seiner Untertanen verscherzen, auf deren Willen, ihn als Herrn anzunehmen, er doch angewiesen war und auf deren Beifall sein Herrenrecht, seine Macht und seine Einkünfte beruhten. So blieb den Fürsten nichts anderes übrig, als ihren Willen mit dem ihrer Länder zu identifizieren und als Volks- und Reichsrecht zu bezeugen, was ihren landesherrlichen Willen und politischen Spielraum aufs ärgerlichste beschränkte. Allerdings verlangten der König und die Länder von ihnen damit weder, daß sie auf ein anerkanntes Fürstenrecht der Besteuerung verzichteten, da es ein solches nicht gab, noch daß sie den Landessprechern per Privileg zuvor unerhörte Befugnisse der Mitbestimmung einräumten, sondern lediglich, daß sie auf eigene Neuerungen verzichteten und den bestehenden Rechtszustand bekräftigten, dem zufolge jede einseitige Einführung ungewöhnlicher, von den Untertanen als neu und deshalb unberechtigt empfundener fürstlicher Vorrechte ganz allgemein und schlechthin unzulässig sei. Die Worthalter der Länder beharrten auf einer althergebrachten Beschränkung der Vollmacht ihrer Häupter, welche weder der König noch die Fürsten übersteigen konnten, ohne mit ihnen zu paktieren und einen gemeinsamen Willen herzustellen. Das Landesrecht der Steuerbewilligung war daher nur Teil in einem größeren Ganzen, das jetzt die Rechtsformen der landständischen Verfassung anzunehmen begann und seinen Rechtsgrund nicht in privilegierender Herrengewalt von Gottes Gnaden, sondern in dem Herrschaftsvertrage besaß, dessen Geltung das Reich im Jahre 1231 unter seinen Schutz stellte und den Ländern garantierte (F. Keutgen 1918 S. 142 – 144, 163 – 167). Und in der Tat hat sich später, seit dem 17. Jahrhundert, das Reich ausdrücklich zu seiner Pflicht bekannt, wie jedermann, so auch die Landstände bei ihrem Rechte zu erhalten, indem es Klagen derselben gegen ihre Landesherren zur Entscheidung annahm (B. Stollberg-Rilinger 1999 S. 24, 60, 63 f.). Als Richtschnur, an die sich das Land und der Herr zu binden hatten, wenn sie den Herrschaftsvertrag aushandelten, hatte der Gemeinnutzen des Landes zu dienen. Dessen Begriff war zwar nicht eine Schöpfung der neufreien Stände, die seit dem 12. Jahrhundert die deutsche Verfassungsgeschichte maßgeblich beeinflußten. Gleichwohl begann er erst jetzt, da sie ihn aufgriffen und zur Erreichung ihrer Ziele benutzten, seine verfassungsbildenden Kräfte voll zu entfalten. Denn Fürsten und Landesherren waren ihnen zwar nach Zensualenrecht zu Schutz und Schirm verpflichtet (oben: §§ 152, 159), aber dessen politischen Rahmen und Zweck bestimmten sie doch nach dem eigenen, dem Herren- oder Gotteshausnutzen. Erst die misera contribuens plebs der durch genossenschaftlichen Verbund gestärkten Ritter, Bürger und Bauern, die ihren gemeinen Willen auf den Landtagen durchsetzten, nötigte sie dazu, das Land- und Territorialrecht mit Rücksicht auf ihren als den gemeinen Nutzen des Landes zu legitimieren.
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Gewiß hatten die Gerichtsherren seit jeher, wollten sie die Zustimmung des Landes zu Landfolge oder Beisteuer gewinnen, den Dinggenossen und Landleuten die Frage zu beantworten, ob, und den Beweis zu liefern, daß dem gemeinen Wohle des Landes eine Gefahr drohte, die sie auf andere Weise nicht abzuwenden wüßten, und daß sie ihre Schutzpflicht nicht länger erfüllen könnten, wenn ihnen das Land nicht in der geforderten Weise zu Hilfe käme. Schon im 10. Jahrhundert bedang sich ein edler Tradent und Prekarist namens Hartmann vom Abte zu Fulda die Wohltat aus, Heerfolge und Dienst nur dann leisten zu müssen, cum potestas regia aut abbatis necessitas eum secum ire compelleret (Dronke C. d. S. 338 n. 724), und gewiß war dabei inbegriffen, daß er selbst und gemeinsam mit seinesgleichen oder mit dem Lande darüber zu befinden habe, ob eine vom Abte behauptete Not wirklich derart gegeben war, daß sich die Gemeinde zur Hilfe verpflichtet sah. Wäre diese Interpretation richtig, so hätten wir es bereits in so früher Zeit mit dem Begriff der Landesnot zu tun, der sich im späteren Mittelalter als Angelpunkt jeglicher Steuerbewilligung erwies. „Nicht von oben durch die Macht eines Fürsten, sondern von unten durch den Willen des Volkes“ hielt dieser Begriff seinen Einzug in das deutsche Verfassungsrecht als Widerpart zu der veraltenden Berufung auf Schutz und Schirm, mit der allein die Fürsten noch lange fortfuhren, ihre Herrschaft zu legitimieren (A. Diehl 1937 S. 315. F. Keutgen 1918 S. 172 f. P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 103).
Zehntes Kapitel
Zum Stande der Forschung §§ 331 – 335. Triumph der landesgeschichtlichen Schule § 331. Wie dicht sich die verfassungsgeschichtliche Forschung bereits vor 1918 an die Aufgabe herangearbeitet hatte, die Grafschaft nicht nur als herrschaftliches, sondern auch als volkliches Gebilde, als Dinggenossenschaft, zu betrachten, das kann man der Lehre Friedrich Keutgens (1861 – 1936) entnehmen, der zufolge Länder nicht allein vom Willen der Fürsten und Landesherren geschaffen werden konnten, da sie erst in ihren Bewohnern, als Hütern des Landrechts, Körperlichkeit gewannen (oben: § 326), daher jegliche lehnrechtliche oder patrimoniale Interpretation der Landesherrschaft zurückzuweisen sei. Namentlich von dem germanischen Herreneigentum an Land und Leuten (oben: §§ 143, 146), so meinte Keutgen, könne sie nicht hergeleitet werden, denn der Landesherr sei nicht Herr aller Ländereien, nicht Obereigentümer allen Bodens, nicht Herr des Landes oder am Lande, sondern Herr in einem Lande und über freie Grundeigentümer gewesen, sein Verhältnis zur terra nicht als dominium nach gemeinem, sondern als imperium nach deutschem Rechte anzusehen (F. Keutgen 1918 S. 135 – 137). An diesem Urteile ist festzuhalten. Da lat. imperium im Mhd. als (kaiserliches) Gebot, Recht, Reich, wiedergegeben wurde (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 288), spricht Keutgen hier von der Banngewalt, die in älteren Zeiten der König von seinem Volke freier Männer zu empfangen pflegte, damit er von ihnen Gehorsam und Treue verlangen konnte, die er jedoch hernach in allen wesentlichen Teilen an die Landesherren weitergegeben hatte. In dieser Richtung tat Otto Brunner (oben: §§ 50, 213 – 216), obwohl er Keutgens Denkweise nicht schätzte (O. Brunner 1943 S. 126 A. 2, 165 A. 3 = 1965 S. 113 A. 2, 146 A. 2), lediglich einen weiteren Schritt, als er erklärte: „Das Wesensmerkmal des Landes ist nicht das Vorhandensein eines Landesherrn, . . . dessen . . . Staatsgewalt ein Staatsvolk schafft und ein Staatsgebiet, das Land, konstituiert, sondern eine Landesgemeinde, die nach Landrecht lebt“ (ebd. 1943 S. 223 = 1965 S. 194). „Solche Länder können einen Herrn haben, müssen es aber nicht“ (ebd. 1943 S. 266 = 1965 S. 231). Indessen schlug der Gang der Forschung vorerst eine andere Richtung ein. Obwohl sich schon damals erkennen ließ, daß der Charakter der Grafschaft, der aus ihr hervorgehenden Hochgerichtsherrschaft (oben: § 310) und schließlich der Landesherrschaft als öffentlichen Amtes, Amtsbezirks und (partikularen) Untertanen-
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verbandes aus der Verbindung und Verschmelzung königlicher und volklicher Vollmachten beruhte, die das Verbandshaupt empfing, unternahm Adolf Waas (oben: §§ 144b, 167) im Jahre 1938 den Versuch, beides radikal auseinanderzureißen und die sich gegenseitig ausschließenden Vorstellungen einer volksrechtlichen und einer herrschaftsrechtlichen Grafschaft als mittelalterlich zu erweisen. Dabei stützte er sich auf die Königsurkunden des hohen Mittelalters, ohne jedoch deren Blickrichtung und prozessualen Charakter (unten: Letztes Kapitel) und den Umstand zu beachten, daß sie uns über Erhebung und Ermächtigung der Grafen nur sehr unvollkommen unterrichten können. So ist es kein Wunder, daß seine Suche „nach rein volksrechtlichen, von Herrschaftsrechten unabhängigen Grafschaften“ oder Grafschaften mit volksrechtlichem Amtscharakter (A. Waas 1938 S. 187, 190, 193, 199, 282 f.) durchaus erfolglos blieb. Vielmehr erwiesen sich alle Grafschaften entweder als Königsbannbezirke oder als Allodialgrafschaften. Von den Bannbezirken nahm Waas an, in ihnen habe der König nach einem besonderen königlichen Herrschaftsrecht einen speziellen Königsschutz ausgeübt, der zu unterscheiden sei vom allgemeinen Königsschutz nach Volksrecht (ebd. S. 310 f., vgl. 286, 302), während in den Allodialgrafschaften ein Dynast die Grafenrechte aus eigenem, angestammtem Rechte handhabte (ebd. S. 182, 325). Dem Königtum war demnach eine doppelte Rechtsgrundlage zuzuschreiben: Einerseits schützte der König, und nur er, das Volksrecht, das allen Volksgenossen gemein war, andererseits übte er gleich allen adligen Herren ein Herrschaftsrecht, welches jeweils nur Einzelne auf Grund von besonderen Beziehungen erfaßte, alle anderen Volksgenossen aber ausschloß (ebd. S. 286). Dagegen ist mit der volksrechtlichen Form offenbar eine Grafschaft gemeint, deren Haupt seinen Amtsauftrag ebenso von der Dinggenossenschaft empfing, wie der König einen volksrechtlichen Amtsauftrag aus seiner Wahl durch Große und Volk herleiten konnte. „Es ist wesentlich, auf welchem Recht des Königs seine Gerichtsherrschaft ruht, ob die Grafschaft ein öffentliches, volksrechtliches Amt ist oder eine privatherrschaftliche Vertretung des Königs darstellt, und ob der Königsbann Kennzeichen eines allgemeinen Volksrechts oder königlichen Herrschaftsrechtes ist. Gewiß die äußeren Erscheinungsformen sind die gleichen, aber Sinn und Geist dieser Formen und damit das Wesen des deutschen Königtums ist ein anderes, je nachdem ob man diese Formen volksrechtlich oder herrschaftsrechtlich deutet“ (ebd. S. 189). § 332. Diese wenig lichtvollen Ausführungen fanden nur in einem Punkte Beachtung, im großen und ganzen blieben sie wirkungslos: „Volksrecht von unten her, Herrschaftsrecht von oben aus,“ dieses dem Ursprunge nach privatrechtlich, der Funktion nach jedoch öffentlich, das Volksrecht eine Stütze allein des Königs, während sich auf Herrschaftsrecht jeder Herr habe berufen können: Diese Lehre sei weder notwendig noch tauglich, um den geschichtlichen Befund zu erklären; „Einrichtungen, die dem König allein, und zwar ihm als König zur Verfügung stehen, sind nicht privatrechtlich,“ der Begriff des Privaten sei überhaupt dem 10. Jahrhundert fremd (Th. Mayer 1939a S. 380, 383). Namentlich die Lehre von der Königsherrschaft als Muntgewalt (oben: § 144b) stellt sich uns als eine jener
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Mystifikationen dar, die man erfinden muß, wenn man sich weigert, Herrschaft vom Volkswillen, von rechtlich freiwilliger Unterwerfung der Freien unter die Gebotsgewalt herzuleiten, die sie selbst über sich erheben. Lediglich der Ausschluß des Volksrechts aus der Verfassung der Grafschaft und die Behauptung, seit der Auflösung des Karolingerreiches habe es Grafschaften nur noch entweder als Königsbann- oder als Adelsbannbezirke gegeben, gelangte zu allgemeiner Anerkennung. Mit Recht, so hieß es, habe Waas auf die politische Bedeutung und rechtliche Funktion des Königsgutes hingewiesen (ebd. S. 384). So trat das Königsgut als Grundlage königlicher und gräflicher Machtausübung an die Stelle des Volkes und völkischer Bevollmächtigung seiner Häupter, ohne daß man noch lange nach dem Rechte solcher Machtausübung fragte: „Der fränkische Graf war in Deutschland meist nichts anderes als königlicher Kommissar zur Durchsetzung und Erhaltung der fränkischen Herrschaft über Deutschland, seine Aufgabe war daher die staatspolitische Überwachung des Volkes und seiner Einrichtungen, weshalb er gerade an den strategisch entscheidenden Punkten angesetzt wurde, ohne daß deshalb die bisherigen Einrichtungen, besonders die Gerichtsbarkeit aufgehört hatten; sie sind nur kontrolliert worden. Seine Macht stützte sich auf das ihm überwiesene Königsgut. Die Grafen sind in Deutschland vielfach durch Zusammenfassung älterer Institutionen, Gerichte, entstanden, doch soll man bei der Grafschaft nicht zu stark an den Sprengel als Ausgangspunkt denken, denn die klar umschriebenen Bezirke stellen für die Grafschaft eine jüngere Entwicklung dar“ (Th. Mayer 1939 S. 465). Diese Lehre verschmolz nun mit der Annahme, durch Rodung hätten Grafen und adlige Herren Herrschaft usurpieren und Untertanenverbände kreieren können (oben: § 294). „Die spätere Entwicklung des hohen Mittelalters hat gezeigt, daß es für die Verfassung eines Landes von grundlegender Bedeutung war, ob dieses von altersher offenes, freies Siedlungsgelände war oder ob es erst später in Kultur genommen worden ist . . . Wer durch die Besitzergreifung eines Landes einen Raum beherrschte, konnte neue Formen der staatlichen Herrschaft begründen“ (Th. Mayer 1943 S. 11 f.). Auch Walter Schlesinger ließ die Grafschaft nur noch als herrschaftliches Gebilde, nämlich entweder als königliches Amt oder als Allodialgrafschaft, gelten. Im Thüringer Lande, mit dem er sich im einzelnen befaßte, meinte er als Grafschaften lediglich Königsgutbezirke anzutreffen (W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 176, 200. H. Patze 1962 S. 124 Anm. 194, 195, S. 126). In engstem und ängstlichem Anschluß an die einheimischen Quellen unterschied er zwischen Grafschaften, die in Königsurkunden so genannt werden und von Heinrich I. und Otto I. neu geschaffen sein sollten, auf der einen Seite und andererseits den nur in Privaturkunden genannten Grafen, in denen lediglich mächtige Adlige zu sehen seien, die einen aus dem 9. Jahrhundert überkommenen Titel führten, aber mit der Reichsverfassung nichts zu tun hatten: Ihre Grafschaften seien aus eigenem Rechte erwachsen, der König erkennte nur die mächtigsten von ihnen an und beschränkte sich im übrigen darauf, die Herzogtümer in Lehnsabhängigkeit zu nehmen. So sei ein neuer Typus von Grafschaftsverfassung entstanden, der nicht in Kontinuität zur karolingischen
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Amtsgrafschaft stehe, sondern eine Schöpfung König Heinrichs I. gewesen sei. Er habe aus Bezirken königlicher Herrschaft, aus Königs- und Reichsgutbezirken bestanden (S. 199 f. H. Hoffmann 1990 S. 376). § 333. Mit diesen Arbeiten und dem gleichzeitig erschienenen Buche von Otto Brunner über die territoriale Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands von 1939 (O. Brunner 1943) übernahmen Landesgeschichte und historische Landesforschung die Federführung in Sachen Verfassungsgeschichte (Th. Mayer 1939 S. 458), und so erfolgreich walteten sie ihres Amtes, daß die neue Lehre schließlich Aufnahme in Gebhardts Handbuch fand (K. Bosl 1970 S. 720) und damit das Ansehen einer communis opinio erlangte. Dieser Siegeszug erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß die Landesforschung in der Konzentration auf eine bestimmte Landschaft fächerübergreifend zu arbeiten und die Erkenntnisse der Geschichte, der Urkundenlehre, der Dialekt- und Siedlungsgeographie, der Ortsnamenforschung, Volkskunde und Archäologie zusammenzuführen vermochte, so daß sich die einzelnen Forscher „aus der Vereinsamung ihrer Disziplinen im Bereich der Kulturwissenschaften“ erlöst sahen (H. Aubin 1926 S. VII). Hinzu kam die Möglichkeit, das reiche gedruckte und ungedruckte Material an Privaturkunden, Urbaren und behördlichen Akten auszuschöpfen, dessen sich die ältere, als Reichsgeschichte angelegte Verfassungsgeschichte stets nur vereinzelt hatte bedienen können, das aber jetzt, bei Auswertung nach den fächerübergreifenden Methoden der Landesforschung, einen überwältigenden Reichtum an Informationen offenbarte. Außerdem bot es den Vorteil, dürftige und schwer verständliche Nachrichten aus älterer Zeit mit Hilfe der umfassender dokumentierten Verhältnisse späterer Jahrhunderte zu entschlüsseln (oben: §§ 154, 286), da ja die Rechtsordnungen meist über ein Jahrtausend hinweg konstant waren oder sich doch nur nach Regeln veränderten, die zu ergründen selbst eine Aufgabe der Geschichtsforschung darstellt. Von der älteren Reichsverfassungsgeschichte unterscheidet sich also die neuere territoriale Verfassungsgeschichte nicht nur im Methodischen, sondern auch in dem Quellenbestande, auf den sie sich vornehmlich stützt. Berief sich jene vor allem auf Volksrechte, Kapitularien, Königsurkunden, Reichsweistümer und Rechtsbücher, deren Edition sich die Monumenta Germaniae Historica angelegen sein ließen, so baut diese in erster Linie auf Privaturkunden und auf das amtliche Schriftgut landesherrlicher und städtischer Behörden, mit dessen Erschließung im 19. Jahrhundert die Geschichtsvereine begonnen hatten und dann die Historischen Kommissionen der Bundesländer und preußischen Provinzen fortfuhren. Dieser Austausch der Quellengrundlage ist wohl der wichtigste Grund dafür, daß die im frühen 20. Jahrhundert begonnene Zusammenarbeit zwischen den beiden Forschungsrichtungen seit 1938 zum Erliegen kam. In der Sache selbst jedenfalls ist ein Grund dafür nicht zu entdecken, da die jüngere, landesgeschichtliche Schule die Lehren der älteren Verfassungsgeschichte weder widerlegen konnte noch auch nur zu widerlegen versuchte, sondern sie bloß beiseiteschob oder umging. Wider-
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sprachen ihre Erkenntnisse denen der Reichsgeschichte, so nahm sie mit Vorliebe an, den in der Reichskanzlei oder im Umkreise der Reichsregierung entstandenen Gesetzen und Diplomen fehlte es an Kenntnissen der Details, sie bezeugten uns lediglich den auf Vereinheitlichung aller Verhältnisse gerichteten Willen der Herrscher, ließen uns aber über die Durchführung dieses Willens derart im Dunklen, daß an eine Verwirklichung jenes Willens nicht zu denken sei. § 334. So kam es zu ganz widersprüchlichen Urteilen insbesondere über die Regierungsweise der karolingischen Könige. Einerseits schrieb die Landesforschung ihnen höchst wirksame Maßnahmen der politischen Machtentfaltung und Raumerschließung durch Konfiskationen und Einrichtung von Reichsgütern oder durch Ansiedlung fränkischer Königsfreier in den rechtsrheinischen Ländern zu, mit deren Hilfe sie das Großreich zu einen und zu stabilisieren verstanden; auf der anderen Seite aber bezweifelte sie ihre Fähigkeit, den in Kapitularien und Diplomen erklärten königlichen Willen in den Regionen des weit ausgedehnten Reiches durchzusetzen. Als ebenso fern von den regionalen Besonderheiten und damit von der Wirklichkeit betrachtete sie die Königsurkunden des Hochmittelalters, deren in der Reichskanzlei gepflegte einheitliche Rechtssprache eine Einheitlichkeit der Rechtsverhältnisse durch das ganze Reich hin vortäuschte, wie es sie in Wahrheit nicht gegeben habe. Hinter diesem Widerspruch verbirgt sich ein merkwürdig uneinheitlicher Umgang mit den Quellen. Dem übertriebenen Mißtrauen gegenüber den schriftlichen Erzeugnissen der Reichsregierung und den Informationen, die ihr aus den Petitionen der um Wohltaten nachsuchenden Länder und Großen sowie aus der Rechtskunde ihrer fürstlichen Berater zuwuchsen, entspricht ein ebenso übermäßiges Vertrauen in die Produkte privater Urkundspersonen und fürstlicher Amtleute, das sich vor allem in einem verwegenen Gebrauch des argumentum e silentio äußert: Was immer uns Volksrechte, Kapitularien oder Diplome an Institutionen kennen lehren – wenn ihre Lehren in den Landesurkunden kein Echo fanden, so fragte man wenig danach, warum dies so sei, sondern schloß daraus auf die Unwirksamkeit der königlichen Regierung. Quod non est in actis, non fuit in mundo. Wenn etwa in den Privaturkunden des hohen Mittelalters Grafengerichte kaum vorkommen, so gab man nichts darauf, daß diese Urkunden im wesentlichen außergerichtlich vollzogene Grundstücksgeschäfte betreffen, sondern entwarf eine Landesgeschichte, die weder von Gerichten und Dinggemeinden noch von der Schöffenverfassung und deren Ausbreitung etwas zu wissen brauchte. Jedoch schon im 19. Jahrhundert war die Forschung einmal im Vertrauen auf die Vollständigkeit landes- und ortsgeschichtlicher Quellen, als eines wahren Spiegels des Alltagslebens, in die Irre gegangen, als sie den Handel der Karolingerzeit infolge „einer völlig kritiklosen Verwertung der Quellen“ für ganz unbedeutend erklärte – weil man nicht bedachte, daß Urbare und Traditionsbücher geistlicher Grundherren darüber nach Entstehung und Zweck weder unterrichten konnten noch wollten (A. Dopsch 1921 / 22 T. 2 S. 218).
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§ 335. Vielmehr trat, weil wir aus Urbaren und Urkunden darüber unverhältnismäßig viel erfahren, der Grundbesitz sowohl des Reiches wie der Kirchen und ihrer Tradenten so sehr in den Mittelpunkt landesgeschichtlicher Aufmerksamkeit, daß die Erforschung des frühen und hohen Mittelalters nahezu völlig in der Anwendung der genealogisch-besitzgeschichtlichen Methode aufging und die Geschicke des großen geistlichen und weltlichen Grundbesitzes nahezu allein den Stoff der territorialen Verfassungsgeschichte auszumachen scheinen (oben: § 143b). Diese Umstände begünstigten ferner die Auffassung, die königliche Gewalt habe sich vornehmlich durch ihre Güter und Fisken in den Ländern des Reiches geltend gemacht, daher die Grafen in ihrer Vertretung im wesentlichen als Verwalter des Königsgutes tätig gewesen seien. Da Güterverzeichnisse und Urkunden über Königsbann, Grafengericht, Volksversammlungen und Schöffensprüche nichts zu melden wissen, glaubt auch die Landesgeschichte, darüber nicht weiter grübeln zu müssen und mit der Lehre von den Königsgutgrafschaften das Problem zu erschöpfen. Sie übersieht dabei, daß Grundbesitz allenfalls der Herrschaft eine Machtgrundlage, niemals jedoch für sich alleine einen Rechtstitel gewährte, gleichsam als ob die Jahrhunderte, in denen niemand mehr Volksrechte und noch niemand Landoder Stadtrechte aufzeichnete, zugleich rechtlose Jahrhunderte gewesen wären und keiner Rechtsgeschichte bedürften. Ganz zutreffend ist daher, wenn der Stand der Forschung skizziert wird, nur noch von Macht und nicht mehr von Recht und Verfassung die Rede: „So darf die ältere Auffassung von einer lückenlosen Einteilung des Reiches in Grafschaften auf der Grundlage der Gaue als zerstört gelten, ohne daß eine ebenso geschlossene neue Ansicht an ihre Stelle getreten wäre. Das Bild wechselt je nach den landschaftlichen Gegebenheiten; der comes ist bald ein einheimischer Adliger, bald ein Landfremder, und seine Machtbasis ist hier gräfliches Amtsgut, da königliches Lehngut und dort sein eigener Besitz. Ein königlicher Kommissar, bald für eine bestimmte Landschaft (einen Gau) bestellt, bald in verschiedenen Gegenden zugleich tätig – so steht der karolingische Graf vor unseren Augen“ (K. Kroeschell 1972 S. 95). Offensichtlich entschied allein die vom Umfang des Grundbesitzes abhängige größere physische Gewalt darüber, wer sich hier oder dort der Grafengewalt bemeistern und in deren usurpiertem Besitz behaupten konnte. Rechtsgrundlagen traut niemand der Grafengewalt mehr zu. An quellenmäßiger Begründung und klarer Definition ihrer Begriffe jedoch blieb die landesgeschichtliche Schule weit hinter der älteren Reichsverfassungsgeschichte zurück – ein untrügliches Anzeichen dafür, daß sie, soweit sie Verfassungsgeschichte sein wollte, ihre Quellen überfragte.
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§§ 336 – 344. Kritik der landesgeschichtlichen Schule § 336. Die jüngste, von Michael Borgolte nach der landesgeschichtlichen Methode meisterhaft durchgeführte Untersuchung der Grafschaftsfrage bestärkt uns in diesem Urteil insofern, als in dem Bilde, das sie mit Hilfe der Privaturkunden des Klosters St. Gallen aus dem 8. und 9. Jahrhundert entwirft, „der räumliche Aspekt der Grafengewalt in den Vordergrund rückt“, während „andere Fragen aus dem Problemkreis Grafschaftsverfassung an den Rand geschoben“ werden (M. Borgolte 1984 S. 20). Es sind dies die Fragen nach den Institutionen und Begriffen, deren zwar auch die Landesgeschichte nicht entraten kann, deretwegen sie aber weder eigene Vorschläge machen noch sich auf die ältere Lehre beziehen will. Den Notstand zeigt sie dem Leser dadurch an, daß sie die Begriffe in Anführungsstriche setzt, um sie dadurch in Fremdworte unbekannter Herkunft zu verwandeln, für deren Geltung sie nicht zu haften braucht. Von einem „Amte“ des Grafen, so heißt es weiter, dürfe man sprechen, wenn in einem bestimmten Komitat keine direkte Sukzession von Verwandten nachweisbar sei und es auch an Nachrichten über Privatbesitz der Grafen in ihrem Sprengel fehle (ebd. S. 101). Offensichtlich ist eine positive Definition nicht möglich und bleibt daher der Sinn des Wortes Amt zweifelhaft. Die bloß negative Bestimmtheit macht aber darüber hinaus die Anwendung des Begriffes auch von einem Stillschweigen der Quellen abhängig, welches die Sache angesichts der Eigenart der Überlieferung weitgehend dem Zufall ausliefert. Namentlich die „Untersuchung der Grafschaften Alemanniens auf personengeschichtlicher Grundlage“ (ebd. S. 29, 150) ist mit allen Unsicherheiten belastet, denen sich die Genealogie im Zeitalter der Einnamigkeit aller Personen ausgesetzt sieht (E. von Guttenberg 1927 S. 53). Sehr oft müssen daher die Satzaussagen durch den Gebrauch des Potentialis oder den Zusatz entsprechender Adverbien eingeschränkt werden. Wenn uns aber an anderer Stelle als positives Kennzeichen der Amtsgrafschaft die Verfügung eines Grafen über Güter ex rebus comitatus sui genannt wird, weil es sich dabei mit Sicherheit um gräfliches Amtsgut gehandelt habe (ebd. S. 182, 184), so verbietet uns die landesgeschichtliche Methode, daraus den Schluß zu ziehen, es könnten sich alle Grafen im Besitze solchen Amtsgutes befunden haben: Wir dürfen es nur dort gelten lassen, wo es uns ausdrücklich bezeugt ist. Wieder regiert der Zufall der Überlieferung, in begrifflichen Fragen betreten wir nirgendwo gesicherten Boden. Die Aussage etwa: „Die Sukzession der Grafen im Breisund Alpgau scheint ,ordnungsgemäß‘ vor sich gegangen zu sein“ (ebd. S. 125), leidet nicht nur unter ihrer Scheinbarkeit, sondern auch darunter, daß über die Ordnung, auf die sie sich bezieht, offenbar nichts bekannt ist und daher dem Verfasser sogar die Existenz von Regeln, nach denen die Grafen zu ihrem Amte erhoben und ermächtigt wurden, zweifelhaft bleibt. § 337. Es ist die Crux der neuen, vornehmlich auf die genealogisch-besitzgeschichtliche Methode gestützten Landesverfassungsgeschichte, daß sie die
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Rechtsbegriffe, deren sie sich bedienen muß, nicht begründen kann, und dies namentlich dann nicht, wenn sie den Boden der älteren Reichsverfassungsgeschichte verlassen und neue Begriffe prägen muß, wie es die Adelsgrafschaft oder Adelsherrschaft oder das eigenständige Recht des Adels auf Herrschaft sind (R. Scheyhing 1960 S. 65). Auch hier ist offenbar über Merkmale nicht hinauszukommen, die keine Definition ergeben und deren Gegebenheit dem Zufall der Überlieferung unterworfen bleibt. So liegen uns „Anzeichen für eine Verherrschaftlichung des Grafenamtes“, für eine „Adelsherrschaft eigenen Rechts“ oder für „adlige Herrschaftsbildung“ dann vor, wenn es jener Zufall will, daß in einer Grafschaft Sohnesfolge, gemeinsame Amtswaltung oder Mitregierung von Verwandten und Grundbesitz des Grafen nachweisbar sind (M. Borgolte 1984 S. 110, 141, 162, 196). Wie sich indessen aus den Tatsachen der Sohnesfolge und Begüterung ein Recht ergeben konnte und was dieses Recht im einzelnen vorschrieb (oben: § 284), auf diese Fragen vermag die historische Landesforschung keine Auskunft zu geben. So hören wir (ebd. S. 202), die gräfliche Gewalt im Hegau habe im 9. Jahrhundert ohne Zweifel auf eigenem Besitz des Grafen oder auf Verwandtschaft mit Magnaten der Gegend beruht, doch gebe es auch deutliche Anzeichen für eine Mitwirkung des Königs an der Vergabe der Grafengewalt. Wen soll man sich als Subjekt der Vergabe vorstellen, an der der König lediglich mitwirkte? eine Sippe Reicher und Mächtiger, die vom Besitz eines der Ihren aus die Grafengewalt usurpierte? oder gar die Hintersassen der Mächtigen, die deren Besitz bebauten? Wiederholt, so heißt es weiter, hätten Grafen Alamanniens über Besitz im Hegau verfügt, ohne dort die Grafschaft zu bekleiden; auch komme „der adelsherrschaftliche Aspekt der Grafengewalt im Hegau“ darin zum Ausdruck, daß dort kein eigener Komitat, also keine Gaugrafschaft, entstand. Was spricht gegen die Annahme, jene gräflichen Grundeigentümer hätten einer Dinggemeinschaft freier Männer angehört, deren Zentenar und zu den echten Dingen anreisender Graf uns, wie üblich, unbekannt bleiben? Vollends verwirrt mich schließlich die Annahme, die sub-N.-comite-Formel (oben: §§ 298, 299) sei im Einzugsbereich des Klosters St. Gallen verwandt worden, „weil sie dazu dienen konnte, comitale Herrschaft zu bezeichnen,“ wobei „sich die Aussageabsicht offenbar auf den räumlich-herrschaftlichen Aspekt“ verlagerte oder verengte (M. Borgolte 1984 S. 70 f.), denn was unter dem Grafen verhandelt wurde, pflegte, wie wir wissen, öffentlich und unter freien Männern zu geschehen, und wiederum bleibt uns die Landesgeschichte die Antwort auf die Frage schuldig, wie sich Adelsherrschaft über freie Männer erheben konnte, wenn sie nicht gewaltsam und rechtlos usurpiert wurde (oben: §§ 142 – 146), und ob die Untertanen, die doch jede Herrschaft voraussetzt, dem Grafen als Freie oder Neufreie auf Grund einer Rechtspflicht oder als Unfreie nach Sklavenart Gehorsam leisteten. § 338. Besondere Bedeutung für den Nachweis einer Adelsherrschaft, die dem Inhaber eine „Grafenstellung aus eigenem Recht“ (M. Borgolte 1984 S. 253) ver-
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schaffte, kommt der Tradition eines Grafen Chadaloh an das Kloster St. Gallen aus dem Jahre 817 zu, deren Urheber sich darin ebenso stolz wie ungewöhnlich als divina opitulante clementia comis, als Graf von Gottes Gnaden, bezeichnet. Er tradierte dem Kloster aus seinem Eigentum Güter in genannten Dörfern derart, daß er sich deren Nutzung auf Lebenszeit gegen einen Zins von fünf Schillingen sowie den Rückkauf gegen die Hauptsumme von fünfzig Schillingen vorbehielt. Nach seinem Tode sollten diese Rechte auf seinen Sohn Bertold und, falls sich dieser verheiratete und einen Erben gewann, auf diesen seinen Enkel übergehen (Wartm. UB 1, 219 n. 228). Graf Chadaloh und sein Vater Graf Bertold gehörten dem Hause der Alaholfinger oder Bertolde an, einem der ältesten bekannten alamannischen Edelingsgeschlechter, das im östlichen Baarengebiet (im Raume Riedlingen – Obermarchtal – Alt-Steußlingen) begütert war (W. Rösener 1989 S. 149 – 151). Obwohl keine der von ihnen verfügten Traditionen unter einem Grafen datiert worden ist, werden weder Chadaloh noch sein Vater jemals selbst als Inhaber eines bestimmten Komitats genannt (M. Borgolte 1984 S. 162 – 164): Wir erfahren nicht, wo die Grafschaften lagen, als deren Verwalter sie den Grafentitel führten. Ist nun daraus zu schließen, daß sie diesen Titel aus eigenem Rechte oder eigenmächtig angenommen hätten? Die Tradition von 817 ist dem üblichen Formular gemäß mit der Fiskalmult verpönt (oben: § 300a), öffentlich auf dem tradierten Gute in Gegenwart der Tradenten und dreizehn unbetitelter Zeugen vollzogen, actum in ipsa villa . . . publice presentibus . . . (oben: § 297), und von dem (nach St. Gallen gehörigen) Leviten Wolfco am 17. November unter den Grafen Hitto, Hamming und Horing protokolliert worden, notavi . . . sub comitibus . . . (oben: § 298). Zwar kennen wir weder die Grafschaftsgrenzen noch die Zentenen im Gebiet der östlichen Baaren und der tradierten Güter und können daher die Dreiheit der in der Grafenformel genannten Personen nicht erklären (M. Borgolte 1984 S. 179), zumal deren Grafschaften auch anderweitig nicht zu lokalisieren sind und nur Hitto überhaupt noch ein zweites Mal bezeugt ist (ebd. S. 167 f. mit Anm. 305, S. 238), aber außer diesem unserem Unwissen spricht nichts dagegen, daß wir hier den Regelfall einer Tradition vor uns haben, die im Dingbezirk oder in den Dingbezirken der in der Ostbaar und im angrenzenden Haistergau amtierenden Grafen vollzogen worden ist und deren dem Tradenten ständisch gleichstehende Zeugen dem Dingvolke dieses oder dieser Amtssprengel angehörten. § 339. Zwei weitere Bestimmungen des Tradenten aber sind sehr ungewöhnlich. Graf Chadaloh nämlich erläuterte die Rechte und Pflichten der abhängigen Leute, servitores nostri, die er zusammen mit den Gütern dem Kloster St. Gallen überließ, mit der Maßgabe, daß das Kloster die angegebenen Arbeitsdienste und Abgaben nicht einseitig erhöhen dürfe. Die Bestimmung, daß verschenkte Hörige dem Kloster nicht anders dienen sollten, als sie dem Tradenten gedient hatten, findet sich zwar öfter einmal (Wartm. UB 1, 7 n. 7, 347 n. 373, 2, 5 n. 385. A.
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Dopsch 1921 / 22 T. 2 S. 33) und gibt einer Treue- und Fürsorgepflicht des Herrn für seine Leute Ausdruck, der deren Treue und Dienstwilligkeit korrespondierte (oben: § 151). Ganz unerhört aber ist des Grafen Chadaloh Hinweis darauf, daß zwischen ihm und seinen servitores bereits hofrechtliche Abmachungen (W. Rösener 1989 S. 154) und somit ein förmlicher Herrschaftsvertrag (oben: § 276b) bestanden, der seinen Leuten den Status einer personenbezogenen herrschaftlichen Genossenschaft (oben: § 198) zugestanden haben muß und sie vor herrschaftlicher Willkür beschützte. Denn Chadaloh untersagte dem Kloster, die Lasten der Leute anders als mit deren Zustimmung zu erhöhen, servitia vel tributa seu quascumque functiones inponantur nisi que sibi conplacuerit ipsi eis imponenda. Liegt da nicht die Annahme nahe, Chadaloh habe die Tradition an das Kloster nur mit Zustimmung des Hörigenverbandes vornehmen können und um sie zu erlangen, diesem weitere Zusagen machen müssen? Er bestätigte nämlich ferner, ratum duximus ad confirmandum, daß die Mönche hörige Leute wider ihren Willen weder nach außerhalb der Grenzen der Grafschaft versetzen noch sie Dritten zu Lehen geben dürften, ut nec . . . extra confines comitatus contra voluntatem eorum ducantur nec in beneficium dentur. Die Auslegung dieses Satzes ist in bemerkenswerter Weise strittig. Denn auf den ersten Blick ist da von den Grenzen der (jeweiligen) Grafschaft die Rede, in der tradierte Güter gelegen und dessen Bebauer ansässig wären, so daß hier ein klares Zeugnis für die Existenz fest begrenzter und folglich lückenlos aneinanderschließender Grafschaftssprengel vorläge (H. K. Schulze 1973 S. 309). Einem zweiten Blick aber zeigt sich die Möglichkeit, von dieser Bestimmung her den Titel eines Grafen von Gottes Gnaden zu erklären, den sich Chadaloh in so auffälliger Weise beilegt: „Was konnte es für einen Sinn haben, daß er verfügte, die Hörigen sollten nicht von einem ,staatlichen Verwaltungsbezirk‘ in einen anderen übergeführt werden, da sie doch selbst der staatlichen Verwaltung gar nicht unterstanden? Und was soll man sich unter dem comitatus vorstellen, wenn im Eschatokoll der Urkunde drei comites genannt werden? Die Regelung Chadalohs wird nur dann verständlich, wenn man den comitatus mit dem Bereich seiner Güter identifiziert; Chadaloh wollte die Unfreien in seiner Grundherrschaft aufgehoben wissen, in der sie zu vorteilhaften Bedingungen lebten und später seinem Sohn dienstbar werden sollten. Der comitatus ist ein dem comes Chadaloh zugeordneter Bereich gewesen, über den dieser weitgehend unabhängig verfügte. Wenn Chadaloh seine Stellung als alemannischer Adelsherr von Gott ableitete, verlegte er deren Ursprung vor die Zeit seiner königlichen Herrn; seine Selbstaussage korrespondierte mit der Erblichkeit des comes-Titels bei den Alaholfingern. Hitto, Hamming und Horing sowie die anderen in den Grafenformeln erwähnten comites an der oberen Donau mögen Amtswalter durch königlichen Auftrag gewesen sein, die Alaholfinger beanspruchten in der Person Chadalohs eine comitale Stellung, die älter war als die Herrschaft der Karolinger in Alemannien“ (M. Borgolte 1984 S. 165 f.).
§ 340. Zwei Gründe scheinen mir gegen diese Auffassung zu sprechen. Was Chadalohs Grafentitel anlangt, so ist zwar dessen religiöser Sinn leicht zu erkennen, nicht aber der rechtliche, da uns verborgen bleibt, welchen irdischen Werk-
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zeugs sich Gott bedient hatte, um dem Grafen seine Gnade zuzuwenden, mochte dies nun der König gewesen sein, dem Chadaloh eine amtliche Vollmacht, oder eine grafschaftliche Dinggenossenschaft, der er die Annehmung zum Haupte, oder gar sein eigener Hörigenverband, dem er den seine Stellung sichernden Herrschaftsvertrag und die Annehmung zum (Schutz-)Herrn verdankte. Aber alles, was wir über den Gebrauch der Worte comes und comitatus in karolingischer Zeit wissen, spricht für ein Rechtsverhältnis zwischen Altfreien, für königliche Ermächtigung und dingvölkische Annehmung des Grafen; daher würde die Einengung des Begriffs auf eine Grundherrschaft, da sie den Grafen aller freien Untertanen entledigt hätte, seine Grafenwürde vernichtet haben – es sei denn, als Partner des Herrschaftsvertrages hätten die Hörigen bereits einen solchen Grad an Neufreiheit erklommen, daß dieses Bedenken entfiele, aber davon haben wir anderweitig erst seit dem 11. Jahrhundert Kunde (oben: §§ 207, 230, 234). So bleibt die Vermutung, die Alaholfinger hätten bereits im frühen 9. Jahrhundert einen Grafentitel aus eigenem Rechte beansprucht, wie es sonst erst im 12. Jahrhundert üblich ward (oben: § 137), „eine Hypothese, die wenig Überzeugungskraft besitzt und die autogenen Herrschaftsrechte der Alaholfinger überbetont“ (W. Rösener 1989 S. 153 Anm. 105). Der zweite Grund ergibt sich aus der Frage, was geschehen sollte, falls das Kloster die erwähnten Bestimmungen zum Schutze der hörigen Hufenbauern einmal verletzte. Graf Chadaloh wollte, daß in diesem Falle sein nächster Verwandter die Bauern wieder in Schutz nehme und sie einem anderen Königskloster übertrage, propinquus proximus meus in sua ea recipiat et ad alia coenobia regi pertinentia conferat tenenda. Er hatte also keineswegs alle Rechte seines Hauses an dem tradierten Gute aufgegeben, sondern sich vorbehalten, was ihm nach Eigenkirchenrecht (unten: § 356) davon verblieb, wie er sich auch für berechtigt hielt, überhaupt von allen Traditionen, die er je getätigt, willkürlich dreißig Unfreie für seinen Dienst auszulesen, ut . . . nobis inter omnibus licitum sit, si ita nobis conplacuerit, XXX elegere mancipia quoscumque ex ipsis voluerimus. Es ist also anzunehmen, daß vom Kloster in ihren Rechten verkürzte Hörige sei es einzeln, sei es durch ihre Genossenschaft den Schutz des Grafen oder seines Verwandten anrufen und dieser ihnen sodann zu Hilfe eilen sollte. Wollte der Schutzherr aber nicht als Fehdeführer eigenmächtig gegen das Kloster vorgehen, sondern dieses gerichtlich belangen: welche Gerichte hätte er dann anrufen können, wenn nicht die Grafengerichte, in deren genau begrenzten Sprengeln seine schutzbedürftigen Leute angesessen waren? zumal das Kloster damals noch nicht die Immunität genoß, die Kaiser Ludwig ihm erst im nächsten Jahre zugestand! Selbst also gesetzt den nicht unwahrscheinlichen Fall, auf den Grundherrschaften der Alaholfinger und des Klosters St. Gallen hätten sich bereits Hofgerichte und gerichtliche Verfahren ausgebildet, wie sie später deren Vogtgerichte kennzeichneten, so hätten doch die Schutzherren einander vor ihnen nicht belangen können, da sie als Freie ihren Gerichtsstand vor dem Grafengericht oder, als potentes, vor dem Könige hatten, und wie Diplomatik und Verfassungsgeschichte längst erwiesen haben, kann keine Rede davon sein, daß sich schon im 9. Jahrhundert
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grundherrliche Gerichtsbarkeit zu grafengleicher Stellung erhoben hätte (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 406 f.), mochte sie nun vom Könige durch Immunitätsprivileg geschützt sein oder nicht. Ebenso wenig waren die Hörigen bereits jenseits des hofrechtlichen Verhältnisses der Grafschaft entzogen. In allen nicht dieses Verhältnis betreffenden Sachen hatten sie immer noch ihren Gerichtsstand vor dem Grafen, wenn sie dort auch durch ihren Herrn vertreten werden mußten (oben: §§ 85, 153, 303; unten: § 358). Es hatte also einen sehr guten Sinn, ja es war vielleicht sogar notwendig, daß Graf Chadaloh seine Schutzbefohlenen nicht aus den Grafschaften entfernt sehen wollte, in denen sie bisher ihren Gerichtsstand gehabt hatten. § 341. Es gereicht der Landesgeschichte offensichtlich zum eigenen Schaden, wenn sie unbeachtet läßt, was die Reichsverfassungsgeschichte bereits an Wissen über die Gerichtsverfassung der Karolingerzeit zusammengetragen hat. So bleibt es eine zumindest unvollständige Aussage, daß dort, wo die Karolinger, wie in Sachsen, auf einheimische Magnaten bei der Vergabe der Grafschaften angewiesen waren, „die adligen Grundherrschaften das Substrat oder mindestens den Ausgangspunkt der Comitate gebildet haben“ dürften und folglich diese als Allodialgrafschaften zu betrachten wären (M. Borgolte in LMA 4 Sp. 1635), könnten die Könige doch, um sich den Treugehorsam der Dinggenossenschaften zu sichern, durchaus das Indigenatsrecht (oben: § 276a) geachtet haben, das den Worthaltern der Dingverbände maßgeblichen Einfluß auf die Auslese der Grafen einräumte. Der Umfang des Grundbesitzes wäre dann lediglich als Idoneitätsmerkmal bei der Kur zu beachten gewesen, er hätte nicht einem dem Volke oktroyierten Zwingherrn oder königlichen Kommissar (oben: § 332) als Machtmittel zu dienen brauchen, und die Vollmacht des Grafen wäre alsdann in der üblichen Weise aus königlicher Ermächtigung und dingvölkischer Annehmung herzuleiten. Wollte man diese Kompletierung der angeführten Aussage unterlassen, so müßte der Rechtshistoriker seine Zuflucht zu der Vermutung nehmen, die Karolinger hätten einer gewaltsamen Usurpation der Grafschaften durch die größten Grundbesitzer der Gaue den Vorzug vor dem volksrechtlich korrekten Wege gegeben. Und müssen wir nicht an Usurpation denken, wenn wir hören, in der Königsgutlandschaft im südlichen Breisgau sei „keine eigene Grafschaft geschaffen“ worden, „vielmehr dehnte der Graf im Breisgau seine Herrschaft von der Gegend von Wittnau bis zum Rheinknie hin aus“ (M. Borgolte 1984 S. 121)? Ob er dies eigenmächtig und gewaltsam oder rechtmäßig, d. h. mit Willen der Untertanen und des Königs, tat, darüber nachzudenken bieten die Privaturkunden keinen Anlaß, und daher besteht das Problem für die Landesgeschichte nicht. Auf den Verdacht der Willkür und Usurpation führt uns auch die Vermutung, Graf Gozbert habe um 760 den ganzen Nibelgau für den Fiskus eingezogen, einige Jahre später aber die zuvor von einem gewissen Marulf vollzogene Schenkung seines Erbes an das Kloster St. Gallen wiederhergestellt (ebd. S. 172). Sie trifft indessen nicht zu, sondern beruht auf mangelhafter Erfassung des Rechtsinhaltes der in
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Rede stehenden Urkunde (Wartm. UB 1, 49 n. 49). Diese berichtet nämlich, vier genannte Söhne des Marulf hätten vor Graf Gozbert und den Gauleuten, ante Cozperto praeside et ante pagenses, also vor dem zum Grafengericht versammelten Dingvolke, bekannt, ihr Vater habe dem Kloster die erwähnte Schenkung gemacht, sie selbst aber hätten sich hernach der väterlichen Güter entkleidet und den Missus des Klosters wieder damit bekleidet, indem sie ihn drei Tage lang darauf sitzen ließen, bevor sie durch Zulassung der Mönche als Prekaristen wieder in deren Besitz eingetreten seien, et nos post haec exuti de omni re paterna revestimus Wolframmum monachum et missum . . . per tribus diebus et per tribus noctibus, et per beneficium . . . reintravimus. § 342. Es werden also gewöhnliche, außergerichtlich auf den tradierten Gütern vorgenommene Rechtshandlungen beschrieben, nämlich Auflassung durch die beispruchsberechtigten Erben des Stifters, die die ihnen am Gute zustehenden Rechte auf das Kloster übertragen, Besitzergreifung des Klosters mittels sessio triduana und Wiedereintritt der Erben in den Besitz als Leihenehmer (oben: §§ 94 – 97, 128a, 277, 291, 296). Das verbum exuere mit den Partizipien exutus und exuatus (oben: §§ 277, 295) spielte in dem ungepflegten Latein der Zeit dem Sinne nach hinüber zu exire und exitus, so daß uns die Wendungen exitum se facere, exitum se dicere, exuatum se recognoscere in der Bedeutung „(ein Gut) aufgelassen haben“ nebeneinander begegnen (MGH. FF. p. 754 sub voc. exuatum, exitum), woraus sich der Sinn des Verbums reintrare „(in den Besitz) wiedereintreten“ erklärt (z. B. Quellen hg. von G. Franz 1967 / 1974 S. 106 Z. 20 – 21). Vor dem Grafengericht kam die Sache jetzt nicht um einer Wiedergutmachung willen, sondern deswegen zur Sprache, weil Marulfs Söhne dem Kloster auch die Dienste zuwenden wollten, die sie von dem Gute dem Könige und dem Grafen schuldeten, was natürlich nur mit deren Einwilligung möglich war. (Übrigens zahlten sie nicht zusätzlich einen Zins für die Jagd der Waldtiere, sondern sie verpflichteten sich, den Königszins nach Möglichkeit in Wildpret, sonst aber so, wie ihn alle anderen Gauleute dem Grafen zahlten, zu entrichten: Et ipsum censum in silvaticas feras, quantum possumus consequi, solvamus, et quantum non possimus, quod ceteri paginsi nostri faciunt regi aut comite, ita et nos ad ipsum monasterium faciamus.) Es kann also das Partizip exutus an der genannten Stelle nicht mit dt. „beraubt“ übersetzt werden, zumal die St. Gallener Urkunden genug Belege dafür bieten, daß berauben mit expoliare, tollere (oben: § 278), auferre, eripere, expellere wiedergegeben wurde. Allein auf der vermeintlichen Beraubung beruht aber die Vermutung, wir hätten es da mit einem Werke des Grafen zu tun, das den ganzen Gau betroffen habe. Was die Verfassung der Grafschaft im Nibelgau anlangt, so haben wir dort die üblichen Rechtsverhältnisse des grafschaftlichen Fiskus und Fiskalbannes (oben: §§ 303 – 306) vor uns, ohne daß jemals der ganze Gau Fiskalland gewesen wäre. § 343. Über die Einrichtung der Grafen- und Schöffengerichte machen die Privaturkunden kaum jemals Aussagen. Die Landesgeschichte setzt sie daher als et-
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was Bekanntes voraus: „Von Seiten des Königtums waren die Grafen in ihren Sprengeln vor allem mit der Friedenswahrung, dem Königsschutz, der Erhaltung des Königsgutes und dem Heeresaufgebot betraut; Karl der Große stärkte insbesondere die gerichtliche Tätigkeit der Grafschaften, doch eignete den Grafschaften als Gerichtsgemeinden auch ein volksrechtliches Element. Das Gericht des Grafen mit seinen Schöffen wurde jedenfalls in den fränkischen und sächsischen Landschaften zur typischen Institution der Rechtspflege kraft königlicher Autorität“ (M. Borgolte in LMA 4 Sp. 1635). Die Bezugnahme auf das Bild, welches die Reichsverfassungsgeschichte von den Grafschaften gezeichnet hatte, ist deutlich. Nun erforderte die gemeinsam mit dem Dingvolk ausgeübte Gerichtsbarkeit der Grafen die Existenz von Zuständigkeitsbereichen oder Sprengeln, in denen der Graf auch begütert sein konnte (oben: §§ 286, 299, 336), aber über deren Lage und Begrenzung vermag die neue Landesgeschichte ebenso wenig auszusagen wie über die Kompetenzen der Gerichte und darüber, wie das Dasein solcher Sprengel mit der Reduktion der Grafschaft auf königlichen oder adligen Grundbesitz und dessen unfreie Bewohner in Einklang zu bringen ist. Ob man daraus, daß nach den Privaturkunden nirgendwo Gaue als Amtsbezirke der Grafen nachzuweisen sind, den Schluß ziehen kann, Gau und Grafschaft seien niemals identisch gewesen und eine „restlose Einteilung Alemanniens in königsherrschaftliche Grafschaften“ habe es nicht gegeben (M. Borgolte 1984 S. 257), mag dahingestellt bleiben (oben: § 282); erkennbar lassen die Privaturkunden auf die verfassungsrechtliche Seite des Verhältnisses von Gau zu Untergau (oben: § 281), von Grafschaft zu Zentene kein Licht fallen (ebd. S. 78 mit A. 3). Jedoch ist es ein Schluß e silentio, wenn daraus, daß die St. Gallener Urkunden im oberen Breisgau, einem dicht mit Königsgut besetzten Gebiet, mehrfach einen Zentenar erwähnen, gefolgert wird, dieser Zentenar sei weiter nichts als ein fiskalischer Beamter gewesen, der den herrschaftlichen Besitz mit darauf angesiedelten Königszinsern verwaltete (ebd. S. 118 f.). § 344. Die hier angesprochene Lehre Th. Mayers und anderer, der zufolge Zentenen und Grafschaften überhaupt lediglich Königsgutbezirke gewesen seien, wirft das Problem der sogenannten Streugrafschaft auf. Hatte die Verfassungsgeschichte darunter zunächst die durch kirchliche und allodiale Immunitäten zerstückelten Grafschaften des 11. und 12. Jahrhunderts verstanden (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 403 f.), so war dem Begriff ein neuer Inhalt zugewachsen, als die Erforschung kirchlicher Traditionskodizes ergab, daß die Tradenten nur Teile ihrer Habe zu veräußern pflegten und schon diese zersplittert im Gemenge mit den Grundstücken anderer Eigentümer in derselben Feldmark gelegen waren. Damit kam aber auch die Streulage des königlichen, geistlichen und adligen Grundbesitzes an den Tag. Schon in der Karolingerzeit waren die Großgüter in allen Regionen des Reiches in derselben Weise zersplittert und mit Privatbesitz vermengt, zumal sich nicht selten mehrere Fisken und Fronhöfe in einem und demselben Dorfe befanden (A. Dopsch 1921 / 1922 T. 1 S. 130 – 151, 246 – 253, 309 f.).
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Die Landesgeschichtsforschung hatte sich daher, wenn sie die Lehre von den Königsgutbezirken rezipierte, zu fragen, ob etwa „die Grafengewalt nur punktuell etabliert war, sei es, daß sie auf Königsgut, sei es, daß sie auf gräflichem Eigengut beruhte. Der Nachweis derartiger Streugrafschaften ist aber außerordentlich schwierig. Weder der königliche noch der adlige Besitz läßt sich aus der Überlieferung mit genügender Dichte erfassen. Und überdies mag an denselben Ortschaften Königs- neben Privatgut gelegen haben. Die Interpretation des Kartenbildes kann also nicht bei den Einzelorten, sondern muß bei den in der Landschaft agierenden Personen ansetzen“ (M. Borgolte 1984 S. 181, 19). „Für die Verfassungsgeschichte“ stellt dieses Vorgehen allerdings „kein leichtes Problem dar“ (H. K. Schulze 1973 S. 331 Anm. 418). Denn wer waren die Eigentümer des Privatgutes, und welches Gericht schützte ihr Recht, wenn der Graf lediglich Gerichtsherr auf Königsgut und für Königszinser war? Was für ein Volk war es, das er um sich zu versammeln pflegte (oben: § 275b)? Kann man alle Privateigentümer zu Königsfreien (oben: § 294) erklären, deren Gut letzten Endes freigelassenes Königsgut gewesen wäre? Müßten in diesem Falle nicht auch die boni homines und principes comitatus Königsfreie gewesen sein, obwohl sie ihrerseits den doch zweifellos altfreien Grafen und Zentenaren ständisch gleichstanden (oben: § 298)? Ich sehe nicht, wie man sich nach Beantwortung dieser Fragen gegen die Einsicht verschließen kann, daß es freie Grundbesitzer gab, die grafschaftliche Dinggenossenschaften bildeten, und daß der Graf in deren Sprengel ein Amt verwaltete, zumal die Privaturkunden sein Gericht immerhin mehr als einmal erwähnen (oben: §§ 277, 278, 297), und da auch die Landesgeschichtsforschung diesen Sachverhalt nicht ausschließen kann, muß ich annehmen, sie sei sich der Unzulänglichkeit ihrer Beweisführung und Begriffsbildung aus vermeintlichem, jedoch allein in ihrer Methode begründetem Stillschweigen der Quellen bewußt: „Die Grafengewalt . . . erstreckte sich innerhalb wie außerhalb des damaligen Nibelgaus weitgehend auf Königsgut, so daß die Verhältnisse dem Begriff ,Königsgutgrafschaft‘ nahekommen. Aber es ist nicht auszuschließen, daß der Graf auch über ursprüngliches, nicht konfisziertes Privatgut seine Verwaltungsaufgaben wahrgenommen hat“ (M. Borgolte 1984 S. 177). Wie aber könnte sich die Kompetenz von Königsgutgrafen über die königlichen Orte hinaus auf Privatgut erstreckt haben (ebd. S. 157), ohne daß diese Grafschaften aufgehört hätten, Königsbannbezirke oder Königsgutgrafschaften zu sein? Die Illusion solcher Grafschaften scheint mir allein dadurch hervorgelockt zu werden, daß die königlichen Fisken in der Regel Teile der Grafschaft waren, daß in den Quellen aber diese Teile des Ganzen besonders gut dokumentiert sind. Mit Recht hat man daher gesagt, die Existenz geschlossener grafschaftsfreier Fiskalbezirke an Orten, wo sich das karolingische Königsgut in besonderem Maße verdichtete, wie am Oberrhein, am Bodensee und Zürichsee (M. Borgolte 1984 S. 85, 154, 248) oder um Maastricht und Aachen, spreche als Ausnahme von der Regel eindeutig gegen die Auffassung des comitatus als Königsgutgrafschaft (U. Nonn 1983 S. 255).
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§§ 345 – 347. Was ist zu tun? § 345. Angesichts so vieler Probleme, für die die historische Landesforschung keine Lösungen zu finden vermag, mehren sich neuerdings die Stimmen, welche die Vorzüge der älteren Lehre und die solide quellenmäßige Begründung der Ansicht hervorheben, daß dem Karolingerreiche die Einteilung in zusammenhängende Komitatsbezirke und die ausgeformte Grafschaftsverfassung als tragfähige Grundlage für Verwaltung, Rechtspflege und Heerwesen gedient hätten (H. K. Schulze 1973. K. Reindel in Hdb. bay. G. 1981 S. 239. U. Nonn 1983). Insbesondere weisen diese Stimmen das Mißtrauen zurück, das die neuere Landesgeschichte dem Zeugnis der karolingischen Kapitularien entgegenzubringen pflegt (U. Nonn 1983 S. 44, 253. G. Schmitz 1996 S. 366 f. Unten: § 765). Zu Recht hat man namentlich die Ausbreitung des Schöffeninstituts nicht nur im Bereich der fränkischen Volksrechte, sondern im ganzen Reiche bis hin nach Italien (oben: § 318) als Beweis für die Wirksamkeit der königlichen Gesetzgebung anzusehen, auch wenn uns nördlich der Alpen die Gerichtsurkunden fehlen, die die Einführung der Schöffenverfassung in Italien so deutlich sichtbar machen (F. Bougard 1995 S. 24 – 31). Wir dürfen demnach dem Zeugnis der Kapitularien vertrauen, solange wir bedenken, daß zwei Voraussetzungen erfüllt sein mußten, wenn sich die Herrscher der Wirksamkeit ihrer Gesetze sicher sein wollten. Erstens mußten sie die Regeln identischer Willensbildung einhalten, nach denen es Pflicht der Regierung war, die Identität des Herrscherwillens mit dem der Untertanenverbände herzustellen (oben: §§ 10, 11, 19, 24). Daran hielt sich beispielsweise Karl der Große selbst dann, wenn seine christlich inspirierte Friedenspolitik auf dem Spiele stand: Er sah davon ab, die vom Volksrecht anerkannte Fehde und Waffenhaltung unter Strafe zu stellen. Statt dessen beschränkte er sich darauf, alle Streitenden zur Versöhnung durch Leistung und Annahme von Friedensgeld (oben: §§ 108, 109, 307), die Untertanen sämtlich aber dazu anzuhalten, daß sie wenigstens innerhalb des eigenen Gerichtsbezirks, infra patria, die Waffen ablegten und fehdewillige Genossen zur Aussöhnung zwangen, distringantur ad pacem, etiamsi noluerint (MGH. Capit. 1, 122 n. 44 c. 5. H. Fehr 1914 / 17 I S. 124 – 126). Zweitens mußte der König dafür sorgen, daß sowohl zu Hof- und Reichstagen geladene Große und Grafen als auch die regelmäßig in die Provinzen entsandten Königsboten ihn nicht nur mit den Umständen, die der Regulierung durch sein Gebot bedurften, und den Rechtsanschauungen des Volkes bekanntmachten, die dabei zu berücksichtigen waren, sondern daß sie auch die beschlossenen Normen ihren Dingvölkern mitteilten und Urteiler und Schöffen dazu anhielten, sie anzunehmen und auswendig zu lernen (MGH. Capit. 1 S. 111 f. zu Cod. Paris. 4995, S. 114 n. 40 c. 19. A. Krah 1989 S. 572. F. Bougard 1995 S. 23. Oben: §§ 27, 53, 309). Denn gelten konnte Recht nur dann, wenn die Urteiler willens und imstande waren, es den Richtern zu weisen. Auch an der Durchführbarkeit der im Jahre 802 gebotenen allgemeinen Vereidigung der Untertanen (oben: §§ 209, 279, 285) kann man sehen, daß das System identischer Willensbildung wirklich vom königlichen Haupte bis hinunter in die patriae oder Grafschaftsgemeinden reichte.
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In das Verfahren eingeschlossen war die Hin- und Rückübersetzung der volkssprachlichen und lat. Textfassungen. Die als Unicum erhalten gebliebene, wohl um die Mitte des 10. Jahrhunderts im Kloster St. Maximin zu Trier verfaßte ahd. Übersetzung eines Kapitulars Kaiser Ludwigs des Frommen gewährt uns Einblick in diesen Vorgang, der sich sonst stets mündlich vollzog. Offensichtlich war er imstande, die Kreise freier Grundbesitzer zu erreichen, aus denen sich Grafen und Schöffen rekrutierten (H. Tiefenbach 1975 S. 306 – 310. G. Schmitz 1996 S. 368 f.). „Das königliche Wort, das ebenso gut verbum comitis oder verbum missi sein kann, je nach dem Ausmaße seiner Verbreitung“, und seine Verkündung coram omnibus (MGH. Capit. 1, 303 n. 150 c. 26) waren „die conditio sine qua non für die offizielle Annahme des Gesetzes“ sowohl in den Teilreichen als auch in den Grafschaften; prinzipiell ist vorauszusetzen, daß dieses Wort, dessen Niederschrift lediglich technische Bedeutung zukam, auch in den Grafschaften wirklich gehört und bekannt wurde (F. Bougard 1995 S. 20, 23). § 346. Es kennzeichnet den Stand der Forschung, daß in einem modernen landesgeschichtlichen Handbuch nebeneinander der Sozialhistoriker die neu-alte Lehre von der Königsgutgrafschaft, der Verfassungshistoriker dagegen die alt-neue Lehre von der Gerichts- und Gaugrafschaft vertreten können (F. Prinz in Hdb. bay. G. 1981 S. 357, K. Reindel ebd. S. 238 f.). Gewiß dürfen wir daraus schließen, daß sich beide Lehren gegenseitig in derselben Weise ergänzen, wie Reichs- und Landesverfassungsgeschichte aufeinander angewiesen sind, da die Grafschaftsverfassung zwar als reichsweites Verwaltungssystem nur nach den normativen Quellen der Karolingerzeit beschrieben werden kann, aber auch die reale Ausprägung der Normen in den verschiedenen Landschaften des Reiches und deren weitere Entwicklung während des hohen Mittelalters untersucht werden müssen, wenn man zur wahren Geschichte mittelalterlicher Verfassung vordringen will. Uns ist damit eine Aufgabe gestellt, zu deren Erfüllung es nicht ausreicht, einen der beiden Standpunkte schlichtweg dem anderen unterzuordnen. Wahrscheinlich bedarf es, um eine Lösung zu finden, eines neuen, unabhängig von beiden Standpunkten begründbaren Begriffs von Verfassung, wie ihn uns die Lehre von der identischen Willensbildung gewährt. Diese Lehre nämlich rückt den vielfach partikulierten und geschichteten Reichsuntertanenverband in den Mittelpunkt der Betrachtung und ordnet ihm den König ebenso wie den Teilverbänden die Fürsten, Grafen, Schöffen- und Ratskollegien als Häupter zu, denen es oblag, Einhelligkeit unter allen einzelnen und Verbandspersonen herzustellen. Diese Lehre ist aber nur mit der von der älteren verfassungsgeschichtlichen Forschung erarbeiteten Auffassung der Grafschaft vereinbar, denn nur sie läßt Raum für die Existenz und Tätigkeit einer Grafschaftsgemeinde als kleinster Einheit auf der untersten Ebene der Verfassungspyramide, an deren Spitze der König stand. Ihr gegenüber erscheinen die Lehren von der Königsgutgrafschaft und der aus eigenem Recht bestehenden Adelsgraf- oder -herrschaft als Besonderheiten, die sich sehr wohl in sie integrieren lassen. Setzt man sie dagegen in der Manier der historischen Landesforschung absolut, so steht man vor der unerfüllbaren Aufgabe, die klassi-
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1. Teil: Die Gemeinden
sche Auffassung von der Grafschaftsverfassung als unbegründet, weil auf irriger Deutung der Quellen beruhend, zu erweisen und damit zu widerlegen. Wir sind daher nicht nur berechtigt, sondern geradezu genötigt, die seit 1938 zur communis opinio herangewachsene Landesverfassungsgeschichte, soweit sie aus dem Schweigen ihrer speziellen Quellen unberechtigte Schlüsse zog, außer Acht zu lassen und statt dessen nicht nur die Arbeit der älteren Reichsverfassungsgeschichte, sondern auch diejenige Zusammenarbeit zwischen ihr und der Landesgeschichte fortzusetzen, die Hermann Aubin, Erich Freiherr von Guttenberg und andere bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts begründet haben. Es ist nicht nötig, die Verfassung des mittelalterlichen Staates neu zu entdecken. § 347. Die Königsurkunden aber werden wir als zuverlässige, mit den regionalen und lokalen Verschiedenheiten vertraute, gleichwohl jedoch aus einem einheitlichen Verständnis der Reichsverfassung heraus darüber urteilende Dokumente um so nützlicher zu verwenden lernen, je besser wir sie in das System identischer Willensbildung einzuordnen und als ebenso sehr gerichtliche wie rechtsetzende Entscheidungen von Fragen zu betrachten lernen, die entweder das Verhältnis des Königs zu einzelnen Untertanen oder Untertanenverbänden oder die Verhältnisse einzelner Untertanen oder untertäniger Verbandspersonen zu anderen ihresgleichen betreffen, Entscheidungen, die wir als solche der Reichsregierung betrachten können, da sie im Konsens des Königs mit den Großen des Reiches zustandekamen, die ihrerseits von den Edlen und Ministerialen ihrer Länder begleitet und beraten wurden und im Konsens mit ihnen den Willen ihrer Länder und Grafschaften in die Entscheidung einbrachten. Es mag mit den Schwierigkeiten identischer Willensbildung in einem großen Reiche zusammenhängen, daß man im Hochmittelalter die Entfaltung und Fortbildung des Verfassungsrechtes weniger im Wege der Gesetzgebung als in dem der Fallrechtssetzung durch Privileg betrieb, denn weil für den Einzelfall gesetztes Recht durch spätere Einzelentscheidungen recht einfach korrigiert werden konnte, gestattete eine Kette von Privilegierungen der Gemeinschaft, sich allmählich an eine einhelliger Zustimmung gewisse Lösung im Wege von Versuch und Irrtum heranzutasten, solange der Gesetzgeber einstimmige Entscheidungen schwerlich je herbeizuführen vermochte. Wie es auf diese Weise der Reichsregierung gelang, zwischen regionaler Besonderheit und Einheit des Ganzen zu vermitteln, so hat auch die Verfassungsgeschichte das Reich, seine Teilreiche und die Grafschaften und Länder in einer einheitlichen Betrachtungsweise aufzufassen. Die Lehre vom Identitätssystem eröffnet ihr dazu eine Möglichkeit, die sie nicht nur der Notwendigkeit enthebt, die im 19. Jahrhundert gelegten Fundamente unseres Wissens zu zertrümmern und durch etwas Neues zu ersetzen, sondern es ihr auch erspart, eine normativ denkende Reichsgeschichte und eine dem wirklichen, alltäglichen Leben nachgehende Landesgeschichte gegeneinander auszuspielen.
Elftes Kapitel
Hofrechtsverbände §§ 348 – 351. Hausherr, Grundherr und Possessor § 348. Unter Hofrechtsverbänden sind solche ursprünglich personenbezogenen herrschaftlichen Genossenschaften zu verstehen, die sich zunächst auf ein kombiniertes sowohl dingliches Leihe- als auch persönliches Treueverhältnis der Genossen zu einem und demselben Herrn gründeten (oben: § 198), die aber imstande waren, darüber hinaus nicht dinglich gebundene Leute zu Genossen zu gewinnen, mit deren Hilfe einen Gebietsbezug auszubilden und schließlich territoriale Herrschaft in einem Bannbezirk auszuüben (oben: § 202). Die Verfassungsgeschichte dieser Verbände gibt uns mancherlei Rätsel auf, für die sich noch keine nach allen Seiten hin befriedigende Lösung hat finden lassen. Rätselhaft ist namentlich die Frühgeschichte ihres genossenschaftlichen Elementes, nämlich jenes Kommunalismus (oben: §§ 235, 236, 272), der sich erst in den Quellen des hohen Mittelalters deutlich zu erkennen gibt, wogegen uns die Quellen der fränkischen Zeit ein rein herrschaftliches Gebilde vor Augen führen, dem erst moderne Gelehrsamkeit den Namen Grundherrschaft beigelegt hat. Rätselhaft sind aber auch Ursprung und rechtlicher Charakter dieser Herrschaft: In der Regel gilt sie nicht als öffentlich-staatliche, sondern als private, dem Hause oder Eigentum des Grundherrn zuzurechnende Einrichtung. Eine ihrer Wurzeln sucht man daher in dem Recht der germanischen Hausherrschaft und Hausgemeinschaft (oben: Viertes Kapitel). Aus ihr konnte allerdings nur Herrschaft über Herrenland und über unfreie Leute hervorgehen, die der Herr auf seinem Lande zu allein von ihm bestimmten Bedingungen angesetzt hätte. Denn seit alters waren die Germanen mit dem Besitz von Sklaven vertraut, denen sie Hofstätte und Land zu eigener Bewirtschaftung gegen Abgaben an Getreide, Vieh und Gewand überwiesen (K. Bosl 1971 S. 137 – 139). Von Unfreien bewirtschafteter Großgrundbesitz ist für die Gebiete rechts des Rheines zuerst zum Jahre 704 in Händen des fränkischen Herzogsgeschlechts der Hedene in Thüringen bezeugt (Quellen hg. von G. Franz 1967 / 74 S. 18 n. 12. H. Dannenbauer 1941 / 56 S. 103 – 105. W. Schlesinger 1956 S. 175. K. Kroeschell 1968 S. 31 Anm. 94. H. Mordek in LMA 4 Sp. 1985). Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts tritt sowohl eine wachsende Zahl solcher Grundbesitzer als auch die Vereinzelung ihrer Güter in weiter Streulage in den Schenkungen an die damals neugegründeten Bischofs- und Klosterkirchen hervor (K. Bosl 1971 S. 144. F. Prinz in Hdb. bay. G. 1981 S. 360, 403).
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1. Teil: Die Gemeinden
Indem sie ihre Hintersassen bei der Erweiterung der Ackerflächen durch Rodung unterstützten (oben: §§ 151, 291), vermochten diese Herren auch dann, wenn sich ihr Geschlecht in der Folge der Generationen verzweigte, ihren Stand und ihre Herrschaft zu erhalten und darüber hinaus, wenn es ihnen gelang, entsprechende Rechtsame auszubilden oder zu erwerben (oben: § 99) und durch Bewaffnung von Unfreien (oben: §§ 153, 159, 285) ihre Zwangsgewalt zu steigern, sogar Allodialherrschaft und Dynastenprivileg (oben: §§ 136, 142) zu erlangen. Das sächsische Edelingsgeschlecht der Immedinger sicherte sein Hausgut, das den fürstlichen Bestand von elfhundert Hufen erreicht hatte, wider die Destabilisierung, die von der mit jeder Generation wechselnden Versippung der Hausgenossen ausging (oben: §§ 103, 104), indem sie es der Burg Plesse als Sitz seiner Rechtsame und Machtzentrum zuordneten, bevor sie es im Jahre 1016 der bischöflichen Kirche zu Paderborn übertrugen (Vita Meinw. c. XXIX. St. Weinfurter 2000 S. 120 f.). In der lat. Urkundensprache hieß eine solche Haus- und Grundherrschaft dominatio (oben: §§ 96, 99, 111, 291), wofür wir ahd. hêrscaft, hêrtuom, giuualt, giuualtida, als Äquivalente erhalten (H. Götz, Wb. 1999 S. 211). § 349. Gleichwohl kann die Hofrechtsgemeinde nicht ohne willentlich getanen Bruch oder Sprung aus der Hausgenossenschaft hervorgegangen sein. Denn die letztere entstand aus dem Ehebunde zwischen Hausherrn und Hausfrau und umfaßte nur die Ehegatten nebst Kindern, Enkeln und Seitenverwandten, deren Interessen der Hausvater bei allen wichtigen Entscheidungen über Güter und Rechte des Hauses ebenso berücksichtigen mußte wie die der beiderseitigen Sippen (oben: §§ 90, 91). Unbehauste und behauste Knechte dagegen gehörten ihr nicht an, sondern zählten zum Vermögen des Hauses (oben: §§ 93a, 113). Gerade aus den behausten Leuten aber, die sich durch Akkumulation von Freiheiten allmählich über den Sklavenstand erhoben und der Neufreiheit zustrebten (oben: §§ 113, 114, 148), neben ihnen aber auch aus armen Freien, die sich vom Hausherrn als Kolonen oder Erbzinsleute mit Land ausstatten ließen (oben: § 112) oder als liberi in tutela seinen Schutz genossen (oben: §§ 123, 135a, 144b), setzten sich die Hofrechtsgemeinden zusammen. Hausherren mochten sich Sklaven halten, Grundherren taten das nicht (oben: § 149), sondern geboten über Neufreie. Sobald die hörigen Leute die ersten Schritte auf dem Wege zur Neufreiheit getan hatten, nahmen sie für sich das Einungsrecht aller freien Männer in Anspruch, um sich zu personenbezogenen herrschaftlichen Genossenschaften (oben: § 198) und schließlich auch zu freien Einungen (oben: §§ 218, 228) zusammenzuschließen. Außerdem stand zwar dem Grundherrn, nicht aber dem Hausvater eine Gerichtsbarkeit über die familia (oben: § 93) zu. Hausherren waren zwar nach Volksrecht ermächtigt und verpflichtet, für Frieden unter ihren Hausgenossen und Knechten zu sorgen, deren Streitigkeiten zu schlichten und Widerspenstige zu züchtigen (oben: § 93a), aber sie taten das nicht öffentlich, nicht publice inmitten einer Versammlung von Rechtsgenossen, und nicht von diesen gewiesenes Recht, sondern selbst abgemessene Sitte gebot ihnen, was sie da zu tun hatten. Gerichtsbarkeit nach germanisch-mittelalterlichem Verständnis setzte dagegen voraus, daß sich
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rechtsfähige freie oder neufreie Männer als Parteien gegenüberstanden und daß sich Standesgenossen der Streitenden zu einer Dinggenossenschaft versammelten, die die Sühne zwischen ihnen vermitteln und dem Verbandshaupte das Urteil in der Sache weisen konnten (oben: § 164). Sie setzte ferner voraus, daß dem Haupte eine Banngewalt zustand, kraft deren es das Urteil sanktionieren und vollstrecken konnte; eine haus- oder grundherrliche, aus Munt oder Gewere entsprungene und daher nichtöffentliche oder private Banngewalt war aber dem Mittelalter unbekannt (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 7). Da sich die Grundherrschaften und Hofrechtsverbände des hohen Mittelalters jedoch im Besitz aller dieser Requisiten und damit einer dem dinggenossenschaftlichen Prinzip gehorchenden Rechtspflege befanden, muß zur bloßen Hausherrschaft noch etwas von außen hinzugekommen sein, was sie über jene erhob und ihnen den Charakter einer öffentlichen, der Verfassungsordnung des Fränkischen und später des Ostfränkisch-Deutschen Reiches angehörigen Einrichtung verlieh. Und wohl nur deswegen, weil ihnen ein solcher Charakter zukam, weil Grundherren nicht gleich den Hausherren ihre Güter frei nach eigenem Gutdünken durch Knechte oder Besitzdiener (oben: § 97) verwalten, nicht gleich diesen in Streitigkeiten ihrer Leute nach Willkür entscheiden konnten, war es für freie Männer attraktiv, sich in den Schutz eines Grundherrn zu begeben. Die Unterwerfung unter einen Hausherrn hätte sie zu Knechten gemacht, während der Eintritt in eine Hofrechtsgemeinde ihnen zumindest die Rechte neufreier Leute wahrte und sie nicht völlig von der Beziehung zum Grafengerichte abschnitt (oben: § 153). § 350. Die hier aufgezeigten, zwischen Haus- und Grundherrschaft bestehenden Unterschiede zwingen uns zu der Annahme, daß es einer bewußten Umwandlung jener in diese, einer Überführung häuslicher Lebens- und Wirtschaftsweise in grundherrliche Formen (oben: § 104) bedurft habe, damit sich germanische altoder edelfreie Hausherren in adlige Grundherren verwandeln konnten, die ihre Knechte und Schutzbefohlenen zu Hofrechtsgemeinden zusammentreten ließen. Das Vorbild für diese Umwandlung und den Anstoß zu ihr kann ihnen aber nur die galloromanische, von den Bischofskirchen in der Merowingerzeit tatkräftig gemehrte und seit dem 7. Jahrhundert in das bipartite Betriebssystem der Villikationen übergeführte Grundherrschaft dargeboten haben, die sich als für schutzsuchende Autotradenten besonders vorteilhaft erwies (oben: §§ 117, 135a, 135b). Seit germanische Heere römische Provinzen erobert hatten, waren ihre Befehlshaber daran gewöhnt, große Häuser und Gefolgschaften anzuführen. Daher werden auch den Franken, die sich in Gallien niederließen, die römischen Fundi oder Großgüter, die sie dort kennengelernt hatten, als etwas Vertrautes erschienen sein, das sie ohne Mühe übernehmen und fortführen konnten. Erleichtert wurde ihnen diese Übernahme dadurch, daß sich die Rechtsauffassungen der römischen Possessoren und Kolonen über die Agrarverfassung ihrerseits im Verlaufe der Vulgarisierung des römischen Rechtslebens dem germanischen Rechtsdenken bereits angenähert hatten. Seit dem Ende des 3. Jahrhunderts war nämlich die Fortbildung des
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römischen Rechtes aus den Händen der Fachjuristen, denen die wunderbare Klarheit des klassischen römischen Rechts zu verdanken war, übergegangen in die Hände von Literaten und Rhetoren, die als juristische Laien nicht länger imstande gewesen waren, der schlichten volkstümlichen oder vulgären Auffassung der Rechtsprobleme den Widerstand der wissenschaftlichen Methode entgegenzusetzen. Damit hatte die nachklassische, von der Vulgarisierung des Rechts geprägte Periode der römischen Rechtsgeschichte begonnen, die ohne schärferen Bruch in das europäische Mittelalter hinüberführen konnte, da ja auch das germanische Recht ein vollkommen vulgäres, nämlich ausschließlich von Laien gefundenes und formuliertes Recht war (F. Wieacker 1964 S. 18 f., 55, 76 f., 87. M. Kaser 1966 S. 122 – 124, 347 f. G. Köbler 1971 S. 228. E. Pitz 2001a S. 85 – 88). § 351. Die Schwäche des Kaisertums während des 3. Jahrhunderts, als die Legionen jahrzehntelang unfähig gewesen waren, die Reichsgrenzen gegen die Germanen zu verteidigen, hatte die römischen Großgrundbesitzer zu selbständiger Verteidigung ihrer Güter und damit zum Aufbau einer Eigenmacht herausgefordert, die die Kaiser nie wieder hatten rückgängig machen können. Nach dem antiken Leiturgiesystem zu unentgeltlichen Staatsdiensten (munera) verpflichtet, hatten die Mächtigen seit je für den Kaiser die Staatssteuern erhoben, und diese einst lästige Pflicht verschaffte ihnen nun eine gefährliche Macht über die bäuerlichen Steuerzahler. Denn so, wie die Römer öffentliches und privates Recht von einander schieden, hatten zwar die Magistrate jedem Bürger kraft öffentlicher Gewalt und prinzipiell unbegrenzter öffentlicher Bürgerpflicht unanfechtbar gebieten können, staatliche Ämter und Funktionen zu übernehmen, aber die damit verbundenen und dem beamteten Bürger zur Last fallenden Kosten betrachtete man nicht als öffentliche Steuerleistungen, sondern als rein private Schenkungen der Reichen an ihre Mitbürger und Auflagen auf das Privatvermögen des Schenkers, wovon man den Vorteil lediglich allen anderen Bürgern, nicht aber der Gemeinde zusprach. Nun waren die Zeiten vergangen, da die Mächtigen solche munera als ehrenvoll betrachtet und den Mitbürgern freiwillig dargebracht hatten. Jetzt waren es erzwungene Dienste, und wer sich ihrer erwehren wollte, dem standen dafür die Rechtsmittel des Zivilrechts und des Zivilprozesses offen. Nachdem die antike bürgerliche Moral, die jene Dienste einst mit dem Interesse der Gemeindestaaten verbunden hatte, bereits unter dem Prinzipat zerfallen war, lösten sich unter dem Dominat seit dem 4. Jahrhundert auch die Stadtverfassung und die städtischen Kurien auf, die die munera alljährlich neu verteilt und die Erfüllung der Amtspflichten kontrolliert hatten. Über Jahre, Jahrzehnte und schließlich Generationen hinweg verwaltete nun, wer zu den Mächtigen zählte und einmal in der Kurie Sitz und Stimme gehabt hatte, denselben Steuerbezirk kraft eines Rechtes, das sich seine Vorfahren mit ihren Schenkungen an die Bürger erkauft hatten. Der Potens wurde zum Besitzer oder Possessor seines Amtes, und als der antike Leiturgiestaat endgültig zerfiel, da zeigte sich, daß er insofern der Privatisierung oder Appropriation hoheitlicher Befugnisse an einzelne Bürger vorgearbeitet hatte, als am Ende
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aus der erblichen Standeslast des Dekurionats eine Erblast bestimmter Dekurionengeschlechter geworden war (E. Pitz 2001a S. 272, 499, nach J. Durliat 1990). So begann die Verfassungsgeschichte des Frankenreiches und des europäischen Mittelalters damit, daß die Germanen vom Römischen Reiche eine Ämterverfassung übernahmen, die eine gewisse spiegelverkehrte Ähnlichkeit mit derjenigen der frühen Neuzeit zeigt, als der Fürstenstaat, besonders der französische, Beamtenstellen nicht nur zu verkaufen, sondern auch gegen Entrichtung einer Jahresabgabe vererblich zu machen und den Inhabern die Privilegien des Adels zuzugestehen pflegte. Wenn auch aus anderen Gründen als in der Antike, so kam es doch abermals dahin, daß der Staat seine Beziehungen zu den Amtleuten, was deren Pflichten betraf, nach öffentlichem oder Amtsrechte, was aber seine eigenen Verpflichtungen ihnen gegenüber anlangte, nach bürgerlichem oder Privatrecht regulierte (O. Hintze 1911 S. 86 – 88. W. Reinhard 1999 S. 190 – 193). Da der Fürstenstaat ebenso wenig imstande war, die ihm als Kaufsummen zugeflossenen Kapitalien je wieder zurückzuzahlen, wie die römischen Kaiser in Ermangelung eigener Beamter jemals hatten auf die Dienste der Possessoren verzichten können, so bildete sich in beiden Zeitaltern ein tatsächlich unabsetzbares, erbgesessenes, von der Regierung unabhängiges Beamtentum aus, ohne daß die Ämter selbst aufhörten, staatliche Einrichtungen zu sein. In Gallien übernahm das Frankenreich mit der römischen Steuerverwaltung ein lokales Beamtentum, das eine durch die Gemeinsamkeit des politischen Interesses zusammengehaltene soziale Gruppe bildete und die Amtsrechte als unentziehbare subjektive Rechte wie eine Rechtsame (oben: § 99) so fest in Händen hielt, daß sie für sich das Indigenatsrecht in Anspruch nehmen konnte und der König es ihr hinsichtlich der Grafschaften im Jahre 614 bestätigen mußte (oben: § 276a). Offensichtlich hat die dem antiken Staate eigentümliche privatistische Auffassung der munera, sobald die kommunalen und kaiserlichen Kontrollen der Possessores wegfielen, die Privatisierung der mit den munera verknüpften honores oder Ehrenämter nach sich gezogen. Der dem Mittelalter eigentümlichen Behandlung von Hoheitsrechten (Regalien) als Rechtsamen und deren Appropriation an sogenannte grundherrliche oder adlige Häuser wäre demnach auch eine römische Wurzel zuzuschreiben!
§§ 352 – 358. Eigentum, Erbpacht und Immunität § 352. Von diesen Wandlungen blieben die Rechte und Rechtsauffassungen der römischen Bauern nicht unberührt. Sie, die seit dem Jahre 212 das römische Bürgerrecht genossen und als freie Untertanen des Reiches dem Kaiser ihre Steuern entrichteten, waren schon vor dem Untergange des Imperiums vom Verlust ihrer Reichsunmittelbarkeit bedroht. In demselben Maße, wie dem vulgären Rechtsdenken die fachmännische Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Rechten verlorenging, hatte sich der Steuererheber in den Herrn der Bauern verwandelt,
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und zwar nicht nur derer, die nach Privatrecht Pächter seines Landes waren, sondern auch der rechtlich und wirtschaftlich selbständigen. Und die Bauern selber hatten den Unterschied zwischen den privatrechtlichen Verpflichtungen des Pächters gegenüber dem Grundherrn auf der einen Seite und den öffentlichen des Steuerzahlers gegenüber dem Kaiser auf der anderen aus dem Auge verloren, seit ein und derselbe Possessor beide Leistungen von ihnen einforderte. In der später dem Mittelalter eigenen Weise hatten sie sich daran gewöhnt, in ihrer Leistungspflicht gleich welcher Art ein Zeichen der Untertänigkeit unter die Herrschaft des Berechtigten zu erblicken, namentlich seit sich aus der steuerrechtlichen Pflicht, dem Erheber jede Veräußerung von Grundbesitz anzuzeigen, ein Herrenrecht entwickelt hatte, das jede derartige Verfügung der Bauern von der vorgängigen Genehmigung durch den Possessor abhängig machte. So waren die Bauern seit dem 4. Jahrhundert zu Manzipien oder Kolonen geworden – oder wie immer man den meldepflichtigen Halbuntertanen oder Hintersassen nennen mochte, der ohne Erlaubnis des Possessors seinen Hof nicht mehr veräußern durfte und daher nicht dessen freier, wiewohl immer noch erbberechtigter Eigentümer war (J. Durliat 1990 S. 69 – 74, 85 – 93. E. Pitz 2001a S. 55 – 57, 65, 93 f. 272, 499 f.). Tatsächlich war der Possessor den Bauern nicht nur dem Stande nach weit überlegen, war er doch auch ihr Schutzherr (patronus), der nach uraltem Herkommen seine schwächeren Nachbarn politisch und vor Gericht zu vertreten pflegte und in Notzeiten oft genug auch den bewaffneten Schutz seines Gutsbezirks geleitet hatte. Wenn aber im Bewußtsein der Menschen seither die alte Gleichberechtigung der freien Grundbesitzer dahingeschwunden war vor der Überlegenheit der Possessoren, denen man auf Grund ihres Genehmigungsrechtes eine eigentumsähnliche Sachherrschaft über das ihnen steuerpflichtige Bauernland beilegte (ein Obereigentum, wie tausend Jahre später die am wiederentdeckten römischen Recht geschulten europäischen Juristen sagen sollten), so war das wiederum zugleich Ursache und Wirkung jener Vulgarisierung des Rechtsdenkens, die während des Rückfalls der Rechtspflege in Laienhand das Weströmische Reich nachhaltig durchdrungen hatte. Die Art und Weise, wie diese Verwandlung der Denkformen das Wesen der Sachenrechte verformte, kann geradezu als Musterfall für laienhafte Rechtsbildung im alltäglichen Rechtsverkehr gelten. Sie hatte zur Folge, daß die einst von den Fachjuristen streng geschiedenen Vorstellungen über Eigentum (dominium) und Besitz (possessio) ineinanderzufließen begannen (M. Kaser 1971 S. 238, 247 f. J. Durliat 1990 S. 85 f. E. Pitz 2001a S. 94 f. W. Waldstein in Der kleine Pauly 2 Sp. 120 f. D. Medicus in ebd. 4 Sp. 1084 f.). Das Eigentum stellte sich den Laien ebenso als bloß noch qualifiziertes Besitzrecht dar, wie umgekehrt die Sachposition mancher Nichteigentümer, etwa der nach Pachtrecht zur Nutzung Befugten, als Eigentumsrecht erschien, zumal seit dieses Nutzungsrecht erblich geworden war. § 353. Dies aber war bereits zu der Zeit geschehen, als der Germanenfürst Odoaker das Weströmische Reich zerstörte, wie sich aus der gesetzlichen Anerkennung der Erbpacht oder Emphyteuse ergibt, die Kaiser Zeno in den Jahren 476 / 484 aussprach (Codex Justinianus 4, 66, 1. P. Toubert in LMA 3 Sp. 1892 f. M. Just 1994
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S. 499 – 502). Das klassische römische Recht, dessen Eigentumsbegriff auf der möglichst unbeschränkten Willensmacht des Eigentümers beruhte, hatte diesem zwar gestattet, vertraglich auf Teile seines Eigentums am Grunde und Boden zu verzichten, aber dies doch nur in einem sehr engen, das Eigentumsrecht im Kerne nicht antastenden Rahmen. Für alle Nutzungsrechte, die ein anderer durch Vertrag an seinem Landgute erwerben konnte (sogenannte dingliche Rechte: Servituten, Grunddienstbarkeiten), war daher der bloße Nutzungscharakter kennzeichnend, der sie vom Eigentum grundsätzlich unterschied, und zwar dadurch, daß der Nutzer sie weder an Dritte veräußern noch auf seine Kinder vererben konnte. Solange diese Auffassung galt, konnte der Pächter nur ein zeitlich befristetes Nutzungsrecht am fremden Gute (ius precarium, Zeitpacht) erwerben, hatte die Befugnis, Land zu veräußern und zu vererben, den Grundeigentümer klar und eindeutig vom lediglich Nutzungsberechtigten, namentlich dem Pächter, unterschieden, der sich trotz der faktischen Gewalt über das Landgut wegen der damit verbundenen Verpflichtungen eher in der Lage eines Schuldners als in der eines Eigentümers befand. Nun aber schob sich auf Grund der beschriebenen Entwicklung zwischen die beiden klassischen Rechtsformen als vulgarrechtliche Neuerung die Erbpacht ein, und schließlich sah sich der Gesetzgeber gezwungen, ausdrücklich festzustellen, daß damit neben das Begriffspaar von Eigentum und Zeitpacht ein Drittes getreten war, das sich als eigenständiges dingliches Recht von beiden unterschied. Denn Erbpacht war „mehr“ als die Servituten, weil sie das Bodeneigentum stärker und nachhaltiger (nämlich auf unabsehbare Zeit und damit auf ewig) belastete und einschränkte, aber sie blieb doch inhaltlich „weniger“ als das Eigentum, weil sie dem Erbpächter kontrollierbare Pflichten auferlegte: Dieser hatte das Land sorgfältig zu bebauen, dem Eigentümer oder Grundherrn (dominus) einen jährlichen Zins zu leisten und ihm bei Veräußerung seiner Rechte an einen Dritten eine Anerkennungsgebühr (laudemium) in Höhe von zwei Prozent des Verkaufserlöses zu bezahlen. Damit war das Kriterium der Veräußerlichkeit und Vererblichkeit, das einst das Eigentum klar vom dinglichen Nutzungsrecht unterschieden hatte, weggefallen, und infolge der für den vulgären Umgang mit dem Rechte typischen Verwechslung von beweisbarem Anschein und gedachter Wirklichkeit eines Rechts war daher auch für den Unterschied selber in dem neuen Denken kein Platz mehr. In der alles umfassenden Sachherrschaft, die jetzt an die Stelle des klassischen Eigentums trat, fanden außer der Vollherrschaft, die man einst allein unter Eigentum verstanden hatte, auch die begrenzten Sachgewalten Platz, wie sie einerseits die kaiserliche Vollmacht dem Steuererheber und Possessor, andererseits das Privat- und Vertragsrecht dem Erbpächter und Landwirt gewährten. Das vulgarrechtliche Eigentum (possessio) war kein reines Privatrecht mehr, da es aus dem Steuerrecht Elemente öffentlicher, hoheitlicher Herkunft in sich aufgenommen hatte, die vor allem zu Lasten der Kolonen gingen. Außer den Zahlungspflichten war dies vor allem die sogenannte Schollenbindung, die ihnen die Freizügigkeit entzog, ohne daß sich der Gesetzgeber klarmachte, wie sehr sich dadurch die privatrechtliche Unterwerfung der Kolonen unter den Possessor verstärken mußte.
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War dieser einst lediglich Grundeigentümer gewesen, so hatte er sich jetzt zum Grundherrn aufgeschwungen, der den Bauern auch mit hoheitlicher Befehlsgewalt gegenübertreten konnte (M. Kaser 1971 S. 142, 145). Die lat. Worte dominus und dominium machten diesen Bedeutungswandel vom privaten Eigentümer und Eigentumsrecht zum teils privaten, teils hoheitlichen Grundherrn und dessen Herreneigentum (O. Gierke 1873 S. 140 f. O. Brunner 1965 S. 252 f. H.-R. Hagemann in HRG 1 Sp. 884) mit. So kehrten Rechtsdenken und Rechtsgefühl der romanischen Völker zu dem äußerlich uferlosen und inhaltlich undifferenzierten Begriff der Sachherrschaft zurück, von dem vor langer Zeit die altrömische Rechtsgeschichte ausgegangen war und der, als gemeinsames Erbe der alteuropäischen Völker und ihres vorstaatlichen Zeitalters, auch den Germanen (K. O. Scherner in LMA 4 Sp. 1420 f.), ihnen freilich in ungebrochener Kontinuität, da sie niemals dem Römischen Reiche angehört hatten, überkommen war. Ich nehme an, daß die hoheitliche Befehlsgewalt, die den Possessoren als Rechtsnachfolgern der vom römischen Kaiser zum Dienste verpflichteten, aber auch bevollmächtigten Steuererheber überkommen war, in den westgermanischen Sprachen als Banngewalt bezeichnet worden ist und auch weiterhin so bezeichnet wurde, als sich niemand ihrer Herkunft mehr bewußt war. Als gewohnheitsrechtlich gegebene Form der Lokalverwaltung erregte sie weder bei Grafen und Schöffen noch bei den Großen des Reiches das Bedürfnis, ihren doch nur sehr indirekten Zusammenhang mit der königlichen Gewalt zu durchdenken, da der König ja auch Bischöfe und Grafen nicht ausdrücklich mit einer Banngewalt bekleidete, wenn er sie in ihre Ämter einsetzte. Die aus germanischer Hausherrschaft und Nutzungsgewere (oben: § 93a) nicht herzuleitende grundherrliche Banngewalt, die uns die Quellen seit dem Ende des 9. Jahrhunderts zu bezeugen beginnen, könnte sich so als ein Erbstück der spätrömischen Ämterverfassung erweisen. § 354. Ebenso wenig wie diese Banngewalt ist das Liegenschaftsrecht der Hofrechtsverbände auf germanische Grundlagen zurückzuführen. Denn die im germanischen Hause bestehende Vermögens- und Erwerbsgemeinschaft empfand noch im frühen Mittelalter gar kein Bedürfnis, Eigentums- oder Besitz- und Erbrechte auszubilden (oben: § 91). Daher übernahmen die Verfasser oder Redakteure der im Fränkischen Reiche kodifizierten germanischen Volksrechte den unscharfen vulgarrechtlichen Begriff der Sachherrschaft aus dem spätrömischen Recht, da es ihnen sehr einleuchtete, daß der Eigentümer nichts anderes sei als der qualifizierte Besitzer einer Sache und daß demjenigen, der ein Landgut oder eine bewegliche Sache unwidersprochen im eigenen Namen besaß und benutzte, diese Sachen vermutlich auch von Rechts wegen oder eigentümlich gehörten (P. Weimar in LMA 1 Sp. 2064 f. G. Köbler in LMA 3 Sp. 1717). Germanische Sühnemittler und Urteilsweiser konnten den ersichtlichen und beweisbaren Anschein (des Besitzes) genauso wenig von dem begrifflichen, gedanklichen Bestehen eines (Eigentums-)Rechtes unterscheiden wie die spätrömischen Laienrichter. Dies kam vor allem in den (oben, §§ 95, 296, bereits erörterten) For-
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men des Erwerbs der Nutzung oder Sachherrschaft zum Ausdruck. Das wegen späterer Beweisbarkeit wesentlichste Erfordernis dafür, mochte es sich nun um den Erwerb eines Grundstücks oder eines Nutzungsrechts an demselben, einer Grundleihe (entsprechend der spätrömischen Emphyteuse), handeln, war die Einweisung in den Besitz, die in Gegenwart aller Rechtsgenossen öffentlich und meistens in feierlicher oder symbolischer Form, etwa durch Übergabe einer Erdscholle, einer Ähre oder eines Zweiges (R. Schmidt-Wiegand 1982 S. 373 f.) auf dem Grundstück selber vollzogen wurde. Drei Tage lang verweilte der Erwerber danach auf dem Lande, um vor aller Landleute Augen manifest zu machen, daß er es nun unangefochten besaß. Wie uns die Geschichte des Begriffs Investitur (oben: § 94) lehrt, besaßen die Westgermanen, als sie Gallien und Italien eroberten, noch keine deutlichen Vorstellungen schuld- und sachenrechtlichen Inhalts. Noch weniger waren sie imstande, die Rechtsprobleme der Erbpacht, d. h. des bäuerlichen nutzbaren und des grundherrlichen Obereigentums, dominium utile und dominium directum in der Terminologie der Juristen des Spätmittelalters (P. Weimar in LMA 3 Sp. 1715 f.), zu erfassen. Offensichtlich ist die Figur der doppelten Gewere am Grunde und Boden ebenso wie an den darauf errichteten Gebäuden und anhangenden Rechtsamen den vulgarrechtlichen Begriffen von Sachherrschaft nachgebildet, die sie bei den unterworfenen römischen Provinzialen antrafen. Daher fällt es uns schwer, die selbständige Entwicklung eines germanischen Erbzins- und Grundherrenrechtes (namentlich in den Gebieten rechts des Rheins) anzunehmen. Die innere Nähe der germanischen Rechtsauffassungen fränkischer Zeit zur vulgarrechtlichen der romanischen Völker ist dagegen so eng, daß man das Bodenrecht der mittelalterlichen Grundherrschaft im wesentlichen aus der Spätantike wird herleiten und annehmen müssen, daß es erst in der karolingischen Zeit durch Königtum und Kirchen im östlichen Frankenreiche und auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches verbreitet worden ist. Bei dieser Herleitung muß man freilich die gewaltigen Veränderungen in Rechnung stellen, die der Mangel an Edelmetallen im 7. Jahrhundert im Abendlande auslöste. Er setzte der Steuerzahlung in Geld ein Ende und nötigte die Steuererheber dazu, den Bauern statt Geldes Naturalabgaben und Arbeitsdienste abzufordern. Dies gab den als Erheber tätigen Bischöfen im merowingischen Teilreich Neustrien zwischen Loire und Kohlenwald den Anstoß dazu, den gesamten Grundbesitz ihrer Kirchen, mochte ihr Obereigentum daran nun aus Traditionen germanischer Hausherren oder aus verdinglichten Steuerheberechten staatlicher Herkunft hervorgegangen sein, nach dem bipartiten Betriebssystem neu zu ordnen und in Villikationen zusammenzufassen, die kaum noch etwas mit den alten gallorömischen Fundi gemeinsam hatten, deren Haupthöfe aber imstande waren, jene Dienste und Abgaben zur Verwendung im Königs- und Kirchendienste aufzubereiten und zu horten. Im Verlaufe dieser Umstellung gelang es ihnen, im Einvernehmen mit jedem einzelnen Bauern die Erbpachten und Steuerpflichten überall in Erbzinsverhältnisse umzuwandeln. Mit diesen Vorgängen aber wird auch die Umformung der
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alten Possessorenhoheit in die grundherrliche Banngewalt des frühen Mittelalters Hand in Hand gegangen sein. § 355. Der waffenfähige germanische Hausherr, der seine Habe mit eigener Kraft gegen jeden Angreifer zu schützen verstand, handhabte eine Sachherrschaft über sein Gut, die den Römern, solange der Prinzipat den inneren Frieden in ihrem Reiche hatte wahren können, ganz unbekannt gewesen war (O. Gierke 1873 S. 136 – 141. E. Pitz 2001a S. 269 f.). Die römische Hausherrschaft war ein reines Privatrecht ohne jede politische Wirkung gewesen. Da die Wehr- und Gerichtshoheit seit alters ausschließlich bei der Republik gelegen hatte, als deren Vormund nun der Kaiser handelte, waren den patres familias subjektive öffentliche, in die staatliche Sphäre hineinwirkende Rechte niemals zugewachsen. Das germanische, noch kräftig von vorstaatlichen Zuständen geprägte Eigentum hatte dagegen stets mehr als eine bloß private Sachherrschaft enthalten, da es mit dem Recht zur Gewaltanwendung auch gegenüber Stammes- und Volksgenossen verbunden war (oben: § 105). Wir sprechen daher von Herreneigentum. Bis über das hohe Mittelalter hinaus bewahrte sich daher das deutsche Rechtsdenken die Gewohnheit, der Allgemeingültigkeit des Rechts und der ihr angemessenen Formulierung von Rechtssätzen als abstrakten Normen nur geringes Interesse zuzuwenden. Statt Gesetze zu erkennen, zog man es vor, das Recht in subjektive Befugnisse aufzulösen, die auf die Lebensverhältnisse jedes einzelnen Haus- und Grundherrn zugeschnitten werden konnten, und diese individuellen Befugnisse um des Vorteils augenscheinlicher Beweisbarkeit vor Gericht willen so weit wie möglich zu verdinglichen, d. h. sie als Zubehör von Grundstücken und Grundeigentumsrechten aufzufassen (M. Just 1994 S. 518 f. D. Willoweit in LMA 4 Sp. 2179. E. Pitz 2001a S. 271). Von dem Wesen der ihnen vertrauten Hausherrschaft ausgehend, war es den Franken ein leichtes, die Herrenrechte der römischen Possessoren zu verdinglichen und ihrer Vorstellung vom Herreneigentum anzupassen: Sie machten die bei den unterworfenen Romanen zwischen den Personen des Grundherrn und der Kolonen bestehenden Rechtsverhältnisse von deren sachenrechtlichen Beziehungen abhängig und faßten die Herrenrechte als Zubehör des grundherrlichen Saales oder Herrenhauses, die Bauernrechte dagegen als Pertinenzen der bäuerlichen Hofstellen auf. Von jeder Sache, an der ein Mann Verfügungs- oder Nutzungsrechte besaß, gewöhnte man sich um des dinglichen Augenscheins willen zu sagen, sie gehöre ihm, er habe an ihr eine Gewere, ein wie weit auch immer durch die Befugnisse anderer Männer beschränktes Eigentum. Diesen dinglichen Schein übertrug man aber auch auf die Gewalt-, Schutz- und Abwehrrechte der Haus- und Grundherren (oben: § 93a), die erst innerhalb einer staatlichen Friedensordnung hätten als Hoheitsrechte erkannt werden können (und daher schon von den Frankenkönigen, freilich nur mit vorübergehendem Erfolge, als herrscherliche Vorbehaltsrechte in Anspruch genommen wurden). Bei allen fränkisch beherrschten germanischen Völkern kam es schließlich dahin, daß man darin Rechtsame oder unkörperliche Immobilien erblickte, weil man auch die Herrschaftsrechte über Unfreie und Freie,
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wo immer es anging, aus der Bodenleihe herleitete, obwohl doch anfangs der Herr den Boden deswegen an freigelassene Sklaven und unter seinen Schutz getretene Freie ausgegeben hatte, weil er Haus- oder Schutzherrschaft über sie ausübte. Es liegt nahe, auch diese Verdinglichung des persönlichen Bandes auf den Einfluß spätrömischer Vorbilder zurückzuführen (W. Schlesinger 1956 S. 175), wie sich ja auch bestimmte Grundsätze für die rechtliche Ausgestaltung des Lehnsverhältnisses im hohen Mittelalter in den einst römisch gewesenen Regionen des Fränkischen Reiches, wo man seit dem 5. Jahrhundert mit erblichen Pacht- und Leiheverhältnissen vertraut war, rascher und früher ausgebildet haben als auf dem Boden germanischer Volksrechte östlich von Maas und Rhein (oben: § 134). § 356. Der Verdinglichung unterlagen auch alle Absplissen von Hoheitsrechten, welche irgend den Possessoren zugewachsen waren, und dies um so eher, als auch die Staats- oder königliche Hoheit nach diesem Muster gedacht werden konnte. Wie jeder Haus- und Grundherr kraft seiner Herrengewalt, die alle Eingriffe Fremder, und sei es des eigenen Königs, zunichtezumachen bestrebt war, von seinen Gütern, so konnte auch ein germanischer Herzog oder König von seinem Reiche sagen, die Herrschaft darüber gehöre ihm so, daß er sie gleich einem nutzbaren Vermögensrecht an Herrenhöfen oder Reichsgut auf seine Söhne vererben und dabei unter sie verteilen, aber auch stückweise an geistliche und weltliche Große, an „seine“ Bischöfe und Grafen verschenken könne (H. Mitteis 1941 S. 483 – 487). Allen diesen Herren „gehörten“ nun in abgestufter Gewere jene Bauern, die nach altrömischer Vorstellung als freie, nur dem Gesetz unterworfene Bürger oder Untertanen dem Staate ihre Steuern gezahlt hatten; wie jedem Grundherrn die von ihm errichtete Pfarr- oder Klosterkirche, so „gehörte“ dem Könige jede Kirche, die er mit Reichsgut ausgestattet hatte, so namentlich jede bischöfliche Kirche, die nach römischer Auffassung Staatsanstalt gewesen war. Kirchen konnten also sachenrechtlich als Vermögensobjekte desjenigen Herrn betrachtet werden, auf dessen Grund und Boden sie errichtet waren. Dem Grundherrn verlieh dieses Eigenkirchenrecht aber nicht nur die Verfügung in vermögensrechtlicher Beziehung, sondern auch die geistliche Leitungsgewalt: Er setzte die an der Eigenkirche tätigen Geistlichen ein und schränkte mit seinen Weisungen die kanonische Autorität des zuständigen kirchlichen Oberen so weitgehend ein, daß es auf deren vollständige Aufhebung hinauslaufen konnte (R. Schieffer in LMA 3 Sp. 1705). Auch diese Einrichtung entstammt der spätrömischen Zeit und ihrem Vulgarrecht. In Gallien wurde sie von den Bischöfen bereits zu einer Zeit bekämpft, als dort Germanen die kaiserliche Herrschaft noch nicht abgelöst hatten. Aber wie die Rechtsstellung der römischen Possessoren, so hat sich auch das Eigenkirchenwesen im Frankenreiche besonders reich entfaltet und seinen Einzug in die Gebiete östlich des Rheins gehalten. Es war daher nichts Besonderes, daß der Erzpriester Rubo im Jahre 830 seine Eigenkirche zu Thonstetten und sein Eigengut in den drei Dörfern Oberhummel, Holzstrogn und Isen der bischöflichen Kirche zu Freising schenkte. Zu diesem
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Zwecke „nahm er alsbald mit dem Glockenseil als Zeichen für alle seine Güter die Investitur vor und investierte damit auf der Schwelle des Kirchenhauses unanfechtbar in alle Güter. Und dann ging Erzpriester Rubo hinaus (exivit), und Bischof Hitto trat ein (intravit) und nahm die unanfechtbar vollzogene Investitur entgegen und verweilte die Nacht über, ohne daß jemand Widerspruch erhob, in der Kirche, als dort mit den Gütern Investierter“ (Loersch / Schröder / Perels, Urk. S. 31 n. 45). Einunddreißig Zeugen wohnten der Zeremonie bei und wurden nach bayerischer Sitte zur Schärfung des Gedächtnisses schmerzlich an den Ohren gezogen (isti testes more Baiuuariorum per aures tracti); vermutlich war es der Erwerber, der diese abschließende Rechtshandlung vorzunehmen hatte. Zwei Jahre später wurde eine Übertragung des Eigentums an Grundstücken und Hörigen zu Villance im Ardennengau vollzogen, indem sich Bevollmächtigte des Veräußerers und des Erwerbers in das Dorf begaben, wo nach vollzogener Investitur die letzteren vor Zeugen „die Güter drei Tage lang gemäß dem Gesetze besetzt hielten“ (easdem res triduo secundum legem insiderunt). „Mit der Gesamtheit der Hörigen aber investierte er die Bevollmächtigten in gleicher Weise durch einen einzigen Hörigen namens Germinanus“ (ebd. S. 32 n. 46). Jahrhundertelang blieb die germanische Denkungsweise diesen Rechtsauffassungen treu. Erst seit dem 12. Jahrhundert gelang es den Bemühungen der Reformkirchen und Bischöfe um Überwindung des Eigenkirchenrechts und der Fürsten um Sicherung des Landfriedens, dieses alte Herreneigentum in die als tatsächliches Innehaben, als Gewere begriffene Sachgewalt des Eigentümers und die hoheitlichen Befugnisse aufzuspalten, die hinfort des Staates waren, wie man durch Bannübertragung vom Könige auf den Vogt sichtbar zu machen hoffte (Th. Mayer 1939 S. 468, Neudruck S. 295; oben: §§ 322a-324). Eben wegen jenes Herreneigentums, welches die Nutzungsgewalt an einer Sache und die Herrengewalt gegenüber schädigenden Dritten ineinanderfallen ließ, konnte das germanische Recht die bereits erwähnte, abgestufte Gewere verschiedener Personen an derselben Sache entwikkeln, nämlich einerseits die höhere, alle sowohl privaten wie öffentlichen subjektiven Befugnisse umfassende Gewere, die nur reichbegüterte, mächtige Grundbesitzer wirksam auszuüben vermochten, andererseits die gewöhnliche bäuerliche Gewere desjenigen, der den Boden tatsächlich als Landwirt bearbeitete, der aber zu schwach war, um fremde Gewalttat aus eigener Kraft abzuwehren, und sich daher, solange die Gerichtsgemeinde diese Aufgabe noch nicht zu erfüllen vermochte, einem mächtigen Schutzherrn unterwerfen mußte, ohne dadurch notwendigerweise die Befugnis zur Veräußerung und Vererbung seines Hofes zu verlieren. § 357. Als das Weströmische Reich zerfallen und der fränkische König in Gallien an die Stelle des römischen Kaisers und seiner Heermeister getreten war, hatten die romanischen Possessoren und Mächtigen diese germanischen Rechtsgedanken sehr bald aufgegriffen, erlaubten sie es ihnen doch, jene Herrschafts- und Obereigentumsrechte zu legalisieren, die ihre Vorfahren seit dem 3. Jahrhundert als Beschützer der Kolonen und der bäuerlichen Landgüter tatsächlich erworben, aber nur nach vulgärer Rechtsanschauung wirklich besessen hatten, da sich kein
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Kaiser je dazu herabgelassen hatte, sie förmlich durch ein Gesetz zu bestätigen. So bot ihnen die fränkische Rechtsordnung einen Vorteil, um dessentwillen es sich lohnte, das germanische Königtum zu unterstützen. Namentlich den Bischöfen war daran gelegen, sich des germanischen Herreneigentums zu bedienen, um den riesigen Besitz ihrer Kirchen an Landgütern und Steuerhebebezirken nach Möglichkeit vor königlichen Eingriffen zu beschirmen (E. Pitz 2001a S. 270 f.). Seit Kaiser Konstantin der Große (306 – 337) die christliche Reichskirche begründet und die bischöflichen Pflichten des Kirchenbaus, der Seelsorge und der Armenpflege als öffentliche Aufgaben anerkannt hatte, waren die Bischofskirchen reich mit staatlichen Domänen und Steuerheberechten ausgestattet worden, um die dafür nötigen Mittel zu erlangen. Von dem, was sie seither in der Funktion weltlicher Possessoren an Steuern erhoben, hatten sie ein Drittel für die kirchlichen Zwecke unmittelbar einbehalten dürfen, während zwei Drittel an den Kaiser und hernach an den fränkischen König abzuführen waren. Eine Exemtion von der staatlichen Verwaltung hatte ihnen dies freilich nicht eingebracht. Wie im 4. und 5. Jahrhundert die kaiserlichen Statthalter, so kontrollierten seit dem 6. die fränkischen Grafen alle Steuererheber geistlichen oder weltlichen Standes, wie sie auch den Census oder Kataster (Vermessung und Veranlagung der Bauerngüter) in der Hand behielten. Nun aber bot den Bischöfen und wohl überhaupt allen Possessoren die Berufung auf das germanische Herreneigentum die ersehnte Chance, auch die beiden Staatsdrittel vom Steuerertrage dem Herrscher zu entwenden und den eigenen kirchlichen oder politischen Zwecken zuzuführen. Denn während die hausherrliche Gewalt des Römers als bloßes Privatrecht nichts gegen die kaiserliche Vollmacht vermocht hatte, auf jedem Hofe Hoheitsrechte auszuüben, also Amtleute zur Steuererhebung oder zur Verfolgung von Straftätern dorthin zu entsenden, war der germanische Hausherr Beschützer und Gebieter seiner Leute, auch wenn sie außerhalb seines Hauses in Not gerieten, hatten königliche Beamte selbst dann keinen Zutritt zu seinem Anwesen, wenn sich ein Verbrecher dorthin flüchtete: Nur der Hausherr selbst konnte dort Steuern einziehen oder jemanden verhaften. Dem Verfolger oder Amtmanne war er lediglich die Auslieferung der Steuern und des Verbrechers schuldig (MGH. Capit. 1, 20 n. 9 c. 15. F. Keutgen 1918 S. 36. R. Sprandel 1975 S. 39 – 41, 53. E. Pitz 2001a S. 271). Solches Herreneigentum am Kirchengute fiel Bischöfen, Äbten und Pfarrern bereits auf Grund des vulgären christlichen Glaubens an die Gemeinschaft verstorbener heiliger Männer und Frauen zu, die als Fürsprecher bei der göttlichen Weltregierung im Himmel die schützende Hand über die Gemeinde ihrer irdischen Verwandten und Verehrer hielten. Allgemein war daher die Vorstellung verbreitet, daß als wahre Eigentümer kirchlichen Vermögens allein die Titelheiligen der Kirchen gelten könnten, deren Gebeine in den Altären beigesetzt waren und durch ihre Wunderkraft die unwiderstehliche Herrengewalt sichtbar machten, die die heiligen Eigentümer den Geistlichen zur zeitlichen Verwaltung anvertrauten. Solcher Glaube bewog immer mehr Laien dazu, um ihres Seelenheils willen die Heiligen, deren
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Fürsprache bei Gott sie sich sichern wollten, mit Gütern zu beschenken (oben: §§ 100, 300a), in deren dinglichem Zubehör schon von diesem Ursprung her die germanischen Herrenrechte über abhängige Bauernhöfe und schollenpflichtige Landleute enthalten waren. Diese Schenkungen aber konnten die Könige nicht ohne weiteres in die staatliche Dotation der Kirchen einbeziehen. Wie bereits die karolingischen, so waren später die ostfränkisch-deutschen Könige vielmehr willens und genötigt, den autogenen, von staatlicher Verleihung unabhängigen Ursprung der übertragenen Herrenrechte anzuerkennen. Dies geschah, indem der Herrscher jedem Bischof oder Abte, der ihn darum ersuchte, das Privileg der Immunität verlieh und dadurch die germanische Hausherrschaft, die dem heiligen Schutzpatron der betreffenden Kirche zustand, auf den gesamten Grundbesitz erstreckte, über den der begünstigte Prälat als tatsächlicher Eigentümer kirchlicher Grundstücke jene Herrenrechte innehatte. Aber damit nicht genug: Unfähig, zwischen Grundeigentum und Hoheitsrechten zu unterscheiden, und daher die Hoheitsrechte als unkörperliche Immobilien jenen gleichstellend, erstreckte man die Immunität der Kirche auch auf den Bezirk, in dem der Bischof als Steuerhebepflichtiger das Obereigentum an fremdem Grundeigentum in Anspruch nahm. Das königliche Privileg blieb bis ins 12. Jahrhundert hinein (H. Aubin 1920 S. 148 ff.) die unentbehrliche Rechtsform zur Sicherung jener individuellen und subjektiven Befugnisse, die durch Gesetz zu definieren niemand versuchte, da sie als Vorrechte der Mächtigen einer allgemeingültigen Norm gar nicht zu unterwerfen waren. § 358. Inhaltlich umfaßte die Immunität (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 297 – 319. C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 102 f., 107 – 110. C. Schott / H. Romer in LMA 5 Sp. 390 f.) als subjektives Herrschaftsrecht, welches jeden Eingriff eines anderen Herrn, und sei es des Königs, ausschloß, seit dem Anfang des 7. Jahrhunderts das sogenannte Introitus-Verbot, das den königlichen Amtleuten den Zutritt zu dem immunen Bezirk und damit nicht nur alle Amtshandlungen innerhalb desselben untersagte, sondern auch den Anspruch auf Herberge und Gastung aufhob, den grundsätzlich alle königlichen Beamten in Ausübung ihrer Amtspflichten erheben konnten. Nur von der Pflicht, den König selbst zu beherbergen und zu bewirten, sind Bistümer und Reichsklöster so gut wie nie befreit worden. So wandte König Pippin im Jahre 763 dem Kloster Prüm das Privileg (beneficium) zu, „daß kein königlicher Amtmann (iudex publicus) es sich anmaßen darf, jene Güter, die diese heilige Stätte gegenwärtig, es sei durch unsere oder durch irgendeines anderen Schenkers Güte, offenkundig besitzt, aber auch alle anderen, mit denen eine gottwohlgefällige Frömmigkeit in Zukunft den Besitz des Klosters und seine Äbte bereichern will, ohne unseren oder unserer Erben (ausdrücklichen) Befehl zu betreten, um dort Gericht zu halten oder Strafgelder für irgendeinen Friedensbruch einzutreiben,“ daher der König „allen seinen Bischöfen, Äbten, Herzögen, Grafen, Reichsgutverwaltern und reisenden Gewaltboten“ untersagt hatte, in eigener Person oder mittels eines Dieners jemals irgendeines der Klostergüter zu betreten, „um dort Gericht zu halten, Friedensgelder, in welcher Sache auch immer, einzutreiben und Herberge und Ver-
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pflegung oder Bürgschaften (für dergleichen) zu verlangen“ (MGH. DKar. 18. H. Aubin 1920 S. 128 f.). Kraft einer solchen königlichen Verfügung ging das Gebots- und Steuerheberecht der Beamten auf den Grundherrn über, der nun selber die Hoheitsakte vornahm und nur noch über den Vollzug dem Könige Rechenschaft ablegte, indem er etwa verhaftete Verbrecher an das Grafengericht auslieferte und nach Königsrecht erhobene Steuern und Zinse dem gräflichen Fiskus zur Verfügung stellte. Auf diese Weise begannen die Immunisten innerhalb der gefreiten Grundherrschaften zunächst einen Teil der Rechte an sich zu ziehen, die bis zum Tage der Freiung auf ihrem Grundbesitz von den Grafen und deren Niederrichtern ausgeübt worden waren. Hieraus konnte leicht Unfrieden entstehen, da die Grafen die Minderung ihrer Befugnisse nicht ohne Widerstand hinnahmen. Kaiser Karl der Große hatte ihre Aufsicht über die Immunitäten in mancher Hinsicht sogar noch gemehrt. Hatten die Immunisten so, wie alle anderen Grundherren auch, als Hausherren wenigstens über ihre Unfreien (servi) eine willkürliche Züchtigungsgewalt besessen und sie nach außen hin derart beschützt, daß Dritte sie überhaupt nur durch Vermittlung ihrer Herren belangen konnten, so forderte das Königtum nun mindestens um der Friedenswahrung willen, daß die Herren den zum Verbrecher gewordenen Sklaven an das Grafengericht auslieferten, damit die Geschädigten keinen Anlaß hätten, als Bluträcher oder Fehdeführer gegen dessen Schutzherrn vorzugehen (H. Aubin 1920 S. 92, 228. L. Kuchenbuch 1978 S. 372) – es sei denn, der Grundherr wollte seinen Eigenmann persönlich im Landgericht vertreten, um die Todesstrafe von ihm abzuwenden und sich so seine Arbeitskraft zu erhalten. Allein schon dieses ökonomische Interesse mußte in den Immunitäten das Bestreben erwecken, die Hintersassen der gräflichen Gerichtsbarkeit vollständig zu entziehen und auch über ihre Verbrechen allein kraft hausherrlicher Zuchtgewalt zu befinden.
§§ 359 – 363. Ortsvogtei und Edelvogtei § 359. Vor allem auf Grund der Forschungen von Jean Durliat (1990) sehen wir uns zu der Annahme genötigt, daß das Recht der Grundherrschaft keine Schöpfung germanischer Hausherren sei, wie groß auch immer die öffentliche Gewalt derer war, die zu fürstlichen oder königlichen Stellungen gelangten. Die Grundherrschaft stellt sich uns vielmehr als ein Erbe des Römischen Reiches und seines Vulgarrechtes dar, das von den fränkischen Bischöfen fortgebildet und erst in der Karolingerzeit durch sie und das fränkische Königtum zu den Völkern germanischen Rechtes gebracht worden ist, die die Länder östlich von Schelde, Maas und Mosel bewohnten. Und wie die Verpflanzung des Possessorates aus dem römischen Kaiserreich in das fränkische Gallien, so ging die Verpflanzung der Grundherrschaft von dort nach Nordosten zu den Germanen mit einer Fortbildung und Verwandlung der Institution Hand in Hand, als deren Kennzeichen die Ausbildung der Hofrechtsgemeinde besonders ins Auge fällt.
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Wir kommen damit auf Probleme zu sprechen, die zu den schwierigsten, aber auch zu den wichtigsten gehören, welche die europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte zu bearbeiten hat, Probleme, die zur Zeit lebhaft diskutiert werden, ohne daß sich bereits ein bestimmtes Ergebnis abzeichnet (W. Rösener in: Strukturen 1989 S. 24 – 28). Kontrovers wird insbesondere die Frage erörtert, ob die karolingischen Könige selbst die Ausbreitung des Villikationssystems und der Hufenverfassung in die östlichen Reichsteile planmäßig gefördert (H.-J. Nitz in: ebd. S. 411 – 421) oder ob sie den Reichsklöstern dabei die Initiative überlassen haben. § 360. Die ältesten Kirchen Austrasiens liegen an der Mosel und am Rheine, wo die von Franken und Alamannen zerstörten römischen Gründungen bereits im 6. und 7. Jahrhundert wiederhergestellt worden waren. In den Landen rechts des Rheines schuf im 7. Jahrhundert die iroschottische und im 8. die angelsächsische Mission die ersten Bischofskirchen und Missionsklöster. Seit dem Jahre 742 betrieben die Karolinger eine Kirchenreform mit dem Ziele, die von römischen Kaisern und merowingischen Königen ausgeübte staatliche Hoheit über die Bischofskirchen zu erneuern. Von 786 bis 831 setzten sie die Errichtung von Bistümern im eroberten Sachsenlande ins Werk. Zudem richteten sie die Metropolitanverfassung mit den Erzbistümern Köln, Mainz, Salzburg, Trier und Hamburg ein. Die materielle Existenz der Bischofskirchen beruhte auf dem Grundbesitz, den Hausmeier und Könige ihnen über den eigenen Bedarf hinaus zur Verfügung stellten und den sie in den Formen der Villikations- und Hufenverfassung so erfolgreich bewirtschafteten, daß sie große Überschüsse des Ertrages den Königen und dem Reiche für deren weltliche Zwecke überlassen konnten. Reiche, weit über den Eigenbedarf hinausgehende Erträge erzielten auch die Reichsklöster, namentlich seit sie sich, darin den Weisungen der Kaiser Karl und Ludwig folgend, der Benediktinerregel unterwarfen, die eine rationale, aus antiken Traditionen der Katasterund Rechnungsführung und innerweltlicher Askese gespeiste Betriebsführung besonders begünstigte. Es waren Klöster, die entweder von den Königen auf Reichsgut gegründet worden waren und daher den Status von Reichseigenkirchen besaßen, oder aber von adligen Herren zwar auf deren Hausgut angelegt, aber unter den Schutz des Reiches gestellt worden waren, weil die Stifter sie vor Schädigungen von Seiten ihrer Erben bewahren wollten, die nach Eigenkirchenrecht dazu befugt waren, das Stiftungsgut wieder auf weltliche Zwecke umzuwidmen. Während die im Eigentum des Reiches und daher unter königlicher Herrschaft (dominatio) stehenden Klöster von Anfang an Immunität genossen, war dies bei den in die königliche Munt (mundiburdium) gegebenen Klöstern zunächst nicht der Fall. Erst unter Kaiser Ludwig dem Frommen ist die Verbindung von Immunität und Königsschutz zur verfassungsmäßigen Regel geworden (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 289 f.). Es ist anzunehmen, daß die laikalen Verwalter, die entweder unter direkter königlicher Aufsicht oder unter Kontrolle der Grafen Fiskalgut bewirtschafteten, nicht imstande waren, so hohe Erträge zu erzielen, wie es die Verwaltungsstäbe
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von Bischöfen oder Benediktineräbten zu tun vermochten. Die Karolinger hätten also ein sehr berechtigtes Motiv gehabt, um Kirchen und Klöstern weit mehr Reichsgut zu übertragen, als diese zur Erfüllung ihrer geistlichen Aufgaben benötigten, vorausgesetzt, daß sie imstande waren, die ihnen von den römischen Kaisern überkommene Herrschaft über sie zu bewahren und die Kirchen als Staatseinrichtungen zu behandeln. Neben der Ausstattung mit Kirchengut werden private Traditionen im allgemeinen (abgesehen von den adligen Klosterstiftungen, die unter Königsschutz eine dauerhafte Existenz gewannen) wenig zu dem Reichtum der Kirchen beigetragen haben, da das Eigenkirchenrecht den Erben der Tradenten ein Rückrufrecht gewährte und daher das Traditionsgut den Kirchen meistens wieder verlorenging. § 361. Welche unerhörten Ausmaße der kirchliche Grundbesitz seit der Spätantike und während der Ausbreitung des Christentums von Gallien aus zunächst ins Rheinland, dann aber auch nach Bayern und Sachsen angenommen hatte, gibt uns eine Reichssynode zu erkennen, die im Jahre 816 die Bezüge der Kanoniker an Wein und Wachs regulierte. Sie teilte die Kirchen in drei Gruppen ein, in solche mit großem Besitz im Umfange von drei-, vier, ja achttausend und mehr Hufen, in mittelgroße mit tausend bis dreitausend Hufen und in kleine, die lediglich über einige hundert Hufen Landes verfügten (MGH. Concil. 1, 2 S. 401 c. 122 = Quellen hg. von G. Franz 1967 / 1974 S. 80 n. 33. A. Hauck 1935 S. 221 ff.). Zu den nach diesem Maßstabe großen Reichsabteien gehörte am Ende des 9. Jahrhunderts das Königskloster Prüm, dessen Güter sich an der Maas, am Niederrhein und an der Mosel konzentrierten, die als Streubesitz aber bis nach Westfriesland und Oberlothringen reichten (L. Kuchenbuch 1978 S. 49). Der im einzelnen nachweisbare Güterbestand des Klosters umfaßte damals 42 Fronhöfe mit im ganzen 2118 Bauern, die auf Hufen saßen und Abgaben und Arbeitsdienste an die Fronhöfe leisteten. Die ganze Grundherrschaft war in drei Oberhöfe unterteilt. Um den größten, den von Prüm selbst, waren dreißig Fronhöfe gruppiert, zu denen außer dem Sallande (Land in unmittelbarer Bewirtschaftung im Umfange von 750 Hektar Acker) 38 Hektar Wiesen, hundert Weinberge und 1277 Bauern mit ihren Höfen gehörten (R. Sprandel 1975 S. 50). Dem Bestreben der geistlichen Grundherren, die volle Herrschaft über ihre Hintersassen zu gewinnen, war es abträglich, daß sich ihr Grundbesitz selten einmal in geschlossener Lage zu größeren Komplexen zusammenfügte, in der Regel aber in weiter Streuung über etliche Grafschaften erstreckte. Es war also nicht nur ein einziger Graf, gegen den sie das Introitusverbot durchsetzen mußten, das der König ihnen in ihrem Immunitätsprivileg gewährt und zu ihren Gunsten an seine Grafen und Fiskalverwalter gerichtet hatte. Seit der späten Karolingerzeit bemühten sich die Reichskirchen darum, es dahingehend auszugestalten, daß es ihnen die Gerichtsbarkeit über ihre Hörigen nach Möglichkeit in vollem Umfange sicherte. Gegenüber dem durch die Kapitularien geschaffenen Zustande, wonach der verbrecherische Knecht an das Hochgericht des Grafen ausgeliefert werden mußte, bedeutete das eine Steigerung ihrer Befugnisse, die auf Kosten der gräflichen Rechte
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ging und daher von den Grafschaften nach Kräften bekämpft wurde (H. Aubin 1920 S. 229 f.). Oft verraten uns erst die in den Quellen heller beleuchteten Verhältnisse des späten Mittelalters, in wie hohem Maße es den Grafen gelungen ist, eine über die Kapitulariengesetzgebung hinausgehende geistliche Immunitätsgerichtsbarkeit zu unterbinden und die Immunisten daran zu hindern, die ihnen vom Könige zugebilligten Rechte wirklich auszunutzen. So erging es z. B. der Abtei Prüm in ihrem Außenbesitz zu Kesseling, wo die Grafschaft ihre wesentlichen Rechte über das Klostergut immer behauptete (ebd. S. 158, 206 – 206), obwohl bereits König Pippin dem Kloster, das er selbst gegründet und in seinen persönlichen Schutz genommen, im Jahre 763 die volle Immunität verliehen hatte. Danach hätte der Graf die Hörigen des Klosters nicht mehr mit den Kosten für seine Gerichtstage belasten dürfen; was ihm bis dahin wegen des Königs an Strafund Friedensgeldern zustand, das hatte der König dem Abte geschenkt, so daß dessen Amtleute es hinfort einziehen und den Ertrag zur festlichen Beleuchtung der Klosterkirche verwenden sollten (MGH. DKar. 18 S. 27 Z. 2 ff. L. Kuchenbuch 1978 S. 371 f.). Aber dem Abte fehlte die Macht, um diese königliche Wohltat gegen den Willen der Grafschaften durchzusetzen. Lange wogte das Ringen um die Herrschaft über die unfreien Gerichtsleute hin und her. Nach der Häufigkeit darauf bezüglicher Sätze in den Königsurkunden zu schließen, erreichte es seinen Höhepunkt in der Zeit der sächsischen Kaiser, um danach während des Investiturstreits, als der Königsschutz für die Kirchen in sich zusammenfiel, vielfach zugunsten der Grafenhäuser zu Ende zu gehen (H. Aubin 1920 S. 230 f.). § 362. Das Introitus-Verbot und die Übernahme gräflicher Verwaltungsaufgaben nötigten die geistlichen Grundherren dazu, entsprechende administrative Vorkehrungen zu treffen. Insbesondere mußten sie sich ein Gericht beschaffen, in dem sie Klagen gegen hörige Leute rechtsförmlich anhören und sich durch eine unparteiische Gerichtsversammlung ein Urteil darüber weisen lassen konnten. Eines solchen hatten sie zuvor zu Ausübung ihrer hausherrlichen Zuchtgewalt noch nicht bedurft. Die Gelegenheit, bei der sie über Beschwerden ihrer Knechte gegen sich selbst, über Streitigkeiten ihrer Leute unter einander und über Klagen Auswärtiger wider sie in formloser Anhörung festsetzten, was sie richtig zu sein dünkte (iudicare, iusticiam facere, oben: § 308), hieß audientia und war keine öffentliche Veranstaltung (MGH. Capit. 1, 82 n. 32: Capitulare de villis, c. 56. A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 403 f., 408 – 410). Als jetzt die Notwendigkeit eintrat, eine solche einzurichten, da war das Vorbild und Muster dafür nur in den Grafen- oder Landgerichten zu finden, die in der fränkischen Zeit aus den alten Volksgerichten hervorgegangen waren. Den ersten Hinweis auf die Organisation eines solchen, auf dem Haupthofe des Grundherrn stattfindenden Hofgerichts enthält eine Urkunde König Ludwigs für das Kloster Herford vom Jahre 851, welche bestimmt, „daß kein öffentlicher Gerichtsherr, iudex publicus, über die zum Kloster gehörigen Leute zu irgendeiner Zeit Gewalt, potestatem, habe außer dem Vogte des Klosters, preter advocatum
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eorum, sei es nun, daß Bürgen von ihnen zu fordern oder bei Pfändung und öffentlichem Gericht, in uuadiis aut publicis placitis, irgendwelcher Zwang wider sie anzuwenden wäre“ (MGH. DLD 61. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 452. A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 424 f., 435 f.). Damit war die Tätigkeit des Schultheißen oder gräflichen Niederrichters beschrieben. Noch deutlicher äußert sich eine Urkunde König Ludwigs des Jüngeren von 877, die das Kloster Werden der königlichen Schutzherrschaft unterstellte und es daher mit der Immunität begabte: „Deshalb soll den Untertanen, hominibus, der vorgenannten Brüder keine richterliche Gewalt und kein königlicher Amtmann, nulla iudiciaria potestas vel iudex publicus, vorstehen, noch sollen von ihnen Friedensbruchgelder oder Herbergsleistungen gefordert werden . . . Vor dem von uns eingesetzten Vogte, coram advocato a nobis constituto, soll geschehen, was etwa zu verhandeln oder zu bestrafen ist“ (MGH. DLJ. 6 S. 341 Z. 1, 342 Z. 5 – 9. H. Aubin 1920 S. 126 – 134). Hier ist zum ersten Male die Zuständigkeit eines Vogtes für die Hegung des Hofgerichts und für die gerichtliche Behandlung von Klagen gegen Kirchenleute bezeugt, und da der Vogt zwar von der Kirche gewählt, aber, gleich dem Grafen, vom Könige selber bestellt wurde, muß er schon damals auf dem Gute von Reichsklöstern (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 414 f., 435 f. R. Scheyhing 1960 S. 314 f.) dieselbe Zuständigkeit wie der gräfliche Niederrichter besessen haben. Für Vögte der Adelsklöster galten andere Regeln, da sie nicht vom Könige, sondern von den Eigenkirchenherren bestellt wurden, bis die kirchliche Reformbewegung seit 1075 darin einen Wandel schuf (oben: § 322a). § 362a. In die Auslese und Bestellung der Vögte hatte der König bis dahin nicht eingegriffen, denn anfangs war die Vogtei (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 463 – 471, Bd. 7 S. 320 – 372) nicht mehr als eine einfache Vertretung vor Gericht gewesen, welche nach dem Willen König Karls des Großen alle Geistlichen hatten in Anspruch nehmen sollen, und zwar nicht etwa deswegen, weil der König ihnen die persönliche Rechtsfähigkeit hatte absprechen wollen, sondern weil er befürchtete, ihr Ansehen bei den Laien und die Würde der Kirchen möchte darunter leiden (MGH. Capit. 1, 200 n. 95 c. 3, Jahr 790. H. Aubin 1920 S. 292), wenn sie in eigener Person vor den germanischen Volksgerichten auftraten und sich dem archaisch-heidnischen Formalismus des schriftlosen Prozesses unterwarfen. Verfassungsmäßige Bedeutung hatte die Vogtei erst erlangt, als Kaiser Karl daranging, das Verhältnis der kirchlichen Immunitäten, welche immer mehr öffentliche Rechte an sich zogen, zu den Landgerichten und den königlichen Amtleuten zu regeln. Denn nun wurden die bisherigen anwaltlichen Aufgaben der Vögte mit dem neu zu schaffenden Gericht über die Immunitätsleute und deren Vertretung vor dem Landgericht verbunden, so daß sich die Kirchenvogtei aus einem gelegentlichen Auftrage zu einem ständigen Amte fortbildete (H. Aubin 1920 S. 293). Nach dem Willen des Kaisers hatten Bischöfe und Reichsäbte bei der Kur ihrer Vögte Einvernehmen mit dem Grafen und der grafschaftlichen Dinggenossenschaft herzustellen, in deren Sprengel der Vogt amtieren sollte (oben: §§ 311, 312), und
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die Bestimmung zu beachten, daß die dazu erkorenen Männer in der Grafschaft, wo sie ihre Kirche vertreten sollten, selbst Grundbesitz innehaben müßten, daß aber nicht die betreffenden Grafen und Zentenare dazu angenommen werden dürften (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c. 14, 288 n. 141 c. 19. Ann. Fuld. a. 852 S. 43. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 468 – 470. H. Aubin 1920 S. 294 – 296). Der erste Satz entsprang dem Bedürfnis, Männer für das Amt zu gewinnen, die auch für ihre Person in dem Gericht dingfähig waren, vor dem sie die Sache ihrer Kirche führen sollten; damit war zugleich bestimmt, daß die Vögte dem Stande nach Freie sein mußten. Als ihren Amtsbereich kann man sich nach dem Wortlaut des Gesetzes die in einer Grafschaft verstreut gelegenen Güter einer Kirche vorstellen, so daß deren Bischof oder Abt so vieler Vögte bedurfte, wie es Grafschaften gab, in denen er Grund und Boden besaß. Was die soziale Stellung dieser in den Quellen mit Namen kaum hervortretenden sogenannten Orts- oder Beamtenvögte des 9. und 10. Jahrhunderts anlangt, werden es demnach in der Regel wohlhabende Grundbesitzer aus der jeweiligen lokalen Führungsschicht der cives oder proceres gewesen sein, die der Grafschaft auch die Urkundszeugen und Schöffen (oben: §§ 227, 297, 312) stellte, vereinzelt jedoch dann auch Männer, die in mehreren Gauen Grundbesitz hatten und daher in der Lage waren, in mehreren Grafschaften als Vögte einer Kirche aufzutreten (H. H. Kaminsky 1972 S. 159 – 161. E. Boshof 1979 S. 60 f., 67, 72 f., 75 f., 83 f., 89 f.). Diese Möglichkeit aber trat im Laufe der Zeit immer häufiger ein, da sich die Immunisten ihre Vögte vorzugsweise aus der oberen Schicht der Edelinge auswählten, die selbst über weiter gestreuten Grundbesitz verfügten und mit Grafen und Fürsten verwandt waren. Die andere Bestimmung, nach welcher öffentliche Gerichtsherren von der Verwaltung der Ortsvogteien ausgeschlossen waren, hatte nach dem Gesetz von 819 allein für die niederen, dem Grafen untergeordneten Richter oder Zentenare gegolten, doch wurde sie 852 auch auf die Grafen ausgedehnt. Dies ist nur aus den wachsenden Spannungen zwischen Grafschaft und Immunität (H. Aubin 1920 S. 296 – 298) und aus der abnehmenden Macht des Königtums über die Grafen zu verstehen, die sich von König Ludwig dem Älteren (833 – 876) und seinen Nachfolgern immer weniger in ihren ebenfalls vom Reiche abstammenden Rechten und Pflichten beschneiden ließen. Sollten die geistlichen Grundherrschaften vor ihrem eigenwilligen Schutze der Reichsrechte gesichert werden, so ging es nicht an, daß der König den Grafen die Rechte, die er ihnen soeben durch das Introitus-Verbot entzogen hatte, mit der anderen Hand wieder zurückgab, indem er ihnen auf dem Wege der Vogtei den Einlaß in die eximierten Bezirke eröffnete, die ihnen als Beamten des Landgerichtes verschlossen sein sollten. Die Kapitularien von 819 und 852 brachten den Gegensatz von Grafschaft und Vogtei, der als ein Grundproblem die deutsche Verfassungsgeschichte vom 9. bis zum 12. Jahrhundert durchzieht, auch in den Personen der Amtleute zum Ausdruck. Da eine Erweiterung der kirchlichen Immunitäten nur auf Kosten der Grafengewalt vor sich gehen konnte, mußten die Grafen sie um jeden Preis zu verhindern
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suchen. Ein vom Grafen und Zentenar verschiedener Vogt durfte dagegen in der Ausdehnung und Steigerung der Immunität eine Vermehrung seiner eigenen Befugnisse und Einnahmen sehen und war daher der natürliche Verbündete sowohl des geistlichen Grundherrn wie des Königs, die beide gleich viel von dem Wachstum der Grafenmacht zu befürchten hatten. Man sieht, wie wenig es berechtigt wäre, die Vogtei um des Konfliktes mit der Grafschaft willen als Privatherrschaft zu bezeichnen und ihr die Grafengewalt als öffentliche Gewalt gegenüberzustellen. Die Rechte der Vögte waren zuerst nur aus der Banngewalt der Grundherren herzuleiten, von der wir annahmen, daß die Könige sie seit jeher durch Duldung legitimierten. Im Rahmen einer öffentlichen Ordnung, die noch kein Gewaltmonopol des Königtums zu realisieren vermochte, muß die Vogtei als unentbehrliche und daher auch rechtmäßige, aus gutem Grunde vom Königtum zugelassene Einrichtung anerkannt werden (E.-W. Böckenförde 1961 S. 67). § 363. Der Niedergang des karolingischen Königtums ließ freilich diese Rechnung nicht aufgehen. Da der Schutz des Königs sowohl gegenüber der Raubgier äußerer Feinde des Reiches (Normannen und Ungarn) wie gegenüber dem Egoismus der Grafen immer häufiger versagte, mußten sich die Kirchen nach anderen Beschützern umsehen. Diese freilich konnten ihrer Aufgabe nur dann gewachsen sein, wenn sie selbst über eine ansehnliche Macht verfügten. Den Bischof von Cambrai sehen wir zwar noch 941 persönlich dem Immunitätsgericht mit einem Vogte als bloßem Gerichtsbeamten vorsitzen, obwohl er den Grafen sogar aus der hohen Gerichtsbarkeit über die Immunität bereits völlig verdrängt hatte (G. Despy 1961 S. 1132 – 1134), aber andere Kirchen mußten sich an die Großen ihrer Region um Hilfe wenden, in deren Reihen sich doch die Grafen, ihre ärgsten Bedrücker, befanden. Auch auf das Amt dieser Beschützer wandte man nun den Begriff der Vogtei an, obwohl es mit dem der lokalen Grundeigentümer, die die Ortsvogteien verwalteten, wenig gemein hatte, da es diesen gerade an der Macht gebrach, die jene auszeichnete. Nur Männer, deren Reichtum und Herrengewalt groß genug war, um ihnen Einfluß auf die Reichsregierung zu gewähren, Männer also des Reichsadels (unten: Achtzehntes Kapitel) in fürstlicher oder gräflicher Stellung, waren geeignet, die Erwartungen zu erfüllen, die die geistlichen Immunisten in einen Schirmvogt setzten. Von dem ersten Grafen, der uns am Niederrhein als Vogt eines Königsklosters begegnet, einem Grafen Hermann, der von 889 bis 911 für Kloster Werden auftrat, ist allerdings nicht festzustellen, ob er Graf gerade in jener Grafschaft war, wo er die Vogtei verwaltete (H. Aubin 1920 S. 298 A. 18). Seit der Ottonenzeit sind dann bei den Reichskirchen immer häufiger Edel- oder Schirmvögte anzutreffen, die für die gesamte, über mehrere Grafschaften gestreute Immunität zuständig waren (Hdb. bay. G. 1981 S. 460). Als Kaiser Heinrich II. im Jahre 1007 die bischöfliche Kirche zu Bamberg stiftete und mit Gütern aus ererbtem Besitz seines Hauses dotierte, begabte er sie sofort mit Immunität und Königsschutz und bestellte ihr wohl gleichzeitig einen Edelvogt, der diesen Schutz ausüben sollte; nachweisbar ist als solcher zu 1015 ein gewisser Tiemo, und wenn dieser mit dem Thietmar oder Thie-
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mo identisch ist, der uns von 1007 bis 1023 als Graf im Volkfelde genannt wird, so hätte der Kaiser zum Edel- oder Schirmvogte eben denjenigen Grafen ausgewählt, in dessen Grafschaft die Immunität gelegen war (E. von Guttenberg 1927 S. 178 – 181, 203 f.). Erst von da an beginnen die hochadligen Schirmvögte zahlreicher hervorzutreten, und alsbald schickten sie sich an, die Verfassungszustände in einem Sinne zu verändern, der den Absichten ihrer karolingerzeitlichen Begründer völlig zuwiderlief. Gestützt auf den Empfang des Königsbannes als Inbegriffs ihrer Amtsgewalt unmittelbar aus der Hand des Königs (oben: §§ 321, 322a), konkurrierten sie nämlich mit Bischöfen, Reichsäbten, Herzögen und Grafen um den Gewinn der Landeshoheit über die bevogteten Kirchen, während Grafen und Herzöge ihrerseits in der Schirmvogtei zumindest Ersatz für das, was ihnen der König durch die Verleihung der Immunität entzogen hatte, wenn nicht sogar weitergehende Rechte zu erlangen suchten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 334 f.). Und während Schirm- oder Edelvögte versuchten, sich die älteren Orts- oder Beamtenvögte unterzuordnen, benutzten diese nicht selten ihrerseits die Amtsgewalt des Untervogtes dazu, mit ihr eigene dynastisch-gräfliche Herrschaftsrechte abzurunden (H. Aubin 1920 S. 302). So erwuchs die Vogtei zum Inbegriff lokaler hoheitlicher Gewalt über fremden Grundbesitz, sobald diese durch die Aufspaltung des alten germanischen Herreneigentums freigesetzt worden war (oben: § 356), und damit zur Grundlage für den Aufbau des spätmittelalterlichen Landesstaates.
§§ 364 – 367. Bannbezirk und Hochvogtei § 364. Zu Bausteinen der Landesherrschaft eigneten sich die Ortsvogteien dann besonders gut, wenn es ihnen gelang, die Streulage zu überwinden, an die mit der Immunität des Kirchengutes auch die Amtsgewalt des Vogtes gebunden war. Die immunisierten Güter lagen ja derart zerstreut in den Sprengeln der Grafen- oder Landgerichte, daß sich nur zu oft in einem und demselben Dorfe mehrere Fronhöfe und Hofrechtsverbände ineinander verzahnten. Sobald aber einer der Fronhofsherren mit dem Empfang des Königsbanns eine öffentliche Gerichtsbarkeit erlangte, mochte er es dahin bringen, diese über das Gut der anderen Grundherren auszudehnen und sich auf diese Weise einen sogenannten Bannbezirk zu schaffen (H. Aubin 1920 S. 251 – 291. A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 431 – 435. G. Despy 1961 S. 1140 A. 2. E. Boshof 1972 S. 125. R. Grosse 1987 S. 168 f.). Schon in der Karolingerzeit ist die Entstehung solcher Bezirke zu beobachten. So gewährte Kaiser Ludwig der Fromme im Jahre 819 dem Bischof von Paris Befreiung vom öffentlichen Gericht nicht nur für die bischöfliche familia, sondern auch für alle anderen sei es freien, sei es Dritten hörigen Bewohner, de aliis liberis hominibus vel incolis, der Seineinsel: Über sie alle sollten der missus des Bischofs und dessen Vogt die Gerichtsbarkeit ausüben, ausgenommen die Hochgerichtsfälle,
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die dem Grafengericht gehörten, sine aliqua iudiciaria potestate inibi vel banno, nisi in mallo legitimo vel regali placito, sicut lex ecclesiarum precipit (RI 12 n. 704). Ebenso unterstellte König Ludwig der Jüngere im Jahre 881 die Malmannen oder Grafschaftsfreien in der Mark Hörste, die sich in seinen und den Schutz des Bischofs von Paderborn ergeben hatten, der Gerichtsgewalt des mit Immunität begabten Bischofs oder des von diesem gekorenen Vogtes, ut etiam coram nulla iudiciaria potestate examinentur nisi coram episcopo aut advocato, quem eiusdem loci episcopus elegerit (MGH. DLJ. 19). Aber nur selten beruhten solche Bannbezirke oder potestates auf königlicher Verleihung. Die Regel war eine allmähliche, im Ringen zwischen Fronhofsverbänden und Grafschaften sich vollziehende Entstehung, die oft erst in der Neuzeit zum Abschluß kam (darin unterscheiden sie sich von den Gebilden, die A. Waas als Bannbezirke bezeichnet, oben: § 331). Das Ergebnis bestand in einem Ausgleich zwischen Land- und Immunitätsgerichten nach Maßgabe des territorialen Prinzips (oben: § 202). Die ältesten Bannbezirke mögen noch Schöpfungen der grundherrlichen Banngewalt gewesen sein, deren staatlicher Ursprung aus dem spätrömischen Possessorate (oben: § 353) niemandem mehr bewußt war, da kein fränkischer König sie jemals aktiv legitimiert hatte. Aber in dem Maße, wie die ostfränkisch-deutschen Könige im 10. und 11. Jahrhundert die Reichskirchen und deren Vögte mit dem königlichen Gerichtsbanne ausstatteten (oben: § 322a), überlagerte nun eine moderne die verschollene alte staatliche Autorität der geistlichen Grundherren und verstärkte damit die für die Schaffung von Bannbezirken erforderliche, dem Territorialprinzip verpflichtete Gewalt. Ohne daß sich an dem Aufbau der grundherrlichen und hofrechtlichen Verhältnisse etwas änderte, weil sich die daraus erfließenden Rechte und Pflichten des Herrn und der Hofgenossen bereits als dingliche Lasten fest mit den bäuerlichen Hofstellen verbunden und deren Inhaber in die Neufreiheit entlassen hatten (oben: §§ 151, 157, 207, 228), trat auf dem Gebiete der Grafen- und Vogteigerichtsbarkeit ein Ausgleich derart ein, daß die Landgerichte Immunitätsgut unter ihren Bann zogen und die Fronhöfe nach Möglichkeit gar nicht zur Hochgerichtsbarkeit, zumindest aber nicht zum Blutgericht (oben: § 323b. E. von Guttenberg 1927 S. 212 – 225, 232) gelangen ließen, während sich die Hof- oder Vogtgerichte nahegelegenes Allod und Leiheland anderer Herren unterwarfen oder dessen Inhaber dafür gewannen, sich ihrem Rechtsschutz zu unterstellen. § 365. Hatte anfangs die Zugehörigkeit bäuerlichen Leihegutes zu einem Fronhofe den Gerichtsstand der Bewohner und Bebauer vor diesem Hofe bestimmt und das gesamte Leiheland, wo immer und wie weit verstreut es gelegen sein mochte, das Territorium des Immunitätsgerichtes ausgemacht, so gab jetzt überall dort, wo sich Land- oder Vogtgerichte einen Bannbezirk geschaffen hatten, das Wohnen in diesem Bezirke für den neufreien Gerichtsstand eines Mannes den Ausschlag, und alles in dem Bannbezirk gelegene Gut, gleich welcher rechtlichen Qualität und grundherrlichen Bindung, ging in dem Territorium des Gerichtes auf.
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Nur ausnahmsweise deckten sich die Grenzen der Bannbezirke einmal mit denen der Pfarrgemeinden oder mit den Dorfmarken: Die Bannbezirke waren überall Gebilde eigener Art. Ins Leben gerufen von dem Interesse der Gerichtsherren und des Gerichtsvolkes an geordneter Rechtspflege, bezeugen sie den „Sieg des territorialen Prinzips in der Gerichtsverfassung“ über die personenbezogene Leib- und Schutzherrschaft und die in die Streulage der Güter eingezwängte Grundherrschaft. Der so geschaffene neue „war dem älteren Zustand eben vollkommen überlegen. Nachdem für die Immunitätsherren nicht mehr die grundherrlichen, sondern die landrechtlichen Befugnisse ihrer Hofgerichte die Hauptsache geworden waren, bedurften sie räumlich abgegrenzter Gerichtssprengel,“ wie es einst die gräflichen Dingbezirke gewesen waren, bevor Immunitäten und Adelsgerichte sie zersetzt hatten. „Die Gründe aber, welche die Anziehungskraft des einen Fronhofs über die des anderen erhöhten, sind durchaus individuell und in keinem Schema darzustellen“ (H. Aubin 1920 S. 283 f.). Mit dem Siege des territorialen Prinzips vollendete sich zugleich die Absorption des grundherrlichen Bannes, den wir für ein Erbe antiker Staatsdienstpflicht und romanisch-germanischen Herreneigentums (oben: § 353) halten, durch die Vogtei, die sich in den Bannbezirken von dem grundherrlichen Substrat gelöst hatte und mit dem königlichen Gerichtsbann über die ausdrückliche staatliche Ermächtigung gebot, deren die Grundherren hatten entraten müssen, obwohl ihre Herrschaft, wenn die angegebene Herleitung zutrifft, immer staatlichen Charakter getragen hatte – auch wenn sie ihre Untertanen so weit mediatisierte, daß die fränkischen Altfreien und Volksrechte sie nur als Unfreie hatten behandeln können. Gewiß war der grundherrliche Bann seiner Herkunft gemäß ein Fiskalbann gewesen, der der Regulierung dem Staate zustehender bäuerlicher Steuern, Dienste und Zinse gedient hatte; daher kann er auch den Ursprung der Mühlen-, Backofen-, Wein- und sonstigen Gewerbebänne erhellen, die seit dem 10. Jahrhundert in den Quellen erscheinen und sich schwerlich mit irgendeiner Form der fränkischen Königsgewalt in Verbindung bringen lassen (F. Beyerle 1930 S. 7 – 20. E. Pitz 1991 S. 296). Für den Aufbau von Bannbezirken mit öffentlicher Gerichtsbarkeit aber bot eine solche Banngewalt keine hinreichende Grundlage: Dafür bedurfte es des Gerichtsbannes, den der Vogt nur vom Könige erhalten konnte, und da darin auch die Hochgerichtsbarkeit mitsamt den daraus dem Könige zufließenden Gefällen enthalten war (oben: § 321), erweiterte sich, nachdem die Orts- oder Beamtenvögte der Karolingerzeit lediglich die niedere Gerichtsbarkeit erworben hatten, die Edel- oder Schirmvogtei zur Hochvogtei. § 366. Für die Herrschaft eines römischen Possessors und fränkischen Herrn, dem als Inhaber von Herreneigentum sowohl eine obere Gewere am Boden, welchen seine Leute nutzten, als auch Schutzherrschaft und gewohnheitsmäßige (nicht vom Könige übertragene) Banngewalt über diese Leute zustanden, besaß das Mittelalter keinen besonderen Begriff. Wir nennen sie Grundherrschaft, um sie von jener Herrschaft zu unterscheiden, die auf Kur oder Annehmung des Herrn durch seine Untertanen und somit auf einem Herrschaftsvertrage beruhte und daher öf-
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fentliche Herrschaft heißen kann. Ihr stand allerdings jene offensichtlich nicht so fern, daß man das Bedürfnis empfunden hätte, sie mit einem eigenen Namen zu bezeichnen. Erst als man unter dem Eindruck des Investiturstreites lernte, Regalien und Grundbesitz oder staatliche Hoheit und ihr unterworfenes (privates) Grundeigentum voneinander zu sondern (oben: § 323a), ging das Zeitalter der zwar staatlichen, aber dem Königtum rechtlich ganz fernstehenden Grundherrschaft zu Ende. Gleichzeitig hörten die Könige auf, Klöster auf Reichsgut zu gründen oder Bischöfen und Äbten solches Gut zur Verwaltung anzuvertrauen. Damit entfiel der Grund, ihnen Immunität und Königsschutz zu gewähren, und diese Institutionen starben aus. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts verzichteten die Kirchen darauf, sich bei dem Könige um sie zu bewerben (H. Aubin 1920 S. 149). In den deutschen Neuländern östlich der Elbe haben daher Immunität und Grundherrschaft nicht mehr Fuß gefaßt. An ihre Stelle trat die in den Bannbezirken ausgebildete öffentliche Vogtei, mit deren Begriff gegeben ist, daß sie über jene hinausgreifend auch freie Bauern, die ihren Hof als Allod oder Eigen besaßen, sowie solche Bauern erfaßte, die ihren Hof von einem anderen geistlichen oder weltlichen Grundherrn hielten als jenem, der den Vogt bestellte (O. Brunner 1965 S. 249 f. Oben: §§ 144b, 157). Diese öffentliche Vogtei, die alle Untertanen unabhängig davon, ob sie von ihrem Gute einem Herrn dienten und deswegen dessen Hofgericht suchen mußten oder nicht, und unabhängig vom Range dieses ihres privaten Herrn, in einem einzigen Verbande neufreier Leute zusammenfaßte, bewährte sich seit dem 12. Jahrhundert als Basis der Landesherrschaft. Sie machte diejenigen Fürsten oder Grafen zu Landesherren, denen es gelang, alle kirchlichen Vogteien in ihrem Gebiete zu erwerben und ihre eigenen Cometien zu weltlichen Vogteien auszubauen, um so ihre Herrschaft zu einer allgemeinen Schirmvogtei zu erweitern und alle Vögte als Untervögte von sich abhängig zu machen. Am Ende der Entwicklung stand der Vogt als regelmäßig so bezeichneter landesherrlicher Lokalbeamter. § 367. Als Vogtei ist zweifellos auch die Allodialherrschaft aufzufassen, die für uns in den Quellen des 11. Jahrhunderts zuerst sichtbar wird (oben: § 136) und sich in einem verfassungsrechtlichen Freiraume entfaltete, der sich nach dem Zusammenbruche der karolingischen Reichsordnung in der Zeit um 900 aufgetan haben dürfte (oben: §§ 139, 207). Wir sahen, daß der Ursprung der Allodialherrschaft im Dunkeln liegt und daß man, da sie nicht durch königliches Immunitätsprivileg geschaffen worden ist, entweder Erweiterung adliger Hausherrschaft über die Grenzen von Munt und Gewere hinaus oder Usurpation von Grafenrechten angenommen hat, um sie zu erklären. Beide Annahmen freilich warfen erhebliche Probleme auf (oben: §§ 142 – 146). Mir erscheint es möglich, das Rätsel folgendermaßen zu lösen: Allodialherrschaft kann sich nicht auf den Haus- und Grundbesitz eines Herrn gestützt haben, weil die hausherrliche Gewalt kein Rechtsmittel darbot, um ihre Bindung an dessen Streulage (oben: § 348) zu überwinden. Dazu bedurfte sie der
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Kraft, innerhalb eines Bannbezirks auch fremden Grund und Boden in der Art zu beherrschen, wie es geistliche Grundherren bereits im 9. Jahrhundert zu tun im Begriff waren. Da wir diesen Grundherren eine vom Könige lediglich zugelassene, nicht jedoch ausdrücklich verliehene Banngewalt beizulegen haben, braucht es kein Aufsehen und keinen gräflichen Widerstand erregt zu haben, wenn Edelherren, welche andere freie, ihnen standesgleiche Grundeigner zur Anerkennung ihrer Banngewalt zu bewegen verstanden, den Bezirk, in dem das der Fall war, als gegenüber der Grafengewalt immun behandelten und ihn so den potestates der Reichskirchen gleichstellten. Wenn man hierin keine Usurpation erblickte – obwohl Machtkämpfe zwischen Grafen und Bannherren, in denen mancher aufstrebende Allodialherr unterlegen sein mag, keineswegs auszuschließen sind –, so kann dies seinen Grund nur in der von Rechts wegen vorauszusetzenden Freiwilligkeit gehabt haben, kraft deren freie Männer, sei es ein jeder für sich alleine oder zusammen mit den Nachbarn, beschließen konnten, eine neue Dinggenossenschaft zu gründen und anstatt des vom Könige ermächtigten und von einer grafschaftlichen Dinggemeinde angenommenen Grafen einen Rechts- und Standesgenossen aus ihrer Mitte zum Gerichtsherrn zu erheben. Der Rechtsgrund für die Bannbezirksbildung wäre demnach in dem Recht der freien Einung zu suchen, das die germanischen Volksrechte allen freien Männern zuerkannten. Um rechtmäßig vor sich zu gehen, mußte sich eine die Grundholden des Bannherrn mit freien bäuerlichen Hausherren vereinigende Gerichtsgemeinde bilden, die aus der Grafschaftsgemeinde auszuscheiden und das auf dem Hofe des Bannherrn zusammentretende Gericht zum öffentlichen Ding zu erheben bereit war. Die praktischen Motive für diese Bereitschaft sind in der Gemengelage der agrarischen Nutzungsrechte der Genossen und in dem Vorteil kurzer Wege und rascher Erreichbarkeit des Richters, also in der Gunst des territorialen Prinzips, zu suchen. Die Legitimität der Allodialgerichte aber kann nur auf dem freiwilligen Zusammenschluß des Gerichtsvolkes und auf derjenigen Duldung durch den König und dessen Grafen beruht haben, deren sich die grundherrliche Banngewalt seit jeher erfreute. Den Weg von der niederen zur hohen und zur Blutgerichtsbarkeit werden die Allodialgerichte im Gleichschritt mit den Gerichten der geistlichen Immunitäten und ihrer Vögte zurückgelegt haben. Da sich die Existenz der Allodialgerichte in der Befriedigung lokaler oder kommunalpolitischer Bedürfnisse erschöpfte, empfand niemand die Notwendigkeit, den Gerichtsherren den Königsbann zu übertragen und die Gerichte damit auch formal in die Reichsverfassung einzugliedern (unten: § 566).
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§§ 368 – 376. Entstehung der Hofrechtsverbände § 368. Um als ordentliche Gerichte bestehen zu können, die imstande waren, Aufgaben grafschaftlicher Niedergerichte und seit dem 10. Jahrhundert auch gräflicher echter Dinge zu erfüllen, bedurften die Hofgerichte einer Gerichtsgemeinde, die dem Grundherrn (oder dem Vogte, den dieser zum Gerichtsherrn bestimmte) die Urteile und das Hofrecht weisen oder aber aus ihrer Mitte Schöffen kiesen konnte, die in ihrem Namen die Rechtsweisung besorgten. Denn nur die Betätigung des Volkes schuf jene Öffentlichkeit des Rechtslebens, dank deren öffentliches Recht die privaten Verhältnisse der Hausgenossenschaft und der grundherrlichen Bodenleihe zu überwuchern vermochte (F. Keutgen 1918 S. 36). Namentlich kann allein vermöge der Anerkennung durch eine Gerichtsgemeinde die grundherrliche Banngewalt ihre ursprüngliche Beschränkung auf fiskalische Gegenstände überwunden und gerichtsherrliche Rechtmäßigkeit erlangt haben, da ja weder Bischöfe noch Reichsäbte sie vom Könige zu empfangen pflegten und noch weniger jene adligen Herren, die sich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts Bannbezirke zu schaffen und das Dynastenprivileg beizulegen vermochten. Ohne ihr von einer Gemeinde als Hofrecht gewiesen zu werden, hätte sich jede derartige Banngewalt um so mehr dem Ruche der Anmaßung oder Usurpation ausgesetzt, je weiter sie sich über den engen Kreis der unbehausten Knechte hinaus auf alt- oder neufreie Hintersassen und Schutzbefohlene erstreckte. Solche Hofgerichtsverbände müssen sich spätestens im 9. Jahrhundert gebildet (oben: § 362a) und ein erhebliches Interesse an der Ausprägung von Bannbezirken gezeigt haben (oben: § 365). Über ihre Anfänge und ihre Entstehung etwa aus bäuerlichem Widerstande gegen herrschaftliche Willkür oder aus herrschaftlicher Duldung bäuerlicher Einungen ist nichts bekannt. Es ist aber möglich, daß sich die in den Kapitularien ausgesprochenen Verbote der Schwureinung (oben: § 174) auch auf die Verbandsbildung unter kirchlichen Hintersassen und Nutzern von Reichskirchengut bezogen und daß das Versagen des Reiches bei der Abwehr der Normannen nicht nur bäuerliche Selbsthilfe, sondern auch bäuerlichen Widerstand gegen herrschaftliche Forderungen im Wege der Einung beflügelt hat. § 369. Die hofrechtliche Dinggenossenschaft gibt sich insbesondere dadurch als Neuschöpfung des 9. und 10. Jahrhunderts zu erkennen, daß das Ahd. zunächst gar keine Bezeichnung für sie besaß. In lat. Texten nannte man sie einfach Familie (familia); die Schreiber benutzten also den altrömischen Ausdruck für die Hausgemeinschaft, ohne auf die Verwandlung der Sache in etwas völlig neues Rücksicht zu nehmen. Dabei mag die Funktion der Benediktinerklöster als Verwalter großer königlicher und eigener Grundherrschaften eine Rolle gespielt haben. Da sich die in ihren Konventen zusammenlebenden Mönche als Brüdergemeinschaft verstanden und in dem Abte ihren sowohl geistlichen als auch häuslichen Vater (pater familias) verehrten, lag es ihnen nahe, dieser engeren Familie des Konventes die Gemeinschaften der hörigen Bauern als weitere familiae an die Seite zu stellen. Im Kloster St. Emmeram zu Regensburg hatte man schon um die Mitte des 8. Jahr-
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hunderts die Familien sämtlicher Fronhöfe zur einheitlichen Großfamilie, familia sancti Emmerami, zusammengefaßt (K. Kroeschell 1968 S. 34 – 36). Dagegen vermochte sich das Ahd., das für die Mitglieder der engeren, noch wirklich unter einem Dache zusammenlebenden Hausgemeinschaft, wie wir sahen, das Wort hîwon oder hîwun verwendete (ebd. S. 28 f., oben: § 93), für die Hofverbände nur in recht ungelenker Weise einen Begriff zu verschaffen, indem es das Adjektiv hîwiski, das als Äquivalent zu lat. domesticus die Zugehörigkeit der ausquartierten Sklaven mit eigener Haushaltung oder behausten Knechte zum Herrenhofe bezeichnete, zum Substantiv machte und als Übersetzung von lat. familia benutzte (E. Steinmeyer / E. Sievers, Glossen Bd. 3 S. 68 Z. 57. W. Schlesinger 1956 S. 142. K. Kroeschell 1968 S. 29 – 33), obwohl dabei der Anteil freier Hintersassen an dem Hofverbande ganz vernachlässigt wurde. In dem ältesten uns erhalten gebliebenen Glossar, das die Bedeutung lat. Vokabeln mit ahd. Worten zu erklären versucht, dem nach seinem ersten Stichwort sogenannten Abrogans, erscheint bereits der Ausdruck hîwisclih kifeht als Übersetzung von bellum domesticum, dem Bürgerkriege, wobei der Verfasser an Streitigkeiten innerhalb einer grundherrlichen Familie gedacht haben muß (Ahd. Wb. 3 Sp. 683 f. G. Köbler in LMA 2 Sp. 1107. Oben: § 220). Später im Schwäbischen zu heubisch fortgebildet, konnte das Wort, dessen künstlich definierter Sinn nun nicht mehr verstanden wurde, als Nachname für Personen dienen, deren Vorfahren einmal Hörige (familiares) gewesen waren, oder als Name für Orte und Landstriche, die früher einmal den Bezirk einer geschlossenen Grundherrschaft gebildet hatten und deren Bewohner nun, im 13. und 14. Jahrhundert, Heubsleut hießen (K. Bosl 1975 S. 407 A. 5). Sofern die Hörigen aber rechtsfähige Mitglieder einer Dinggenossenschaft geworden waren, konnten lat. Schriftsteller sie wiederum als cives bezeichnen, als Geburen oder Angehörige ländlicher Gemeinden, mochten sie nun Hintersassen eines Immunisten oder zum Grafschaftsding pflichtige Freie sein (oben: § 220. G. Köbler in LMA 2 Sp. 2111). Freilich hören wir niemals etwas davon, daß die Bauern geschworene Einungen gebildet hätten. § 370. Die riesige Ausdehnung des Reichskirchengutes hatte zur Folge, daß die familiae der geistlichen Grundherren Genossen von höchst verschiedener persönlicher Rechtsstellung und wirtschaftlicher Beziehung zu dem gemeinsamen Herrn zusammenfaßten. Es gab darunter noch richtige Sklaven, mancipia, servi, die von den Grundherren und Fronhofsverwaltern als Gesinde auf den Haupthöfen gehalten wurden und nur Pflichten zu erfüllen hatten, außer dem auf das nackte Leben aber kaum Rechte geltendmachen konnten. Indessen nach alter germanischer Sitte waren die Grundherren doch stets bemüht, diese Sklaven zumindest als Tagelöhner auf kleinen Hofstätten, nach Möglichkeit aber sogar auf einer halben oder vollen Stelle als Landwirte anzusiedeln, wo sie, mochten sie auch noch so schwer mit Arbeitsdiensten auf dem Herrenlande und Naturalabgaben belastet sein, in der übrigen Zeit selbständig wirtschaften und durch Sparsamkeit vorwärtskom-
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men konnten. Da der Herr seinerseits ihrer als Arbeitskräfte bedurfte, sah er dies nicht ungern. Er schützte sie daher im Besitz ihres Hofes, und sobald er ihnen das Erbrecht gewährte, gewannen sie daran eine echte Gewere, ein richtiges, wie sehr auch immer durch die höhere Gewere des Herrn beschränktes Eigentum. So stiegen die ehemaligen Sklaven zu hörigen Bauern, servi casati, mansuarii, auf, die sich dem Besitzrechte nach gegenüber dem Herrn alle in der gleichen Lage befanden, der unterschiedlichen Besitzausstattung ihrer Höfe nach jedoch sozial in Kleinbauern und Vollbauern schieden (W. Rösener in LMA 1 Sp. 1567 – 1569, 1574 f. Th. Zotz 1989 S. 108 – 112. W. Rösener 1989 S. 165, 174 f. Oben: §§ 113, 114). Neben diesen unfreien, rechtlich und sozial durchaus im Aufstiege befindlichen Hörigen gab es aber auch „freie Hintersassen“ (H. Aubin 1920 S. 294 f. J. Weitzel 1985 S. 672, 703. Th. Zotz 1989 S. 98 – 108. W. Rösener 1989 S. 137, 139) oder „freie Unfreie“ (K. Bosl 1970 S. 723 f.), die sich entweder als landlose, abgeschichtete Söhne freier Eltern (oben: § 91), um ein Auskommen zu gewinnen, von einem Grundherrn auf einer Freien-Hufe (mansus ingenuilis) als Erbzinser ansiedeln ließen, oder aber als selbständige Hofbesitzer mitsamt ihrem in der Grafschaft dingpflichtigen Hofe in den Schutz eines Bischofs oder Abtes begaben, damit dieser ihre Heer- und Gerichtsfolgepflicht gegenüber dem Könige und dessen Grafen erfüllte und sie davor bewahrte, von diesen letzteren, die das verfallende karolingische Königtum immer weniger zu zügeln vermochte, für die eigenen lokalen oder regionalen Machtinteressen eingespannt und dabei weit über Gebühr belastet zu werden (oben: §§ 123, 301). Wie jene zunächst nur dinglich an den kirchlichen Grundherrn gebunden waren, so waren es die Schutzbefohlenen zunächst nur persönlich; daher behielten sie, soweit nicht ihr Rechtsverhältnis als „freie Hintersassen“ in Rede stand, also etwa in Strafsachen oder wegen ihrer Allodialgüter, den Gerichtsstand vor dem Landgericht bei (H. Aubin 1920 S. 120 – 122. L. Kuchenbuch 1978 S. 364 – 376). Auch um sie setzte nun das Ringen zwischen Grafschaft und Immunität (oben: §§ 358, 361) ein. Überall dort, wo schließlich der Immunist die Oberhand gewann, wurden die Freien ganz in die Grundherrschaft hineingezogen; so vollständig gingen sie in der Hörigenfamilie auf, daß sie ihre einstige Freiheit einbüßten und auf die rechtliche Stufe der ehemals sklavischen Grundholden herabsanken. Auch unter ihnen freilich behaupteten sich allerlei Standesunterschiede. So leisteten die als geschützte Freie mit eigenen Höfen in die grundherrliche Familie Eingetretenen gewöhnlich keinerlei dingliche Dienste und Abgaben, wie es die zur Hörigkeit freigelassenen früheren Sklaven taten, sondern lediglich eine persönliche Abgabe oder Kopfsteuer, die häufig aus Wachs bestand und ihnen die Sonderstellung des Wachszinsers, cerocensualis, verschaffte (H. Aubin 1920 S. 94. Oben: §§ 135a, 151). Außerdem zog der Schutzherr natürlich die Abgaben ein, die sie einst auf Grund ihrer Wehrpflicht dem Könige geschuldet hatten: die Heersteuer, hostilicium, oder die gleichwertige Gestellung von Pferden, parafredi, scara, angaria (L. Kuchenbuch 1978 S. 371. Th. Zotz 1989 S. 117 f. Oben: §§ 131, 132, 301).
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§ 371. Indessen als allen diesen rechtlichen und wirtschaftlichen Unterschieden überlegen erwies sich die einigende Kraft, die von der gemeinsamen sozialen und politischen Lage aller jener Hausherren ausging, die von demselben Grundherrn abhingen. Sie bewirkte, daß „sich nun allmählich die Personen homogenen wirtschaftlichen und sozialen Interesses an der Grundherrschaft und gegen sie zusammenschlossen, nach außen durch deren Immunitätsrechte geschützt. Je mehr diese mächtigen Grundherren politisch an tatsächlicher Macht im Staate gewannen, desto mehr schoben sie sich als intermediäre Gewalten zwischen die alten Vertreter der öffentlichen Gewalt und die breiten Bevölkerungsschichten ihrer Hintersassen.“ Aber damit „ging doch zugleich auch eine Assoziation der von ihnen abhängigen Bevölkerungsklassen Hand in Hand. Und eben damit bildeten sich im Rahmen dieser großen Grundherrschaften Verbände aus, die sich später z. T. verselbständigten und zu freier sozialer Entfaltung loslösten“ (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 53). Der Druck der Herrschaft löste als Gegenwirkung der davon betroffenen Bevölkerungsschichten deren „allgemeine Assoziierung und Sozialisierung“ aus in Gestalt „genossenschaftliche(n) Zusammenschluss(es) auch nicht durch gemeinsame Abstammung verbundener Personen aus gleichem wirtschaftlichen und zu gleichem sozialen Interesse“ (ebd. S. 54). Bedenkt man, daß die Herren, welche über größere Gütermassen verfügten, von Hause aus ganz frei gewesen waren bei der Festsetzung der Bedingungen, unter denen sie Güter an die eigenen Haussklaven oder an landlose, einen bäuerlichen Arbeitsplatz suchende Freie auszutun bereit waren, so ist in der Tat – außer dem Gebote christlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe, dessen Macht über den Willen der Großen man nicht unterschätzen sollte – kein anderer Grund erkennbar, aus dem sie nicht hätten versuchen sollen, die arbiträre Befehls- und Zuchtgewalt, die ihnen als Hausherren über das unfreie Hofgesinde der Manzipien zustand, auch auf ihre behausten und sogar auf die freigeborenen Hintersassen auszudehnen, als der gemeinsame Widerstand der familia, von deren Diensten und Abgaben sie vollkommen abhängig waren. Nur solcher Widerstand kann sie dazu bewegt haben, Hofgerichte einzusetzen und als deren urteilsweisenden Umstand eben jene ihre unfreien und freien Hintersassen zuzulassen, die als einzelne bei Streitigkeiten unter sich oder mit dem Herrn oder wenn sie von Außenstehenden beklagt wurden, vor diesem Gerichte und dem Ortsvogte ihr Recht suchen sollten. Gestand ein Herr aber dieses zu, so mußte er auch dulden, daß die Personenvielheit seiner versammelten Leute zu einer Gesamtheit oder Verbandsperson verschmolz, die als Sühnemittler in unmittelbare, jeden Eingriff von seiner Seite ausschließende Beziehung zu den streitenden Parteien trat (K. Kroeschell 1968 S. 42 f. J. Weitzel 1985 S. 682 – 685). Um Gerichtsherr werden zu können, mußte der Grundherr also bereit sein, seine bis dahin ungebundene Herrengewalt gegenüber den Hörigen zu verrechtlichen und sie durch die Gesamtheit seiner eigenen Leute gerichtsförmig eingrenzen zu lassen (J. Weitzel 1985 S. 672), mußte er sich darein fügen, seine Zwangsgewalt gegenüber Rechtsbrechern nur noch gemäß der Rechtsweisung seiner Untertanen auszuüben, obwohl ihm diese ständisch nicht ebenbürtig waren.
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§ 372. Die zum Gerichtstage einberufene Versammlung der Inhaber gleicher Leihegüter (H. Aubin 1920 S. 115 – 123. H. Vollrath 1982 S. 38 – 49) diente ursprünglich dem Herrn dazu, sich außer seiner Banngewalt die Herrengewere an diesen Gütern und das Recht auf die Abgaben, Zinse und Arbeitsdienste zu bewahren, die ihm davon zustanden. Indem sich dieselben Bedingungen für die bäuerliche Landleihe immer wiederholten und die Beliehenen dem Herrn darüber wiesen, was hergebracht war, verwandelte sich die freie Verfügung des Herrn allmählich in ein bestimmtes fronhofsübliches Leihe- und Hofrecht, das auch die Ansprüche der Bauern an den Herrn auf Schutz ihrer Nutzungsgewere am Boden zur Anerkennung brachte. Indem diese Güter regelmäßig vor der Zeugenschaft der Hof- und Dinggenossen vererbt, verkauft oder belastet wurden, gewann der Herr seinerseits eine Sicherheit für den Bestand seiner Herrenrechte, die ihm in einem Zeitalter geringen Schriftgebrauchs nur das kollektive, vom Formalismus des Verfahrens bestärkte Gedächtnis seiner Hintersassen gewähren konnte. Zugleich aber wurden die Güter dadurch dem Landgericht entzogen, da sich bei dessen Umstand kein Wissen über die Vorgänge ansammelte. Vor dem Landgericht galt nur das Allodrecht, das der Herr an dem Gute als einem Zubehör des Herrenhofes besaß, da alle Rechtsgeschäfte, die seine Herrengewere betrafen, weiterhin vor der Öffentlichkeit der Landgerichtsgemeinde vollzogen werden mußten. Gegenüber dem alles umfassenden Landrecht war das Hofrecht am Anfang ein Sonderrecht von rein dinglicher Natur, in das die haus- oder leibherrliche Zuchtgewalt nicht hineinspielte. Vielmehr betraf es nur die aus der Leihe der Hofgüter entspringenden Rechtsverhältnisse, also Umfang und Ausstattung der Bauernhöfe, deren regelmäßige und unständige Abgaben an den Herrn, dessen Heimfallsrecht und das ihm gegenüber allmählich entstehende Ehe- und Erbrecht der Bauern, schließlich das Verfahren im Hofgericht bei Rechtsveränderungen und Rechtsstreitigkeiten. Auf den Stand des Bauern hatte das Hofrecht an sich keinen Einfluß. War er Freier, so gehörte er im übrigen in allen seinen Angelegenheiten vor das Grafengericht, blieb er Dinggenosse der Grafschaftsgemeinde, ebenso wie sich jeder bäuerliche Leihenehmer in Strafsachen dem Landgericht stellen mußte. Den allgemeinen Gerichtsstand namentlich freier Hintersassen vor ihren Hofgerichten und damit eine echte volksrechtliche, friedewahrende Gerichtshoheit konnten die kirchlichen Grundherren daher niemals aus eigener Kraft erreichen; dazu bedurften sie der Immunität, die ihnen nur der König zu gewähren vermochte (J. Weitzel 1985 S. 703 f.), eines Vorzugsrechtes oder Privilegs, vermöge dessen ihr Hofgericht die Hintersassen schließlich, abgesehen von den schwersten, mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen, der gräflichen Gerichtsbarkeit vollständig entzog (oben: §§ 357, 358). Man hat in dieser Zulassung des dinggenossenschaftlichen Prinzips der Rechtspflege durch die Grundherren die Anerkennung einer „heiligen Pflicht“ gesehen (O. Gierke 1868 S. 138), bevor Max Weber auf die politischen und verwaltungstechnischen Ursachen dieser Selbstbeschränkung der Herrschaft hinwies (oben:
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§ 172). Was die geistlichen Grundherren anlangt, so spielte gewiß auch eine Rolle, daß sie ohne Rücksichtnahme auf die Interessen derer, die sie als urteilsweisenden Umstand zu ihren Hofgerichten zuzogen, in dem Ringen mit der Grafengewalt um die Behauptung der Immunität niemals hätten gewinnen können. Sie selbst beschränkten sich daher in der Ausübung ihrer Herrschaft nach Maßgabe dessen, „was üblicherweise der Herr (und sein Verwaltungsstab) sich gegenüber der traditionellen Fügsamkeit der Untertanen gestatten dürfen, ohne sie zum Widerstand zu reizen.“ In der so verfaßten Herrengewalt erkannte Weber einen der drei seiner Ansicht nach universal verbreiteten „reinen Typen legitimer Herrschaft“, den er als traditionelle Herrschaft bezeichnete (M. Weber 1921 / 72 S. 130 f., 124. Unten: §§ 420, 831). § 373. Dem römischen Rechte und dem Rechtsdenken der von ihrem Kaiser ermächtigten Possessoren waren derartige Anschauungen ganz fremd gewesen. Wenn der Bischof von Rom seine Güterverwalter nach Gallien oder Sizilien entsandte, befahl er ihnen zwar, die Lasten der Kolonen nach Maßen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit festzusetzen, und an die familia richtete er schriftlich den Befehl, unverzüglich zu tun, was der Verwalter zum Nutzen der Kirche anordnen werde (Liber D. p. 310 n. 51 Vat. Greg. Reg. epp. IX. 30), aber die Entscheidung darüber, was gerecht, barmherzig und nützlich sei, überließ er keineswegs der familia, die, wenn der Verwalter sie versammelte, lediglich eine unverfaßte Vielheit von Personen bildete und zu weiter nichts taugte als zum Befehlsempfang: Die Entscheidung über Recht und kirchlichen Nutzen behielt er natürlich sich selbst vor. Erst unter fränkischer Herrschaft kamen in Gallien und Italien das völkische oder volkliche Genossenschaftswesen und die dinggenossenschaftliche Form der Justiz in Aufnahme. Im langobardischen Königreich Italien sind Vorformen grundherrlicher Gerichtsbarkeit nicht vor dem 9. Jahrhundert zu beobachten, und deren klassische Gestalt wird dort sogar erst in den Quellen des 11. Jahrhunderts sichtbar (F. Bougard 1995 S. 253 – 259). Es war eben noch nicht die Überzeugung römischer Possessoren, sondern erst diejenige germanischer Edelinge im Fränkischen Reiche, daß nicht schon Gewalt über Sklaven und Unmündige, sondern nur erst der Anspruch auf willentlich geleisteten Gehorsam insoweit freier Rechtsgenossen einem vornehmen Manne geistlichen oder weltlichen Standes jene ehrenvolle Herrschaft gewährte, die er als seinem Stande gemäß gelten ließ. Denn nicht nur germanische Bauern, sondern auch ihre Herren waren davon überzeugt, daß „eine Genossenschaft nicht oder doch nicht allein einer natürlichen Zusammengehörigkeit oder der durch einen Herrn gegebenen äußeren Einheit ihr Dasein verdanke, sondern den letzten Grund ihres Verbundenseins im freien Willen der Verbundenen habe“ (O. Gierke 1868 S. 221, oben: § 167. O. Hintze 1929 S. 268 – 274). Nur dann, wenn Herren und Genossen in ihrem freien Willen übereinskamen, konnte sich ein Edeling seiner herrschaftlichen Stellung sicher sein. Indessen die Herstellung des Konsenses forderte ihren Preis. Der Herr mußte der Verrechtlichung seiner Befugnisse und seines Verhältnisses zu den Bauern zustimmen, er mußte seine Willkür beschränken und seine Hintersassen als Urteilsweiser im Hofgericht dul-
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den. Die Bauern aber mußten sich mit der Herrschaft abfinden und allen Formen auch des passiven Widerstandes entsagen. § 374. Einen sehr frühen Hinweis darauf, daß ein Grundherr die genossenschaftliche Verbindung seiner hörigen Leute zugelassen hatte und sich mit ihrer Gesamtheit über hofrechtliche Fragen zu einigen pflegte, findet sich in der (oben: §§ 338, 339) bereits erörterten Urkunde, mittels deren der alamannische Graf Chadaloh im Jahre 817 ausgedehnte Besitzungen in zahlreichen Orten des oberen Donaugebietes dem Kloster St. Gallen übertrug. Denn anläßlich der Entlassung der mit dem Grundbesitz tradierten Bauern aus seiner Herrschaft legte er deren Pflichten im einzelnen fest, um sie auch weiterhin zu beschützen und ihren künftigen Herren willkürliche Steigerungen ihrer Lasten zu verwehren: „Weder ihr noch irgendeiner eurer Nachfahren dürft diesen unseren Dienstpflichtigen, die jenem Kloster überwiesen worden sind, weder Männern noch Frauen, Dienste oder Abgaben oder irgendwelche Arbeiten auferlegen, es seien denn solche, von denen es ihnen selbst beliebt hat, daß sie ihnen auferlegt werden, nisi que sibi complacuerit ipsi eis imponenda . . . Auch halten wir es für richtig zu bestätigen, ratum ducimus ad confirmandum, daß sie weder durch euch noch durch eure Nachfolger in jenem Kloster gegen ihren Willen außerhalb der Grenzen der Grafschaft angesiedelt oder zu Lehn ausgetan werden dürfen.“ Zwar sagt der Text nicht ausdrücklich, daß der Grundherr ein Belieben der Bauern gemeinlich im Sinne und folglich die Vielheit der Bauern bereits als Verbandsperson anerkannt hatte; sein Verbot mag sich auch auf Zumutungen des Klosters an den Einzelnen beziehen, daher nicht jeder Betrachter (H. Vollrath 1982 S. 45 Anm. 1. W. Rösener 1989 S. 152 – 154, 174 f.) hier bereits eine Hofgenossenschaft zu erkennen vermag. Aber da die unfreien Leute als einzelne schwerlich einem Diktat des Grafen oder des Klosters hätten widerstehen können, so mußten sie darauf dringen, daß die Mönche die Rechtsverhältnisse selbst eines einzigen Genossen nicht anders als mit Zustimmung aller anderen verändern durften. Eine derartige herrschaftliche Genossenschaft müssen auch die Kolonen jener königlichen und kirchlichen Fronhöfe gebildet haben, die ihren Rechtsstreit mit den Verwaltern dieser Höfe im Jahre 864 sogar vor den westfränkischen König Karl den Kahlen zu ziehen vermochten (MGH. Capit. 2, 310 n. 273 c. 30. Th. Zotz 1989 S. 123 mit A. 248). Sie trugen vor, sie seien zwar nach alter Gewohnheit, wie in den Polyptychen enthalten, zu Fuhr- und Handdiensten verpflichtet, aber sie weigerten sich, Mergel zu fahren und in der Scheune zu dreschen, da diese Arbeiten vor hundert Jahren, als die Polyptychen erstellt wurden, noch nicht üblich gewesen wären. Der König urteilte, zwar hätten die Verwalter allein über die Art der Dienste zu bestimmen, jedoch dürften sie sie lediglich zu den üblichen Zeiten anordnen. Die Sprecher der Bauern drangen also mit dem Argumente durch, daß betriebswirtschaftliche Neuerungen den Verwaltern keinen Rechtsgrund gewährten, um zusätzliche Dienste von ihnen zu verlangen. Am Ende des 9. Jahrhunderts war die Wechselseitigkeit der Verpflichtungen zwischen dem Grundherrn und seinen Hörigen, die deren Verbandsstatus voraus-
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setzt, wohl schon allgemein anerkannt. König Arnulf bestätigte sie im Jahre 893 ausdrücklich, als er ein gutes Dutzend seiner Eigenleute der Passauer Bischofskirche mit der Maßgabe überstellte, daß sie hinfort mit aller Sorgfalt dorthin dienen, andererseits aber auch von dort Herrschaft, dominatus, und Schutz, defensio, erfahren sollten, wie es Knechten und Mägden in geziemender Weise zustünde (MGH. DArn. 17). Die Gegenseitigkeit der Pflichten ist hier fast schon mit derselben Deutlichkeit ausgesprochen wie vier Jahrhunderte später in der bekannten Stelle des Schwabenspiegels (oben: § 152a. Th. Zotz 1989 S. 76). § 375. Gewiß wurde es nun auch üblich, daß beim Wechsel der Herren oder ihrer Verwalter sowohl der neue Herr als auch sein neuer Amtmann die hergekommenen Rechte der Bauern und des Hofes anerkennen mußte, um von der Hofgemeinde als rechtmäßiger Herr und Vorsitzender des Hofgerichts anerkannt zu werden und einen Treueid zu empfangen (E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 9). Für die konstitutive Wirkung dieses zwischen dem Herrn und seiner familia ausgemachten Herrschaftsvertrages war es rechtlich gleichgültig, wie der Herr seine Stellung erlangte, wer ihn erkor und in welchem Verhältnis er zum Könige stand (oben: §§ 276b, 339), welche tatsächlichen Mühen es die Beteiligten auch immer gekostet haben mochte, die nach den Regeln identischer Willensbildung notwendige Einhelligkeit ihrer Wahlentscheidungen herzustellen und Widerstrebende zur Einlösung ihrer Folgepflicht anzuhalten. Seit der römischen Zeit galt der Grundsatz, daß, wenn Bischofsstühle zu besetzen waren, Klerus und Volk der Diözesen den Kandidaten zu erwählen hätten. In Konstanz aber werden uns schon um 885 / 887 familia et cunctus populus als Wähler genannt, machte also die familia der Kirche einen wesentlichen Teil dieses Volkes aus (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 272 A. 2), und im Jahre 906 bestätigte König Ludwig in einem der ersten Privilegien dieser Art der bischöflichen Kirche zu Freising deren angeblich seit ihrer Gründung ausgeübtes Recht der freien Bischofswahl derart, daß plebi et familiae suae oder supradicte familiae et clero die Kur zustehen sollte (MGH. DLdK. 44). Wie sehr auch immer dieses Wahlrecht durch den Metropoliten, der die Eignung des Erwählten zu prüfen hatte, und den König, der ihm die Verwaltung einer Reichskirche anvertrauen sollte, dabei aber das Interesse nicht nur der Wähler, sondern des gesamten Reichsvolkes zu wahren hatte, eingeschränkt wurde: mindestens ein Vetorecht gegen königliche Designation oder Ernennung des Kandidaten blieb immer bei der familia und dem Diözesanvolke zurück, da sie sich ebenso weigern konnten, einen Mann zum Herrn anzunehmen, der nicht gewillt war, ihre Hof- und Landrechte zu achten, wie sie befugt waren, einen Herrn wieder zu verlassen, der sich unwillig oder unfähig zeigte, den Herrschaftsvertrag zu erfüllen und sie zu beschützen (unten: § 429a). Ein gleiches ist von dem Vogte anzunehmen, den der geistliche Immunitätsherr und, wie uns zum Jahre 877 bezeugt ist (oben: § 362), der König einsetzten, damit er an Stelle des gräflichen Niederrichters oder des Grafen selber den Familiaren einer Reichskirche als Gerichtsherr vorstehe, was zweifellos das Verfaßtsein der
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familia als Hofrechtsgemeinde und die Existenz eines Hofgerichtes voraussetzt, in dem diese dem Hof- und Gerichtsherrn das Recht wies. Jedenfalls meldete der Chronist des Klosters St. Gallen noch im 11. Jahrhundert, nachdem König Konrad I. dem Kloster im Jahre 911 einige Dörfer des Königshofes zu Stammheim im Thurgau geschenkt, sei der Abt von St. Gallen in Begleitung seines Vogtes in die überwiesenen Örtlichkeiten gereist, um dort nach Rechtsbrauch drei Tage lang zu residieren (oben: § 291) und die Königsbauern durch Eide auf die neue Herrschaft zu verpflichten (Ekkehard, Casus c. 16 S. 49. Th. Zotz 1989 S. 74). Es ist anzunehmen, daß die Bauern den Schwur zwar jeder einzelne für sich selbst, jedoch nur gemeinsam mit allen anderen geleistet haben, wie es der Verfassung der Landgemeinden jener Zeit als sogenannter älterer Genossenschaften entsprach. § 376. War die familia einmal als Genossenschaft und ihr Verhältnis zur Herrschaft als vertragliches anerkannt, so gewährte ihr das Einungsrecht die bereits (oben: Siebtes Kapitel) beschriebenen Möglichkeiten, ihre Lage zu verbessern und den einzelnen Genossen zur neuen Freiheit zu verhelfen. Zu Verhandlungen mit ihr waren die geistlichen Grundherren immer wieder wegen des ihnen obliegenden Reichsdienstes genötigt, sobald ihnen dieser nämlich außergewöhnliche Lasten auferlegte und sie deswegen die familia um außerordentliche Beihilfen oder Steuern bitten mußten. Die Hofgemeinden aber werden solche auf sich zu nehmen nur dann bereit gewesen sein, wenn der Herr ihnen die necessitas nachweisen konnte (oben: § 330). Wenn aber bei der Beurkundung wichtiger, über Klostergut getroffener Verfügungen schon im 9. Jahrhundert mitunter hervorgehoben wurde, daß sie mit Zustimmung der familia erfolgt seien (K. H. Ganahl 1943 S. 135), so ist der Grund dafür gewiß darin zu suchen, daß solche Verfügungen, wenn sie der Abtei zum Nachteil gereichten, auch die Hofrechtsgemeinde belasteten. Über die Verfassung weltlicher Grundherrschaften ist aus dem 10. Jahrhundert nichts bekannt. Indessen bestand wohl auch hier zwischen Herrn und Gemeinde ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens, wie es sich aus der beiderseitigen Eingehung eines Herrschaftsvertrages ergab. So konnten sich gewiß die Hofgemeinden genauso, wie es diejenigen geistlicher Herren taten (unten: § 434), ihrer Häupter bedienen, um königliche Privilegien zu erwerben. Allerdings läßt sich diese Vermutung nur auf ein einziges Zeugnis stützen. Im Jahre 999 erhielt ein Graf Berthold, den wir als Gaugrafen des Thurgaus kennen, von Kaiser Otto III. die Erlaubnis, auf seinem in der Grafschaft Baar gelegenen Gute Villingen Markt-, Münzund Zollrecht nebst dem Königsbann auszuüben (MGH. DO. III. 311). Da der Gaugraf der Baar dem zugestimmt hat, muß die Sache hinsichtlich der Zweckmäßigkeit von der Ortsgemeinde und hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von der Grafschaft für richtig befunden worden sein, bevor sich der gräfliche Grundherr an den Kaiser wandte, um die notwendige königliche Konzession zu erwerben. Die Entfaltung der Hofgerichtsbarkeit war im wesentlichen zu Beginn des 11. Jahrhunderts und somit zu eben der Zeit abgeschlossen, als die geistliche fami-
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lia in dem sich formierenden Lande ihres Herrn aufzugehen begann (oben: § 328). Bald darauf entstanden im Bistum Worms und beim Kloster Limburg an der Hardt die ersten Niederschriften des bis dahin nur mündlich fortgebildeten Hofrechtes (MGH. Const. 1, 639 n. 438 = Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 88 n. 23, Const. 1, 67 n. 43 = MGH. DKo. II. 216 = Quellen hg. von Weinrich S. 106 n. 25. K. Schulz in LMA 5 Sp. 77 f. H. Vollrath 1982 S. 61 – 63). Es war der Grundherr, der die Niederschrift für notwendig hielt, weil er sah, daß sein Amtmann, als Vogt, Vitztum oder Meier, der familia mehr Leistungen abzupressen pflegte, als dem Herrn zustanden, plus quam debeat ab ecclesie familia extorqueat, während die familia dazu neigte, ihre althergebrachten Pflichten zu vergessen, und es versäumte zu leisten, was sie schuldig war, vetustate temporum sui iuris oblita . . . debita exsolvere negligat (MGH. Const. 1, 87 n. 43 Z. 30 – 32). Die Offensive in dem ewigen Interessenkonflikt zwischen Herrschaft und Gemeinde lag offensichtlich bei der familia, die, als anerkannter Depositar des Hofrechts, der Herrschaft stets den Ruf rechtsbrüchiger und Neuerungen suchender Gewalttätigkeit zum Schaden des armen Mannes (ebd. 1, 639 n. 438 S. 640 Z. 19 – 22) anzuheften vermochte. Das richtige Recht allerdings konnte auch der Bischof von Worms nur mit Rate von Klerus, Rittern und ganzer Familie seiner Kirche feststellen (ebd. Z. 20), und die Niederschrift wird wenig genützt haben, solange das geschriebene Wort, wenn es bestritten wurde, durch Zeugenaussage (oben: § 296) oder durch Rechtsweisung (MGH. DH. IV. 476 S. 648 Z. 43 bis 649 Z. 8) bestätigt oder ersetzt zu werden pflegte. Das Wormser Hofrecht kannte echte Dinge (c. 26, 29) und Genossen- oder Schöffenurteile (c. 9, 17, 22, oben: § 318) und sprach dem Bischof das Recht der sechzig-Schilling-Buße zu (c. 20, 27, 28). Es zeigt uns also ein Hofgericht, das Verfassung und Kompetenz des Grafengerichtes, abgesehen von der Blutgerichtsbarkeit, offensichtlich übernommen oder nachgeahmt hatte. Auf die Offensive ihrer Hofrechtsverbände antworteten die Herren damit, daß sie die Gehorsamspflicht der einst willenlosen Untertanen zur Treupflicht steigerten, um damit dem Ungehorsam das Unrechtsmerkmal des Eid- und Treubruchs (oben: § 178) aufzuprägen. Aber mit der Strafmündigkeit stärkten sie wiederum die Rechtspersönlichkeit und Freiheit der Untertanen. Daß die Grundherren von ihnen ein Treugelübde oder eine Huldigung verlangten, bezeugen uns zwar erst die Quellen des Spätmittelalters, es darf aber auch für das 9. und 10. Jahrhundert bereits vermutet werden. Hofrechtsverbände waren seither herrschaftliche Genossenschaften.
§§ 377 – 378. Zusammenfassung § 377. So, wie es oben (§§ 294, 332) bereits hinsichtlich der Grafschaft und des Landes geschah, ist nun auch, soweit die Grundherrschaft in Rede steht, die Ansicht zurückzuweisen, die Bauern, und das bedeutet: die Gesamtheit des arbeiten-
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den Volkes, seien im hohen Mittelalter von der politischen Willensbildung ausgeschlossen gewesen und lediglich als Objekte oder Instrumente adliger Machtpolitik und Herrschaftsbildung in Erscheinung getreten. Diese Ansicht wird dadurch widerlegt, daß Bauern und Bürger im Verlaufe des Mittelalters als Einzelne ihren Herren eine neue persönliche Freiheit abgewannen und als Genossen der Herrschaft die Zügel des dinggenossenschaftlichen Prinzips und des Kommunalismus anzulegen verstanden. Gewiß versuchten und vermochten Herren und herrschaftliche Amtleute immer wieder, eigene Interessen einseitig und mit Gewalt gegenüber den Hofverbänden durchzusetzen, aber dies führte so häufig zum Widerstande und zur Abwanderung der Bauern, daß auf deren gewaltsamer Unterdrückung die sogenannte Grundherrschaft nicht errichtet worden sein kann (H. Vollrath 1982 S. 68). Viel eher dürfte sie darauf beruht haben, daß auch die Bauern ihrer bedurften und daher ihre gewöhnlichen Kosten zu tragen bereit waren. So geht aus dem Bericht des Chronisten über die Rodung des Herrn von Kastl und seiner familia (oben: § 291) deutlich hervor, daß der Herr dieser dominatio nach außen hin und gegenüber der Grafschaft als Allodialeigentümer auftrat und daß sich ohne dieses Auftreten die Bauern ihrer Nutzungsrechte an dem Bifang nicht hätten sicher sein können; hernach aber war es allein Sache der familia, daran sich der Allodial- und Schutzherr nicht weiter beteiligte, den Bifang zu eines jeden Genossen Verfügung zu erweitern. Die Bauern brauchten den Herrn als landrechtlichen Halter ihrer Gemeinschafts- und Individualrechte. Wie es der Bischof zu Handen seines Untertanenverbandes oder Landes tat (oben: §§ 231, 306, 328), so erwarb der sogenannte Grundherr zu Handen seiner familia Rechte und Befugnisse, die dem Verbande ebenso zugutekamen wie ihm selbst, und der Vorgang der Erwerbung läßt keinen Schluß darauf zu, ob die Initiative dazu von dem Herrn ausging, wie der äußere Anschein es stets will, oder ob sie bei den Landes- oder Hofgenossenschaften lag, die die von dem Herrn gehaltenen Rechte letzten Endes ausnutzten und allein über die dafür nötige Sachkunde (oben: §§ 238, 249) verfügten. Die überragende Bedeutung, die wir, alles in allem genommen, der Ausbildung von Hofrechtsgemeinden und der Einrichtung von Hofgerichten für die Verfassungsgeschichte des Ostfränkisch-Deutschen Reiches zuschreiben müssen, dürfte die Herleitung dieser dominatio aus germanischer Hausherrschaft ausschließen (oben: § 349) und statt dessen voraussetzen, daß sie von ihrem Ursprunge im Römischen Reiche und Vulgarrechte her eine öffentliche Institution war und dies durch alle Metamorphosen hin, die sie im Fränkischen Reiche durchlaufen hat, stets geblieben ist. In dem Willen, sich als öffentliche Einrichtung im germanischen Staate zu behaupten, ist der Grund dafür zu suchen, daß sich ihre Untertanen seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts mit Willen der Herren als Verbandspersonen und Depositare des Hofrechts konstituieren konnten. § 378. Hierfür bedienten sich geistliche und weltliche Herren des Vorbildes, das ihnen die Königs- und Reichskirchengüter mit der in Neustrien ausgebildeten Vil-
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likationsverfassung (oben: § 354) darboten. Gemeinsame Rechtsverhältnisse verbanden nun die Hausgenossen mit Kolonen auf herrschaftlichem Lande und freien Hofbesitzern unter herrschaftlichem Schutze zu einer Rechtsgemeinschaft, deren Genossen in vielfältigen Beziehungen zu den Grafschaften standen und deren Zentrum die Urteilsweisung im Hofgericht oder Hofding bildete. Bereits Max Weber hat daher von ihrer Verfassung als „dinggenossenschaftlicher Form der Justiz“ gesprochen und darin eine Besonderheit der deutschen Rechtsgeschichte gesehen: „Es ist klar, daß dies eine Garantie autonomer Rechtsbildung und zugleich körperschaftlicher und genossenschaftlicher Organisation darstellte, wie sie stärker nicht gefunden werden konnte“ (M. Weber 1921 / 72 S. 438. J. Weitzel 1985 S. 71 – 89, besonders 75. Oben: §§ 172, 202, 307). Wir erkennen darin eine Folge aus der Übernahme der Gerichtsverfassung und Verfahrensordnung der Grafengerichte, die sich um so eher einstellen mußte, je mehr Landgerichtsleute sich als freie Hintersassen unter den Schutz der Herren stellten oder gar auf ihren Gütern ansiedelten. Gewiß auch mit Rücksicht auf diese Leute konnten die Herren nur Freie oder Neufreie zu Ortsvögten und Haltern ihrer Hofgerichte berufen, da nach zwar nicht allgemeiner, aber doch vorherrschender germanischer Rechtsauffassung jegliche Gerichtsbarkeit nur von Standesgleichen ausgeübt werden konnte (H. Aubin 1920 S. 294 f.). Gegenüber dieser landrechtlichen Tradition hat es nichts zu sagen, daß die Herren auch jene an sich gerichtsfremden Befugnisse, die ihnen als Hausherren über Sklaven und Unfreie zustanden, jetzt bequemlichkeitshalber ebenfalls von den Hofgerichten wahrnehmen ließen (ebd. S. 96 f.) und damit den vormals rechtlosen Hörigen die volle Rechtsgemeinschaft mit den freien Hintersassen gewährten. Das Haus mit seinen unfreien Insassen war nicht Ursprung der Hofgerichtsgemeinde, sondern ist in ihr aufgegangen, nachdem sie von den aus alter Feiheit gekommenen oder zu neuer Freiheit emporsteigenden Hofgenossen errichtet worden war. Nur wenn man eine solche Herkunft der Hofrechtsverbände in Rechnung stellt, ist es verständlich, daß diese schon im 9. Jahrhundert jene Anziehungskraft auf grafschaftliche Dinggenossen auszuüben begannen, die die Ausbildung von Bannbezirken (oben: §§ 364 – 367) zur Folge hatte, und daß in den mit statistischer Vollständigkeit hieraufhin untersuchten Territorien am Niederrhein wohl die Hälfte aller am Ende des Mittelalters vorhandenen Landgerichte aus ehemaligen Hofgerichten hervorgegangen ist, die sich vollends auf die Stufe von Grafengerichten erhoben haben (H. Aubin 1920 S. 196). Dies ist zu berücksichtigen, wenn man feststellt, die Hofdingsgenossenschaften seien so stetig herangewachsen, daß schon im 11. Jahrhundert vermutlich mehr als neun Zehntel der Bevölkerung Deutschlands hofhörig geworden und sowohl räumlich als auch wirtschaftlich und herrschaftlich in einen Salhofbezirk eingeordnet waren (H. Dannenbauer 1941 / 56 S. 109 – 112, 122 f. K. Bosl 1975 S. 411. K. Schulz in LMA 4 Sp. 254 – 256). Der hofhörige Bauer dieser Zeit war längst kein Sklave seines Herrn mehr, sondern neufreier und voll rechtsfähiger Schutzbefohlener oder Untertan einer öffentlichen Vogtei.
11. Kap.: Hofrechtsverbände
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Der erst im 18. Jahrhundert geprägte Begriff der Grundherrschaft führt uns eben sehr in die Irre, wenn wir uns darunter eine auf das Bodenmonopol und damit auf eine Frühform von Kapital und Ausbeutung der Arbeitskraft errichtete Herrschaft vorstellen und diese in eine tausend Jahre zurückliegende Vergangenheit verpflanzen. Was sich über die Anschauungen ermitteln läßt, die man sich im frühen Mittelalter von dieser Herrschaft machte, spricht nicht dafür, daß man sie sich als eine Beziehung zwischen rechtsungleichen Klassen der Bevölkerung dachte, die nur durch physische Gewalt habe errichtet und erhalten werden können. Nicht solche Gewalt, sondern bewährte Autorität bestimmte das Verhalten der Bauern und Hofrechtsgenossen ihren Herren gegenüber so, wie sie einst auch das Verhalten der römischen Bürger zu ihren Magistraten bestimmt hatte. Dem Historiker ist es aufgegeben, diese Begriffe auseinanderzuhalten, und nicht sie miteinander zu verwechseln oder einander gleichzusetzen, wie es im Sprachgebrauch des 20. Jahrhunderts üblich geworden ist.
Zweiter Teil
Der Staat Zwölftes Kapitel
Über den Staatsaufbau von unten her §§ 379 – 382. Überblick und Anfänge § 379. Gegenstand der Darstellung waren bisher die Gerichts- und Ortsgemeinden: Nachbarschaften, Dinggemeinden, Hofgerichtsverbände, Grafschaften und Länder, die sich in älteren Zeiten durchweg als herrschaftliche Genossenschaften konstituierten, hernach aber in dem Maße, wie sie dem Herrn gegenübertraten und zu selbständiger Willens- und Rechtsbildung gelangten, als freie Einungen jene eigenen Wege betraten, auf denen sie zum Kommunalismus des späten Mittelalters fortschritten. Diese Gemeinden nun sahen sich bei der Erhebung und Annehmung ihrer Herren bereits vielfach über sich hinaus auf die höhere Einheit des Fürstentums und Königreichs hingewiesen, die daran mitzuwirken hatte. So erscheinen sie in einem weiteren Rahmen und zusammen mit mancherlei Hausgemeinschaften zugleich als Partikularverbände oder Bestandteile umfassenderer Untertanenverbände, als deren höchster der des Gesamtreiches den allen gemeinsamen König über sich erhob. Die Gemeinden bildeten also gewissermaßen die Bausteine, aus denen sich das auf dem Reichsuntertanenverbande errichtete Staatsgebäude zusammensetzte, und da sie keine autarken Monaden sein konnten, sondern durch mannigfache Bande des Verkehrs mit ihresgleichen verknüpft und ebensosehr zu höherer Gemeinschaft wie zu gegenseitiger Abgrenzung angehalten wurden, gaben sie dem Staate mit den Aufgaben, die er erfüllen sollte, auch den Bauplan vor, den die Staatsmänner einhalten mußten, welche das Bauwerk aufführten und die Gemeinden zum Reichsuntertanenverbande zusammenfügten. Denn bereits vom Ursprunge her oblagen den Gemeinden staatliche Aufgaben, da sie nach innen und außen hin Frieden und Recht bewahrten und jede für sich einen Gemeinwillen formten. Daher war eine Fülle von partikularen Gemeinwillen übereinszutragen, wenn die Gemeinden einen Staat bilden sollten oder wollten. Dieses Übereinstragen war die Aufgabe der Herren, Fürsten und Könige, von deren staatsmännischem Einsehen und Geschick die Geschichte des Ostfränkisch-Deutschen Reiches abhing, dessen Verfassung zu beschreiben wir uns jetzt vornehmen.
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2. Teil: Der Staat
Was aber haben wir unter dem Staate dieser Zeit zu verstehen? Wir hatten zu dieser Frage bereits erklärt, daß wir als einer Verfassung fähige Staaten diejenigen menschlichen Verbände ansehen, die sich eine hoheitliche Vollmacht über die Eigenmacht der Individuen und Hausgemeinschaften zu erwerben und diese im Gerichte auszuüben vermochten, um streitende Verbandsgenossen und damit auch die Gesamtheit zu befrieden (oben: § 72). Nicht bereits hierfür, sondern erst für die kriegerische Auseinandersetzung mit Nachbarn und Feinden bedurften solche Verbände eines Oberhauptes oder Fürsten, um sich äußeren Friedens und ruhigen Besitzes oder auch einer Erweiterung des eigenen Lebensraumes zu versichern. Wie die Formen des Gerichtes, so entsprangen die der Hauptmannschaft dem politischen Willen des Volkes, sich eine Verfassung zu geben, sei es die einer freien oder einer herrschaftlichen Einung, eines monarchischen oder kollegial-annuitären Oberhauptes (oben: § 270). Haupt sein oder herrschen aber konnte nur, wer seinen Willen mit dem des Volkes zu identifizieren verstand, denn alle Herrschaftsmacht beruhte auf dem Beistande und Gehorsam, den die Verbandsgenossen entweder einander gegenseitig oder gemeinsam (samt und sonders) ihrem Herrn gelobten. Jegliche Form des Staates gründete sich auf dieses Gelöbnis und den darin enthaltenen Herrschaftsvertrag, den das als Untertanenverband geeinte Volk und sein Oberhaupt bei jeder Annehmung oder Ermächtigung desselben erneuerten (oben: § 272). § 380. Der Staat war also nicht auf Gewalttat und Raub, nicht auf Herrschaft sei es einer siegreichen Klasse der Bevölkerung über eine unterworfene und unterjochte, sei es eines von Gott gesetzten Monarchen über an sich recht- und eigentumslose Leute (O. Hintze 1929 S. 239 – 305), gegründet, sondern auf den gemeinsamen Willen aller Hausväter, ihm beizustehen und untertänig und gehorsam zu sein im Rahmen und nach Maßgabe bestimmter, von ihnen gesetzter Zwecke und Bedingungen. Unter dem mittelalterlichen Staate wäre demnach die Gemeinschaft aller derer zu verstehen, die an der Festsetzung jener Bedingungen und damit an der Bildung eines auf gemeinsames staatliches Handeln gerichteten Willens nach den Regeln des Identitätssystems (oben: Erstes Kapitel) aktiv oder passiv teilnahmen, die den gemeinsam von den Sprechern der partikularen Verbände und zugleich von der Reichsgemeinde erhobenen Fürsten oder König als ihren Fürsten oder ihren König anzuerkennen willens, und die bereit waren, bei dessen Annehmung die jedem Genossen in einer herrschaftlichen Einung obliegende Beistandsund Gehorsamspflicht ebenso auf sich zu nehmen wie die Folgepflicht gegenüber dem Gemeinwillen, den der Fürst oder König formgerecht feststellen ließ. Die Existenz des mittelalterlichen Staates beruhte also genauso wie die des modernen, freiheitlich-demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates auf dem ständig erneuerten, ständig neu zu bekräftigenden Gemeinwillen derer, die ihm angehörten. Gemäß dieser (in Deutschland zuerst 1928 von Rudolf Smend begründeten) Vorstellung erfassen wir „den Staat als einen realen Willensverband, als die sich immerfort wiederholende Vereinheitlichung der Einzelwillen zum Gemeinwillen“ (ebd. S. 234).
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Wie man in der alten Kirche ganz von selbst zu der Regel gelangt war, daß das bischöfliche Glaubenszeugnis, wenn es streitig wurde, nur von mehreren Bischöfen geprüft und daß Entscheidungen partikularer Bischofsversammlungen nur von größeren Synoden berichtigt, folglich letzte, unfehlbare Entscheidungen nur von einer universalen Synode getroffen werden konnten, so verstanden sich die Staatsmänner des Mittelalters ganz von selbst in der Überzeugung, daß Entscheidungen über das Gemeinwohl zwar auch und zunächst von den Teilverbänden zu treffen waren, daß aber, wenn sie dort oder zwischen solchen Verbänden streitig wurden, die gemeinsame Willensbildung auf den nächsthöheren fürstlichen Verband, und so in letzter und unanfechtbarer Instanz auf den Reichsuntertanenverband überging, als dessen Sprecher der König sie erfragte und verkündete. Das Spiegelbild des damit dem Staate vorgegebenen Aufbaus von unten her tritt in der Rangordnung der Verbandshäupter als den Gemeinwillen sanktionierender und vollziehender Gewalten in Erscheinung. „Es zieht sich durch das deutsche Rechtsleben der Grundsatz, daß die niedere Gewalt nur die abwesende höhere vertritt, daß sie den Platz zu räumen hat, wenn diese selbst anwesend ist; wie der Herzog jederzeit an die Stelle des Grafen treten kann, so der König an die des Herzogs; ist er selbst im Lande, so liegen auch die herzoglichen Rechte in seiner Hand“ (J. Ficker 1861a S. 64). Wenn der König auf diese Weise zugleich in jedem Teilreiche Herzog, er und der Herzog in jeder Grafschaft Graf, er, der Herzog und der Graf in jedem Dingbezirk zugleich Zentenar sein konnten, so war dafür gesorgt, daß die Verbandswillen, als die sich der Volkswille stets zuerst artikulierte, nur vorläufig und vorübergehend, nicht aber grundsätzlich zueinander in Widerspruch treten konnten, ohne daß ein Grundsatz über Volkssouveränität ausgesprochen zu werden brauchte. § 381. Als realer, von ihren Bürgern gebildeter Willensverband läßt sich bereits die altrömische Republik beschreiben, deren Volksversammlung die Gesetze beschloß und die Magistrate bevollmächtigte, welchen sich jeder Bürger zu unterwerfen hatte (oben: §§ 3 – 6). Aber auf Reichsebene fand diese Republik keinen Nachfolger, da die römische Politik nicht darauf ausgegangen war, aus den mit Rom assoziierten Gemeindestaaten einen Bundesstaat zu machen, dessen Glieder hätten Worthalter in eine Bundesversammlung entsenden können. Römische Kaiser verfügten daher nur über das aus der prätorischen Jurisdiktion entwickelte Mittel des Reskriptsprozesses, um ihren gesetzgeberischen Willen mit dem der Untertanen in Einklang zu bringen (unten: § 784), ein Mittel, das zwar ausgereicht hat, um den vielbewunderten Bau eines universalen, von allen partikularen und nationalen Besonderheiten gereinigten Zivilrechts aufzuführen, das aber alle anderen Gebiete des staatlichen Lebens einer kaiserlichen Willkür überließ, die aller Informationen entbehrte, deren es bedurft hätte, um die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen ihrer Entscheidungen im voraus abzuschätzen und im nachhinein zu kontrollieren (E. Pitz 2001a S. 64). Die von den Kaisern beanspruchte legibus solutio bedeutete also etwas anderes als später in der Neuzeit, da sie den Kaiser nicht von
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der Bindung an Volksrechte und Volksgesetze befreite, die es nicht mehr gab, sondern nur von der an seine eigenen Präjudizien. Erst als Kaiser Honorius im Jahre 414 die Westgoten als Bundesgenossen annehmen und ihrer Gesamtheit die Ansiedlung in Gallien, dann aber vier Jahre später auch den sieben südgallischen Provinzen gestatten mußte, einen gemeinsamen Landtag über sich zu erheben, gab es wieder verfaßte, politisch handlungsfähige Völker in Gestalt partikularer Untertanenverbände, die zu selbständiger Willensbildung berechtigt und imstande waren und den Kaiser dazu nötigten, mit ihnen Herrschaftsverträge einzugehen (ebd. S. 159 f. J. A. O. Larsen 1966 S. 148, 152 f.). Zweifellos waren es germanische Staats- und Rechtsbegriffe, die sich darin äußerten und einer heraufkommenden neuen Staatsform die Möglichkeit gewährten, sich öffentlich, nämlich mit Willen des Volkes, Gesetze zu geben. Aber diese Möglichkeit, die Staatsmacht auf einen rechts- und willensfähigen Untertanenverband zu begründen, kam nicht mehr dem römischen Imperium, sondern nur erst den Königreichen zugute, die nun germanische Heere und Völker auf Reichsboden und außerhalb desselben errichteten, unter ihnen namentlich auch dem Frankenreiche. Kraft militärischer Eroberung entstanden, stellten diese Reiche zunächst und namentlich für die unterworfenen romanischen Völker Staatsgründungen von oben her dar, in denen römische Institutionen stark zur Geltung kamen, während sich Willensbildung von unten her und Teilnahme an der Regierung auf den germanischen Heeres- und Untertanenverband beschränkten, der die Romanen beherrschte. Aber je mehr sich der politische und konfessionelle Gegensatz zwischen jenem und diesen verflüchtigte, während beide Gruppen in einheitlichen Ortsgemeinden aufgingen und zu einem einzigen Untertanenverbande verschmolzen, desto häufiger beteiligten sich auch romanische Bischöfe und Staatsmänner an dem Staatsaufbau von unten her, der das europäische Mittelalter prägen sollte. Auf dem System identischer Willensbildung beruhend, machte diese Staatsform alles Regierungshandeln von der Ermächtigung durch den Untertanenverband abhängig, indem sie es an den Konsens eines mehrfach partikulierten und gestuften Volkes fesselte. An öffentlichen Einrichtungen übernahm dieser Staat von seinem römischen Vorgänger lediglich Fragmente des Reskriptsprozesses, aus denen er sein Privilegienwesen entwickelte, die Verfassung seiner Bischofskirchen und die Lokalbehörden der Possessoren, die er zur sogenannten Grundherrschaft fortbildete. § 382. Die Verfassung des Ostfränkisch-Deutschen Reiches war freilich nicht nur ein Produkt des gemeinen Willens aller derer, die sich diesem Reiche zurechneten, sondern auch ein Erzeugnis historischer Umstände, die sich keinem Schema unterwerfen lassen, gleichwohl aber dem Aufbau des Staates von unten her neue Bahnen anwiesen. Unter ihnen ist insbesondere der Weltbegebenheiten zu gedenken, die seit dem Untergange des römischen Imperiums die geographische Mitte Europas aus der Randlage zum Mittelmeerraume befreit und zum Zentrum eines neuen Staatensystems erhoben, zugleich aber auch die verfassungsgeschichtlichen Traditionen des Römischen Reiches weiter abgeschwächt haben.
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Hierfür waren maßgeblich gewesen im 5. und 6. Jahrhundert die Wanderungen, Landnahmen und Reichsgründungen germanischer Heere und Völker auf dem Boden des Weströmischen Reiches, die den romanisch-germanischen Westen des Mittelmeerraumes von dem römisch-byzantinischen Osten loslösten und von der weit zurückreichenden Spaltung der christlichen Reichskirche in eine griechisch-orthodoxe und eine römisch-katholische Christenheit begleitet wurden. Am Ende des 6. Jahrhunderts war die Landnahme slavischer Völker in Ost- und Südosteuropa hinzugekommen. Sie drang bis über Elbe und Saale hinaus nach Westen vor und trieb auf der Balkanhalbinsel unter dem Schirm der Awaren einen Keil zwischen das romanisch-germanische Europa und das Oströmische Reich. Im 7. Jahrhundert hatten sodann die Araber das Mittelmeer im Süden und Westen umfaßt und es mit Hilfe ihrer Flotten zur Basis muslimischen Druckes auf die Christenheit umgestaltet. Inmitten dieser machtpolitischen Verschiebungen war es vor allem das Frankenreich in seiner Erstreckung von den Pyrenäen bis zur Saale und Enns, das dem katholischen Abendlande die selbständige Existenz sicherte. Die Entvölkerung und Destabilisierung Aquitaniens und der Provence durch die Araber auf der einen, der wirtschaftliche Aufschwung des Nordseeraumes auf der anderen Seite führten dazu, daß sich während des 7. und 8. Jahrhunderts der Schwerpunkt der fränkischen Staats- und Königsmacht von Neustrien, dem einstigen fränkischen Neulande auf römischem Boden, allmählich nach Austrien, dem germanischen Osten an Maas, Rhein und Main, verlagerte, also in die Mitte des Kontinentes, wo die Römer niemals geherrscht hatten. Aber selbst nachdem die Dynastie der Karolinger im Verlaufe des 8. Jahrhunderts das Fränkische Reich auf den Höhepunkt seiner Ausdehnung und Macht geführt hatte, reichte die Konzentration aller kontinentalen Kräfte nicht hin, um das Abendland zu befrieden und die Völkerwanderungen, die es bedrohten, zum Stillstande zu bringen. Weder gelang es, die arabische Seeherrschaft über das Mittelmeer zu brechen, noch war der byzantinische Anspruch auf die Herrschaft über Rom und Italien endgültig abgewehrt; der slavische Druck auf die Ostgrenze des Reiches hielt unvermindert an, verstärkt durch byzantinisches Ausgreifen auf der Balkanhalbinsel, an dessen Stelle schließlich das doppelt gefährliche der Ungarn und ihrer Reiterheere trat, denen die Völker des Ostfränkischen Reiches nichts militärisch Gleichwertiges entgegenzusetzen wußten. Und über die Nordsee fielen seit dem Jahre 834 die Schiffsheere der Normannen und Dänen in das Reich ein, das sich ihnen gegenüber als ebenso wehrlos erwies wie später gegenüber den Ungarn. Es ist anzunehmen, daß es vor allem die Rücksicht auf diese Weltlage gewesen ist, was die Fürsten und Großen des alten austrasischen Reichsteils davon abhielt, nach dem Zerfall des Karolingerreiches die darin aufgegangenen Teilreiche der Franken, Schwaben, Bayern und Sachsen zu selbständigen Königreichen zu erheben, als die sie ihrer Größe, Lage, Abgrenzung und Verfassung nach in einer friedlichen Welt wohl existenzfähig gewesen wären, und sie statt dessen dazu bewog, dreimal nacheinander, nämlich in den Jahren 888, 911 und 919 / 920, einen ge-
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meinsamen König zu erheben, von denen es erst der dritte vermochte, die Befriedung des Kontinentes einzuleiten und eine Monarchie zu begründen, die imstande war, dieses Werk zu vollenden.
§§ 383 – 389. Ostfränkisch-deutsches König- und Kaiserreich § 383. Keine andere Abhandlung scheint mir so vortrefflich in die Probleme einzuführen, die des Historikers an dieser Stelle harren, wie die Vorlesungen, zu deren Gegenstande Julius Ficker im Jahre 1861 mit selten wieder erreichter Eindringlichkeit das staatspolitische Denken des Mittelalters gemacht hat. Denn aus den Quellen erfahren wir darüber so gut wie nichts, da die Geschichtsschreiber jener Zeiten in den Stifts- und Klosterschulen saßen und kaum jemals Gewährsleute erreichten, die an den Beratungen der Könige, Fürsten und Großen teilnehmen und Einblick in die Gedanken der Staatsmänner gewinnen konnten, geschweige denn, daß sie selbst einmal, wie zuvor der Karolinger Nithard oder hernach der Bischof Liutprand von Cremona, zu den Ratmannen und Handelnden gehört hätten. Sooft man im hohen oder späten Mittelalter, so meint Ficker, über den vollkommenen Staat nachdachte, sei die Idee eines christlichen Universalreiches als Bollwerks gegenüber Byzantinern und Muslimen am bestimmtesten ausgesprochen worden; unter den politisch Denkenden sei diese Theorie viel allgemeiner als die richtige anerkannt gewesen, als das von irgendeiner politischen Theorie späterer Zeiten behauptet werden könne, wogegen die Idee eines Nationalstaates germanischer Stämme niemandem in den Sinn gekommen sei (J. Ficker 1861a S. 35 – 39). So sei denn auch das Karolingerreich nicht wegen Strebens der von ihm beherrschten Völker nach nationaler Sonderung zerfallen (ebd. S. 40 – 47), sondern weil es in seiner Verfassung der Selbständigkeit der romanischen und germanischen Stämme nicht gebührend Rechnung getragen habe, obwohl diese seit langem durch die Ausbildung eigener Volksrechte als politische Verbände in Erscheinung getreten waren. (Um allen Vorstellungen von Abstammungsgemeinschaften zuvorzukommen, werde ich die von Ficker noch ohne Bedenken verwandte Vokabel „Stämme“ hinfort durch die Begriffe Regna, Teilreiche oder Teilreichsvölker ersetzen.) Mit der Beseitigung der Herzöge in diesen Regna hätten nämlich die Karolinger das Problem der „selbständigen Beteiligung am Staate von unten herauf“ und des richtigen Verhältnisses zwischen der Zentralgewalt und den Teilvölkern nicht zu lösen vermocht, „für welche eine freiere Bewegung in der jedem eigentümlichen Richtung vor allem Bedürfnis war“ (ebd. S. 47 – 52). So sei es zur Bildung des Ostfränkisch-deutschen Reiches gekommen als einer Vereinigung mehrerer Regna, die zwar hinter einem alle Christen umfassenden Universalreiche weit zurückblieb, gleichwohl aber sich als dauerhaft erwies, weil sie die Tendenz, die Teilreiche zu sondern, mit der Tendenz zu verbinden verstand, diese zu einen. Zur Lösung dieses Problems habe nicht die Idee nationaler Zusam-
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mengehörigkeit jener Teilreiche den Antrieb gegeben, die noch von niemandem erdacht worden sei und jener Zeit so ferne lag, daß sich die Teilreichsvölker noch nicht einmal mit einem Nationalnamen bezeichneten, unter dem sie sich als eine Einheit hätten erfassen können (ebd. S. 53 – 57). Für die Vereinigung eben jener vier Regna, denen sich später noch Lothringen anschloß, hätten vielmehr die gemeinsame Bedrohung durch Normannen, Slawen und Magyaren, die Tradition der von dem älteren Könige Ludwig begründeten politischen Einheit und das Interesse der Bischofskirchen, keine politische Teilung der Metropolitanprovinzen innerhalb dieser Einheit zuzulassen, den Ausschlag gegeben (ebd. S. 57 – 61). Der Ausgleich zwischen Herzogtum und Reich, zwischen Teil- und Zentralgewalt, wofür die „freie Bewegung des Einzelnen“ die Regel bot, sei die Schöpfung König Heinrichs I. gewesen. Mit einem Ficker noch nicht vertrauten Ausdrucke könnte man sagen, dieser Herrscher habe die Staatsräson begründet, die, von den Karolingern noch verfehlt, von da an die Politik des Reiches bestimmte. Von unten her habe er den Staat aufgebaut und ihm an Rechten nur das zugewiesen, worauf die Teile verzichteten. Um „genügende Kraft des Ganzen mit möglichst freier Bewegung der einzelnen Glieder zu vereinigen,“ seien die Herzoge nicht vom Könige, sondern vom Teilreichsvolke gesetzt, der König aber zugleich als Herzog in jedem Teilreiche angenommen worden. Die trotzdem unvermeidlichen Kämpfe zwischen Königtum und Bischöfen als Trägern der Einheitstendenz auf der einen und den Herzögen auf der anderen Seite hätten ihren Ausgleich erst mit der fortschreitenden, im Jahre 1180 abgeschlossenen Zerlegung der Herzogtümer in Länder gefunden (ebd. S. 61 – 67). § 384. Diese Reichsordnung sei leicht über die vier Regna hinaus um weitere Regna zu erweitern gewesen, die entweder, wie Böhmen, ihr eingegliedert oder, wie Italien und Burgund, in Personalunion mit ihr verbunden werden konnten. Denn die Staatsmänner bewahrten die Idee des christlichen Universalreiches, weil noch immer kein allgemeiner Friede mit den äußeren Feinden des Abendlandes eingekehrt war. Namentlich der Verlust Italiens an Byzantiner oder Sarazenen hätte als tödliche Bedrohung Europas empfunden und wegen der Uneinigkeit der Italiener befürchtet werden müssen. Die Notwendigkeit, Italien zu beherrschen, habe dann die Herrschaft auch über Burgund erfordert, um Frankreich vom Ausgreifen über die Alpen fernzuhalten (J. Ficker 1861a S. 67 – 78). Aus dieser Erwägung leitete Ficker die Staatsräson des im Jahre 962 errichteten und zweiundsiebzig Jahre später mit der Erweiterung um Burgund vollendeten Kaiserreiches ab. Nicht aus zielloser Eroberungssucht, sondern um sehr realer politischer Bedürfnisse willen und im Interesse des ganzen Abendlandes sei das Kaisertum geschaffen worden. Trotz seiner weiten Ausdehnung nämlich sei das Reich in seiner geschlossenen Lage für die vereinten nordalpinen Teilreichsvölker beherrschbar gewesen, ohne sie zu überfordern; da es jedem Angreifer überlegen war und alle anderen Staaten Europas auseinanderhielt, seien im Abendlande, solange es bestand, nur lokale Kriege möglich gewesen, zumal es selbst wegen der Lok-
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kerheit seiner inneren Fügung eine vorzugsweise beharrende, zum Angriff auf andere ungeeignete Macht darstellte, hinreichend, um das Abendland zu beschützen, ohne nationale Sonderentwicklungen zu beeinträchtigen, da es den Zentralismus des Karolingerreiches nicht erneuert habe (ebd. S. 78 – 85). Drei Jahrhunderte lang beharrte das Kaiserreich in seinem Bestande, ohne die erreichten Grenzen zu überschreiten, weil dem zur deutschen Nation heranwachsenden Reichsvolke der Wille fehlte, von der einmal für richtig erkannten Politik abzuweichen. Gewiß gab es Kaiser, die aus ihrem Titel die Befugnis oder gar Pflicht herleiteten, diese Grenzen zu überschreiten und ein Weltreich aufzurichten, aber kein Kaiser konnte über die gewaltigen Machtmittel des Reiches nach Belieben verfügen, weil „ohne den guten Willen der Nation, deren kriegerische Kraft das Kaiserreich zusammenhielt, dem Streben des Herrschers der Boden fehlte und . . . dieser bestimmende Wille einer schrankenlosen Ausdehnung des Reiches durchaus abgeneigt war.“ Nur von dem Gefühle, meint Ficker, sei die Nation durchdrungen gewesen, daß „die Behauptung Italiens und der Kaiserkrone Aufgaben seien, welchen sie sich im eigenen wie im allgemeinen Interesse nicht entziehen dürfe.“ Um dies zu erkennen, genüge es, „auf einen Umstand hinzuweisen. Der deutsche Herrscher konnte nicht nach Belieben die Reichsvasallen zur Heerfahrt aufbieten; er konnte es nur dann, wenn diese von den auf einem Reichstage versammelten Fürsten gebilligt war. Schon das würde uns zu der Frage berechtigen, wie war es demgegenüber möglich, wieder und wieder die Blüte der deutschen Jugend über die Alpen zu führen, wenn die Nation diesen Zügen abgeneigt war? Aber lauter noch als die Regel spricht hier die Ausnahme. Es gab eine Heerfahrt, für welche der Herrscher keiner Zustimmung bedurfte. Das war die Romfahrt; ihre Notwendigkeit stand von vornherein fest; um nach Rom zur Kaiserkrönung zu ziehen, konnte dem neugewählten König die Heeresfolge gar nicht verweigert werden, jeder Reichsvasall war bei Strafe des Verlustes seiner Lehen dazu verpflichtet, jeder Fürst konnte wieder von seinen Vasallen die Folge fordern; wir stoßen hier auf ein System von rechtlichen Verpflichtungen, welches sich fortverzweigte bis in die untersten Kreise des Rechtslebens der Nation; in Dienstrechten und Hofrechten finden wir genau bestimmt, wie jeder einzelne, auch wenn er selbst nicht mitzieht, den Zug zu unterstützen hat durch Lieferung von Geld, von Naturalien, von Ausrüstungsgegenständen, durch Dienstleistungen der verschiedensten Art.“ Ein solches System feststehender Bestimmungen, welches die Pflicht vom Ehrgeiz dieses oder jenes Herrschers ganz unabhängig machte, würde sich niemals haben ausbilden können, wenn nicht die ganze Nation, der gesamte Reichsuntertanenverband, die Romfahrt „als eine dauernde Nationalsache betrachtet hätte“ (ebd. S. 87 f.). § 385. Als eigentlichen Daseinszweck, so fährt Ficker fort, betrachtete die Nation eben nicht die Befriedigung blinder Eroberungslust, sondern den Schutz ihrer selbst, ihrer „Achtung vor jeder berechtigten Eigentümlichkeit“, jedem „Streben
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nach freier Bewegung in engeren Kreisen . . . Der Willkür des Herrschers stellte sie ihre Kräfte nicht zur Verfügung; der engste Kreis, in welchem der Deutsche sich bewegte, galt ihm auch als derjenige, welchem er vorzugsweise seine Kräfte zu widmen habe; hier in gesunden, ihm entsprechenden Verhältnissen zu leben stand ihm höher als der kriegerische Ruhm, als der Schimmer der Weltherrschaft; nur wo unabweisliche Gesamtzwecke das erheischten, wo alle Teile das gemeinsame Interesse anerkannten, war es möglich, die gewaltigen Kräfte des Ganzen zusammenzufassen“ (J. Ficker 1861a S. 89). So habe denn auch erst die Überdehnung der Kaisermacht durch die Anbindung Siziliens an das Kaiserreich (seit 1189) das Gleichgewicht innerhalb der überkommenen Reichsordnung untergraben; der Zerfall des Kaisertums aber habe den im Reichsvolke immer vorhanden gewesenen Trieb übermächtig werden lassen, die politische Tätigkeit engeren Kreisen zuzuwenden und zu diesem Zwecke die umfassenden staatlichen Bande möglichst zu lockern, „die freiere Bewegung im Innern durch eine Schmälerung der Widerstandskraft nach außen“ zu erkaufen; allein der langsam zerbröckelnde Bau des Kaiserreiches habe noch die Territorialisierung des Untertanenverbandes ermöglicht, indem er sie nach außen hin abschirmte, um schließlich durch seinen völligen Wegfall auch sie selbst und ihr Ergebnis zu gefährden (ebd. S. 123 – 127). Nirgendwo finde ich die verfassungsbildenden Triebkräfte deutscher Politik und Geschichte so zutreffend dargestellt wie in diesen nunmehr hundertvierzig Jahre alten Vorlesungen. Nachdem das zentralistisch verfaßte – und insoweit noch kräftig von spätrömischer imperialer Tradition berührte – Karolingerreich an der Aufgabe gescheitert war, das Abendland vor seinen äußeren Feinden zu schützen, fanden die ostfränkisch-deutschen Könige aus sächsischem und salischem Hause eine Ordnung, innerhalb deren sich die Kräfte der vier ostfränkischen Regna zusammenfassen ließen, um die gemeinsamen Grenzen gegen Normannen, Dänen, Slawen und Ungarn zu sichern und um mit der Herrschaft über Italien sowohl der arabischen Seemacht als auch der byzantinischen Landmacht die Erneuerung eines für die Sicherheit des Abendlandes gefährlichen mediterranen Großreiches zu verwehren. Ihr Reich war kein Staat von Fürsten oder Eroberern, keine Schöpfung zügelloser Herrschsucht, sondern ein defensives Gebilde, errichtet von verbündeten Teilreichsvölkern, die erst in dem Maße zu einer Nation zu verschmelzen begannen, wie diese am Anfange einmal, nämlich in den Königserhebungen von 888, 911 und 919, für notwendig erkannte Politik in der Lebenszeit mehrerer Generationen die erhofften Früchte zeitigte. Namentlich in dem gemeinsamen Willen, Italien zu beherrschen und ihrem Oberhaupte die Kaiserkrone zu sichern, den sie jedesmal von neuem bekräftigte, wenn sie in einen vom Könige für notwendig erachteten Italienzug einwilligte, kommt diese Einsicht in die politischen Notwendigkeiten des Zeitalters zum Ausdruck. Was zuerst den kaiserlichen Untertanenverband konstituierte und hernach daraus die deutsche Nation hervorgehen ließ, das war der gemeinsame, übereinsgetragene politische Wille der Teilreichsvölker und der Gemeinden, daraus diese bestanden.
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§ 386. Die in sich wiederum in Grafschaften und Länder partikulierten Teilreichsvölker aber betrachteten das Reich nicht als einen Selbstzweck, der als solcher ihrer Ausdehnung niemals hätte ein Ziel setzen können. Es fehlte ihnen der Wille, das Abendland zu erobern. Was sie erstrebten, war der Schutz jener engsten Kreise der Grafschaften, Bannbezirke und Hofrechtsgemeinden, in denen die Menschen ihr Leben führten und an deren Wohlfahrt sie daher vorzugsweise ihre Kräfte und ihre politische Tätigkeit setzten. Es waren diese Kreise, in denen jeder Hausherr, welchen die Besitzverhältnisse dazu abkömmlich machten, sich selber als frei erkannte, weil er hier an den Gerichts- und Gemeindeversammlungen teilnehmen, in deren Öffentlichkeit seine Meinung und seine Interessen vertreten und je nach Begabung passiv oder aktiv an der Bildung des Gemeinwillens mitwirken konnte. Und wie sich das System rechtlicher Verpflichtungen, dem sich der Reichsuntertanenverband aus freiem Willen unterwarf, um seine Herrschaft über Italien zu sichern, bis in diese engsten und untersten Kreise des volklichen Rechtslebens hinab verzweigte, so wird es nicht nur die Hofrechtsverbände, deren geistlichen Herren viel an seiner schriftlichen Fixierung gelegen war, sondern auch die Dinggemeinden der Grafschaften und Länder erfaßt haben, deren Rechte freilich in so früher Zeit noch niemand aufzeichnete. In diese engsten Kreise des öffentlichen Lebens verlegten die Reichsvölker jener Zeit ihre ganze Kraft, denn hier herrschte, was man heute als direkte Demokratie zu bezeichnen pflegt und was jedem Manne, der nicht als Dienstbote oder unbehauster Knecht leben mußte, sondern als Hausherr zu den Ding- und Gemeindegenossen zählte, seine althergebrachte oder gradatim neuerworbene Freiheit (oben: § 148) sicherte. In diesen Teilverbänden ist daher die Quelle allen politischen Willens jener Zeit zu erkennen. Sie waren es, die von unten her den Staat aufbauten, weil sie selbst von dessen Räson durchdrungen waren, und sie taten es, indem sie durch ihre versammelten Worthalter nicht nur die Herzöge der Teilreiche, sondern auch den König der Gesamtheit über sich erhoben. Durch seine Sprecher beteiligte sich das Volk von unten her am Aufbau des Staates in der Absicht, von den Zentralgewalten des Herzogs und des Königs nicht nur Schutz vor den äußeren Feinden des Abendlandes, sondern auch jede mögliche Bewegungsfreiheit für ihre lokalen oder regionalen, auch ständischen (oben: § 163) Interessen zu verlangen. Das Reich hatte nichts von ihnen zu fordern, was sie ihm nicht auftragen wollten, weil sie es aus eigener Freiheit und Verantwortung zu regulieren vermochten. Es war daher unabwendbar, daß, nachdem die geeinten Reichsvölker bis zum Jahre 955 die Ungarngefahr und bis 1033 die slawisch-polnische Gefahr bezwungen und zudem die italienischen Seestädte im Verlaufe des 11. Jahrhunderts Muslimen und Byzantinern die Seeherrschaft über das Mittelmeer entrissen hatten, dem Kaiserreiche nur noch die Aufgabe übrigblieb, im Reiche den Landfrieden, die königliche Gerichtsbarkeit (oben: §§ 323a.b) und die Rechtseinheit zu erhalten. Als Kaiser Friedrich II. die Nation, die das alte Interesse an der Herrschaft über Italien verloren hatte, wider ihren Willen und mit verfassungsfremden Rechtsmitteln (oben: §§ 256 – 258) dazu anhielt, sie zu verteidigen, gingen dem Reiche alsbald
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auch Friedenswahrung und Gerichtsbarkeit an die Landesherren verloren. Die engeren und engsten Lebenskreise des Volkes bedurften des Königtums nur noch als Quelle ihrer Besitztitel und insofern, als das Reichshofgericht ihnen zur Schlichtung ihrer Interessenkonflikte nach für alle gültigen Rechten hilfreich sein konnte (H. Thomas 1983 S. 244 – 266) – bis im 15. Jahrhundert in Gestalt der Hussiten und Osmanen wieder äußere Feinde die geschichtliche Bühne betraten und der längst empfundenen Notwendigkeit, das Reich zu reformieren, endlich zu bescheidenen Erfolgen verhalfen. § 387. Es ist leicht zu erkennen, daß das System identischer Willensbildung sehr genau an die Staatsräson des Reiches und an den Aufbau der Reichsverfassung von unten, von den engsten Lebenskreisen grafschaftlicher und hofrechtlicher Dinggemeinden her, angepaßt war. Denn in diesen Kreisen hatte die politische Freiheit, hatten freie Einung und freie Willensbildung (oben: §§ 217, 218, 229) und jener Kommunalismus (oben: §§ 235, 236, 272) ihren Sitz, die von der modernen politischen Theorie als Merkmale direkter Demokratie angesehen werden. Der auf und von diesen Verbänden errichtete Staat aber trat in Erscheinung, wenn sich die Verbandshäupter jener engsten Kreise – Gerichtsherren als Worthalter herrschaftlicher und Sendeboten der Häupter freier kommunaler Genossenschaften oder Einungen – zu einem Landtage versammelten, um den Gemeinwillen einer Grafschaft, eines Landes oder Teilreichs übereinszutragen oder einen Grafen, Landesherrn oder Herzog als gemeinsames Haupt über sich zu erheben, oder wenn sie unter Führung ihrer Landesherren und Herzöge zur Reichsversammlung zusammenkamen, um den König zu erheben und den Gemeinwillen des Reiches festzustellen und auszuführen. Es mag nützlich sein, an dieser Stelle die Grundsätze des Systems identischer Willensbildung (oben: Erstes Kapitel) noch einmal insoweit zu rekapitulieren, als es hilfreich ist, um ihre Kongruenz mit der von unten her aufgebauten Reichsverfassung darzutun. 1. Wie jeder Partikularverband bei der Erhebung oder Annehmung seines oder seiner Häupter mit diesen einen Herrschaftsvertrag einging (W. Reinhard 1999 S. 217), so erteilte er ihnen, wenn sie als seine Worthalter auf Landes-, Hofoder Reichstagen auftreten wollten, lediglich gebundene oder imperative Mandate derart, daß sie nur solange vollmächtig waren, um in seinem Namen zu sprechen, wie sie ihren eigenen mit dem Verbandswillen identisch wußten. 2. Um sich die letzte Entscheidung darüber vorzubehalten, ob das Handeln ihrer Worthalter sie gegenüber dem Lande oder Regnum verbindlich machte, erlegten die Verbände ihren Sprechern die Referenzpflicht auf. Danach waren die Häupter ihnen gegenüber verpflichtet und dem Land-, Hof- oder Reichstage gegenüber berechtigt, alle Sachen hinter sich oder an ihre Verbände heimzubringen, in denen ihnen der Verbandswille nicht deutlich bekannt war und ihnen daher die Vollmacht abging, ihn zu vertreten (ebd. S. 220). 3. Wie die Gemeinden in ihren Beschlüssen der Einhelligkeit des gemeinen Willens bedurften, weil nur der Genosse, der weder Einspruch erhob noch es wagte,
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der Versammlung fernzubleiben oder sie vorzeitig zu verlassen, durch den Beschluß gebunden wurde, so nötigten sie den Landes-, Hof- und Reichstagen den Grundsatz der Einstimmigkeit auf. Zwei Umstände allerdings verhinderten, daß damit die gemeine Willensbildung ganz in das freie Belieben oder unter das Liberum veto eines jeden Genossen und Partikularverbandes gestellt war: Einmal bedurfte es keiner Zählung der Stimmen, um die Einhelligkeit festzustellen, sondern lediglich des Verstummens allen Widerspruchs: Qui tacet consentire videtur, und zweitens gab es eine Folgepflicht der Minderheiten gegenüber der entschlossenen Mehrheit und damit ein Verbot, der Versammlung ohne deren Urlaub fernzubleiben (ebd. S. 221 f.) Diese drei Grundsätze identischer Willensbildung bestimmten, daß in dem von unten her aufgeführten Staatsgebäude ein gemeiner Wille nur dann zustandekommen konnte, wenn das Einverständnis der engsten, die Basis des Ganzen bildenden Lebenskreise zu dem Willen der zur Tagfahrt versammelten Häupter, Großen und Fürsten wirklich gegeben war. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Verfahrensordnung vor allem auf den Schutz der Partikularinteressen und Sonderrechte, der freien Bewegung also der engeren Lebens- und Rechtskreise, ausgerichtet war, wogegen sie jeder von oben, von Königen, Herzögen und Fürsten angeregten Willensbildung erhebliche Schwierigkeiten entgegenstellte und jedes spontane, willkürliche, persönlicher Herrschsucht entspringende Regierungshandeln unterband. Bedenkt man, welches Ausmaß an freier Bewegung der Reichsuntertanenverband den Königen aus sächsischem und salischem Hause einzuräumen bereit gewesen ist, so sieht man, wie groß damals die äußere Not war, die das Ostfränkische Reich bedrängte und keinen seiner Partikularverbände verschonte. Schon König Heinrich IV., vollends dann den Nachfolgern Kaiser Heinrichs VI. war das Reich nicht mehr bereit, solche Vollmacht zuzugestehen. § 388. Während die Verfassung die Partikularinteressen nachhaltig schützte, war es seither um das Interesse der Gesamtheit schlecht bestellt, denn außer dem Könige und der Reichsregierung war niemand da, der es hätte erkennen und aus solcher Einsicht heraus mit politischen Mitteln verfolgen können. Die vereinigten Partikularverbände, wie sie sich auf den Reichsversammlungen darstellten, waren für sich allein nicht imstande, aktiv gemäß der Staatsräson Reichspolitik zu betreiben, ausgenommen den Fall des Interregnums, wenn es ihre Aufgabe – allerdings auch ihre einzige Aufgabe – war, aus eigenem Antrieb einen neuen König zu erheben oder anzunehmen und mit dem Kandidaten den (später zur Wahlkapitulation, E. Pitz 1987 S. 543 f., fortgebildeten) Herrschaftsvertrag auszuhandeln. Ebenso passiv verhielten sich die Landstände. Die Wahrung des Teilstaatsinteresses ganz dem Fürsten überlassend, in der Hoffnung, daß dieser die Kosten allein aus den seiner Kammer zugewiesenen Gütern bestreiten werde, ohne ihnen mit Steuerforderungen zur Last zu fallen, verzichteten sie auf das Recht, sich aus eigener Initiative oder doch wenigstens periodisch zu versammeln, sondern überließen es dem Fürsten zu entscheiden, wann und wie oft er es für richtig hielt, sich ihres Einverständ-
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nisses mit seiner Regierung zu versichern, oder ob er gar losgelöst von ihrem Willen als absoluter Herr regieren wollte. Könige, Fürsten, „Monarchen vermögen Initiative zu entwickeln, Stände können fast nur reagieren“ oder Widerstand leisten (W. Reinhard 1999 S. 218, 222 f.). Fragt man sich, wie das von der deutschen Verfassungsgeschichte abzulesende Vertrauen des Volkes und seiner Häupter in die politische Brauchbarkeit des Systems identischer Willensbildung zu erklären ist, da es doch aller Lebenserfahrung widerspricht, daß eine große Zahl von Menschen jemals einer Meinung und eines Willens sein könnte, so wäre daran zu erinnern, daß sich das Staatsziel noch ganz auf die eine Aufgabe der Friedenswahrung nach innen und außen beschränkte und daß namentlich noch niemand von der Politik die Lösung sozialer Fragen erwartete. Wenn Gott Armut zuließ und Freiheit lediglich den wohlhabenden Hausherren gewährte, so war es Sache der Kirche, den Menschen den Sinn dieser Ordnung zu erklären, nicht aber Sache des Staates, sie aus der Not zu befreien und auch eigentumslosen Menschen freie Teilhabe an der öffentlichen Willensbildung zu verschaffen. Die lat. Rechtssprache des Mittelalters gibt uns als Normalzustand des homo oder Menschen die Unfreiheit der Knechte und Vasallen und die Unterwerfung unter einen Herrn zu erkennen, wogegen der Ausnahmezustand der Freiheit besonderer Prädikate wie liber, civis oder miles bedurfte, um sichtbar zu werden. Der Staat tat, was er sollte, wenn seine Rechtsordnung das Freiheit gewährende Eigentum vor Feinden und Räubern beschützte. Bei allgemeiner Übereinstimmung in dieser grundlegenden Frage war es gewiß zulässig zu erwarten, daß sich die Freien auch über die vom Staatszweck erforderten politischen Mittel stets würden einigen können, wenn nur verständige Männer lange genug darüber berieten und aller verständige Meinungen zu einem einzigen Willen übereinstrugen. Dieser Erwartung kam zugute, daß den mittelalterlichen Verkehrsformen noch die Fähigkeit abging, eine öffentliche Meinung hervorzubringen, deren Einmütigkeit aus Massenhysterie und demagogischer Manipulation entspringt und die daher als ein Tyrann hätte betrachtet werden können, dessen leidenschaftlicher Wankelmut alle individuelle Vernunft zu ersticken drohte. Erst vor dem Hintergrunde einer solchen politischen Erfahrung hat man später bemerken können, daß Menschen, solange sie sich ihres Verstandes in Freiheit und ohne Überhitzung der Gemüter bedienen, unvermeidlicherweise in jeder einzelnen Frage verschiedener Meinung sein müssen, da alle Vernunft fehlbar ist, mit der Folge, daß gemeinsame und öffentliche Willensbildung nur im Austausch der Meinungen und Ausgleich der Interessen unter freien Staatsbürgern möglich ist und daß alle Freiheit vergehen würde, wenn plötzlich alle wie durch ein Wunder der gleichen Meinung und eines einzigen politischen Willens wären (H. Arendt 1963 S. 118 f., 289 – 291). § 389. Dem mittelalterlichen Staats- und Rechtsdenken lagen derartige Ansichten noch ganz ferne. Wie uns der Sprachgebrauch vom Übereinstragen aller besonderen Willen und von der Eintracht als dessen Resultat verrät, galt der den Menschen sehr wohlbekannte Streit der Meinungen als etwas Vorläufiges und Unvoll-
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kommenes und bei Unversöhnlichkeit der Beteiligten als Unrecht, als Unwille oder Zwietracht, an der jedes Gemeinwesen zugrundegehen mußte, wenn es nicht in vernünftiger Unterhandlung zwischen einsichtigen Männern gelang, die Parteien zu Einhelligkeit und Eintracht zu bewegen und damit alles Parteiwesen aufzuheben (E, Pitz 2001 S. 226). Daß die Freiheit des Einzelnen und des Gemeinwesens gerade umgekehrt auf dauernde Zwietracht, institutionalisiertes Parteiwesen und den Partialwillen vergänglicher Mehrheiten zu begründen sei, diesen Gedanken hätte man zu jenen Zeiten für ebenso weltfremd und unbrauchbar halten müssen, wie uns heute das System identischer Willensbildung anmutet. Der Abwesenheit sozialer Fragen und tyrannischer öffentlicher Meinungen entsprach als positive Eigenschaft des öffentlichen Lebens, welche die Schwerfälligkeit einhelliger und als über alle Partikularverbände hinweg identisch gedachter Willensbildung auszugleichen, ja sogar aufzuheben vermochte, die allgemeine Anerkennung von Vorrang und Autorität. Nicht nur herrschaftliche, sondern auch freie Genossenschaften und Einungen pflegten den Häuptern und Worthaltern, die sie in die Versammlungen höherer und umfassenderer Verbände entsandten, außer der Vollmacht, bei gegebener Identität der Meinungen und Willen in ihrem Namen zu sprechen, zu stimmen und zu wollen, auch Autorität beizulegen. Auch Autorität verpflichtete zum Gehorsam, obwohl sie nicht auf erteilter Vollmacht beruhte, sondern auf dem Vertrauen, das man in die überlegene Urteilskraft von Männern zu setzen pflegt, die rechtliche und politische Fragen erfahrungsgemäß richtig zu beurteilen vermögen oder die auf Grund ihrer Abstammung und Ausbildung dieses Vermögen erwarten lassen (oben: § 276a). Solche Autorität mußte es den Volksversammlungen der engeren und engsten Kreise gestatten, auch solche Willenserklärungen ihrer Häupter gutzuheißen und sich als notwendig zu eigen zu machen, die diese auf den Tagfahrten der weiteren Kreise und schließlich des Reiches als des umfassendsten Verbandes über die ihnen mitgegebenen Vollmachten hinaus abgegeben hatten und hatten abgeben müssen. Hätten die Gemeinden ihre Schöffen, Grafen, Fürsten, Bischöfe und Könige nicht mit solcher Autorität bekleidet, die diese sich freilich immer wieder neu erwerben mußten, so hätte sich in der Tat das System identischer Willensbildung jenem Übermaße an Schwerfälligkeit nicht entziehen können, das es gleich manchen anderen weltfremden Idealen an seiner tatsächlichen Unbrauchbarkeit hätte scheitern und den Staat, dessen Verfassung ihm angemessen war, zugrundegehen lassen.
§§ 390 – 393. Auftritt des modernen Staates § 390. Gleichwohl hörte das Identitätssystem in dem Maße auf, praktikabel zu sein, wie die Erwartungen stiegen, welche die Untertanenverbände in die Fähigkeit der Regierungen setzten, aktiv das Interesse der weitesten Allgemeinheit sowohl nach innen wie nach außen zur Geltung zu bringen. So löste die Übermacht des
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Allgemeinen im Verlaufe des 13. Jahrhunderts eine weitere Verwandlung des Staatsaufbaus von unten her aus, als die Geburtsstunde eines moderneren politischen Lebens und einer neuen, von oben, von der Staatsspitze her gedachten und auf sie hin ausgerichteten Staatsform schlug, die heute noch die Verfassung der europäischen Staaten bestimmt (O. Hintze 1908 S. 276 – 284. W. Näf 1951). Unter den Umständen, die den Wandel herbeiführten, steht die seit dem 10. Jahrhundert erstrebte und endlich erreichte Befriedung des Kontinentes voran, weil sie es den Völkern, die das Kaiserreich bis ins 12. Jahrhundert hinein auseinandergehalten hatte, ermöglichte, untereinander in enge kommerzielle und politische Beziehungen zu treten. In den ersten internationalen Bündnissen des Reiches mit Venedig und Byzanz auf der einen, Siziliens mit Frankreich und Ungarn auf der anderen Seite, die sich im Jahre 1149 gegenüberstanden, in dem englisch-französischen Gegensatz, der 1154 aufgebrochen war und sich im Jahre 1214 mit dem deutschen Thronstreit verquickte, und in der seit 1265 spielenden englischfranzösischen Rivalität in Sizilien kündigte sich die Entstehung des europäischen Staatensystems an, das seit 1494 die europäische Politik beherrschte und die Neuzeit des Kontinents in markanter Weise vom Mittelalter unterscheidet. Hinzu kamen seit dem 13. Jahrhundert rasch wachsende staatliche Anstrengungen, um den inneren Frieden zu bewahren und die Mittel aufzubringen, deren die Regierungen bedurften, um ihre neuen Aufgaben zu erfüllen. Als König Edward I. von England zu der Überzeugung kam, Britannien sei nur dann zu befrieden, wenn England sich Wales und Schottland untertänig machte, erzwang er von den zum Parlament versammelten Gemeinden die Bereitschaft, den Vorteilen des Systems identischer Willensbildung zu entsagen und um gesamtstaatlicher Handlungsfähigkeit willen die Lasten des Repräsentativsystems auf sich zu nehmen (oben: §§ 29, 274). Denn dieses System setzte nicht nur die drei oben (§ 387) genannten Grundsätze außer Kraft, sondern verlangte von den Gemeinden auch die Anerkennung der entgegengesetzten Pflichten. Statt der gebundenen Vollmacht, die sie ihren Worthaltern und Sendeboten mitzugeben pflegten, mußten sie jetzt ihren Abgeordneten eine unbeschränkte Vollmacht erteilen, mit der sie im voraus alles, was diese im Parlamente gutheißen würden, als für sich verbindlich anerkannten, auch wenn es dem partikularen Gemeinwillen widersprach. Damit verzichteten sie auf das Referenzrecht, das früher ihren Sendeboten zugestanden hatte. Außerdem mußten sie dem Anspruch entsagen, nur einhellig mit allen anderen Abgeordneten verbindlich beschließen zu können, und statt dessen dem Willen der Mehrheit folgen. Schon im 18. Jahrhundert wurde behauptet, daß „Beauftragte, deren Vertretungsgewalt durch imperative Mandate und Abberufungsrecht nach innen und außen begrenzt und an die Zustimmung der Vertretenen gebunden“ war, in Wahrheit Beamte der entsendenden Gemeinde gewesen wären, wogegen der freie, an keine Instruktion gebundene Repräsentant auf Grund seines Gewähltseins „insoweit: der von den Wählern gekorene Herr derselben, nicht: ihr ,Diener‘“ sei (M. Weber
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1921 / 72 S. 172. H. Arendt 1963 S. 302 – 306, 399). Wenn auch von Rechts wegen aus freiem Willen, so doch politisch nicht aus eigenem Antriebe, sondern der necessitas, der Not der Zeit (oben: §§ 330, 376) und dem Verlangen der Regierung gehorchend, vollzogen die englischen Commons und die Ständeversammlungen in Frankreich, Aragon und anderswo diesen schwerwiegenden Schritt, weil sie sich der Einsicht nicht verschließen konnten, daß die Regierung ein allgemeineres Interesse vertrat als sie. „Die Sprengung des imperativen Mandats ist sehr stark durch die Stellungnahme der Fürsten bedingt gewesen. Die französischen Könige verlangten für die Delegierten zu den Etats généraux bei Ausschreibung der Wahlen regelmäßig die Freiheit: für die Vorlagen des Königs votieren zu können, da das imperative Mandat sonst alles obstruiert hätte. Im englischen Parlament führte die . . . Art der Zusammensetzung und Geschäftsführung zum gleichen Resultat“ (M. Weber 1921 / 72 S. 173. Oben: § 247). § 391. Es ist zwar nicht notwendig, wohl aber empfehlenswert, einen Blick auf diese weit über das Mittelalter hinausführende Entwicklung zu werfen, weil erst jetzt, seit sich der Staatsaufbau von unten her und die ihm eingeborene identische Willensbildung gegenüber neuen Erfordernissen des politischen Lebens verteidigen mußten, die Quellen reichlicher zu fließen beginnen und auch die Wissenschaft den Vorgängen ihre Aufmerksamkeit schenkte, ohne allerdings die mittelalterliche, vom Volke abgewandte Blickrichtung auf den Herrscher grundsätzlich zu verlassen. Ein halbes Jahrtausend lang währte der Streit zwischen den beiden Systemen, bis sich die Europäer endlich allgemein davon überzeugten, daß die Bedürfnisse des umfassenden Reichsverbandes, die der moderne, von oben her regierte Staat zu vertreten hatte, den Vorrang vor denen der engeren und engsten Kreise, der Länder und Gemeinden, und ihren partikularen Sonderheiten verdienten und daß aus diesem Grunde der Übergang vom Identitäts- zum Repräsentativsystem notwendig sei. Noch im Verlaufe des Spätmittelalters schied sich über dieser Entwicklung der westeuropäische Geschichtsraum, dessen frühnationale Staaten sich vom Kaiserreich und vom Papsttum lösten und den Übergang zum Repräsentativsystem vorantrieben, von der Mitte des Kontinents, wo man am Kaiserrecht und Kirchenrecht und an den Regeln identischer Willensbildung festhielt. Daß allerdings auch hier die Regierungen erstarkten und die Verwaltung des Territorialstaates von oben her der dingvölkisch-gemeindlichen Selbstverwaltung zuvorzukommen begann, ist daran zu erkennen, daß in der deutschen Sprache das Wort Obrigkeit in Umlauf kam. Es bezeichnete die Hoheit der Fürsten und Landesherren und der Zentralbehörden, von denen die neue, vom Volkswillen sich lösende Verwaltung ausging. Nach einem ersten Vorkommen zum Jahre 1296, einem weiteren im 14. und einem dritten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam der neue Begriff seit 1460 rasch allgemein in Gebrauch, und zwar in der Juristensprache alsbald auch mit Anwendung auf die Stadträte, deren ganze Macht doch nach Volksrecht auf dem einträchtigen Beistande der Stadtbewohner beruhte (RWB 10 Sp. 215 – 227. E. Pitz 2001 S. 230 f.)
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Gegenüber der wachsenden Macht des Fürstenstaates empfingen im 16. Jahrhundert Kommunalismus und völkischer Wille zum Aufbau des Gemeinwesens von unten her noch einmal neuen Schwung durch die Reformationen des Glaubens und der Kirchen. Allerdings war es nicht der deutsche Reformator Luther, sondern der Nordfranzose Johannes Calvin, der die erneuerte Kirche auf das Gemeindeprinzip begründete. An jedem Orte, wo sich Christen samt und sonders als Eidgenossen (auf dieses Wort geht vermutlich die französische Bezeichnung Hugenotten zurück) zu einer reformierten Kirchengemeinde vereinigten, schufen sie damit einerseits im Glauben ein corpus mysticum als Abbild des alttestamentlichen Gottesvolkes, andererseits im Leben einen Verband, der ein Presbyterium, bestehend aus Pastoren und Laienältesten, über sich erhob und durch dieses seine Angelegenheiten selbst verwaltete (E. Pitz 1987 S. 139 – 143). Mehr als tausend Gemeinden hatten sich auf diese Weise in Frankreich bereits konstituiert, als deren Sendeboten im Jahre 1559 zu Paris zur Nationalsynode zusammenkamen, um das Glaubensbekenntnis festzulegen und ihrer Kirche die Verfassung eines Gemeindebundes zu geben. Weitere Nationalsynoden konstituierten sich 1559 in Schottland und 1561 in den Niederlanden. In Deutschland mußten sich die Reformierten dagegen mit städtischen und territorialen Synoden begnügen (seit 1562). Namentlich die Niederlande und die Schweiz schlossen sich damals in ihren Lebensformen eng an den westeuropäischen Geschichtsraum an. Unübersehbar ist die Analogie dieser Kirchenverfassung zu dem Staatsaufbau von unten her und dessen identischer Willensbildung. Sie stützt „die Vermutung, die Reformatoren“ seien „in ihren theologischen Interpretationen auch von der hoch aufgipfelnden Welle der Kommunalisierung im Spätmittelalter getragen worden,“ die freilich den lutherischen Nordosten Deutschlands nicht mehr erreicht hat. Denn wie sich der Laie durch das Sakrament des Bürgereides mit seinesgleichen zur Stadtgemeinde, so verband sich der Christ mit den Glaubensgenossen durch das Sakrament des Abendmahls zur Kirchengemeinde. Die „Prägekraft des Kommunalismus“ dürfte demnach die Form der Kirchenverfassung stärker bestimmt haben als alle Theologie. Nicht der heilige Geist Gottes, sondern der kommunale Geist der Menschen „wäre verantwortlich für die Ekklesiologie im besonderen und für die gesellschaftliche Durchsetzung der Reformation im allgemeinen“ (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 307 – 313. O. Hintze 1906 S. 58 – 61). § 392. Nachdem schon der Fehlschlag des Bauernkrieges im Jahre 1525 und der Augsburger Religionsfrieden von 1555 dem deutschen Kommunalismus schwere Niederlagen bereitet hatten, erschöpften sich die Volkskräfte Frankreichs und Deutschlands fast vollständig im Zeitalter der Religionskriege. Fast überall überließen Gemeinden und Landstände tatenlos den öffentlichen Raum dem Fürstenstaate und seiner Regierung von oben her. Solcher Untätigkeit des Volkes hatte das System der identischen Willensbildung bereits insofern den Weg gebahnt, als die Einhelligkeit des Gemeinwillens, die es in allen Teilen und auf allen Stufen des Staatsaufbaus erforderte, seit jeher nur dadurch hatte hergestellt werden können, daß die Mehrheit der Menschen, der zu jeder Zeit ausgesprochen politisches Den-
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ken und Wollen fernlag und -liegt, stillschweigend hinzunehmen pflegte, was eine aktive Minderheit von Meinungsführern und Worthaltern in ihrem Kreise an politischen Zielen zu formulieren und zu verfolgen verstand. Solches Hinnehmen hatte man stets um der Einmütigkeit aller willen als Zustimmung gewertet. Schon in den Bürgerrezessen des Spätmittelalters hatten sich die Gemeinden dazu verpflichtet, ihren Rat vollmächtig im Ratsstuhle sitzen zu lassen, und damit ihre Unfähigkeit erwiesen, die Ermächtigung des Rates als ein aktives Tun des Volkes sichtbar zu machen. Nun taten sie sich schwer, um der Illusion zu wehren, als ob der Rat ihre Obrigkeit sei (E. Pitz 2001 S. 112, 215, 220 f.). Niemals freilich hat das stillschweigende Volk sein Recht der Selbstbestimmung ausdrücklich aufgegeben oder es an die Obrigkeiten, seien es Räte oder Landesherren, abgetreten. Nur das vermochten sich die Fürsten an Vollmacht und Hoheit anzueignen, was das Volk ihnen unter der Bedingung überließ, daß sie davon zum allgemeinen Nutzen Gebrauch machten. Insofern trug der Absolutismus immer etwas Illusionäres an sich. Hätte das Volk ihn nicht stillschweigend zum Regieren ermächtigt, so wäre der absolute Monarch nichts weiter als ein Usurpator gewesen, so sehr seine Parteigänger auch immer versuchen mochten, mit ihren Theorien vom Gottesgnadentum, von der Souveränität und vom Patrimonialstaate die fortdauernde Abhängigkeit vom Konsens des Volkes zu verschleiern und den Verlust an Autorität zu ersetzen, den Humanismus, Glaubensspaltung und Säkularisierung den Regierungen zugefügt hatten. Niemand besaß in Frankreich noch Macht, nachdem König Ludwig XIV. mit der Zustimmung des Volkes zur königlichen Regierung auch seine Vollmacht zu herrschen eingebüßt hatte; nur durch physische Gewalt erhielt die Bürokratie den Anschein des Staates solange aufrecht, bis das Volk im Jahre 1789 seinen Willen wieder ausdrücklich selbst erklärte und die Ohnmacht der Krone offenbar machte. So ist letzten Endes auch der europäische Absolutismus des 17. bis 19. Jahrhunderts eine Spielart des von unter her erbauten und auf identische Willensbildung gegründeten Staates, auch wenn die Monarchen glaubten, das mühsame Übereinstragen aller Sonderwillen zu einem Gemeinwillen durch königliche Dekrete ersetzen zu können. Erst die Gewohnheit der Gemeinden und Landschaften, sich von der Reichs- und Staatspolitik zurückzuziehen auf den unpolitischen Boden kleinstaatlichen Stillebens im engeren und engsten Kreise, hat den Absolutismus der Fürsten möglich gemacht, die sich allein der gesamtstaatlichen Aufgaben annahmen und von oben her die widerstrebenden Stände und Gemeinden in deren Dienst zwangen. Nur in England verteidigte das Parlament den Staatsaufbau von unten her. Seine Mehrheitspartei verwandelte das königliche Staatsministerium in eben der Zeit zur Fessel und zum Ersatz der persönlichen Regierung des Monarchen, als auf dem Kontinent die Monarchen mit Hilfe der Staatsministerien die ständischlandschaftlichen Behörden entmachteten (O. Hintze 1908 S. 304 – 309). Gleichwohl drängte der absolute Fürstenstaat die Stände nur vorübergehend zurück, ohne sie zu vernichten, und so lebten sie wieder auf, sobald jener seine Auf-
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gabe erfüllt hatte. „Der Gegensatz zwischen fürstlicher Herrschaft und volksmäßiger Gemeinschaft ist grundsätzlich scharf, aber er wird geschichtlich niemals durch die dominierende Monarchie einerseits, die wenigen fortexistierenden Republiken anderseits dargestellt; die Monarchie trägt ihn vielmehr in sich selbst. Denn niemals und in keinem abendländischen Staate bedeutete das Fürstenrecht schlechterdings alles; niemals ist das Gegenprinzip des Volksrechtes und Landesrechtes untergegangen, mochte es auch zeitweilig in einzelnen Staaten fast völlig unsichtbar und unwirksam werden“ (W. Näf 1959 Bd. 1 S. 432), weil das Volk darauf verzichtete, seine unveräußerlichen Rechte auch auszuüben. § 393. Die beiden wichtigsten Republiken, die sich im Zeitalter des Absolutismus den ererbten Staatsaufbau nebst Willensbildung von unten her bewahrten, waren die Schweizer Eidgenossenschaft und die Vereinigten Niederlande. Die erstere, bestehend aus Teilverbänden wie den Vierwaldstätten und dem Großen alten Bunde oberdeutscher Lande oder Graubünden, die sich ihrerseits aus einzelnen oder partikular verbündeten Gemeinden zusammensetzten, hatte sich noch im Mittelalter jeglicher Landesherrschaft entzogen und im 15. Jahrhundert als Bundesbehörde die jährlichen Tagfahrten geschaffen, auf denen die Sendeboten der Orte unter Vorsitz von Zürich einstimmige Beschlüsse faßten, die jedoch erst dann und nur dort Rechtskraft erlangten, wenn und wo sie von den einzelnen Orten ratifiziert wurden. Die Bundesverträge, auf denen das Staatswesen beruhte, hatten die Souveränität oder letzte Entscheidung den einzelnen vertragschließenden Gemeinden überlassen und legten deren Deputierten, wenn sie als „Boten gemeiner Eidgenossen“ zur Tagsatzung erschienen, lediglich beschränkte Vollmachten bei. Die Boten waren an die Instruktionen gebunden, die ihnen ihre Gemeinden erteilt hatten (U. Im Hof in LMA 3 Sp. 1699 f. R. Mitsch in LMA 8 Sp. 432. E. Pitz 2001 S. 438. T. Münger 2001 S. 6 – 10, 36 – 40). Nach den gleichen Regeln konstituierte sich am 23. Januar 1579 zu Utrecht die Union der sieben nördlichen Provinzen der Niederlande. Sie beruhte auf der Identität einerseits der einzelnen Provinzialstände, die sich dort verbündeten, mit den Land- und Stadtgemeinden, deren Sendeboten in den Ständeversammlungen saßen, und andererseits der Generalstände mit der Gesamtheit der Provinzen und der Republik, zu der sie sich verbanden. Es war die Not, welche die spanische Herrschaft über die Niederlande gebracht hatte, was die Einmütigkeit aller Städte und Gemeinden bewirkte. Solche Eintracht ermächtigte die Generalstände dazu, unter Berufung auf das Volksrecht am 26. Juli 1581 die staatliche Selbständigkeit der Vereinigten Niederlande zu erklären: Kraft Widerstandsrechtes, das dem Volke gegen einen ungerechten Herrscher zukäme, entzogen sie ihrem Könige Philipp II. die königlichen Rechte, nachdem er sich gegen Recht und Gewohnheit der Lande verfehlt hätte. Die Untertanen seien von Gott nicht für den Fürsten geschaffen und um ihm als Sklaven zu dienen, sondern der Fürst sei um der Untertanen willen da, um sie nach ihren alten Freiheiten, Privilegien und Gewohnheiten und nach Billigkeit zu regieren. Täte er dies nicht, so dürften sie ihm „nach Recht und Billigkeit durch Beschluß der Landesstände den Gehorsam aufkündigen, ihn verlassen und jemand
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anderen an seiner Statt zu ihrem Oberhaupte wählen“ (E. Pitz 1987 S. 335, 2001 S. 439). Es handelte sich da um eine Verlassung des Fürsten von der Art, wie sie, seit sich die Großen im November 887 von Kaiser Karl III. abgewandt und Herzog Arnulf von Kärnten zum Könige erhoben hatten, im Ostfränkisch-deutschen Reiche und in dessen Ländern und Gemeinden immer wieder vorgekommen war. Das Recht der Untertanenverbände, ihren Herrn zu verlassen, war bereits in dem Rechte enthalten, ihn zu küren und unter Bedingungen zum Haupte anzunehmen, die man schließlich als Herrschaftsverträge oder Wahlkapitulationen ausdrücklich zu formulieren gelernt hatte. Das glanzvollste Beispiel hierfür bilden die vierzehn Artikel, die die Städte von Brabant seit 1356 jedem neuen Herzoge vorlegten und die „aus dem Geiste der Volkssouveränität die Ausübung der herzoglichen Macht strengen Regeln“ unterwarfen (P. Avonds in LMA 5 Sp. 642). Es entsprach alter germanischer, seit jeher den Völkern des Abendlandes vertrauter Staats- und Rechtsauffassung, daß weder Erbrecht noch kaiserliche Belehnung noch kirchlicher Segen dem Fürsten die Vollmacht zum Regieren verlieh, so unentbehrlich dies alles zu rechtem Erwerb eines Fürstentums auch sein mochte, sondern daß ihm diese Vollmacht allein aus der Annehmung durch den Untertanenverband zu erwachsen vermochte. Betrachtet man den Aufstand der Niederlande und ihrer Verbündeten gegen das iugum Romano-Hispanicum, so kann man von einer calvinistischen Staatsräson und Weltpolitik und von Staatsmännern, die sie ins Werk setzten, sprechen (O. Hintze 1931 S. 283 – 310). Sowohl die niederländische als auch die schweizerische Republik waren einer Machtentfaltung fähig, die es ihnen gestattete, im Jahre 1648 die Oberhoheit von Kaiser und Reich abzustreifen, und ein halbes Jahrhundert später brachte der Widerstand der Niederlande auch die Hegemonialpolitik König Ludwigs XIV. zum Scheitern. Die Schwerfälligkeit des Systems identischer Willensbildung, das in allen Teilverbänden und auf allen Stufen des föderativen Staatsaufbaus Einhelligkeit der Meinungen erheischte, schloß demnach unter günstigen Umständen, wie sie im 10. und in der ersten Hälfte des 11., erneut dann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schon dem Ostfränkisch-deutschen Reiche zugutegekommen waren, politische Erfolge in großem Stile und ein gedeihliches Wachstum der Staaten, die sich seiner bedienten, keineswegs aus.
§§ 394 – 398. Vereinigte Staaten von Amerika § 394. Zu universalgeschichtlicher Bedeutung gelangte die vom fürstlichen Absolutismus von oben her in die Defensive gedrängte germanisch-mittelalterliche Staatsidee auch in den europäischen Kolonien in Nordamerika, die sich im Jahre 1776 als souveräne Bundesrepublik konstituierten. Die Revolution, in der dies geschah, ging samt der Lehre von der Volkssouveränität, auf die sich die Amerikaner
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dabei beriefen, von den Stadt- und Landgemeinden aus, die Deputierte oder Verordnete mit gebundenem Mandat und beschränkter Vollmacht in eine gegen den Willen der königlichen Regierung zu London föderativ begründete verfassunggebende Versammlung entsandten. Allein den Gemeinden, deren Verbandsmacht sich jeder Siedler unterwerfen mußte, hatte der König Versammlungsrecht und politisches Mandat gesetzlich zugesichert. Ihre Verfassung geht auf den sogenannten Mayflower-Pakt vom Jahre 1620 zurück (H. Arendt 1963 S. 215 – 227. H. Wellenreuther 2000 S. 299 – 303). Die Männer, die sich an Bord der Mayflower zum Aufbruch in eine unbekannte Zukunft vereinigten, die „unter dem Druck ganz außergewöhnlicher Umstände – in Furcht vor der Wildnis eines Kontinents, den noch kein menschlicher Fuß betreten, und vor der unberechenbaren Wildheit des menschlichen Herzens, das kein Gesetz mehr in Schranken hielt – sich selbst als ,bürgerlich-politische Körperschaften‘ konstituiert(en) und wechselseitig an ein Unternehmen verpflichtet(en), das noch keinem Gesetz unterstand“ (H. Arendt 1963 S. 251), – diese Männer befolgten dabei, wie leicht zu erkennen ist, die Regeln des germanisch-mittelalterlichen Einungs- und Genossenschaftsrechtes, die damals noch in dem geistlichen und weltlichen Kommunalismus West- und Mitteleuropas lebendig und ihnen aus eigener Erfahrung vertraut waren, weil sie dort zu jedermanns praktischer und politischer Allgemeinbildung gehörten. Da die Auswanderer zudem imstande waren, ihren Vertrag niederzuschreiben und ihre Einung, statt durch mündlichen Schwur, durch Unterschrift in Kraft zu setzen, steht uns in dem Mayflower Compact ein Erstgründungsdokument zur Verfügung, wie sich in den Annalen des Einungsrechtes meines Wissens kein einziges älteres entdecken läßt (oben: § 15), soviele Erneuerungen oder Zweit- und Drittgründungen älterer Einungen uns auch sonst bekannt sein mögen. Sein Urheber war eine aus der Grafschaft York stammende, um 1608 ins Exil nach Leyden in Holland ausgewanderte Gruppe englischer Separatisten, die um 1617 aus verschiedenen Gründen beschlossen hatten, ihren Sitz nach Amerika zu verlegen, und zu diesem Zwecke im Jahre 1619 ein Patent der London Company of Virginia erwarben, das ihnen erlaubte, dort eine private Pflanzung anzulegen. Verstärkt um mehr als siebzig Personen, die ihnen aus London zuzogen, gingen sie in Plymouth im September 1620 an Bord der Mayflower, die zwei Monate später vor Cape Cod den Anker warf. Etliche Londoner hatten sich während der Überfahrt als unerwünschte Gesellen erwiesen, die sich rühmten, von ihrer eigenen Freiheit Gebrauch machen (d. h. sich selbst ein Patent geben) zu können, da sie nicht der Jurisdiktion der Virginia Company untertan wären. Um diesen Leuten irgendeine Form von Regierung aufzuerlegen, setzten die Führer der Leydener Gruppe am 11. November 1620 noch an Bord des Schiffes den Mayflower Compact auf. Er verdient es, unserer Untersuchung an dieser Stelle im Wortlaut (Doc. Amer. Hist. S. 15 n. 11) inseriert zu werden: In The Name of God, Amen. We, whose names are underwritten, the Loyal Subjects of our dread Sovereign Lord King James, by the Grace of God, of Great Britain, France, and
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Ireland, King, Defender of the Faith, &c. Having undertaken for the Glory of God, and Avancement of the Christian Faith, and the Honour of our King and Country, a Voyage to plant the first colony in the northern Parts of Virginia; Do by these Presents, solemnly and mutually in the Presence of God and one another, covenant and combine ourselves together into a civil Body-Politick, for our better Ordering and Preservation, and Furtherance of the Ends aforesaid; And by Virtue hereof do enact, constitute, and frame, such just and equal Laws, Ordinances, Acts, Constitutions, and Offices, from time to time, as shall be thought most meet and convenient for the general Good of the Colony; unto which we promise all due Submission and Obedience. In Witness whereof we have hereunto subscribed our names at Cape Cod the eleventh of November, in the Reign of our Sovereign Lord King James of England, France, and Ireland, the eighteenth and of Scotland, the fifty-fourth, Anno Domini 1620.
Unter dem Dokument stehen die Namen von einundvierzig Männern, die den Vertrag unterschrieben; neunzehn von ihnen gehörten der an Bord dominierenden Gruppe der Leydener an, sechzehn kamen aus London. Außer ihnen waren vier Diener und zwei Matrosen der Einung beigetreten. § 395. Formal folgten die Verfasser dem Muster des Vertrages, mittels dessen Calvinisten und Puritaner bereits in der Alten Welt ihre Gemeinden zu stiften und deren Presbyterien einzusetzen pflegten; die Gemeinden erwählten danach die Pfarrer und legten der Versammlung der Kirchengenossen alle Autorität bei. Wenn diese Einungen, die das corpus mysticum einer Kirchengemeinde ins Leben riefen, wie wir annehmen (oben: § 391), den Bürgerrezessen nachgebildet waren, durch die sich seit unvordenklichen Zeiten Laien zu den beschworenen Einungen ihrer Land- und Stadtgemeinden zusammenzutun pflegten, so lag es der Leydener Gruppe an Bord der Mayflower nahe, eine weltlich-bürgerliche Gemeinde, ein civile corpus politicum, nach dem Formular der Kirchenkonvention zu errichten, indem sie dieses wieder auf die weltlichen Zwecke umwidmete, die schon dem Urbilde des Bürgerrezesses eigen gewesen waren. Ersichtlich legten die Kontrahenten den größten Wert darauf, ihre Einung gegen den Verdacht rechtswidriger Verschwörung zu sichern. Daher titulierten sie sich nicht nur als treue Untertanen des Königs, der seine Hoheit über die Kolonien durch die Virginia Company ausübte, sondern auch als zur Ausbreitung des Christenglaubens und zu Ehren des Königs tätige Siedlungsunternehmer. Die Treueerklärung, der privatwirtschaftliche Zweck und der Verzicht auf einen Genosseneid bestimmten ihre Einung als von der Art, die bereits nach den Gesetzen Kaiser Karls des Großen im frühen Mittelalter hätte als rechtmäßig angesehen werden müssen (oben: §§ 185, 186). Wenn sie die erstrebte Verbandseinheit und Verbandsperson durch das vorliegende Schriftstück konstituieren wollten, so kann dies nur auf die Unterschrift bezogen werden, die jeder einzelne von ihnen daruntersetzen würde, um dadurch samt und sonders, nämlich jeder einzelne für sich selbst, jedoch zugleich und wechselweise mit und gegenüber allen anderen Teilnehmern, übereinszukommen und sich zu einer weltlichen Bürgergemeinde zusammenzufügen, die ihrerseits ein Glied oder Teilverband innerhalb des umfassenden corpus
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politicum bilden konnte, als dessen Haupt man sich den König dachte (E. H. Kantorowicz 1966 / 1990 S. 221 – 241). Die Übereinkunft oder Einung sollte den Unterzeichneten zu besserer Einrichtung und Erhaltung (in mittelalterlicher Redeweise: zu Schutz und Schirm) jedes einzelnen Genossen und damit zum gemeinen Besten dienen, denn kraft ihrer waren sie imstande und berechtigt, nach zeitlichem Bedarf solche Gesetze, Verordnungen und (befristeten) Ämter zu setzen und zu verrahmen, die ihnen für das Gemeinwohl der Kolonie am besten geeignet zu sein erschienen. Diesen Gesetzen und Behörden gelobten sie alle schuldige Beachtung und Gehorsam. Denn beschützen konnte der Verband nur den, der seinem Willen gehorchte. Es verstand sich von selbst, daß wie die Einung selbst, so auch ihre Satzungen nur einhellig beschlossen werden und niemanden anders als die an der Gesetzgebung beteiligten Genossen verbindlich machen konnte. Aus dem Nichts heraus hatte die Einung eine verfaßte und sich selbst ihre Gesetze gebende Gesellschaft geschaffen, und da die Siedler niemals in die Lage kamen, die königliche Anerkennung ihres Gemeinwillens einzuholen, blieb der Vertrag vom 11. November 1620 die erste und einzige Verfassung, die ihre Kolonie je besaß. Und mehr brauchten auch die Einwanderer nicht, die 1638 den Solemn Compact von Portsmouth, 1639 die Grundgesetze von Connecticut, 1647 die Charters of the Providence Plantations, 1701 die pennsylvanische Charter of Privileges und dann immer mehr derartige Verfassungen in einem Grenzlande nach dem anderen errichteten. Beständig wiederholte sich dabei das Schauspiel, daß sich einfache Bauern unter freiem Himmel oder einem Eichbaume versammelten, um aus einfachen und allen vertrauten moralischen Prinzipien ihre Grundgesetze abzuleiten (H. St. Commager 1977 S. 178 f.), ein Schauspiel, wie es sich auch in Europa im Mittelalter abgespielt haben mag, wenn genossenschaftliche Landnahme nach Bifangrecht zur Gründung neuer Dörfer und Gerichte führte, wovon uns die Urkunden allerdings kaum einmal Nachricht geben. Wohl sehen wir, wie Bauern, Handwerker und Kaufleute im Deutschen Reiche ihre Gemeinden im Wege der Einung erneuerten, wenn sie, was im späten Mittelalter nicht eben selten vorkam, an Unwillen und Zwietracht der Bürger und Genossen zugrundegegangen waren, aber nie war dort der Landes- oder Stadtherr so weit entfernt wie später in Nordamerika, und nie geben uns die Quellen die Erstgründung einer Gemeinde aus dem Nichts heraus, die an ihrem Orte an keinerlei Vorläufer anknüpfte, so deutlich zu erkennen, wie es die Quellen tun, die von der Besiedlung Nordamerikas berichten. Hier erst sehen wir, wie aus aller Welt zusammenströmende Menschen durch Nachbarschaft und gemeinsame Lebensweise zu einem Volke verschmolzen, wie sich dieses Volk ohne Zutun einer Regierung in Land- und Stadtgemeinden verfaßte, um in öffentlicher Versammlung über die eigenen öffentlichen Angelegenheiten zu beraten und zu entscheiden, hier erst sehen wir, wie sich in diesen Versammlungen die Denkungsart des Volkes und sein Geschmack an solcher Freiheit formten, und wie dieses Volk schließlich daranging,
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auf dem Grunde gemeindlicher Willensbildung auch seinen Staat von unten her aufzubauen. § 396. Dieser Staatsaufbau von unten her trat in Erscheinung, sobald sich die Gemeindeversammlungen innerhalb einer jeden der dreizehn Kolonien verbündeten und Verordnete in Kolonialparlamente entsandten. Denn die Wähler pflegten ihre Deputierten mit Instruktionen zu versehen und ihnen Petitionen nachzusenden, um sie im permanenten Dialog mit sich zu erhalten, und so bildeten sie sich, ohne etwas von den Regeln alteuropäischer identischer Willensbildung zu wissen, aber doch ganz in deren Sinne einen deutlich „vom englischen abweichende(n) Repräsentationsbegriff“: Während die Gemeinden des Königreichs längst dazu genötigt waren, ihren Abgeordneten unbeschränkte Vollmachten ins Unterhaus mitzugeben (oben: § 274), betrachteten die Amerikaner ihre Vertreter im Kolonialparlament „zunehmend als Delegierte mit einem enger oder weiter gefaßten imperativen Mandat“ (H. Wellenreuther 2001 S. 499, ferner S. 91 f., 313, 424, 496, 557 f.; Literatur: ebd. S. 499 A. 31, 524 A. 114). Als die Mehrzahl der kolonialen Abgeordnetenhäuser im Jahre 1765 vollmächtige Boten in den sogenannten Stamp Act Congress entsandte, um ein gemeinsames Vorgehen gegen die königliche Regierung in London zu verabreden, erschienen die Boten dort mit sehr unterschiedlichen Legitimationen, da man es nicht klar auszusprechen verstand, ob sie die Abgeordnetenhäuser oder unmittelbar deren Wähler repräsentierten (ebd. S. 583). Als aber im Jahre 1774 zum ersten Male Verordnete oder Deputierte dieser Einzelstaatsparlamente zum Nationalkongreß zusammentraten, beruhte dessen Autorität bereits „überwiegend auf einem direkten Mandat der Kolonisten“ (ebd. S. 587). Wie sehr diese Vorgänge unter dem Einfluß alteuropäischer völkischer Überzeugungen davon standen, wie das Gemeinwesen eingerichtet sein sollte, hat als erster der französische Gemeindetheoretiker Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) bemerkt und beschrieben (P. Blickle 2000 Bd. 2 S. 350 f.). Wir erkennen es auch daran, daß die Gemeinden selbstverständlich ihren Verordneten lediglich gebundene Mandate erteilten, wie es das System identischer und einhelliger Willensbildung erforderte, das den Gemeinden die letzte und souveräne Entscheidung erhalten und das Volk davor bewahren wollte, am Wahltage sein Selbstbestimmungsrecht an die Verordneten abtreten und sich in deren Untertanen verwandeln zu müssen. Um auf diesem mir sehr fernliegenden Gebiete nicht in die Irre zu gehen, will ich noch einmal die Quellen selbst sprechen lassen. Sie zeigen, daß der Nationalkongreß, als er die Verlassung eines für rechtsbrüchig angesehenen Königs und die Lösung der dreizehn vereinigten Staaten aus aller Abhängigkeit von Krone, Regierung und Parlament zu London vorbereitete, darüber einen einhelligen Beschluß der ganzen Nation herbeizuführen wünschte, die sich eben dadurch als alle partikularen Einungen umfassende nationale Einung selbst erschaffen sollte. Diese politische Absicht verfolgend, forderte das Abgeordnetenhaus von Massachusetts am 10. Mai 1776 die in dieser Kolonie gelegenen Städte auf, ihre Einwohner auf ei-
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gens zu diesem Zwecke einzuberufenden Vollversammlungen über die Instruktion für diejenigen Personen beraten zu lassen, die sie zu Repräsentanten in den nächsten Kontinentalkongreß erwählen würden; Gegenstand der Beratungen und der Instruktion sollte die Frage sein, ob sich die Versammelten, falls der Kongreß die vereinigten Kolonien um ihrer Sicherheit willen für vom Königreich Großbritannien unabhängig erklären würde, „formell, ein jeder mit Leib und Gut, dazu verpflichten würden, dem Kongreß in dieser Maßnahme beizustehen, wether they will solemnly engage with their lives and fortunes to support the Congress in the measure“ (Doc. Amer. Hist. S. 96 zu n. 63). Es war also bei weitem kein allgemeines politisches Mandat, sondern im Gegenteil die beschränkteste Vollmacht, die man sich überhaupt denken kann, welche das Volk seinen Worthaltern erteilen sollte, betraf sie doch nur einen einzigen Gegenstand und erlaubte sie dem Deputierten nur auf eine einzige Weise, dazu seine Stimme abzugeben. Die Pflicht der Einladenden, die Sache genau zu bezeichnen, zu der sich die Rechts- und Staatsgenossen einen einhelligen gemeinsamen Willen bilden sollten, war eine der grundlegenden Bedingungen, von denen das Funktionieren des Systems mehrstufiger identischer Willensbildung abhing (oben: § 22. E. Pitz 2001 S. 379), denn nur dann, wenn sie erfüllt war, konnte jeder Einzelne allen anderen versprechen, die Konsequenzen des gemeinsamen Beschlusses mitzutragen. Es ist bekannt, daß die Verfassung der amerikanischen Stadt- und Landesgemeinden mit der der Gilden und Hansen (regulated companies: E. King in LMA 6 Sp. 534 f.) eng verwandt ist, die sich in England seit dem Mittelalter überreich entfaltet hatten und allen seit 1620 nach Amerika ziehenden Auswanderern klar vor Augen standen (A. C. McLaughlin 1932 S. 29 – 33, 38 – 43. H. Wellenreuther 2000 S. 141, 310, 320 f., 328, 598, 2001 S. 602). Hinzuzufügen wäre dem jedoch die Erinnerung daran, daß das englische Gildewesen seinerseits, trotz früher Verstaatlichung (M. Weber 1921 / 72 S. 435. Oben: § 274), ein Sproß desselben germanischen Einungswesens und Genossenschaftsrechtes war, das seit dem frühen Mittelalter auch auf dem europäischen Kontinent eine Vielfalt von Verfassungsgebilden (oben: Sechstes Kapitel) hervorgebracht hat (G. Unwin 1908). Schon in den Quellen des hansisch-niederdeutschen Stadtrechts, die insofern zweifellos für alle aus germanischem Rechtsgefühl erschaffenen gebietsbezogenen Genossenschaften beispielhaft sind, ist mir immer wieder die Aussage begegnet, daß die Macht einer Gemeinde und der von ihr alljährlich eingesetzten Stadtbehörde allein auf dem Beistande der Bürger und Einwohner gemeinlich beruhte und daß sich deswegen jeder einzelne Stadtbewohner mit Eid oder Gelübde dazu verpflichten müßte, der Stadt und dem Rate mit Leib und Gut bis in den Tod gehorsam und beiständig zu sein und zu diesem Zwecke einer bei dem anderen zu bleiben und zu helfen; es war dies der Kern des bürgerlichen Gelübdes und der Rechtsgrund dafür, daß man den Willen der Bürgerversammlung mit dem der gemeindlichen Gesamtperson und dem des von ihr über sich erhobenen Rates identifizieren konnte (E. Pitz 2001 S. 78, 90, 105, 114, 121, 178, 194, 206, 209, 211, 223. Oben: § 15).
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Ich zweifle nicht daran, daß es mit den Hilfsmitteln der Rechtsgeschichte und des diplomatischen Text- und Formularvergleichs möglich sein wird, die Abstammung der am 10. Mai 1776 im Parlament von Massachusetts diktierten Formel aus der Tradition des mittelalterlichen Einungsrechtes nachzuweisen. Diee Tradition ist freilich als Realtradition (unten: §§ 820 – 822), d. h. nicht so zu denken, daß sich der Diktator einer älteren, am Ende gar europäischen diplomatischen Vorlage hätte bedienen müssen, um die Formel daraus zu kopieren, sondern so, daß er eine allen Amerikanern vertraute, volkstümliche Rechts- und Staatsanschauung zitierte, die die Einwanderer aus Europa mitgebracht hatten, war sie doch bereits in dem Gehorsamsversprechen der Männer enthalten, die 1620 den Mayflower Compact unterschrieben. Gerade deshalb aber, weil der auf diese Weise tradierte Rechtsgedanke mannigfacher freier Formulierungen fähig war, stattet die ständige Wiederkehr der Verpfändung von Gut und Blut jedes einzelnen Genossen für das Gemeinwohl diese Formel mit dem Erkenntniswert eines Leitfossils aus. § 397. Ein typisches Beispiel für die Instruktionen, welche die Gemeinden ihren Verordneten erteilten, stellt der Beschluß dar, den die Stadt Malden auf die genannte Aufforderung hin faßte (Doc. Amer. Hist. S. 96 n. 63), und eben deshalb, weil sie typisch ist, glaube ich aus ihr einen Nachhall jener Grafschafts- und Landesversammlungen herauszuhören, die um viele Jahrhunderte früher im Ostfränkischdeutschen Reiche jedesmal dann stattgefunden haben müssen, wenn Herzöge oder Könige an Fürsten und Große Ladungen zu Hof- und Reichstagen ergehen ließen, auf welche hin sich die Geladenen mit den Verbänden und Gemeinden ihres Heimatlandes darüber zu beraten hatten, welche Interessen sie in die Willensbildung des weiteren Untertanenverbandes einbringen und unter welchen Bedingungen sie den Willen ihres eigenen Verbandes mit dem Gemeinwillen einer erweiterten Allgemeinheit übereinstragen könnten – einen Nachhall von Vorgängen und Beratungen, aus denen allein ein gemeines Reichsrecht hatte hervorgehen und etwa die (oben: § 384, erwähnte) Überzeugung von Notwendigkeit und Recht der Heerfahrten nach Rom und Italien allen Teilen des Reichsuntertanenverbandes eingepflanzt werden können, von Vorgängen und Beratungen aber auch, die für den Geschichtsforscher wegen seiner beklagenswerten Abhängigkeit von den schriftlichen Quellen auf ewig verschollen sein müßten, wenn sie sich nicht nach späteren Nachrichten wenigstens hinsichtlich ihrer Formen rekonstruieren ließen. At a legal meeting of the inhabitants of the town of Malden, (Mass.), May 27, 1776, it was voted unanimously that the following instructions be given to their representative, viz. to Mr. Ezra Sargeant: . . . We have freely spoken our sentiments upon this important subject, but we mean not to dictate; we have unbounded confidence in the wisdom and uprightness of the continental congress; with pleasure we recollect that this affair is under their direction; and we now instruct you, sir, to give them the strongest assurance, that, if they should declare America to be a free and independent republic, your constituents will support and defend the measure, to the last drop of their blood, and the last farthing of their treasure.
Wie der Protokollant vermerkte, erging das Votum einmütig, was, da weder die Zahl der Anwesenden festgestellt noch Stimmen ausgezählt zu werden brauchten,
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nichts anderes bedeutete, als daß niemand öffentlich dem Votum widersprach. Dessen Gegenstand war eine Instruktion, mit der die Gemeinde ihrem Sendeboten die beschränkte Vollmacht erteilte, im Hause der Abgeordneten nur einem mit dem ihren übereinstimmenden Gemeinwillen zuzustimmen. Falls dort eine andere Meinung vorwalten würde, wäre diese gebundene Vollmacht nach den Regeln des Systems identischer Willensbildung erloschen und der Verordnete gezwungen gewesen, vom Referenzrecht Gebrauch zu machen und sich von seiner Gemeinde eine fernere Instruktion erteilen zu lassen. Obwohl in der gegebenen Situation die politischen Gegensätze zum Willen der königlichen Regierung zu London jeden Verzug als gefährlich erscheinen lassen mußten, erwies sich das eingeschlagene Verfahren als zweckmäßig und wirksam. Von der Schwerfälligkeit, die seit dem 13. Jahrhundert andernorts so häufig hervortritt und oft genug der Gesamtheit zur politischen Lähmung ihres Gemeinwillens gereichte, ist hier nichts zu bemerken. Wie wir wissen, hatte sich das Königreich Großbritannien wegen der politischen Nachteile, die es mit sich brachte, längst von diesem System abgewandt und das Repräsentativsystem angenommen, das die Parlamentarier der Bindung an Wünsche und Instruktionen ihrer Wähler überhob und sie nicht nur dazu ermächtigte, sich ihre Meinung erst im Verlaufe der parlamentarischen Beratungen zu bilden, sondern auch den Gemeinwillen des Reichsuntertanenverbandes mit Mehrheit der Stimmen derart festzulegen, daß er auch die überstimmte Minderheit und deren Wähler verbindlich machte. In Amerika stritt man seit langem über die Vor- und Nachteile (oben: § 390) des gebundenen und des freien Mandates (H. Arendt 1963 S. 303, 399). Dieser noch unentschiedene Streit spiegelt sich in dem unentschlossenen Zusatz, den die Einwohner von Malden ihrem Votum zufügten: Mit Rücksicht auf die Autorität, die sie dem Nationalkongreß beilegten und ohne die eine einhellige Bildung identischer Willen gewiß noch nie hatte gelingen können (oben: § 389), wollten sie ihren Deputierten nicht eigentlich binden, ohne ihn doch von der Referenzpflicht für einen Fall zu befreien, mit dessen Eintritt zu der Zeit niemand mehr ernsthaft zu rechnen brauchte. Denn nur für den Fall, daß der Kongreß den Doppelbeschluß über Unabhängigkeit und republikanische Verfassung treffen würde, verpflichteten sie sich, ihm bei der Vollstreckung mit Leib und Gut, „bis zu eines jeden letztem Blutstropfen und letztem Pfennige“, beizustehen. § 398. Einhelligen, von der obersten Behörde bis zum letzten Einwohner allen Amerikanern gemeinsamen Willen und folglich absolute willentliche Identität des Nationalkongresses mit jeder einzelnen Gemeinde, in der sich das Volk konstituiert hatte, setzt auch die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 (Doc. Amer. Hist. S. 100 n. 66) voraus. Ihr Gedankengang entspricht dem der niederländischen Erklärung vom 26. Juli 1581 (oben: § 393). Ohne das Wort zu verwenden, stellt sie zunächst das Widerstandsrecht der Amerikaner fest: Regierungen seien dazu da, die jedem einzelnen Menschen unveräußerlich zustehenden Rechte zu schützen, denn sie leiteten ihre rechtmäßige Vollmacht, their just powers, vom einmütigen Willen der Regierten, from the consent of the governed, ab; daher sei es das Recht des Volkes, jede Regierungsform zu ändern oder abzuschaffen, die den genannten
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Zweck verfehle, und nach selbstermessener Nützlichkeit eine neue Regierung einzurichten. Da jetzt ihre Regierung die Absicht habe, die Amerikaner einem absoluten Despotismus zu unterwerfen, seien sie nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet zu handeln: Such is now the necessity which constrains them to alter their former systems of government. Dem Grundsatze folgt eine Liste der Taten, mit denen die königliche Regierung und das Parlament zu London ihn verletzt hatten; aus ihr ergibt sich der Schluß: Ein solcher König sei ungeeignet für sein Amt, is unfit to be the ruler of a free people . . . We must, therefore, requiesce in the necessity, which denounces our Separation. Es sind seit dem Mittelalter bekannte, germanischem Rechtsdenken entsprungene Grundsätze über den Staatsaufbau von unten her, die hier zusammengefaßt werden und den Kongreß neben die alten Reichsversammlungen, die Abgeordneten neben die alten Fürsten und Großen stellen: Ermächtigung der Regierung durch Eintracht oder einmütigen Willen des Volkes, Bestimmung des Umfangs und Inhalts ihrer Vollmacht durch das Volk bei Annehmung des Herrschers, necessitas als Rechtsgrund, der das Volk zum Handeln zwingt, Entscheidung des Volkes über die Eignung einer Person für das königliche Amt, Recht des Volkes, den sich als ungeeignet erweisenden Fürsten und das ihm im Unrecht beistehende Reich zu verlassen. Am Schluß formuliert die Erklärung die politische und rechtmäßige Konsequenz, die sich aus all dem ergibt: We, therefore, the Representatives of the united States of America, in General Congress Assembled, appealing to the Supreme Judge of the world for the rectitude of our intentions, do, in the Name, and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare, That these United Colonies are, and of Right ought to be Free and Independent States; that they are Absolved from all Allegiance to the British Crown, and that all political connection between them and the State of Great Britain, is and ought to be totally dissolved; and that as Free and Independent States, they have full Power to levy War, conclude Peace, contract Alliances, establish Commerce, and to do all other Acts and Things which Independent States may of right do. And for the support of this Declaration, with a firm reliance on the Protection of Divine Providence, we mutually pledge to each other our Lives, our Fortunes and our sacred Honor.
Zum Nationalkongreß versammelt, handelten die Abgeordneten samt und sonders, nämlich alle gemeinsam in Einmütigkeit, jeder einzelne aber auf Grund seiner Instruktion für seine Gemeinde, im Namen und mit dem authentischen Willen aller Gemeindevölker der Kolonien, so daß die vollkommene Identität aller individuellen und Gemeindewillen mit dem Willen des Kongresses hergestellt war. Eine derart umfassende Identität der Willen konnte sich nur in Eintracht und Einmütigkeit äußern; dies war so selbstverständlich, daß der Kongreß es nicht ausdrücklich zu erklären brauchte, sondern davon nur beiläufig in der Überschrift spricht, die dem Texte vorangeht: The unanimous declaration of the thirteen united States of America. Was die vereinigten Kolonien zu freien und unabhängigen Staaten machte, das war dieser einmütige Wille, der zugleich jeden einzelnen Amerikaner von der Un-
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tertanen- und Lehnstreue (allegiance, W. Kienast 1952 S. 188, 303) gegenüber der britischen Krone löste, zu der er sich im Jahre 1760 durch stillschweigende, duldende Annehmung König Georgs III. von England zum Herrn der Kolonien verpflichtet hatte. Und nicht nur die zum Kongreß versammelten Abgeordneten, sondern alle Amerikaner waren mit dem Personalpronomen Wir gemeint, wenn die Erklärenden schließlich wechselseitig einer dem oder jedem anderen sein Leben, Gut und Ehre dafür verpfändeten, diese Erklärung zu verteidigen, was jedes einzelnen Beistand für die Regierungen einschloß, die sich die dadurch geschaffenen Freistaaten geben würden. Es ist die bereits dem mittelalterlichen Einungswesen bekannte Beistandsformel, die uns hier noch einmal begegnet und die sich schon in älterer Zeit über Gut und Blut der Genossen hinaus auch auf deren „wahren christlichen Glauben, Güter, Treue und Ehre in Eides statt“ (E. Pitz 2001 S. 206) hatte erstrecken können.
§§ 399 – 404. Räterepublik und erdauerte Demokratie im 20. Jahrhundert § 399. Es ist bemerkenswert, daß sich in Amerika niemand dieser uralten Tradition volklicher Staatsauffassungen und politischer Handlungsweisen bewußt war und daß uns noch heute zum Mayflower Compact versichert wird, „nichts vergleichbares (habe) es je in irgendeinem anderen Teil der Welt gegeben . . . Eigentlich gab es so etwas wie konstituierte Körperschaften überhaupt nicht in der Alten Welt, sie waren vielmehr bereits ein amerikanisches Novum“ (H. Arendt 1963 S. 227, 234), daher auch der Schlußsatz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nur von freien Bürgern in einer Republik, nicht aber von Untertanen einer Monarchie habe ausgesprochen werden können (ebd. S. 167, 229). Herzuleiten ist dieses Nichtwissen davon, daß Gelehrte und Schriftsteller des Mittelalters für die Staats- und Rechtsauffassungen der Völker niemals ein wissenschaftliches Interesse gezeigt hatten (oben: § 2) und daher weder zur begrifflichen Durchdringung der germanischen Volks- oder der deutschen Stadt- und Landrechte noch zu zusammenhängender Darstellung der volksrechtlichen Anschauungen über Staatsaufbau und Bildung des Gemeinwillens von unten her gelangt waren. Erst die AristotelesRezeption des 13. Jahrhunderts hatte sie mit republikanischen Staatsformen bekannt gemacht, zugleich aber ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem volklichen Republikanismus und Kommunalismus ihrer Zeit nur noch bekräftigt (oben: §§ 262 – 269). So kommt es, daß die Staatslehre des Humanismus und der Aufklärung zwar mit dem republikanischen Denken der Antike vertraut war, daß sich aber das Vertragsdenken, das John Locke in die Staatstheorie einführte, mitsamt dem von hier ausgehenden Liberalismus auf keinerlei geschichtliche Erfahrung berufen konnte, sondern freier philosophischer Spekulation anheimgegeben blieb. So begannen die Amerikaner, und bald nach ihnen die französischen Revolutionäre, die bestehende
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Ordnung in der Absicht und Überzeugung umzustürzen, sie würden die Vergewaltigung des Volkes durch den Absolutismus (oben: §§ 165, 166, 392) rückgängig machen können, aber von der alten Ordnung verbriefter Rechte und Volksfreiheiten, die sie wiederherstellen wollten, besaß niemand irgendein Wissen, zumal man auch das englische Repräsentativsystem zu den Neuerungen rechnete, mittels deren tyrannische Könige die Freiheit, politisch zu handeln, auf einen kleinen Kreis von Männern beschränkten, denen das Volk, das sie wählte, seine doch unveräußerliche souveräne Macht in periodischer Wiederholung abtreten sollte (oben: § 390). Gerade deswegen freilich, weil sich niemand der Kontinuität bewußt war, die das amerikanische Einungswesen und seinen Willen, einen Bundesstaat von unten, von den Gemeinden her, aufzubauen, mit den Verfassungseinrichtungen des Mittelalters verknüpfte, gerade deswegen, weil sich die Amerikaner dabei von keinerlei bekannter Tradition oder wissenschaftlich reflektiertem Vorwissen leiten ließen, gerade deswegen, weil sich die Einwanderer ihre Verfassungen genauso spontan und improvisierend schufen, wie es gleich anderen germanischen Völkern die Franken und die Reichsvölker des Ostfränkisch-deutschen Reiches getan hatten: gerade deswegen ist die Gleichartigkeit dieser Einrichtungen im alten Europa und in den amerikanischen Kolonien um so merkwürdiger und auffälliger. Wie ist sie zu erklären? Ich meine, ihr Grund sei darin zu suchen, daß es sich überall um Schöpfungen von Völkern handelte, in denen germanische Vorstellungen sowohl von persönlicher und politischer Freiheit des Einzelnen wie vom Staate als einer Angelegenheit aller Freien sich von Generation zu Generation fortgeerbt und durch die Jahrhunderte hin die politische Allgemeinbildung aller Gemeinde- und Rechtsgenossen bestimmt hatten. Denn jedes dieser Völker bewahrte sein Recht selbst im Gedächtnis auf und pflegte es entweder im Gericht oder in freier Einung denen zu weisen, die es damit beauftragte, seine Gemeinden und seinen Staat zu verwalten (oben: § 172). Nicht Juristen, Philosophen, Gelehrte, die mit der seit dem 13. Jahrhundert den Völkern unentbehrlich gewordenen Regierungsweise von oben, vom königlichen Hofe her (oben: § 390) an Einfluß gewannen und als Diener des Absolutismus oder Experten der Regierungen im 19. und 20. Jahrhundert den Völkern so viele Verfassungen oktroyiert haben, ohne doch damit die Herzen der Menschen zu erreichen, – sondern Laien, welche als Sprecher des Volkes dessen Denken und Wollen Ausdruck und Form zu geben verstanden, sind die Schöpfer wie der ostfränkisch-deutschen, der niederländischen und der schweizerischen, so der amerikanischen Verfassungen gewesen (H. Arendt 1963 S. 187 – 190). § 400. Mit dem 18. Jahrhundert erstarb die verfassungsbildende Kraft, die die volkliche Staats- und Willensbildung durch mehr als ein Jahrtausend hin ausgestrahlt hatte. Es war nicht länger zu übersehen und zu ertragen, daß das System identischer Willensbildung dem modernen Staatsleben keine hinreichende Sicherheit mehr gewährte, weil innerhalb seiner der Sitz der Souveränität nicht auszumachen war. Wie man damals sowohl in den Vereinigten Niederlanden wie bei den
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schweizerischen Eidgenossen lernen konnte und heute noch aus der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation lernen kann, mußten nebeneinander die Gemeinden, die Teilreiche oder Bundesstaaten, Territorien, Provinzen, Kantone und die Reichs- oder Bundesregierung für sich Souveränität beanspruchen, daher sich gegenseitig ihre Kompetenzen bestreiten und mit diesen Irrungen die Freiheit des Volkes zugrunderichten. Erst die Väter der amerikanischen Bundesverfassung fanden, um dieses Problem zu lösen, den Grundsatz, daß die Souveränität weder den Teilverbänden noch dem Gesamtstaate beizulegen sei, sondern dem Volke, welches sich beide erschuf und seine Vollgewalt auf beide übertrug, daher es selbst dazu berufen war, als Souverän die Konflikte zu schlichten, die sich nicht mehr in einhelliger, auf allen Stufen des Staatsaufbaus identischer Willensbildung verflüchtigen wollten, und zwar zu schlichten nicht mehr mit physischer Gewalt und kriegerischer Erzwingung eines identischen Gemeinwillens, wie in der Alten Welt üblich, sondern nach Recht und Gesetz durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die den Streit kraft Autorität und nicht mit Zwangsgewalt entschied (H. St. Commager 1977 S. 191 – 193). So gaben die Gründerväter dem Volke alle Macht – zugleich aber entzogen sie ihm auch die gewohnten Möglichkeiten zu freier politischer Betätigung, indem sie sich gegen das System identischer Willensbildung und für die Repräsentation entschieden. Denn der Befürchtung, es könnte dem Bunde zuviel Macht zugebilligt werden, stand die stärkere Einsicht gegenüber, daß von einer schwachen Regierung Gefahren für die Rechte und Freiheiten der Bürger ausgehen würden, wenn sie die Mächtigen nicht zu zügeln, die Minderheiten nicht vor den Anmaßungen der Mehrheit zu schützen vermöchte. Daher entschieden sie sich gegen spezielle, ständiger Erneuerung bedürftige Vollmachten und imperatives Mandat und für eine zwar befristete, aber allgemeine und unbeschränkte Vollmacht der Abgeordneten, um namens des Volkes zu handeln. Und so geschah das Unvermeidliche: Als die Verfassung den Raum für eine freie und öffentliche Betätigung auf die vom Volke gewählten Repräsentanten beschränkt hatte, erloschen die Volksversammlungen in den Stadt- und Landgemeinden, die vor der Unabhängigkeitserklärung die Quelle aller politischen Aktivität der Kolonien gebildet hatten, sie erstickten unter dem ungeheuren Gewicht der Verfassung, in deren Schöpfung wir die größte Leistung des Volkes und sein stolzestes Erbe erkennen (H. Arendt 1963 S. 190 – 196, 303, 306). Während dies in Amerika geschah und in Osteuropa die Großmachtinteressen absoluter Monarchien die Existenz des Königreichs Polen bedrohten, konstituierte sich im Oktober 1788 der polnische Reichstag zu Warschau als verfassunggebende Versammlung, und als er am 3. Mai 1791 die erste europäische Konstitutionsakte beschloß, besiegelte er zugleich das Ende der von unten her aufgebauten Republik, die die polnischen Adelskommunitäten seit dem 15. Jahrhundert Zug um Zug ihren Königen dadurch aufgenötigt hatten, daß sie sich das freie Königswahlrecht, das Erfordernis der unanimitas votorum für alle Reichstagsbeschlüsse und die imperative, als Liberum veto der Landboten bekannte Ermächtigung ihrer Deputierten
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sicherten. Die Minderung des Königs zum höchsten gewählten Amtmann der Republik und die Souveränität der Adelsgemeinden hatten demnach in verfassungsmäßiger Hinsicht auf dem alteuropäischen System identischer Willensbildung beruht (E. Pitz 2001 S. 439 f.). Die Maiverfassung dagegen erklärte anstatt der Partikulargemeinden die Nation zum Souverän, den Reichstag zu dessen Vormund und das Haus Wettin zum erblichen Inhaber der Krone und regulierte deren Verhältnis untereinander nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung (K. Zernack 1994 S. 282 – 289). Aber auch in reformierter Gestalt konnte das Königreich Polen der Vernichtung durch die benachbarten Großmächte nicht entgehen. Gleichzeitig zerstörte im Westen die junge französische Republik im Jahre 1795 den Volks- und föderativen Gemeindestaat der Vereinigten Niederlande und drei Jahre später die Schweizerische Eidgenossenschaft, bevor noch im Jahre 1806 mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, von dem sich beide einst losgelöst hatten, die letzte Stütze mittelalterlicher Verfassungseinrichtungen und des Staatsaufbaus von unten her französischem Imperialimus erlag. § 401. Gemessen an der niederländischen Revolution von 1581, der englischen von 1688 / 89 und der amerikanischen von 1776, erweisen sich, beginnend mit der französischen von 1789, alle europäischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts als in verfassungspolitischer Hinsicht fehlgeschlagen. Denn es gelang den revoltierenden Völkern lediglich, sich der wider ihren Willen in absolutistischen Formen über sie herrschenden Monarchen zu entledigen; nicht alle dagegen vermochten auch den Staatsapparat abzuschütteln, den jene ihnen von oben her übergestülpt hatten, und keine von ihnen erreichte das Ziel, sich von unten her jenen neuen Staat mit identischer, die Volkssouveränität verwirklichender Willensbildung zu errichten, den sie sich wünschten und dem jedes von ihnen nachgestrebt hat, solange es seinem Willen freien Ausdruck verleihen konnte. Überall ging ihr Bestreben, solange sie frei waren, dahin, sich in einer Vielzahl von Gemeinderepubliken zu vereinigen, in denen jeder einzelne Mensch möglichst unmittelbar, weitgehend und unbeschränkt am öffentlichen Leben, an der gemeinsamen Regierung und an der Instruktion der Räte, denen man diese anvertraute, teilnehmen konnte. Zu solcher Gemeindefreiheit aber gehörte der Aufbau des Staates von unten her. Stets traten die revolutionären Räte zu einander in Verbindung, um ihre Tätigkeiten zu koordinieren, schlossen sie sich zu Regional- und Provinzialräten mit imperativem Mandat und zu Bünden zusammen, aus deren Gemeinwillen zuletzt die Wahl von Abgeordneten zu einer Nationalversammlung hätte hervorgehen sollen (H. Arendt 1958 S. 273 – 275, 1958a S. 102 – 109, 1963 S. 304, 338 f., 343 f.). Die Form der gebundenen Vertretung findet sich in allen von unten her erbauten „Räterepubliken, für welche sie Surrogat der in Massenverbänden unmöglichen unmittelbaren Demokratie“ war (M. Weber 1921 / 72 S. 172). Hand in Hand damit ging die Erwartung, daß die Gleichheit der Interessenlage aller arbeitenden Menschen weder in den Gemeinden noch in den Räten Parteiungen auf-
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kommen lassen, sondern auf allen Stufen des föderativen Staatsaufbaus einen einmütigen Gemeinwillen hervorbringen würde. Wie die Ereignisse überall zeigten, hatte freilich der Plan, unter den Bedingungen industrialisierter Gesellschaften und der Einsamkeit des Einzelnen in der Masse eine Räterepublik zu errichten, keine Chance mehr, verwirklicht zu werden. Zu schwer wogen die Probleme, die nur das Repräsentativsystem mit parteilichem Mehrheitswillen (H. Arendt 1963 S. 337 – 339, 347 – 351) und eine zentralisierte Staatsmacht von oben her zu lösen vermochten. Nicht in erster Linie deswegen jedoch hat unsere Verfassungslehre Anlaß, sie zu bedenken. Jene Pläne nämlich zeichnen sich dadurch aus, daß man „in gewissem Sinne“ von ihren Urhebern sagen kann, hier sei „einmal eine Elite nicht von anderen, nach welchen Kriterien auch immer, ausgesucht worden, sondern vielmehr durch sich selbst entstanden . . . ; diejenigen, die sich in Räten zusammentaten und organisierten, waren identisch mit den Verantwortungsbewußten, welche die Initiative ergreifen wollten; sie waren in Wahrheit die politische Elite des Volkes, welche die Revolution nur ans Tageslicht gebracht hatte. Wenn die Mitglieder der oberen Räte dann darangingen, Abgeordnete für die nächsthöhere Stufe zu wählen, so wählten sie wieder unter Gleichen, und dasselbe gilt für die Abgeordnetenwahlen bis hinauf zum obersten Rat; ein Druck von unten oder von oben ist innerhalb dieses Systems unmöglich“, vielmehr beruhte alles auf dem Vertrauen, welches nach Berechtigung und Interessenlage gleiche Leute miteinander verband (ebd. S. 357 f.). Diese Elite aber bestand nicht aus erfahrenen Politikern, noch erfreute sie sich des Rates belesener Philosophen oder Staatsgelehrter. Niemand unter denen, die ihr angehörten, besaß ein Vorwissen von Systemen identischer Willensbildung oder von dem jüngst noch einmal in Amerika vollbrachten Staatsaufbau von unten her, geschweige denn von antiken oder mittelalterlich-alteuropäischen Gemeinderepubliken. Spontan und improvisierend vielmehr setzte sich in ihren Köpfen und immer wieder in anderen Köpfen das föderative Prinzip des Staatsaufbaus von unten her „aus den Elementarbedingungen des Handelns durch, und zwar ganz unbeeinflußt von allen theoretischen Erwägungen über die Möglichkeit der republikanischen Staatsform in großen Gebieten und auch ohne allen Druck von außen durch einen gemeinsamen Feind. Gemeinsam war hier vielmehr der Wille, einen neuen politischen Körper zu gründen, . . . und zwar so, daß die Zentralgewalt die sie konstituierenden Teile nicht der eigenen, ursprünglichen und konstitutiven Macht berauben würde“ (ebd. S. 344). § 402. Gerade die Spontaneität, welche das Verlangen der Völker nach der Räterepublik auszeichnete und es an immer wieder anderen Orten rege machte, ohne in bewußte oder bekannte Traditionen und Kontinuitäten eingebunden zu sein, macht den Beobachter auf die unerwartete Gleichartigkeit dieses in allen europäischen Revolutionen seit 1789 auftretenden Phänomens aufmerksam (H. Arendt 1963 S. 338). Zwar haben Historiker bereits die offensichtlichen Parallelen bemerkt, die zwischen der modernen Erscheinung und dem Kommunalismus des Mittelalters
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bestehen, und mit dieser Beobachtung der Philosophin (1906 – 1975) den Verdacht eingeflößt, „daß die Räte eine atavistische Institution“ sein könnten (ebd. S. 335 f., 350), aber den Beteiligten war dieses Wissen völlig fremd, ja die Redner unter ihren Häuptern glichen darin durchaus den Schriftstellern des Mittelalters, daß sie völkisches Staatsdenken und politisches Wollen weitaus weniger schätzten als philosophische Spekulation und revolutionäre Mystik. Insoweit stillten die theologischen Phantasien im Mittelalter durchaus dasselbe Bedürfnis wie jetzt die von Rousseau betriebene Verklärung der Volkssouveränität (oben: §§ 167b, 270, 317) oder die Mystifikationen der Hegelschen Dialektik. Nur allzu verächtlich hatte Rousseau die historisch verifizierbare volonté de tous, den Willen nämlich oder die Zustimmung aller, wie sie Ständeversammlungen und Parlamente des Ancien régime in mühsamen Verhandlungen übereinszutragen pflegten, als immer unvollkommene und niemals einmütige Akkumulation von Sonderinteressen verworfen zugunsten einer idealen volonté générale, eines staatsgründenden Gesamtwillens des Volkes, der einmütig, ungebrochen und in sich unteilbar sein sollte, damit er vor aller Verfassung und ebenso absolut, wie zuvor der Wille des Königs, die Dauer und Identität des Staates garantieren könnte (ebd. S. 96 – 100). Mit vergleichbarem Hochmut ersetzte Hegel die in zweitausend Jahren geistiger Arbeit bewährten Regeln der formalen Logik durch die Dialektik von These, Antithese und Synthese, in der er nicht nur eine Denkform, sondern auch ein Seiendes zu erkennen vermeinte, indem er systematisch Aussagen sprachlicher Natur mit solchen über Tatsachen, subjektive Denkvorgänge mit objektiven Weltvorgängen und Gedachtes mit Geschehenem verwechselte. Auf Physik, Chemie und Biologie war diese Erkenntnismethode natürlich nirgendwo anwendbar; nur in einer rückständigen Sozial- und Geschichtswissenschaft konnte Hegel damit den willigen Leser berauschen. indem er Wirklichkeit, Vernunft und absolute Monarchie oder Freiheit und Notwendigkeit ineinander aufgehen ließ (K. R. Popper 1957 / 1980 Bd. 2 S. 37, 50 – 60). Wie Rousseau die Nation an die Stelle des absoluten Monarchen gesetzt und mit dessen grenzenloser Gewalt über den Menschen und das Volk ausgestattet hatte, so verfuhren Hegel und seine Adepten mit dem, was sie für dialektische Bewegungsgesetze der Geschichte ausgaben: Aus deren vermeintlicher Notwendigkeit konnte es für Individuen und Völker kein Entrinnen, vor ihrem Sachwalter auf Erden, wozu Hegel die Staatsregierung erklärte, keine Freiheit des Handelns mehr geben. Der empirische Freiheitsbegriff, dessen Gegenteil die Knechtschaft ist und dessen Inhalt in jedermanns Recht besteht, seine Interessen öffentlich zu vertreten (oben: § 386), dieser den Menschen seit jeher aus Erfahrung deutlich gewesene Begriff, dessen Sinn empirisch zu bestimmen Aufgabe der Politik- und Geschichtswissenschaft ist (oben: § 148), verdunstete zu einem Abstraktum, das nicht mehr der empirischen necessitas (oben: §§ 330, 376), sondern einer spekulativen Notwendigkeit gegenüberstand und dialektisch mit dieser zu identifizieren war, „was vielleicht das furchtbarste und menschlich gesprochen unerträglichste Paradox des gesamten modernen Denkens geworden ist“ (H. Arendt 1963 S. 63, 66, 146, 159).
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§ 403. Aus naheliegenden Gründen haben diese Spekulationen weder in Großbritannien noch in Nordamerika jemals Anklang gefunden. Aber obwohl dort Philosophen, Staatslehrer, Nationalökonomen (K. Pribram 1992 Bd. 1 S. 15 – 18) und Historiker unbeirrt an empirischem Wissen und formaler Logik festhielten, trat doch in dem Punkte, der uns beschäftigt, dasselbe Ereignis ein wie auf dem europäischen Kontinent: Die politische Erfahrung, die das amerikanische Volk bei der Begründung politischer Freiheit durch die Verfassung und beim Aufbau des Bundesstaates von unten, von den Gemeinden her, gesammelt hatte, versank auch hier in Vergessenheit. In Europa aber bestärkte der allgemeine Gedächtnisschwund, der in den Vereinigten Staaten selbst eintrat, die Unkenntnis dessen, was sich in der amerikanischen Revolution wirklich ereignet hatte, und die Gleichgültigkeit der Philosophen, Theoretiker und Historiker gegenüber den politischen Vorstellungen des ungebildeten Volkes und seiner naiven Hoffnungen. Niemand ist denn auch meines Wissens den Hinweisen nachgegangen, die sich aus der Vergleichbarkeit der neueren Räterepubliken mit den älteren, auf (hellenischem? unten: § 818, und) germanischem Einungs- und Genossenschaftsrecht beruhenden Gemeinderepubliken und Bundesstaaten dahingehend ergeben, daß bereits das Mittelalter den politischen Willen zum Staatsaufbau von unten her und die Bildung des umfassendsten Gemeinwillens nach den Regeln des Identitätssystems nicht nur gekannt, sondern auch mit wirklichem Erfolge zur Geltung gebracht hat. Denn wenn es richtig ist, daß die höhere Kultur des Denkens und Bildens nur dort ihre Blüten zu treiben vermag, wo eine große politische Aufgabe Völker und ihren Staat zur Anstrengung aller Kräfte zwingt, um in Erfüllung zu gehen, dann bestätigen uns die im Ostfränkisch-deutschen Reiche geschaffenen Werke der bildenden Künste, daß dieses von unten her aufgebaute Großreich imstande gewesen sein muß, alles zu leisten, was Völker von ihrem Gemeinsinne nur erwarten können. Es ist die These der hier vorgelegten Verfassungslehre, daß (1) das Ostfränkischdeutsche Reich so, wie es uns aus den Quellen des 9. bis 12. Jahrhunderts entgegentritt, eine Schöpfung des von der Wissenschaft seit jeher beharrlich mißachteten volksrechtlichen Staatsdenkens und politischen Willens gewesen ist, daß sich (2) der Gemeinwille seit dem 13. Jahrhundert von veränderten Interessen und Bedürfnissen der Menschen vor die Aufgabe gestellt sah, ein neues verfassungsmäßiges Verhältnis zur königlichen oder landesherrlichen Regierung zu finden, die zwar allein diese unabweisbaren Bedürfnisse zu befriedigen vermochte, dazu aber nur bei weiterem Ausbau des Staates von oben her imstande war, daß (3) die Völker dieses Verhältnis, ohne sich ihrer Freiheit zu begeben, nur durch den Übergang vom System identischer Willensbildung zum Repräsentativsystem herzustellen vermochten, daß sie (4) in vielen Staaten, wo sie sich diesem Übergange verweigerten, auch ihrer Freiheit entsagten und der Staatsregierung eine absolute Machtvollkommenheit gewährten, mittels deren diese imstande war, die Identität der Willen von oben her zu bestimmen und zu erzwingen, und daß (5) vom 13. bis zum 20. Jahrhundert die beiden Systeme der Willensbildung solange miteinander
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2. Teil: Der Staat
konkurrierten, bis schließlich die praktische Überlegenheit der Repräsentation über das ältere, aus dem Mittelalter überkommene Identitätssystem allgemeine Anerkennung fand. § 404. Ich wünschte mir, mit diesen Thesen die Auffassungen zweier Meister der vergleichenden Verfassungsgeschichte ergänzen zu können, nämlich die mehrfach zitierten des Berliner Historikers Otto Hintze (1861 – 1940), dessen Werk Torso geblieben ist, und die des Schweizers Werner Näf (1894 – 1959), dem wir die Erforschung der Herrschaftsverträge des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zu verdanken haben. Näf hatte miterlebt, vor welche unlösbaren Probleme der Nationalismus Rousseauscher Prägung nicht nur die Vielvölkerreiche ÖsterreichUngarn und Rußland, sondern auch deren mit den Friedensverträgen von 1919 / 20 geschaffene Nachfolgestaaten stellte, indem er sie dazu aufforderte, durch Umvolkung oder anderweitige Liquidation aller Minderheiten die eigenen Staatsnationen überhaupt erst herzustellen (H. Arendt 1955 S. 564 – 577), und er hatte auch erlebt, wie darüber und über der von den Kriegsfolgen schwer belasteten sozialen Frage in einem Staate nach dem anderen die Republik, die Herrschaft des Gesetzes, verfassungsmäßige Regierung und Demokratie zugrundegingen und in totalitäre Absolutismen umschlugen. Dieses Schicksal betraf nach Näfs Beobachtungen überall Staaten, die zuvor durch den monarchischen Absolutismus von oben her zentralisiert, alsdann aber in Zeiten der Revolution durch philosophische Lehrmeister rousseauscher oder hegelscher Schule wiederum von oben her demokratisiert worden waren, Lehrmeister, die sich aus eigener Kraft oder mit fremder Hilfe der Staatsgewalt bemächtigten und ihre republikanischen Vorstellungen dem Volke von oben her überstülpten. Es war diese „dem herrschaftlichen Stamm aufgepfropfte Demokratie“, welche Näf seit 1920 überall in Europa Schiffbruch erleiden sah, weil sie zwar über demokratische Zentraleinrichtungen, nicht aber über ein demokratisches Volk verfügte. Zu entziehen vermochte sich dieser „Krise der Demokratie“, wie Näf ferner bemerkte, nur eine kleine Gruppe altdemokratischer, seit dem Mittelalter aus verbündeten Gemeinden erwachsener Staaten, deren Völker sie von unten her aufgebaut hatten und daher seit Jahrhunderten in der lokalen Selbstverwaltung zum Kompromiß auch in Fragen der nationalen Politik erzogen worden waren. Zu diesen aus genossenschaftlicher Wurzel erwachsenen und erst später, dann aber mit Willen und unter Kontrolle des Volkes zentralisierten Staaten zählte Näf die Schweiz, das Königreich England und die Vereinigten Staaten von Amerika. „Wenn sich im Verlaufe dieser Krise die bemerkenswerte Tatsache konstatieren läßt, daß die importierten, aufgepfropften demokratischen Verfassungen zerbrachen, die gewachsenen, erdauerten dagegen hielten, so enthüllt sich darin jener tiefe Unterschied in Wesen und Entwicklung der Staaten, der durch die Jahrhunderte der neueren Geschichte läuft. Er geht in die Geburtsstunde oder wenigstens in die Frühstadien der modernen Staaten zurück und wird vom Ende des 18. Jahrhunderts an dadurch bestimmt, in welcher Weise die einzelnen Staaten das Gedankengut der Aufklärung und die Neuerungen der Revolution mit ihrem Ancien
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Régime zu verbinden vermochten“ (W. Näf 1959 Bd. 2 S. 136, 266 ff., 466. E. Pitz 2001 S. 441 f.). Es ist die Vorgeschichte dieser erwachsenen und erdauerten demokratischen Verfassungen, die Werner Näf nur vom 13. Jahrhundert an verfolgt hat, worauf sich die vorliegende Verfassungslehre konzentriert. Zwar hat bereits das klassische Altertum glanzvolle Republiken mit direktdemokratischen Verfassungen gekannt, aber davon ist dem Abendlande nur die allein den Gelehrten zugängliche Erinnerung übriggeblieben, weil weder Hellenen noch Römer den Weg zur Föderativund Repräsentativverfassung fanden, die allein auch in Großreichen und Massengesellschaften dem Menschen den Zugang zur politischen Freiheit offenzuhalten vermag. Anders steht es um die germanischen Staatsgründungen des frühen Mittelalters, aus denen das Ostfränkisch-deutsche Reich hervorgegangen ist. Mit ihnen ist der moderne freiheitlich-demokratische Rechtsstaat in einer durch mancherlei Verwandlungen seiner Formen hindurchgegangenen, aber niemals unterbrochenen Kontinuität verbunden.
Dreizehntes Kapitel
Das Fürstentum. Geistliche Fürsten §§ 405 – 411. Der althochdeutsche Sprachgebrauch § 405. Den Austausch und Ausgleich der Meinungen zwischen den Gemeinden und dem Reiche zu besorgen, damit auf beiden Seiten sowie auf den Zwischenstufen ein identischer Gemeinwille zustandekommen konnte, das war, wie gesagt (oben: § 379), die Aufgabe der Fürsten und Großen, denen sowohl die Gemeinden oder lokalen Dingverbände, aus denen sich die Untertanenverbände zusammensetzten (oben: § 206), als auch die herzoglichen oder königlichen Herrscher das dafür notwendige Vertrauen, die dafür erforderliche Autorität beilegten. Denn nicht nur den höheren Verbänden, sondern auch den unteren, wie bereits den Ding- und Grafschaftsvölkern, standen Fürsten, principes, primates, als Sprecher ihres gemeinsamen Willens zur Verfügung, und zu ihnen konnte man auch den Bischof und den Grafen rechnen (oben: §§ 275 b, 287a.b, 328). In dem altsächsischen Volksstaat waren die Satrapen nicht nur als Amtleute der Gauvölker mit gebundenem Mandat zur Gesamtvolksversammlung erschienen, sondern auch ein jeder in Begleitung von sechsunddreißig Erwählten oder Verordneten seines Volkes als einem Beirate, welcher die Rückbindung seines Willens an den des entsendenden Verbandes ermöglichte (oben: §§ 75 – 78); daran wird sich nichts geändert haben, wenn die verbündeten Gauvölker gemeinsam Herzoge und Könige über sich erhoben und sich damit verpflichteten, Bischöfe, Grafen und Zentenare nicht gegen deren Willen, sondern nur im Einvernehmen mit ihnen zu kiesen. In der königlichen Ermächtigung der Amtleute kam ja derselbe von allen übereinsgetragene Volkswille zum Ausdruck wie in den Entscheidungen der Dingund Gemeindeverbände: Gegen deren Widerspruch konnte der König genauso wenig Bischöfe, Herzoge oder Grafen in ihre Ämter einsetzen, wie es das Volk gegen seinen Willen zu tun befugt war. Entgegen heute allgemein verbreiteter Ansicht wäre es demnach nicht Aufgabe der Fürsten gewesen, Herrschaft auszuüben, schon gar nicht Herrschaft in dem Sinne, den die neuhochdeutsche Sprache diesem Worte beilegt, nämlich als Befehlsgewalt über Sachen, Menschen oder größere Gebiete, denn diese Bedeutung erlangte das Wort erst im 13. Jahrhundert und am Ende einer längeren verfassungsgeschichtlichen Entwicklung (K. Kroeschell 1968 S. 18 – 27. D. Willoweit in LMA 4 Sp. 2176 – 2179), als deren Resultat uns bereits der Neologismus Obrigkeit bekannt ist (oben: § 391). Dem früheren Mittelalter war die Vorstellung vom Fürsten-
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tum als obrigkeitlicher Herrschaft mit der Kompetenz, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen (oben: § 272), noch vollkommen fremd. Erst der so verstandene modernere Begriff von Herrschaft erlaubt es, darunter zwei Erscheinungen zu subsumieren, die in ahd. Zeit noch voneinander so verschieden waren, daß die Volkssprache keine gemeinsame Bezeichnung für sie besaß, nämlich Herrschaft über Unfreie einerseits und fürstliche Vollmacht über (Altoder Neu-)Freie andererseits. Wenn in unserer Verfassungslehre hinfort von fürstlicher Herrschaft die Rede ist, und ohne sprachliche Gewaltsamkeiten läßt sich heutzutage diese Redeweise nicht vermeiden, so ist darunter, soweit das 8. bis 12. Jahrhundert in Betracht kommt, stets diese nach den Regeln des Genossenschaftsrechtes (oben: §§ 202 – 216) und des Einungsrechtes (oben: §§ 217, 218) vergebene und angenommene Vollmacht zu verstehen. Fürstliche Herrschaft, die uns bis ins 11. Jahrhundert hinein noch allein oder doch vornehmlich als Herrschaft über Edelfreie begegnet (oben: §§ 117 – 123, 133a, 147), war von der Wurzel her anderer Art als Haus- oder Grundherrschaft über Unfreie oder wirtschaftlich abhängige Freie, die sich allem öffentlichen Dienste (oben: §§ 121, 159) entzogen (oben: §§ 164, 349, 377). § 406. Die Frage, was Fürstentum und fürstliche oder adlige Herrschaft im frühen Mittelalter bedeuteten, als damit obrigkeitliche Gewalt noch nicht gemeint sein konnte, ist kaum noch gestellt worden und schwer zu beantworten, obwohl das Wort Adelsherrschaft seit sechzig Jahren unter den Gemeinplätzen deutscher Mediävistik den Spitzenplatz besetzt hält. Namentlich der Rechtshistoriker muß hier Widerspruch erheben und darauf beharren, daß ein vermeintlich eigenständiges Recht des Adels auf Ausübung von Herrschaft keineswegs klar zu begründen ist (R. Scheyhing 1960 S. 65). Aber auch in der soziologischen Theorie Max Webers findet sich eine Antwort auf die genannte Frage allenfalls in der Bestimmung ständischer Herrschaft als einer Sonderform patrimonialer Herrschaft, die ihrerseits den sekundären Typus der traditionalen Herrschaft darstellt, ohne daß, was dazu über Legitimitätsgeltung und Gewaltenteilung gesagt wird, auch nur annähernd auf die Verhältnisse zuträfe, mit denen es die Verfassungslehre des Mittelalters zu tun hat (M. Weber 1921 / 72 S. 130 – 137. Unten: §§ 419, 420, 831). Wie schwierig das Problem ist, ergibt sich daraus, daß sich selbst Walter Schlesinger, der als erster den ahd. sprachlichen Befund berücksichtigt hat, in seiner umfangreichen Beschreibung des Phänomens nicht präzise über den Inhalt fürstlicher Gewalt ausspricht. Im wesentlichen verwendet er das Wort Herrschaft aber doch in dessen modernem Sinne, als eine mit Zwangsmitteln und Burgbesitz bewehrte Gewalt, wie Herren sie jederzeit im Hause über Sklaven, über Freie aber nur im Kriege und nach Kriegsrecht ausüben konnten, eine Gewalt, die weder Widerspruch der Beherrschten zu dulden noch deren zustimmenden Willen zu suchen brauchte. So erschien ihm denn auch die Herrengewalt des fränkischen Adels als „erwachsen aus Hausherrschaft und Gefolgsherrschaft“ (W. Schlesinger 1956 S. 185). Ihre
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Grundlage sei „das seit der Wanderzeit fortbestehende Gefolgschaftswesen gewesen. Die Gefolgschaften der Großen wuchsen sich zeitweise zu förmlichen Privatarmeen aus . . . An der Spitze einer solchen Privatarmee sind die Karlinger emporgekommen“ (ebd. S. 161). Wir kennen bereits die Auffassung der landesgeschichtlichen Schule, der zufolge die karolingische Herrschaft östlich des Rheins eine Art von Militärdiktatur gewesen wäre: Gestützt auf Großgrundbesitz, der während der Eroberung beschlagnahmt und dem Königsgute zugeschlagen wurde, hätten königliche Kommissare mit Grafentitel die unterworfenen Völker und Dingverbände unter Kontrolle gehalten; die Könige hätten ihr Herrscherrecht nicht auf den Willen oder Konsens der Beherrschten, sondern auf eine davon losgelöste, nicht weiter ableitbare Königs- oder Adelsbanngewalt gegründet (oben: §§ 331 – 335, auch 164). Diese in sich widersprüchliche, die Rechtsgeschichte durch bloße Gewaltgeschichte ersetzende Lehre faßt den karolingischen Staat als von oben her geschaffen auf und kann daher nicht erklären, wie aus ihm das von unten her aufgebaute Ostfränkisch-deutsche Reich hätte hervorgehen können. Will man das verstehen, so darf man nicht von der Kriegsverfassung, sondern muß von der Friedens- und Gerichtsverfassung des Reiches ausgehen; auch darf man die Eroberungskriege in Schwaben, Bayern und Sachsen nicht als Kämpfe auf Tod oder Leben auffassen, sondern muß sie als politische Richtungsentscheidungen verstehen, die schließlich auch von den Unterlegenen anerkannt werden und daher jenen dauerhaften Friedenszustand schaffen konnten, der in der vier Jahrhunderte lang anhaltenden Nachwirkung karolingischer Staatseinrichtungen seinen verfassungsgeschichtlichen Ausdruck gefunden hat. W. Schlesinger selbst weist darauf hin, „was alles das fränkische Königtum an Ideen, Machtmitteln und Amtsgewalt antiker Herkunft übernommen hat,“ um den Staat von oben her zu gestalten und den Völkern von oben her Einrichtungen überzustülpen, die dem germanischen Rechts- und Staatsdenken ganz zuwiderliefen (ebd. S. 165) und daher auch mit Kaiser Karl dem Großen und seinem Sohne Ludwig dem Frommen wieder ins Grab gesunken sind, weil die Reichsvölker mit ihnen nichts anfangen konnten. § 407. Den davon nur vorübergehend verdunkelten germanischen Anschauungen kam Schlesinger von dem ahd. Sprachgebrauch her auf die Spur (ebd. S. 136 – 139). Denn im Ahd. und As. fand er drei Wörter, die als Äquivalente für das moderne Wort Herr in Betracht kommen: das im Absterben begriffene, nur noch im Vokativ verwandte Substantiv frô (ebenso as. frô), das, nach der Bedeutung des zugehörigen Femininums frouwa zu schließen, ursprünglich den Hausherrn bezeichnet haben könnte, das Hauptwort truhtîn (as. drohtîn) für den Herrn einer kriegerischen Gefolgschaft und den Komparativ hêrro (as. hêrro) zu dem ahd. as. Adjektiv hêr, gleich grau oder alt, das seine neue, übertragene Bedeutung nicht vor der fränkischen Zeit angenommen haben dürfte, schließlich aber die anderen Wörter verdrängte und als einziges ins Mhd. überging. Alle drei Wörter nämlich
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hätten sich in der Bedeutung früh aneinander angeglichen und wären mit Vorliebe ebenso auf Gott und Christus als himmlischen wie auf den König als höchsten irdischen Herrn angewandt worden. Zu demselben Ergebnis gelangte Schlesinger bei Betrachtung der lat. Äquivalente dominus und senior. Wie das biblisch begründete Königtum Gottes und Christi als Königs der Könige (oben: § 165), so konnte der dominus der Vulgata und der christlichen Liturgie „im germanischen Bereich gar nicht anders aufgefaßt werden als in Parallele zum irdischen König. Herrschaft erscheint somit als das Wesen des Königtums, doch ist sie, geht man vom Sprachlichen aus, nicht eine Herrschaft sui generis, sondern von der Herrschaft anderer Herren nur dem Grade, nicht dem Wesen nach unterschieden. Eine scharfe Unterscheidung von Königsrecht und Volksrecht . . . findet von hier aus keine Stütze. Der König ist in alter Zeit nicht nur Herr, sondern auch Repräsentant des Volkes, wie das gotische Wort thiudans erkennen läßt, eine n-Bildung wie truhtîn“ (zum Stamme thiud = Volk, oben: § 275a, bzw. trût = vertrauter Freund). „Diese n-Bildungen haben repräsentative und individualisierende Bedeutung. Ob das ihnen später innewohnende Moment der Herrschaft ursprünglich ist, ist fraglich“ (ebd. S. 138 f.). Dem wäre weiter nachzugehen. Denn anders, als Schlesinger es tut, wollen wir die biblisch-christliche Vorstellung von einer absoluten Königs- und Herrengewalt, als etwas den fränkischen Reichsvölkern von außen her Aufgepfropftes, unterscheiden von der diesen Völkern eigenen Auffassung ihrer Oberen, Häupter, Fürsten und Herren als nur mit ihrem Willen, ihrem tätigen, auch bewaffneten Beistande vollmächtiger Worthalter, die nur bei gegebener Identität des ihren mit dem Volkswillen von den Untertanen Gehorsam und Hilfe mit Ehre, Leib und Gut (oben: § 396) verlangen konnten. Und jener fremden, nicht dieser ihrer eigenen Auffassung entstammt das „Moment der Herrschaft“. Wie die europäische Verfassungsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit beweist, vermochte keine der beiden Auffassungen jemals die andere zu überwältigen: Nicht einmal im Zeitalter des Absolutismus ist die volkliche der christlich-obrigkeitlichen, nicht einmal im Zeitalter der Revolutionen die letztere der volklichen erlegen. Es ist daher die Aufgabe der Verfassungsgeschichte, den Wettstreit und die Widerstrebigkeit beider Auffassungen und die Interessenten, die sich ihrer bedienten, darzustellen. Diese Aufgabe aber kann erst dann gelöst werden, wenn die bisher mißachtete volksrechtliche Auffassung genauso sorgfältig und umfassend erforscht ist wie die christlich-obrigkeitliche, die zugleich die vom Bildungsmonopol der Kirchen begünstigte klerikal-gelehrte Auffassung darstellt und als solche seit jeher eine ebenso breite wie parteiliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Was aber die Auffassung der Völker betrifft, so war ihr, wir wiederholen es, das „Moment der Herrschaft“ ursprünglich fremd. Sie kannte lediglich die Autorität (oben: § 389) des gotischen thiudans oder Worthalters seines Volkes, als den wir dem Leser Grafen (oben: §§ 276, 279, 284, 310), Grundherren und Vögte (oben: §§ 362, 363, 367) bereits vorgestellt und nun auch Fürsten und Könige zu erweisen haben.
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§ 408. Die ahd. Begriffsbildung war angeregt worden, als die Franken in Gallien die Spätformen römischer Staatsgewalt kennenlernten und genötigt waren, sie mit den eigenen Einrichtungen zu vergleichen. Da bedurften sie einer Übersetzung von lat. dominus, einem Worte, das in der Spätantike Gewalthaber aller Art vom geringen Eigentümer eines einzigen Sklaven bis hinauf zum Imperator und Beherrscher des Weltreichs bezeichnet hatte. In den Rechtstexten der fränkischen Zeit erscheint es dagegen im wesentlichen nur noch in zwei Bereichen: Einerseits diente es als prägnanter Ausdruck für den höchsten Gewalthaber sowohl auf Erden wie im Himmel, für den König also, der nicht nur in den Augen der romanischen Bevölkerung an die Stelle des Kaisers getreten war, und für Christus und Gott (W. Schlesinger 1956 S. 138. K. Kroeschell 1968 S. 24); andererseits bezeichnete es den Gebieter über Vieh, Knechte und Grundbesitz, als den die Franken den Possessor des römischen Vulgarrechts vorfanden. Das aus dem römischen Steuerrecht hergekommene Herren- oder Obereigentum des Possessors pflegte man in Privaturkunden seit dem 8. Jahrhundert, eingedenk seines öffentlichen, staatlichen und folglich jetzt königlichen Ursprungs (oben: §§ 350, 351, 378), regelmäßig als dominium zu bezeichnen (oben: §§ 96, 105, 136, 295, 353. D. Willoweit in LMA 3 Sp. 1223). Als ahd. Äquivalent für lat. dominus kamen, wenn der höchste Gewalthaber gemeint war, die beiden einzigen aus alter Zeit ererbten Worte für den Inhaber einer Befehlsgewalt, nämlich frô und truhtîn, in Betracht. Dagegen fehlte es an einem Äquivalent, um den dominus als Herrn eines königlichen Hebebezirks oder Possessor zu benennen, da diese Institution den Franken von Hause aus unbekannt und nicht mit derjenigen eines germanischen Haus-, Leib- und Grundherrn zu vergleichen war (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 188 f. Oben: § 349). Diese Lücke nun füllte der Sprachgebrauch mittels einer Nachbildung des lat. Wortes senior aus. Man griff auf den Komparativ hêrro zu dem Adjektiv hêr, gleich alt, ehrwürdig, zurück, benutzte ihn aber nunmehr als Substantiv. Der Begriff hêrro kommt nur in den Sprachen der späteren ostfränkisch-deutschen Reichsvölker vor; im Gegensatz zu frô und truhtîn entstammte er nicht dem älteren, allgemein westgermanischen Sprachgut und kann daher frühestens in der Merowingerzeit geprägt worden sein (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 188, 190 f. K. Kroeschell 1968 S. 18 – 27. D. Willoweit in LMA 4 Sp. 2176 f.). Ein Adjektiv ,herrschaftlich‘ ließ sich freilich von dem substantivierten Komparativ nicht abermals ableiten. Um lat. dominicus zu übersetzen, bot sich jedoch ein Ausweg an, von dem sogleich zu reden sein wird. Lange Zeit gehörte das Wort hêrro ganz dem irdischen Leben und dessen Privatbereich an, wo es die Standeserhöhung des Gebietenden gegenüber dem unmittelbar untergebenen Hörigen, dem persönlichen Diener, scalc, kneht, sculdheizo, ambaht, man, zum Ausdruck brachte (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 175, 178 f.). Erst ganz am Ende der ahd. Zeit, bei Notker dem Deutschen, begann das Wort in den Bereich religiöser Vorstellungen einzudringen und, an Stelle des im Rückzuge begriffenen truhtîn, auch auf Gott und Christus bezogen zu werden (ebd. S. 173. W. Braune, Lesebuch 1928 S. 49 Nr. 8 Z. 12, 20, 26). Es ist deutlich, daß der dominus, den sich die Franken mit senior oder
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hêrro zu bezeichnen gewöhnten, der Wortgeschichte zufolge eher ein Herr über im germanischen Verständnis unfreie Leute war, über Leute nämlich, die dem Könige nicht, wie es Freie zu tun pflegten, mit Rat und Tat, sondern gleich Knechten mit Zinsen und meist bäuerlichen (Hand- und Spann-)Diensten zu Hilfe kamen. § 409. Da sich von den beiden Worten, die demnach als Namen für die Herrschaft über Freie in Betracht kamen, der Begriff truhtîn speziell auf den militärischen Bereich bezog, hätte das Ahd. zunächst dem früheren, allgemein westgermanischen Sprachgebrauch folgen und zur Bezeichnung der Häuptlinge, die das Volk zum Gerichtstage versammelten und in der Dingversammlung das Wort führten, den Ausdruck frô (westgermanisch *frawô, Plural: *frawon) übernehmen können, der sowohl lat. dominus in der erstgenannten Bedeutung eines höchsten Gewalthabers als auch lat. princeps und rex übersetzen konnte; vermutlich hatten Cäsars und Tacitus’ Gewährsleute germanisches *frawon gehört, wenn sie den Römern über die principes ihrer Gegner berichteten (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 189, 199). Nichts weist darauf hin, daß das Wort ursprünglich den Hausherrn bezeichnet habe, obwohl die *frawon natürlich auch Hausherren gewesen sein müssen. Aber jenes alte, in Friedenszeiten vom Volke nicht bevollmächtigte, sondern lediglich mit Autorität bekleidete Fürstentum (oben: § 307) war, seit die germanischen Kleinvölker in den Reichsvölkern der Franken, Sachsen, Bayern, Alamannen aufgegangen und ihre Worthalter in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts (H. H. Anton in LMA 5 Sp. 1300) von merowingischen Königen und fränkischen Herzögen abhängig geworden, untergegangen. Die Großen oder Fürsten des Fränkischen Reiches (principes, proceres, primates, maiores, magnates, meliores, optimates, seniores) waren von den alten Häuptlingen nicht nur deswegen, weil sie königlicher Zulassung oder Bestallung bedurften, sondern auch weil sie in die Rechte römischer Possessoren eingetreten waren und nun als Großgrundbesitzer lebten, so verschieden, daß die alten Bezeichnungen thiod für das Gerichtsvolk (oben: § 275a) und *frawon für dessen Häupter rasch außer Gebrauch kamen (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 191, 199). Nur der Vokativ erhielt sich in ahd. Zeit in der zur Formel erstarrten Anrede frô mîn für den König, für die Engel als Gottesboten und für Christus (Ahd. Wb. 3 Sp. 1278 f.). Gebräuchlich blieben aber auch, weil es weder zu truhtîn noch zu hêrro und verwandten Neubildungen ein Femininum oder ein Adjektiv gab, die weibliche Form frouwa = Herrin (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 189) und der zum indeklinablen Adjektiv erstarrte maskuline Genitiv Plural frôno als Übersetzung für lat. dominicus, das noch lange zu lat. dominus im prägnanten Sinne eines höchsten Gewalthabers gehörige Eigenschaftswort, welches ,dem Könige oder Gott zu eigen, königlich, göttlich‘ bedeutete und daher schließlich auch mit publicus oder communis ,öffentlich, dem Gemeinwesen eigen, staatlich‘ gleichgesetzt wurde. Der Plural der Ausgangsform erinnert daran, daß die alten germanischen principes stets in der Mehrzahl, jedoch als Gesamtperson auftretend sich beraten und die Volksversammlung
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geleitet hatten (Ahd. Wb. 3 Sp. 1285 ff. G. Ehrismann 1905 / 06 S. 191 – 196, 200. W. Schlesinger 1956 S. 137), und daß der fränkische König in den Gauen an die Stelle dieser Gesamtperson getreten war. So erklärt denn auch das Verbum (gi)frônen lat. publicari ,jemandes Privatbesitz zugunsten der Staatskasse beschlagnahmen‘ und das Kompositum frônohof lat. fiscus, curtis dominica ,Königsgut, Königshof‘ (Ahd. Wb. 3 Sp. 1281 f., 1288). Erst spät nahm ahd. frôno auch die Bedeutung des Adjektivs grundherrschaftlich an, und erst im Mhd. bildete sich das Verbum vrônen = Frondienste leisten, in dem sich der Bezug auf die Sphäre des öffentlichen Gerichtes allmählich verlor (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 194 f.). § 410. Da sich für die Großen des Fränkischen Reiches der ahd. Ausdruck frô nicht mehr eignete, die Neubildung hêrro aber eigentlich den zur Hebung von Zinsen, Abgaben und Diensten berechtigten Grund- und Schutzherrn bezeichnete, bedurfte die Volkssprache eines weiteren Wortes für die Vornehmen, die zusammen mit dem Herzog oder König ein Teilreich oder das Gesamtreich regierten und von denen viele zugleich in der Stellung von Grafen, Herzögen oder Bischöfen bestimmten Partikularverbänden als Häupter und dem Könige als Amtleute verpflichtet waren. Hierfür bediente man sich nebeneinander der ahd. Superlative hêrôsto (zum Positiv hêr und Komparativ hêrro) als Äquivalents für lat. princeps, primus, presul, dux, satrapa, und ahd. furisto (zum Adverb furi = vorwärts) für lat. summus oder princeps (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 174 f., 178 f., 191 – 193. H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 1029). Wie dem hêrro die Hörigen und Schutzbefohlenen, so standen dem hêrôsto und furisto die dheoda gegenüber, das gemeine, geeinte Volk seiner Rechtsgenossen, also eine abgegrenzte Gruppe, innerhalb deren der Fürst der Erste war. Alsbald allerdings begann der Sprachgebrauch das Wort hêrro dem Sinne nach diesem Begriff des Fürsten anzugleichen, denn zu hêrôsto ließ sich kein Vokativ bilden, so daß als förmlicher Titel der Vornehmen ebenfalls hêrro gebraucht werden mußte. Es kam hinzu, daß die Untertanen der hêrron im 9. Jahrhundert darangingen, sich zu Hofrechtsgemeinden zusammenzuschließen und ihre Herren ebenso zu Häuptern anzunehmen, wie es die Volksrechtsgemeinden taten, ein Vorgang, der zwar die Willkür der Herren beschränkte, ihren Rang aber erhöhte und dem der Fürsten annäherte (oben: §§ 368 – 376). Die Angleichung drückt sich in dem endlichen Aufkommen der ahd. Composita hêrtuom, eines Äquivalents zu lat. principatus, res publica, und ahd. hêrscaft, as. hêrscepi, zu lat. principatus, dignitas (hier neben ahd. frambârî), auctoritas (hier neben ahd. hêrtuom), dominatio, magistratus (hier neben ahd. hêriro) und praefectura aus (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 7 S. 303. H. Götz, Wb. 1999 S. 63, 197, 211, 387, 519, 570). Man erkennt die Künstlichkeit der in den Schulen geprägten ahd. Begriffe für uralte römische Institutionen, zu denen der germanischen Welt keine Entsprechungen bekannt waren. Es ist die Frage, ob man aus der Glossierung von lat. res publica mit ahd. hêrtuom „den herrschaftlichen Charakter des frühmittelalterlichen Staatswesens, der der Forschung heute bekannt ist, erschließen“ und behaupten kann: „Das Bedeu-
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tungsfeld von res publica hat sich im Vergleich mit der sogenannten ,klassischen‘ Latinität dadurch geändert, daß es den Begriff der Herrschaft in sich aufgenommen hat. Dahinter steht natürlich ein Wandel in der Sache selbst“ (W. Schlesinger 1956 S. 140 Anm.), nämlich die Verherrschaftlichung des Staates. Eher aber scheint sich die Sache umgekehrt zu verhalten: Der Begriff des hêrro nahm Vorstellungselemente aus dem Worte furisto in sich auf, das den Ersten in seinem Gerichtsvolke meinte. Denn wir haben gesehen, daß sich noch im 9. Jahrhundert das Adjektiv publicus auf alles bezog, was im conventus populi vor sich ging und dem Grafschaftsvolke bekannt wurde oder ihm gehörte (oben: §§ 275b, 279, 297, 300), so daß die res publica immer noch als Sache des Volkes verstanden werden mußte, und wenn man den lat. Begriff auch mit ahd. frônothing und frônoreht wiedergeben konnte (H. Götz, Wb. 1999 S. 570), so war hier ahd. frôno noch als Genitiv Plural ganz wörtlich zu nehmen: Sache des Volkes war das Ding seiner principes oder Fürsten, die es im Einvernehmen mit ihm leiteten, und mit ahd. hêrtuom meinte man diese Verbandsherrschaft. § 411. Gemeinsame, einhellige, genossenschaftliche und gesamthänderische Vollmächtigkeit und Amtswaltung waren überhaupt ein Merkmal der verfassungsmäßigen Stellung wie einst der germanischen Gaufürsten, so hernach der Fürsten und Großen sowohl innerhalb der Partikularverbände, denen sie angehörten, als auch im Fränkischen Reiche (oben: §§ 163, 208). Die Satrapen der Sachsen hatten einst als Gruppe oder Gesamtperson das aus den vereinigten Gauvölkern zusammengesetzte Groß- oder Reichsvolk regiert, solange es sich die Unabhängigkeit von den Franken bewahrte (oben: §§ 78, 87, 88). Als Gruppenbegriff verwendet, steht der lat. Plural satrapae neben dem Plural proceres (oben: § 119), der mit ahd. (thie) fordaron, frambâre (zum Adverb fram = vorwärts), (thie) furiston, (thie) gommun = Mannen, (thie) hêr(i)ren glossiert wird (H. Götz, Wb. 1999 S. 523) und bei den fränkischen Schriftstellern die Gesamtheit der an der Reichsregierung beteiligten Großen zu bezeichnen pflegt. Unter seinen ahd. Äquivalenten gewann seit dem 10. Jahrhundert der Ausdruck furiston, auch als Titel für die Herzöge und vornehmen Fürsten des Ostfränkisch-deutschen Reiches, die Oberhand; hêrôsto wurde dafür aufgegeben, da es, weil neben dem Positiv hêr stehend, dem Sprachbewußtsein stets als Superlativ gegenwärtig blieb. Furisto dagegen vermochte den superlativen Charakter abzulegen, weil der Zusammenhang mit dem Adverb furi verlorenging (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 193). So spiegelt die Wortgeschichte in der Abfolge der Begriffe *frawon für die altgermanischen Häuptlinge, hêrôston / hêrron für die fränkischen Optimaten und furiston für die Fürsten des Deutschen Reiches (ebd. S. 199) zugleich die wichtigsten Epochen der Verfassungsgeschichte des frühen Mittelalters wider. Erst neben den furiston findet sich das Wort hêrscaf als endlicher Oberbegriff für alle Arten von individueller oder monarchischer Verbandshauptmannschaft. Solange die ahd. Sprachperiode währte, gehörte zur adligen Erziehung das Auswendiglernen des eigenen Volksrechtes, welches König Karl der Große seinen Amtleuten und Edlen ausdrücklich zur Pflicht gemacht hatte (oben: § 54), ein Me-
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morieren, das sich gewiß auch auf jene Gesetze erstreckte, die das Verhältnis des Volkes und seiner Fürsten zu König und Reich betrafen. Von dem Grafen Udalrich von Ebersberg, der hochbetagt im Jahre 1029 gestorben ist, hören wir anläßlich eines Raisonnements über den Verfall der Sitten in einer Zeit, da niemand mehr ehrlich leben konnte, die Bemerkung: Cum Romani terrarum orbi imperarent, ita moderamine legum scripto regebatur, ut nulli impune cederet factum, quod lex vetuerat. Postquam vero Germanum regnum a Romanis recesserat, Sigipertus et Theodericus ac deinde Carulus iura dictabant, quae si quis potens ac nobilis legere nesciret, ignominiosus videbatur, sicut in me coevisque meis, qui iura didicimus, apparet. Moderni vero filios suos neglegunt iura docere; qui quandoque pro suo libitu et possibilitate mendoso iure quosque iuvant aut deprimunt et per exlegem temeritatem (Chron. Ebersp. S. 14 Z. 23 – 29). Offensichtlich neigte sich jetzt die Zeit dem Ende zu, in der das Volk seinen Fürsten in erster Linie die Aufgabe beigelegt hatte, sich und dem Reiche Frieden, Recht und Eintracht zu wahren, weil es sah, wie sich das Streben nach Herrschaft und obrigkeitlicher Gewalt in den Vordergrund drängte. Veränderte Umstände wie das Aufkommen des agnatischen Geschlechtsverbandes (oben: §§ 104, unten: § 454), die Aufnahme neufreier Rechtsgenossen in die Dinggemeinden (oben: §§ 120, 153, 155, 279) und die Verselbständigung der Cometien (oben: §§ 326, 328) hatten begonnen, das Ansehen der Urteilsfinder (oben: §§ 312, 315) und der Dinggrafen (oben: § 283, unten: §§ 449, 455) so weit zu mindern, daß mit der Bekleidung dieser Ämter keine adlige Ehre mehr zu gewinnen war und sich die Großen einem anderen Bildungsideal zuwandten, von dem hernach die mhd. Dichtung so glanzvoll Zeugnis ablegen sollte, in dem aber das Memorieren von Gesetzen nicht mehr enthalten war.
§§ 412 – 418. Kur und Bestallung § 412. Es wäre demnach durchaus zulässig, die im 18. Jahrhundert getroffene Feststellung: mit imperativem Mandat zu Kongreß oder Tagfahrt entsandte Sprecher, die an die Zustimmung der Vertretenen gebunden wären und von ihnen abberufen werden könnten, seien in Wahrheit Beamte der entsendenden Gemeinden (oben: § 390), – diese Feststellung auf die Großen und Fürsten des Ostfränkischdeutschen Reiches und dessen Reichs- und Teilreichstage zu übertragen, auch wenn ihre analytische Präzision aus gedanklichen Reflexionen entsprang, die im früheren Mittelalter noch niemand anzustellen vermochte. Fürsten und Große des karolingischen und Ostfränkischen Reiches waren in erster Linie Worthalter des Volkes in seinen partikularen Untertanenverbänden, auf deren Beistand und Gehorsam ihre Vollmacht auch dann beruhte, wenn sie zur Reichsversammlung zusammentraten. Unsere Verfassungslehre ist daher bereits in ihrem Ersten Teil mehrfach und immer wieder auf die Frage zu sprechen gekommen, in welcher Weise Fürsten und Große vom Volke ihre Vollmacht erhielten und in ihr Amt gelangten. Da die
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Antwort auf diese Frage den Kern der Reichsverfassung betrifft, mit der wir uns jetzt befassen, ist es geboten zusammenzufassen, was darüber aus der Sicht der Gemeinden und Gemeindeverbände oder aus der Sicht auf das Reichsgebäude von unten her bereits ermittelt worden ist. In dieser Sicht stellt sich das Fürstentum natürlich als ein Geschöpf des germanisch-deutschen Genossenschafts- und Einungsrechtes dar, und wir haben die Frage zu beantworten, ob dieses auch aus der Sicht der Reichsverfassung auf die Gemeinden zutrifft oder ob sich aus der Sicht von oben her ein anderer Eindruck, ein richtigeres Urteil ergibt. Was die Ortsgemeinden anlangt, so verharrten sie sehr lange bei der Form der älteren Genossenschaft, die ihre Angelegenheiten gesamthänderisch in der Versammlung aller Genossen oder cives zu besorgen vermochte (oben: §§ 16, 223 – 227). Den Anlaß, um aus der Versammlung eine Behörde auszuscheiden, boten zuerst die gemeindlichen Aufgaben in der nach dem dinggenossenschaftlichen Prinzip (oben: § 172) geordneten Rechtspflege. Aus karolingischen Kapitularien wissen wir, daß die Grafschaftsgemeinden aus dem Kreise ihrer principes, proceres oder cives für den Schöffendienst geeignete Personen auszulesen hatten, während es Sache des Königs war, diese ihm benannten Personen zu bestallen (oben: §§ 248 – 250, 309 – 314). Der karolingische König ließ diese seine Aufgabe durch seine Amtleute, seien es Königsboten oder Grafen, sein ostfränkisch-deutscher Nachfolger durch die Gerichts- und Landesherren erfüllen. So deutlich jedoch, wie die Quellen zwischen dem Recht des Volkes zu kiesen, eligere, und dem Recht des Königs zu bestallen, constituere, unterscheiden (oben: § 311) und damit das Zusammenwirken beider Teile bei der Erhebung der Schöffen vorschreiben, so wenig ist ihnen daran gelegen, den Inhalt beider Rechte zu bestimmen. Wir erfahren weder darüber etwas, wer die Eignung prüfte und worauf es dabei ankam, noch ob die Kur mit einer formalen Nominierung endete und wie das Volk die Erwählten dazu ermächtigte, in seinem Namen zu amtieren. Es spricht nicht für die Sorgfalt der Kiesenden, daß sich die Abstammung von einem Vater, der bereits als Schöffe gedient hatte, sehr bald als wichtigstes Merkmal für die Eignung durchsetzte, die Qualifikation also erblich zu werden begann. Ebensowenig hören wir, wie der König die Vereidigung und Bestallung (Einweisung in einen Sitz auf der Schöffenbank?) vornehmen ließ und ob darin die ausdrückliche Ermächtigung oder Übertragung der Amtspflichten enthalten war. Erkennbar ist lediglich, daß Kur und Bestallung einhellig vor sich gehen mußten, aber niemand dachte darüber nach, ob daraus dem Könige das Recht erwuchs, sich an der Kur zu beteiligen, oder ob ihm bloß ein Vetorecht gegenüber der Nomination zustand. War das erstere der Fall, so mochte sich die Kur der Gemeinde alsbald auf bloße Annehmung oder Ablehnung vom Könige bezeichneter Männer beschränken. Bei der Unbestimmtheit des königlichen Rechtes zu konstituieren konnte bereits die Designation auch als Bestallung aufgefaßt werden, so daß von dem Recht der Gemeinde lediglich die Annehmung oder Akklamation übrigblieb. Nur wegen solcher begrifflichen Unklarheiten konnte sich überhaupt die Ansicht ausbilden, daß das Schöffenamt erblich sei.
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§ 413. Auf dieselbe Weise wie die Schöffenstellen sollten die nicht kollegial, sondern mit Einzelpersonen zu besetzenden gerichtlichen Ämter des Notars, des Niederrichters (Zentenars), des Vogtes, des Prêvót besetzt werden (oben: § 311). Noch im Spätmittelalter erlangte in den Landgemeinden, die sich niemals über die Verfassung herrschaftlicher Genossenschaften zu erheben vermochten, der Gemeindevorsteher oder Burmeister sein Amt gemäß dieser Regel (oben: § 247), und zwar, wie bei Gemeindeämtern jetzt üblich, auf Jahresfrist. Er wurde von der Gemeinde erwählt oder, wenn das Amt im Reihedienst umlief, angenommen und vom Landesherrn bestallt, ohne daß wir erfahren, ob er Amtsvollmacht und Zwangsgewalt von der Gemeinde empfing, die ihm mit Annehmung und Nomination implizit Beistand und Gehorsam gelobte, so daß der Landesherr diese Ermächtigung bloß bestätigte, oder ob ihm erst dessen Bestallung Vollmacht, Gebotsgewalt und Anspruch auf Gehorsam gewährte. Da der Bauermeister in der Enge dörflicher Verhältnisse kaum in der Lage war, eine Amtshandlung ohne Vorwissen und Beistand der Gemeinde vorzunehmen, konnte durchaus in der Gemeinde die erste, am Hofe des fernen Landesherrn dagegen die zweite Auffassung bestehen. Stadtgemeinden vermochten sich leichter als Landgemeinden den Status freier Einungen zu erkämpfen (oben: §§ 217, 218) und ihre Gemeindebehörde nach den Grundsätzen der Kollegialität und Annuität derart auszugestalten, daß das Gemeinderecht durch die Periodizität der Bürgerversammlung gewahrt blieb. Auch bei der jährlichen Erneuerung der Gemeindebehörde sind die Kur oder Auslese der zum Amte geeigneten Personen und deren Einsetzung in das oder Bevollmächtigung zu dem Amte voneinander zu unterscheiden (oben: §§ 17 – 19, 244 – 246, 250 – 252, 314). Indessen je weiter das Kommuneprivileg und mit ihm die Einungsfreiheit reichte, je vollständiger daher der Stadtherr seinem Bestallungsrecht entsagte, desto weniger Anlaß bestand für das Stadtrecht, die Formen genau zu bestimmen, in denen die Gemeinde ihre Behörde ermächtigte, in ihrem Namen zu sprechen und zu handeln. Sehr häufig dagegen haben die Gemeinden in Bürgerrezessen die Grenzen dieser Vollmacht und die wichtigen oder gar hochbeschwerlichen Geschäfte bestimmt, in denen sie sich die Entscheidung selbst vorbehielten (oben: § 19. E. Pitz 2001 §§ 66, 215). Hatte der Stadtherr in dem Kommuneprivileg nur ein beschränktes Einungs- und Behördenrecht zugestanden, so zeigt sich das Bestallungsrecht in derselben unbestimmten Weise zwischen ihm und der Stadtgemeinde geteilt, wie bei den Landgemeinden. Daher bedurfte es keiner Revolution, damit im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus viele Städte ihren Anteil daran völlig preisgeben konnten: Sie duldeten es und fanden es sogar bequem, daß die Gemeindebehörde alle Macht vom Stadtherrn empfing. § 414. Die karolingischen sogenannten Beamtenvögte waren Amtleute geringen Ranges mit der sehr beschränkten privaten Vollmacht eines gerichtlichen Fürsprechers oder bloß vermögensrechtlichen Geschäftsführers; diese empfingen sie von dem Prälaten der Kirche, deren Liegenschaften oder sonstige Interessen sie gegebenenfalls im Grafengericht und in den Grafschaftsversammlungen zu vertreten hatten. Da die Bischofskirchen aber ebenso wie alle großen Benediktinerklöster
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mit Reichsgut ausgestattet waren oder unter Königsschutz standen, hatte auch der König Anlaß, sich an der Bestallung der Vögte zu beteiligen. Er wird seine dahingehenden eigenkirchen- und schutzherrlichen Rechte durch seine Königsboten oder durch den Grafen und das Grafschaftsvolk haben ausüben lassen, in deren Bezirk der Vogt tätig werden sollte. Ob man dabei, wie bei der Auslese und Bestallung der Fürsprecher überhaupt (oben: § 311), bereits zwischen electio und constitutio unterschied, mag dahingestellt bleiben. Später im Ostfränkisch-deutschen Reiche veränderten sich die Aufgaben der Kirchenvögte grundlegend, je mehr der König im Einvernehmen mit den Prälaten die Immunität des Reichskirchengutes ausweitete und damit den Grafen und Grafschaftsverbänden die Aufgabe entzog, die Kirchen zu beschützen. An die Stelle der Grafen aller jener Gaue, in denen eine Kirche begütert war, traten als Beschützer nun die Vögte. In dieser Stellung aber bedurften sie neben der privaten Vollmacht als Anwälte, die ihnen die Prälaten erteilten, einer öffentlichen Vollmacht von Seiten des Königs oder des Volkes. Spätestens jetzt kam es auch bei der Erhebung der Kirchenvögte dahin, daß electio und constitutio als unterscheidbare und unterschiedene Akte nebeneinander traten (E. E. Stengel 1910 S. 518. R. Scheyhing 1960 S. 315. Oben: § 362). Da nun aus der Kirchenvogtei ein öffentliches Amt geworden war, setzten König und Prälaten an die Stelle der mehreren Einzelvögte einen einzigen Edel- oder Schirmvogt, der in dem gesamten Immunitätsgebiet alle Aufgaben der jeweiligen Grafen mit Ausnahme der Blutgerichtsbarkeit zu übernehmen vermochte (oben: §§ 322a.b, 362, 363, 375). Die Erhebung des Vogtes warf seither neue, der karolingischen Beamtenvogtei noch fremde Probleme auf. Was die Wähler betraf, so traten zu den Prälaten nebst ihren Domkapiteln bzw. Klosterkonventen und deren königlichem Kirch- und Schutzherrn die Worthalter der Hofrechtsverbände hinzu, welche, je kräftiger die Immunität den Bezirk des Kirchengutes nach außen hin abschloß, desto vollständiger an die Stelle der Grafschaftsvölker traten, die Karl der Große als Mitbeschützer anerkannt hatte. Die maßgebliche Kurstimme aber beanspruchte der König, der ihrem und dem Sonderinteresse der Kirchen gegenüber das Gesamtinteresse des Reichsuntertanenverbandes wahrzunehmen hatte, auch wenn er den Kirchen zunächst vereinzelt, seit Beginn des 11. Jahrhunderts aber allgemein per Privileg das Recht zugestand, ihren Vogt selbst zu kiesen, und sich damit auf ein Vetorecht beschränkte, falls er den Erwählten für ungeeignet befand. Solange er selbst den Vogt aus den Fürsten und Vornehmen des Reiches auslas, blieb den Kirchen und ihren Hofrechtsgemeinden nur das Recht der Annehmung übrig, die sie an die Bedingungen einer Wahlkapitulation oder eines Herrschaftsvertrages binden konnten. Einzelheiten blieben bis in den Investiturstreit hinein ungeregelt, da man bis dahin so, wie früher, von der endlichen Einhelligkeit des Willens aller Kurberechtigten ausgehen konnte. Was die Bevollmächtigung oder Bestallung des nunmehrigen Hoch- oder Schirmvogtes anging, so konnte sie nicht mehr allein von dem Prälaten ausgehen,
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da sie jetzt weit mehr Rechte übertragen mußte, als der karolingische Beamtenvogt hatte ausüben sollen, nämlich hoheitliche Rechte, welche weder die Prälaten noch die lediglich aus Unfreien und Neufreien bestehenden Hofrechtsgemeinden, sondern allein die Könige besaßen und die daher nur ein König dem zum Vogte Erkorenen übertragen konnte. (Der König seinerseits hatte sie bei seiner eigenen Erhebung von dem Reichsuntertanenverbande empfangen, der ihm die königlichen Amtsvollmachten verlieh; Reichsuntertanen aber waren seit jeher vor allem Altfreie, die keiner Bevogtung bedurften und neufreien Gemeinden bei der Königswahl nie mehr als ein Folge- und Annehmungsrecht gewährten.) Wegen all dieser besonderen Umstände ist die Bevollmächtigung der Hochvögte – anders als die der Grafen und aller anderen Fürsten und Großen – schon seit dem 10. Jahrhundert von der Reichsregierung reguliert worden. Was der König dem Vogte übertrug, bezeichnete man zunächst als den Königsbann und später als Blutbann. Die Übertragung war eine volks-, land- und reichsrechtliche Institution, nämlich eine Amtsvollmacht, die der Empfänger weder als Eigentum noch als Rechtsame (oben: § 99) behandeln konnte und die ihm daher auch keinerlei Vasallenpflichten auferlegte (oben: § 322b). Seine Pflichten regulierten allein das Volksrecht und der Herrschaftsvertrag mit dem bevogteten Untertanenverbande, an den sich auch der König gebunden sah. § 415. Die Erhebung eines Mannes zum Kirchenvogte stellt sich als Abfolge miteinander verketteter und sich gegenseitig ergänzender Einzelakte dar, die mit der Dichotomie von Kur und Bestallung nur unvollkommen beschrieben wird. Trotz der Vielzahl der an dieser Kettenhandlung beteiligten Personen und Personenverbände unterblieb jede genauere Regulierung der Anteile, ihres Rechtsinhaltes und der Reihenfolge, in der die Teilakte vorzunehmen waren. Der König konnte sogar sein Recht der ersten Kur oder Designation dergestalt ausüben, daß er es in der Form der Bestallung durch Bannleihe vollzog, ohne daß er dadurch dem Rechte der Prälaten und Hofrechtsverbände, den Designierten zu kiesen oder anzunehmen, vorgegriffen hätte. Offenbar bedurfte man keiner Definitionen. Verständlich ist dies alles nur unter der Voraussetzung, daß nach den Regeln identischer Willensbildung erst die Einhelligkeit oder der Konsens aller Beteiligten und folglich die Vollständigkeit der Handlungskette die Einzelakte rechtskräftig werden ließ, wer immer als erster oder letzter seinen Willen dazu beitrug. Wenn man daher dem Könige zwar den Vorrang eines Ersten unter den Fürsten, nicht aber die Vorrechte einer Obrigkeit zubilligte, so setzt dies voraus, daß auch der König ein vom Volke erhobener Amtmann war und seine Rechte aus derselben Quelle geschöpft hatte wie Prälaten und Hofrechtsgemeinden. Die Ansicht christlicher Prediger und Gelehrter darüber, was ihm Gott an Vollmachten gegeben haben mochte, hatte für die Rechtsauffassung und politische Praxis des Volkes keine Bedeutung. Sie bekräftigte lediglich den Vorrang und die Autorität, die das Volk dem Herrscher beilegte. Hieraus läßt sich eine Vermutung über den Rechtsgrund ableiten, auf dem das von Historikern für eigenständig erklärte und daher dem Verdacht der Usurpation
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ausgesetzte Recht des Adels auf Herrschaftsausübung (oben: § 406) beruht haben mag. Denn nach germanischem Rechtsgefühl kam als Quelle für Herrenrechte weiter nichts als der zustimmende Wille des Volkes in Betracht, und dieser Wille mußte nach den Regeln des Identitätssystems zumindest in einem Akte der Annehmung oder Huldigung Ausdruck finden, wie sehr auch immer das Volk bereit war, selbst unerprobten Männern um der Verdienste ihrer Eltern und Voreltern willen ein hohes Maß an Autorität beizulegen. Was (oben: §§ 144a-146, 206, 207) hinsichtlich der Überführung des Dynastenprivilegs in die Volks- und Landrechte, die gegen den Willen und die Rechtsauffassungen der Grafschaftsgemeinden und lokalen Dinggenossenschaften nicht hätte stattfinden können, sowie über das Angewiesensein der Allodialherrschaft auf die Annehmung jedes neuen Herrn von Seiten seiner Untertanen ausgeführt worden ist, veranlaßt mich dazu, diesen Untertanenverbänden dieselbe verfassungsmäßige Stellung beizulegen, welche den Dingverbänden überhaupt bei der Erhebung der Schöffen und den Hofrechtsgemeinden bei Erhebung der Vögte nach den Regeln identischer Willensbildung zukam, auch wenn die Quellen des hohen Mittelalters das politische und Rechtsleben dieser Verbände vollständig im Dunkeln liegen lassen. Zwischen Kur und Bestallung zu unterscheiden, hatte das Dingvolk einer Allodialherrschaft ebensowenig wie der Untertanenverband des Reiches Anlaß, da Allodialherren genausowenig ein zum Bestallen berechtigtes Haupt über sich hatten wie der König. Wie im Reiche, so lagen in den Allodialherrschaften Kur und Ermächtigung des Herrn in derselben Hand, nämlich dort bei dem allgemeinen und hier bei dem partikularen Untertanenverbande. § 416. Was die Erhebung der Grafen anlangt, so berichten die Quellen allein von königlicher Ernennung, Belehnung oder Investitur, und gewöhnlich nimmt man auch an, daß nur der König dazu berechtigt war, die für das Amt geeignete Person zu bestimmen. Er war aber bei der Auslese nicht frei, sondern mußte Rücksicht nehmen auf das Indigenatsrecht, welches jedem Grafschaftsverbande zustand, und konnte nur solche Männer zu Grafen bestimmen, die den Grafschaftsleuten dem Stande nach ebenbürtig, zugleich aber durch Autorität und Vermögen (von den Vorfahren her) annehmbar waren (oben: § 276). Daher ist, obwohl wir von dingvölkischer Grafenwahl nichts hören, dennoch zu vermuten, daß den Grafschaftsgemeinden zumindest das Recht zustand, den vom Könige designierten Grafen förmlich anzunehmen und die Annehmung an die üblichen Bedingungen zu knüpfen. Denn dieses Recht verblieb ihnen auch dann, wenn sie, zum Reichsuntertanenverbande vereinigt, durch ihre Worthalter den König über sich erhoben und ihm als Teil seiner Amtsvollmacht ihr Recht übertrugen, den Grafen zu kiesen und zu bevollmächtigen. Dieses ihr Recht der Annehmung enthielt ein Vetorecht, so daß letzten Endes auch die Erhebung der Grafen nur in Einhelligkeit und Eintracht aller Beteiligten und in einer Kettenhandlung zur Rechtskraft gedeihen konnte – genauso, wie König und Volk gemeinsam den Grafen auf die Gerichtsherrschaft beschränkten, indem sie die Urteilsweisung den vom Volke erkorenen Schöffen übergaben und das Schöffeninstitut in die Volks- und Landrechte aufnahmen.
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Wir sind demnach berechtigt, auch die Erhebung der Grafen als Abfolge mehrerer Handlungen zu betrachten und grundsätzlich electio und constitutio, Auslese der am besten geeigneten Person und Bestallung oder Übertragung der Amtsvollmacht, voneinander zu trennen. Die Kur war so zwischen König und Volk geteilt, daß jenem die Designation, diesem die Annehmung zustand. Über die Formen der Bestallung erfahren wir allerdings ebensowenig etwas wie über die der Kur, da man erst seit dem Investiturstreit darüber nachzudenken begann (oben: § 319) und da die Grafen jede Schwäche der königlichen Gewalt dazu benutzten, Annehmung und Herrschaftsvertrag zu entwerten und sich zu Herren des Dingvolkes aufzuwerfen, gleichsam als ob sie keiner irdischen Vollmacht bedurft hätten, um befehlen und verbieten zu können (oben: § 284). Ob sie selbst daran geglaubt haben und die Dingvölker jemals zu dieser Ansicht bekehren konnten, steht dahin. § 417. Seit Kaiser Konstantins des Großen Regierungszeit waren die Bischöfe staatliche Amtleute, die allerdings anders als alle laikalen Beamten auch einer geistlichen Weihe bedurften, um die spirituellen Pflichten erfüllen zu können, die sie vor jenen auszeichneten. Auf das Verfahren der Erhebung hatte dieses Erfordernis keinen Einfluß, da nur der nach Staatsrecht gekorene und bestallte Bischof die Weihe empfangen konnte, diese also erst stattfand, nachdem die Erhebung abgeschlossen war. Gegenstand staatlicher Bestallung eines Bischofs waren die Vollmacht, das der Bischofskirche anvertraute Reichsgut zu verwalten, und die Verpflichtung, den staatlichen Anteil an dessen Ertrag gemäß den Anweisungen des Königs (servitium regis) verfügbar zu halten. Seit die karolingischen Herrscher auch die großen Benediktinerabteien des Fränkischen Reiches an der Verwaltung des Reichsgutes beteiligten, standen die Reichsäbte hinsichtlich ihrer Bestallung und Segnung den Bischöfen gleich: Sowohl die Bischofskirchen als auch die Reichsklöster wurden wie Eigenkirchen des Reiches behandelt (oben: § 356). Zwar stellten seit Papst Gregor VII. (1073 – 85) die Kirchenreformer das Erhebungsverfahren in Frage, aber an der Nachrangigkeit der Weihe vermochten sie außerhalb des Königreichs Italien nichts zu ändern. Seit jeher war der Bischof von Klerus und Volk einer vakanten Diözese gewählt worden. Da sich das Bistumsvolk dabei von seinen Worthaltern bevormunden ließ, hatte man niemals zu beachten brauchen, daß es nach Kirchenrecht aus allen Getauften gleich welchen Standes, nach Staatsrecht dagegen nur aus den Freien bestand. Denn bei einhelliger Kur, deren Vollzug man am Verstummen abweichender Meinungen erkannte, bedurfte es ohnehin keiner Kontrolle des Zugangs zur Wahlversammlung (oben: § 8). Wenn also seit dem letzten Viertel des 9. Jahrhunderts neben dem Klerus die bischöfliche familia als (Teil des) populus hervortrat (oben: § 375), so bedeutete dies nicht, daß Unfreie zur Akklamation zugelassen worden wären, sondern daß jetzt neben freien Diözesanen oder cives (oben: §§ 225, 231, 232) auch Sprecher der familia als Worthalter des Volkes Gehör fanden. Da das Wahlrecht von Klerus und Volk kirchenrechtlich gesichert war und daher weder von den alten Kaisern noch von germanischen Königen jemals hatte auf-
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gehoben werden können, wird deutlich, was hinsichtlich der Grafschaft nur zu vermuten ist: Wenn der König Bischöfe ernannte, so konnte er dies nur mit Willen des Volkes tun, das ihm das Recht hierzu übertragen hatte, als es ihn zu seinem Oberhaupte erhob. Wenn der König auf Ausübung seines Rechtes, den Bischof zu kiesen oder zu designieren, verzichtete, so trat daher das Wahlrecht von Klerus und Volk im alten Umfange wieder in Kraft; wenn aber der König sein Recht wahrnahm, so blieb dem Volke doch das Recht, den Nominierten anzunehmen bzw. ihn zurückzuweisen, wenn er sich weigerte, das Volks(kirchen)recht seiner freien Untertanen und das Hofrecht der bischöflichen familia zu beachten und damit in den üblichen Herrschaftsvertrag einzuwilligen. Dazu, den Abt eines Klosters zu kiesen, war nach der Benediktinerregel der Mönchskonvent berechtigt. Empfing ein Kloster Reichsgut zur Verwaltung, so nahm es in Kauf, nur noch vom Könige bezeichnete Männer kiesen zu können, sofern es nicht vom Könige das Privileg der freien Wahl zu erlangen vermochte. Die familia eines Klosters konnte wohl niemals mehr als ein Annehmungsrecht beanspruchen. Es ist also dem Einfluß des Kirchenrechts zuzuschreiben, daß bei der Erhebung der Bischöfe und Reichsäbte (ebenso wie bei der Bestimmung ihrer Vögte) die Unterscheidung zwischen electio und constitutio und die Aufteilung des Wahlrechts auf den König, die Kirche und das Volk nebst familia in den Quellen besonders deutlich hervortritt; die Vogtei war überhaupt nur deswegen notwendig, weil Bischöfe und Äbte bestimmte weltliche Amtspflichten nach kirchlich definiertem Standesrecht nicht selbst ausüben konnten. Und ebensowenig wie hinsichtlich der Vogtei wird die Annahme, jene Unterscheidungen hätten das Rechtsdenken und die Staatsauffassung des Volkes bestimmt, dadurch ausgeschlossen, daß der König nur zu oft sein Designationsrecht so ausübte, daß er den für geeignet Erkannten sogleich bestallte. Denn alle Beteiligten waren sich dessen bewußt, daß eine Bestallung, die das Erhebungsverfahren eröffnete, unter dem Vorbehalt nachfolgender einmütiger Annehmung des Bestallten durch Klerus, Volk und familia seiner Kirche stand: Nur wenn sie eintraten, konnte jene rechtskräftig werden und den nunmehr Erwählten zum Empfang der geistlichen Weihe berechtigen. § 418. Wenn man die Annehmung des Gerichtsherrn als die Restform anerkennt, in der das mit dem Könige geteilte Recht des Volkes, sein Oberhaupt zu kiesen und zu ermächtigen, das ganze Mittelalter hindurch lebendig blieb, so erweist sich die Unterscheidung zwischen Kur und Bestallung auch als grundlegendes Verfassungselement der Territorialstaaten, die aus den seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in den Quellen bezeugten Ländern und Landesversammlungen (oben: § 210) hervorgegangen sind. Der Aufstieg eines Fürsten zum Landesherrn vollzog sich nicht im Streit mit seinem Lande, sondern allein im Kampfe mit dem Königtum, dessen Bestallung ihm allerlei Fesseln anzulegen vermochte. Möglicherweise unterstützt von den Landes- und Gerichtsgemeinden, empfing er und übertrug ihm der König im 12. Jahrhundert zwar die Gerichtsherrschaft und die sonstigen, jetzt
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als Regalien bezeichneten Hoheitsrechte, nicht aber die Befugnis, die Landrichter zu bevollmächtigen (oben: § 325) und die Stadtgemeinden zu mediatisieren (oben: § 244). Erst der Thronstreit von 1198 bot den Fürsten die Gelegenheit, dem Königtum die letzten territorialen Hoheits- und Verwaltungsrechte zu entreißen. Die königliche Gewalt beschränkte sich seither auf die Oberlehnsherrlichkeit, die königliche Bestallung der Landesherren auf deren Belehnung mit dem Fürstentum und Lande. Die Rechte der Landesgemeinden betreffend Kur, Annehmung und Ermächtigung ihrer Richter und des Gerichtsherrn waren von diesen Kämpfen nicht betroffen (oben: § 325); sie treten daher in den Quellen kaum in Erscheinung und sind erst in der Neuzeit zum Gegenstande von Streitigkeiten zwischen Landesherren und Landständen geworden (oben: §§ 47, 165). Was die Stadtgemeinden betrifft, so ist uns die bedingte Annehmung des Stadt- und Landesherrn durch sie seit 1105 in Dalmatien belegt. Im Deutschen Reiche gehörte sie später zu den „hochbeschwerlichen Geschäften“, die der Stadtrat nicht bereits kraft Amtsvollmacht, sondern nur erst im Beisein, d. h. mit ausdrücklichem Willen der Bürger gemeinlich vornehmen konnte (E. Pitz 2001 S. 210 f.). Für Abschluß des Herrschaftsvertrages und nachfolgende Annehmung des Landesherrn durch das Land gibt es etliche Beispiele, von denen die Joyeuse Entrée des Herzogs von Brabant vom Jahre 1356 oben (§ 393) genannt worden ist.
§§ 419 – 425. Fürst und Fürsten: Öffentliches Amt und Mitregierung § 419. Herkömmlicherweise pflegt man im karolingischen und im Ostfränkischdeutschen Reiche zwei Klassen von Amtsverwaltern oder Amtleuten auszumachen: „Die Verwaltung des Gesamtreiches lag in der Hand des Königs, der sich dabei der Mitglieder des Hofes als Ratgeber und als ausführender Organe, der zu Tagungen berufenen geistlichen und weltlichen Großen als Berater und Stütze . . . bediente“ (C. von Schwerin 21941 S. 77). Die erste Klasse steht dabei im Vordergrunde: Der königliche Hof war „kein geschlossener Beamtenkörper“, sondern umfaßte auch Personen, die der König zeitweilig dazu einberief; als dauernd und auf längere Zeit mit derselben Funktion betraute Helfer treten dabei die Inhaber der „sogenannten germanischen Hausämter“ hervor. Am karolingischen Hofe waren das Kämmerer, Marschalk und Schenk, am Hofe der ostfränkisch-deutschen Könige Truchseß, Marschall, Kämmerer und Schenk. Hinzu kamen an jenem die Pfalzgrafen und an beiden die Geistlichen von der Hofkapelle und der Kanzlei. Während diese Dienste von alt- oder edelfreien Männern oft vornehmster Herkunft versehen wurden, entstammten die ihnen untergeordneten Diener je länger, desto mehr den unfreien oder neufreien Ständen. Ihrer waren außer den unbehausten Dienern bei Hofe die Verwalter königlicher Pfalzen und Domänen (actores dominici) und die Vorsteher der königlichen Fronhöfe (maiores) nebst Münzern,
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Zöllnern, Förstern und weiteren Spezialisten. Die Angesehensten unter ihnen sonderten sich seit dem 11. Jahrhundert von den übrigen als Stand der Reichsministerialen ab (ebd. S. 77 f., 87, 175 – 177, 185 f.). Der zweiten Klasse werden außer den karolingischen Königsboten Zentenare, Grafen und Herzöge als Bezirksbeamte und die geistlichen und weltlichen Großen zugerechnet, die die königlichen Hoftage besuchten (ebd. S. 79 – 83, 178 – 181). Der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen von Beamten spielt in der Soziologie Max Webers eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der beiden „reinen Typen“ alltäglicher legitimer Herrschaft. Die zweite Klasse nämlich ordnet Weber dem Idealtypus der legalen Herrschaft zu, deren Legitimitätsgeltung er insofern rationalen Charakter beilegt, als sie „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen beruhen“ (M. Weber 1921 / 72 S. 124); dem liege die Vorstellung zugrunde, (1) „daß beliebiges Recht durch Paktierung oder Oktroyierung rational . . . gesatzt werden könne mit dem Anspruch auf Nachachtung mindestens durch die Genossen des Verbandes,“ (2) daß „Verwaltung die rationale Pflege von, durch Verbandsordnungen vorgesehenen, Interessen, innerhalb der Schranken von Rechtsregeln, und: nach allgemein angebbaren Prinzipien (sei), welche Billigung oder mindestens keine Mißbilligung in den Verbandsordnungen finden,“ (3) „daß also der typische legale Herr: der ,Vorgesetzte‘, indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welcher er seine Anordnungen orientiert,“ und (4) „daß – wie man dies meist ausdrückt – der Gehorchende nur als Genosse und nur ,dem Recht‘ gehorcht“ (ebd. S. 125). In dieser Beschreibung ist unschwer wiederzuerkennen, was wir über die Teilnahme (alt- und neu-)freier Individuen an der gemeinsamen Willensbildung in nach Genossenschaftsrecht gebildeten Gemeinden und Untertanenverbänden, über das Zusammenwirken der Worthalter, Häupter, Fürsten, Behörden dieser Verbände mit deren Versammlungen in gerichtlichen und kommunalen Geschäften bereits in Erfahrung gebracht haben und was wir über das Zusammenwirken der zu Fürsten-, Hof- und Reichstagen entsandten Verbandssprecher mit Herzögen und Königen zum Zwecke gemeinsamer öffentlicher Willensbildung innerhalb der höheren Verbände und schließlich des umfassendsten Untertanenverbandes noch ermitteln werden. Der legale Herr als Vorgesetzter, d. h. als gleich dem Rechte durch Paktierung gesetzter Herr, kann nichts anderes als den vom Verbande gekorenen und unmitteloder mittelbar auch bevollmächtigten Ersten oder Fürsten meinen. Der Gemeinwille und das alle Genossen verpflichtende Verbandsrecht kam zustande, indem sich Fürsten und Verbände paktierend darüber einigten. Im absoluten Staate der Neuzeit konnte der Oktroy des Fürsten an die Stelle treten, da die Untertanenverbände und ihre Sprecher, die Landstände, darauf verzichteten, ihr Recht auf Mitbestimmung wahrzunehmen, ohne es jedoch aufzugeben. § 420. Der ersten Klasse von Amtleuten ordnet Weber dagegen den Idealtypus der traditionalen Herrschaft zu, deren Legitimitätsgeltung „auf dem Alltagsglauben
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an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen“ (M. Weber 1921 / 72 S. 124). „Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde. Der Herrschaftsverband ist, im einfachsten Fall, primär ein durch Erziehungsgemeinschaft bestimmter Pietätsverband. Der Herrschende ist nicht ,Vorgesetzter‘, sondern persönlicher Herr, sein Verwaltungsstab besteht primär nicht aus ,Beamten‘, sondern persönlichen ,Dienern‘, die Beherrschten sind nicht ,Mitglieder‘ des Verbandes, sondern entweder: 1. ,traditionale Genossen‘ . . . oder 2. ,Untertanen‘. Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmten die Beziehungen des Verwaltungsstabes zum Herrn“, denn dieser pflegte rekrutiert zu sein aus „traditional, durch Pietätsbande, mit dem Herrn Verbundenen (,patrimonial rekrutiert‘)“, als Verwandten, Sklaven, haushörigen Hausbeamten, insbesondere Ministerialen, Freigelassenen usw., aber auch aus „extrapatrimonial rekrutiert(en) freien Vasallen oder Beamten“ (ebd. S. 130, 131). Es ist leicht zu erkennen, daß dieser Idealtypus auf der Patrimonialstaatslehre beruht, welche die Staatsgewalt als aus der Hausherrschaft eines Familienhauptes hervorgegangene Obrigkeit bestimmte (oben: §§ 165, 166) und Vorstellungen zusammenfaßte, die der Staatsauffassung mittelalterlicher Völker noch unbekannt waren und daher nicht einmal die Verfassung der Grundherrschaft hinreichend zu erklären vermögen (oben: § 349). Es gab im europäischen Mittelalter keine Herren, Fürsten, Könige, die nicht nur die Eignung, sondern auch die Vollmacht zu herrschen von ihren Vätern ererbt und trotzdem alt- oder neufreien Untertanen hätten befehlen oder verbieten können. Obwohl man, wenn man im Mittelalter vom ius consanguinitatis sprach (oben: § 165), diesen Unterschied außer Acht ließ, weil man dabei das Königshaus und nur das subjektive Recht des Erben, nicht aber das Objekt seines Rechtes ins Auge faßte, so war der Unterschied zwischen Idoneität und Amtsgewalt im Falle fürstlicher Häuser doch unübersehbar, weil Fürsten stets königlicher Bestallung, Ernennung oder Belehnung bedurften, um das Fürstenamt ausüben zu können. Es war im Fränkischen und im Ostfränkisch-deutschen Reiche überhaupt nicht eigentlich die Aufgabe der zum Hofe gehörigen „Ratgeber und ausführenden Organe“, dem Könige oder Fürsten bei Erfüllung seiner öffentlichen Pflichten zur Hand zu gehen; öffentlich oder publice geschehen nämlich hieß, was der König oder der von ihm ermächtigte Fürst vor dem freien Volke und dessen Gerichtsgemeinden bzw. höheren Untertanenverbänden beraten und beschließen ließ, um es als seinen und des Volkes identischen Willen zu sanktionieren und auszuführen (oben: §§ 350, 351, 378). Die eigentliche Aufgabe der Hofbeamten und ihrer Diener bestand darin, Königen und Fürsten bei der Verwaltung der Güter und Rechte zu unterstützen, die das Volk ihnen, wenn es sie erhob oder annahm, zur Verfügung stellte (unten: § 429), damit sie aus deren nutzbaren Erträgen die Kosten des Regierens erwirtschafteten. Ihres Amtes war also die Verwaltung des öffentlichen (Reichs-, Königsoder fürstlichen Amts-)Gutes, das sich (wegen der Pflicht zur Selbstausrüstung,
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oben: §§ 122, 124) mit dem Hausgute der öffentlichen Amtleute vermischte, und wenn dieses Hofamt sie zur Herrschaft befugte, so war es lediglich eine Herrschaft über Unfreie und hörige Leute. Erst wenn sie diesen gestatteten, Hofrechtsverbände zu errichten, auf der Skala der Freiheiten emporzuklimmen und schließlich zur Neufreiheit zu gelangen, hatten sie die Chance, als Herren von Freien selbst Fürsten zu werden, sofern es ihnen gelang, sich in ihrem Amte zu behaupten, ohne von anderen Fürsten mediatisiert zu werden. Seine Vollmacht empfing der Hofbeamte vom Haupte des Hofes als eine Absplisse der Vollmacht, die das Haupt vom Volke oder von dessen Oberhaupt empfangen hatte. Es war eine anteilige Vollmacht, die den Inhaber auf bestimmte Aufgaben beschränkte und ihm innerhalb seiner Kompetenz die Stellung eines Besitzdieners (oben: § 97) oder Erfüllungsgehilfen verlieh. Nur innerhalb dieser Kompetenz konnten Könige und Fürsten durch ihre Hofbeamten auch Freien Befehle erteilen, denn mit der Annehmung seines Fürsten nahm jeder Untertanenverband auch die Hofbeamten als dessen „Organe“ unter dem Vorbehalt an, daß sich nicht sie selbst für ihre Tätigkeit gegenüber dem Volke zu verantworten hatten, sondern daß ihre Amtsvergehen dem Herrn zugerechnet wurden. Hofbeamte hatten keinen eigenen Willen, sondern handelten nach dem Willen des Fürsten, dem sie von ihrer Tätigkeit Rechenschaft ablegen mußten. Daher befanden sich Hofämter fast immer in Händen einzelner Personen, während freie Gemeinden es vorzogen, ihre Häupter mit Großen zu umgeben oder überhaupt Kollegialbehörden über sich zu erheben (oben: § 251). § 421. Die herrschende Lehre wäre demnach dahingehend zu korrigieren, daß sich die Könige des Fränkischen und des Ostfränkisch-deutschen Reiches bei dessen Verwaltung in erster Linie nicht auf die Hofbeamten und das Reichsgut (oben: § 332), sondern auf die geistlichen und weltlichen Großen gestützt haben, aus deren Reihen Gemeinden und Untertanenverbände ihre Worthalter nahmen und der Herrscher die Fürsten auswählte, die er ihnen zur Annehmung benannte. Denn nur diese Großen versahen selbständig vom eigenen und vom gemeinen Willen bestimmte öffentliche, die Hofbeamten dagegen dienende, von fremdem Willen bestimmte Haus- und Domänenämter. Die Reichsverfassung sollte daher auch nicht als Legierung aus legaler und traditionaler Herrschaft im Sinne Max Webers aufgefaßt werden, denn wesentlich für König- und Fürstentum war nicht, daß sie ihre Machtmittel aus dem ihnen zugewiesenen und von Hofbeamten verwalteten Reichsgute bezogen, sondern daß ihre Macht oder Vollmacht auf dem Gehorsam und Beistande beruhte, den ihnen das in partikulare Untertanenverbände gegliederte Volk darbrachte. Erst der im 13. Jahrhundert in den Territorien einsetzende Staatsaufbau von oben her (oben: §§ 390 – 392) hat später Max Webersche Formen traditionaler Herrschaft gezeitigt, nämlich Fürsten, die ihren Anspruch auf Gehorsam mit physischer Gewalt auch gegen Widerstand durchsetzten, sich dazu eines aus Steuereinnehmern und Soldaten geformten Erzwingungsapparates bedienten und auf diese Weise „die Entwicklung vom ,Domänenstaat‘ zum ,Steuerstaat‘“ herbeiführten (W. Reinhard 1999 S. 305 – 311, 334).
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Was die öffentlichen Ämter anlangt, denen es erlaubt war, gemäß völkischer Rechtsweisung und Beratung Hoheitsrechte über freie Männer auszuüben, so waren das Ämter, die bis zum 11. Jahrhundert nur von Altfreien bekleidet werden konnten und sich auch danach nur auf der Ebene der Gerichtsverbände und Ortsgemeinden für Neufreie öffneten, da solche jetzt die breite Masse des Volkes ausmachten. Aus den oben (§§ 412 – 418) zusammengestellten Befunden ist nun die These abzuleiten, daß es für diese öffentlichen Ämter, mochten es Ämter lokaler Gemeinden oder höherer Untertanenverbände sein und mochten sie von Laien oder von Klerikern versehen werden, nur eine einzige Weise rechtmäßiger Besetzung, für die Amtleute nur ein einziges Verfahren rechtmäßiger Erhebung gab, nämlich jenes, das durch das Zusammenwirken von Volk und König und durch die Scheidung zwischen Kur oder Auslese der geeigneten Person und deren Bestallung oder Ermächtigung gekennzeichnet ist (oben: § 313). Die Erhebung einer Person zu einem solchen Amte stellt sich uns als Kettenhandlung dar, deren Glieder vom Zusammenhange des Ganzen bestimmt wurden und daher im vorwissenschaftlichen volklichen Rechtsdenken keiner Definition bedurften. Unter electio oder Kur verstand man die Auslese der am besten geeigneten Person aus der Gesamtheit der Großen eines partikularen oder des Reichsuntertanenverbandes und den von verschiedenen Seiten geleisteten Beitrag dazu, den wir versucht sind, als Wahl, Nomination, Designation oder Annehmung zu beschreiben. Constitutio oder Bestallung hieß dagegen die Übertragung des Amtes und der Vollmacht, die Amtsgewalt auszuüben. Wir können je nachdem von Ermächtigung, Bannleihe, Investitur oder Belehnung sprechen. Denn beide Akte oder Befugnisse konnten zwischen dem betroffenen Untertanenverbande und dem Könige, eventuell unter Beteiligung weiterer Personen, aufgeteilt werden, ohne daß der Mangel genauer Abgrenzungen Schwierigkeiten erregte, solange man an dem Erfordernis identischer und einhelliger Willensbildung festhielt. Erst dann aber, wenn aller Widerspruch gegen Kur und Bestallung verstummt war, erwuchsen die Erhebung als ganzes und jeder einzelne Teilakt zur Rechtskraft. Die Einheitlichkeit des Erhebungsverfahrens für alle hoheitlichen Ämter erklärt sich also aus der dem frühmittelalterlichen Staate eigentümlichen verfassungsmäßigen Form der gemeinen Willensbildung und damit letzten Endes aus dem Aufbau von unten her, auf dem die Staatsverfassung beruhte. § 422. Gewiß ist es kühn zu behaupten, daß alle hoheitlichen oder öffentlichen Ämter in denselben Formen eines einheitlichen Verfahrens besetzt worden seien, da die herrschende Lehre nichts von der Kettenhandlung weiß, sondern in Übereinstimmung mit der Masse der Quellen ein einziges Glied aus der Kette heraushebt, nämlich den meistens von ihr als Belehnung bezeichneten Anteil des Königs an der Erhebung. Denn dem vorwissenschaftlichen Denken der mittelalterlichen Schriftsteller stellte sich jede hoheitliche Amtsverwaltung, weil es bestimmte lebendige Personen waren, die sie ausübten, wohl stets als subjektive Befugnis oder Herrschaft einzelner, dadurch besonders ausgezeichneter Personen dar, deren individueller Willensmacht sie alle ihre Auswirkungen zurechneten und deren Ur-
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sprung sie am einfachsten in einem gleichartigen, aber höheren Einzelwillen suchten. Nur in außergewöhnlichen Zeiten, wenn mit der Eintracht aller Verbandsgenossen und der Identität aller Sonderwillen der Bestand des Gemeinwesens zerfiel, bemerkten sie, daß den Befugnissen und Rechten der Fürsten und Herren stets auch Pflichten gegenüberstanden, die deren Willkür und persönliche Macht beschränkten, weil die Untertanen ihrerseits Rechte besaßen und weil sich die Fürsten bei ihrer Erhebung verpflichtet hatten, ihre Leute zur Gemeinde oder zum Landtage zu versammeln, um ihre Zustimmung einzuholen und sich mit ihnen über das Notwendige oder Gebotene zu einigen, sobald ihre Maßnahmen diese Rechte berührten. Aber das galt als Ausnahme gegenüber dem erwünschten Regelfalle, an dem sich das von juristischen Laien in Worte gefaßte Rechtsdenken des Volkes ausrichtete, daß nämlich Konsens und Eintracht zwischen dem Könige und den Großen eines Verbandes über die Erhebung des fürstlichen Verbandshauptes und zwischen diesem und dem Verbande über das Regieren zustandekamen – und daß das Volk das Ergebnis verstummend oder stillschweigend zur Kenntnis nahm, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß es damit die Erhebung und Regierung seines Fürsten legitimierte. Indessen ist anerkannt, daß uns die Quellen kaum jemals ein vollständiges Bild von der Besetzung der öffentlichen Ämter vermitteln und daß an der Auffassung dieser Ämter als allein vom Könige abgeleiteter Wirkungskreise nicht länger festgehalten werden könne, obwohl nach den Quellen allein über das königliche Amtsrecht Aussagen möglich seien (R. Scheyhing 1960 S. 65). Für die karolingische Zeit sei sicher zu erkennen, daß der königliche Auftrag und nicht etwa eine personenrechtliche Bindung das Beamtenverhältnis geschaffen habe, jedoch hätten die Formlosigkeit der Ernennung, die unspezifische Fassung des Amtsauftrages und der Mangel an wirksamen Kontrollen die Auffassung des Amtes als einer selbständig auszuübenden Herrschaft befördert. Eine Treuebindung des Beauftragten an den König sei mit dem Auftrage nicht verbunden gewesen, und auch das Volksrecht habe eine solche nicht gekannt, denn Volksbeamten wie dem Thunginus (oben: §§ 275a, 281) habe keine bestimmte Person als Bezugspunkt einer Treuepflicht gegenübergestanden, ihr Rechtsverhältnis könne nur von ihrer (öffentlichen) Tätigkeit her verstanden werden, gleichgültig, ob sie diese in strenger Abhängigkeit vom Volke ausgeübt hätten oder nicht. Unbeantwortbar bleibe schließlich die für jedes Amtsrecht grundlegende Frage, ob und wie sich der vom Herrscher ernannte Beamte gegenüber den Einwohnern seines Sprengels hinsichtlich des königlichen Befehls legitimiert habe (ebd. S. 64 A. 211). Es sei dies die Frage nach den Formen der Investitur, die keineswegs ein typisch lehnrechtliches Institut gewesen sein müsse, da es auch, freilich erst bezeugt für eine spätere Zeit, eine amtsrechtliche Investitur gegeben habe (ebd. S. 106 f. Oben: §§ 167a, 322b). Die genannte, bisher unbeantwortbare Frage weist darauf hin, daß der König für sich alleine keinen Amtmann gültig bestallen konnte, wie neuerdings eine scharf-
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sinnige Beobachterin bereits vermutet hat: „Since there was an element of election or collective approval in all office-holding, local opinion might need to be considered“ (S. Reynolds 1994 S. 410. Oben: § 127). Erst dann, wenn der König mit dem kiesenden Volke eines Willens war und die Annehmung des vom Herrscher Ernannten durch die Untertanen diese Eintracht offenbar gemacht hatte, war eine Bestallung rechtswirksam vollzogen. Wenn wir aber anerkennen, daß nur die Summe von Kur und Bestallung Personen zu Häuptern und Fürsten zu erheben vermochte, so ist auch das Moment der königlichen Belehnung richtig zu beurteilen: nämlich als eines Gliedes in einer Handlungskette, die erst mit der Annehmung des Belehnten durch die Untertanen zum Ziele kam und allein durch sie dem Belehnten (nicht: den Besitz eines Lehens, sondern) ein öffentliches Amt verschaffte. Erst in der Neuzeit, als von Fürsten entlohnte Gelehrte die Annehmung oder Huldigung der Untertanen um ihren Sinn zu bringen versuchten, konnten die dem mittelalterlichen Volksrecht zuwiderlaufenden Vorstellungen vom Lehns- und Patrimonialstaate ersonnen und die durch jenen Trick um ihre Öffentlichkeit gebrachten Ämter als Privateigentum von Fürstenhäusern ausgegeben werden. § 423. Waren Gerichtsgemeinden oder höhere Untertanenverbände imstande und willens, ihr Indigenatsrecht geltendzumachen, so koren sie oder designierte ihnen der König zur Annahme als Verbandshaupt einen Vornehmen aus dem Kreise der Großen ihrer Orts- oder Landesgemeinde (oder respective aus dem hohen Klerus ihres Bistums oder aus dem Mönchskonvent ihrer Abtei oder eine Dame aus dem Konvent der Kanonissen, wenn die Abtei eines freiweltlichen Damenstifts zu besetzen war; entsprechend die Erhebung des Kirchenvogtes, oben: § 363). Da die Quellen auch von dem Kreise dieser Großen unter anderem als von principes sprechen, haben wir es, was die Fürsten betrifft, mit einem engeren, auch im Singular verwendbaren und einem weiteren, nur im Plural gebräuchlichen Begriff des princeps zu tun. Bisher war die Rede von dem ersteren, der so auf der Verwaltung eines öffentlichen Amtes beruhte, wie man dieses durch Kur und Bestallung erlangte. Aus ihm ging in fortschreitender Verengung seit 1180 der neue, die Grafen und alle geringeren Edelfreien ausschließende Begriff des Reichsfürsten hervor (oben: § 208). Der weitere Begriff der Fürsten ist nicht so klar zu definieren wie der engere. Denn für die Zeitgenossen kann es, war erst einmal das Erhebungsverfahren abgeschlossen, keinen Zweifel darüber gegeben haben, ob jemand ein öffentliches Amt innehatte oder nicht, mochte sich die Erhebung auch einmal lange hinziehen und, wenn es zu Doppelwahlen kam, zu langanhaltenden, sogar mit Blutvergießen ausgetragenen Zwistigkeiten darüber führen, ob ein Amt bereits einen legitimen Inhaber gefunden hatte oder nicht. Aber das war doch eine Anomalie und Ausnahme von den Regeln des Verfassungslebens, die nicht in dem Maße auf gedanklicher Unschärfe beruhte, wie das bei dem weiteren Begriff der Großen oder Fürsten der Fall war. Denn deren Tätigkeit bestand darin, öffentlich und gemeinsam für den Personenverband, dem sie angehörten, das Wort zu halten, ohne dazu beamtet zu sein. In eine solche Stellung aber gelangte man nicht in einem (wie wenig auch
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immer) geregelten Verfahren, sondern auf Grund persönlicher Autorität (oben: § 389) und Vollmächtigkeit. Es gehört zu den Merkmalen des Systems identischer Willensbildung, daß die Worthalter einer Gemeinde, sobald sie die Verbandsversammlung verlassen hatten, jederzeit selbst darüber entscheiden mußten, ob sie in bestimmten Fragen ermächtigt seien, für den Verband zu sprechen, oder ob sie die Sache an den Verband zurückbringen und sich diese Vollmacht ausdrücklich erteilen lassen mußten (oben: §§ 17, 22). Daraus erklärt es sich, daß freie Einungen stets Kollegien oder Gruppen damit beauftragten, für sie zu sprechen, und daß herrschaftliche Einungen ihrem Oberhaupte stets etliche ihrer Großen beizugeben pflegten, wenn es auswärts in ihrem Namen sprechen sollte. Die Gruppe aber regierte im Fürstentum mit, da sie die Willkür des Einzelnen bei der oft schwierigen Entscheidung über die Frage der Vollmächtigkeit beschränkte. Der Spielraum für diese Entscheidung war größer oder kleiner je nachdem, welches Maß an Autorität ein Verband seinen Worthaltern zubilligte. Solche Autorität war mehr als jene Kindes- oder Dienerpietät, die einem Hausherrn und Familienvater von den Hausgenossen entgegengebracht wurde; sie war auch nicht so leicht zu vererben wie diese, sondern mußte immer wieder von neuem erworben werden. § 424. Wer sich als Einzelkämpfer vor der Schlachtreihe aufstellen ließ, wer sich in gerechter Fehde bewährte und für eine solche in der Volksversammlung Helfer zu gewinnen verstand, wer sich durch größeren Grundbesitz und eine zahlreiche Gefolgschaft auszeichnete, der gewann bei der Menge der Landesgenossen durch die Tat das höhere Ansehen, auf welchem das plurale Fürstentum beruhte, zumal wenn ihn eine vornehme Abkunft und vergleichbare Verdienste der Vorfahren dabei unterstützten, den selbsterworbenen Ruhm zu bestärken. Vor allem aber wer in der Volksversammlung das treffende Wort zu finden und dem Volke den besten Rat zu geben, den rechten gemeinen Willen zu erwecken verstand, der gewann jene Autorität, mit der bereits die altgermanischen principes als Gesamtperson in der Beratung und Führung ihrer Völkerschaften tätig gewesen waren (oben: § 409). Solches Fürstentum gründete sich auf ein Gemeinschaftsgefühl für Führungskraft und Vorrang, das rational schwer zu erfassen und nur in logisch widersprüchlichen Begriffen, wie etwa in dem des Ersten unter Gleichen (primus inter pares), zu beschreiben, gleichwohl aber für das Verständnis aller mittelalterlichen Verfassungsfragen unentbehrlich ist (R. Wenskus 1961 S. 314 – 330. Abwegig: F. Graus 1986 S. 562 – 564, 570 f.). Auf den Vorrang eines Mannes zielten die spät und künstlich gebildeten ahd. Worte hêrscaf = Erhabenheit, vom Alter verliehene Ehrwürdigkeit, und hêrtuom = hohes Ansehen, wie lat. auctoritas, celsitudo, dignitas ergeben, die uns dazu als Äquivalente genannt werden (H. Götz, Wb. 1999 S. 63, 97, 197. Oben: § 410). Die neuen Worte zeugen vom Gewicht der Großen im Rate des versammelten Volkes, von der Überzeugungskraft ihrer Rede und der Macht ihres Willens, nicht jedoch von Herrschafts- und Befehlsgewalt (K. Kroeschell 1968 S. 18 ff.). Der ihnen zu-
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kommende Vorrang war weder bereits ein Vorrecht noch ein erblicher Anspruch, sondern lediglich eine Chance, die ständiger Erneuerung und Bestätigung durch den Beifall des Volkes bedurfte, ohne daß dieses daraus für sich ein Wahlrecht abgeleitet hätte (so ist der Satz eliguntur in iisdem consiliis et principes bei Tacitus, Germania 12, zu verstehen). Obwohl eine edle Abkunft es dem Jüngling erleichterte, jenen Beifall zu gewinnen, mußte er sich doch in seinen Taten bewähren, damit sich das Volk nicht von ihm abwandte, damit seine Gefolgschaft nicht auseinanderlief und sich die Schutzbedürftigen nicht anderen Fürsten zuwandten (unten: § 645). Andererseits erkannte das Volk einen Vorrang, der sich durch Generationen hindurch bewährte, bald als Eigenschaft nicht mehr der Individuen, sondern des ganzen Geschlechtes an, dem sie entstammten. So begann sich der Vorrang in eine erbliche Tugend und schließlich in ein Vorrecht zu verwandeln, das den Adel auch standesrechtlich vom Volke trennte. Legalisierung und Verrechtlichung des fürstlichen Ansehens kamen indessen nur sehr langsam voran. Wollte man gar von Adelsherrschaft sprechen, so würde man das Unbestimmte des Inhalts von Vorrang und Autorität in irreführender Weise einengen und überhöhen. Ein System zwingender Normen wollte sich aus der menschlichen Empfindung für den Vorrang des anderen niemals ergeben, und so blieb es bei Ordnungsregeln, die nur aus Anstand eingehalten wurden, bei leges imperfectae, wie es das Gebot der Ebenbürtigkeit und noch die im Sachsenspiegel niedergelegte Heerschildordnung waren (oben: §§ 119, 163), ein Maßstab nämlich für die lehnsrechtliche Standesgliederung des Adels, den zu befolgen niemand gezwungen werden konnte, auch wenn er seit 1180 so weit zur Geltung kam, daß man es nicht mehr als normal oder geziemend ansah, wenn jemand Lehnsverbindungen einging, die nicht mehr in jenes Schema paßten (H. Mitteis 1933 S. 438. G. Tellenbach 1943 / 1956 S. 233 ff. K.-F. Krieger in LMA 4 Sp. 2007 f.). Um dieselbe Zeit begann sich die Erscheinung in den jungen, rasch wachsenden Städten zu wiederholen. Abermals bildeten sich hier durch Akkumulation großer Vermögen und politische Führungskraft bewährte Geschlechter heraus, denen die Bürgerschaften einen Vorrang zubilligten, ohne ihnen ein bestimmtes Vorrecht förmlich zuzuerkennen. Die besonderen Bedingungen der frühmittelalterlichen Agrargesellschaft indessen waren jetzt vergangen und die Macht des Königs und der Stadtherren so weit gefestigt, daß diesen Geschlechtern die standesrechtliche Absetzung vom Stadtvolke, von der freien Bürgerschaft, der sie entstammten, nicht mehr gelang. § 425. In dem weiteren Sinne verstanden, der nicht durch Ausübung eines öffentlichen Amtes, sondern durch Autorität und Zugehörigkeit zu einer Gruppe geprägt ist, erscheint die Qualität der Großen oder Fürsten als etwas Vages, intermittierend Gegebenes, das eine und dieselbe Person, ein und dasselbe Geschlecht zu Zeiten annehmen, zu anderen wieder ablegen mochte. Fürsten dieser Art waren die altsächsischen Satrapen gewesen, deren geringe Machtfülle nicht auf Bestallung
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und Beamtung, sondern auf Vorrang vor Edelingen und Freien und auf bewährte, wohlverdiente Autorität gegründet war (oben: §§ 74 – 79). Aus dem Kreise der grafschaftlichen principes trat seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts das Kollegium der Schöffen hervor, mit dem sich der Graf zu umgeben hatte, sobald sich die Grafschaft als Gericht versammelte (oben: §§ 308 – 310, 314). Um ihre Stellung zu festigen und ihr Hausgut zu mehren, ergaben sich manche Große in die Vasallität ihres Fürsten, dessen Hof sie gemeinsam mit den Sprechern der fürstlichen familia bildeten und dessen Willen sie in wichtigen Angelegenheiten des Landes und Fürstentums an ihren Ratschlag und Konsens banden (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 310 f. Oben: §§ 327b, 328). So waren sie berechtigt, in dem Fürstentum mitzuregieren. Wurde aber dieses durch Tod oder sonstigen Abgang ihres Hauptes vakant, so war es ihre Sache, die Wahl oder Annehmung des Nachfolgers durch (Klerus und) Volk anzuleiten. Wir hätten uns demnach jeden Grafen, Reichsabt, Bischof, Herzog, also jeden im engeren Sinne des Wortes so genannten Fürsten, als umgeben von einer Gruppe Großer und Fürsten, diese im weiteren Sinne des Wortes begriffen, vorzustellen, einer Gruppe, die einerseits als Stimmführer die Meinungs- und Willensbildung des Untertanenverbandes ihres Hauptes anleitete und andererseits als dessen Ratgeber alle Einzelentscheidungen beeinflußte und kontrollierte, mochte der Fürst solche nun im eigenen Lande oder gemeinsam mit anderen Fürsten auf der Tagfahrt eines höheren und umfassenderen Verbandes zu treffen haben. Diese formlose Gruppe der proceres, maiores, meliores, magnates, principes, aus der der gekorene und bestallte Fürst als primus inter pares hervorragte, hatte Teil an der relativen Unsterblichkeit aller menschlichen Gruppen: Sie überlebte jedes ihrer fürstlichen Häupter und erwies sich bei jeder Vakanz des Fürstenstuhles als interimistische Regierung des Fürstentums mit der Aufgabe, namens des Volkes, für das sie sprechen konnte, entweder selbst aus ihrer Mitte eine zum Fürstenamte geeignete Person auszulesen oder einem ihnen vom Könige nominierten Manne die Bedingungen zu nennen, unter denen sie ihn zum Haupte annehmen würden. Den Beweis für die These, daß wir es bei der Erhebung jeglicher Fürsten (dieses Wort hier in seinem engeren Sinne verstanden) mit einem und demselben Verfahren zu tun haben, wird erst eine nach Maßgabe der vorliegenden Verfassungslehre vorgehende Verfassungsgeschichte erbringen können, welche die Quellen mit der erforderlichen Vollständigkeit zu überprüfen vermag. Aber um die These vorab plausibel zu machen, mag es nützlich sein, das Augenmerk insbesondere auf die electio zu richten, von der die Quellen viel weniger reden als von der constitutio und die daher von der Forschung auch sehr viel weniger als diese beachtet worden ist. Nur selten einmal wird sie für mehr als eine Formalität genommen, und dies am wenigsten dann, wenn sie nur noch in Gestalt der assumptio (oben: § 276b) oder susceptio (unten: § 432) in Erscheinung tritt. Es empfiehlt sich, dabei von den Bischofserhebungen auszugehen, weil wir hierüber dank zahlreichen Bischofsviten besonders gut unterrichtet sind und weil wir für sie die Notwendigkeit der electio
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deswegen mit Sicherheit voraussetzen dürfen, weil sie nicht nur vom Volksrecht, sondern auch vom kanonischen Recht vorgeschrieben war.
§§ 426 – 436. Wahl und Bestallung der Bischöfe § 426. Bevor der wahrscheinlich der Rechtsschule zu Bologna zuzuordnende Gelehrte Gratian um das Jahr 1140 sein Decretum veröffentlichte, hatte es keine Fachleute des kanonischen Rechtes gegeben, war das Kirchenrecht ein Zweig der Theologie gewesen, der in der konstantinischen Reichskirche die Färbung des spätrömischen Vulgarrechts angenommen, diese aber seit dem 7. Jahrhundert in der fränkischen Landeskirche mit den Tönen des germanischen Gewohnheitsrechtes meliert hatte. In dem Mangel an wissenschaftlicher Durchdringung und begrifflicher Klärung stand daher das alte Kirchenrecht den germanischen Volksrechten bis ins 12. Jahrhundert hinein so nahe, daß, seit die Germanen Christen geworden, niemand ein Bedürfnis empfand, beide voneinander zu trennen. Sobald das Volksrecht gereinigt war von allen heidnischen Zügen, die sich nicht im christlichen Sinne deuten und als christlicher Volksglaube, als christliches Brauchtum bewahren ließen, hatten Bischöfe und Laien an Differenzen zwischen Kirchen- und Volksrecht und Kollisionen ihrer Normen nicht mehr zu gewärtigen, als auch die Koexistenz mehrerer Volksrechte mit sich brachte. Seit dem 4. Jahrhundert bestimmten in der kirchlichen Praxis die Wahl und die Weihe als wesentliche Akte die Erhebung der Bischöfe. Gegenstand der Wahl war die Auslese einer für das Bischofsamt geeigneten Persönlichkeit, wobei der Besitz der Diakonen- oder Priesterweihe als wichtiges formales Merkmal der Idoneität zu beachten war. Gewohnheit und Rechtsmeinung der Kirchen gaben jedem Betroffenen eine Stimme bei der Auswahl des neuen Bischofs. Leiter des Verfahrens sollten die Bischöfe der Kirchenprovinz sein, der das verwaiste Bistum angehörte, ohne daß ihr Wille entscheidend gewesen wäre, denn auch der Wille des Klerus, der cives, die für die bischöfliche Gemeinde sprechen konnten, und des gemeinen Volkes selbst mußte vorhanden sein, ne ullus invitis daretur episcopus. Aber auch der Wille des römischen Kaisers und später des germanischen Königs konnte erforderlich sein und sogar den Ausschlag geben, handelte es sich doch um den Willen des höchsten Oberhauptes des Volkes (R. Benson 1968 S. 24 – 26). Einzelheiten waren so wenig festgelegt, daß man einerseits den gesamten Vorgang der Willensbildung als eligere bezeichnen, andererseits aber eine mit der Idoneitätsprüfung verbundene electio allein dem Klerus zusprechen konnte, so daß den Laien, einschließlich des Kaisers, nur die Befugnis zuzustimmen, approbare, consentire, confirmare, allerdings auch ein Recht, Vorschläge zu machen, expetere, postulare, verblieb (ebd. S. 31 f., 60 f.). Unter den Begriff der electio, approbatio oder confirmatio fiel schließlich auch noch die Prüfung und Bestätigung des Erwählten durch den Metropoliten. Bei einer Doppelwahl sollte dieser darüber entscheiden,
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welcher Kandidat der besser geeignete sei, also bereits während des Wahlvorgangs tätig werden (ebd. S. 26, 37, 60 – 63, 96 f.). Alle diese Elemente der electio waren unerläßlich, kein einzelner für sich hinreichend, um einen electus zu kreieren. Erst die Einhelligkeit aller Willen (H. Hattenhauer 1992 S. 118), das Verstummen allen Unwillens und Widerspruchs, führte zu diesem Ergebnis, und daher bestand kein Anlaß, eines der Elemente den anderen über- oder nachzuordnen. Erst die Weihe, die consecratio, die der Erwählte von den Mitbischöfen empfing, schloß das Verfahren ab und erhob den electus wirklich zum Bischof. Daher war es auch ganz unerheblich, und von niemandem wurde danach gefragt, ob bereits einzelne Glieder der Kettenhandlung, etwa die Willensäußerungen des Kaisers oder des Volkes oder des Metropoliten, dem electus bestimmte Befugnisse verliehen. Fest stand lediglich, daß der Erwählte von den beiden Vollmachten, die den Bischof auszeichneten, die potestas ordinis oder sakramentale und spirituelle Kompetenz erst durch die geistliche Weihe empfing, mit der seine Erhebung endete. Aber galt das auch für die potestas iurisdictionis, die ihn zum Leiter der Bistumsgemeinde erhob und dazu befugte, Synoden zu berufen, Ämter zu besetzen, Disziplinargewalt auszuüben und die Kirchengüter (staatlicher Herkunft) zu verwalten? Obwohl doch zuweilen zwischen dem Abschluß der electio und dem Tage der consecratio eine lange Zeit verging, entstand bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts hin nicht einmal das Bedürfnis zu fragen, durch welchen Teilakt des Erhebungsverfahrens der werdende Bischof seine jurisdiktionellen und administrativen Befugnisse empfing, geschweige denn, daß irgendjemand die Frage beantwortet hätte (R. Benson 1968 S. 9, 38, 56). § 427. Das Netz dieser kanonischen Bestimmungen war weitmaschig genug geknüpft, um seit dem 5. Jahrhundert in den germanischen Königreichen germanische Vorstellungen von der Bischofserhebung auffangen zu können, ohne zu zerreißen. Dabei ging es um zwei wesentliche Neuerungen. Einmal überließen die zum Untertanenverbande germanischer Heerkönige vereinigten Bistumsvölker ihr Wahlrecht und die Leitung oder Lenkung der Wahl dem Könige, den sie durch ihre Worthalter zu ihrem und ihrer Landeskirche obersten Haupte gemacht hatten; sich selbst behielten sie nur noch die Annehmung des Elekten vor. Zweitens bedurfte nun der Bischof außer den geistlichen Vollmachten, die er mit der Weihe empfing, einer königlichen Vollmacht, deren Empfang der Weihe vorauszugehen hatte. Damit wurde das Verfahren so weit verstaatlicht, daß ihm hinfort die Zweiteilung in Kur und Bestallung das Gepräge gab. Die Verstaatlichung ging Hand in Hand mit der Verchristlichung des Begriffs, den sich Germanen vom Amte des königlichen Heerführers und Richters machten, und mit der Heiligung germanischer Heerkönige durch kirchliche Salbung und Krönung, unter deren Einfluß sich germanische Königsverehrung und alttestamentliche Vorstellungen vom theokratischen Amtskönigtum miteinander vermengten. Namentlich die gebildete hohe Geistlichkeit leitete das neue Recht des Königs von
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Gott her, zu dessen Stellvertreter auf Erden sie den König verklärte (unten: Zwanzigstes Kapitel), während das Volk in dem Könige gewiß vor allem den von ihm selbst erhobenen und ermächtigten höchsten Richter sah, dem es mit dem Reichsgute als Eigenkirchenherrn (oben: § 356) auch das Reichskirchengut in Verwaltung gegeben hatte und von dem es die Entscheidung über zwiespältige Wahlen und die Befriedung aller Fehden und Wirren erwartete, welche Schismatiker hervorzurufen pflegten. Was zunächst die vom Könige gelenkte Wahl anlangt, so ist es nur aus dieser volksrechtlichen Auffassung vom Wesen des Königsamtes zu erklären, daß man keinen Widerspruch darin sah, wenn auf der einen Seite karolingische Synoden zu Aachen 817, zu Rom 826, zu Valence 855 die kanonischen Vorschriften über die Wahl des Bischofs durch Klerus und Volk bestätigten und Kaiser Ludwig der Fromme dem ausdrücklich beipflichtete (MGH. Capit. 1, 275 n. 138 c. 2), auf der anderen Seite aber der Wille des Königs dergestalt als das Entscheidende galt, daß die Schriftsteller „oft genug auch ohne weitere Umhüllung einfach von einer Ernennung durch ihn“ zu sprechen pflegen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 406 – 423, Bd. 7 S. 277 f.). Wie wenig aber solche Ernennung für sich allein zu bedeuten hatte, das lehrt die Konkurrenz König Karls II. und des älteren Königs Ludwig bei der Besetzung des vakanten Erzbistums Köln im Jahre 869 / 70. Zunächst nämlich versuchte König Karl den Abt Hilduin von Saint-Omer zu ernennen, indem er ihn in Aachen durch den Bischof von Lüttich zum Priester auf den Titel des St. Petersdomes in Köln weihen ließ. König Ludwig aber suchte der noch ausstehenden Annehmung und Bischofsweihe zuvorzukommen, indem er die Bürger der Bischofsstadt selbst aus deren Klerus einen Bischof erwählen und diesen sofort durch die Mitbischöfe weihen ließ, ex ipsius civitatis clero episcopum consecrare . . . per electionem civium. Sein Gesandter, Erzbischof Liutbert von Mainz, ließ die höhere Geistlichkeit und die Worthalter des Volkes, nobiliores ex populo, vor sich kommen und hieß sie sogleich zur Wahl zu schreiten: Wen immer sie einhellig, communi consilio, bestimmten, den werde er sofort weihen. Aber jene weigerten sich, da das Bistum bereits an Hilduin vergeben sei, Hilduino episcopatum esse datum, und sie fast alle dafür hielten, seine Herrschaft sei bereits durch Handschlag angenommen worden, omnesque pene manibus datis eius dominationem susceptam haberent, so daß es ihnen verwehrt sei, einen anderen zu erwählen. Da erhielten sie zur Antwort: „Wenn ihr das Wahlrecht, das euch der König gewährt hat, electionem vobis a rege concessam, verschmäht, so steht es im Ermessen und in der Vollmacht des Königs, in arbitrio et potestate regis est, euch zum Bischof zu geben, wen er will.“ Mit diesem Argument bewog er sie zu kiesen, und einmütig erkoren sie den Priester Willibert, unanimiter elegerunt Willibertum, dem der Gesandte und die Mitbischöfe noch am gleichen Tage die Weihe erteilten (Regino zu 869 S. 98 f. Reg. Eb. Köln 1, 77 n. 229, 230. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 2 S. 290 – 292. W. Hartmann 2002 S. 184). Man sieht, daß König Karls Ernennung ungültig blieb, solange dem Ernannten die Kur oder Annehmung von Seiten der Kölner Gemeinde fehlte. Deren Willen
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hatten Worthalter dem Könige offenbar bereits zugesagt, aber erst bei wirklichem Einzuge Hilduins in die Bischofsstadt hätte das Volk ihn gültig zum Ausdruck bringen können. § 428. Es war also nicht nur die Weihe, sondern auch die Wahl oder Annehmung vorbehalten, wenn der König eine Ernennung aussprach. Die Reichskanzlei brachte das auch durch allerlei vorsichtige Formulierungen zum Ausdruck, so etwa im Jahre 892, als sie König Arnulf erklären ließ: . . . nos Hathonem venerabilem Augiensis monasterii abbatem ac monachum . . . salubri fidelium nostrorum consultu Magontiae civitatis archiepiscopum fieri censuimus (MGH. DArn. 96 S. 141 Z. 21 – 24). In dem Passiv fieri ist die Aussage enthalten, daß der königliche Beschluß allein die Erhebung nicht bewirken konnte (man vergleiche dazu die Verwendung desselben Wortes in dem königlichen Mandat von 968, unten: § 429). Da zu den Getreuen, deren Rat der Herrscher befolgen mußte, auch die Worthalter der Mainzer Bistumsgemeinde gehört haben dürften, lagen hier keineswegs „das Prinzip freier Wahl durch Geistliche und Laien des Stifts und das Streben der Könige sich . . . den gebührenden Einfluß zu sichern im Kampf miteinander“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 269); eine solche Opposition war dem frühen Mittelalter ganz fremd und auch in späterer Zeit lediglich den Gottes- und Rechtsgelehrten, nicht aber dem Volke vertraut. Vielmehr waren die beiden Prinzipien nach germanischer Staatsauffassung und den Regeln identischer Willensbildung miteinander versöhnt und in ein einziges zusammengefallen. Dies wird besonders deutlich, wenn König Ludwig im Jahre 906 plebi et familiae oder familiae et clero der Freisinger Kirche gestattete, aus ihrer Mitte den Bischof zu kiesen, falls unter ihnen ein geeigneter Mann zu finden wäre, anderenfalls aber einen ihnen Zusagenden aus der Hofkapelle anzusprechen und zu erwählen (MGH. DLdK. 44): König und Reich stellten sich subsidiär der Gemeinde zur Verfügung, wenn sie den von ihr nominierten Kandidaten als ungeeignet zurückwiesen. In diesem Sinne pflegten sich Klerus und Volk eines Bistums gewiß allgemein als Sprecher eines partikularen Interesses mit den Großen des Reiches und dem Könige als Worthaltern des übergeordneten Nutzens des allgemeinen Untertanenverbandes über die am besten geeignete Person zu verständigen, bevor das Wort des Königs den Wahlvorgang beschloß. Das alles war mit den kanonischen Regeln und deren vager Gewohnheit, von electio, approbatio, consensus, confirmatio zu reden, ebenso gut vereinbar wie die Formlosigkeit, die der königlichen Beteiligung an dem Vorgange eigentümlich war. Denn der König konnte den Wählern, sobald sie ihm den Tod ihres Bischofs anzeigten, sogleich einen Kandidaten designieren oder nominieren, den Klerus und Volk hernach erwählten oder als electus annahmen; er konnte aber auch einen von den Wählern nominierten Kandidaten prüfen und seinerseits als electus annehmen oder zurückweisen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 269 – 297). Unter Kaiser Ludwig dem Frommen kam der Brauch auf, daß der Klerus eines vakanten Bistums den Kaiser um die Erlaubnis bat, einen Geeigneten kiesen zu dürfen, während sich an-
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dere Bewerber Fürsprecher am Hofe suchten und dem Könige reiche Geschenke anboten, damit er sie jenen benannte oder designierte, und wieder andere begünstigt waren, als eine Ausbildung in der königlichen Hofkapelle zum wichtigsten Idoneitätsmerkmal aufrückte, zumal auch dem Bistumsvolke daran gelegen sein mußte, einen geschäftskundigen und beim Könige einflußreichen Mann zum Haupte zu gewinnen. Hatte aber der König einem Bistum gestattet zu wählen, so mochte es Interessenten geboten erscheinen, sich zuerst bei dem Bistumsvolke um die Kur zu bewerben, indem sie dessen Stimmführern, den ritterlichen Dienstleuten, für den Fall ihrer Erhebung die Vermehrung ihrer Lehen und den Domherren ebenso große Gunstbeweise verhießen (Reg. B. Augsb. 1, 91 n. 162). Welchen Verlauf auch immer das Verfahren nehmen und wer auch immer dabei die Initiative ergreifen mochte: Zum Abschluß gelangte es und Geltung gewannen die Teilakte, auch die königlichen, erst dann, wenn jedermann die willentliche Einhelligkeit aller Beteiligten feststellen konnte. Noch keinem modernen Betrachter ist es gelungen, sich den Sinn des Gebotes der Einstimmigkeit, den Grund, aus dem man zu dem einhelligen Verfahren griff, klarzumachen (A. Nitschke 1962 S. 34). Es kann dies auch nicht gelingen, wenn man den Blick ausschließlich auf den König richtet und zudem die theokratischen Mystizismen für bare Münze nimmt, mit denen die Hoftheologen es umgaben. Wer das tut, der findet sich alsbald versucht, den die Bischofserhebung lenkenden König als Diktator anzusehen, der eine Wahl vorgetäuscht hätte, obwohl gar keine stattfand, oder als Zyniker, der den Bischof ernannte, um hernach in erzwungener Einstimmigkeit mit dem Volke den göttlichen Willen aufscheinen zu lassen (ebd. S. 30). Der Sinn des Verfahrens erschließt sich uns aber erst dann, wenn wir die Errichtung des Staatsbaus von unten her, den Anteil des Volkes an der gemeinsamen Willensbildung, die zu deren Schutze erstrebte Identität aller partikularen Volkswillen mit dem Willen des Reichsuntertanenverbandes und die Ermächtigung des Königs durch nichts anderes als diesen Volkswillen ins Auge fassen. Allein das Erfordernis der Einhelligkeit bot die Gewähr dafür, daß sich auch der mächtigste König, wie bei allen Regierungsakten, so auch dann, wenn er Bischöfe ernannte, designierte oder investierte, nicht eigenmächtig über den Willen des Volkes hinwegsetzen konnte. § 429. Besonders verwirrend für die herrschende (ebd. S. 31), aber bei richtiger Deutung auch besonders erhellend für eine andere Verfassungslehre ist die Verordnung Kaiser Ottos I. über die Wahl des ersten Erzbischofs von Magdeburg aus dem Spätherbst des Jahres 968 (MGH. DO. I. 366). Erlassen in Form eines offenen Briefes an Ottos (ost-)sächsischen Untertanenverband: omnibus fidelibus nostris, episcopis scilicet et comitibus ceterisque comprovincialibus (oben: § 212), der zur Bestätigung und als Zeuge der Wahl in der Magdeburger Kirche dauernd aufbewahrt werden sollte (ebd. S. 503 Z. 21 – 24. H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 53 Anm. 5), teilte die Verordnung den Adressaten zunächst mit, der Kaiser habe mit Rat aller Getreuen beschlossen, daß der Missionsbischof Adalbert zum Erzbischof zu erheben sei, daß er ihn durch den Beschluß zugleich erwählt und daß er ihn zum
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Empfang des Palliums nach Rom gesandt habe, Adalbertum . . . archiepiscopum . . . fieri decrevimus pariter et elegimus, quem et Romam direximus. Dann ordnet der Kaiser das weitere, noch ausstehende Verfahren an (zu dem Passiv fieri oben: § 428). Damit seine Wahl um so mehr befestigt und unterbaut (subnixus: L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 561) werde, sollten die Adressaten Adalbert empfangen, mit Zuruf und Handzeichen erwählen und auf den Bischofsstuhl erheben: Et ut hec nostra electio firmior et subnixior fiat, eum vestre caritati dirigimus et ut a vobis omnibus et vocum acclamatione et manuum elevatione electus sue sedi inthronizetur, omnimodis desideramus. Damit niemand diese electio vel inthronizatio in Zukunft anfechten könne, sollte Adalbert sogleich in Gegenwart päpstlicher Legaten und der Adressaten drei Suffraganbischöfe ordinieren. Hier ist deutlich gesagt, was die herrschende Lehre beirrt (jegliche über die Feststellung, daß Otto „keine Rücksicht auf das kanonische Recht zu nehmen“ brauchte, hinausgehende Erörterung von Rechtsfragen vermeidet W. Georgi 1998 S. 91 – 101, 116 – 136), was von der vorliegenden Verfassungslehre aber erfordert wird: Die königliche Ernennung oder Investitur war zugleich Wahl, und zwar eine bedingte und vorläufige, die der Bestätigung und Untermauerung durch das ebenfalls wählende und die Wahl des Königs vollendende Bistumsvolk bedurfte, um ihr Ziel zu erreichen. Nahm aber das Volk sogar die Thronsetzung vor, so heißt dies, daß die Kirche und das Kirchengut, wofür der Thron das Symbol war, der Hut und Verwaltung von Klerus und Volk gewissermaßen wie einem Besitzdiener (oben: § 97) anvertraut waren und während jeder späteren Sedisvakanz ihr von neuem unterlagen. Wem auch sonst hätte der König sie in Auftrag geben können? Erst aber wenn dies geschehen war, konnte der König gewiß sein, daß diese aller gemeinsame Wahl auch Gottes Wahl wäre, hec nostra vestraque post deum electio (S. 503 Z. 22). Zu den Einzelakten der Kettenhandlung konnte noch niemand wagen, sich auf Gottes Willen zu berufen. Es ist sehr bemerkenswert, daß der König die Bekleidung Adalberts mit dem Bischofsstabe, die doch nach herrschender Lehre das einzige sein soll, worauf es ankam, mit keinem Worte erwähnt, sondern vielmehr seinen eigenen Entschluß lediglich als electio bezeichnet. Immer wieder geschah es, daß der König einem von ihm Designierten sogleich die Bestallung oder Investitur erteilte, ohne den Ausgang der Wahl abzuwarten; das aber war nur möglich, wenn auch er die Bestallung als dem Vorbehalte einhelliger Beendigung des gesamten Verfahrens unterliegend anerkannte. Wenn aber die königliche Handlung mit Worten bezeichnet werden konnte, die man auch auf Bestandteile der electio anwandte, so zeigt dies, daß man sie von ihr keineswegs absondern wollte, obwohl sie doch auch eine Amtsvollmacht auf den Elekten übertrug. Jedoch auch den Gewählten zu ermächtigen war der König nur mit Willen des Volkes imstande, von dem sich alle königlichen Rechte herleiteten und in dessen Obhut sich das Kirchengut befand, das der Erwählte übernehmen sollte. Wie vage man deswegen über Erhebung und Bestallung denken und sprechen konnte, zeigt uns eine am Ende des 9. Jahrhunderts in Konstanz oder St. Gallen
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entworfene Formel (MGH. FF. S. 395 n. 1. W. Hartmann 2002 S. 173 f.), die drei verschiedene Qualifikationen des Elekten unterscheidet und nacheinander über die Bestallung sagt: (1) per nostram comprobationem clericis et monachis et omni populo acceptus et honorabilis habeatur, (2) per nos . . . officii sui auctoritatem per nostram obtineat potestatem, (3) (electum) nobis videndum et comprobandum praesentantes; wählten sie aber entweder fehlerhaft oder einen Ungeeigneten, (4) liceat nobis potestate regia uti et . . . dignum constituere sacerdotem, qui et ecclesiam canonice sciat regere et ad nostrum obsequium . . . sufficiat occurrere. Der Diktator betrachtete demnach die Bestallung einerseits als Schlußakt der Wahl und andererseits als Übertragung der Amtsautorität; im vierten Satze werden Kirchenregierung und Königsdienst, die den Inhalt der Amtsvollmacht ausmachten, nicht als solcher, sondern als Maßstab für die Qualifikation genannt. Ebenso der Freisinger electus: idoneus sit divinum servitium regere et regalia obsequia prebere (MGH. DLdK. 44 S. 165 Z. 30). § 430. Wie sich diese beiden Vollmachten zu den kirchlichen potestates ordinis und iurisdictionis verhielten oder verhalten sollten, brauchte man nicht zu definieren, obwohl man durchaus imstande war, zwischen weltlichen und geistlichen Vollmachten zu unterscheiden. Dies bezeugen die Verteidiger der Simonie, die den Ämterkauf damit rechtfertigten, daß er sich nur auf die Temporalien, nicht aber auf die Spiritualien bezöge (R. Benson 1968 S. 204 – 206, 209. M. Minninger 1978 S. 54 – 56, 73. R. Schieffer in LMA 7 Sp. 1923 f.). Umgekehrt lag den Theologen nichts daran, sich mit den Rechtsgrundlagen des weltlichen servitium regis zu beschäftigen (M. Minninger 1978 S. 62 – 73): Es war leichter, diesen Germanismus hinzunehmen, wenn man es unterließ, ihn an den Canones zu messen. So blieb es dem Gewissen jedes einzelnen Bischofs überlassen, sich von dem ihm verstatteten Gottesdienst nur jenes Teils zu unterwinden, den er sich vor dem Empfang der geistlichen Weihe zumessen wollte. Dem Herrscher kam es darauf an, daß er von dem Elekten vom Tage der Bestallung an den Königsdienst verlangen konnte und der Erwählte verpflichtet war, möglichst rasch die Annehmung in seinem Bistum zu erlangen, um ihn erbringen zu können. Was sich germanische Christen unter der königlichen Bestallung wirklich vorstellten, verrät uns deren (freilich sehr späte, unten: § 547) Bezeichnung als Investitur: Sie begriffen den ihr Abstraktionsvermögen strapazierenden Vorgang, indem sie ihn formal mit dem Liegenschaftsgeschäft verglichen, als Bekleidung nämlich des Elekten mit der ideellen Gewere (oben: § 97) am Kirchengebäude und an den Gütern, die der König vorzunehmen hatte, weil ihm diese Güter gehörten. Seit dem 9. Jahrhundert konnte man diese Güter kurz und knapp als das episcopium bezeichnen (J. F. Niermeyer, Lexicon 1976 S. 376 f. Ziffern 9 und 10). Zu den der Immunität teilhaftigen possessiones episcopii rechnete die Reichskanzlei omnes res et familiam, welche die Bischofskirche in Besitz hatte (MGH. DLD. 149 S. 209 Z. 22, 28, 32), also Land und Leute, die später das bischöfliche Fürstentum ausmachten (Ann. Altah. a. 1070 p. 80). Die leibliche Gewere an diesen Sachen erteilte denn auch das Bistumsvolk, das dem Könige während der Sedisvakanz als sein
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Besitzdiener im Lande selbst zur Verfügung stand. Es war am Zuge, sobald es den Elekten zum Bischof und Herrn angenommen hatte und bereit war, ihn auf den Bischofsstuhl zu geleiten. Die Analogie der Bestallung zur Besitzeinweisung barg zwar die Gefahr in sich, die bischöflichen potestates, die man nicht sehen konnte, formal in am Gotteshause hängende Rechtsamen umzuwandeln, die als Zubehör mit dem episcopium in den Besitz des Bischofs übergingen (oben: §§ 355, 356), aber dem stand entgegen, daß man sie inhaltlich nach dem Vorbilde des Königs- und Grafenbannes (oben: § 320) als Banngewalt auffaßte. „Seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts macht sich in den deutschen Bistümern die später zu unbestrittener Herrschaft gelangende germanisch-rechtliche Vorstellung geltend, daß der Bischof die Diözese mit seinem Bann (bannus episcopalis) regiere, also mit der obrigkeitlichen Befugnis, bei Strafe zu gebieten und verbieten, so wie der Papst die Gesamtkirche mit dem bannus S. Petri“ (H. E. Feine 1955 S. 192, nach U. Stutz 1913 / 14). Zum ersten Male erfahren wir aus der um 900 anonym verfaßten Vita des Erzbischofs Rimbert von Bremen, daß dieser im Jahre 865 den herrschaftlichen Besitz des Bistums mit dem Bischofsstabe empfangen habe, den ihm der König dem Brauche gemäß anvertraute, cum pontificalis baculi iuxta morem commendatione episcopatus est sortitus dominium (Vita Rimb. p. 90 lin. 1 – 2). Lat. dominium bezeichnete einerseits die Sachherrschaft an Grund und Boden, die ein freier Mann kraft Investitur oder Gewere auszuüben und zu veräußern vermochte (oben: §§ 94 – 96), andererseits die Herrschaft über Personen (ahd. hêrscaft, hêrtuom, oben: § 410), aus der die öffentliche Banngewalt bestand, und der Stab diente nicht nur bei den Germanen als Symbol für die bannende, bezwingende, bezaubernde Kraft, deren Richter und Herrscher bedurften, um ihrem Worte Geltung zu verschaffen. Nach dem Tode eines Bischofs hatten die während der Sedisvakanz regierenden Großen den Stab dem Könige zu überbringen und sich zu einem von diesem bestimmten Tage abermals bei Hofe einzufinden. „In öffentlicher Versammlung ward dann der feierliche Akt der Wiederbesetzung vorgenommen, sei es daß eine stattgefundene Wahl oder Designation bestätigt oder der von dem König für die Stelle Ausersehene genannt und durch die Zustimmung der Anwesenden erkoren ward: Er empfing aus der Hand des Königs die Insignien und damit Amt und Würde. Erst hierauf folgte die kirchliche Weihe“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 282 f.). Der baculus oder Bischofsstab war demnach das Symbol einer Amts- oder Banngewalt, und wenn seine Übergabe auch zugleich den Übergang der (ideellen) Gewere am Kirchengute vom Könige auf den Bischof sichtbar machte, so ist es doch schwer vorstellbar, daß die im Umgange mit derartigen Rechtssymbolen erfahrenen Menschen des Mittelalters ihn verwechselt hätten mit dem Glockenseil oder der festuca oder virga, dem auf dem Lande gewachsenen Halme oder Reise, deren sie sich im gewöhnlichen Liegenschaftsverkehr bedienten, um Auflassung und Erwerb von Kirchengebäuden und Grundstücken sichtbar zu machen (oben: §§ 296, 356). Der Unterschied (H. Keller 1993 S. 57 f., 85) ist wichtig: Eine Inve-
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stitur mit Reis oder Seil hätte die bischöfliche Amtsgewalt zum Zubehör des Gutes degradiert; die Übergabe des bischöflichen Szepters dagegen zeigte das Gegenteil an, nämlich die Zugehörigkeit des Gutes zu der Amtsgewalt. § 431. Nachdem der König dem Elekten den Bischofsstab überreicht hatte, konnte die Erhebung des Bischofs mit dem wirklichen Antritt der Herrschaft in seiner Diözese zu Ende geführt werden. Denn erst jetzt, wenn die zum Herrscher entsandten Worthalter des Volkes mit dem Bestallten heimkehrten, erfuhr der Wählerverband, ob der König den von ihm Gekorenen oder einen anderen ernannt hatte, den es jetzt zurückzuweisen oder anzunehmen galt. Nur selten wird das erstere geschehen sein, und da es wohl stets mit Waffengewalt geschehen mußte und als Rebellion gegen den König Aufsehen erregte, dürften uns die meisten Fälle dieser Art überliefert sein. Anders steht es um die Einholung des Ernannten in die Bischofsstadt und um die Formen seiner Annehmung. Dies alles war den Zeitgenossen so selbstverständlich, daß unsere Quellen darüber nahezu vollständig schweigen. Es ist schon viel, wenn der sechzig Jahre nach dem Ereignis schreibende Biograph des Bischofs Udalrich von Augsburg zu dessen Erhebung im Jahre 923 den Vorgang überhaupt erwähnt: Fröhlichen Sinnes, so erzählt er, seien die Gesandten und Worthalter des Bistums vom Könige heimgereist; in Augsburg angelangt, hätten sie gemäß dem Befehl des Königs mit vollmächtiger Hand die leibliche Investitur mit dem Bistum zu Udalrichs Gunsten durchgeführt, secundum regis edictum potestativa manu vestituram episcopatus sibi perfecerunt (Vita Oudal. c. 1 S. 387 Z. 26 – 27. Reg. B. Augsb. 1, 66 n. 104. B. Schütte 1998 S. 154 – 156). Der Vorgang ist hier als Liegenschaftsgeschäft aufgefaßt; nicht bloß als Besitzdiener, sondern als vollmächtiger Eigentümer (oben: §§ 295, 296) des Bischofsgutes erscheint im damaligen Herzogtum Schwaben anstatt des Königs oder Herzogs (unten: § 481) die Bistumsgemeinde, die Udalrich selbst erwählt und dem Könige erfolgreich zur Prüfung und Bestallung präsentiert hatte, so daß es jetzt einer Annehmung des Erwählten und Ernannten nicht mehr bedurfte, sondern lediglich der Öffentlichkeit, in der sich jede Liegenschaftsübereignung zu vollziehen hatte (oben: §§ 296, 297. Anderer Ansicht: G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 281). In dem Eigentümerrecht des Bistumsvolkes ist bereits die Rechtsauffassung der späteren Landstände geistlicher Territorien vorgebildet, der zufolge das (unsterbliche) Domkapitel „des Stiftes Erbherren“ und die (sterblichen) Bischöfe gekorene zeitliche Oberhäupter des Landes waren (E. von Lehe 1926 S. 26). Nach erfolgter Investitur dürfte das Bistumsvolk Udalrich den Treueid geleistet und ihn damit zum Regieren ermächtigt haben. Der Biograph erwähnt das zwar nicht, er erzählt aber, daß Udalrich als hochbetagter Bischof im Jahre 971 / 72, begleitet von seinem Neffen Adalbero, Kaiser Otto II. in Ravenna aufgesucht und von ihm erreicht habe, daß der Herrscher procurationem sui episcopatus regimenque super familiam et omnia negotia secularia ad eum pertinentia zu seiner Entlastung dem Adalbero übertrage (Vita Oudal. c. 21 S. 407 Z. 38 – 40. B. Schütte 1998 S. 162 f.). Als sie nach Augsburg heimgekehrt waren, nahmen omnes qui ibi
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inventi sunt, die kaiserliche Entscheidung an; tunc vero praefatus Adalbero, congregatis militibus episcopi, desideravit ut ei sacramenta fidelitatis iurarent; quod et fecerunt in praesentia episcopi; similiter etiam et familia per totum episcopatum fecit (ebd. c. 22 S. 407 Z. 52 – 408 Z. 2. Oben: § 375). Nachdem das Volk die kaiserliche Entscheidung angenommen und damit rechtskräftig gemacht hatte, war es konsequenterweise dazu verpflichtet, dem Prokurator denselben Treueid zu leisten, durch den es im Jahre 923 dem Udalrich die Macht oder Vollmacht zum Regieren übertragen haben muß. Denn alle Zwangsgewalt, die der Fürst gegen Übeltäter ausüben konnte, entsprang daraus, daß seine Untertanen ihm jederzeit gemeinsam beistanden, wenn es solchen Zwanges bedurfte, da es ja die obrigkeitliche und behördliche Zwangsgewalt des späteren Steuerstaates (oben: § 421) noch nicht gab. § 432. Anders als in den Herzogtümern Schwaben und Bayern, denen König Heinrich I. bei seiner Erhebung zum Könige in den Jahren 919 und 921 entsprechende Zusagen gemacht hatte, teilten in Franken und Sachsen die Bistumsvölker ihre diesbezüglichen Rechte mit dem Fürsten, den sie zum Könige angenommen hatten. Der Magdeburger Chronist, der uns über die Annehmung des ersten Erzbischofs im Jahre 968 unterrichtet, folgt in allem der oben (§ 429) erörterten Verordnung Kaiser Ottos, doch fügt er eine wichtige Information hinzu: daß die Anwesenden nämlich den aus Rom mit der päpstlichen Bestätigung eintreffenden Erzbischof honorifice susceperunt et vocum acclamatione manuumque elevatione electum cum prefatis apostolice sedis legatis celebri ritu inthronizaverunt (Gesta aep. Magd. a. 968 S. 382 Z. 7 – 9). Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg bestätigt, daß die sächsischen Bischöfe und Fürsten an dem Festtage anwesend waren, als der Erzbischof a clero et omni populo magnifice susceptus mit der Weihe seiner Suffragane die amtliche Tätigkeit aufnahm (Thietmar II 22 S. 64 f.). Bemerkenswert ist, daß das Bistumsvolk den Erzbischof immer noch als electus betrachtete, obgleich dieser bereits sowohl die königliche Investitur als auch die Bischofsweihe und das erzbischöfliche Pallium erlangt, also nach kanonischem und königlichem Amtsrechte längst aufgehört hatte, bloß Erwählter zu sein; nur nach Volksrecht war er noch und blieb er solange electus, bis der Untertanenverband ihn zum Herrn angenommen haben würde, indem er ihm mit Zuruf und erhobenen Händen Beistand und Gehorsam gelobte und ihm gestattete, auf dem Bischofs- und Richterstuhle Platz zu nehmen. Wer aber (eine Nacht oder drei Tage lang öffentlich und unangefochten, oben: § 291, 356) den bischöflichen Thron besaß, der erlangte die Gewere an der Kirche und am Kirchengute und vermochte manu potestativa darüber zu verfügen (MGH. DO. I. 392 S. 534 Z. 30), so wie der König selber in Francia ac Saxonia regalem potestativa manu posside(a)t sedem (DO. I. 1 S. 90 Z. 11 – 12). Es kennzeichnet die herrschende Verachtung des Volksrechtes, daß neuerdings wieder behauptet worden ist: „Adalbert wurde von den päpstlichen Legaten inthro-
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nisiert “ (D. Claude 1972 S. 117. A. Kränzle 1997 S. 140), obwohl Kaiser Otto ausdrücklich die Großen Ostsachsens damit beauftragt hatte (DO. I. 366: ut a vobis omnibus . . . inthronizetur, S. 503 Z. 4 – 5) und der Verfasser der Gesta bestätigt, daß es so geschah. Die Legaten hatten keinerlei Recht, sich diesen weltlichen Akt anzumaßen; sie waren als Gäste anwesend, und daher hielt Thietmar es nicht für erforderlich, sie überhaupt zu erwähnen. Bis zum Ende des Mittelalters faßte die Magdeburger Rechtssprache die „überwiegend weltlichen Handlungen“, die den Regierungsantritt des Kirchenfürsten begleiteten, unter dem Begriff susceptio archiepiscopi zusammen (B. Schwineköper 1968 S. 187). Der Lexikographie ist allerdings das Verbum suscipere in dieser Bedeutung noch nicht bekannt; möglicherweise lag seine Verwendung den Zeitgenossen deswegen nahe, weil sie damit auch die Annehmung eines Klienten oder Vasallen von Seiten des Herrn bezeichneten (J. F. Niermeyer, Lexikon 1976 S. 1009)! Bei der susceptio handelte es sich „nicht nur um einen Empfang allgemeiner Art, sondern die Vorgänge sind insofern als Teil der Bischofseinsetzung aufzufassen, als der populus . . . im Verlauf des Einzugs durch mündliche Akklamation und Handerhebung seine Übereinstimmung mit der getroffenen Wahl zum Ausdruck bringt . . . Die Gesta bezeugen ausdrücklich die dadurch vollzogene electio;“ mit der vom Kirchenrecht vorgeschriebenen Wahl des Bischofs durch Klerus und Volk verbanden sich dabei „germanische Formen der Huldigung und Treuebezeugung gegenüber dem Herrn“ (B. Schwineköper 1968 S. 191 f.). Für das volkliche Rechtsdenken vollendete sich, was immer vorher geistliche und weltliche Worthalter einschließlich des Königs, was immer Bischöfe einschließlich des Metropoliten und des Papstes getan haben mochten, die Erhebung des Bischofs erst mit dieser Annehmung und Huldigung. Erst sie erteilte dem Kirchenfürsten mit dem Versprechen gemeinsamen Beistands die volle Macht oder Vollmacht, deren er bedurfte, um ein Fürstentum regieren zu können. § 433. Selbst der von den Hoftheologen als Stellvertreter Christi auf Erden identifizierte König (Thietmar I 26) Heinrich II. mußte erfahren, daß die Bistumsvölker die letzte Entscheidung über die Bischofswahl nicht bei ihm, sondern bei sich selber suchten. Denn ohne zuvor das Einverständnis des Königs einzuholen, ließ sich dessen Schwager Adalbero im Jahre 1008 durch Klerus und Volk zum Erzbischof von Trier erwählen und inthronisieren. Als aber der König sich weigerte, ihn mit dem Bistum zu investieren, und statt dessen den Mainzer Kanoniker Megingaud zum Erzbischof ernannte, versagten die Trierer ihm hartnäckig den Gehorsam. Selbst mit Waffengewalt konnte der König sie nicht dazu zwingen, mit ihm einhellig zu werden, Adalbero zu verlassen und Megingaud als Oberhaupt anzunehmen. Erst nach acht anfangs blutigen Jahren und nach Megingauds Tode waren beide Seiten bereit, den Streit beizulegen (St. Weinfurter 2000 S. 122, 146, 194). Auch sonst stieß des Königs theokratisch bemäntelter Herrschaftsanspruch insbesondere in Lothringen und Sachsen auf Unverständnis und erbitterten Widerstand der partikularen Untertanenverbände, die einer ganz anderen Auffassung vom königlichen Amte anhingen: Omnes populi mussant (= ahd. throuuen: bedrohlich murren,
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H. Götz, Wb. 1999 S. 420) et christum Domini peccare occulte clamant (Thietmar VII 8. St. Weinfurter 2000 S. 272. Unten: § 700). So muß es ein Gebot politischer Vernunft für den Herrscher gewesen sein, sich des Einverständnisses des Bistumsvolkes zu versichern, bevor er sich auf einen Kandidaten festlegte. So verfuhr denn auch Kaiserin Agnes, als am 28. Juli 1057 das Bistum Eichstätt vakant geworden war: Schon am 20. August bestimmte sie in Tribur, wo sich das königliche Hoflager gerade befand, in Gegenwart vierer Bischöfe ihren Kaplan, den in Eichstätt ausgebildeten Kleriker Gundekar, zum neuen Bischof. Unser Gewährsmann (Liber pont. Eichst. p. 245) bezeichnet diesen Teilakt der electio als designatio und beschreibt ihn als Bekleidung mit dem Ringe, Triburie est anulo investitus, aber erst am 5. Oktober zu Speyer, und jetzt mit Zustimmung von Worthaltern des Bistumsvolkes, beehrte sie ihn auf einem förmlichen Hoftage auch mit dem bischöflichen Szepter: virga pastorali, sui ipsius cleri militiaeque et etiam familiae communi laude et voto Spirae est honoratus. Auf diesen zweiten Teilakt der Erhebung, die virgae pastoralis susceptio, folgte als dritter bereits am 17. Oktober die inthronizatio, zweifellos vorgenommen in Eichstätt selbst unter Leitung der Eichstätter Worthalter und unter dem Beifall des Volkes, das damit die in Speyer in seinem Namen ausgesprochene Zustimmung bestätigte und Gundekar zum Landesherrn annahm: in sedem episcopalem Dei gratia inthronizatus. Erst jetzt konnte Gundekar als electus die Weihe empfangen; sie wurde ihm am 27. Dezember, dem zweiten Tage nach Neujahr, am Königshofe zu Pöhlde durch den Erzbischof von Mainz und seine Komprovinzialen erteilt. Alle der Weihe vorausgegangenen Akte galten, vom kirchlichen Standpunkte aus betrachtet, als Glieder der electio, denn wir lesen: Anno autem 1057 episcopus electus est, anno autem 1058 episcopus ordinatus est (ebd.). So ist es zwar richtig, daß die Schilderung als typisch gelten kann und daß sich Bischofserhebungen so oder ähnlich mehrfach im Jahre abspielten (R. Schieffer 1981 S. 8), aber damit ist weder gesagt, daß Reichsregierung und Reichskanzlei, noch daß Kanoniker, Herrenbürger und Stiftsministerialen zu Eichstätt die Kettenhandlung in gleicher Weise beschrieben, geschweige denn ihre Glieder in gleicher Weise bewertet hätten. Gewiß hätten sie die Handelnden mit ihren Namen genannt; unser Autor vermeidet es, sie zu erwähnen, indem er alle Aussagen ins grammatische Passiv setzt. Für ihn war Gott der alleinige Täter, und auf die Werkzeuge, deren sich das göttliche Handeln bediente, kam in seiner mystisch-theologischen Weltsicht nichts an. § 434. Wieviel die völkische Ermächtigung des Fürsten zu bedeuten hatte, ist daran zu erkennen, daß die Bischöfe trotz aller lenkenden Eingriffe in die Erhebung, zu denen der König sowie die Großen des Reiches und des Bistums berechtigt waren, bis weit ins 11. Jahrhundert hinein als wichtigste worthaltende Vertrauenspersonen der Bistumsvölker hervortreten. Der Bischof nämlich war es, der beim Könige die Privilegien erwarb, welche dem Domkapitel das Wahlrecht, der familia den Schutz der Immunität und den Kaufleuten Königsschutz und Zollfreiheit in der Fremde verschafften. Als Empfänger dieser Privilegien nannte die Reichskanz-
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lei die Bischöfe, obwohl diese selbst sie direkt nur zum Teile oder gar nicht ausnutzen konnten, aber mittelbar zogen auch sie daraus Gewinn, sofern stets „am Privilegienstand einer Kirche die Gemeinde partizipierte, also auch das Regal in Ortsrecht einging. Wenngleich der Herr es übte, vergabte, abschöpfte, so befand doch die Gemeinde im Schöffengericht über die Rechtmäßigkeit der herrschaftlichen Waltung und erteilte im Zweifelsfall ihr Weistum über den Inhalt“ (H. Jakobs 1971 S. 62). Unter der Leitung und dem Schutze des Bischofs lernte der Stiftsklerus, lernten Ministerialen und Kaufleute, sich zu einen (oben: §§ 228 – 236, 375, 376) und jenen Gemeinwillen zu bilden, den der Bischof hernach im eigenen Namen als Petent gegenüber der Reichsregierung geltend machte. Denn der Bischof war genötigt, zu allen wichtigen Regierungsakten die Zustimmung der Untertanen einzuholen, bis schließlich im 11. Jahrhundert die Interessen beider Seiten auseinanderzugehen begannen, Stadt- und Hofrechtsgemeinden ihre kommunalen Angelegenheiten von der bischöflichen Gerichtsverwaltung absonderten und ihre meliores als Worthalter mit einem eigenen Willen dem des Bischofs gegenüberstellten. Im Jahre 1066 erschlugen die Vasallen der Trierer Kirche den Elekten, den die Reichsregierung ihnen oktroyieren wollte, und erhoben Udo zu ihrem Herrn, der das Erzbistum hernach bis 1078 regierte. Im nächsten Jahre regte sich Widerstand gegen den eigenen Bischof in Speyer, 1073 in Worms, 1074 in Toul, 1075 in Bamberg, 1076 in Köln (I. S. Robinson 1999 S. 116 f.). Auch anderswo begannen in dieser Zeit die Worthalter des Volkes dem Landesherrn als das Land gegenüberzutreten (oben: §§ 210 – 212) und sichtbar zu machen, daß der vom Landesherrn verkündete Gemeinwille, wie seit jeher, in ständigem Paktieren mit dem Lande zustandekam. § 435. Längst hatte es Bischöfe und Äbte gegeben, die die Belastung der Kirchen mit weltlichen und staatlichen Aufgaben beklagt hatten, weil sie sie von den eigentlichen Aufgaben des Klerus in Seelsorge, Mission und heiligmäßigem Leben ablenkte (M. Minninger 1978 S. 62 – 73), und so hatte sich der Ruf nach einer Reform der Kirche erhoben, deren Anhänger sich viel von dem Versuch versprachen, den Einfluß des Staates und der Laienwelt auf die Bischofserhebung zu brechen. Ihre Zeit war gekommen, als im Jahre 1049 zum ersten Male einer der ihren den päpstlichen Stuhl bestieg. Die Reformpartei zielte darauf, die Wahl des Bischofs im engeren Sinne, nämlich die Auslese der für das Amt am besten geeigneten Person, allein dem Klerus des Bistums vorzubehalten und die Laien, einschließlich des Königs und der Großen des Reiches, auf Zustimmung, Akklamation, Approbation, Konsens zu beschränken (R. Benson 1968 S. 27 – 33, 40). Die Bistumsgemeinden konnten damit einverstanden sein, daß die Beseitigung der königlichen Designation die Erhebung allein in ihre Hände legte, da die wählenden Kleriker als Landeskinder eng an ihre Interessen gebunden waren und weder der Landesadel noch die Bürger der Bischofsstädte jemals aufhörten, in ihrer Teilhabe an der Kur weit mehr als eine bloße Christenpflicht, nämlich ein Recht zu
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sehen, das althergekommene Recht des Volkes, dem Herrn Bedingungen zu stellen, unter denen es ihn annahm, und ihn wieder zu verlassen oder ihm Widerstand zu leisten, sobald er den mit Einwilligung in die Bedingungen eingegangenen Herrschaftsvertrag mutwillig brach, worüber zu befinden das Recht des Königs war (oben: §§ 237 – 242) und auch dann noch blieb, als er im 13. Jahrhundert aus der electio völlig ausgeschieden war. Dies war der Punkt, an dem sich die Wege des kanonischen und des deutschen Rechtes schieden. Von einem solchen Recht des Volkes und vom Herrschaftsvertrag wollten die Kanonisten nichts wissen; sie gingen mit Stillschweigen darüber hinweg. Aber in Utrecht kam es im Winter 1150 / 51 zu einer Doppelwahl, weil die formal bereits von der electio ausgeschlossenen Laien uneinig waren und sowohl nobiles als auch Neufreie einen Teil der kiesenden Kleriker auf ihre Seite zu bringen verstanden, wozu die Ministerialen und Bürger zu Utrecht und Deventer freilich nur unter Anwendung von Gewalt imstande waren. König Konrad III., dessen Sendeboten die Wahl hatten leiten sollen, bestellte beide Elekten mit ihren Wählern auf einen Hoftag nach Nürnberg, wo er gegen die ausgebliebene Ministerialität entschied und den Kandidaten des Adels investierte. Aber als dieser, von seinen Wählern geleitet, nach Utrecht kam, verschlossen Ministerialen und Bürger die Stadttore und verweigerten ihm die Annehmung. Von neuem riefen sie sodann den König an, der auf einem Hoftage zu Nimwegen abermals gegen sie entschied. Nun wandten sie sich an den Papst, um in Gegenwart päpstlicher Legaten zu Lüttich abermals zu unterliegen. Aber selbst dann gaben sie ihren Widerstand nicht auf. Erst König Friedrich vermochte ein Jahr später ihre Unterwerfung zu erzwingen (R. R. Post 1933 S. 22 – 25). Wie üblich, erfahren wir weder vom Könige (MGH. DK. III. 244) noch von den Annalisten etwas über den Rechtsstandpunkt, den das neufreie Stadtvolk so zähe verteidigte und natürlich trotz der Niederlage nicht aufgab. Mochte es aus Liebe zu Christus und seiner Kirche dem Wahlrecht entsagen: sein Recht, den von anderen erwählten und ermächtigten Fürsten anzunehmen oder abzuweisen, galt ihm als angeboren und unveräußerlich und als eine feste Burg, die seine Interessen gegenüber einer mannigfaltigem Mißbrauche ausgesetzten fürstlichen Gewalt ebenso kräftig beschützte, wie es das volle Wahlrecht getan hätte. Gleich den nobiles formierten sich die utrechtschen Ritter und Städte als comprovinciales oder Landstände und erschienen zum Wahltermin, um auf das wählende Kapitel Druck zugunsten eines ihnen genehmen Kandidaten auszuüben und sich ihre Zustimmung zu der endlichen Wahl abhandeln zu lassen (R. R. Post 1933 S. 32 f., 39, 58, 74. H. Schmidt 2001 S. 40). § 436. So kommt es, daß die geistlichen Wähler in den Wahlgedingen oder Wahlkapitulationen, die sie vor der Kur als bindende Grundlage für die künftige Regierung beschlossen, nicht nur den Vorteil des Domkapitels, sondern auch den der übrigen Stände des Landes wahrzunehmen pflegten. Derartige Abmachungen zwischen Wählern und Gewähltem, denen sich der letztere mit seiner besiegelten
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Urkunde zu unterwerfen hatte, sind erstmals 1209 in Verdun nachzuweisen und fanden seitdem rasch allgemeine Verbreitung (U. Schmidt in LMA 8 Sp. 1914 f.). Der König aber beschloß die Urkunden, mittels deren er einen electus investierte, stets mit dem Befehl an dessen Vasallen und Untertanen, ihrem neuen kirchlichen Herrn zu gehorchen, was diese natürlich nur dann zu tun brauchten, wenn sie die Urkunde und das mit der Investitur beendete Verfahren für hinreichend rechtmäßig anerkannten, um den Elekten zum Herrn anzunehmen. Aber auch dann, wenn sie keinen König über sich wußten, waren sie befugt und imstande, den Erwählten anzunehmen und zu ihren Bedingungen zur Herrschaft zu ermächtigen, offenbar weil die Königsrechte oder Regalien während des Interregnums ihnen, der Bistumsgemeinde, ebenso heimgefallen waren, wie sie seit jeher während der Sedisvakanzen in ihrer treuhänderischen oder besitzdienerischen Obhut zu stehen pflegten (oben: § 429). So geschah es im Jahre 1249 in Utrecht: Clerus autem Traiectensis, accedente favore populi, elegit decanum Coloniensem de Randinrode, castra et munitiones episcopales eidem assignantes (Chronica regia Coloniensis a. 1249. R. R. Post 1933 S. 69 – 71. H. Stehkämper 1977 S. 330). In Verdun war es im Jahre 1288 eine erweisliche Gewohnheit, daß Domkapitel und Bürgerschaft dem Erwählten weder die weltliche Gerichtsbarkeit noch die vom Reiche zu Lehn gehenden Regalien (li fiei de l’aveschiei) noch die Stadtschlüssel auszuliefern brauchten, bevor er ihnen nicht den königlichen Regalienbrief vorgelegt hatte (MGH. Const. 3, 392 n. 410 c. 21. R. Benson 1968 S. 295 – 297). Es war eben erst die im Lande selbst zu vollziehende Annehmung und leibliche Investitur des neuen Herrn durch die Untertanen, die deren Gehorsamspflicht gegenüber dem neuen geistlichen Stadt- und Landesherrn begründete und damit alle vorangegangenen Schritte des Erhebungsverfahrens für vorläufig und an und für sich kraftlos erklärte. Mochte das Volk auch auf die Auslese der Person seines Herrn keinen Einfluß mehr haben: die Annehmung, die ihm als letzter Rest seines Wahlrechts nicht zu benehmen war, sicherte ihm immer noch den ihm zustehenden Einfluß auf die von der Person des Herrn ganz unabhängige Regierungsweise, der es sich zu unterwerfen bereit war. Wie fein auch immer das kanonische Recht seit der Mitte des 12. Jahrhunderts die Bischofserhebung zergliedern, die Rechtsfolgen der Teilhandlungen bestimmen und die Pflichten und Rechte der daran Beteiligten festlegen mochte – auf die Rechtsauffassungen der Bistumsvölker und der Landstände deutscher geistlicher Territorien übte dies alles keine erkennbare Wirkung aus. Nicht von ungefähr pflegte, wenn die Wahl an ein norddeutsches Domkapitel kam, Vertrautheit mit dem gelehrten Recht als Merkmal für die Eignung eines Kandidaten bedeutungslos zu sein. Kanonisten erlangten gewöhnlich nur durch päpstliche Provision einen Bischofsstuhl, und leicht gerieten sie mit Domkapitel und Prälaten ihres Stiftes in Konflikt (H. Schmidt 2000 S. 36). „Wer sich . . . vom Domkapitel zum Bischof wählen lassen wollte, tat gut daran, sich das Einverständnis der Stände – der übrigen Prälaten (Äbte, Pröpste), der Ministerialität, der Städte des jeweiligen Erzoder Hochstiftes zu sichern, und natürlich war auch ein Bischof, der sein Amt
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durch päpstliche Provision erlangt hatte und dann meist von auswärts ins Land kam, gut beraten, wenn er sich alsbald um das ständische Einvernehmen bemühte“ (ebd. S. 39).
§§ 437 – 440. Die Erhebung zum Reichsabte § 437. Die Erhebung zum Reichsabte nahm denselben Verlauf wie die zum Bischof. Die Ordensregel der Benediktiner, der die Kaiser Karl und Ludwig zu allgemeiner Geltung im Fränkischen Reiche verhalfen, enthielt eine Vorschrift über die Auslese des Abtes, an der „Europa das Verfahren bei Wahlen gelernt“ hat (H. Hattenhauer 1992 S. 183). Die Klostergemeinde sollte einmütig kiesen, und zwar nicht den ältesten oder vornehmsten der Brüder, sondern den tauglichsten. War Einhelligkeit nicht zu erreichen, so sollte die weiseste Meinung oder die sanior pars der Brüder den Ausschlag geben; war aber gar Einmütigkeit nur bei der Kur eines Untüchtigen zu erzielen, der mit den Fehlern der Brüder einverstanden wäre, so sollten die Bischöfe und die Äbte der Nachbarklöster eingreifen und dem Hause Gottes einen würdigen Verwalter bestellen. Als Herren einer germanischen Landeskirche in einer Stellung, die ihre Hoftheologen zur Theokratie erhöhten, waren auch die karolingischen Könige verpflichtet, für die Wahl tauglicher Äbte zu sorgen. Als Eigenkirchenherren jener Klöster aber, die sie aus ihrem Hausgute gestiftet hatten oder mit Reichsgut dotierten, waren sie zu noch mehr berechtigt, nämlich dazu, die Äbte selbst auszulesen, die sie mit der Verwaltung der Klostergüter und der Leistung des darauf ruhenden Königs- oder Reichsdienstes beauftragen wollten, und selbst wenn sie klosterfremde Mönche oder auch Weltgeistliche, ja sogar Laien erkoren und bestallten, blieb den Konventen nichts anderes übrig, als sich dem Willen des Königs und Eigenkirchenherrn zu beugen. Denn in einem Punkte bestand ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen den Ämtern des Bischofs und des Abtes: Nur jenes nämlich war ein öffentliches Amt, welches niemand verwalten konnte, ohne vom weltlichen Klerus und dem freien Volke des Bistums öffentlich erkoren oder wenigstens angenommen worden zu sein; das Amt des Abtes oder die abbatia, wie man seit Beginn des 9. Jahrhunderts sich zu sagen gewöhnte (J. F. Niermeyer, Lexikon 1976 S. 1 – 3 Ziffern 4 – 6), um die Abtei ebenso vom Kloster abzuheben, wie man das episcopium von dem episcopatus abhob, war ein privates, von dem Stifter oder Gründer des Klosters eingerichtetes Amt. Dieses hatte zwar auch den Mönchskonvent in Zucht und Ordnung zu halten, bestand doch der den Brüdern obliegende Reichsdienst auch in Gebet und Fürbitte für den König und die Reichsregierung, im übrigen aber nahm es in der Güterverwaltung des Eigenkirchenherrn lediglich die abhängig dienende Stellung eines Hofbeamten ein (oben: § 421). Als Hofbeamter jedoch bedurfte der Abt einer Annehmung weder von Seiten des Konventes noch durch irgendeine weltliche Öffentlichkeit.
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Erst in dem Maße, wie seit dem 9. Jahrhundert einerseits die Bauern und das Hofgesinde der Abtei, ein jeder für sich auf der Skala der Freiheiten aufsteigend, allmählich die Rechte und den Stand der Neufreiheit erlangten, andererseits aber sie alle gemeinsam als familia unter dem Schutze der vom Könige dem Kloster gewährten Immunität allmählich die Verfassung von Hofrechtsverbänden erlangten (oben: §§ 368 – 376), löste sich diese Privatheit der Abtei auf und näherte sich die Stellung des Abtes benebst dem Konvente derjenigen des Bischofs und seines Domkapitels an. Aus neufreien Bauern, Bürgern und Rittern bestehende Hofrechtsgemeinden, die als Vogtgerichtsverbände den Grafschaftsgemeinden immer ähnlicher wurden, die als Depositare des Hofrechts auch die weltlichen Rechte der Abtei wahrten und den Abt bei wichtigen Verfügungen an ihre Zustimmung zu binden verstanden: solche Hofgemeinden traten nun auch dem königlichen Eigenkirchenherrn öffentlich gegenüber, wenn es darum ging, die verwaiste Abtei neu zu besetzen. Es wuchs ihnen seit dem Ende des 9. Jahrhunderts das Recht zu, den neuen Herrn als öffentlichen Amtmann nach Volksrecht unter den Bedingungen eines Herrschaftsvertrages anzunehmen und bei Bruch seiner Verpflichtungen wieder zu verlassen. § 438. Je mehr sich auf diese Weise die Reichsabteien in ihrer weltlichen, vom Hof-, Volks- und Reichsrecht bestimmten Stellung den Bistümern anglichen, desto deutlicher tritt auch bei der Erhebung der Äbte die verfahrensmäßige Scheidung zwischen Wahl und Bestallung hervor. Das Wahlrecht lag zunächst beim Könige und dem Konvent, aber seit dem 11. Jahrhundert erkämpfte sich auch das Klostervolk einen Anteil daran. Die Bestallung des Abtes war Sache des Königs und vollzog sich in derselben Form wie die der Bischöfe: Der König überreichte dem Elekten den Stab als Symbol der Amtsgewalt, und der Investierte leistete ihm den Treueid (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 279 – 287). Erst der auf diese Weise Bestallte empfing vom zuständigen Bischof oder, im Falle der Exemtion, wie sie Fulda seit 751 und die langobardische Abtei Farfa seit 775 genossen, vom Papste die Benediktion oder Segnung, die als geistliche Weihe der Konsekration des zum Bischof Erwählten entsprach (MGH. DO. III. 276: electus quisque ab eadem congregatione prius, dein imperiali patrocinio presentatus gratis roboretur et tunc a summo pontifice consecretur). Zwar ließ das königliche Eigenkirchenrecht an sich keinerlei Raum für eine freie Wahl des Abtes durch den Klosterkonvent, wie sie die Ordensregel der Benediktiner vorsah, geschweige denn durch das Volk, aber persönliche Frömmigkeit bewog die Karolinger und später die ostfränkisch-deutschen Könige regelmäßig dazu, den Konventen in Einzelentscheidungen das Wahlrecht als Vorrecht oder Privileg zuzugestehen, sei es als Klausel eingefügt in die Verleihung der Immunität oder als besonderes Wahlprivileg (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 57. W. Hartmann 2002 S. 186 f.). An diesem Wahlrecht aber mußte der König bald auch den Hofrechtsverband beteiligen. Zuerst freilich war davon noch keine Rede. Dem karolingischen Hauskloster Prüm hatte bereits König Pippin im Jahre 762 mit dem besonderen königlichen Schutze die freie, jedoch mit königlichem Einverständnis vor-
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zunehmende Abtswahl gewährt, soferne die Brüder unter sich selbst einen geeigneten Kandidaten finden könnten (L. Kuchenbuch 1978 S. 44. MGH. DK. III. 100). Es gab also keinen Verzicht des Königs auf sein Ernennungsrecht, sondern eine Mäßigung dahingehend, daß der vom Konvent Erwählte bestallt werden sollte, wenn der König ihn für geeignet befand; andernfalls lebte das Königsrecht wieder auf, dem Kloster nach eigenem Gutdünken einen Abt zu oktroyieren (MGH. DO. I. 316 S. 430 Z. 33 – 37). Dem Kloster Lorsch hatte erstmals Kaiser Ludwig der Fromme mit der Immunität dieses Wahlrecht gewährt, und seine Nachfolger hatten es unverändert bestätigt (DLD. 63. DArn. 23). Während aber dieses auf Bitten des jeweiligen Abtes geschah, erschienen bei Kaiser Karl III. zu Ulm im Jahre 883 fratres ex monasterio mit der Bitte, ut licentiam eis inter se abbatem eligendi concederemus, quod libenti animo ita concedimus (DK. III. 70), und den Mönchen daselbst gestand dreißig Jahre später auch König Konrad I. das Wahlrecht zu (DKo. I. 18). Ein Jahr darauf, im Sommer 914, präsentierten die Mönche dem Könige ihren Mitbruder Liuthar als seinen getreuen Abt mit der Bitte, er möge ihm das Kloster auf Lebenszeit übertragen, ut . . . id ipsum Laureshamense monasterium . . . Liuthario .. ad dies vite sue concederemus. Der König willfahrte der Bitte, damit Liuthar die Mönche gemäß der Benediktinerregel leitete und von dem Kloster nostrum regale servitium, sicut antiquitus constitutum est, erbrachte; die dem Abte erteilte Amtsvollmacht, so erfahren wir hier zum ersten Male, war also in derselben Weise zweiteilig wie die bischöfliche (oben: § 429). Denn jetzt war die Abtei endlich zu einem öffentlichen Amte geworden. Dies ergibt sich daraus, daß Konrad zu den genannten amtlichen Zwecken die Abtei gemäß der Bitte des Konventes und mit Willen des abteilichen Untertanenverbandes vergab: iuxta illorum petitionem totiusque consensu eiusdem cenobii familie illam abbatiam . . . Liuthario predicto abbati in dies vite sue in proprium potestative donavimus (DKo. I. 23). Es ist nicht nur zu vermuten, daß Abt Liuthar der Annehmung bedurfte, die die familia nunmehr indirekt an der Erhebung des Reichsabtes beteiligte, sondern auch, daß er, nachdem ihm der König die ideelle Gewere am Gute des Reichsklosters verliehen hatte, aus ihrer Hand die leibliche Gewere, die Einweisung in den wirklichen Besitz (nicht des Klosters der Mönche, sondern) der Abtei, empfing. Aber auch zu allen wichtigen Verfügungen über das Klostergut und zu allen außergewöhnlichen Belastungen der familia durch den abteilichen Reichsdienst wird Liuthar der Zustimmung der zur willens-, rechts- und handlungsfähigen Verbandsperson herangewachsenen klösterlichen Hofrechtsgemeinde bedurft haben (oben: §§ 330, 375, 376). § 439. Die königliche Bestallung verschaffte dem Abte den eigentümlichen, eigentumsrechtlichen Besitz der Abtei auf Lebenszeit. König Konrads Kanzlei benutzte damit einen Ausdruck des germanischen Sachen- und Liegenschaftsrechtes, der die Verfügungsmacht des bestallten Abtes als ideelle Gewere mit der des Eigentümers lediglich verglich, da ihr das wichtigste Merkmal vollen Eigentums,
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nämlich die Erblichkeit oder Verfügbarkeit von Todes wegen, abging (oben: § 128b). Ich sehe darin das Bemühen des Diktators, das wesentliche Merkmal der Amtsgewalt zu erfassen, die niemals irgend jemandes, weder des Königs noch seines Amtmannes, volles und freies Eigentum werden konnte, da sie letztlich und unveräußerlich allein der unsterblichen Gesamtperson des Reichsvolkes gehören konnte. Es fehlte daher dem ungeschulten Rechtsdenken der Zeit die Möglichkeit, diese offenbar klar empfundenen Rechtsverhältnisse durch gedankliche Abstraktion auf deutlich definierte Begriffe zu bringen. So kommt es, daß sich im Laufe des 10. Jahrhunderts der lediglich vergleichend und annähernd brauchbare Begriff der Investitur dafür einbürgern konnte. Von der privaten, nur die Vertragsparteien und ihre Nachbarn angehenden sachenrechtlichen Investitur unterschied sich die hier gemeinte amtliche Investitur oder Bestallung eben durch ihre Öffentlichkeit, d. h. dadurch, daß sie erst an dem Tage Rechtskraft erlangte, an dem der Konvent der Brüder und der Hofrechtsverband den Bestallten zum Haupte annahmen und ihm die leibliche Gewere an der Abtei verschafften. In dem Aufkommen des Begriffs abbatia, vergleichbar dem episcopium, findet der dafür grundlegende verfassungsgeschichtliche Vorgang seinen sprachlichen Ausdruck, daß sich das abtliche Amt von dem Konvent und Untertanenverbande, auf den es sich bezog, abzuheben begann und daß der letztere als das Land, mit dem sich seine Worthalter identifizierten, seinem vom Könige bestallten Haupte gegenübertrat, um sich mit ihm durch den Herrschaftsvertrag zu verbinden. Es ist derselbe amtsrechtliche Vorgang, dem im kirchlichen Vermögensrecht die Abschichtung des Domstifts und der übrigen Stifter vom Bischof, des reichsklösterlichen Konvents vom Abte und damit die Trennung des Kapitels- oder Konventsgutes vom bischöflichen oder abteilichen Tafelgut entsprach (H. E. Feine 1955 S. 189. H. C. Faußner 1973 S. 407 f., 437 f.). Auch dieser Vorgang setzte im 9. Jahrhundert allmählich ein und beleuchtet auf seine Weise den amtsrechtlichen Charakter, der dem episcopium und der abbatia zu eigen war. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts errichteten die Könige und das Reich keine neuen Abteien und Stifter mehr (oben: § 322a). Ihre jüngste Gründung blieb das Stift St. Simon und Juda, das Kaiser Heinrich III. bei der von Werla nach Goslar verlegten Kaiserpfalz errichtete (J. Ficker 1861 S. 328), das aber keinen namhaften Anteil an der Verwaltung des umfangreichen Goslarer Reichsgutbezirks mehr erlangte, weil die innere Entwicklung der Immunitätsbezirke zu dieser Zeit bereits den Vogt zum Haupte des zugehörigen Hofrechtsverbandes befördert und dieser Verband in den Ministerialen und Bürgern der aufblühenden Stadt Goslar einflußreiche Worthalter gewonnen hatte. Überall begann zu dieser Zeit der Vogt mit dem Abte um die vom Klostervolke verliehene Herrschaftsmacht zu konkurrieren. Folgerichtig begann daher die Reichsregierung, die der königlichen Kammer unmittelbar unterstehenden Reichsgüter jetzt in Reichsvogteien zusammenzufassen. „Benno, der spätere Bischof von Osnabrück, bildete während seiner Tätigkeit als Goslarer maior domus in den letzten Jahren Heinrichs III. ein Muster für dieses Amt vor . . . Nach Benno haben sich Bodo, der erste ausdrücklich als Vogt bezeich-
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2. Teil: Der Staat
nete Verwalter des Amtes, und weitere Nachfolger richten können“ (W. Berges 1963 S. 143). Der Vogt Benno wird uns zum Jahre 1075 genannt. Zu derselben Zeit scheint König Heinrich IV. in dem Reichsgutbezirk von Aachen die ersten Reichsvogteien eingerichtet zu haben (D. Flach 1976 S. 105 f., 253, 338). Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine neue, nicht mehr von Abt und Mönchen, sondern von neufreien Amtleuten und Untertanenverbänden getragene Form der Reichsgutverwaltung, die ein Jahrhundert später ihren Teil zur Stärke des staufischen Königtums beitrug und alsbald von den Landesherren übernommen wurde (oben: § 366). § 440. Die Reichsklöster hatten bei der Verteidigung ihrer Immunität überall mit dem Nachteil der Streulage ihrer Güter zu kämpfen (oben: § 364) und verloren daher die Herrschaft über die Masse ihres Besitzes an die Inhaber der Vogteigewalt und deren Landeshoheit. Nur im klosternahen Kernbereich ihrer Güter vermochten sie sich der Vogtei derart zu entledigen, daß der Abt sie zurückkaufte oder auf andere Weise an sich zog, um hinfort in eigener Person das Amt des Vogtes und Landesherrn auszuüben. So entstanden reichsunmittelbare Zwergterritorien, in denen es für immer bei dem beschriebenen Verfahren der Abtserhebung blieb: König und Konvent gemeinsam nahmen die electio vor, der König erteilte dem Elekten die Bestallung, indem er ihn mit den Regalien und vogteilichen Bannrechten bekleidete, und das Landvolk übte das Recht der susceptio aus, indem es dem Herrn Gehorsam und Beistand gelobte. So geschah es zum Beispiel im Jahre 1063 in dem bayerischen Reichskloster Niederaltaich an der Donau. Als König Heinrich IV. im drei Tagereisen entfernten Freising das Weihnachtsfest feierte, werden die Mönche ihm das Szepter des am 13. November verstorbenen Abtes Adalhard überbracht und den ihnen erwünschten Nachfolger vorgeschlagen haben. Denn ebendort bestallte der König ihren Konfrater Wenzel, Abt des Klosters zu Leno bei Brescia, den die Brüder offensichtlich vorsichtshalber herbeigerufen hatten, da er sich bereits am 1. Januar in Niederaltaich annehmen und huldigen lassen konnte: Rex in Frisingun natale Domini celebravit, ubi constituit Wenzlaum Altaensibus patrem, eiusdem congregationis monachum et fratrem, sed tunc temporis abbatem Leonensem. Is ergo Altaham veniens in dominica circumcisione fratribus cunctis congaudentibus, susceptus est cum ingenti honore simulque communi leticia universae familiae (Ann. Altah. a. 1063 p. 61). Bis zu dieser Zeit erfreuten sich die Äbte wohl überall des Vertrauens der klösterlichen Untertanengemeinden, die gleich den bischöflichen am Privilegienstande ihrer Herrschaften teilhatten. Mißachtete aber der König das Wahlrecht eines Konvents und oktroyierte er dem Kloster eine unerwünschte Persönlichkeit, so konnte dies schon im 11. Jahrhundert zu Konflikten zwischen Abtei und Kloster führen, wenn nämlich jene einseitig das Interesse des Reiches am Königsdienste, dieses dagegen das Verlangen des Landes nach erträglichen Lasten verfocht (H. Goetting 1973 S. 94 f., 155 f., 210). Der Konvent sah sich dadurch veranlaßt,
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die familia zum Bundesgenossen gegen den Abt zu gewinnen; gemeinsam mit Rittern und Bürgern verhandelte er nun als vornehmster Landstand mit dem Abte, der das Stiftsland nach außen hin und gegenüber dem Reiche vertrat. Damit wuchs aber auch der Einfluß der familia und klösterlichen Landesgemeinde auf die Erhebung des Abtes, und zwar um so mehr, je weniger das Königtum, endgültig seit dem Thronstreit von 1198, sein Recht, die Wahl zu leiten und zu lenken, noch aufrechtzuerhalten vermochte. Von einem für diese Entwicklung typischen Vorfall hören wir zum Jahre 1142 aus dem schwäbischen Reichskloster Einsiedeln, wo nach dem Tode des Abtes Werner pro electione successoris rite confirmanda inter fratres et Ruodolfum advocatum familiamque discordia gravis erat et nefanda. Fratres enim regularem normam consecuti, unanimes et concordes in timore Dei sibi patrem elegerunt; seculares autem hoc infringi laborantes, nisi semet interesse consilio, elegendum fore vehementer cum armata manu rennuerunt. Viele Brüder halb totgeschlagen in der Kirche zurücklassend, entflohen die Mönche cum electo suo, und nur weil König Konrad zu der Zeit im Lande weilte und eine Zeitlang in Konstanz Hof hielt, wurden sie ihrer Untertanen noch einmal Herr: König und Reichsfürsten bestätigten ihre Wahl und entrissen den Gewalttätern die Abtei. Gerne wüßten wir, wie es nun zur Versöhnung des Konventes mit der familia kam und unter welchen Bedingungen der Erwählte seine Annehmung als Landesherr erreichte; dem Berichterstatter aber war etwas anderes wichtiger: Electus vero noster Ruodolfus, accepta statim a rege abbatia, coram principibus honorifice sublimatus, wurde am dritten Tage danach auf Befehl des Königs und auf Bitten des Bischofs von Konstanz hin von Kardinal Tiedewin in Reichenau geweiht (Ann. Einsid. a. 1142 p. 147). Gewiß werden die Mönche zu Einsiedeln es nicht noch einmal gewagt haben, einen von der familia abgelehnten Mönch zum Abte zu kiesen. Im benachbarten St. Gallen jedenfalls erlangte Heinrich von Klingen im Jahre 1200 die Abtei nunmehr communi consensu omnium fratrum ac ministerialium et tocius populi assensu. Als Worthalter des Volkes hatte die Ritterschaft in dem Wahlgremium Platz genommen. Von einer Lenkung der Kur durch den König war keine Rede mehr; der Herrscher mußte das Ergebnis hinnehmen, als sich ihm der electus auf einem Hoftage zu Ulm präsentierte: imperiali ceptro honorifice huius abbatie regimine investitus est (Cas. s. Galli cont. c. 43 p. 196. G. Meyer von Knonau 1877 S. 135). So ging seit dem Ende des 12. Jahrhunderts der dem Könige entgleitende lenkende Einfluß auf den Untertanenverband des Klosterlandes über. Der Amtseid, den der Konvent dem Erwählten abforderte, bevor er ihn zum Herrn annahm, wahrte ebenso, wie er es in den Bistümern tat, auch die Rechte des Landes, wie dort diente er in den Klosterterritorien als Anknüpfungspunkt für die spätere Wahlkapitulation (H. Goetting 1973 S. 155 – 159, 225). Für das 13. Jahrhundert ergibt sich eine Gesamtzahl von neunundzwanzig Äbten und sechzehn Äbtissinnen, die sich im Ringen mit den nach der Landeshoheit strebenden Klostervögten die Reichsfreiheit zu erhalten verstanden (J. Ficker 1861 S. 374). Die Untertanenver-
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2. Teil: Der Staat
bände oder Landesgemeinden dieser zum größten Teil in Oberdeutschland gelegenen Reichsabteien leisteten einen sonderlich namhaften Beitrag zum Aufbau der neufreien Verfassungs- und Lebensform des Kommunalismus (oben: §§ 235, 236).
Vierzehntes Kapitel
Weltliche Fürsten: Die Regna des Ostfränkischen Reiches §§ 441 – 448. Das Problem und der Stand der Forschung § 441. Das weltliche Fürstentum stellt uns vor ungleich größere Schwierigkeiten als das geistliche, da es allein den Regeln der meistens ungeschriebenen Volksund Landrechte unterlag, daher keinerlei Rechtstatsachen bestanden, die davon hätten ausgenommen und durch königliches Privileg verbürgt werden müssen – wogegen wir unser Wissen über die geistlichen Fürstentümer vor allem der Existenz des kanonischen Rechts und der Kollision kanonischer Normen mit den Volksrechten verdanken, rief doch der Widerspruch zwischen kirchlichem und weltlichem Recht Sonderregelungen ins Leben, die sich durch königliche Beurkundung zu sichern die Kirchen nach Möglichkeit niemals versäumten. Hinzu kommt, daß es, was die Erhebung zum Bischof oder Abte anlangt, uralte Vorschriften gab, die die wahlberechtigten Gemeinschaften und die Pflichten der Erhobenen einigermaßen deutlich umrissen. Dagegen sind das Herzogtum und die Großgrafschaft, aus denen alles spätere weltliche Fürstentum hervorging, Neuschöpfungen des Ostfränkisch-deutschen Reiches und eine Eigentümlichkeit der an und für sich bereits problematischen Verfassung, die sich dieses Reich bis zum Ende des 12. Jahrhunderts bewahrte, daher es kaum Möglichkeiten gibt, um die Interpretation der dürftigen Quellennachrichten vergleichend abzusichern. Ich werde im folgenden das Erkennbare deuten, indem ich es auf die Regeln des Systems identischer Willensbildung beziehe, denen auch die Erhebung zum geistlichen Fürsten gehorchte. Das Problem stellt sich in der vorsichtigen Formulierung von Georg Waitz folgendermaßen dar: Seit König Otto I. erstrebten die Beherrscher des Reiches die freie Verfügung über das Herzogtum und den Ausschluß erblichen Rechtes, jedoch sei der erbliche Anspruch fortwährend dem Rechte des Königs entgegengetreten. „Aber auch noch ein anderes macht sich bei der Erhebung der Herzoge geltend. Wie von alters im Fränkischen Reich bei der Einsetzung des Bairischen Herzogs erblicher Anspruch des Geschlechtes, Ernennung oder Bestätigung des Königs und Wahl oder Anerkennung des Volkes zusammenwirkten, so hat sich ähnliches auch in dieser Zeit gezeigt. Verdanken die neu emporgekommenen herzoglichen Gewalten ihre Stellung zunächst besonders der Anerkennung der Stämme, so ist eine Erinnerung daran auch später geblieben, der Wahl des Volks oder der Großen des Volks hier ein gewisser Einfluß gewährt“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 109 – 114).
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2. Teil: Der Staat
Deutlich unterscheidet dieses Urteil zwischen dem subjektiven Anspruch des Bewerbers und dem objektiven Recht einerseits des Königs zu bestallen, andererseits des Volkes zu kiesen oder anzunehmen. Welchen Rang Waitz dem Wahlrecht des Volkes beizulegen gedachte, deutet seine beiläufige Bemerkung an, daß die Schriftsteller den Titel des Herzogs wie auf das Volk, so auf das Land bezögen, indem sie sowohl vom dux Alamannorum als auch vom dux Alamanniae redeten, daß aber das erstere überwiege (ebd. S. 121 A. 2): Der Herzog gehörte zu dem Verbande, der ihn erhob, und zu dem Lande, das dieser beherrschte, denn der herzogliche Wähler- und Untertanenverband war von vornherein ein gebietsbezogener Personenverband (oben: §§ 202 – 206). Als Ausdruck des Verhältnisses, in das der Herzog zu ihm trat, betrachtete Waitz den Eid der Treue, den er von den Untertanen entgegennahm; wir hörten davon zwar nur anläßlich der Erhebung geistlicher Fürsten (oben: §§ 431, 432), aber bei den weltlichen werde es nicht anders gewesen sein, wenn uns auch nur vereinzelte Nachrichten aus Flandern und Hennegau zu Gebote stünden, um diese Vermutung zu stützen (ebd. S. 307 f.). § 442a. Diese Ansichten zu bestärken waren die Waitz noch nicht bekannten Untersuchungen von Julius Ficker über die herzoglichen Untertanenverbände geeignet, die als Stämme zu bezeichnen diesem Gelehrten übrigens in auffallender Weise fernlag, gleichsam als ob er es habe vermeiden wollen, diesen politischen Gebilden einen biogenetischen Begriff zu unterlegen. Ficker glaubte den Formen der Wahl und Anerkennung des Königs, wie sie uns aus den Quellen des 11. und 12. Jahrhunderts entgegentreten, entnehmen zu können, daß „einerseits über der Einheit des deutschen Königtumes die Zusammensetzung des Reichs aus verschiedenen Ländern nicht vergessen wurde, andererseits aber der König in jedem derselben als unmittelbarer Herrscher, nicht etwa nur als Oberlehnsherr des Herzogs betrachtet wurde“ (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 25). Denn im Verlaufe des 10. Jahrhunderts bis hin zur Erwerbung Burgunds im Jahre 1034 hatte der Herrscher in seiner Person verschiedene Gewalten vereinigt: „Er war römischer Kaiser, ohne daß deshalb die besonderen Gewalten eines Königs von Deutschland, Italien und Burgund ganz zurücktraten; er wurde aber weiter, wie es scheint, nicht nur als König von Deutschland, sondern auch als unmittelbarer Herrscher der einzelnen deutschen Lande aufgefaßt. In jeder dieser Eigenschaften konnte er Hof gebieten; und danach scheint sich auch die Pflicht, seinen Hof zu suchen, in den einzelnen Fällen geregelt zu haben“ (ebd. S. 15). Nur in der Eigenschaft des Kaisers, nicht aber in der des Königs konnte der Herrscher deutsche Fürsten nach Italien, dagegen in der Eigenschaft des jeweiligen Landesherrn nur die hier eingesessenen, und sie nur in ihrem Lande selbst, zu Hoftagen berufen. „Das deutsche Königreich stellt sich uns nach seiner geschichtlichen Entstehung als ein Hauptland, Franken, mit den Nebenländern Sachsen, Bayern und Schwaben dar“ (ebd. S. 16. Oben: §§ 383, 384). Diese vier Stammlande fand Ficker genannt unter anderem in einem cum consilio et iudicio Francorum, Bawariorum, Saxonum atque Alamannorum fidelium nostrorum gefundenen Hofgerichtsurteil, das König Arnulf im Jahre 895 erfüllte (MGH. DArn. 132 S. 198 Z. 35), ferner in einer Ver-
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fügung König Ludwigs von 903 über Güter, die er iudicio Franchorum, Alamannorum, Bauuoariorum, Thuringorum seu Saxonum zum Reichsgut eingezogen hatte (DLdK. 23 S. 129 Z. 26 – 27), und er wies darauf hin, daß noch der Sachsenspiegel von den vier deutschen Landen Sachsen, Bayern, Franken und Schwaben sagt, sie seien alle einst Königreiche gewesen und würden erst Herzoge genannt, seit sie die Römer bezwungen (Ssp. Ldr. III 53 § 1. K. G. Hugelmann 1955 S. 82 – 85). Nach dem Erlöschen der karolingischen Dynastie im Jahre 911 hätten die Nebenländer auch die Herrschaft des fränkischen Volkes über sich für erloschen halten und die neuen Könige nur in Franken als Herzöge gelten lassen können, doch wußten die Herrscher aus dem liudolfingischen Hause diese Gefahr abzuwenden und die Anschauung durchzusetzen, daß der König auch in den Nebenländern unmittelbarer Herrscher sei, daß er dort mit demselben Rechte wie in Franken als König und Herzog auftreten könne (unten: §§ 481, 492). Die Regna der vier Reichsvölker, so fährt Ficker fort, waren ihre, der Könige, Regna, daher sich Otto I. einmal rex Lothariensium, Francorum atque Germanensium habe nennen können (MGH. DO. I. 210. J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 18 Anm. 5) und es überhaupt an Belegen für diese Regna aus dem 10. und 11. Jahrhundert nicht fehle. Daher habe der König stets auf fränkischem Boden erwählt werden und nach fränkischem Rechte leben müssen, sei Heinrich II. im Jahre 1002 nicht durch eine allgemeine Wahl, sondern in getrennten Versammlungen der einzelnen Reichsvölker zum Könige erhoben worden, habe der in Franken gekorene König so, wie es Heinrich II. und Konrad II. taten, in jedem der drei Nebenländer einen Hoftag halten müssen, damit, wie es scheine, seine Wahl für das betreffende Land rechtskräftig werde (ebd. S. 19 f. K. G. Hugelmann 1955 S. 96). Es ist offenkundig, daß Ficker die Rechtspersönlichkeit der Untertanenverbände, deren zu den Wahl- und Reichstagen erscheinende Worthalter die Reichskanzlei mit den Teilreichsvölkern selbst identifizierte, aus ihrer Funktion als Königswähler und im Ostfränkisch-deutschen Reiche Mitregierende herleitete. § 442b. Daher war es ihm wichtig, als erkennbares Herkommen wenigstens des 12. Jahrhunderts feststellen zu können, daß der König befugt war, in jedem Lande den einheimischen Fürsten zu jeder Zeit seinen Hof zur Verhandlung über Landesangelegenheiten zu gebieten, daß er dagegen allen Fürsten des Reiches zusammen zur Verhandlung allgemeiner Reichssachen die Hoffahrt nur im eigentlichen Franken befehlen konnte (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 37, 76). Für die Landeshoftage ermittelte er, außer Franken, vier große Sprengel, deren Nachweis er als grundlegend für die Verfassungsgeschichte erachtete, nämlich Bayern mit dem gewöhnlichen Tagungsorte Regensburg, Sachsen mit den Hauptorten Merseburg, Magdeburg, Goslar und Quedlinburg, Lothringen mit Aachen, Köln, Lüttich und Utrecht für die niederen, mit Trier und Metz für die oberen Lande und Schwaben mit Straßburg, Augsburg, Ulm und Basel (ebd. S. 86 – 140), wobei Straßburg gleichzeitig Hoftagsort für das seit alters von Schwaben abgesonderte schwäbische Elsaß und für Hochburgund gewesen sei (ebd. S. 86 – 140).
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2. Teil: Der Staat
Diese Ordnung der Landeshoftage bestand nach Fickers Ansicht schon im 10. und 11. Jahrhundert, zu einer Zeit mithin, als die Königsurkunden noch der Zeugenlisten entbehrten, die sie im 12. Jahrhundert erkennbar machten. Zur Stütze seiner Meinung konnte Ficker auf den Sachsenspiegel verweisen, der noch davon Kunde besaß, daß der König im Lande Sachsen an den fünf Königspfalzen zu Grone, Werla, Wallhausen, Allstedt und Merseburg echte Hoftage halten sollte (Ssp. Ldr. III 62 § 1). Bis in den Anfang des 13. Jahrhunderts habe diese Ordnung „die wesentliche Grundlage der Verfassung“ gebildet (ebd. S. 139); erst seit 1220 sei sie in Abgang gekommen, nur vereinzelte Nachklänge des alten Herkommens machten sich in der Zeit danach noch bemerklich. Es fragt sich nun, in welchem Verhältnis diese (die geteilten mitgezählt) sieben Landeshoftagssprengel zu dem Herzogtum standen, da Ficker in ihnen ja in erster Linie Einrichtungen des Reiches sah, die der Erhebung des Königs und der königlichen Regierung des betreffenden Sprengels zu dienen bestimmt waren. Zwei Überlegungen stellte Ficker an, um diese Frage zu beantworten. (1) Nachdem Karl der Große im Jahre 788 das bayerische Herzogtum aufgehoben hatte, gab es im Fränkischen Reiche keine Herzöge mehr; allein durch die Grafen ließ sich der König in den Teilreichen vertreten, die zu diesem Zwecke in Grafschaftssprengel und grafschaftliche Dinggenossenschaften hatten eingeteilt werden müssen (oben: §§ 275b, 286). Gleichwohl behielt die Reichskanzlei eine Klassifizierung der königlichen Amtleute bei, der zufolge die Herzöge stets den ersten Platz einnahmen. So pflegte die Immunität eine Kirche davor zu schützen, ut nullus dux marchio comes vel alia iudiciaria potestas sie verletze (oben: § 358). Der Herzog überlebte demnach als ein besonders ausgezeichneter Graf. Ficker verwies dazu auf eine Bemerkung des Bischofs und Chronisten Thietmar von Merseburg, wonach in Burgund nullus vocatur comes nisi is, qui ducis honorem possidet (Thietmar VII 30. J. Ficker 1861 S. 72 f. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 2 f.). Später sei jedoch in einem großen Teile des Ostfränkischen Reiches die herzogliche Gewalt zwischen die des Königs und der Grafen getreten, da sich Herzöge ohne Einwirkung der Krone zu Herrschern ihres Volkes erhoben hätten (oben: § 383); ihre Nachfolger aber seien von der Krone als Beamte dem Gebiete eines Volkes vorgesetzt worden – oder einem Teile desselben, während andere Teile keiner herzoglichen Gewalt unterworfen waren. Die Herzogtümer des 10. Jahrhunderts seien keine das ganze Reich umfassende, überall das Mittelglied zwischen Grafen und König bildende Behörde gewesen; manche Grafen hätten ihre Bestallung vom Könige, die meisten dagegen von einem Herzoge, seit dem 11. Jahrhundert dann auch von einem geistlichen Fürsten empfangen, den der König insofern den Herzögen gleichstellte. Der Leser sollte hieraus offenbar den Schluß ziehen, daß sich die Herzogtümer weder mit den vier Teilreichen noch mit den sieben Landeshoftagssprengeln des Königreichs gedeckt hätten. Denn wie er sagt, befanden sich in herzogsgleicher Stellung auch die vom Könige bestallten Grafen, die er Reichsgrafen nannte, die ich aber hinfort Großgrafen
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nennen werde. Die Reichskanzlei machte denn auch insofern keinen Unterschied zwischen Herzögen, Großgrafen und an den Dingstühlen wirklich amtierenden (Unter- oder Vize- oder Gau-)Grafen, als sie jeden Amtmann, der den Amtstitel Graf führte, als Fürsten oder Großen des Reiches bezeichnete und dadurch von den Edelingen ohne Amt unterschied (J. Ficker 1911 S. 46, 94, 146. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 4, 13). Der Unterschied in der Bestallung begründete keinen Unterschied im Range zwischen den Grafen; die Reichskanzlei bedurfte daher auch keiner begrifflichen Unterscheidung zwischen Reichs- oder Großgrafen und jenen amtierenden Unter- oder Vizegrafen, von denen alleine oben im Achten und Neunten Kapitel unserer Verfassungslehre die Rede gewesen ist. Ich werde das den Großgrafschaften gleichwertige Herzogtum hinfort als niederes Herzogtum bezeichnen. § 442c. (2) Den Umstand, daß die Reichskanzlei gleichwohl die Herzöge von der Gesamtheit der Grafen abhob, erklärte Ficker damit, daß die Herzöge in anderem Sinne Vertreter des Königs in ihrem Sprengel gewesen seien als die Grafen. Er berief sich dafür auf das freilich junge Zeugnis des Schwabenspiegels über den fürstlichen Hoftag: ez sint sumliche leigen fürsten die daz reht hant, daz si hoeve gebietent für sich selben; daz reht hant si von dem kiunige (Swsp. Ldr. Art. 139 S. 67), wonach der berechtigte Fürst diesen Hoftag zweifellos als Stellvertreter des Königs zu gebieten hatte, denn wer ihn nicht suchte, verfehlte sich dadurch nicht anders als der, der den Tag des Königs versäumte. Ein solches Berufungsrecht hätte aber, nach Fickers Urteil, der ganzen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung nach nur dem Herzogtum zustehen können; das jüngere Reichsfürstentum, das der Spiegler vor Augen hatte, bedingte eine herzogliche oder doch eine ihr ähnliche Gewalt, weshalb sich die Erhebung zum Reichsfürsten seit dem Jahre 1235 in der Verleihung der herzoglichen Titulatur zu äußern pflegte. Und Ficker verlangte, daß dieser wichtige Gesichtspunkt die Forschung hinsichtlich der Befugnisse des älteren Herzogtums leiten müsse (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 1 mit Anm. 1). Eine allgemein gültige Aufstellung der Befugnisse, welche im Herzogtum lagen, hielt Ficker nicht für möglich, weil der Herzog in vielen Teilreichen des Ostfränkisch-deutschen Reiches seine Gewalt mit Großgrafen und, seit dem 11. Jahrhundert, geistlichen Fürsten teilen mußte. Eine volle herzogliche Gewalt im ganzen Umfange eines Reichslandes habe alle Rechte, die dem Könige, sobald er sich darin aufhielt, sowohl in Beziehung auf das Reich als auch auf das Land zustanden, derart umfaßt, daß der Herzog sie in Stellvertretung des abwesenden Königs gewissermaßen als Unterkönig (ebd. S. 4 Anm. 7) auszuüben befugt war. Einige Schriftsteller des 11. Jahrhunderts erwähnten in der Tat Herzöge als Stellvertreter des Königs, als vicarii seiner potestas oder vice regis handelnd. Denn der Herzog sei unmittelbar in die Stelle des außerhalb Landes weilenden Königs eingetreten, während andere Fürsten (also Grafen, geistliche Inhaber grafschaftsgleicher Immunitäten und deren Hochvögte) den König nicht in dessen voller, sondern nur in der speziellen (Bann-)Gewalt vertraten, die der König ihnen bei der Bestallung übertrug (ebd. S. 4 – 7).
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2. Teil: Der Staat
Hiermit aber wollte nicht übereinstimmen, was Ficker über die Gerichtsgewalt des Herzogs ermittelte (ebd. S. 11 – 17). Aus den Bestimmungen, die Kaiser Friedrich I. darüber bei der Begründung der Herzogtümer Österreich, Würzburg und Westfalen aufstellte (MGH. DDF. I. 151 S. 259 Z. 27 – 29, 546 S. 5 Z. 41 bis 6 Z. 10, 795 S. 363 Z. 2 – 3), ergab sich ihm als unzweifelhaft die Anschauung, daß alle Grafschaften innerhalb des Herzogtums derart in der Hand des Herzogs sein sollten, daß ihm die gräfliche Gerichtsbarkeit ebenso zustand, wenn er sie ausüben wollte, wie der König überall gemeiner Richter war, dem das Gericht überall ledig wurde, wohin er kam (oben: §§ 327a-328). Noch bestimmter habe sich um das Jahr 1072 der Domscholaster Adam von Bremen darzu geäußert, als er über den Bischof von Würzburg berichtete: ipse cum teneat omnes comitatus sue parrochie, ducatum etiam provintiae gubernat episcopus (Adam III c. 46, S. 188 Z. 19 – 20). Nach all dem seien wir berechtigt, den Besitz aller Grafschaften eines Landes in den Begriff der vollen Herzogsgewalt einzuschließen. Bei der Diskussion dieser in der Forschung heftig umkämpften und oft bestrittenen These ist mehrfach Fickers Hinweis darauf unbeachtet geblieben, daß die Herzogsgewalt nicht überall gleich stark entwickelt, daß nicht jeder Herzog (überall) im Besitze jener Vollgewalt war, von der er hier spricht. Hinzu kommt, daß die Königsurkunden uns zwar berichten, wie es nach Ansicht des Königs hätte sein sollen, daß aber die Reichsregierung in dem von unten her erbauten Staate ihre Rechtsauffassung nur im Einvernehmen mit den Ländern verwirklichen konnte und die Länder ihr nur dort zu folgen pflegten, wo das Landesrecht über die Stellung der Grafen nicht bereits anders entschieden hatte (oben: § 327). Es ist aber festzuhalten, daß in Fickers Untersuchungen der Begriff der vollen herzoglichen Gewalt in doppeltem Sinne gebraucht wird, nämlich als Vollmacht, den abwesenden König in einem Teilreiche oder Hoftagssprengel zu vertreten, und als Vollmacht, in einem engeren Gebiete namens des Königs die Grafen zu bestallen. Es ist diese zweite Vollmacht, die ich als niederes Herzogtum bezeichnen will, um sie von der vizeköniglichen zu unterscheiden. § 443. Ohne dieses Doppelsinnes zu gedenken, also beide Formen der Vollmacht ins Auge fassend, hat Ficker immer wieder betont, daß wir es bei dem Herzogtum des 9. bis 12. Jahrhunderts mit einer volks- und landrechtlichen Institution zu tun haben, daß die Gewalt, oder wie zu sagen mir richtiger erscheint: die Vollmacht des Herzogs keineswegs ausschließlich oder auch nur vorzugsweise eine lehnrechtliche gewesen sei, denn wie besonders deutlich in Schwaben und Bayern hervortrete, war der Herzog „vor allem der höhere landrechtliche Richter für den ganzen Umfang seines Herzogtums und Richter auch über Grafen“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 147. K. G. Hugelmann 1955 S. 151 – 159. St. Weinfurter 2000 S. 35. Unten: §§ 481, 489). Die Befugnisse der Herzoge seien „wesentlich landrechtlicher Natur, insofern sie sich auf ein geschlossenes Gebiet, nicht auf persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie das Lehnrecht bedingt, stützen“ (ebd. 1923 S. 32), und noch der Schwabenspiegel begründe die Pflicht der Großen, den Hoftag ihres
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Fürsten zu besuchen, auf das Landrecht, indem er sie an den Grundbesitz in einem bestimmten Sprengel binde (ebd. S. 1). Als auf Volks- und Landrecht begründet ist also auch das Zeugnis der Quellen zu verstehen, welches Ficker mit den Worten zusammenfaßt: „Wir finden Herzoge ganz allgemein als Stellvertreter des Königs erwähnt“ (ebd. S. 5). Während aber die Tatsache, daß der Herzog „vizekönigliche Gewalt, Funktion und Hoheit“ besaß (Th. Mayer 1939 S. 464), von späteren Gelehrten vielfach bestätigt worden ist (H. Maurer 1978 S. 136 mit A. 39. H. Keller 1982 S. 105, 110, 126), fand die ergänzende Feststellung wenig Gehör, daß der Herzog nicht nur den König im Lande, sondern auch das Land beim Könige vertrat, daß er auch als Heerführer Haupt des Landes war und als solches insbesondere bei der Wahl und Anerkennung des Königs in Erscheinung trat (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 8 f., 28). Ficker verwies hierzu namentlich auf die Nachricht, der zufolge Herzog Bernhard von Sachsen am 24. Juli 1002 auf einem Tage zu Merseburg, umgeben von den Erzbischöfen, Bischöfen, Markgrafen und Grafen des Landes(-hoftagssprengels), König Heinrich II. in ihrer aller Namen mit der heiligen Lanze die Regierungsgewalt in (seinem Teil-)Reiche übertrug, dux accepta in manibus sacra lancea ex parte omnium regni curam illi fideliter committit (Thietmar V c. 15 – 17). Wer aber so im Namen aller Großen seines Herzogtums sprechen konnte, wie diese es wiederum, ein jeder im Namen seiner eigenen Landesgemeinden oder Untertanenverbände, taten, der muß dafür eine Vollmacht besessen haben, wie sie ein Fürst zu Zeiten des Ostfränkisch-deutschen Reiches nur durch Wahl oder Annehmung von Seiten seines einmütigen Volkes und durch dessen ständige Zustimmung zu und Mitwirkung an seiner Regierung erlangt haben kann. Julius Ficker war daher genauso wie Georg Waitz bereit, allen Zeugnissen über Herzogswahlen die gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden, mußte er und müssen wir doch annehmen, daß der Landtag des sächsischen Regnums in derselben Weise, wie er den König der Franken zu seinem eigenen Könige annahm, auch den Herzog kiesen oder annehmen und durch seine Anerkennung bevollmächtigen konnte, der den außer Landes weilenden König beständig im Lande selbst zu vertreten hatte. § 444. Aus Fickers Forschungen ergibt sich ein Bild von der Partikulierung und Stufung des Reichsuntertanenverbandes, das uns die zur Kur und Annehmung der Herzöge berechtigten Verbandspersonen folgendermaßen vorstellbar macht: Die vier Regna oder Teilreiche waren die umfassenden Verbände, welche befugt waren, sowohl den König als auch in dem Herzoge seinen Stellvertreter zu erheben; in dieser Eigenschaft eines Vizekönigs stand dem Herzoge das Recht zu, während des Interregnums die Großen seines Regnums zur Königswahl, hernach aber sie ebenso, wie der König es tat, so oft er im Lande weilte, zum Landeshoftage zu berufen. Hier findet sich die Erklärung für den ansonsten doch recht verwirrenden Sprachgebrauch, nach dem sowohl das von Königen regierte fränkische Gesamtreich als auch jedes der im Jahre 843 geschaffenen Teilreiche regnum Francorum hieß und außerdem die darin enthaltenen Gebiete der großen nichtfränkischen Reichsvölker
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als Regna bezeichnet werden konnten, obwohl nur ausnahmsweise und nur in der Karolingerzeit einmal ein König an ihre Spitze trat, wenn nämlich ein solches Regnum als Unterkönigtum innerhalb des allen regna gemeinsamen Königshauses ausgegeben werden konnte (C. Brühl 1995 S. 304 – 306). Nicht weil sie von reges regiert worden wären, hießen sie so, sondern weil sie, jedes gemeinsam mit allen anderen, den König, und jedes für sich ihrem Könige einen herzoglichen Stellvertreter erkoren und ermächtigten bzw. durch ihren König ermächtigen ließen. Als Häupter eines regnum erfüllten die Herzöge im Interregnum die Aufgabe von Kurfürsten. Die Großen der regna waren als Bischöfe, Reichsäbte, Großgrafen oder niedere Herzöge zugleich von ihren eigenen Untertanenverbänden gekorene und bevollmächtigte Häupter, Fürsten oder Landesfürsten also der eine Stufe tiefer stehenden Partikularverbände oder Landesgemeinden. So oft sie deren Landtage um sich versammelten, erschienen dort wiederum die Häupter der Gemeindeverbände von der untersten Stufe, nämlich Grafen und Vögte als Fürsten und vollmächtige Worthalter jener altfreien Dingverbände und neufreien Hofgerichtsgemeinden, die wir als lokale Verbände und Basis des von unten her aufgeführten Staatsgebäudes bereits kennengelernt haben (oben: Neuntes und Elftes Kapitel). Da weder die Reichskanzlei noch die Schriftsteller beim Gebrauch der Prädikate Herzog und Graf dieser Gliederung Rechnung trugen, bleibt uns auf den ersten Blick deren doppelter Sinn verborgen. Denn jeder Herzog war gleichzeitig Vertreter des Königs in seinem Regnum oder Landeshoftagssprengel und Großgraf oder niederer Herzog in einem der Länder, aus denen sich dieser zusammensetzte. Es gab also ein Herzogtum im weiteren Sinne, nämlich identisch mit dem Regnum, darin er vizekönigliche Gewalt, und eines im engeren Sinne, nämlich identisch mit dem Lande oder der provincia, wie Adam von Bremen sagt, wo er den königlichen comitatus (oben: § 276b) besaß, wo ihm also auch im 11. und 12. Jahrhundert noch das Königsrecht, die Grafen zu bestallen und zu beaufsichtigen, zustand, wo er also die zweite von Ficker als volle beschriebene herzogliche Gewalt besaß. Wohl nur in Schwaben und in Bayern und nur im 10. Jahrhundert hatte der Herzog diese niedere Gewalt in dem ganzen Regnum ausgeübt, seither sie aber auch in Bayern an Großgrafen und Bischöfe außerhalb seiner provincia abgetreten. Was die Bischöfe anlangt, so pflegte die Reichskanzlei die darüber ergangenen Entscheidungen von Kaiser und Reich in Form von Privilegien über diese sogenannten Schenkungen von Grafschaften zu beurkunden. Sie sind uns fast vollständig erhalten geblieben. In seinem Regnum vom Könige benannt und bestallt und von Bischöfen, Reichsäbten, Großgrafen zum gemeinsamen Haupte oder Vizekönige erkoren oder angenommen und ermächtigt, stand der Herzog als Landesherr in seiner Provinz mit diesen Fürsten als Häuptern eigener Länder auf einer und derselben Stufe, und nur in dieser letzteren Stellung hat das Herzogtum das 12. Jahrhundert überdauert. Ihre unter Ausnutzung der Schwäche der karolingischen Dynastie erworbenen
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Regna vermochten weder die Herzöge noch die Reichsgemeinden zu dauerhaften Gliedern des mittelalterlichen Staates heranzubilden. Während die Teilreichsgemeinden in dem vom Könige angeführten Reichsuntertanenverbande und in der Gesamtheit königlicher Getreuer aufgingen, behaupteten sich die Herzogtümer, im engeren Sinne des Wortes als niedere Herzogtümer verstanden, als Prototypen der Landesherrschaft und des späteren Territorialstaates (oben: §§ 210 – 215). § 445. Während Julius Fickers Untersuchungen ihrer ganzen Anlage nach den Herzogswahlen und der Erhebung zum Herzoge besondere Aufmerksamkeit entgegenbrachten, ergab sich die Forschung immer mehr der landesgeschichtlichen Methode und den durch sie bestimmten Möglichkeiten geschichtlicher Erkenntnis (oben: §§ 143, 333). War doch selbst Friedrich Keutgen (1861 – 1936), der scharfsinnige Kritiker des Gierkeschen Glaubens an die Einheitlichkeit der Staatsgewalt, dem wir grundlegende Erkenntnisse über die Autonomie des Volkes und seiner Selbstverwaltungsverbände verdanken, nicht zu dem Begriff der herrschaftlichen Genossenschaft (oben: §§ 9 – 11, 197 – 203) durchgedrungen und daher auch nicht zur Einsicht in den Aufbau des mittelalterlichen Staates von unten her gelangt. Im Gegenteil: Er dachte sich den Staat als eine Schöpfung der nicht weiter ableitbaren, offenbar gott- oder naturgegebenen Reichsgewalt, von der alle unteren Gewalten im Reiche, alle zwischen König und Volk stehenden Instanzen, als Herzöge, Fürsten, Grafen, Bischöfe, Prälaten, eingesetzt und übertragen seien (F. Keutgen 1918 S. 14). Ausnehmen wollte Keutgen hiervon einzig und allein die Befugnisse der Selbstverwaltungskörper, aber selbst sie, so meinte er, habe der Staat nur solange geduldet, als „ihre Tätigkeit die seine in erwünschter Weise ergänzt. Grundsätzlich aber besitzt er kraft seiner Souveränität das Recht, sie aufzuheben,“ welches auszuüben er sich nur insoweit versage, wie „die Rücksicht auf seine eigene Autorität als die des Verleihers jener Rechte, die auf seiner Zuverlässigkeit beruht, ihn zwingt, sie zu respektieren“ (ebd. S. 24. Oben: § 237). Zwar hätten die Herzöge anfangs – offenbar im Wege der Usurpation – den Versuch gemacht, sich Souveränität beizulegen und das Reich gewissermaßen nur als Bundesstaat bestehen zu lassen, doch hätten die Könige Heinrich I. und Otto I. diesen Versuch vereitelt (ebd. S. 14). Von Untertanenverbänden oder Teilreichsgemeinden, welche die Herzöge erkoren und ihnen durch ihr Treugelübde die Vollmacht beilegten, die er Souveränität nennt, wußte Keutgen denn auch zunächst nichts. Zwar erkannte er die genannten Zwischengewalten gleich den Selbstverwaltungsverbänden (die wir freie Einungen nennen) als Träger eigener Rechte sowohl dem königlichen Staatsoberhaupte als auch den Untertanen gegenüber an, aber auch ihr Recht ordnete er dem des Staates unter, als von diesem verliehen und, wiewohl gewöhnlich geduldet, so doch grundsätzlich widerrufbar. Der Dualismus des Rechtes von Volk und Regierung, von Volksrecht und Königsrecht beruhte nach seiner Ansicht nicht auf einer Autonomie der Zwischengewalten, sondern auf dem angeborenen und un-
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veräußerlichen Recht des Individuums; nur dieses habe die Souveränität des Staates beschränkt (ebd. S. 23 f.). Keutgen dachte sich das Volk also nicht als eine in politische Verbände gegliederte und durch sie handlungsfähige Rechtspersönlichkeit, sondern als eine staatlicher Bevormundung bedürftige, sei es stumme oder turbulente Personenvielheit ohne gemeinsamen Willen und daher auch unfähig, sich Häupter zu wählen. Konsequent durchführen ließ sich jedoch diese von einem transzendenten Staats- und Souveränitätsbegriff ausgehende Lehre nicht. Vom Staate geduldete Zwischeninstanzen waren nichts anderes als staatliche Ämter, das eigene Recht ihrer Träger nichts anderes als der Anspruch darauf, sie zu vererben; in diesem Anspruch aber äußerten sich „ursprüngliche bodenständige Elemente“, die Keutgen allerdings nicht näher zu bestimmen versuchte (ebd. S. 76). Am angesehensten, so fährt er fort, sei das Amt des Herzogs gewesen, das überall hoch über dem gräflichen stand; mochte der König zeitweise die Herzöge kaum anders als die Grafen wie Beamte ein- und absetzen, „ihre Macht wurzelte (doch) tiefer im Stamm, der vielfach sogar ein Mitbestimmungs- oder Wahlrecht beanspruchte, und trug halb autonomen Charakter“ (ebd. S. 77). Die halbe Autonomie allerdings auf das Stammesvolk zurückzuführen, indem er dieses zum rechtsfähigen Personenverbande, zur herrschaftlichen Genossenschaft erklärte und auf seinen Willen und Beistand die Macht des Herzogs begründete: das konnte Keutgen nach seiner gesamten Auffassung vom mittelalterlichen Staate nicht mehr wagen. Juristisch, so lesen wir, beruhte freilich auch die Macht des Herzogs auf dem Grafenamte, die unmittelbaren Vorfahren der Herzöge seien ebenfalls Grafen gewesen, allerdings solche, die mehrere Grafschaften in einer Hand vereinigten, ihren Grundbesitz weit ausdehnten und über „hohes Ansehen im Volke“ geboten, „erworben durch längere siegreiche Führerschaft im Kampf gegen den auswärtigen Feind“ (ebd. S. 89 f.). Was für ein Volk hier gemeint war, welches öffentliche Recht aus dem Grundbesitz hervorging und wie man legalerweise mehrere Grafschaften halten konnte, darüber erhalten wir freilich keinen Aufschluß. § 446. Es ist gewiß nicht erstaunlich, daß sich die Forschung von einer Reichsverfassungsgeschichte, die zu derartigen Ergebnissen führte, abwandte und nach neuen Wegen suchte, um den Platz des Herzogtums im Aufbau des mittelalterlichen Staates zu bestimmen. Sehr wohl aber muß es uns verwundern zu sehen, daß sich die Begriffssprache der alten Verfassungsgeschichte über den Methodenwechsel hinweg zähe behauptete. Noch einmal ist festzustellen, daß die landesgeschichtliche Schule zwar mit Hilfe der genealogisch-besitzgeschichtlichen Methode zur genauen Beschreibung der positiv erkennbaren Gegebenheiten, nicht jedoch zu quellenmäßiger Begründung und klarer Definition ihrer Begriffe zu gelangen vermochte (oben: §§ 335, 341, 345). Gerd Tellenbach etwa betrachtete das Ostfränkisch-deutsche Reich als von oben her gestiftete Schöpfung des Königs und einer Handvoll (genauer: sieben)
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adliger Häuser, die immer wieder das Herzogtum in fremden Stammesgebieten übernahmen (G. Tellenbach 1943 S. 64); sie hätten einen „Reichsadel“ gebildet, der einerseits in besonders engem, dienendem Verhältnis zum Könige, andererseits aber „auch führend in den reichsfernen oder reichsfremden Bereichen“ stand. Daraus „ergibt sich, daß in dieser Epoche stets die Gefahr drohte, daß Mitträger königlicher Gewalt draußen im Lande mehr in die lokalen Verbände hineinwuchsen und sich dem Reich entfremdeten, zumal die Abgrenzung zwischen autonomen und vom Reich abgeleiteten Herrschaftsrechten oft recht verschwommen war“ (ebd. S. 29). Mit den lokalen Verbänden waren die „Stammeskörper“ oder „ganzen Stammesgebiete“ gemeint (ebd. S. 33, 45), in denen es auch stammesfremden, besitzlosen Männern, die der König zu Herzögen ernannte, immer wieder gelang, „zu einer tieferen, dauernden Verwurzelung“ zu kommen (ebd. S. 48). Aber diese Verbände bleiben in Tellenbachs Schilderung ganz wesen-, willenund verfassungslose Gebilde. Kein Wort davon, daß der König nur solche Männer ernennen konnte, die die „Stämme“ bereit waren, zu ihren Häuptern zu kiesen und unter Bedingungen anzunehmen; welche andere Verfassungsnorm aber könnte gemeint sein, wenn wir hören: „Das Stammesleben . . . ist ein viel zu urwüchsiger und tiefgegründeter Faktor des staatlichen Geschehens, um sich nicht noch lange geltend zu machen“, nämlich etwa noch bei der Königswahl von 1125 (ebd. S. 60)? Dieselbe Scheu, Roß und Reiter bei Namen zu nennen, prägt Tellenbachs Aussage, seit der Regierungszeit König Heinrichs IV. seien ausschließlich im Lande eingesessene und reich begüterte Männer an die Spitze der süddeutschen Herzogtümer gelangt, weil das Königtum und die von ihm verliehene Amtsgewalt so weit geschwächt waren, daß sich die Herzöge „aus eigener Kraft“ durchsetzen können mußten. Woher aber die eigene Kraft, woher das Recht der reich Begüterten, sie im Lande anzuwenden? Tellenbach spürt dafür mystische „tiefere Gründe“ auf, die „in der fortgeschrittenen Feudalisierung, in der Ausbreitung der Adelsherrschaft zu suchen sein“ dürften: derart, daß der Herzog gleich Grafen und Hochvögten sein Amt zu verherrschaftlichen vermochte (ebd. S. 55). „Herrschaftliches Denken“, der „Erblichkeitsgedanke“, „Lehnswesen, Erblichkeit und das herrschaftliche Prinzip“ setzten sich nun immer mehr durch, obwohl sich daneben „der alte stammesherzogliche“ Gedanke oder „das Prinzip des Personenverbandes“ noch lange verfolgen lassen und bei der Bildung der Territorien „völkisch-gemeindliche Kräfte mit herrschaftlichen . . . verbunden“ hätten (ebd. S. 61 f.). Eine solche Auffassung und Darstellungsweise ist wohl unvermeidlich, wenn man über die volks- und landrechtlichen Grundlagen des Herzogtums hinweggehen muß, weil man sich so eng an die Quellen halten will, daß deren einseitige Aufmerksamkeit auf das Tun der Fürsten die dürftigen Nachrichten über die Befugnisse des Volkes völlig verdunkelt und diese letzteren auf vage Kräfte und Prinzipien zusammenschrumpfen läßt. Wir dürfen aber nicht allein der maior pars der Zeugnisse, sondern müssen auch der sanior pars Gehör schenken!
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§ 446a. Konsequent durchgeführt findet sich die landesgeschichtliche Betrachtungsweise des Herzogtums dann im Jahre 1977 bei H.-W. Goetz. Seinen Untersuchungen zufolge gab es vor dem späten 10. Jahrhundert gar keine Herzöge, sondern nur Fürsten, deren Stellung „nach den tatsächlich erkennbaren Machtgrundlagen und -äußerungen“ zu beurteilen sei. Als solche ergeben sich einerseits „fürstliche Herrschaftsbildung“ oder „auf einen engeren Machtbereich eingeschränkte Adelsherrschaft“, andererseits eine amtliche, vom Könige verliehene Stellung (H.-W. Goetz 1981 S. 410 f.). Das Verhältnis dieser beiden Größen zueinander jedoch sei ebenso wenig zu bestimmen wie das Wesen fürstlicher Herrschaft überhaupt, doch seien Königsdienst und Königsnähe für die letztere notwendig gewesen, hätten die Schwäche des Königtums und die äußere Bedrohung des Reiches zu Beginn des 10. Jahrhunderts den Aufstieg und die Selbständigkeit der aufstrebenden Fürsten gefördert (ebd. S. 412). Zwar verlange ein Amt, wie der ducatus es war, eine königliche Ernennung, aber die Quellen ließen diese im Dunkeln liegen, sie gäben uns „keine Herzogsherrschaft, sondern lediglich eine Adelsherrschaft“ zu erkennen, und das bedeute: „Der König erkannte die Fürsten (nachträglich) in ihrer verfassungsgeschichtlichen Stellung als ,principes‘ unter den Adelsgeschlechtern an und bezog sie zugleich in die Reichsverwaltung ein, indem er sie zu ,duces‘, zu seinen Beauftragten in bestimmten Gebieten, machte und ihnen amtliche Verwaltungsaufgaben übertrug“ (ebd. S. 413). Was die Quellen im Dunkeln lassen, das gab es also auch nicht, aber in gewisser Weise gab es das eben doch, auch wenn man nicht weiß, was und wie es der König mit seinem Auftrag und seiner Beamtung bewirkte. „Die gelegentliche Spannung zwischen König und ,Herzog‘ ergibt sich nicht aus der Doppelstellung des ,dux‘ als dem Vertreter des Königs einerseits und als Oberhaupt des selbständigen Stammes andererseits, sondern aus der doppelten Grundlage dieses Fürstentums aus Königsamt und Eigenherrschaft“ (ebd. S. 415). Wen oder was ein solcher Fürst beherrschte und mit welchem Rechte er das tat, darüber erfahren wir nicht nur aus den Quellen nichts, sondern es war auch gar nichts da. So hören wir, daß die äußere Bedrohung der Herrschaft zwar eine „militärische Einigkeit“ verlangte (ebd. S. 412), aber an wen sich dieses Verlangen richtete, wer sich deswegen einigen sollte und wie das geschah, danach dürfen wir nicht fragen, wenn die Quellen es uns nicht wissen lassen wollen. „Weder Stamm noch Regnum sind als Grundlagen dieses Fürstentums anzuerkennen, das sich faktisch nur als die Eigenherrschaft einer Adelsfamilie nachweisen läßt, die auf Königsamt und Königsdienst, Reichsund Allodialbesitz und einer gewissen Vorrangstellung unter dem Adel beruht“ (ebd. S. 413 f.). Auch hier dürfen wir nicht weiter fragen, zu welchem Rechte Fürsten Eigenherrschaft ausübten und wer davon betroffen war. Nur „eine formelle Erhebung“ der Fürsten „durch den Adel, die ja nur in späteren Quellen bezeugt ist, kann es . . . nicht gegeben haben, da die Stellung der Fürsten . . . lediglich auf ihrer Eigenherrschaft beruhte“ (ebd. S. 412). War dies also eine Herrschaft über unfreie Eigenleute und Vasallen, die der Fürst mit deren bewaffneter Kraft dann auch Edelfreien auf-
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zunötigen verstand? Oder verfügte er auch über ein freies Gefolge, das sich ihm formlos untergeordnet hatte? Wenn in Franken 906, in Thüringen 908, in Schwaben 911 Adelsfamilien um die Vorherrschaft kämpften, so „dominierte (zwar der Sieger) machtmäßig über den übrigen Adel,“ er gewann damit aber keine Gebietsherrschaft, wenn es auch „zweifellos einigen besonders mächtigen Geschlechtern (gelang), ihre Positionen soweit auszubauen, daß ihre Vorrangstellung in einem größeren Raum anerkannt wurde“ (ebd. S. 420). Man beachte das grammatische Passiv: Wer diese Anerkennung aussprach und in welchen Formen das geschah, das ist wiederum eine Rechtsfrage, die wir an die landesgeschichtliche Forschung nicht richten dürfen, weil die Quellen zu 906, 908, 911 dazu schweigen. Auch die Übertragung amtlicher Verwaltungsaufgaben vom König auf die duces schuf offenbar kein Recht, denn „das Verhältnis zum König bildete stets eine reine Machtfrage“ (ebd.). Wie in der Landesgeschichtsforschung üblich, unterbleibt jede Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der älteren Reichsverfassungsgeschichte, jeder Versuch, die Auslegung der Quellen, auf denen sie beruht, und das Zusammensehen früher und später Verfassungsverhältnisse als fehlerhaft zu erweisen. Dagegen steht lediglich das Postulat, die überaus dürftigen Quellen des 10. Jahrhunderts dürften nur aus sich selbst erklärt, ihre offenkundigen Lücken nicht durch weiterreichende Überlegungen geschlossen werden, wie sie uns namentlich die Rechtsgeschichte nahelegt. Warum muß eine Herzogswahl, wenn sie uns erst in späten Quellen bezeugt ist, eine Neuerung später Zeiten sein, wenn doch das selbst von den Karolingern nicht korrigierte bayerische Volksrecht sie schon in frühester Zeit kennt? Ist die Annahme eines althergebrachten Herzogswahlrechtes schlechter begründet als der Glaube an den Staatsaufbau von oben her durch Könige und Fürsten, die kraft eingeborenen obrigkeitlichen Status ihre Vollmachten aus sich selbst schöpften? Denn von der Zeit König Heinrichs I. gilt: „Der ,dux‘ übte“ nun wieder „Herrschaftsrechte im königlichen Namen aus, war also Mandatsträger des Königs, während es nirgendwo überliefert ist, daß er auch vom Stammesadel ein entsprechendes Mandat erhielt und diesen auf Versammlungen vertrat; selbst vor dem König (auf Reichstagen) war er grundsätzlich den übrigen anwesenden Großen gleichgestellt“ (ebd. S. 422). § 447. Das begriffliche Dilemma ist so offenkundig, daß man neuerdings die zwar unentbehrlichen, aber mit eigenen Mitteln nicht bestimmbaren Begriffe rechtssprachlicher und reichsverfassungsgeschichtlicher Provenienz in Anführungszeichen zu setzen pflegt, was vermutlich bedeutet (erklärt finde ich diesen Brauch nirgendwo), daß man sie nach einer communis opinio ungewissen Herkommens zitiert, ohne sie sich zu eigen zu machen, weil man jenem Herkommen mißtraut und unwillig ist, es zu prüfen. Dukat, Amtsgewalt, Teilreich, Statthalter (des Reiches), Heerkönig, Stamm, Herzogswahlen, Volk, Geblütsrecht, Stammesherzog (H. Maurer 1978 S. 129 – 135), Stamm, Stammesbewußtsein, -gebiet, -herzog, Herzogsdynastie, Herzogsprovinz, Amtsherzogtum (H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 2189 – 2192) findet der Leser auf diese Weise hervorgehoben, obwohl diese
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Worte doch keineswegs fragwürdiger sind als Herzogswürde, Machthäufung, Vorrangstellung, Eigenherrschaft oder Adelsherrschaft. Und wie einst bei F. Keutgen, so ist hier die gesamte Auffassung beherrscht von der Meinung, zwischen königlichem Ernennungsrecht und adligem oder völkischem Wahl- oder Mitwirkungsrecht bestünde ein Widerspruch, der ein ständiges Ringen beider Grundsätze miteinander zur Folge gehabt und allenfalls eine Waffenruhe, niemals jedoch einen dauernden, auf gemeinsames und einvernehmliches Regieren gerichteten Frieden zugelassen habe. Die politischen Antagonismen verdunkeln alle verfassungsmäßigen Formen, wenn wir hören, werdende Herzöge hätten sich gegen das Reich durchsetzen und daher vom Adel abhängig machen müssen, der Adel habe sich und dem Lande gegen den Willen und Widerstand des Königs einen Herzog gesetzt, durch Unterwerfung gerate dieser in Abhängigkeit vom Königtum, in Zeiten der Schwäche des letzteren aber beanspruchte wieder der Adel des Landes oder der Stamm das Recht, den Herzog einzusetzen, er verdrängte den Anspruch des Königs und zeigte damit, daß sein Anspruch latent ununterbrochen vorhanden war, aber trotz aller Rücksicht, die der König auf den Adel nehmen mußte, sei doch, von Krisenzeiten abgesehen, er es gewesen, der den Herzog bestellte und ihm den Dukat in Schwaben übertrug: Kein Zweifel daher, daß der Herzog ein königliches Amt innehatte (H. Maurer 1978 S. 129 – 135). In gleichem Sinne heißt es, seit dem späten 9. Jahrhundert hätten sich einzelne Große als Herzöge „eine Vorherrschaft in den Provinzen und Regna sichern und gegenüber dem Königtum verteidigen“ können, die Ottonen aber gliederten diese Herrschaften wieder in die Reichsverfassung ein; „die Geschichte der Herzogtümer ist somit nicht nur als ein Widerstreit von Stammes- und Amtsdukat, sondern vor allem auch von fürstlicher (Eigen-)Gewalt und amtlicher Stellung zu betrachten;“ der König setzte die Herzöge ein und ab, war aber gezwungen, Ansprüche der Herzogsfamilien auf das Amt zu berücksichtigen. „Wieweit ein Rückhalt seitens des Stammesadels, ein . . . ,Stammesbewußtsein‘ oder gar eine Herzogswahl hinzutraten, ist eine offene Frage.“ Denn nicht darauf, sondern auf Eigenherrschaft beruhte der Doppelcharakter des Herzogtums: „,Amts-‘ und ,Stammesherzogtum‘ sind kaum klar voneinander zu trennen;“ vielmehr wäre genauer zwischen Amtsstellung und fürstlicher, auf eine starke Vasallenschaft gestützter Eigenmacht der Herzöge zu unterscheiden. Der Amtscharakter habe eine tatsächliche Souveränität und Selbständigkeit einzelner Herzöge keineswegs ausgeschlossen (H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 2189 – 2192). Was wir hier vor uns haben, ist eine Politologie oder Soziologie mittelalterlicher Macht- und Parteipolitik, deren Gegenstand jene Kämpfe bilden, die die Schriftsteller der Zeit um so ausführlicher schildern, je mehr Lärm sie erzeugten und Aufmerksamkeit sie erregten. Es ist aber keine Darstellung oder Analyse der Verfassung, in deren Rahmen sich diese Kämpfe abspielten, noch der Rechtsgedanken, auf denen diese Verfassung und die Möglichkeit eines Friedenszustandes beruhten, jenes Friedens, den die Schriftsteller doch auch preisen und mit der Eintracht
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gleichsetzten, welche die Parteien erzielten, indem sie ihre divergierenden Willen und Sonderinteressen in Einhelligkeit zu einem Gemeinwillen übereinstrugen, der seinerseits in dem Gemeinwillen anderer Völker oder partikularer Untertanenverbände aufgehen und als einiger Wille aller Reichsvölker das Handeln des Königs leiten und tragen konnte. § 448. Denn es gibt uns ein Rätsel auf, wer einerseits feststellt, die Autorität des Herzogs über den Adel beruhte teils auf dem Amte, damit ihn der König investierte, teils auf Lehnshoheit über manche Grafen und Edle und teils auf Großgrundbesitz im Lande, andererseits aber in dem Herzoge den Repräsentanten seiner Provinz am kaiserlichen Hofe erblickt (I. S. Robinson 1999 S. 3), wo doch der Herzog mit dem Volke sonst offensichtlich gar nichts zu schaffen hatte, außer daß er es als von außen über es gekommener Gewalthaber beherrschte. Denn diese These ist in der Annahme enthalten, seit dem 9. Jahrhundert habe es keine Bindung des Herzogtums an ein Stammesvolk mehr gegeben, seien die Stämme – ich ziehe es vor, von (Teilreichs-)Völkern zu sprechen – nur noch als geographische Einheiten bedeutsam, das Herzogtum dagegen ein vom Könige abhängiges Amt in einem bestimmten Territorium gewesen. Mit Recht ist dieser Lehre neuerdings entgegengehalten worden, sie müsse scheitern an den Nachrichten über die Errichtung des schwäbischen Herzogtums seit 911 und über den Vertrag zwischen König Heinrich I. und Herzog Arnulf von Bayern vom Jahre 921, dann aber auch daran, daß im 11. Jahrhundert die Wahl des Herzogs von Bayern durch die Großen bezeugt sei, denn dies setze die Existenz eines Stammesverbandes voraus, der sich seiner Rechte durchaus bewußt gewesen sei (O. Engels 1991 S. 480 – 483); überhaupt gebe es genug Nachrichten über die Mitwirkung des Adels an der Erhebung des Herzogs, deretwegen man diese nicht allein als Sache des Königs ansehen könne: „Gerade wegen der Beiläufigkeit,“ mit der die Schriftsteller darauf hinweisen, „kann man vermuten, daß eine zumindest wahlähnliche Zustimmung der Großen auch anläßlich der anderen Belehnungen mit dem Herzogsamt im 11. Jahrhundert stattgefunden hat, die von der eher zufälligen Nachrichtenauswahl der Geschichtsschreibung nicht erfaßt worden ist“ (ebd. S. 491 f.). Zustimmung und Mitwirkung aber waren „ein Recht der Großen aus eigener Wurzel und wie die Wahl der genossenschaftlichen Ebene zugeordnet, die dem vertikal strukturierten Lehnrecht und erst recht dem amtsrechtlichen Denken widersprach . . . Das entscheidende Movens dürfte der Stammesadel gewesen sein, während der König und der Herzog in der Hauptsache reagierten“ (ebd. S. 492). Hieran wird die Forschung anknüpfen müssen. Es liegt auf der Hand, daß O. Engels von der Annehmung des königlich designierten Herzogs durch den Adel eines genossenschaftlichen Untertanenverbandes spricht, der als Worthalter der darin vereinigten Partikularverbände dazu ermächtigt war, durch seine Huldigung das ganze Land gegenüber dem herzoglichen Oberhaupte zu Beistand und Gehorsam zu verpflichten, aber auch davon, daß weder der Wille des Königs noch der eigene Grundbesitz und Befehl über die darauf sitzenden Dienstmannen und Vasal-
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len, sondern allein dieser Beistand des Volkes dem Herzoge die volle Macht verlieh, das Land zu regieren und es gegenüber dem Könige zu repräsentieren. Ich nehme hiermit Rekurs auf das System identischer Willensbildung, denn nur dann, wenn man der Verfassung des mittelalterlichen Staates als des umfassendsten Gemeinwesens die Regeln dieses Systems zugrundelegt, ist es möglich zu erklären, warum für die Zeitgenossen jene Antagonismen zwischen den Rechten der genossenschaftlichen Ebene und dem Rechte des Königs, Amtleute zu belehnen oder zu bestallen, nicht bestanden (oben: §§ 270, 313), obwohl sie sich dem modernen, den farbigen Berichten der Chronisten folgenden Betrachter aufdrängen. Es sind natürlich eben jene Antagonismen, die die ältere Reichsverfassungsgeschichte beständig zwischen Volksrecht und Königsrecht konstruiert hat. Die Schriftsteller des Mittelalters wußten nichts von diesem Widerspruch, weil sie mit dem recht- und friedensmäßigen Zustande des Gemeinwesens vertraut waren, der in der Eintracht aller Verbandsgenossen und in der Einhelligkeit des Gemeinwillens bestand, einem Zustande, den jederzeit herzustellen der König genauso verpflichtet war wie jeder andere Rechts- und Volksgenosse gleich welchen Standes, ohne daß einer einzelnen Person oder einem bestimmten Partikularverbande dabei jener Vorrang zugekommen wäre, den die Staatslehre der Neuzeit als Souveränität bezeichnet und ebenso oft dem Könige wie dem Volke oder dessen verbündeten Fürsten beigelegt hat (oben: § 167b). Die vom Gemeinwohl jedermann gebotene Eintracht und auf sie gerichtete Folgepflicht war die einzige Wurzel allen Rechtes überhaupt, sowohl des königlichen und fürstlichen als auch des volklichen. Anderswo konnte keinerlei Recht, keinerlei Anspruch auf herrscherliche Vollmacht verwurzelt sein.
§§ 449 – 456. Das Regnum der Franken § 449. Eine Verfassungsgeschichte, die den mittelalterlichen Staatsaufbau von unten her darstellen will, hat also nicht von Spekulationen über königliche oder fürstliche Eigenherrschaft, sondern von den Untertanenverbänden und deren in frühere Jahrhunderte zurückreichender Formierung als zwar wandelbare, grundsätzlich aber unsterbliche herrschaftliche Genossenschaften (oben: §§ 197 – 201) auszugehen und zu diesem Zwecke den (oben: §§ 206, 275b) bereits erörterten Gebrauch zu untersuchen, den die königliche Kanzlei und die Schriftsteller des 9. und 10. Jahrhunderts von den Wörtern regnum, provincia, pagus und populus, gens, natio machen. Diese Untersuchung nun führt Julius Fickers Erkenntnisse in höchst erfreulicher Weise fort, auch wenn sie zu einer etwas anderen Einteilung des Ostfränkisch-deutschen Reiches gelangt, als Ficker sie, vom Zustande des 12. Jahrhunderts ausgehend, in den Landeshoftagssprengeln ermittelt hat. Denn das Ostfränkische Reich war anfangs oberhalb der Grafschaften in acht Regna und in mehr als acht (niedere) Dukate eingeteilt. Als Regna sind Alamannien (oder Schwaben), Austrasien (das gesamte rechtsrheinische Franken), Bayern,
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Friesland, Karantanien, Lotharingien, Sachsen und Thüringen bezeugt, von denen allerdings Friesland und Thüringen den Regnum-Charakter bis zum Ende des 9. Jahrhunderts insofern einbüßten, als Lotharingier und Sachsen ihn ihnen bestritten (C. Brühl 1995 S. 310). Zu urkundlich, und das heißt: amtlich, als solche bezeugten Inhabern des Titels dux sind im 10. Jahrhundert lediglich Regenten oder Häupter solcher karolingischen Regna, wenn auch nicht sämtliche, aufgestiegen, und auch die Schriftsteller legen darüber hinaus den Herzogstitel nur noch einigen, und zwar solchen Grafen bei, die über marcae mit besonders wichtiger politischer Funktion geboten, ohne daß diese Markgrafen allerdings jemals die rechtliche oder amtliche Anerkennung als duces zu gewinnen vermochten (ebd. S. 319 – 321, nach W. Kienast). Dürftiger bleibt unsere Kenntnis der niederen Dukate. Karolingische Diplome und Kapitularien des 9. Jahrhunderts nennen uns deren zehn, nämlich Elsaß, Alamannien, Churrätien (seit 807 als Grafschaft oder Markgrafschaft fortgeführt), Austrasien (Mainfranken, Kerngebiet des gleichnamigen Regnum), Moselland (unten: § 494), Ribuarien, Thüringen, Sachsen, Westfalen und Friesland. Da Thüringen seit der Einrichtung des Regnums Sachsen (um 839) und Friesland seit der des Regnums Lotharingien (855) ihren früheren Status als Regna verloren, stellt sich heraus, daß diese Dukate ganz und gar nicht mit den Regna übereinstimmen, an deren Spitze im 10. und 11. Jahrhundert duces bezeugt sind (C. Brühl 1995 S. 321 – 324). So konnte Kaiser Ludwig der Fromme im Jahre 829 daran denken, die Dukate Alamannien, Elsaß und Rätien für seinen nachgeborenen Sohn Karl zu einem Regnum Alisacinse zusammenzufassen, welches gelegentlich der ostfränkischen Reichsteilung von 865 als Regnum Alamanniae wieder auflebte; aus diesem und nicht aus dem alten Ducatus ging im 10. Jahrhundert das Herzogsregnum Alamannien oder Schwaben hervor (ebd. S. 309 f. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 50 A. 6, Bd. 2 S. 119. H. Maurer 1978 S. 130). Nicht sicher zu klären ist, ob der sächsische Ducatus mit dem Regnum übereinstimmend das ganze sächsische Siedlungsgebiet umfaßte oder ob damit ein dem niederen Dukat Westfalen nebengeordneter Teil desselben, nämlich die Heerschaft Engern, gemeint ist, da uns ja anderweitig die Einteilung des Sachsenvolkes in die drei herescephe oder exercitus Westfalen, Engern und Ostfalen bezeugt ist (C. Brühl 1995 S. 324 – 327. Oben: § 282). Überhaupt erhebt sich die Frage, ob die Regna des Ostfränkischen Reiches, über die Zahl der uns (zufällig) bekanntwerdenden niederen Dukate hinaus, durchgehend in solche Heeresbezirke eingeteilt waren. Die Beschreibung des späteren Ostfränkischen Reiches in dem Reichsteilungsplan von 839 nennt außer dem Regnum Saxoniae lediglich einander gleichgestellte Dukate und Comitate. Deren letztere müssen Großgrafschaften dargestellt haben, neben denen einfache Grafschaften lediglich mit Gaunamen ohne Angabe des administrativen Ranges bezeichnet werden (MGH. Capit. 2, 58 n. 200). Dieser Umstand und das Beispiel Churrätiens legen uns die Vermutung nahe, daß damals die Häupter der (niederen) Dukate denselben Titel trugen wie die der Großgrafschaften, nämlich den eines Grafen oder Markgrafen.
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Würde sich dieses wahrscheinlich machen lassen, so könnte mancher ungenannt bleibende karolingische Dukat in einer der Großgrafschaften fortleben, die uns fast überall im Ostfränkisch-deutschen Reiche des 10. und 11. Jahrhunderts entgegentreten und dazu veranlassen, einen weitergefaßten Sinn des Begriffs Herzogtum, gleich regnum oder provincia (C. Brühl 1995 S. 328 f.), und einen engeren Sinn, gleich Land, provincia oder Großgrafschaft, derart voneinander zu unterscheiden, wie es uns bereits die Untersuchungen von Julius Ficker nahegelegt haben (oben: § 444). Die Suggestion einer solchen Kontinuität würde uns noch heftiger verführen, wenn wir, anstatt von Großgrafschaften, mit Ficker (oben: § 442b) von Reichsgrafschaften sprechen und so diese Gebilde als Institutionen der Reichsverfassung kennzeichnen würden. Dieser Begriff legt den Akzent darauf, daß die Inhaber ihre Bestallung vom Könige empfingen, während jener betont, daß sie (infolgedessen) den königlichen Komitat in ihrer provincia innehatten. § 450. Aber nicht darauf kommt es mir an dieser Stelle an, sondern auf die Möglichkeit, hochmittelalterliche Großgrafschaften auf karolingische Dukate und diese auf ältere, schon im 5. und 6. Jahrhundert dem Merowingerreiche eingefügte Völkerschaften zurückzuführen, denn derart stabile Kontinuitäten würden sich unter den Bedingungen jener alten Zeiten schwerlich aus dem Herrschaftswillen eines Fürstenhauses oder aus adliger Eigenmacht, sondern wohl eher aus dem beharrlichen Zusammenhalten eines in Gemeinden gegliederten und gemeinsamer Landtage fähigen Volks- oder Landesverbandes erklären lassen, der sich nach Anerkennung der fränkischen Herrschaft als mit der Verfassung eines Dukates bekleideter Teil des königlichen Untertanenverbandes in das fränkische Reichsvolk eingefügt hätte. Was die Entstehung und Verfassung der späteren Großgrafschaften im Ostfränkisch-deutschen Reich anlangt, so darf man bezweifeln, daß sie aus adligem Herrschaftswillen und bloßer Kumulation mehrerer Grafenämter in der Hand eines fürstlichen Herrn erschaffen werden konnten, denn da mußte es bei einer bloßen Personalunion bleiben, wenn sich die Grafschaftsvölker, die jedes für sich bereit waren, einen und denselben Mann zum Haupte anzunehmen, nicht dazu entschlossen, zu einem gemeinsamen Lande übereinszukommen und ihre Worthalter in einen gemeinsamen Landtag zu entsenden. Daraus, daß dies nicht selten unterblieb (denn die Einung nach den Regeln einhelliger identischer Willensbildung war alles andere als ein einfaches politisches Unterfangen und konnte nur zu leicht an der Hartnäckigkeit oder Gleichgültigkeit eines einzigen Sonderwillens scheitern), mag sich die Flüchtigkeit solcher Kumulationen erklären, die auf weiter nichts als auf der Heirats- und Bündnispolitik geschickter und durch Reichtum mächtiger Großer beruhten. Denn die karolingische Gliederung in Regna und Dukate war keineswegs eine durch geographische und genealogische Daten bestimmte Naturerscheinung, sondern ein durchaus wandelbares historisch-politisches Gebilde. Nicht Natur, sondern Politik entschied darüber, daß aus dem alten fränkischen Regnum seit dem Jahre 855 die beiden Regna Franken und Lothringen hervorgingen und in der Ge-
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schichte des Ostfränkischen Reiches jedes seinen besonderen politischen Willen zur Geltung brachten. Die orientales Franci (C. Brühl 1995 S. 47 f.), deren dux zugleich der rex Francorum war, hatten ihren Landeshauptort vermutlich in Würzburg, wo die Könige im Jahre 742 das fränkische Bistum gegründet hatten. Seit alters könnte das Gebiet des Regnums von einem östlichen und einem westlichen Dukatsverbande beherrscht worden sein gleich jenen, die im 9. und 10. Jahrhundert ihre Häupter aus den vornehmen Geschlechtern der Popponen oder älteren Babenberger und der Konradiner zu erkiesen pflegten. Poppo II. wird von 880 bis 892 als Sorben-Markgraf, sein Bruder Heinrich als Führer des königlichen Heeres besonders gegen die Normannen genannt (M. Borgolte in LMA 1 Sp. 1321). Der Herzogstitel dagegen ist für sie in zeitgenössischen amtlichen Quellen genauso wenig belegt wie für die Konradiner, die wir lediglich als Inhaber einer Mehrzahl von Grafschaften kennen (K. G. Hugelmann 1955 S. 119. A. Gerlich in LMA 5 Sp. 1369). Gewöhnlich erklärt man ihre Stellung als adlige Eigenherrschaft, beruhend „auf Grundbesitz und -rechten, auf einer Kumulation von Grafschaften“ (G. W. Sante 1976 S. XXVII), aber die Erhebung zum ostfränkischen Könige hätte Konrad I. gewiß nicht gewinnen können, wenn er nicht den Beistand der Grafschaftsvölker, die ihn zum Herrn angenommen hatten, und anderer, die gemeinsam mit jenen einen Dukatsverband bildeten, genossen hätte. Auch die sogenannte Babenberger Fehde, welche die Konradiner von 897 bis 906 mit den Popponen um die Vorherrschaft in Franken ausfochten und schließlich zu ihren Gunsten entschieden, kann nicht gut von ehrgeizigen Herren mit Unterstützung bewaffneter Höriger und freier oder unfreier Vasallen um dynastischer Zwecke willen geführt worden sein. Eher wird es sich um einen Streit zwischen zwei Dukatsverbänden um die Frage gehandelt haben, ob ihnen nicht die Schwäche des Königtums angesichts der Bedrohung der Mainlande durch Slawen und Ungarn gebiete, ihre Kräfte unter einem gemeinsamen Oberhaupte zu vereinigen, dem man, wenn man nicht die Reichsverfassung sprengen wollte, nur die Aufgaben eines vizeköniglichen Herzogs zuweisen konnte. Dies jedenfalls war die Stellung, aus der heraus Herzog Konrad I. im Jahre 911 die Königswürde erlangte. In sie suchte seit 939 mit Unterstützung König Ottos I. der Bischof von Würzburg einzutreten (A. Wendehorst in LMA 4 Sp. 729. Unten: § 488). Der Zerfall des östlichen Dukats ist seitdem deutlich zu verfolgen. Denn der mehrfach als marchio-comes belegte Graf Berthold I. stellte zwar den Dukat von 941 an im Einvernehmen mit den Ottonen durch die Vereinigung dreier Grafschaften mit der Burg Schweinfurt im Zentrum als „eine Art patrimoniales Herzogtum“ (St. Weinfurter 2000 S. 62, nach W. Störmer) weitgehend wieder her, aber von seinem Sohne, dem „Großgrafen Heinrich von der bayerischen Nordmark“ (St. Weinfurter 2000 S. 186), fühlte sich König Heinrich II. dermaßen bedroht, daß er im Jahre 1007 das Bistum Bamberg einrichtete, um in dem Gebiet, wo sich die Verbindungen zwischen Sachsen, Bayern, Franken und Böhmen überkreuzten, der wankelmütigen Macht der Laien ein zuverlässigeres geistliches Fürstentum entgegenzustellen.
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§ 451. In dem durch Reichsteilungen von 843 und 855 geschaffenen linksrheinischen Gebiet der Franken, das in den Jahren 855 – 869 und 895 – 900 von eigenen karolingischen Königen regiert wurde, muß von Anfang an eine Reichsgemeinde bestanden haben, denn Reichsteilung bedeutete Aufteilung nicht nur des königlichen Herrschaftsgebietes, sondern auch des Reichsuntertanenverbandes (oben: § 204, unten: § 587), ohne dessen Einwilligung sie nicht hätte ausgeführt werden können. So traten im Jahre 855 die principes et optimates regni, 870 die optimates Hlotharii als Königswähler hervor (Ann. Fuld. a. 855, 870, S. 46, 70. Regino a. 900 S. 148. RI 12 n. 1984a). Wie das Reich keinen Eigennamen erhalten hatte (C. Brühl 1955 S. 95 – 99), so betrachteten sich dessen Große weiterhin als Franken. Zuerst zum Jahre 939 erscheint bei den Annalisten der Volksname Lotharingii, die Lothringer, der dann den neuen Landesnamen Lothringen hervorbrachte (U. Nonn 1983 S. 53 f.). Es war dies aber nur noch der Name eines Dukates. Solange das linksrheinische Franken Regnum gewesen war – noch im Jahre 936 müssen seine Großen als Königswähler zur Erhebung König Ottos I. beigezogen worden sein –, hatte es eines eigenen Volks- oder Gentilnamens entbehrt. Gewiß war die Kräftigung der Reichsgemeinde links des Rheins von Anfang an dadurch hintangehalten worden, daß die Waldgebirge der Ardennen und der Eifel das Regnum in zwei Hälften mit verschiedenen Schicksalen und Interessen schieden. Denn während südlich davon in den oberen Landen die alten Dukate der Moselfranken (ducatus Mosellicorum) und des Elsaß fortdauerten, sind vermutlich die nördlichen, zu 839 bezeugten Dukate der Ribuarier zwischen Maas und Rhein und der Friesen jenseits der Maas von den Normannen vernichtet worden, deren Schiffsheere zwischen 863 und 892 wiederholt die niederen Lande heimsuchten und von 880 bis 885 sogar ein Standlager an der Maas unterhielten. Dasselbe Schicksal wird die Großgrafschaften betroffen haben, die den zu 870 genannten Großgauen (oben: § 282) entsprochen haben dürften. Man pflegt den für dieses Gebiet im 10. Jahrhundert typischen Mangel „kräftiger und großräumig ordnender Zwischengewalten“ oberhalb der Grafschaften und unterhalb des Königtums zwar mit der „unmittelbaren Königsherrschaft“ zu erklären (W. Janssen 1997 S. 65), die auf die Herkunft des Karolingerhauses aus dem Lande an Rhein und Maas und dessen entsprechend dichte Bedeckung mit Königspfalzen und königlichen Fisken zurückgeht, aber aus dieser Tatsache läßt sich das Fehlen eines herzoglichen Vizekönigtums oder niederer Herzogtümer nicht erklären, sondern lediglich das Vorhandensein einer besonders großen Anzahl an königlichen Immunitäten und Hofgerichtsverbänden, die im Laufe der Zeit an die Seite der grafschaftlichen Dinggemeinden oder auch an deren Stelle treten mußten, und ein besonders hoher Anteil an Reichsgutverwaltern und Reichsvögten an der Gesamtheit der Großen des Regnums. Eher leuchtet mir die Annahme ein, daß die Normannen mit den einheimischen Kriegern und Heeren auch die Dukate und Groß- oder Markgrafschaften vernichtet hätten, denen es oblag, jene zur Landwehr aufzubieten und ins Feld zu führen, und daß nur die einfachen Grafschaften die Chance hatten, die Katastrophe zu überleben.
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Daraus mag sich die Ungebundenheit, ja Zügellosigkeit der lotharingischen Großen erklären, die wohl rasch mit vergänglichen Bündnissen zum Schutze persönlicher oder lokaler Interessen bei der Hand waren, aber wenig von gemeinsamer, nur bei Beständigkeit regionaler Verbände erreichbarer Wahrung des gemeinen Nutzens und Landfriedens hielten, geschweige denn davon, Fürsten zu Häuptern anzunehmen und mit ihrer aller Beistand zu stärken, die sie zu solchem Frieden hätten zwingen dürfen. § 452. Die Friesen jedenfalls haben nie wieder einen Herzog über sich erhoben, geschweige denn, daß sie je den Status von Königswählern und somit eines Regnums erlangt oder auch nur angestrebt hätten. Selbst zur Ausbildung einer einheimischen Grafengewalt ließen sie es nur in Holland kommen, und den sächsischen Fürsten, die sich um ihre Grafschaften bewarben, verweigerten sie hartnäckig Annehmung und Gehorsam (D. P. Block in LMA 4 Sp. 972 f. H. von Lengen in LMA 4 Sp. 977). Was die fränkischen Lotharingier anlangt, so dürfte ihr Land in dem Jahrhundert, da es als Regnum galt, nie einen Herzog in vizeköniglicher Stellung besessen haben. Schon der Umstand, daß Volk und Land solange keines Eigennamens bedurften, zeigt an, daß sie auch kein gemeinsames Oberhaupt erhoben. Und nur Großgrafen, die gelegentlich auch als Markgrafen oder (niedere) Herzöge bezeichnet wurden, sind im Lande zu dieser Zeit festzustellen. Dies gilt von dem Konradiner Gebhard, Inhaber der Grafschaft im Gau Wetterau (MGH. DLdK. 71 S. 208 Z. 1), der häufig im Rate König Ludwigs innerhalb der Gruppe der comites angeführt und dabei einmal amtlich als (comes) Kebehard dux regni quod a multis Hlotharii dicitur bezeichnet wird (ebd. 20 S. 126 Z. 22), ohne daß ihm dies den Vorrang vor anderen Grafen verschafft hätte, wie denn auch in demselben Diplom als letzter dieser Gruppe, noch nach dem Markgrafen der Thüringer, (comes) Liutpold dux Boemanorum erscheint (ebd. S. 126 Z. 24), der Spitzenahn der bayerischen Luitpoldinger, der anderweitig als Markgraf in Karantanien und Oberpannonien und als Graf im Donau- und bayerischen Nordgau bekannt ist (A. Schmid in LMA 5 Sp. 2206). Ein solcher Dukat, der seinem Inhaber keinerlei Vorrang vor (Groß-)Grafen und Markgrafen verlieh, kann nur ein niederer Dukat gewesen sein, und derjenige des Grafen Gebhard kann sich auch nur über den an Ostfranken angrenzenden Teil des Regnum Hlotharii erstreckt haben (R. E. Barth 1990 S. 20). Nichts spricht dafür, daß König Ludwig den Grafen „zu einer Art königlichem Statthalter“ in ganz Lothringen (W. Janssen 1997 S. 51) bestellt hätte (C. Brühl 1995 S. 393). Nicht anders kann es um Giselbert und dessen im Jahre 915 verstorbenen Sohn Reginar gestanden haben, sie beide Inhaber mehrerer Grafschaften im Nordwesten Lothringens (U. Nonn 1983 S. 240) und Wortführer des Landesadels im Raume zwischen Schelde und niederer Maas (R. E. Barth 1990 S. 30 – 37). Reginar, der im Jahre 907 selbst als comes urkundete, wird in den Diplomen dreier Könige niemals anders denn als comes tituliert; nur König Karl III. von Westfranken, den von
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911 bis 923 auch die Lothringer anerkannten, bezeichnet ihn einmal als marchio, nur der Chronist Regino einmal als dux, jedoch ohne Bestimmung seiner Untertanen. So spricht alles dafür, daß Reginar, gleich seinem Vater, der Klasse der Großgrafen angehörte, die man auch als Markgrafen oder (niedere) Herzöge bezeichnen konnte, daß er aber keine königliche Bestallung zum Herzog-Vizekönig aller Lothringer besaß (R. E. Barth 1990 S. 15 – 30, 37). Eine solche Stellung konnte er dann auch nicht auf seinen Sohn Giselbert II. vererben. Der wiederum unbestimmte Titel dux, den ihm Privaturkunden von 922 beilegen, ist als „regional getragene dukale Heraushebung“ gekennzeichnet worden (ebd. S. 172), und wenn er selbst im Jahre 928 als gratia Dei dux (und Laienabt von St. Servatius zu Maastricht) urkundete, so kann das wiederum nur als eine von seinem Lande mitgetragene Einstufung gelten (ebd. S. 46, 171). Sein Land aber umfaßte denselben Bereich im Nordwesten Lothringens, in dem sein Vater tätig gewesen war. Da er seit 920 als gekorenes Haupt oder princeps derjenigen Großen, die König Karl III. verlassen hatten, die Vereinigung Lothringens mit dem ostfränkisch-sächsischen Reiche König Heinrichs I. in die Wege leitete, legte ihm dieser, 929 und 930 noch zwischen dux und comes schwankend, seit 931 beständig den Titel dux bei, allerdings stets ohne ihm einen Gewaltbezirk zu bestimmen und ohne daß man seiner Tätigkeit hinfort einen „gesamtlotharingischen Rechtsraum“, eine gesamtlothringische Befehlsgewalt oder speziell ein Sonderkönigtum zuordnen könnte. Eine „stammesherzogliche . . . oder verbandsherzogliche Stellung besaß Giselbert nur punktuell“, und eine solche hat ihm auch König Heinrich I. nicht verschafft (ebd. S. 61 – 63, 81). § 453. Offensichtlich war der im Jahre 855 künstlich geschaffene Untertanenverband des Hlotharii Regnum bereits zu dieser Zeit der Partikulierung und Auflösung in Teilverbände verfallen, die freilich weit davon entfernt waren, feste Formen anzunehmen. Denn was mag es sonst bedeuten, daß sich ein Edelmann sächsischdänisch-friesischer Abstammung namens Ansfrid, Bruder der um 896 geborenen Königin Mathilde und des von 931 bis 956 amtierenden Erzbischofs Rotbert von Trier, in fünfzehn Grafschaften Niederlothringens und Frieslands zum Grafen annehmen oder erheben lassen konnte, ohne daß diese enorme – wegen ihres ungewöhnlichen Umfangs noch zwei Generationen später vom Bischof von Merseburg aufmerksam registrierte – Kumulation von Grafschaften irgendwelche politische oder verfassungsgeschichtliche Folgen gezeitigt hätte (Thietmar IV 31. G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 7 S. 32. G. Althoff in LMA 6 Sp. 390 f. U. Nonn 1983 S. 241. R. Grosse 1987 S. 116, 146)? Es ist daher sehr fraglich, ob die vier seit 939 von König Otto I. bestallten, mit einer Ausnahme landfremden Herzöge, deren letzter des Königs Bruder Erzbischof Brun von Köln (953 – 965), jemals von einem Untertanenverbande des Regnums oder gleichzeitig von bestimmten Teilverbänden lothringischer Lande zum Vizekönige oder Vertreter des abwesenden Herrschers in Lothringen angenommen worden sind. Als der Bischof-Herzog Brun starb – sein Biograph nennt ihn archidux,
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um seiner Stellung über den Dukaten Ausdruck zu geben –, hatte sich das Regnum so weit aufgelöst, daß die Könige seither darauf verzichteten, weiterhin sie vertretende Herzöge in Lothringen einzusetzen (G. Tellenbach 1943 S. 49). Denn die Bestallung Bruns hatte diesem persönlich gegolten, nicht jedoch das Herzogtum, worunter das königliche Bestallungsrecht hätte verstanden werden müssen, der Kölner Kirche übertragen. Dafür, daß die Könige ein Herzogtum in dieser Form, und somit vergleichbar der Grafschaft, die sie im 11. Jahrhundert so häufig an Reichskirchen vergaben, veräußert hätten, gibt es kein einziges Beispiel (J. Fikker / P. Puntschart 1923 S. 230 f.). Der Versuch, das Regnum der Lotharingier von oben her zu einem der das Ostfränkisch-deutsche Reich tragenden Teilreiche auszubauen, war fehlgeschlagen, und die Reichsregierung überließ die Verfassungsbildung den von unten her wirkenden Partikularverbänden. Die Grafschafts- und Hofrechtsgemeinden wollten jetzt, da sie die Angriffe von Dänen und Ungarn nicht mehr zu fürchten brauchten, von einem Gesamtuntertanenverbande nichts mehr wissen, sondern waren es zufrieden, nach Bedarf regionale Bündnisse einzugehen, deren fürstliche Häupter freilich nur in zwei Fällen und nur auf Grund königlicher Bestallung den Herzogstitel führen konnten, ohne dadurch jedoch abgegrenzte Amtssprengel und mehr Befugnisse als jene Groß- oder Markgrafen zu erlangen, die jetzt häufig neben ihnen emporkamen. Niemals mehr ergab die Addition der herzoglichen Machtbereiche soviel wie das alte Regnum Hlotharii. Ebenso wenig bedurfte es aber auch einer sei es von König Otto I., sei es von Herzog Brun verfügten Teilung des Regnums in zwei Herzogtümer, wie man sie meistens, jedoch zu Unrecht, für 959 anzunehmen pflegt (G. Tellenbach 1943 S. 36 Anm. 43. R. E. Barth 1990 S. 164 – 167, 178): Sie war unnötig, da niemand die Einheit mehr wollte. In Oberlothringen hatte noch im ersten Viertel des 10. Jahrhunderts das gräfliche Haus der Matfridinger an der mittleren Mosel so viel Anhang besessen, daß es dem Übertritt des Regnums zum Ostfränkisch-deutschen Reiche Widerstand leisten und einen herzoglichen Vorrang, eine (niedere) herzogliche Gewalt erstreben konnte (R. E. Barth 1990 S. 15. C. Brühl 1995 S. 389, 392, 429). Eine Privaturkunde von 939 legt sodann einem Grafen Friedrich, dessen Hausmacht im Ardennengau und im Bidgau an der mittleren Mosel auszumachen ist (G. Tellenbach 1943 S. 36 Anm. 44) und der bis 978 lebte, den für einen niederen Dukat typischen Titel dux und comes et dux bei, ohne dazu jedoch den Namen eines Landes zu nennen, in dem er als solcher anerkannt gewesen wäre. Im Jahre 959 bezeichnete sich Friedrich selbst als electione Francorum dux (unten: § 509), aber da seine Umgebung ohne Ausnahme aus südlothringischen Adelsgenossen bestand, kann er schwerlich die Gesamtheit der linksrheinischen Franken als seinen Untertanenverband beansprucht haben (R. E. Barth 1990 S. 173 – 177). Auch mit der oft dem niederen Dukat eigenen Hoheit über eine Mehrzahl von Grafschaften kann es nicht weither gewesen sein, da der König im 11. Jahrhundert sämtlichen Bischöfen Oberlothringens Komitate übertragen konnte und namentlich an der Ardennen-Eifel-Barriere auf der Grenze beider Lothringen etliche Grafschaften stets reichs-
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unmittelbar blieben, ohne einem Herzogtume anzugehören (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 190 – 206). Eine wahrhaft herzogliche Gewalt über sich zu erheben, dazu sahen die Grafschafts- und Bistumsgemeinden Oberlothringens offenbar nie mehr einen Anlaß. § 454. Aber nicht nur die Aufspaltung des alten Regnums in obere und niedere Lande war beim Tode des archidux Brun im Jahre 965 vollendete Tatsache, sondern auch der Zerfall Niederlothringens entlang der Maas. Denn auf das Gebiet westlich des Stromes beschränkte sich der Anhang der Herzöge, die man zuerst dem Hause der Ardennengrafen, seit 1076 aber dem der Grafen von Löwen zu entnehmen pflegte, aus denen schließlich die Herzöge von Brabant hervorgingen. Deren Land war aber auf fast allen Seiten durch Grafschaften beschränkt, deren Häupter ihre Bestallung entweder direkt vom Reiche oder mittelbar aus der Hand eines geistlichen Fürsten empfingen und damit der herzoglichen Gewalt entzogen waren (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 206 – 223). Östlich der Maas aber blieb das Rheinland als eigenständige historische Landschaft und als ein Machtvakuum übrig, in dem jetzt neue „Formen großflächiger Herrschaftsorganisation gefunden werden mußten.“ Nach herrschender Lehre hätten sich dieser Aufgabe einerseits die lothringischen Pfalzgrafen, andererseits die Erzbischöfe von Köln angenommen, beide handelnd „im Namen und Auftrag des Königs“ (W. Janssen 1997 S. 66) und bestrebt, eine herzogsgleiche Gewalt aufzurichten. Mit dieser jedoch habe sich „offenbar“ das Königtum nicht abfinden können, weil sie „diesem Raum den Charakter einer Königslandschaft nehmen und der Königsherrschaft nicht nur einen Teil ihrer realen Grundlagen, sondern wesentliche Elemente ihrer raumverhafteten fränkischen Legitimationsbasis entziehen würde“ (ebd. S. 72). Es fällt mir schwer, mich mit solchen nebelhaften Vorstellungen abzufinden, obwohl ich darin mit Vergnügen etwas von der Redeweise meines Lehrers Hermann Aubin (1885 – 1969) wiedererkenne, dem die Verfassungsgeschichte des Rheinlandes ihre empirische Grundlage verdankt. Aubin pflegte sich die geschichtliche Welt aus Räumen und Kulturlandschaften zusammenzusetzen und bekannte, nach dem Zeugnis seines Sohnes, noch auf dem Sterbelager, er habe „in Räumen gedacht“ (Erinnerungen 1987 S. 21). Aber damit meinte Aubin nichts Geheimnisvolles, sondern „bestimmte Räume und Hauptbewegungslinien, in denen und auf denen sich das Leben der vergesellschafteten Menschen abspielt“ (H. Aubin 1926 S. VII), und vom Willen, von den Interessen der Land- und Hofrechtsgemeinden vergesellschafteter Menschen als raumbildenden Kräften lasse ich daher auch die Verfassungsgeschichte ausgehen: Der „Pfalzgrafenstaat“ (W. Janssen 1997 S. 74) nämlich wuchs heran, solange diese Gemeinden seiner bedurften, und er zerfiel nach einem Jahrhundert, als das nicht mehr der Fall war. Seine Anfänge fallen in die Zeit, als man sich „bleibend gewöhnte, neben dem Gau in den Urkunden stets auch den Grafen zu nennen, in dessen Sprengel ein Gut lag. Sein Name erscheint nun von Wichtigkeit; es muß hervorgehoben werden, daß
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nicht ein Graf schlechthin, sondern dieser bestimmte Graf dem Gau vorsteht. Der Graf ist in enge Beziehungen zu seinem Gau getreten“ (H. Aubin 1920 S. 31 f.). Damit ist natürlich nicht die einseitige sachenrechtliche Beziehung des Eigentümers zur beherrschten Sache, sondern die zweiseitige Beziehung gemeint, die auf Grund der Kur und vertraglich bedingten Annehmung die Grafschaftsgemeinde mit ihrem Haupte verband und die die Gemeinde in der Hoffnung, nicht das Opfer gewaltsamer Auseinandersetzungen um die Nachfolge zu werden, auch dazu bewog, nach dem Tode ihres Grafen dessen Vaterschaft als bevorzugtes Idoneitätsmerkmal bei Auslese und Annehmung des Nachfolgers anzuerkennen. Denn wenn Aubin fortfahrend feststellt, jene engen Beziehungen seien zu eben der Zeit aufgekommen, da „sich im ganzen Reich die Erblichkeit des Grafenamtes vollends durchsetzt und zu dem sie auch in unserem Gebiete zuerst zu erweisen ist,“ so wählte er diesen abstrakten Ausdruck nicht deswegen, weil er an die Herrschaft unkörperlicher Ideen über die Geschichte geglaubt hätte, sondern weil das Schweigen der Quellen ihm mehr zu sagen nicht gestattete. Ich dagegen bin, jedenfalls wenn ich mich über die Tragweite der oben (im Ersten Kapitel) beschriebenen Regeln identischer Willensbildung nicht täusche, dieser Rücksicht überhoben und nehme an, die sogenannte, nämlich nur als Definition per partem pro toto hinzunehmende, Erblichkeit des Grafenamtes habe sich niemals irgendwo durchsetzen können, wenn sich die Grafschaftsgemeinden und ihre Schöffen nicht von der Zweck- und Rechtmäßigkeit der Abstammung als maßgeblichen Merkmals der Eignung für das Amt überzeugt hätten. § 455. Am Anfang des Pfalzgrafenstaates steht die Großgrafschaft Erenfrids oder Ezzos, der uns zwischen 941 und 966 als Graf im Zülpich-, Bonn-, Hattuarier-, Eifel-, Ruhr-, Keldach-, Huy- und Mühlgau genannt wird, womit ihn König Otto I. auf Grund seines tapferen Verhaltens in der Ungarnschlacht von 955 auszeichnete (M. Parisse in LMA 4 Sp. 200). Aber nicht der Wille des Königs allein oder auch nur in erster Linie kann diese Großgrafschaft geschaffen haben. Noch wichtiger dürfte der Wille der rheinländischen Grafschaftsvölker gewesen sein, gemeinsam und im Bunde mit den rechtsrheinischen Reichsvölkern ihre Heimat gegen die Ungarn zu verteidigen, die in den Jahren 911, 917, 919, 924, 926 und 937 Lothringen verwüstet und ausgeplündert hatten und im Bunde mit den Feinden König Ottos im Jahre 954 von neuem hier erschienen, diesmal als Kämpfer für den rebellischen Herzog Konrad von Lothringen, der ihnen mit eigener Hand den Weg von Worms aus in das Gebiet seiner Widersacher wies: „In der Gegend von Köln und Maastricht verwüsteten sie die Besitzungen des Kölner Erzbischofs Bruno und die der königstreuen Kirchenfürsten und der Klöster“, bevor sie in Brabant einbrachen und schließlich bei der Belagerung von Cambrai ihr Ziel verfehlten (B. Hóman 1940 S. 128 f.). Wenn aber „die Vereinigung mehrerer Grafschaften in einer Hand . . . sonst in unserem Gebiet bis zum Ausgang des 11. Jahrhunderts nicht mehr nachzuweisen ist und nach Reichsrecht überhaupt unstatthaft war,“ so hebt das nicht nur „die Stellung des pfalzgräflichen Hauses nur noch mehr hervor“ (H. Aubin 1920 S. 33), sondern auch die besondere Notlage des eines eigenen (niede-
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ren) Herzogtums entbehrenden Rheinlandes und die „raumbildende Kraft“, die von dem Gemeinsinn seiner Bewohner ausging, als die Bemühungen des Königs und seines archidux so offensichtlich scheiterten, die Landwehr von oben her zu ordnen und zu führen. Von Ezzo übernahm dessen Sohn Hermann den größten Teil der Grafschaften, und er ist es, der 989, schon gegen sein Lebensende, zum ersten Male mit dem Pfalzgrafentitel auftritt (ebd. S. 32. M. Parisse in LMA 4 Sp. 200). Als Worthalter der verbündeten Grafschaftsgemeinden, deren Vertrauen er genoß, dürfte er von Kaiserin Theophanu zu einer Zeit bedrohlicher französischer Ansprüche auf Lothringen die Berufung in das Hofamt (oben: §§ 419, 421) des Pfalzgrafen erlangt haben, das ihm die Aufsicht über die Pfalzen und Fiskalgüter des Rheinlandes samt zugehörigen Forsten und Kirchenvogteien (H. Aubin 1920 S. 315) und damit die Herrschaft über deren Hofgerichtsgemeinden einbrachte. Die enge räumliche Zuordnung der Reichsgutbezirke zu den Grafschaften. die Hermann in Personalunion miteinander vereinigte, fällt ins Auge (W. Janssen 1997 S. 71). Daß Hermann damit eine herzogsgleiche Position gewonnen hatte, wurde offenkundig, als die Reichsregierung seinen Sohn Ezzo zum Ehegatten der Kaisertochter Mathilde und Schwager des jugendlichen Kaisers Otto III. annahm. Es war die wirkliche Position eines niederen oder Landesherzogs (oben: § 444), zu der ihm und seinem Sohne nur noch der herzogliche Titel fehlte, denn zweifellos besaßen sie den königlichen comitatus in allen Grafschaften, die ihnen untergeben waren, nämlich das Recht, die darin amtierenden (Unter- oder Gau-)Grafen zu bestallen oder zu belehnen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 274 – 278. H. Aubin 1920 S. 36 f. U. Nonn 1983 S. 189). Aber damit hatte das werdende rheinische Landesherzogtum auch bereits den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Mit Pfalzgraf Hermann, der um 996 starb, verschieden die letzten Gefährten der Generation, die die Ungarnnot noch erlebt hatte und die davon zu erzählen wußten, daß man sie nicht aus eigener Kraft, sondern nur im Verein mit den anderen von König Otto dem Großen geführten Reichsvölkern hatte abwenden können. Jetzt, da der äußere Friede seit Jahrzehnten gesichert war, verblaßten das Reich und die Gründe, die den Kaiser in Polen, Ungarn und Italien Krieg führen ließen, und in den außergerichtlichen Beratungen der Grafschafts- und Hofdinggemeinden traten nun die Interessen der jungen Leute an den Gütern und Freiheiten in den Vordergrund, die sie als Moorkolonisten in Friesland oder als Marktsiedler und Kaufleute in Köln oder Tiel gewinnen konnten. Mit der Teilnahme am Reiche aber ging auch das Interesse der Gemeinden an dem Pfalzgrafenstaate zurück, den sie selbst mit aufgebaut hatten. § 456. Ausdruck dieses Wandels in der Interessenlage, nicht aber Ursache desselben wird es gewesen sein, daß sich im 11. Jahrhundert die Untergrafen den Ezzonen entzogen, indem sie, wie man zu sagen pflegt, ihre Ämter erblich machten und damit die Pfalzgrafschaft in feudale Auflösung stürzten, denn nicht immanente Entwicklungen des Lehnrechts, sondern politische Erwägungen der die Gra-
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fen annehmenden Gerichtsverbände entschieden darüber, ob dem Vater der Sohn im Grafen- oder Vogtamte nachfolgen sollte. Im 11. Jahrhundert aber waren die Gemeinden des Glaubens, für sich allein bestehen zu können und für die politische Existenz des Landes keine Opfer mehr auf sich nehmen zu müssen. Die Ezzonen selbst kehrten dem Lande den Rücken. Des im Jahre 1034 verstorbenen Pfalzgrafen Ezzo Sohn Hermann gewann als Geistlicher schließlich das Erzbistum Köln (1036 – 56), und Ezzos Enkel Konrad und Otto ließen sich zu Herzögen von Bayern (1049 – 53) und Schwaben (1045 – 47) erheben. Aber da die Grafschaftsgemeinden sich selbst und das Land durch die Verselbständigung ihrer einzelnen Dingstühle (oben: § 326. H. Aubin 1920 S. 35 – 40) noch weiter schwächten, als es die Entlassung der Hofgerichtsgemeinden aus ihrem Verbande ohnehin mit sich brachte, erlitten Gerichtsgewalt und Landfriede rasch unerträglich werdende Einbußen, und niemand anders war da, um dem zu steuern, als die Kirche mit ihren, zu dem Zwecke freilich unzulänglichen, geistlichen Zuchtmitteln. Dem Vorbilde französischer Bischöfe und des Bischofs von Lüttich folgend, verkündete daher Erzbischof Sigewin von Köln im Jahre 1083 einen Gottesfrieden in dem geschundenen Lande und setzte damit zum zweiten Male den Aufbau einer herzoglichen Gewalt von unten her in Gang. Denn eine wachsende Zahl edelfreier Herren hielt es für geboten, sich freiwillig, wenn auch nicht ohne zum Entgelt dafür ein Lehen zu empfangen, in die Botmäßigkeit der Kölner Kirche zu begeben und so dem Lande in der Person des Erzbischofs, den sie zum Herrn annahmen, wieder ein Oberhaupt zu geben. Die Großen, welche in den Jahren 1080 bis 1225 als Zeugen in dessen Urkunden genannt werden, besetzten einen zusammenhängenden Bezirk, der sich von der Maas bis über den Rhein hinweg an die Grenzen Westfalens, von der Spaltung des Rheinstromes bis fast an Mosel und Lahn heran erstreckte und innerhalb dessen der Erzbischof auf Grund einer oft geradezu als herzoglich bezeichneten landrechtlichen Gewalt den Magnaten Hof gebieten konnte (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 252 – 256. H. Stehkämper 1986 S. 131 – 134. W. Janssen 1997 S. 75 f., 83 f.). Wie mag dieser Sprengel entstanden sein? Sicherlich nicht aus königlichem Willen als Gründung von oben her, denn der königliche Komitat stand in ihm dem Erzbischof nur ausnahmsweise und oft wohl nur erst auf Grund späteren Erwerbs zu (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 257, 262, 273 – 280. H. Aubin 1920 S. 48 f.), und sicherlich nicht aus erzbischöflicher Lehnshoheit über verstreute Teile der kirchlichen Grundherrschaft, wie sie die Ministerialität an ihren Herrn zu ketten pflegte, sondern wohl einzig und allein aus dem Willen der Magnaten, die nacheinander und jeder einzeln den Erzbischof zum Herrn annahmen. Damit riefen sie nach dem Rechte der freien Einung, welches Volks- und Landrecht jedem freien Manne zugestanden, eine herrschaftliche Genossenschaft ins Leben, deren Hoftag man ganz unzureichend als Lehnshof bezeichnet, denn die Männer, die sich da um den Erzbischof versammelten, mochten zwar auch seine Vasallen geworden sein, in erster Linie aber waren sie nobiles terrae Coloniensis, Worthalter des um die Stadt Köln zentrierten Landes, dessen Recht sie dem Erzbischof und den in das
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Land gehörigen Gerichtsgemeinden wiesen (oben: §§ 302, 314, 315). Es war diese dem Erzbischof von der Genossenschaft der nobiles übertragene Gewalt und Vollmacht, die König Konrad III. im Jahre 1151 in die Reichsverfassung einfügte, indem er sie als (niederen) Dukat anerkannte und mit ihr den Electen Arnold als einem Teile der Regalien bestallte: rex in principali beati Petri aecclesia residens Arnaldum . . . pontificatus simul et ducatus regalibus investit, wie der als Begleiter des Königs anwesende Bischof Otto von Freising berichtet (Gesta Frid. 1, 68. Reg. Eb. Köln 2, 86 n. 502). Einen Namen erhielt der Dukat nicht, und ebenso wenig gewährte der freie Wille des Landesadels ihm einen festen Bestand: Erschreckt von der rigorosen Territorialpolitik Erzbischof Engelberts I. (1216 – 1225), ließen die Großen ihn nach dessen Tode zügig verfallen.
§§ 457 – 472. Das Regnum der Sachsen § 457. Das Regnum Saxoniae findet sich zm ersten Male erwähnt in Kaiser Ludwigs Reichsteilungsplan vom Juni 839 (MGH. Capit. 2, 58 n. 200) und in einem Diplom König Ludwigs vom 10. Dezember 840 (MGH. DLD 26 S. 32 Z. 15). Gleichzeitig kennt es der mit den Reichsgeschäften vertraute karolingische Staatsmann und Geschichtsschreiber Nithard (Hist. IV 2 S. 42 Z. 5; nicht zutreffende Bedenken bei W. Wehlen 1970 S. 100). Es könnte zu der Zeit errichtet worden sein (C. Brühl 1995 S. 327), und zwar auf Betreiben der Sachsen, die den karolingischen Streit um die Thronfolge dazu benutzten, sich zuerst (im Frühjahr 839) von Seiten der Kaiser Ludwig und Lothar den Abfall von König Ludwig und hernach (im Winter 839 / 40) von dem letzteren die Verlassung Kaiser Lothars (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 126 – 136) dadurch honorieren zu lassen, daß Kaiser und Könige sie, die Sachsen gemeinlich, die sich vor einem halben Jahrhundert ihrem Vater und Großvater hatten als besiegte Rebellen unterwerfen müssen, nunmehr als Reichsvolk und Königswähler anerkannten. Diese Vermutung setzt voraus, daß die Sachsen einen Untertanenverband bildeten, der imstande war, sich gegenüber Kaisern und Königen selbständig einen politischen Willen zu bilden und diesen Willen in die Tat umzusetzen. Einen solchen Verband nun brauchten sie nicht jetzt überhaupt erst zu erschaffen: Er dürfte ihnen aus dem altsächsischen Volksstaat überkommen sein. Denn ebenso wenig, wie König Karl der Große bei Einführung der Grafschaftsverfassung in Sachsen die alten sächsischen Dingverbände hatte zerschlagen können (oben: §§ 283, 304), so wenig hatte er darauf verzichten können, die altsächsische Staatsverfassung zu bewahren, sofern es ihm nur gelang, sich an ihre Spitze zu setzen und das öffentliche Leben des Landes zu kontrollieren. Dies war das Ziel seines Gebotes aus dem Jahre 782, dem zufolge „alle Sachsen gemeinlich (omnes Saxones generaliter) keine öffentlichen Versammlungen (conventus publicos) mehr abhalten sollen, es lasse denn etwa unser Sendbote (missus) sie auf unseren Befehl (de verbo nostro) zusammentreten; jedoch soll ein jeder Graf in seinem Amtsbezirk (in suo ministerio) Ver-
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sammlungen (placita) abhalten und richtige Urteile (iustitias) schaffen“ (Capitulatio de partibus Saxoniae, MGH. Capit. 1, 68 n. 26 c. 34. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 447 f.). Das sächsische, zu Marklo gehegte Allthing wäre demnach nicht beseitigt, sondern lediglich der Periodizität entkleidet worden: Es sollte sich nur noch auf Geheiß des Königs und unter dem Vorsitz eines Königsboten versammeln. Zweifellos waren Karls Gewaltboten in den nächsten Jahren regelmäßig in Sachsen unterwegs und für die Dingversammlungen erreichbar (Capitulare Saxonicum, MGH. Capit. 1, 71 n. 27 c. 4, Z. 29 – 32), aber über von ihnen einberufene gesamtsächsische Konvente besitzen wir keine direkten Nachrichten. Als Heeresaufgebote jedoch waren sie möglich, denn zum Kriege pflegte der König das Volk provinzenweise aufzubieten, aber indem er dem Herzoge (dux), welchem er jedes dieser Aufgebote unterstellte, lediglich den zeitlich befristeten Auftrag der Heerführung erteilte, verhinderte er, daß sich die Herzöge mit den Provinzen dauerhaft verbinden und ein herzogliches Friedensamt herausbilden konnten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 365 f.). Ein derartiges unständiges Herzogtum hatte bereits die altsächsische Volksverfassung gekannt (oben: § 77). Wenn die Königsboten sächsische Heere aufboten, wird dies also innerhalb der drei Heerschaften der Westfalen, Engern und Ostfalen geschehen sein, die bereits im Kriege gegen die Franken selbständig operiert hatten und bei Unterwerfung unter König Karl und Leistung der Treueide als Verbandspersonen Vertragspartner der Franken gewesen waren. Als im Herbst 797 König Karl eine fränkisch-sächsische Reichsversammlung nach Aachen einberief, weil es einer gewissen Angleichung des sächsischen Rechts an das fränkische bedurfte, da traten dort die Sachsen geordnet nach den drei Heerschaften zusammen, innerhalb deren man für eine gleichmäßige Beteiligung der Gaue gesorgt hatte (congregatis Saxonibus de diversis pagis, tam de Westfalahis et Angariis quam de Oostfalahis, Cap. Saxonicum, MGH. Capit. 1, 71 n. 27 pr. Z. 14 – 15. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 172 Anm. 1, Bd. 8 S. 214 Anm. 1. E. Freise 1983 S. 287). Da die Sachsen hier nicht als Befehlsempfänger, sondern als den Franken gleichberechtigte Mitglieder des königlichen Untertanenverbandes auftraten und vollmächtig für alle, auch die abwesenden, Volksgenossen sprechen konnten (ebd. c. 3 Z. 25: Item placuit omnibus Saxonibus), müssen sich zuvor die einzelnen Gau- oder Dinggemeinden über die Vollmacht verglichen haben, was die Königsboten schwerlich anders als auf einer allgemeinen Volksversammlung, allenfalls auf Versammlungen jeder der drei Heerschaften, herbeigeführt haben können. § 458. Es spricht also eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Tradition des altsächsischen Allthings unter der Regierung Karls des Großen zwar geschmälert, aber nicht abgerissen ist, sondern unter königlicher Aufsicht fortgelebt hat. Dem Zwecke, diese Aufsicht zu erleichtern, mag die Verlegung des Thingplatzes an die obere Oker gedient haben, wo sich an der Furt zwischen Ohrum und Kis-
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senbrück ein altes Landeszentrum befunden zu haben scheint, denn hier hatte Karl der Große im Jahre 780 die unterworfenen Ostfalen taufen lassen und die Angelegenheiten der Sachsen und Slaven geordnet (RI 12 n. 229a). Südlich davon erbaute später König Heinrich I. auf dem achtzehn Meter hoch über das Flußbett aufragenden, tafelförmigen Kreuzberg die Königspfalz Werla, bei der im 10. und frühen 11. Jahrhundert gesamtsächsische Landtage auch in Abwesenheit des Königs stattzufinden pflegten (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 283 – 288). Dieses Landeszentrum lag nicht nur am Rande des thüringisch-südsächsischen Großraumes, in dem es seit dem 6. Jahrhundert eine das karolingische Königtum stützende fränkische Streusiedlung gab (oben: § 80), sondern auch in jenem Teile Sachsens, wo König Karl, vermutlich im Wege strafweiser Konfiskation, größere Fisken hatte zusammenbringen können (oben: § 304). Der spätere Pfalzort war also für fränkische Königsboten in vieler Hinsicht günstiger gelegen als das alte politische Zentrum des sächsischen Volkes an der mittleren Weser, wo sie inmitten des sächsischen Rechtsraumes weder karolingisches Reichsgut nutzen noch auf den Beistand fränkischer Siedler zählen konnten. Soweit uns für deren Anwesenheit die Einführung des Schöffengerichts (oben: § 318) als Indikator dienen kann, erstreckte sich nämlich die Geltung reinen sächsischen Verfassungsrechts von Nordalbingien aus über das Stromgebiet der Weser hinweg bis nach Groningen, Osnabrück, Soest und Dortmund im Westen und bis nach Göttingen und Braunschweig im Süden; nur im südlichen Westfalen und in Ostsachsen bis hin nach Stendal und Magdeburg reichte der fränkische Einfluß hin, um die Schöffenverfassung einzubürgern (C. Haase 1952 S. 140, 143). Welcherart dieser Einfluß gewesen war, läßt sich daraus erschließen, daß die Schöffengeschlechter in Ostsachsen den sächsischen nichtadligen Freien (Frilingen und Liten), die später Pfleghafte und Bargilden hießen, die Ebenbürtigkeit verweigerten; so kam es, daß nur die echten Dinge die Schöffenverfassung annahmen und nur bei ihnen die Schöffen dingpflichtig wurden, während das aus dem gebotenen Ding hervorgehende Gogericht (im Gegensatz zum fränkischen Hundertschaftsding) ein Gericht ohne Schöffen und mit allgemeiner Folgepflicht der (rein sächsischen) Gogemeinde blieb (R. Schröder 1884 S. 51 – 53, 57. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 404 f. Oben: § 283). In Westfalen hatte zwar auch das gebotene Ding die Schöffenordnung angenommen oder annehmen müssen; die Grafen- oder Freigerichte aber behaupteten sich inmitten der sächsischen Umgebung bis ins späte Mittelalter als die angesehensten ordentlichen Landgerichte Sachsens, weil die Einsetzung durch Karl den Großen, eine hohe und ausgedehnte Kompetenz, der Schutz ihrer Urteile durch den Königsbann und die Vornehmheit der Vorsitzenden und Schöffen sie stärkte. Nimmt man ihre Zahl mit etwa dreihundertfünfzig an, zu denen je etwa zehn Freigüter gehörten, so lassen sich für die karolingische Zeit etwa gegen dreitausendfünfhundert freie Geschlechter in Westfalen errechnen (A. Hagemann 1959 S. 141 f.). Im Vergleich zu den Edelingsgeschlechtern wäre das eine hohe, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung jedoch eine immer noch bemerkenswert geringe Zahl.
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§ 459. Die Pfalz Werla zeigt sich später als Mittelpunkt eines weit ausgedehnten Reichsgutbezirks, zu dem bereits König Karl den Grund gelegt haben dürfte (W. Berges 1963 S. 136), indem er dort auf konfisziertem Lande Fronhofsverbände einrichten ließ. Denn erst seit der Eingliederung Sachsens in das christliche Karolingerreich hat die fränkische Grund- und Adelsherrschaft dort ihren Einzug angetreten (oben: §§ 75, 79, 86, 359). Aber das Villikationssystem war auf Getreideerzeugung im großen Stile angelegt und daher auf fruchtbare, dichtbesiedelte Böden angewiesen, wie sie in Sachsen nur die breiten Flußtäler und weiten Siedlungskammern der Mittelgebirge und die Lößböden des Gebirgsvorlandes darboten. Das nördliche Tiefland dagegen mit seinen von Mooren, Flußniederungen und Seemarschen umgebenen Geestflächen, das den größten Teil des sächsischen Regnums ausfüllte, war dafür denkbar ungeeignet. Entsprechend schwer fiel es den Königen, die sächsischen Niederlande zu beherrschen, denn um den reisenden Hof und das Heer zu beherbergen und zu versorgen, waren sie auf ein System von königlichen Fronhöfen angewiesen, das dort besonders dicht sein mußte, wo sich der König einmal für längere Zeit aufhalten oder wo er seinen Bischöfen eine feste Residenz anweisen wollte (C. Brühl 1968 S. 63 f., 66, 72. Unten: § 503). Die altsächsische Steuerverwaltung (oben: § 81) bot dafür so wenig einen Ersatz, daß Kaiser Karl sie gänzlich kassierte, wie einer allerdings nicht besonders gut beglaubigten Nachricht zu entnehmen ist, der zufolge er im Jahre 803 die Sachsen von allen Tributen befreit hätte, ausgenommen den Zehnten (Ann. Quedlingb. a. 803. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 103. E. Mühlbacher 1896 S. 142 f. C. Brühl in RI 12, Neudruck 1966 S. 943 f.). In der Tat sind Königshöfe und nach dem Domanialsystem eingerichtete königliche Grundherrschaften der Karolingerzeit in Sachsen vor allem in der Mittelgebirgs- und Lößbodenzone zwischen Rhein und Weser nachweisbar (H.-J. Nitz 1989 S. 429 – 474), in der auch der Hellweg von Duisburg über Dortmund und Paderborn bis zur oberen Weser und zur Okerfurt bei Ohrum verlief, den Karl der Große zur Heerstraße ausbauen ließ. Wie dürftig dagegen das Königsgut ausgefallen ist, das sich in der sächsischen Tiefebene requirieren ließ, geht daraus hervor, daß nach Beendigung der Sachsenkriege weder Karl der Große noch seine Nachfolger je wieder diese Gegenden aufgesucht haben (C. Brühl 1968 S. 66). Entsprechendes gilt für den Grundbesitz der Klöster, die im 9. Jahrhundert in Sachsen gegründet wurden oder dort missionierten: Fronhöfe, welche Salland mit frondienstpflichtigen Bauernhöfen verbanden, finden sich vor allem im südlichen Berglande und dessen Vorland (H. H. Kaminsky 1972 S. 17 – 19. H. Goetting 1973 S. 83), während im Tieflande lediglich ein weitgestreuter Besitz an einzelnen Hufen und Hörigen zusammenkam, der allein als Rentengrundherrschaft im Rahmen der Hebeamtsverfassung zu nutzen war (M. Last 1977 S. 632 – 637). Über Herkunft und Umfang der Dotationen für die neun Bistümer, die Karl und sein Sohn in Sachsen errichten ließen, ist nichts bekannt, und nichts spricht dafür, daß die Kaiser den Missionsbischöfen bei der Gründung mit der Zuweisung von Königsgut hätten zu Hilfe kommen können. Eine Grundherrschaft, welche die materielle Exi-
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stenz ihrer Kirchen sichern würde, mußten sich die Bischöfe erst mit ihrer Predigt erwerben. Es gibt also Gründe genug für die Vermutung, daß das sächsische Allthing schon vor dem Jahre 840 von der mittleren Weser an die obere Oker verlegt worden ist, solange fränkische Königsboten wenigstens den Süden des sächsischen Landes regelmäßig zu bereisen vermochten, und daß der Zweck der Maßnahme darin bestand, die königliche Aufsicht über die Beratungen des Allthings zu sichern, wofür die Bedingungen um so ungünstiger waren, je weiter man vom Hellwege aus in den Norden zog, wo die altsächsischen Verhältnisse beharrlich fortdauerten, wenn auch nirgends so ungebrochen wie in Nordalbingien, wo der Graf, als einziger Vertreter der königlichen Gewalt, noch im 12. Jahrhundert über Münze, Verkehr, Gewässer und gemeines Land nur dann verfügen konnte, wenn die Landesgemeinde der Holsteiner, Stormarn und Dithmarscher dem zugestimmt hatte (H. Stoob 1951 S. 99 f.). Und wo sonst, wenn nicht auf einem Land- oder Reichstag des sächsischen Regnums, könnte Graf Bardo, missus der Könige Ludwig und Karl, im März 842 die Zusage erwirkt haben, quod Saxones mandata Lodharii sprevissent, daß die Sachsen Kaiser Lothars Befehle zurückweisen würden und bereit wären, dem Gebot der beiden Könige Folge zu leisten (Nithard, Hist. III 7. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 173 f.)? Aus dem Angebot aber, das im Vorjahre missi Lothars den Frilingen und Laten in Sachsen unterbreitet hatten (Ann. Bert. a. 841 S. 25 Z. 37 bis 26 Z. 2, Nithard, Hist. IV 2 S. 41 Z. 28 bis 42 Z. 2), ist vielleicht zu erschließen, daß immer noch Sendeboten auch dieser Stände aus den Gauen an der Versammlung und gemeinen Willensbildung aller Sachsen teilhatten. § 460. Von seinem dritten Italienzuge aus richtete Kaiser Otto I. am 18. Januar 968 ein im Wortlaut überliefertes Schreiben (MGH. DO. I. 355) an die Herzöge Hermann und Dietrich und alle sonstigen Amtleute in Sachsen, caeteris publicae rei nostrae prefectis, darin er von den Verhandlungen mit dem Byzantinischen Reiche und von seiner Absicht heimzukehren berichtete und den Adressaten befahl, keinen Frieden mit den Redariern zu schließen; sie sollten dies mit Herzog Hermann beraten, haec cum Herimanno duce ventilantes, und alle Kräfte einsetzen, um die Feinde vollständig zu vernichten. Dieser Brief wurde in der Volksversammlung zu Werla vor den Fürsten und der Menge gewöhnlicher Leute, in conventu populi in loco qui dicitur Werla coram principibus et frequentia plebis, verlesen; man beschloß jedoch, visum est, den Frieden, der den Redariern bereits gewährt worden war, bestehen zu lassen, weil ein Krieg gegen die Dänen bevorstand und das Heer einem Kampfe mit zwei Gegnern zugleich nicht gewachsen war (Widukind III 70. M. Becher 1996 S. 288 – 291. A. Kränzle 1997 S. 145). Die Entscheidung in einer so hochbeschwerlichen, nämlich Krieg und Frieden betreffenden Frage setzt voraus, daß sich die Versammlung im Besitze vizeköniglicher Befugnisse befand. Daher ist es sehr bemerkenswert, daß der Kaiser sie nicht als den Untertanenverband eines Herzogs betrachtete, der ihre Beschlüsse zu sanktionieren gehabt hätte, daß er jene Befugnisse nicht einem Herzoge beilegte, der
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mit Zustimmung des Volkes die Entscheidung hätte treffen sollen, sondern daß er die Versammlung selbst als entscheidende Persönlichkeit anredete. Diese als Person aufgefaßte Vielheit bestand aus Herzog Hermann Billung von Engern, Markgrafen der nordalbingischen Mark, Herzog Dietrich von Ostsachsen, Markgrafen der Nordmark, und den ihnen zwar im Range nachgeordneten, in der Sache aber gleichberechtigten Großgrafen des sächsischen Volkes. Als der Kaiser ein halbes Jahr später ebenfalls von Italien aus die Sachsen anwies, zu Magdeburg einen Erzbischof zu erheben, wandte er sich an dieselbe Verbandsperson wie jetzt im Januar, diesmal jedoch, ohne einen der Herzöge überhaupt, geschweige denn mit Namen, zu erwähnen (MGH. DO. I. 366. Oben: § 429). Daraus ergibt sich, daß das Schreiben vom Januar die Herzöge nicht deswegen nennt, weil sich ohne ihre Anwesenheit oder gar Leitung die Landesversammlung gar nicht hätte konstituieren können, sie also Häupter des Sachsenvolkes gewesen wären, sondern einzig und allein deshalb, weil sie als Markgrafen das Heer gegen die Redarier anführten, mit den Feinden den erwähnten Frieden abgeschlossen hatten und daher in höchstem Maße sachkundig waren. Zu der Versammlung in der Pfalz Werla waren die sächsischen Fürsten, wie der Corveyer Chronist berichtet, mit einem so großen Gefolge an Grafen, Edlen, Schöffen, also Worthaltern der Partikularverbände, deren Häupter sie waren, erschienen, daß man die Versammlung mit dem sächsischen Volke identifizieren konnte, da sich jeder Fürst des Konsenses seines Teilvolkes durch dessen vollmächtige Sprecher in der Versammlung selbst versichern und dadurch sich selbst vollmächtig machen (oben: §§ 10, 11, 22, 24) konnte und mußte, bevor er im Rate der Gesamtheit seine Stimme abgab. Wenn es auch nicht mehr genau sechsunddreißig Erwählte der Teilvölker waren, die jeden Fürsten begleiteten, wie einst im Allthing des sächsischen Volksstaates (oben: § 78), so wurde doch die Versammlung offenbar immer noch so, wie einst das Allthing (oben: § 88), von einer Gruppe gleichberechtigter Ältester oder Fürsten geleitet, entbehrte sie immer noch eines monarchischen Oberhauptes, dem der König in förmlicher Bestallung vizekönigliche Befugnisse übertragen hätte. Das altsächsische Allthing und der conventus populi des Regnum Sachsen unterschieden sich in Verfassung und Geschäftsordnung offensichtlich nur dadurch voneinander, daß das frühere Allthing souverän gewesen war, während die jetzige Versammlung den anwesenden König als Haupt über sich anerkannte und anstatt des abwesenden Königs als Gesamtperson vizekönigliche Befugnisse ausübte. Da das sächsische Allthing seit 782 nur noch unter dem Vorsitz eines vom Könige bevollmächtigten Missus hatte tätig werden können (oben: § 457), liegt es nahe zu vermuten, daß die sächsische Volksversammlung die zum Jahre 968 erkennbare Verfassung anläßlich der Erhebung Sachsens zum Regnum im Jahre 839 / 840 angenommen und bei der Gelegenheit auch das Recht der Periodizität wiedererlangt habe, das Karl der Große ihr einst entzogen hatte. § 461. Ich nehme demnach an, (1) daß fränkische Königsboten mit dem sächsischen Allthing die Erhebung Sachsens zum Regnum und die künftige Verfassung
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des Sachsenvolkes als Teilreichsvolkes ausgehandelt haben, (2) daß aus diesem Anlaß die karolingischen Herrscher den Sachsen zugestanden haben, sie hinfort nicht mehr durch fremde Königsboten, sondern durch ein von ihnen, den Sachsen, zu kiesendes und vom Könige zu bestallendes Haupt zu regieren, (3) daß dieses Haupt dem Volke und seinem Konvente mit vizeköniglicher Gewalt vorstehen sollte, soferne der fränkische König nicht persönlich im Lande verweilen und das Regnum regieren konnte, (4) daß die Sachsen den Karolingern, um ihnen diese Zugeständnisse zu ermöglichen, in der Person des ostfälischen Grafen Liudolf einen Vornehmen als ihren Worthalter zum Haupte präsentierten, dessen gleichnamiger Großvater einst seinen Frieden mit König Karl gemacht und sein Leben als Mönch in der Reichsabtei Fulda beschlossen hatte, bevor noch die Kämpfe um die Christianisierung und Eingliederung der Sachsen in das Fränkische Reich beendet waren (H. Goetting 1973 S. 81. T. Struve in LMA 6 Sp. 1588). So wird Graf Liudolf als erster Herzog-Vizekönig in Sachsen zu betrachten sein. Wir wissen nicht, ob ihm in dieser Funktion ein bestimmter Titel amtlich beigelegt worden ist, da man als Herzoge, duces, in Sachsen die nur bei Bedarf erhobenen Führer der drei Heerschaften bezeichnete (oben: § 457). Wenn der Mönch Agius zu Corvey, der vielleicht ein Sohn Liudolfs war (E. Heyse in LMA 1 Sp. 210), um 876 von dem bereits verstorbenen Fürsten als dux orientalium Saxonum sprach, so kennzeichnete er ihn damit als Führer des ostfälischen Dukates in dessen ständigen Kämpfen mit Slaven und Dänen, eines Dukates gleich dem der Westfalen, den die Reichskanzlei im Jahre 859 dazu benutzte, die Lage von Dinggrafschaften zu bezeichnen, in denen benanntes Reichsgut anzutreffen war (Vita Hath. S. 167 Z. 14. MGH. DLD. 95), und man kann wohl nicht sagen (W. Schlesinger 1941 / 64 S. 142. T. Struve in LMA 6 Sp. 1588), daß das sächsische Vizekönigtum aus der Vereinigung dieser beiden Dukate oder aus der Ausweitung des ostfälischen Dukates auf ganz Sachsen durch Liudolfs Söhne entstanden sei, da es ganz andere Aufgaben zu erfüllen hatte als diese Heeresdukate. Beklagenswerterweise besitzen wir über diese nur das Zeugnis der Kanonisse Hrotsvit, Schulmeisterin des von Liudolf gegründeten Klosters zu Gandersheim, die vor 973 ein Lehrgedicht über dessen Anfänge verfaßte, ohne sich erkennbar auf schriftliche Quellen stützen zu können, die nicht auch uns erhalten geblieben wären. Die Dichterin muß daher vieles aus mündlicher Überlieferung geschöpft haben, so daß der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, sie habe eher aktuelle Erwartungen der sich an alte Zeiten erinnernden Stifts- und Hofgesellschaft als zuverlässige, nicht mehr verformbare Nachrichten in Verse gebracht (J. Fried 1995 S. 268 – 278). Aber hören wir ihre Worte! Als Stifter des Klosters gelten ihr duces Saxonum iure potentes / Liudulfus magnus, clarus quoque filius eius / Oddo (Hrotsvit S. 229 Z. 4 – 6), und von Liudolf sagt sie: Hinc nam Francorum magni regis Hludowici / militiae primis adscriptus paene sub annis, / ex ipso digne summo sublatus honore, / gentis Saxonum mox suscepit comitatum; / ac cito maioris donatus munere iuris, / principibus fit par, ducibus sed nec fuit impar (ebd. S. 229 Z.
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13 – 18). Jener König Ludwig aber war es, cuius dono Liudulfus / suscepit primum propriae gentis dominatum (ebd. S. 238 Z. 309 – 310). § 462. Liudolf wäre demnach schon in früher Jugend als Getreuer (schwerlich als Vasall, jedenfalls nicht als belehnter Vasall: W. Kienast 1990 S. 231 – 245) in König Ludwigs Heer aufgenommen, dann aber zum höchsten öffentlichen Amte erhoben worden, als er den comitatus des sächsischen Volkes empfing. Von den vier Bedeutungen, die dem Worte comitatus zukommen (oben: § 277), kann hier nur der königliche comitatus gemeint sein, also das Recht des Königs, die Dingoder Gaugrafen zu bestallen, die sich das in Dinggemeinden partikulierte sächsische Volk aus allseitig einhelligem Willen erkor, und die den Grafschaften zugeordneten Fisken zu nutzen. Hrotsvit verwandte hier einen Ausdruck nicht der Dichter-, sondern der Amtssprache, für den sie sonst keinerlei Verwendung hatte; in ihren Schriften begegnet er uns sonst nur noch einmal, und da nur in dem umgangssprachlichen Sinne von Gefolge oder Begleitung (Hrotsvit S. 279, 182 Z. 29). Hrotsvit sagt es nicht ausdrücklich, da sie die darauf hinweisenden Verben im grammatischen Passiv verwendet, aber aus dem Zusammenhange des Textes geht hervor, daß Liudolf das öffentliche Amt, dessen Befugnisse ihn (in der Sache) Königen gleichstellten, ohne ihn (im Range) über die Herzöge zu erheben, von König Ludwig empfangen habe. Es war eben ein vizekönigliches, nicht das einfache Herzogtum eines sächsischen Heerführers. Seinen Inhalt machte der dominatus aus, die Herrengewalt oder herrschaftliche Vollmacht, von der Hrotsvit weiter unten berichtet, Liudolf habe sie von dem König Ludwig erhalten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß König Heinrich I. und zu Hrotsvits Lebzeiten dessen Sohn König Otto I. im Regnum Sachsen die amtlichen Befugnisse ausübten, von denen die Dichterin hier redet. Zu fragen ist lediglich, ob sie dies als Könige und kraft ihrer Erhebung zu solchen, folglich erst seit den Jahren 919 und 936 und aus Vollmacht des sächsischen Volkes taten, oder ob Heinrich bereits seit seiner Erhebung zum Herzoge im Jahre 912 über jene Befugnisse verfügt hatte, weil diese nämlich schon seit langem und aus Vollmacht des karolingischen Königtums in der herzoglichen Amtsgewalt enthalten waren (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 302). Mit Recht, wenn auch mit unzureichender Begründung, haben die Gelehrten seit je das letztere für richtig gehalten. Hierzu bewog sie erstens der Umstand, daß, seit der ältere König Ludwig im Jahre 852 von Köln aus über Minden und weiter vermutlich über Werla, Halberstadt, Allstedt, Memleben nach Thüringen gezogen war, um allgemeine Volksversammlungen und Gerichtstage abzuhalten und Königsgut zu revindizieren (Ann. Fuld. a. 852), kein karolingischer König je wieder die sächsische Erde betreten hat, so daß das Regnum seither „eine Selbständigkeit“ genoß, „die allmählich der Unabhängigkeit gleichkam“ (W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 142 – 145. W. Hartmann 2002 S. 97) und gewiß nicht nur die Verwaltung des Reichsgutes (H. Patze 1962 S. 72. W. Berges 1963 S. 136), sondern auch die Bestallung der königlichen Grafen mit einschloß. Hinzu kam als zweites, daß sowohl König Heinrichs Großvater, der
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im Jahre 866 verstorbene Liudolf, dem Hrotsvit die Begründung des Herzogtums zuschreibt, als auch sein Onkel Brun, gefallen 880, und sein Vater Otto, gestorben 912, stets in so guten Beziehungen zu den ostfränkischen Königen aus karolingischem Hause standen (H. Goetting 1973 S. 81 – 84), daß jeder von ihnen imstande gewesen sein muß, die Bestallung mit dem Herzogsamte zu seiner Zeit zu gewinnen, folglich keiner von ihnen genötigt gewesen wäre, die Amtsgewalt und den comitatus zu usurpieren, d. h. beides allein vom sächsischen Volke anzunehmen. Darüber, ob Herzog Heinrich im Jahre 912 mit oder wider Willen König Konrads I. dem Vater Otto nachgefolgt ist, wissen wir nichts (W. Schlesinger 1956 S. 163. J. Fried 1995 S. 293). Spätestens seit 852 und gewiß längst, bevor sich Liudolfs Tochter Liutgard mit dem Königssohne Ludwig dem Jüngeren vermählte, muß daher den Karolingern in Sachsen ein vom Volke des Regnums angenommenes Vizekönigtum zur Verfügung gestanden haben, dem die Könige das Schicksal des Landes getrost anvertrauen konnten und dem sie auch die Bestallung der Grafen überließen oder überlassen mußten. § 463. In die Zeit von 840 bis 919 muß die Entstehung der sächsischen Großgrafschaften fallen, aber über die daran beteiligten Heerschaften, Grafschaftsgemeinden und Grafenhäuser und über den Verlauf der vorauszusetzenden Kämpfe zwischen den Interessenten um die Einrichtung der neuen Bezirke ist ebenso wenig bekannt wie über die Gründe, die das Land Sachsen und dessen Oberhaupt dazu veranlaßten, den königlichen Comitatus innerhalb der Großgrafschaften von dem Herzog-Vizekönig auf deren Häupter zu übertragen. Die Unsicherheit hinsichtlich der Stellung und der Befugnisse, die dem Herzog-Vizekönig danach noch verblieben, kommt darin zum Ausdruck, daß Otto dem Erlauchten, Oberhaupte des ganzen sächsischen Volkes von 880 bis 912, nach dem Sprachgebrauche der Reichskanzlei und der sächsischen Annalisten lediglich die Titel comes oder marchio zustanden, während das Reichskloster Hersfeld, das ihn zum Laienabte angenommen hatte, und einem Hersfelder Ersuchen folgend dann auch König Konrad I. den bereits Verstorbenen als Herzog bezeichneten (W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 144): Die Reichskanzlei betrachtete ihn lediglich als Großgrafen und leitete daraus, daß er der sächsischen Volksversammlung vorsaß, keine besonderen Befugnisse (mehr) ab. Da Ottos Sohn Heinrich auch, nachdem ihn Franken und Sachsen zum Könige erhoben hatten, so gut wie ständig im Lande verweilte, sah er keinen Anlaß, das Amt eines vizeköniglichen Herzogs in Sachsen zu erneuern, und seinem Sohne Otto fehlte dazu der Wille: Nur befristet bestellte Otto den Markgrafen Hermann Billung in den Jahren 953, 961 und 966 zu seinem Stellvertreter oder Prokurator, und wieder vermied es die Reichskanzlei, ihm den Herzogstitel zu geben, ließ sie es dabei bewenden, ihn als marchio oder comes zu bezeichnen (RI 2, 1 n. 431a. U. Mattejiet in LMA 4 Sp. 2161). Man könnte denken, daß die Prokuration, die bereits 936 Sigifredus, Saxonum optimus et a rege secundus, gener quondam regis, tunc vero affinitate coniunctus (Widukind II 2), einmal ausgeübt hatte, gar kein öffentliches, sondern ein Hofamt (oben: § 421) hatte sein sollen und daß unwahrer
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Augenschein die Schriftsteller leitete, wenn sie sagen: Herimannus dux, als Herzog, Saxoniam procurabat (ebd. III 23) oder regebat (Thietmar II 28), denn Kaiser Otto nahm es den sächsischen Fürsten sehr übel, wenn sie Hermann wie einen öffentlichen, nämlich auch von Volke angenommenen oder ermächtigten Amtmann behandelten. Dies zeigte sich, als der Statthalter einen Fürstentag in Magdeburg ansetzte und bei der Gelegenheit von dem Erzbischof, den kürzlich erst die sächsischen Fürsten erhoben hatten (oben: § 429), wie ein öffentlicher Amtmann oder Landesherr empfangen wurde (susceptus est, oben: § 432. W. Dotzauer 1973 S. 251), indem jener ihn bei klingenden Glocken an der Hand zur Kirche geleitete und bei Tische auf dem Platze des Kaisers sitzen, zur Nacht in dessen Bette ruhen ließ: eine Anmaßung, der der Großgraf Heinrich von Stade sofort öffentlich widersprach, gleichsam als ob seine eigene, herzogsgleiche Stellung davon bedroht sei, die der Kaiser aber nicht seinen Statthalter, sondern den Erzbischof entgelten ließ, gleichsam als habe nur dieser seine Untertanen-, nicht aber der Statthalter auch seine Amtspflicht verletzt (M. Becher 1996 S. 291 – 298)! Man hat daher zu Recht Hermann Billungs großgräfliche Stellung in Engern, in dem ostfälischen Bardengau und in der nordelbischen Mark, kraft deren ihm das Volk und seinen Nachfolgern seit 973 auch die Reichskanzlei (K. Jordan in LMA 1 Sp. 1986 f.) den Herzogstitel beigelegt haben mag, unterschieden von der Prokuratur, die ihm in Abwesenheit des Königs zustand und vom Volke auch im Interregnum zuerkannt wurde, ohne einen bestimmten Titel zu rechtfertigen. Denn daß Kaiser Otto die in drei oder zwei Generationen errichteten mächtigen Großgrafschaften wieder einem vizeköniglichen Herzogtum habe unterordnen wollen, dürfte, auch abgesehen vom Interesse des Königtums, schon wegen des zu erwartenden Widerstandes äußerst unwahrscheinlich sein. Die Stellung, die Hermann Billung seinen Erben und Nachfolgern hinterließ, war zwar die einzige Herzogsgewalt in Sachsen, sie erwuchs aber nie zur Gewalt über ganz Sachsen. Als äußerstes läßt sich sagen, daß der Herzog, wo es nötig war, vor jedem anderen Fürsten des Landes zum Sprecher und Vertreter des Königs berufen war, und daß ihm gewisse Ehrenvorrechte etwa als Worthalter des Volkes bei der Königserhebung oder als Oberbefehlshaber bei Heerfahrten, woran das ganze Land teilnahm, gebührten. So erwirkte wahrscheinlich er bei Kaiser Otto II. im Jahre 983 die Berufung des Reichstages nach Verona, verhandelte er 1002 mit dem Elekten Heinrich über dessen Königswahl (oben: § 443) und führte er den Vorsitz auf sächsischen Fürstentagen, die nicht als königliche Hoftage einberufen worden waren, aber alle Rechte eines vizeköniglichen Herzogs, namentlich alle aus der Stellung eines obersten Richters entspringenden Befugnisse lagen in der Hand der sächsischen Großgrafen und knüpften an den comitatus an, über den der Herzog jedoch als primus inter pares nur in einem Teile des Regnums gebot (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 302, 452 f. R. Holtzmann 1941 S. 115, 179 f. K. G. Hugelmann 1955 S. 130, 133 – 135, 144 – 149, 299 f.). Man hat aus der Tatsache, daß die Billunger im 11. Jahrhundert
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Grundbesitz in der Umgebung der Pfalz Werla innehatten, auf eine vorherige Erwerbspolitik geschlossen, die dem Herzogtum hätte eine Machtbasis verschaffen sollen, um die dort stattfindenden Volks- und Adelsversammlungen zu beeinflussen (W. Berges 1963 S. 150, 152. O. Engels 1991 S. 494). An welche Art von Macht aber sollen wir da denken? Konnten die Herzoge die Willensbildung des Landtags wirklich noch auf andere Weise als durch ihre Beredsamkeit beeinflussen? § 464. Es war also nicht das Herzogtum, was das sächsische Volk und Land bis ins 12. Jahrhundert hinein zusammenhielt, sondern die Volks- und Fürstenversammlung, die aus dem altsächsischen Allthing hervorgegangen sein dürfte und der Verfassung des sächsischen Regnums ein „genossenschaftliches Gepräge“ verlieh, denn der Herzog war lediglich der erste unter den ihm sonst in jeder Hinsicht gleichstehenden Großgrafen weltlichen und seit dem 11. Jahrhundert auch geistlichen Standes, war Sprecher und Führer der Fürstengenossenschaft im ganzen ,lande to Sassen‘ (K. G. Hugelmann 1955 S. 135), einer herrschaftlichen Genossenschaft, die durch nichts anderes als den von ihr erhobenen König und durch ihre ansonsten akephalen (oben: §§ 7, 12) Fürstentage verbunden war, ohne eines Herzogs zu bedürfen, der den Großen von sich aus hätte Hof gebieten können (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 299). Deutlich kommen die Rolle der hauptlosen Fürstengenossenschaft als Führers des sächsischen Volkes und ihr Angewiesensein auf den nur bei Identität aller Willen gegebenen Beistand des Volkes in den Berichten über den Aufstand der Sachsen gegen König Heinrich IV. zu Worte. Gemeinsam verließen sie den König, als dieser sich über das Gelöbnis, gerecht zu regieren, hinwegsetzte, das er ihnen geleistet, als sie ihn zum Haupte angenommen hatten, aber immer wieder kam es zu Zerwürfnissen zwischen den Fürsten und dem vulgus oder der plebs über das gemeinsame Kriegsziel (I. S. Robinson 1999 S. 98 – 101), so besonders im Jahre 1075, als nach der Niederlage bei Homburg an der Unstrut, wo das pedestre vulgus schwerste Verluste erlitt, Saxones et Turingi crebra conventicula faciebant, in quibus plebs contra principes, et principes contra plebem gravissima simultate tumultuabantur. Succensebat plebs principibus, quod eam ad sumenda contra regem arma importunis suasionibus impulissent et nunc, cum ad certamen ventum esset, ipsi fuga elapsi plebem prosternendam . . . hostibus exposuissent (Lampert, Ann. a. 1075 S. 228 Z. 16 – 23); dies aber setzt voraus, daß auf den Volks- und Heeresversammlungen die nichtadligen freien und neufreien Krieger noch immer ebenso durch eigene nichtfürstliche Worthalter vertreten und ebenso wenig gewillt waren, sich von den Fürsten bevormunden zu lassen, wie einst in altsächsischer Zeit (oben: §§ 78, 88), jetzt aber unter der Verfassung einer freien Genossenschaft, die sie wiederhergestellt hatten, als sie den König verließen. Da aber lebten die Sachsen seit mehr als zweihundert Jahren in einem Regnum, und ihr Rechtsbewußtsein gestattete ihnen zwar den König, nicht aber das Königtum zu verlassen. So kamen sie in Forchheim mit etlichen Schwaben und anderen
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zusammen, und dort erwählten sie sich am 15. März 1077 einträchtig den Herzog von Schwaben zum Könige, Rodolfum ducem Suevorum regem sibi Saxones et Suevi concorditer elegerunt, allerdings nicht ohne ihm Bedingungen zu stellen, bevor sie ihn über sich erhoben, eum super se levarent regem (Bruno c. 91 S. 85). Dieser „König der Sachsen“ starb dreieinhalb Jahre später, nachdem er im Kampfe die Schwurhand verloren, nostri principes aber concorditer omnes ihm gelobt hatten, ut . . . eo vivo . . . Saxonia nullum alium rectoren eligeret. Als nach seinem Tode principes nostri congregati de statu regni tractarent, bot König Heinrich IV. ihnen an, ut, quandoquidem nollent esse sine rege, filium suum sibi facerent regem, seque illis iurare, quod numquam intraret terram Saxoniae, aber darauf gingen die Fürsten nicht ein (ebd. c. 124, 125 S. 118). Die Staatsräson des Regnum Saxoniae oder der sächsischen Fürstenrepublik bestand also immer noch in der Erhebung oder Annehmung eines Königs und im Verhandeln mit dem erhobenen und bevollmächtigten Könige über politische Angelegenheiten von gesamtsächsischem Interesse. Der sächsische Hoftagssprengel der deutschen Könige umfaßte noch nach staufischem Regierungsbrauche im 12. Jahrhundert und noch nach Ansicht des sächsischen Schöffen Eike von Repgow im 13. Jahrhundert das gesamte einst von Karl dem Großen dem Fränkischen Reiche einverleibte und von Ludwig dem Frommen zum Regnum erhobene Gebiet (Ssp. Ldr. III 62 §§ 1 – 3. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 283. K. G. Hugelmann 1955 S. 129). Eines Herzogs-Vizekönigs als ständiger Einrichtung hatten weder die Könige aus liudolfingischem Hause noch die Fürsten des Landes bedurft. Wenn sie im Interregnum zum Zwecke der Königswahl einen gemeinsamen Sprecher nötig hatten, so bestimmten sie diesen je nach Lage der Dinge und Sachkunde der Anwesenden, ohne daß sich daraus je ein geordnetes, in Kur und Bestallung zerlegbares Verfahren der Erhebung ergeben hätte. § 465. Da Sachsen seit 839 / 840 zwar auf dem Wege war, die Verfassung eines herrschaftlichen Herzogtums anzunehmen, im 10. Jahrhundert aber auf halbem Wege stehenblieb, ohne das Ziel erreicht zu haben, bezeichnete der Herzogstitel hier seitdem nicht mehr als den Vorrang eines bestimmten Fürsten innerhalb der Gruppe der Großgrafen. Diese stelle ich mir insofern als den niederen Herzögen und dem lothringischen Pfalzgrafen gleichstehend und als Inhaber des königlichen Komitats innerhalb eines Bezirkes vor, dessen Grafschafts- und Hofrechtsgemeinden sich zu einer Landesgemeinde verbanden und gemeinsam einen Fürsten zu ihrem Haupte erkoren oder annahmen (oben: § 444). Damit erhebt sich erneut das Problem der Entstehung der Länder, von denen die Quellen seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu sprechen beginnen, ein Problem, das mich bereits mehrfach beschäftigt hat (oben: §§ 46 – 50, 156, 202, 210 – 212, 324 – 326), weil es im Mittelpunkt jeder Lehre über den mittelalterlichen Staatsaufbau von unten her (oben: §§ 381, 386) steht. Für die Ausbildung solcher Länder scheinen im Regnum Sachsen bereits die Heerschaften den Grund gelegt zu haben, jene drei Bezirke Westfalen, Engern und
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Ostfalen, die in Kriegszeiten jeder ein Heer aufboten und einen Herzog an dessen Spitze stellten (oben: §§ 77, 449, 457). Es fragt sich indessen, in welcher Gestalt diese Verbände in Friedenszeiten existierten, wenn sie keines monarchischen Hauptes bedurften, und ob das Volk seit der Befriedung Mitteleuropas, die das Ostfränkisch-deutsche Reich im Jahre 955 mit dem Siege über die Ungarn vollendete, überhaupt noch ein Bedürfnis empfand, diese Großverbände zu erhalten, ob nicht seitdem engere Lebenskreise, wie sie die bäuerliche Bevölkerung in den Großgrafschaften, die städtische in ihren engen Gerichtsgemeinden vorfand, dem politischen Willen des Volkes und seiner Vorstellung vom besten Staate leichter gerecht zu werden vermochten. Was zunächst die (zum Jahre 775 erstmals genannte) Heerschaft Westfalen anlangt, so ergab sich aus dem Herzogtum Widukinds, der im Kriege gegen die Franken bis 785 an ihrer Spitze stand, für seine Gegner aber nie mehr als unus ex primoribus Westfalorum war (B. Schneidmüller in LMA 9 Sp. 75), weder eine ständige Hauptmannschaft noch ein Vorrang seiner Nachkommen vor anderen Adelshäusern, und wenn das Geschlecht der seit dem 11. Jahrhundert so genannten Immedinger, einer in Personenbestand und Besitzzentren nur undeutlich faßbaren Adelssippe, mit Widukinds Hause zu identifizieren wäre, so hätte es sich doch nie zu seinem einst so namhaften Spitzenahnen bekannt (G. Althoff in LMA 5 Sp. 389). Nur als gebietsbezogene freie Einung, die die Flußgebiete der Ems, Hunte, Lippe und Ruhr beherrschte, konnte also das Heervolk der Westfalen fortbestehen und an der Erhebung der Grafen und Bischöfe teilhaben, die König Karl mit seiner Vertretung in ihrem Lande beauftragte. Daß es als politisches Gebilde im 9. Jahrhundert fortlebte, davon zeugt die Gewohnheit der Reichskanzlei, die Lage von Reichsgut in ducatu Westfalorum, nebst den davon umfaßten Gauen und Grafschaften (MGH. DLD. 95), oder in provintia Westfala (DLD. 51, DArn. 4, DH. IV. 303, 310) anzugeben. Weitere Überlegungen fordert ein undatiertes Mandat König Heinrichs IV. heraus, das einzige Exemplar dieser Klasse von Schriftgut, das aus einer fünfzigjährigen Regierungszeit erhalten geblieben ist, weil es dem gewöhnlichen Schicksal dieser zweifellos massenhaft ausgefertigten Schriftstücke, nach Erfüllung des Befehls vernichtet zu werden, wenn der Aussteller nichts anderes bestimmte (oben: § 429), dadurch entgangen ist, daß es den Adressaten schwerfiel oder unmöglich war, dem Gebote des Herrschers sofort nachzukommen. In den Jahren 1077 und 1079 hatte der König auf Grund eines Urteilsspruchs der Fürsten der bischöflichen Kirche zu Osnabrück die Zehnten zugewiesen, welche der Abt von Corvey und die Äbtissin von Herford in deren Bistum an vielen Orten erhoben (MGH. DH. IV. 303, 310; zur Echtheit ebd. S. XXII Anm. 5, XXXIX Anm. 102. Urk.regesten n. 132, 135). Nach kanonischem Rechte geboten, war jenes Urteil doch in der Sache und nach weltlichem Rechte sicher falsch, da die Zehntrechte der Abteien auf deren im 9. Jahrhundert geleisteter Missionsarbeit und nach Eigenkirchenrecht erworbenen Pfarrechten beruhten (oben: §§ 130, 356). Dem entsprechend aber waren sie seit zwei Jahrhunderten von den Grafengerichten anerkannt
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und verteidigt worden, so oft jemand sie, und sei es auch mit Berufung auf das Kirchenrecht, anfocht. § 466. Bischof Benno hatte daher mit der königlichen Entscheidung wenig gewonnen, wenn es ihm nicht gelang, das Zehntrecht seiner Kirche in Landrecht umzuwandeln. Zu diesem Zwecke mußte er den Beifall derer gewinnen, die den Grafen in den Landgerichten die Urteile wiesen, denn dort hatte er die Abteien zu verklagen, wenn sie sich weigerten, ihm oder seinem Vogte die Zehnten gemäß dem Urteil des Hofgerichts aufzulassen. Noch war der König ja nicht Obrigkeit und Herr eines Verwaltungsapparates, der ihm eine eigene Exekutivgewalt gewährt hätte, wie es in späterer Zeit der Fall war, als der zum Steuerstaate fortgebildete Territorialstaat mit einem eigenen, obrigkeitlichen Willen dem zur staatsfernen Gesellschaft verkommenen Volke gegenübertreten konnte (oben: §§ 25, 391); noch waren er und der Bischof gänzlich auf den Beistand des Volkes angewiesen, wenn sie ihr Recht und ihren Willen vollstreckt sehen wollten. Denn noch war jede Dinggemeinde, die ihr Recht nach eigener Überzeugung fand, auch ihr eigener Gesetzgeber. Nun ließ Benno zwar die Königsurkunde, die ihm das vom Hofgericht erkannte Recht verbriefte, öffentlich in der Domkirche populo audiente rezitieren (Vita Bennonis c. 19 p. 25 lin. 35 – 36), aber allein die Frömmigkeit der Hörer reichte gewiß nicht hin, um überall im Lande die Rechtsauffassung der Dingvölker zu wandeln. Dem Bischof blieb nichts anderes übrig, als in jedem einzelnen Landgericht, wo er Zehntrechte beanspruchte, das Hofgerichtsurteil zu publizieren, und da mag sich herausgestellt haben, daß keines der Dingvölker als erstes das Landrecht zu ändern bereit war, solange nicht feststand, daß alle anderen ihm darin nachfolgen würden. Was Benno brauchte, das war der Spruch des Landesgesetzgebers, der einen mit allen Partikularwillen identischen Gemeinwillen bestimmen konnte und dazu nach den Grundsätzen der jüngeren Genossenschaft (oben: §§ 16, 17, 25) die Vollmacht von allen jenen Dingvölkern erhielt, deren Worthalter er an der Willensbildung beteiligte. Diese, vielleicht erst nach längerer Zeit erkannte, Notwendigkeit bewog Benno dazu, bei dem Könige folgendes Exekutionsmandat zu erwerben (MGH. DH. IV. 367): H. dei gratia Romanorum imperator augustus omnibus de Uvestphalen suis fidelibus maioribus et minoribus gratiam . . . In Kenntnis eures Gehorsams gegenüber unseren Geboten und eurer Gier nach Gerechtigkeit ea que super decimis et iusticiis Osinabruggensis ecclesiae decrevimus, tanto firmiora esse volumus, quanto rectiora iudicamus. Daher befehlen und bitten wir euch, die Zehnten im ganzen Bistum jährlich nach kanonischem Rechte zu entrichten und niemanden dabei zu fürchten. Nos enim, qui iusticiam precipimus, ut iusticiam faciatis, vos adiuvabimus. Valete. Es war also weder ein herzoglicher Amtsbezirk, noch waren es großgräfliche oder bischöfliche Länder oder Landesgemeinden, die nach Ansicht des Bischofs und der Reichsregierung hier als Gesetzgeber in Betracht kamen, sondern nur die Gesamtheit der königlichen Getreuen im Lande Westfalen, die deswegen, weil sie
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ihrerseits einen Teilverband innerhalb des sächsischen Regnums und des allumfassenden Reichsuntertanenverbandes ausmachten, gegenüber dem Reiche eine Folgepflicht (oben: §§ 8, 26, 28) zu erfüllen hatten, war doch die Gruppe der Fürsten, die dem Könige das Recht gewiesen hatte und sich mit dem Reiche identifizieren durfte, auch mit ihrer Vollmacht und in ihrem Namen tätig geworden (oben: § 11), da sie, die Westfalen, als sie an der Erhebung des Königs teilnahmen, in die Pflicht eingetreten waren, ihm und dem Reiche beizustehen. Die Rechtsordnung beruhte wie im gesamten Reiche, so im Lande Westfalen auf dem Beistande mit Leib und Gut (oben: §§ 15, 24, 26, 27, 396), den sich Untertanen und Herrscher gegenseitig versprochen hatten und den der König jetzt den Westfalen von seiner Seite aus noch einmal ausdrücklich zusagte. § 467. Die Grenzen des Landes Westfalen zu bestimmen war nicht erforderlich, da es der von unten her aufgeführte Staatsbau jedem Freien und jeder Gemeinde freistellte, zu welchem Lande sie sich halten wollten. Einer der Gründe, die dabei ihren Willen bestimmten, war zweifellos das Verlangen, die Einheit des Landrechts über eine Vielzahl selbsturteilender Dinggemeinden hinweg bewahrt zu sehen. Dazu bedurften sie aber, genauso wie der König, der Eintracht der im Lande sitzenden und mit ihm identischen königlichen Getreuen, die als Richter und Schöffen in den Grafen- und Freigerichten (oben: § 283) das Landrecht bewahrten, anwandten und fortbildeten und ohne deren Konsens kein Hofgerichtsurteil das Rechtsbewußtsein des Volkes zu erreichen, geschweige denn zu wandeln vermochte. Innerhalb des Landes Westfalen gab es, vom Süden um Ruhr und Lippe her bis weit nach Norden ins Münsterland ausgreifend, einen pagus oder Großgau gleichen Namens, welcher mehrere Dinggrafschaften umfaßte (MGH. DH. IV. 52, 212, 377). Diese könnten sich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts zu einer Großgrafschaft vereinigt haben, denn vermutlich seit damals, gewiß aber im Verlaufe des 10. Jahrhunderts stieg ein Grafengeschlecht zum Hauptmachthaber in Westfalen auf, das sich Burg und Kirche zu Werl errichtete und schließlich über zahlreiche Komitate vom Sauerland im Süden bis zur Mündung der Ems in Friesland verfügte (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 342 – 376). Die Entstehung dieser Grafschaft läßt darauf schließen, daß nicht nur etliche Große des Landes Westfalen, sondern auch die Grafschaftsvölker, deren Wort sie hielten, es um ihrer politischen Zwecke willen für nützlich hielten, die staatliche Einheit des einst von der Heerschaft verwalteten Landes zu erhalten. Der Übergang von der Heerschaft zur Großgrafschaft wird die Folge davon gewesen sein, daß die Landesgemeinschaft in altsächsischer Zeit vor allem kriegerische Aufgaben hatte lösen und darauf die Landesverfassung ausrichten müssen, während jetzt Aufgaben des Friedens den Ausschlag gaben wie etwa die Erhaltung der Landgerichte und Landrechte in einer größeren Einheit sächsischen und westfälischen Rechts, die Wahrung des Landfriedens zum Nutzen der einheimischen Wirtschaft und die Mehrung des christlichen Glaubens und seiner Werke. Da wäre es auch verständlich, daß die alte Heerschaftsverfassung, die sich in akuten Nöten hatte bewähren müssen und dafür die Erhebung eines Herzogs ge-
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stattet hatte, zugleich auch die Freiheit der Teilgemeinden beschränkt, ihren Beitritt zur Landesgemeinde erzwungen und überall die Folgepflicht der Minderheiten gegenüber dem Willen der Mehrheit eingefordert hätte, wogegen die Großgrafschaft allem Zwange gegenüber den Teilgemeinden entsagen und das Geschick des Landes völlig deren freiem Willen und der identischen Willensbildung aller freien Männer überlassen konnte, wie es germanischem Rechtsgefühl und Freiheitsbegriff und dem Idealbilde eines von unten her aufgebauten Staates entsprach. Dafür nahm man in Kauf, daß die Gemeinschaft für kriegerische Notzeiten schlecht gerüstet war, da sie als Völker- und Fürstenrepublik keinen Herzog über sich erhob; indessen sie konnte ja auf den Schutz und Schirm des Reiches vertrauen, das sie zu ihrem Teile zu errichten mitgeholfen hatte und dessen Zweck sie darin sah, den Grafschaftsgemeinden und Ländern die freie Bewegung in ihren Grenzen und die Entfaltung ihrer Besonderheiten zu gewähren. § 468. Von solchem Rechte auf freie Bewegung machten vermutlich die Malmannen (oben: § 135b) Gebrauch, die zu den Wählern und zum Volke des Bischofs von Osnabrück gehörten und imstande waren, ihr geistliches Oberhaupt zur Verteidigung ihrer Freiheiten anzuhalten. Ein solches Bestreben aber mußte den Grund für die Ausbildung eines besonderen Osnabrücker Landes legen. Denn so erkläre ich mir das auffallend wortkarge Diplom Kaiser Heinrichs III. vom 25. Mai 1051, dem zufolge Bischof Alberich von Osnabrück vor dem in Dortmund weilenden und daher gewiß von einem westfälischen Landeshoftage beratenen Kaiser den Großgrafen Bernhard wegen unrechten Gerichtszwanges verklagte, den er gegen die (von der bischöflichen Immunität geschützten) Malmannen ausübte. Daraufhin aber wurde in nostra nostrorumque fidelium praesentia für Recht erkannt, daß solche unrechte Gewalt zu unterbleiben habe und niemand, weder Herzog noch Großgraf noch Dinggraf oder Niederrichter, ne dux neque comes aut vicecomes vel aliqua persona iudiciaria, die Malmannen dem Osnabrücker Vogtding entziehen dürfe (MGH. DH. III 269 = Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 116 n. 26. Urk.regesten n. 98). Formal begünstigte das Urteil zwar den obsiegenden Bischof, in der Sache aber waren Nutznießer die Malmannen, deren Worthalter unter den versammelten Getreuen des Königs zu finden gewesen sein dürften, deren Gemeinde am Privilegienstande der Osnabrücker Kirche partizipierte (oben: § 434) und deren Sieg über den Großgrafen Bernhard und seine Anhänger dem Ausbau der Großgrafschaft zu einem westfälischen Landesstaate Einhalt gebot. Da das Stift Osnabrück nie in den Besitz eines königlichen comitatus gelangt ist, kann es die Landeshoheit, die es später in einem bedeutenden Teil seiner Diözese ausübte, nur dadurch erlangt haben, daß Malmannen und vom Stift beschützte Neufreie es für richtig hielten, sich den Bischof zum Gografen oder Haupte ihrer Gerichtsgemeinden zu kiesen. „Die Entstehung größerer kirchlicher Territorien auch ohne Besitz von Grafschaftsrechten würde sich mithin aus Eigentümlichkeiten der sächsischen Gerichtsverfassung erklären lassen, insoferne die unteren Richter nicht vom Grafen oder Vogte bestellt, sondern gewählt wurden“ (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 365 – 368). Offenbar wünschten keineswegs alle
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Grafschafts- (und Hofrechts-)gemeinden des Landes Westfalen der Großgrafschaft beizutreten, da es deren Ziel gewesen sein wird, den Grafen von Werl die Befugnisse eines niederen Herzogtums beizulegen: Beiderseits der unteren Lippe, wo später die Grafen von Kleve, im südlichen Münsterlande, wo die Grafen von Cappenberg, im Hasegau, wo die Vorfahren der nachmaligen Grafen von Zutphen zu landesherrlicher Vollmacht gelangten (A. K. Hömberg 1970 S. XCVII), hielt man sich von ihr fern, und ebenso zogen es die Grafschaftsgemeinden des Bistums Münster vor, ihren Bischof zum Großgrafen anzunehmen. Wohl schon im 11. Jahrhundert gewannen sie dazu die Einwilligung des Königs, wie die späteren Zustände ergeben; über den Vorgang selbst wissen wir freilich nichts, da die dem Bistum erteilten Königsurkunden sämtlich verlorengegangen sind (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 350 – 360). Indessen auch die Grafen von Werl waren vom Könige als Großgrafen anerkannt und hatten von ihm den königlichen Komitat empfangen, der ihnen die Rechtsstellung eines niederen Herzogs sicherte. Dies ergibt sich daraus, daß Erzbischof Adalbert von Bremen im Jahre 1063 König Heinrich IV. darum ersuchte, seiner Kirche den comitatus Bernhardi comitis (nicht zu leihen, sondern) zu Eigentum zu übertragen (MGH. DH IV. 113 S. 149 Z. 19 – 20). Man beachte den Singular: die Bitte richtete sich nicht auf eine Mehrzahl akkumulierter Grafschaften, sondern auf den comitatus, welcher Eigentum des Königs gewesen sein muß (nostri iuris comitatus heißt es entsprechend in DH. IV. 18 S. 22 Z. 36), da der König ihn sonst nicht zu Eigentum hätte veräußern können. Nicht die Grafschaftsgemeinden, die den Grafen von Werl zum Haupte angenommen, nicht die Gebiete, die sie beherrschten, nicht das Recht, das Graf Bernhard deswegen ihnen gegenüber besaß, war Gegenstand der Bitte, denn nichts davon gehörte dem Könige und hätte von ihm vergeben werden können, sondern eben allein das Recht, das der König, als Nachfolger im Amte Karls des Großen und als vom gesamten Reichsuntertanenverbande, einschließlich der Westfalen, erhobener oder angenommener König, an jeder Grafschaft besaß: das Recht nämlich, den Dinggrafen zu bestallen und den grafschaftlichen Fiskus (oben: §§ 303 – 306) für sich zu nutzen, das Recht, das jedem Fürsten, dem es der König übertrug, die Stellung eines niederen Herzogs oder Großgrafen verlieh, und das im vorliegenden Falle bis dahin Graf Bernhard von Werl innegehabt (quem . . . regendum utendumque susceperat, DH. IV. 452 S. 611 Z. 2 – 3) – und zweifellos zu Recht innegehabt hatte, da Adalbert schwerlich versäumt hätte es anzuführen, wenn Bernhard dieses Königsrecht usurpiert, wenn er es sich angemaßt hätte. Und gemäß der Bitte, die von zwei Erzbischöfen, drei Bischöfen, zwei Herzögen, einem Markgrafen, einem Pfalzgrafen und einem Grafen unterstützt und folglich für reichsrechtlich unbedenklich befunden wurde, übertrug der König der Bremer Kirche eundem comitis prenominati comitatum in pagis Emisga Vuestfala et Angeri situm samt zugehörigem Fiskalgute, das der Graf als königliche Leihgabe zur Verwaltung innegehabt hatte (DH. IV. 113 S. 149 Z. 26 – 27), und dem königlichen Forstbanne per omnem comitatum (ebd. Z. 30. C. Dasler 2001 S. 111 f.).
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§ 469. In Anbetracht der Unbestimmtheit des Begriffs pagus (oben: §§ 280 – 282) kann kaum bezweifelt werden, daß unter dem pagus Westfalen hier nicht der Großgau an der Ruhr, sondern das gesamte Land Westfalen zu verstehen ist, wie denn der danebengestellte Name Engern überhaupt nur das Gebiet einer Heerschaft, nicht aber einen bestimmten, darin gelegenen Gau bezeichnete. Da der Emsgau in Friesland lag, griff also Bernhards Großgrafschaft im Norden und im Süden (an der oberen Ruhr um Arnsberg: A. K. Hömberg 1970 S. LXXXI) über das Land Westfalen hinaus, müssen auch friesische und engrische Dingverbände diesem Lande beigetreten sein. Was die königliche Bewilligung bewirkte, ist unklar. Sechsunddreißig Jahre später erklärte die Bremer Kirche, Erzbischof Adalbert habe den Grafen precio et precibus dazu bewegt, ihr zuzustimmen, ut presens laudator et assensor existeret (MGH. DH. IV. 452 S. 611 Z. 6 – 8). Ob Bernhard dazu die Einwilligung und Vollmacht seiner Untertanen eingeholt, ob der König Mandate an die Friesen, Westfalen und Engern gerichtet und ob Adalbert und Bernhard diese und das Diplom auf Landtagen publiziert und den Betroffenen notifiziert haben, das alles ist unbekannt. Nach Adam von Bremen hatte Adalbert gar nicht die Absicht gehabt, die westfälische Großgrafschaft zu erwerben, sondern nur danach getrachtet, seiner Kirche alle Grafschaften innerhalb ihrer Diözese zu verschaffen. Er weiß denn auch lediglich zu berichten, Adalbert habe dem Könige tausend Pfund Silber gegeben, um den Komitat Emsgau zu erhalten, und einen gewissen Gottschalk mit dessen Verteidigung beauftragt, doch habe Graf Bernhard diesen erschlagen und den Komitat gegen den Willen des Erzbischofs wieder in Besitz genommen (Adam III 46; III 49 S. 192 Z. 9 – 10). Die Existenz der Großgrafschaft wäre demnach durch die Entscheidung des Königs nicht berührt worden, vielmehr des Königs Wille leerer Buchstabe geblieben: wir aber verdanken dem Vorgange die Nachricht, daß sie mehr oder überhaupt etwas anderes war als jene Akkumulation von Grafenrechten oder mehreren Grafschaften in einer Hand, die sie jenem Anscheine nach gewesen sein könnte, den die Quellen so leicht in uns erwecken, weil sie ihr Augenmerk mit Vorliebe auf das Tun der Großen und die Schicksale adliger Geschlechter richten. Ob dies alles hinreicht, um die Existenz eines westfälischen Landtags anzunehmen, dessen (Ehren-)Vorsitz dem Großgrafen aus dem Hause Werl gebührte und dessen Haupt eine Genossenschaft westfälischer Fürsten und Großer gewesen wäre, bedarf gewiß weiterer Prüfung. Ich nehme es an. Denn wo und wie hätte sich sonst der politische Gemeinwille bilden können, der seit etwa 1070 begann, die Westfalen von den Ostfalen zu scheiden und die Einung der Engern zu spalten? „Während die Ostsachsen die schärfsten Gegner Heinrichs IV. und Heinrichs V. waren, stand die Mehrheit der Westfalen auf kaiserlicher Seite. Weil sich die kaiserfeindliche Partei in Ostsachsen kurz als ,die Sachsen‘ zu bezeichnen pflegte, begannen die kaisertreuen Bewohner des westlichen Sachsen sich bewußter als bisher ,Westfalen‘ zu nennen“ (A. K. Hömberg 1970 S. XCVIII). Ist es möglich, daß sich ein solches Westfalen-Bewußtsein ausbilden konnte, ohne daß sich die Westfalen in gemeinsamen Beratungen über das Interesse ihres Landes und über
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die Vorteile der Reichstreue Rechenschaft gegeben und einen gemeinen politischen Willen übereinsgetragen hätten? Ihre Versammlungen stelle ich mir als denen der Ostsachsen und Thüringer gleichend vor, denn auch in Westfalen gab es noch genug freie Bauern, so daß Lampert von Hersfeld, hätte er nur einen Grund gehabt, um seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dort ebenfalls ein pedestre vulgus (oben: § 464) in Politik und Wehrdienst tätig und imstande gefunden hätte, seinem Willen gegenüber dem der Fürsten Ausdruck zu geben. Dem Auseinandertreten in eine Mehrzahl von Ländern aber kam das neue Westfalen-Bewußtsein keineswegs in die Quere. Die Grafen von Werl fanden keine Mehrheit, keine einhellige Zustimmung zu dem Plane, einen niederen Dukat für ganz Westfalen zu errichten (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 371 – 376. A. K. Hömberg 1970 S. XCVII). Um 1100 waren des mächtigen Bernhard Nachfolger aus Westfalen verdrängt und auf die Grafschaft Arnsberg im benachbarten Engern verwiesen, in deren Besitz das Grafenhaus im Jahre 1139 ausgestorben ist. § 470. Die altsächsische Heerschaft Engern lebte in ostfränkisch-frühdeutscher Zeit in dem gleichnamigen Großgau, pagus Angeri oder pagus Engere herescephe (MGH. DH. IV. 175 S. 229 Z. 8) fort, der zahlreiche Teilgaue und Grafschaftsvölker mit eigenen Untergauen und Dinggemeinden umfaßte und sich von der Elbmündung über das Stromgebiet der Weser hin bis zur Diemel und zum Reinhardswalde erstreckte. Im Norden dieses weitläuftigen Gebietes hatten sich die Völker, die das Land zwischen den Mündungstrichtern der Weser und der Elbe bewohnten, gewiß schon im 9. Jahrhundert zur Großgrafschaft Stade zusammengeschlossen. Schon Karl der Große mag dazu den Grund gelegt haben mit seinen Bemühungen, die Elbmündung und Nordalbingien gegen Dänen und Abotriten zu schützen, bevor noch mit dem Jahre 845 die Überfälle der Wikinger auf die Elblande einsetzten. Ältestes bekanntes Oberhaupt der Großgrafschaft ist der im Jahre 929 bei Lenzen an der Elbe gefallene Liuthar, dessen Vorfahren, wenn sie nicht sogar fränkischer Abkunft waren, zu den frühen Anhängern der Franken in Sachsen gehört haben werden (H.-J. Schulze 1995 S. 43 – 46). Auch auf diese aus mehreren Gau- oder Dinggrafschaften bestehende Großgrafschaft richtete sich das Trachten Erzbischof Adalberts von Bremen, alle Grafschaften in seiner Diözese zu erwerben, und auch sie wird in der von ihm erwirkten Königsurkunde als comitatus im Singular bezeichnet (DH. IV. 112 S. 147 Z. 33 – 34, 41 – 42. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 402 – 404). Zwar erfahren wir, daß Adalbert den comitatus Utonis vom Könige erlangte und die Zustimmung des Grafen mit Kirchengut im Werte von tausend Pfund Silber jährlicher Erträge erkaufte (Adam III 46 S. 189 Z. 6 – 10. Oben: § 344), aber ob und wie ein Landtag der Großgrafschaft oder je die einzelnen Dingvölker den Erzbischof zu ihrem neuen Herrn angenommen haben, darüber ist nichts bekannt. Hätte Adam es nicht erwähnen müssen, wenn es geschehen wäre? Von den im Weserlande angesessenen Grafschaftsgemeinden der Heerschaft Engern nahmen die meisten wohl ebenfalls noch im 9. Jahrhundert ein Oberhaupt
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aus dem Hause der Billunger an, einem der führenden und ebenfalls früh den Franken zugetanen Adelsgeschlechter Ostsachsens, das mit der Generation jenes Hermann ins Licht der Geschichte tritt, den König Otto I. im Jahre 936 zum Oberbefehlshaber an der mittleren Elbe erhob und mehrfach mit der sächsischen Prokuratur betraute (K. Jordan in LMA 2 Sp. 192 f.). Wir hörten bereits, daß Hermanns sächsische Prokuration schwerlich ein öffentliches, sondern eher ein befristetes Hofamt war und daß die Reichsregierung seinem Sohne zwar den Herzogstitel beilegte, nicht aber damit ein vizekönigliches Herzogtum für ganz Sachsen verknüpfte, sondern lediglich die Anerkennung des Vorranges, den die Billunger vor allen anderen sächsischen Großen genossen (oben: § 463). Die Stellung der Billunger im ostfälischen Bardengau und in Engern war dagegen eine großgräfliche, und wenn man sie als Herzogtum bezeichnete, so verstand man darunter ein niederes, auf den königlichen comitatus gegründetes Herzogtum (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 297 – 300, 374 – 439. H.-J. Freytag 1951. K. G. Hugelmann 1955 S. 128 – 132). Von engrischen Landtagen dieser Großgrafschaft ist nichts bekannt. In den sicheren Zeiten, die mit dem Siege des Reiches über die Ungarn im Jahre 955 anbrachen, werden weder die engrischen Dingvölker noch ihr herzogliches Oberhaupt daran interessiert gewesen sein, sie zu bewahren. Aus dieser politischen Haltung erklärt sich nicht nur der Verfall des Ansehens und der Macht, der das herzogliche Haus ereilte und ihm im sächsischen Aufstande gegen König Heinrich IV. jede führende Rolle versagte, sondern auch die Auflösung des politischen Verbandes der alten Heerschaft, die mit dem Aussterben der Billunger im Jahre 1106 eintrat. Während die Grafschaftsgemeinden im Gebiete westlich der Weser seither den Anschluß an Westfalen suchten, traten die östlich der Weser angesessenen der ostsächsischen Gemeinschaft bei, die im Jahre 1106 den Grafen Lothar von Süpplingenburg zum Herzoge von Sachsen erhob. Damit war der Vorrang gemeint, der den Billungern als Worthaltern und Heerführern aller Sachsen zugekommen war (oben: § 463), nicht aber deren niederer Dukat in Engern: Dessen Grafschaften hatten ihre Wahlfreiheit zurückgewonnen und erkoren wohl nur dort, wo die Herzöge zugleich die größten Grundherren gewesen waren, deren Allodialerben, den Welfen Heinrich den Schwarzen, zum Grafen. Die Quellen teilen zwar über den Hergang nichts mit (RI 4, 1, 1 S. 7 n. 6), aber daß zu der Zeit der König, welcher Lothar und Heinrich bestallte, darauf irgendeinen Einfluß ausüben, daß er das Herzogtum und die Grafschaften nach seinem Willen hätte besetzen können, das ist schwer vorstellbar. § 471. Im Bereich der alten Heerschaft Ostfalen, wo sich bei der Pfalz Werla der Landtag des Regnums zu versammeln pflegte, trat unter der Regierung der Könige aus sächsischem und salischem Hause der genossenschaftliche Charakter dieses Regnums am reinsten an den Tag (oben: § 464). Neben einigen Großgrafschaften beträchtlichen Umfanges gab es hier eine Anzahl reichsunmittelbarer Grafschaftsgemeinden, die ihre Selbständigkeit zu bewahren wünschten und, wenn dies sie beschwerte, die Mediatisierung durch eine Bischofskirche der Hauptmannschaft
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eines weltlichen Großgrafen vorzogen. Solche Grafschaften prägten besonders die Grenzlande im Osten entlang der Ohre, mittleren Elbe und Saale, deren Bewohner seit 955 mehr darauf sannen, ihre Herrschaft ins Slavenland hinein auszudehnen und ihre Kräfte durch Vereinigung mit den dort eingerichteten Burgwarden zu stärken, als sich untereinander zu Großgrafschaften zusammenzuschließen. So entstand hier eine Reihe von Grafschaften, deren Häupter nicht als Großgrafen, sondern als Herren im Slavenlande Markgrafen hießen, so etwa jener Graf Dietrich vom Nordthüringgau, dem Kaiser Otto I. als Markgrafen in der Nordmark sogar den Herzogstitel beilegte (oben: § 460. E. Karpf in LMA 3 Sp. 1024 f. W. Petke in LMA 9 Sp. 1873), Graf Adalbert aus dem Schwabengau, der die Ostmark verwaltete und dessen Nachfahren das Fürstentum Anhalt begründeten (G. Heinrich in LMA 1 Sp. 1109, 1111), oder die Grafen Dietrich und Ekkehard aus dem Hassegau, deren Nachkommen die Mark Lausitz (K. Blaschke in LMA 3 Sp. 1025, 9 Sp. 50) respective die Marken von Merseburg und Meißen beherrschten (H. Patze 1962 S. 106 – 124). Aber auch fern von der Slavengrenze gab es Grafschaftsgemeinden, die ihre Selbständigkeit pflegten, so etwa das Grafschaftsvolk in den Gauen Valathun, Gudin und Arin an der Leine und das in den Gauen Falen und am Harze, deren comitatus (den Singular meint auch DH. IV. 219 S. 278 Z. 26, wie sich aus dem Relativpronomen quem in Z. 28 ergibt) einst Kaiser Heinrich III. einem Grafen Friedrich und dessen Sohn Konrad beziehungsweise einem Iso als Nachfolger zweier Grafen Christian und Bernhard verliehen hatte, jetzt aber, im Jahre 1069, König Heinrich IV. der bischöflichen Kirche zu Hildesheim übertrug (MGH. DH. IV. 206, 218, 219. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 443 f.), denn keiner der genannten Grafen läßt sich dem Hause der Billunger oder einem der Großgrafengeschlechter aus Ostsachsen zuordnen, deren Landesgemeinden sich die genannten Grafschaftsvölker bequem hätten anschließen können, wenn dies ihr Wille gewesen wäre. Dafür wäre etwa die Großgrafschaft der in Braunschweig residierenden Brunonen in Betracht gekommen, die bis zu ihrem Aussterben im Jahre 1090 ein gutes Dutzend Gaugrafschaften in den Flußgebieten von Aller und Leine beherrschten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 32. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 442, 445, 460 f. M. Last in LMA 2 Sp. 793. E. Karpf in LMA 3 Sp. 1761 f.), oder diejenige, die an der oberen Leine mit Zentrum in Northeim von einem Grafen Siegfried und dessen Nachfahren beherrscht wurde und sich über sieben Gaue und acht klösterliche Hofrechtsgemeinden erstreckte, bevor das gräfliche Haus im Jahre 1144 erlosch (K.-H. Lange 1969). Beide Großgrafschaften nahmen nach dem Abgange ihrer Grafenhäuser den nach Erb- und Eherecht vorzüglich zum Nachfolger im Amte qualifizierten Grafen Lothar von Süpplingenburg zum Haupte an, der seit 1106 das Herzogtum Sachsen und seit 1125 das deutsche Königtum innehatte. Unter Lothars Schwiegersohne, dem Welfen Heinrich dem Stolzen, traten sie zudem in Verbindung mit jenen Grafschaftsgemeinden in Engern und im Bardengau, die einst in der Großgrafschaft der Billunger vereinigt gewesen waren, nach 1106 aber den Welfen Heinrich den Schwarzen zum Haupte angenommen hatten. Als Kaiser
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Lothar III. verstorben war, verweigerte zwar das Reich dessen Schwiegersohne die Königswürde, aber der Versuch, dem Welfen auch das Herzogtum Sachsen zu entwinden, scheiterte kläglich: Heinrichs sächsische Untertanen waren selbst dann nicht bereit, ihn zu verlassen und den landfremden Askanier Albrecht, Markgrafen der sächsischen Nordmark, zum Herrn anzunehmen, als das Reich den Welfen in die Acht erklärte und dieser am 20. Oktober 1139 eines vorzeitigen Todes starb: Quo mortuo Saxones amore filii sui parvuli, quem eis adhuc vivens commendaverat, regi denuo rebellant (Otto von Freising VII 25 S. 349). Sie vertrieben Albrecht und nahmen Kaiser Lothars noch unmündigen Enkel, den Welfen Heinrich den Löwen, zum Herzoge an. Schließlich mußten sich im Jahre 1142 auch König Konrad III. und das Reich ihrem Willen beugen und dem von den Sachsen erkorenen und angenommenen Herrn die Bestallung als Herzog erteilen. § 472. Wer auf den ersten Blick hin gemeint haben mag, die Einheit der welfischen Lande in Sachsen sei eine Schöpfung „dynastisch bedingter Mehrfachherrschaft“ (F. Bosbach 2000 S. 129), nämlich jener fürstlichen Heiratspolitik, die die Grafschafts- und Landesgemeinden zu willenlosem fürstlichem Eigentum oder Patrimonium erniedrigte und daher nur allzu oft innerlich haltlose, mit dem Keime raschen Verfalls infizierte Staatsgebilde erzeugte, den müßten schon angesichts dieser Niederlage des staufischen Königs dawider ernsthafte Zweifel befallen. Noch mehr wird dies der Fall sein, wenn wir bedenken, welch zähen Widerstand dieser Bund welfischer Lande der Auflösung des sächsischen Regnums entgegensetzte, die Kaiser Friedrich I. und die Großen sowohl Sachsens als auch des Reiches im Jahre 1180 verfügten, und wie er schließlich sogar den Plan zum Scheitern brachte, das Regnum in einen östlichen und einen westlichen Herzogssprengel aufzuteilen. Denn entgegen dem Willen des Reiches und der Großen zerfiel das alte sächsische Regnum tatsächlich nicht in zwei, sondern in drei Herzogtümer, nämlich das kölnische in Westfalen, das welfische um Braunschweig, Lüneburg und Göttingen und das askanisch-sächsische an der mittleren Elbe (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 388 – 389). Ein so fester Zusammenhalt der welfischen Lande, wie er sich hierin bewährte, konnte schwerlich allein aus dem vom dynastischen Haus- und Familienrecht (oben: §§ 90, 91, 104, 119, 144a) unterstützten politischen Willen Herzog Heinrichs des Löwen, seiner Söhne und seines Enkels entspringen. Erfolg konnte der fürstliche Wille vielmehr nur dann haben, wenn ihm der einmütige Wille der bereits zu Ländern verbundenen Grafschafts- und Vogteiverbände entgegenkam, sich zu einem einzigen Untertanenverbande zu vereinigen, gemeinsam einen einzigen Herrn über sich zu erheben und diesen mit einer herzoglichen Vollgewalt auszustatten, die ganz unabhängig davon war, ob ihm das Reich und die staufischen Kaiser die Bestallung oder Belehnung gewährten oder verweigerten. Denn da nicht von Reichs wegen, so folglich von ihrer Untertanen wegen führten Pfalzgraf Heinrich und sein Bruder Wilhelm nach 1188 den Herzogstitel (dux Saxonie repective dux Luneburgensis: B. U. Hucker 1990 S. 40 – 46, 50). Zu der Zeit muß es auch schon eine Versammlung der Worthalter aller welfischen Lande oder einen Hoftag
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gegeben haben, denn von der Teilung der Herrschaft, welche Heinrich, Otto und Wilhelm wohl im Jahre 1198 vornahmen, melden die Urkunden, die die Fürsten später darüber ausstellten: convocatis principibus et ministerialibus nostris, qui possessiones nostras bene noverunt, plenam de ipsis possessionibus faciendi divisionem contulimus potestatem (RI 52 Bd. 1 n. 223. B. U. Hucker 1990 S. 49 – 51 mit Anm. 97). Sollten aber die Beratungen und der Gemeinwille einer solchen Gesamtlandesversammlung nicht auch etwas dazu beigetragen haben, daß sich die im 12. Jahrhundert einsetzende Bauernbefreiung nach Meierrecht (W. Rösener in LMA 6 Sp. 471) im wesentlichen auf die Mitte des sächsischen Rechtsgebietes und hier insbesondere auf die welfischen Erblande beschränkte (E. Molitor 1943 S. 320)? Denn wenn die Grundherren ihre Bauern aus der Unfreiheit des Latenstandes entließen, um sie als freie Landwirte auf vergrößerten Gütern mit zeitlich beschränktem Besitzrecht anzusetzen, so schufen sie als Landesherren und Landstände damit einen neufreien Bauernstand, der die dahinschwindende Zahl der Altfreien in politisch höchst wünschenswerter Weise ergänzte, den Go- und Vogtgerichtsverbänden frische Kräfte zuführte und ihnen selbst, die sie als Worthalter dieser Verbände die Landesversammlung konstituierten, die weitreichende Vollmacht beilegte, Herzöge über sich zu erheben und mit ihnen in allen Landesangelegenheiten zur Förderung des gemeinen Nutzens zu paktieren (oben: §§ 147, 234 – 236, 247, 328 – 330, 365). Die während des Aufstandes gegen König Heinrich IV. so aktive sächsische Fürsten- und Bauerngenossenschaft könnte demnach sehr wohl auch die Einheit der welfischen Lande begründet haben, die sich nur vom Standpunkte des Fürstenhauses und seiner Lobredner aus als welfische Erblande bezeichnen lassen. Der Untertanenverband, der schon im Jahre 1138 dem von ihm angenommenen Herzoge Heinrich dem Stolzen gegen alle Urteile von König und Reich die Treue gehalten, hat sich im Jahre 1180 offenbar abermals geweigert, das kaiserliche Urteil wider Herzog Heinrich den Löwen als rechtmäßig anzuerkennen und selbst dem in die Verbannung gezwungenen Herzog seinen Beistand zu entziehen. Dem Block der welfischen Lande hatten weder die mächtigen staufischen Kaiser noch die beiden vom Reiche in Ostsachsen und Westfalen erhobenen Herzöge den Beistand eines ebenso kräftigen Herzogsvolkes entgegenzusetzen. Ein halbes Jahrhundert später, im Jahre 1235, mußten auch Kaiser und Reich den Volkswillen und die durch ihn geschaffene Verfassung des einstigen sächsischen Regnums als rechtmäßig anerkennen (MGH. Const. 2, 263 n. 197. Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 484 n. 120a).
§§ 473 – 474. Thüringen § 473. Der ducatus Toringiae cum marchis suis, den der Reichsteilungsplan von 839 von dem Regnum Saxoniae unterschied (MGH. Capit. 2, 58 n. 200. Oben:
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§§ 449, 457), erstreckte sich vom Kamme des Thüringer- und Frankenwaldes bis an die südlichen Ausläufer des Harzes und vom Tale der Werra bis an und über die Saale hinaus (H. Patze 1962 S. 2 – 10). Die Mittelgebirge gliederten ihn in etliche mit Gaunamen bezeichnete Siedlungsräume, die die karolingische Verwaltung, vom Vorort Erfurt ausschauend, unter den Namen Westgau und Ostgau zusammenfaßte (ebd. S. 12 – 19. H. Patze / P. Aufgebauer 1989 S. 102). Nördlich von Erfurt lagen im Zentrum des Thüringischen Beckens die Versammlungsstätte des populus Thuringorum auf der Tretteburg (1123) und die Stätte des legale et commune placitum patriae zu Mittelhausen (1154, H. Patze / P. Aufgebauer 1989 S. 443, 282). Die Reichskanzlei bezeichnete das Thüringerland, um die Lage von Reichsund Reichskirchengut zu bestimmen, noch 878 und 884 als ducatus Turingie oder ducatus Toringorum (MGH. DLJ. 9, DK. III. 106), doch findet sich auch schon der Ausdruck in Thuringea provincia (DLD. 170 vom Jahre 876), und im 10. Jahrhundert war zu dem genannten Zwecke der bloße Landesname in Thuringia ohne jedes Prädikat so allgemein in Gebrauch (DO. I. 96, 97, 165, 185), daß, wenn es einmal in pago Thuringensi oder, im Gegensatze zum sächsischen Nordthüringgau, in pago qui vocatur Suththuringa heißt (DO. I. 109, 180), kein Zweifel besteht, daß mit pagus die alte provincia, das gesamte Land Thüringen, gemeint ist. Ein gleichnamiger Teil- oder Untergau innerhalb desselben ist auch sonst nirgendwo bezeugt. Dem „matten Bild der thüringischen Geschichte“, womit wir uns begnügen müssen, solange es in Ermangelung einheimischer Klöster an einer landeseigenen Chronistik fehlt, pflegt die Landesgeschichte in der üblichen Weise (oben: §§ 331 – 335) dadurch abzuhelfen, daß sie auf die in Königs- und Privaturkunden behandelten Grundbesitzverhältnisse zurückgreift und den großen Grundherren über das wirtschaftliche Interesse hinaus eine „Güterpolitik“ unterstellt (H. Patze 1962 S. 92), ohne damit allerdings zu sonderlich einleuchtenden Ergebnissen zu gelangen. So bleibt es rätselhaft, daß nicht die im 8. und 9. Jahrhundert auch in Thüringen reich mit Königsgut ausgestatteten Klöster Fulda und Hersfeld, wohl aber die im 11. Jahrhundert plötzlich als Vormacht in Thüringen hervortretende Mainzer Kirche ein Territorium auszubilden vermochte (ebd. S. 61 f.), oder daß die Grafschaften auf eine Weise ineinandergriffen, die weder durch landschaftliche Bedingungen noch allein durch königliche Teilungen zu erklären ist, sondern auf Kräfteverschiebungen anderer Art hindeutet, die der König nur im Nachhinein anerkannte (ebd. S. 124 f.). So ist es denn die Frage, ob man weiterkommt, wenn man die sich verschiebenden Kräfte beim Volke, bei den Dingverbänden und bei der Landesgemeinde sucht, die sich in Erfurt oder auf der Tretteburg zu versammeln pflegte. Zwar nicht die Notare der Reichskanzlei, wohl aber die Schriftsteller, die damit gewiß volklichen Anschauungen Ausdruck verliehen, legen den Häuptern dieser Gemeinde der freien Thüringer mehrfach den Titel Herzog, dux Thuringorum, bei, so um die Mitte des 9. Jahrhunderts dem Grafen Thakulf, einem Vertrauensmann König Ludwigs, der 873 als Markgraf der Sorbenmark starb (E. Dümmler
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1887 – 88 Bd. 1 S. 345 A. 5, 427, Bd. 2 S. 372. W. Hartmann 2002 S. 94), und zum Jahre 889 dem ostfränkischen Grafen und Sorben-Markgrafen Poppo II. (oben: § 450), den Kaiser Arnulf im Jahre 892 auf Betreiben etlicher Landgemeinden, suggestu quorundam municipiorum (MGH. DArn. 174 S. 264 Z. 5, 40. Oben: §§ 220 – 223. H. Patze 1962 S. 63 f.) seines Amtes entsetzte. Auch den Purchart marchio Thuringiorum, der im Jahre 903 mit anderen primates auf dem Reichstag zu Forchheim anwesend war (MGH. DLdK. 20 S. 126 Z. 23), hat sein Volk gewiß als Herzog betrachtet und bezeichnet. Nach der zwar retrospektiven, aber wohl nur in der Datierung ungenauen Nachricht des Continuator Reginonis (J. Fried 1995 S. 269, 289, 298. H. Patze 1962 S. 71) wurde Herzog Heinrich von Sachsen im Jahre 920 durch Eintracht nicht nur der vier großen Reichsvölker, sondern auch der Thüringer, consensu . . . Turingorum, zum Könige des Ostfränkischen Reiches erkoren. In der Sache wird die Nachricht dadurch gestützt, daß auch im Jahre 1002 die Thüringer von den anderen Regna und von König Heinrich II. selbst als zur Erhebung oder Annehmung des Herrschers berechtigt anerkannt wurden (Thietmar V 14. H. Mitteis 1944 S. 98 f.). § 474. Wenn aber die Reichsregierung die Thüringer als Königswähler den anderen Regna gleichstellte, so dürfen wir erwarten, daß sie dem Haupte ihres thüringischen Untertanenverbandes auch den königlichen Komitat hinsichtlich aller thüringischen Grafschaften und damit die Stellung eines Großgrafen eingeräumt habe, wie sie im fränkischen und im sächsischen Regnum vielerorts anerkannt war. Die Annahme nun, jener Graf Wilhelm, der als Spitzenahn des später in Weimar ansässigen Grafenhauses gilt und um 962 starb (H. Patze 1962 S. 101), habe dem thüringischen Volke als Großgraf vorgestanden, wird durch die Beobachtung bestätigt, daß König Otto I. mehrfach über Güter verfügte, die in Wilhelms Grafschaft in Thuringia oder in pago Thuringensi gelegen waren (MGH. DO. I. 109, 180, 185), denn damit war, wie wir gesehen haben, kein Teilgau innerhalb Thüringens, sondern die einstige Provinz, der einstige ducatus Thüringen in ganzem Umfange gemeint. Bereits Julius Ficker war der Überzeugung, Graf Wilhelm und seine Nachfahren hätten hier einen ähnlichen Komplex von Grafschaften besessen wie die Brunonen und die Northeimer in Ostsachsen (oben: § 471. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 512). Ich nehme daher an, daß, wenn die Reichskanzlei hernach Güter zwar in Wilhelms Komitat, aber in Teilgauen Thüringens: im Husiti, im Altgau, im Helmegau, verortete (DO. I. 198, 223, 232), weiterhin von dem königlichen Komitat für ganz Thüringen die Rede ist und daß Wilhelm kraft desselben in den bezeichneten Gauen die Dinggrafen zu bestallen hatte. Von einem zweiten Grafen Wilhelm, gewiß dem Sohne des vorigen, der bis 1003 lebte, sagt Bischof Thietmar von Merseburg, er sei Thuringiorum tunc potentissimus, d. h. es sei ihm der Beistand aller Thüringer gewiß gewesen, und dem dritten Wilhelm, der bis 1039 lebte, legt der Hildesheimer Annalist das Prädikat Turingorum pretor bei (Ann. Hild. a. 1034 S. 39 Z. 10 – 11. H. Patze 1962 S. 105). Der Bischof kommt auf den Grafen anläßlich der Erhebung König Heinrichs II. im Jahre 1002 zu sprechen. Denn als der zu Mainz von Bayern und Franken erwählte und
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bereits gekrönte Herrscher nach Thüringen kam, reiste Wilhelm, der vollmächtigste aller Thüringer, ihm entgegen, um ihm den Treueid zu leisten. Dann aber wurde der König von dem Grafen und allen Großen des Landes gemeinsam zum Herrn angenommen und von dem gesamten Volke, dessen Wort jene hielten, dazu aufgefordert, ihnen den Schweinezins zu erlassen, den sie, Große und Volk der Thüringer gemeinlich, seit dem Jahre 531 den fränkischen Königen schuldig gewesen waren und zweifellos auch regelmäßig entrichtet hatten: Ibi tunc rex a prefato comite et a primis illius regionis conlaudatur in dominum et ab omni populo rogatus debitum his porcorum remisit censum (Thietmar V 14. W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 39 f. R. Wenskus 1977 S. 133. E. Pitz 2001a S. 228). Die Nachricht erweist das Volk nicht nur als einen bei der Königswahl aktiven und dem Thronbewerber Bedingungen stellenden Verband, sondern auch als gesamthänderischen Schuldner eines Naturalzinses, von dem wir gerne wüßten, wie es ihn verwaltet, auf die Dinggemeinden und deren Genossen umgelegt, alljährlich zusammengetrieben und dem vom Könige bestimmten Verwender zugeführt hat (oben: §§ 303, 304). Vom Adel ist hier nicht die Rede; weder Adelsherrschaften eigenen Rechts noch Allodialgrafschaften oder Adelsbannbezirke, weder privatherrschaftliche Inhaber des Königsbannes noch gräfliche Verwalter von Königsgutbezirken (oben: §§ 332, 337) haben die einst dem thüringischen Volke auferlegte Zinspflicht erfüllt, sondern das Volk hat dies getan und damit durch vierhunderteinundsiebzig Jahre hin eine politisch hochbedeutsame Handlungsfähigkeit bewiesen, die in krassem Gegensatze zu dem Hochmut steht, mit dem die Geschichtsschreiber – Thietmar selbst verliert dazu kein einziges erklärendes Wort – über diese Leistung und über die völkischen Einrichtungen hinwegsehen, die sie ermöglichten. Den alten Schriftstellern aber folgen bis auf den heutigen Tag die Historiker. Um ihrer Kuriosität willen findet die Thüringer Schweinezinspflicht zwar überall an passender Stelle beiläufige Erwähnung, aber niemand läßt sich durch sie dazu bewegen, den verfassungsmäßigen Anteil des Adels am politischen Leben des früheren Mittelalters auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen.
§§ 475 – 482. Das schwäbische Regnum § 475. Dieses Regnum war von der Reichsregierung im Jahre 829 aus drei älteren Verwaltungsbezirken zusammengefügt und 865 erneuert worden (oben: § 449). Es umfaßte daher von Anfang an ein durch Grenzen genau festgelegtes Gebiet. Die Elsässer allerdings sonderten sich später davon ab, um sich zu den Lothringern zu halten (oben: § 451), ohne daß die rechtsrheinischen Schwaben ihnen dabei Hindernisse in den Weg legten. Seit dem Jahre 865 stand König Ludwigs jüngster Sohn Karl, der durch die Ehe mit Richgard, Tochter eines Grafen Erchanger, schwäbischen Grundbesitz und das Indigenatsrecht gewonnen hatte, an der Spitze des Regnums und Untertanenverbandes, ohne daß ein bestimmter Titel seinen Vorrang vor den Großen gekennzeichnet hätte. So richtete König Ludwig, nachdem er
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dem Kloster St. Gallen das Inquisitionsrecht gewährt hatte, dessen Lasten alle freien Grundbesitzer zu tragen hatten (oben: § 279), ein entsprechendes Ausführungsmandat an ebendiese, weil es ihre Sache war dafür zu sorgen, daß das begünstigte Kloster, welches talem legem nunc inter vos non habeat, in den Genuß des genannten, gesetzlich nur dem Königsgute zustehenden Rechtes käme. Adressiert war das Mandat, das der Abt von St. Gallen zuzustellen hatte, Karolo dilecto filio nostro et omnibus comitibus ac reliquis fidelibus nostris qui in Alamannia consistunt (MGH. DLD. 146). Gewiß meinte der König damit keine bloße Personenvielheit, sondern eine geeinte Gesamtperson, nämlich die herrschaftliche Genossenschaft seiner Getreuen in Schwaben, eine Landesgemeinde (unten: § 587), die gewiß schon im Jahre 829 von seinem Vater gegründet worden war und die später, nach seinem Tode, seinen Sohn Karl zum Herzog oder zum König annehmen konnte. Karls Erhebung zum Herzog wurde zum Jahre 877 in Lausanne notiert, und zwar, wie üblich, ohne Nennung des Urhebers: Karolus, filius Ludowici imperatoris, ordinatus dux in Alsacia et Alamannia et Ricia (Annales Lausannenses, zitiert nach H. Maurer 1978 S. 130 A. 7. Zum Kaisertitel des Vaters: C. Brühl 1995 S. 526 f.). Andere nennen ihn auch wohl König der Alamannen, doch haben ihm weder seine Brüder noch die Reichskanzlei einen dieser Titel amtlich zuerkannt (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 62. P. Kehr in MGH. DK. III S. XII, XV). Die Fähigkeit, sich auch unabhängig von ihrem Oberhaupte und wider dieses einen Gemeinwillen zu bilden, bewiesen die Alamannen zehn Jahre später, als sie zuerst den Kanzler ihres Königs stürzten und endlich diesen selbst verließen und der Erhebung Arnulfs zum Könige beitraten (Ann. Fuld. Contin. Ratisbon. a. 887 S. 115. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 302). Damit war ihre Gemeinde vom Reiche als eines seiner Regna anerkannt und gleich dem der Franken, Sachsen, Thüringer und Bayern dazu berechtigt, einen ostfränkischen König zu kiesen oder anzunehmen. Stand es ihnen aber auch frei, einen Herzog mit vizeköniglichen Befugnissen über sich zu erheben? Nichts deutet darauf hin. Zwar amtierte zwischen 854 und 894 ein Nachfahre jenes Grafen Hunfrid, der im Jahre 806 / 807 in Rankweil zu Gericht gesessen (oben: § 278), namens Adalbert als Graf in mehreren schwäbischen Grafschaften unter anderem im Thurgau, im Hegau, im Alpgau und auf der Baar (Th. Zotz in LMA 5 Sp. 220), und der Nekrolog des Klosters St. Gallen gibt gewiß die Ansicht des schwäbischen Volkes über das Amt dieses angehenden Großgrafen wieder, wenn er ihn als dux Alamannorum bezeichnet; es gibt aber keinen Hinweis darauf, daß Kaiser Arnulf und das Reich ihn dazu bestellt hätten. Und denselben Rang strebten nicht nur Adalberts Sohn Burchard I., der seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts als Markgraf von Churrätien bezeugt ist und im Jahre 911, wie alsbald zu erzählen sein wird, ums Leben kam, sondern auch der im Jahre 910 verstorbene Pfalzgraf Gozbert und sein Nachfolger Erchanger an (Th. Zotz in LMA 3 Sp. 2123 f.), beides Abkömmlinge ebenso alter und in öffentlichen Ämtern bewährter Adelshäuser wie jener Burchard; Erchanger gehörte der Sippe der Alaholfinger (oben: § 338) und der Gattin König Karls an.
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§ 476. Zwar ist über Inhalt und Umfang des Pfalzgrafenamtes wenig bekannt, es muß aber zu seinen Aufgaben mehr als bloß die Verwaltung der Königspfalz Bodman, damals der zentralen Pfalz des schwäbischen Regnums, und anderer Reichsgüter in Schwaben gehört haben. Denn da die Könige bei der Besetzung des Amtes so offenkundig das Indigenatsrecht des schwäbischen Volkes (oben: § 276a) beachteten und das Volk dem Fiskus seines Landes zu Handen des Königs steuerpflichtig war (oben: §§ 305, 306), ist anzunehmen, daß der König das Pfalzgrafenamt nur im Einvernehmen mit dem Volke und nur mit einem Manne besetzen konnte, der auch dessen Vertrauen besaß. Denn das Volk betrachtete den Fiskus gewiß als seine Sache, es war gewiß der Meinung, es habe dem Herrscher das Fiskalgut und zu dessen Schutz die Inquisitionsgewalt übertragen, um damit seine Steuerpflicht abzulösen, und sei daher berechtigt, an dessen Verwaltung mitzuwirken. Darauf möchte sich beziehen, was anderthalb Jahrhunderte später der freilich wenig zuverlässige Erzähler Ekkehard IV. in St. Gallen zu wissen vorgab, daß nämlich Schwaben einst noch nicht als Herzogtum verfaßt, in ducatum redacta, sondern unmittelbar dem königlichen Fiskus untergeben gewesen sei, fisco regio peculiariter parebat, so, wie es jetzt, in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, auch um Franken bestellt sei. Verwalter Schwabens seien daher die Brüder und Abgesandten der (königlichen) Kammer, camere nuntii, Bertold und Erchanger gewesen, deren Vollmacht namentlich die Pfalz Bodman, als camere nuntiorum iuris oppidum, betraf. Darüber seien sie zur Zeit König Arnulfs in Streit mit Bischof Salomo von Konstanz geraten, da dieser sich allerlei Güter, die zu der Pfalz gehörten, von den Königen habe schenken lassen. Arnulf habe die Streitenden vor sich nach Ingelheim geladen, ihre Beschuldigungen angehört und dann die beiden Kammerboten des Majestätsverbrechens schuldig befunden, worauf Verbannung oder Tod als Strafe standen. Indessen Bischof Salomo habe den König dazu bere det, sie zu begnadigen, wenn sie unter Eid versprächen, den Bischof nie wieder wegen der ihm überwiesenen Fiskalgüter, in rebus fiscalibus sibi dono traditis, zu belangen. Die Brüder hätten den Eid geleistet und seien gleichsam als Salomos engste Freunde heimgekehrt (Ekkehard, Casus c. 11 und 12 S. 36 f.). Der hier erwähnte Bischof Salomo hatte als junger Mann seit 884 in Hofkapelle und Kanzlei Kaiser Karls III. und König Arnulfs gedient, bevor ihm im Jahre 890 nacheinander die Abtei St. Gallen und der Konstanzer Bischofsstuhl übertragen worden waren. Seit 909 als Kanzler für die Könige Ludwig das Kind und Konrad I. tätig, konnte er in Schwaben zugleich als Vertreter der Reichsgewalt auftreten (H. Maurer in LMA 7 Sp. 1314). Wenn er aber mit den Kammerboten darüber in Streit geriet, ob manche Reichsgüter besser von der Pfalz Bodman oder vom Bistum Konstanz aus verwaltet würden, so fragt man sich, woher die Kammerboten das Recht nahmen, königlichen Entscheidungen in dieser Sache zu widersprechen? Die Antwort darauf kann wohl nur lauten, daß sie dazu den Auftrag und die Vollmacht des schwäbischen Volkes besaßen, das schwäbische Reichsgut unverkürzt beisammenzuhalten. Nur eine solche Vollmacht wäre der königlichen gleichwertig und hinreichend gewesen, um den Beschuldigten die Begnadigung zu erwirken.
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Dies mag der Grund dafür gewesen sein und es erklären, daß Ekkehard den königlichen Fiskus als Vorgänger des ducatus in Schwaben betrachtet und ihm insofern vizekönigliche Befugnisse beilegt, als er nicht den König selbst, sondern eben ihn und die Kammerboten Schwaben verwalten läßt (W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 196. H. Maurer 1978 S. 142. H. Keller 1982 S. 83). Als Platzhalter eines Herzogs aber dürften diese Königsboten wider den Bischof den Beistand des Volkes auf ihrer Seite gehabt haben. § 477. Zum Jahre 911 berichtet ein anonymer, im Kloster St. Gallen oder im benachbarten Burgund tätiger Annalist: „Burchard, Graf und Vornehmster, comes et princeps, der Alamannen, wurde in unrechtem Gericht von Anshelm mittels Anklage wegen Rechtsbruchs, censura inequitatis, getötet. Nachdem seiner Witwe alle Güter entzogen und seine Söhne Burchard und Udalrich aus Alamannien verbannt worden waren, extra patriam eiecti, verteilten sie sein Erb- und Leihegut, predium atque beneficium, unter sich. Sein Bruder Adalbert jedoch, der edelste und gerechteste Graf, wurde nach dem Willen Bischof Salomos und einiger anderer getötet. Außerdem (entzogen) sie Gisela, der Schwiegermutter Burchards des Jüngeren, die heimlich zu den Schwellen des seligen Apostelfürsten Petrus reiste und sich dort um Vergebung für ihre Missetaten bemühte, Erbgut und Wittum, proprium peculiumve, und alles, was sie besaß; sie mißachteten die Fürsprache des heiligen Petrus, Herrn und Trösters der Bedürftigen, und verteilten es nach dem Willen der Ihren. Obendrein bekräftigten sie, als Gisela heimkehrte, in der Pfalz Bodman ihre überaus verwerflichen Machenschaften mit gefälschten Zeugnissen und mit der Lüge, sie sei des Hochverrats schuldig, ream publice dominacionis (Ann. Alam. S. 188). Beachtet man, wie der Annalist die Epitheta gerecht und edel einerseits auf Burchard, Adalbert und Gisela, andererseits auf Anshelm und Salomo verteilt und wie er das Vorgehen der letzteren gegen jene verurteilt, so ergibt sich, daß Burchard in einem Gericht, das der Annalist für unrecht hielt, von Anselm wegen Rechtsbruchs auf den Tod (anstatt auf Sühne, oben: § 106) verklagt und von dem Kläger, nachdem dieser ein obsiegendes Urteil erlangt hatte, getötet worden war, daß Adalbert wohl auf dieselbe Weise von Bischof Salomo oder dessen Vogt getötet wurde und daß die Sieger das Erb- und Leihegut der Getöteten unter sich verteilten (lat. beneficium braucht nicht als gräfliches Amtsgut aufgefaßt zu werden, oben: §§ 122, 124, 128a). Ob die Klage mit einer Amtspflichtverletzung Graf Burchards zusammenhing oder überhaupt einen politischen Hintergrund hatte, wie man gewöhnlich annimmt (W. Lendi 1971 S. 38 f. H. Maurer 1978 S. 38 f., 129 – 131, 209, 211), das erfahren wir nicht. Der Hochverrat der Gisela bestand offenbar darin, daß sie sich ohne Erlaubnis des Gerichts nach Rom begeben hatte, um das Urteil vor einem inkompetenten Richter anzufechten. Es ist also einigermaßen überraschend zu hören, daß vier Generationen später Hermann der Lahme, Chronist des Klosters Reichenau, die Ereignisse mit den Worten zusammenfaßte: „Burchard, Herzog von Alamannien, dux Alamanniae,
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wurde auf seinem Landtage, in conventu suo, im Tumult getötet; an seiner Stelle riß Erchanger das Herzogtum an sich, ducatum invasit“ (Herim. Aug. p. 112 lin. 9 – 10). Aus dem Vornehmsten der Alamannen ist ein Herzog, aus dem, wenn auch unrechten, Gericht ein Landtag geworden, und Nutznießer des Tumultes wären nicht Anshelm oder Salomo, sondern ein unbeteiligter Dritter, nämlich der Pfalzgraf Erchanger, gewesen, der allerdings als politischer Gegner des Bischofs von Konstanz gut denkbar ist. Ganz unwahrscheinlich aber ist es, daß die Reichsregierung, in der der Bischof so einflußreich war, schon im Jahre 911 einen schwäbischen Herzogstitel anerkannt hätte, daß Schwaben bereits zu der Zeit amtlich als Herzogtum verfaßt gewesen wäre. Der dem Grafen Burchard so wohlgesonnene Annalist hätte es gewiß nicht versäumt, ihm den Herzogstitel zu geben, wenn er von demselben bereits gewußt hätte. Aber auch Erchanger gelang es nicht, ihn zu erringen, obwohl bald darauf und noch in demselben Jahre die Alamannen an der Seite der Franken, Sachsen und Bayern als Regnum an der Erhebung Konrads I. zum Könige teilnahmen (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 575 A. 1) und dabei gewiß Gelegenheit fanden, eine solche Forderung vorzubringen. Die Kanzlei König Konrads bezeichnete Erchanger, der 912 und 913 im Gefolge des Königs begegnet, jedoch nicht anders denn als Grafen oder Pfalzgrafen, übrigens ohne dem einen Bezirk oder Ort seines amtlichen Waltens hinzuzufügen (MGH. DKo. I. 2, 3, 9, 10, 11, 17). § 478. Zweifellos war es wie überall, so auch in Schwaben die Ungarngefahr, welche das Land dazu nötigte, jederzeit zum Aufgebot eines Heeres bereitzusein und einen Herzog an dessen Spitze zu stellen. In diesem Problem möchte der Grund für die Zwietracht zu suchen sein, die im Jahre 913 zwischen dem Könige und Erchanger ausbrach (H. Maurer 1978 S. 40). Denn in demselben Jahre zogen die Ungarn durch Bayern verheerend nach Schwaben; als sie mit ihrer Beute den Rückmarsch angetreten hatten, folgte ihnen ein alamannisches Heer unter Führung der Brüder Erchanger und Berthold und des Grafen Udalrich vom Argengau nach und lieferte ihnen, vereint mit den Bayern unter ihrem Herzoge Arnulf, am Inn eine überaus blutige Schlacht, die mit einer vernichtenden Niederlage der Ungarn endete. Von Taten König Konrads dagegen ist in diesem Sommer durchaus nichts überliefert, außer daß er sich mit Erchanger versöhnte und zum Unterpfande des Friedens dessen Schwester zur Gattin nahm (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 590 – 592). Nichts aber deutet darauf hin, daß er ein schwäbisches Herzogtum anerkannt hätte. Sein Kanzler Bischof Salomo von Konstanz und der Hunfridinger Burchard II., letzten Endes also die Uneinigkeit des schwäbischen Adels, mochten ihn der Notwendigkeit entheben, dem Besieger der Ungarn dieses mit der karolingischen Reichsverfassung, der er sich verpflichtet fühlte, unvereinbare Zugeständnis zu machen. Aber die Kraft der karolingischen Zentralgewalt war geschwunden, und daher konnten die Alamannen nicht aufhören, nach einem Herzogtum zu streben. Indessen wie die Pfalzgrafschaft, so betrachteten sie gewiß auch das Herzogtum als ein Amt, das sie nicht eigenmächtig einrichten konnten, wenn der Herzog rechtmäßig
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ein Reichsrecht wie das Heeresaufgebot ausüben und das schwäbische Reichsgut nutzen sollte. Nach anderthalb Jahrhunderten karolingischer Verfassungspraxis war von Rechts wegen nichts anderes mehr möglich, als daß das schwäbische Volk und der von ihm erhobene König ein solches Amt in einhelligem Einvernehmen einrichteten. König Konrad aber verweigerte seine Zustimmung, und als er den hartnäckigen Grafen Erchanger im Jahre 914 in die Verbannung schickte, erreichte er lediglich, daß nun ein Teil des Volkes den Hunfridinger zum Haupte annahm, denn Burchard cepit rebellare et propriam suam patriam devastare (Ann. Alam. a. 915 S. 190. H. Maurer 1978 S. 40). Da aber kehrte Erchanger unter Bruch seiner Zusagen an den König „aus der Verbannung zurück und kämpfte mit Burchard und Berthold und mit seinen übrigen Landsleuten, patriotis, und besiegte sie bei Wahlwies und ließ sich zu ihrem Herzoge machen, dux eorum effectus est“ (Ann. Alam. a. 915 S. 190. H. Maurer 1978 S. 36 – 41, 130, 208). Da Berthold sein eigener Bruder und die Gegner seine Landsleute und Rechtsgenossen waren (oben: § 210), der Kampf also innerhalb des adligen Personenverbandes ausgetragen wurde, zu dem sich die Worthalter der volklichen Partikularverbände, Grafen, Dynasten und Edelfreie der schwäbischen patria, geeint hatten (oben: § 208. H. Maurer 1978 S. 205 – 208), ist bei diesem Kampfe weniger an eine Fehde als an einen gerichtlichen Zweikampf um die Herzogswürde zu denken. Als Gerichtsplatz suchte man eine unbesiedelte Stätte bei der Pfalz Bodman aus, die die Herzöge von Schwaben noch in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts als Gerichtsplatz und als Ort benutzten, an dem sie die Großen zum Landtag versammelten (H. Maurer 1978 S. 46, 53 f., 124). Unmittelbar anschließend, so ist anzunehmen, an den Kampf erhoben die Anhänger des Siegers gemeinsam mit den Unterlegenen Erchanger zu ihrem Herzoge. Das Verfahren machte die Besiegten aus Gegnern zu Freunden, es stellte die Einheit des Personenverbandes her, der nun einmütig dem vom Rechte Begünstigten den Herzogsnamen gab (ebd. S. 45 f., 131) und ihm mit dem Gelübde seines Beistandes in Treue und Gehorsam die rechtliche Vollmacht und politische Macht verlieh, deren er als Amtsinhaber bedurfte, um das Land nach außen und innen zu befrieden. § 479. Aber König Konrad dachte auch jetzt nicht daran, das vom Volke geschaffene Herzogtum anzuerkennen. Er brachte Erchanger, Berthold und Graf Luitfred in seine Gewalt und ließ sie am 21. Januar 917, vermutlich als Hochverräter, hinrichten (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 611. H. Maurer 1978 S. 46 f.). Was er ihnen im einzelnen vorwarf, erfahren wir nicht. Sollte er Erchanger auch wegen Annahme des Herzogtums verfolgt haben, so hätte er auffälligerweise das Volk ungescholten gelassen, das diese Würde errichtet und verliehen hatte und keineswegs der Ansicht war, damit ein Verbrechen begangen zu haben. Denn an Stelle der Getöteten „erhob sich sofort, nun ohne Nebenbuhler, der Graf Burchard, bemächtigte sich der Güter der Getöteten und wurde im ganzen Lande von den Großen anerkannt, ohne daß der König es hindern konnte“ (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 611. H. Maurer 1978 S. 132): eben jener Burchard, der zwar in dem Gerichtsverfahren von 915 dem Erchanger unterlegen, den das Gericht des Volkes
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aber schon damals als des Herzogtums würdig zu dem Wettstreit zugelassen hatte. Alsbald hatte er sich in der Abwehr der Ungarn zu bewähren, die in diesem Jahre Alamannien durchstreiften, die Bischofsstadt Basel zerstörten und das Elsaß verwüsteten, bevor sie nach Lothringen weiterzogen, die aber auch in den folgenden Jahren immer wieder im Lande erschienen. Als König Konrad am 23. Dezember 918 starb, war der letzte Versuch gescheitert, im Ostfränkischen Reiche jenes karolingische Regierungssystem aufrechtzuerhalten, welches die Grafen und Bischöfe in den Regna der unmittelbaren Herrschaft des Königs unterworfen hatte. Die Herzogswürde, die sich in jedem einzelnen Regnum dazwischenzuschieben im Begriffe war, ließ sich nicht mehr beseitigen, nachdem sich das Königtum als unfähig erwiesen hatte, die herzoglichen Aufgaben selbst zu erfüllen. Die Reichsverfassung, die damit von unten her, also grundlegend, erneuert worden war, bedurfte nur noch der Anerkennung von Seiten des Königtums, um in der neuen Gestalt zu vollendeter Geltung zu gelangen. Dann aber wäre auch die Grenze zu ziehen gewesen, welche königliche und herzogliche Befugnisse hinfort von einander scheiden sollte. Die Gelegenheit zu solcher Definition der beiderseitigen Kompetenzen bot sich, als im Jahre 919 die Regna vor der Aufgabe standen, gemeinsam einen neuen König zu erheben. Wie sie sich ihrer entledigt haben und wer dazu die Initiative ergriff, darüber wissen wir aus zeitgenössischen Quellen so gut wie nichts. Es sind freilich zu der Zeit auch nur höchst dürftige annalistische Notizen niedergeschrieben worden. Gleichwohl hat man aus ihrem Stillschweigen neuerdings sehr weitgehende Schlüsse gezogen und uns versichert, eine Wahl Herzog Heinrichs von Sachsen durch Lothringer, Alamannen und Bayern habe es im Jahre 919 gewiß nicht gegeben und wohl auch keine durch die vereinigten Franken und Sachsen; seine Erhebung dürfte sich über Jahre hingezogen, in Einzelakten, deren keiner für sich allein entscheidend war, könnten die Huldigungen fränkischer Teilvölker und dann der Lothringer, Alamannen, Bayern allmählich zusammengekommen sein; zwar habe die Reichskanzlei den Beginn von Heinrichs Herrschaft auf die Tage vor dem 24. Mai 919 datiert, tatsächlich aber werde sie, nach Adelsgruppen und Stammesgebieten gestaffelt, mehrere Anfänge gekannt haben (J. Fried 1995 S. 296 – 316). Das Recht, um so weitgehende Schlüsse e silentio fontium zu ziehen, leitet sich daraus her, daß einige ein halbes Jahrhundert später schreibende Autoren mehr über die Vorgänge wußten, als die gleichzeitigen Annalisten notiert hatten, und daß sie folglich dieses Mehr aus einer mündlichen Tradition schöpfen mußten, deren Wesen man heutzutage sehr genau zu kennen meint: Sie habe nämlich jenen „Grundbedingungen oraler Tradition“ unterlegen, welche geschichtliches Wissen und Erinnern niemals stillstehen ließen, sondern in steter Flüssigkeit, in stetigem, selbst zu Lebzeiten der Beteiligten unbemerktem Wandel erhielten und dafür sorgten, daß sich fortwährend jüngere Erinnerungen in ältere einflochten und gleichartige Ereignisse miteinander vermischten: „Keine mündliche Erzählung wieder-
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holte exakt einen früheren Vorgang“ (ebd. S. 273 – 275). Die Schriftsteller der ottonischen Zeit und das Publikum, für das sie schrieben, hätten daher, auf die dunklen Anfänge des sächsischen Königtums zurückschauend, in sie die Keime zu all dem hineingelegt, was erst zu ihrer Zeit glanzvolle politische Wirklichkeit geworden war und damit auch jene Keime erst dem wissenden Betrachter sichtbar gemacht habe (ebd. S. 278 – 285, 290). § 480. So wahr und überzeugend diese Annahmen in vielen Punkten auch sind, so können sie doch den Rechtshistoriker nicht ohne Bedenken für sich einnehmen. Die erwähnten Grundbedingungen sind nämlich nicht aus den Quellen hergeleitet, die er kennt, sondern finden sich „in der ethnologischen Literatur wiederholt erörtert“ und werden durch „das besonders illustrative Beispiel bei den Gonja in Nordghana“ erhellt (J. Fried 1995 S. 273 Anm. 28). Was aber bringt uns ein Vergleich mit so weit entfernten Völkern, der doch vor allem eine Verungleichung ergäbe, wenn man ihn ernsthaft durchführte? Leben etwa auch die Gonja (von denen ich nichts weiß), gleich den Völkern des Ostfränkischen Reiches, in einem Großreiche mit vielhundertjährigen Traditionen, mit verfassungsmäßig geordneter, mehrstufiger öffentlicher Willensbildung und gesicherter Neutralität der Gerichtsgemeinden in den Fehden und Rechtsstreitigkeiten, die einzelne Verbandsgenossen entzweiten (oben: §§ 68, 172, 277)? Sind sie sich der Unzuverlässigkeit erzählter oraler Traditionen ebenso deutlich bewußt, wie es die Völker des Fränkischen Reiches waren, die die mündliche Überlieferung der Volksrechte und aller danach geschaffenen Rechtsverhältnisse gegen Verformungen gesichert hatten, indem sie das öffentliche Gedächtnis für die Bewahrung nutzten, dieses durch Institutionen wie die Dingpflicht aller Rechtsgenossen (oben: §§ 53, 310), das Amt eines Gesetzessprechers (oben: § 64) oder die fränkischen Schöffenkollegien (oben: §§ 307 – 309, 318) bestärkten und alle neu zu schaffenden Rechtsverhältnisse öffentlich, in Gegenwart nicht nur der Kontrahenten, sondern des versammelten Volkes begründeten (oben: §§ 295 – 297)? Teilen sie die allem germanisch-mittelalterlichen Rechtsleben eigentümliche, aus dem Gebote der Öffentlichkeit entsprungene Gewohnheit, abstrakte Rechtsgedanken zu symbolisieren oder doch zu versinnlichen und alles rechtserhebliche Konsentieren, Kontrahieren und Übereinstragen zu sichtbaren Förmlichkeiten auszugestalten, die auch der letzte Genosse in der Volksversammlung sehend begreifen und dem gemeinten Rechtsinhalt nach verstehen konnte (oben: § 177)? Dienen ihnen die Formen des Rechtsverkehrs zu demselben Zwecke wie den Europäern, denen sie seit jeher „die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ waren (Rudolf Jhering, zitiert bei H. Brunner 1894 S. 272)? Gewiß gab es neben den Rechtstatsachen, die man auf diese Weise vor der Willkür der Mächtigen und der ihnen dienstbaren Geschichtenerzähler beschützte, geschichtliche Tatsachen und Ereignisse in Fülle, die der oben beschriebenen Verformung durch die orale Tradition zur bloßen Legende preisgegeben waren, und das
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mochten namentlich solche sein, die die Mächtigen in geheimer Kabinettspolitik bewirkten, so daß ihre Motive und Zwecke über den Kreis der Beteiligten und ihrer Räte hinaus niemandem bekannt wurden und die Chronisten darauf angewiesen waren, sie aus den Folgen zu erschließen: Quid vero in eodem conventu . . . pertractatum sit, postea eventus rei luce clarius manifestavit (Regino a. 899 S. 147). Gewiß schlossen die sächsischen Schriftsteller späterer Zeit aus dem Fortgang der Dinge auf deren Ursprünge zurück und vermieden es daher nach Möglichkeit, auf öffentlich konstituierte und formgeschützt tradierte Rechtsverhältnisse der Ursprungszeit einzugehen. Gelegentlich aber taten sie es dennoch. Dahin möchte ich die bei Widukind von Corvey tradierte Nachricht rechnen, Herzog Burchard von Schwaben habe sich dem von Franken und Sachsen erhobenen Könige im Jahre 919 ergeben, tradidit semetipsum ei cum universis urbibus et populo suo (Widukind I 27), mit allen Burggemeinden oder Gemeinden burgbaupflichtiger Freier, deren Haupt er selbst war (oben: §§ 221, 222, 320), und mit dem schwäbischen Volke, das sich aus diesen und aus von anderen Häuptern geleiteten Gemeinden zusammensetzte. § 481. Herzog Burchard und die Schwaben hatten schwerlich einen Anlaß, sich dem von Franken und Sachsen erhobenen Könige bedingungslos zu ergeben, wohl aber guten Grund, dies zu tun, wenn der König seinerseits dazu bereit war, die Verfassung ihres Regnums als Herzogtum mit vizeköniglichen Befugnissen und den von ihnen erhobenen Herzog als solchen endlich anzuerkennen. Zum ersten Male wäre damit die bisher nur angemaßte und usurpierte Macht des Herzogs, über das Reichsgut, die Reichskirchen und die Reichsvasallen in Schwaben zu verfügen und dort den königlichen Komitat auszuüben, vom Reiche legitimiert worden. Da aber Heinrich und seine Vorfahren in Sachsen bis 919 nach ebensolchem herzoglichem Rechte gewaltet hatten, konnten sich die Schwaben mit dem Könige darüber gewiß rasch einigen. Was hindert uns daran, die Annahme einer solchen schwäbischen Wahlkapitulation durch den König und die Annahme des Königs durch die Schwaben auf jenen Tag des Monats Mai 919 zu legen, mit dem die im Original überlieferten und öffentlich begebenen Diplome des Königs dessen Herrschaftsantritt legen? Mag aber auch das Datum ungewiß sein: Daß einmal ein solcher Herrschaftsvertrag abgeschlossen worden ist und daß dieser zur Zeit Widukinds von Corvey am sächsischen Hofe noch genau bekannt war, ein Vertrag, durch den endlich die schwäbische Landesgemeinde in ducatum redacta erat (oben: § 476), das geht daraus hervor, daß die Könige aus sächsischem Hause bis herab auf Kaiser Otto III. ihre königliche Gewalt in Schwaben nur in beschränktem, aus den Königsurkunden genau erkennbarem Umfange ausgeübt haben. Offensichtlich bedurften sie eines besonderen Anlasses, um das schwäbische Land zu betreten, und wenn sie es durchzogen, so vermieden sie es, dort in der Weise Hof zu halten und zu urkunden, wie sie es auf fränkischem und sächsischem Boden taten (H. Keller 1982 S. 77 – 83). Dem Könige aber muß der Herrschaftsvertrag außer dem allgemeinen Anspruch auf Treue, Hof- und Heerfolge seiner schwäbischen Untertanen das
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Recht gesichert haben, an der Auslese künftiger Herzöge, Bischöfe und Reichsäbte teilzuhaben und ihnen die Bestallung zu erteilen. Was die Bischöfe anlangt, so war der Herzog, als Worthalter von Klerus und Volk seiner Bistümer, gewiß nicht nur deren vornehmster Wähler, sondern auch derjenige, der sie nach Empfang der königlichen Bestallung in den Besitz ihrer Kirchen einwies (oben: § 431). Daß sie aber auch verpflichtet waren, außer dem königlichen den herzoglichen Hoftag zu besuchen, ist nicht mit Sicherheit auszumachen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 151. K. G. Hugelmann 1955 S. 114. H. Maurer 1978 S. 155, 157, 172, 179, 207). Wie aber die Landesgemeinde des schwäbischen Regnums bei vakantem Throne unter der Leitung ihres Herzogs an der Erhebung des neuen Königs, so nahm sie bei vakantem Herzogsstuhle unter Leitung des Königs an der Erhebung des künftigen Herzogs teil. Kein Zweifel, daß das Recht des Königs, Herzöge zu designieren, zu bestallen und gegebenenfalls abzusetzen, auf die von Widukind von Corvey zum Jahre 919 bezeugte Unterwerfung des Landes unter König Heinrich I. zurückgeht, kein Zweifel aber auch, daß der Landesadel und die Landesversammlung auf ihre Weise stets daran beteiligt waren (H. Maurer 1978 S. 132 A. 17, 134 f., 208). Durch die Bestallung erlangte der Herzog vizekönigliche Befugnisse im schwäbischen Regnum als Stellvertreter des Herrschers, der ihn bevollmächtigte (ebd. S. 130 f. H. Keller 1982 S. 105). In dieser Eigenschaft stand ihm vor allem der königliche comitatus derart zu, daß er die schwäbischen Grafen bestallte und, wenn persönlich anwesend, an ihrer Stelle den Vorsitz im Grafschaftsgericht übernahm, und dies so ausschließlich, daß im schwäbischen Lande neben der seinen weder andere Großgrafschaften (es sei denn, man wollte das Elsaß noch dazurechnen) aufkommen noch vor dem 12. Jahrhundert Grafschaften in den Besitz schwäbischer Bistümer oder Reichsabteien gelangen konnten; allenfalls seine Einkünfte aus ihnen, seinen Fiskus, vermochte der König ihnen zu schenken (oben: §§ 230, 305, 306. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 156 – 166, 174 f. H. Maurer 1978 S. 143 – 148, 156 f., 212). Der Herzog von Schwaben hätte demnach die vizekönigliche Gewalt in seiner Hand vereinigt mit der niederen herzoglichen Vollmacht (oben: §§ 442b.c), die wir in Franken und Sachsen so oft voneinander getrennt fanden. § 482. Zu den vizeköniglichen Befugnissen gehörte ferner die Verfügung über das in Schwaben gelegene Reichs- und Reichskirchengut nebst den daraus mit Lehen versehenen Reichsvasallen und dem Recht, ihretwegen die Reichskirchen zur Heerfolge aufzubieten (H. Maurer 1978 S. 124 f., 145 – 155). Wegen eines Streites, der die Äbte von St. Gallen und Reichenau entzweite, läßt Ekkehard einmal die im Jahre 994 verstorbene Herzogin Hedwig sagen: Miror etiam, me imperii vicaria tam prope assidente, duo mei ducatus monasteria, me equidem spreta, tanta miscuisse infortunia, daher sie ein colloquium publicum geboten habe, um diese und andere Regierungssachen zu erledigen (Ekkehard, Casus S. 194 f.) – eine schwer zu deutende Nachricht (H. Maurer 1978 S. 55 f., 136,
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154), da ich nicht zu sagen wüßte, welches Wort der Volkssprache Ekkehard mit lat. vicaria wiedergegeben haben könnte. Sollte sich Hedwig etwa als Reichsvögtin bezeichnet haben? Vornehmstes Recht des vizeköniglichen Herzogs aber war die Befugnis, den schwäbischen Untertanenverband, die Genossenschaft der adligen Mitlandsleute, Sueviae principes, primates Suevorum, patriotae, comprovinciales, zum Landtag oder herzoglichen Hoftag, conventus, colloquium, consilium, einzuberufen und zum Beschließen, zur für das Land verbindlichen, einhelligen Formulierung eines gemeinen Willens aufzufordern (H. Maurer 1978 S. 124, 204 – 217). Denn nur im Einvernehmen mit den Großen des Landes, den Bischöfen, Reichsäbten, Grafen, Reichsvasallen, Allodialherren, und den Edelfreien, die jene begleiteten, um mit ihnen den Willen der jeweiligen Partikularverbände, deren Wort sie hielten, zum gemeinen Willen des Landes übereinszutragen: nur in einmütigem, einhelligem, einstimmigem Konsens mit den Großen konnten Könige und Herzöge das Land regieren, da jene es waren, die die Dienste erbrachten, welche der König vom Herzog forderte, und die Vorrechte genossen, die der König diesem gewährte. Als Kaiser Konrad II. im Jahre 1027 den Reichstag nach Ulm einberufen hatte, geschah es auf einem Landtage, zu dem Herzog Ernst II. die nach Ulm gekommenen schwäbischen Großen versammelte, daß zwei Grafen seiner Auslegung ihrer Treuepflicht widersprachen und Ernst erkennen mußte, von den Seinen verlassen zu sein, daher er sich, in den Reichstag zurückgekehrt, dem Kaiser ergeben und das Herzogsamt niederlegen mußte (Wipo, Gesta Ch. c. 20). Zwar ist uns für das 10. Jahrhundert nur ein einziger Landtag (zum Jahre 924) bezeugt, und in häufigerer und schließlich regelmäßiger Folge hören wir von den Versammlungen erst seit 1093, doch sind sie gewiß vom Beginn des Herzogtums an jederzeit üblich gewesen (J. Fikker / P. Puntschart 1923 S. 150 – 182. K. G. Hugelmann 1955 S. 114). In den Beratungen standen sich der Herzog und die Großen gleichberechtigt gegenüber, wie denn die Großen auch zu akephalen Versammlungen (oben: § 287) und Fürstentagen zusammentreten konnten, ohne dazu einer herzoglichen Ladung oder Erlaubnis zu bedürfen (H. Maurer 1978 S. 210 f.), sofern sie ihrem Herzoge die Treue bewahrten und sich nicht heimlich gegen ihn verschworen. Bemerkenswert ist der Widerspruch, den die Grafschaftsgemeinde zu Chiavenna im Jahre 1153 vor Kaiser und Reich gegen den Anspruch des Ortsbischofs auf den (königlichen) comitatus mit der Begründung einlegte comitatum illum ad ducatum Suevie pertinere (MGH. DF. I. 54 S. 93 Z. 33), denn als der Herzog dazu bezeugte, der Gemeinde in den letzten vier Jahrzehnten weder Investitur noch Privileg wegen der Grafschaft erteilt zu haben (ebd. S. 93 Z. 36 – 37), und das Reich daher den Widerspruch zurückwies, da traten schließlich sämtliche schwäbischen Grafen und Barone mit einer Verbandsklage hervor, weil durch die Entfremdung jener Grafschaft der honor ducatus Suevie gekränkt worden sei und sie daher weder dem Herzoge noch dem Kaiser ferner in Treue anhängen könnten und wollten, wenn der Comitat nicht dem Herzogtum restituiert würde. Da zwei gräfliche Zeugen die Zugehörigkeit der Grafschaft zum Herzogtum bestätigten, mußte jetzt der Kaiser
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nach schwäbischem Landrecht der Klage stattgeben (DF. I. 157. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 158 – 164. H. Maurer 1978 S. 258 – 263. H. Appelt 1990 S. 98). Nicht also der Herzog von Schwaben, dessen Amt damals des Kaisers Neffe und für ihn der Kaiser selbst versah, sondern die Landesgemeinde der schwäbischen Großen erhob die Klage; nicht ihr Oberhaupt, sondern sie selbst war das Land; das Land aber drohte seinem Herzoge damit, ihm wegen Amtspflichtverletzung und Bruchs des Herrschaftsvertrages die Treue aufzusagen.
§§ 483 – 492. Das Regnum Bayern § 483. Als einziges unter den alten Volksrechten bezeugt die Lex Baiuvariorum ausdrücklich, daß Einsetzung durch den König und Wahl durch den populus die Vollmacht des Herzogs begründeten und daß sich diese vor allem auf das Gericht über Leben und Tod sowie auf Heeresaufgebot und Heerführung erstreckte (unten: § 516. W. Störmer 1992 S. 503 f.). Der herzogliche Herrschaftsbereich heißt in dem Gesetz provincia oder ducatus; als ahd. Namen sind Peigira und Peigirolant belegt. König Karl der Große hat zwar im Jahre 788 das Herzogtum beseitigt, aber ebensowenig wie später in Sachsen (oben: §§ 457 – 459) die Landesverfassung umgestürzt; das bayerische Volksrecht blieb einschließlich der Bestimmungen über Erhebung und Befugnisse des Herzogs in Geltung, und der comes oder praefectus oder missus, den der König jetzt zum Oberhaupte des Landes ernannte, konnte der Zustimmung des bayerischen Adels, welcher das Wort der völkischen Partikularverbände hielt (oben: § 206), ebensowenig entbehren wie früher der von diesem Volke gekorene Herzog (Hdb. bay. G. 1981 S. 250 – 252, 353 f., 363 f.). Dem von 799 bis 818 amtierenden königlichen missus Audulf wird sogar die Einrichtung von Landtagen zugeschrieben, die das alte Herzogtum nicht gekannt habe (E. Klebel 1938 S. 44). Im Jahre 817 teilte Kaiser Ludwig der Fromme das Bayernland mit den im Osten angrenzenden Gemeinden der Karentaner, Böhmen, Awaren und Slaven seinem Sohne Ludwig als Unterkönigtum zu, und wie dieser heranwuchs, begann man im Mai 826, von seinem Regnum in Bayern an zu datieren. Aber erst seit er sich im Jahre 830 zusammen mit seinen Brüdern gegen den Vater erhoben hatte, erlangte er das Recht, als rex Baioariorum Urkunden auszustellen (P. Kehr in MGH. DLD. S. XVIII): Die Bayern waren zu einem Volke geworden, welches neben anderen dazu berechtigt war, einen König anzunehmen und sich als Regnum zu bezeichnen. Auch als Ludwig drei Jahre später von anderen ostfränkischen Reichsvölkern zum gemeinsamen Könige erhoben worden war und daher den gentilen Zusatz zu seinem Königsnamen wieder ablegte, blieb das bayerische Volk der Rückhalt seiner Königsmacht. Bayern entwickelte sich zum Kernlande des Ostfränkischen Reiches, seine Königsstadt Regensburg zu einer Art Reichshauptstadt, wo wichtige Reichsversammlungen und Hoftage stattfanden (Hdb. bay. G. 1981 S. 263 f., 271, 367. W. Hartmann 2002 S. 24 – 35).
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Wohl weniger der ostfränkische König als vielmehr das Land bedurfte nun wieder eines Stellvertreters seines Hauptes, da das bayerische Volk an seiner Ostgrenze in ständige Kämpfe wie einst mit den Awaren, so jetzt mit Böhmen und Mährern und später, seit 881 (Ann. Iuvav. p. 742 lin. 9 – 10), mit den Ungarn verwickelt war. Dieses Amt wuchs einem Grafen Ernst zu, der einem fränkischen Geschlecht angehörte und zuerst 837 in einer Regensburger Tradition mit dem Grafentitel genannt wird. Als „Herzog und unter den Freunden des Königs der Erste“ oder „Erster unter allen Adligen“ konnte Ernst sich so fest auf den Beistand der Bayern verlassen, daß König Ludwig es im Jahre 861 für geboten hielt, ihn wegen Untreue seiner Ämter zu entsetzen (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 345, 2 S. 21, 118, 3 S. 140. Hdb. bay. G. 1981 S. 251 A. 7, 265, 368). Denn es dürfte volklichem Sprachgebrauche, der dem Könige nicht behagen konnte und den die Reichskanzlei nicht übernahm, entsprochen haben, daß jetzt zum ersten Male seit 788 wieder von einem Herzog des Landes die Rede war. § 484. Sollte dieser Graf Ernst, den die Bayern ihren Herzog genannt haben könnten, nicht auch bereits den Vorsitz auf einem bayerischen Landtage gehabt haben? Wir lesen nämlich in den – freilich nicht sonderlich zuverlässig überlieferten – Salzburger Annalen zum Jahre 848: II. idus Octobris placito habito in Radespona de parschalcis, qui tale servicium reddere debent, sicut et ceteri servi, sive vir sit aut femina (Ann. Iuvav. p. 741 lin. 13 – 14). Da der Hauptsatz der offensichtlich von dem Kopisten des 12. Jahrhunderts verstümmelten Notiz verlorengegangen ist, bleibt uns das innere Subjekt verborgen, das zu dem Ablativus absolutus placito habito zu ergänzen ist. König Ludwig kann da schwerlich genannt worden sein, da er zu der Zeit in Mainz auf einer zum Reichstag erweiterten Synode weilte (RI 12 n. 1388a.a. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 327, 335, 337, 345). Vielleicht war es sein Sohn Ludwig der Jüngere, der soeben, im August, ein Heer gegen die Böhmen geführt hatte, vielleicht aber auch Graf Ernst, der dasselbe im nächsten Frühjahre tat. Verhandelt wurde auf dem Regensburger Tage über die Dienstbarkeit der Barschalken oder Bargilden, worunter der Königsdienst bestimmter freier Leute zu verstehen ist (oben: § 131), der dem königlichen, vom Pfalzgrafen zu Regensburg und den Gaugrafen verwalteten Fiskus als Einnahme zustand, soweit er nicht bereits zu bestimmten Teilen einer Reichskirche überwiesen war. Es könnte der Entscheidung daher die Klage einer Barschalkengemeinde oder eines Ding- oder Hofrechtsverbandes, dem jene angehörte, gegen den Fiskus wegen dessen Forderungen an die betroffenen Freien zugrundeliegen (oben: §§ 303, 304, 374), das placitum also eine Gerichtsversammlung gewesen sein, deren Amt es war, die Einheitlichkeit des bayerischen Volksrechtes durch das ganze Land hin zu wahren. Mochte aber nun der König selbst oder der von ihm bevollmächtigte Graf dem Landtage oder Landesgericht vorsitzen: die Wahrung des bayerischen Volksrechtes war doch weniger seine als die Sache des Volkes selbst. Dessen Bedürfnisse und Forderungen waren der Anlaß, wenn die karolingischen Könige, wofür sich mehrfach Andeutungen finden, besondere Hoftage für Bayern zur Ordnung allgemeiner Landesangelegenheiten abhielten oder in ihrer Abwesenheit von vollmächtigen
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2. Teil: Der Staat
Sendboten abhalten ließen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 34). So geschah es noch zur Zeit König Ludwigs des Kindes, des letzten Karolingers auf dem ostfränkischen Throne, „daß Klagen und Gerüfte aller Bayern, cunctorum Bawariorum, der Bischöfe, Äbte, Grafen nämlich und aller derer, die in die östlichen Landesteile zu reisen pflegten, vor König Ludwig kamen und sagten (!), daß sie dort mit ungerechtem Zoll und unbilliger Maut bezwungen und bedrängt würden. Der König hörte, nach Gewohnheit seiner Vorgänger, die Klage wohlwollend an und befahl dem Markgrafen Aribo, zusammen mit Richtern aus den östlichen Landesteilen, denen der Sachverhalt vertraut wäre, das Zollrecht festzustellen und den Zolltarif zu erkunden.“ Auch bestimmte er den Erzbischof von Salzburg, den Bischof von Passau und den Grafen Otakar zu Königsboten, die der Klage an seiner Stelle, in suo loco, gemäß dem Ergebnis der Inquisition abhelfen sollten (MGH. Capit. 2, 249 n. 253, S. 250 Z. 13 – 22. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 35). Die notitia, der wir unser Wissen verdanken, entbehrt, wie bei Rezessen oder Abschieden öffentlicher Versammlungen üblich (E. Pitz 2001 S. 408 f.), eines datierenden Protokolls. Wir können also nur vermuten, daß sie zunächst berichtet, was auf einem vom Könige geleiteten bayerischen Land- und Gerichtstage vor sich gegangen war, dann aber unvermittelt übergeht zum Vollzug des dort kraft Zwischenurteils (oben: §§ 67, 68) Beschlossenen, indem sie die in Aribos Grafschaft und zwei weiteren, nicht benannten Komitaten gekorenen und vereidigten Inquisitionszeugen (oben: § 279) nennt, denn „diese und alle anderen Edelfreien, nobiles, die in den drei Grafschaften anwesend waren,“ wurden nach der Vereidigung von dem Markgrafen Aribo in Gegenwart der drei Königsboten auf der Malstatt zu Raffelstetten über das Zollrecht befragt, wie es zu Zeiten Ludwigs, Karlmanns und anderer (bayerischer) Könige bestanden hatte (Capit. 2 S. 250 Z. 22 – 32). Das bayerische Regnum nämlich war ebenso wie das Herzogtum, von dem es im 10. Jahrhundert fortgesetzt wurde, „seit 788 keine Monarchie mehr, sondern eine Rechtseinheit verschiedener Grafschaftsverbände auf Grund des Stammesrechtes und als solche Rechtseinheit selbst ein Verband, in welchem der Herzog die Landfriedenswahrung, bis 955 gewisse militärische Vorrechte und den Vorsitz im Landtag hat. Dieser Landtag, zu dem nicht nur die Bischöfe und Grafen, sondern auch die Herren erscheinen, ist zuerst 848 bezeugt und zuletzt 1256 gehalten worden“ (E. Klebel 1957 S. 169). § 485. Schon bevor er den Grafen Ernst absetzte, hatte König Ludwig seinen jüngsten Sohn Karlmann mit Ernsts Tochter verheiratet (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 345, 2 S. 21, 118, 3 S. 140). Da Ernst zweifellos auch in Bayern begütert war, erwarb der Königssohn durch diese Ehe einen privaten Erbanspruch, der ihm das bayerische Indigenatsrecht sicherte. Der König setzte denn auch im Jahre 865, als er seinem ältesten Sohne Ludwig die Regna Franken, Thüringen, Sachsen und dem jüngsten Sohne Karl das schwäbische Regnum zuteilte, Karlmann derart zum Haupte der Bayern ein, daß dieser nach dem Tode des Vaters beginnen konnte, als rex Bawariorum zu urkunden (MGH. DKn. 1 S. 286 Z. 9, 2 S. 287 Z. 30. Hdb. bay. G. 1981 S. 268, 271). Dem dürfte seine Erhebung zum oder Annehmung als König
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von Seiten der Bayern vorangegangen sein. Bezeugt ist diese Zeremonie für seinen Bruder, der ihm schon 879 / 880 nachfolgte: Ludwicus . . . Baioariam ingressus Reganasburh venit, ubi omnes optimates regni ad eum confluentes eius ditioni se subdiderunt (Regino a. 880 S. 117. E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 120). Da auch dieser König bereits nach zwei Jahren verschied, hatten die Bayern 882 erneut die Gelegenheit, sich als Königswähler zu betätigen, indem sie Kaiser Karl, den letzten der drei Brüder, aus Italien herbeiholten und, zweifellos wiederum in Regensburg, zu ihrem Haupte annahmen (ebd. S. 198 Anm. 1). Da Bayern für den Kaiser nur ein Nebenland sein konnte, war Karl genötigt, zum ersten Mal seit 861 dort wieder Stellvertreter entweder einzusetzen oder, dem Willen des Landes folgend, zuzulassen oder anzuerkennen. Für einen solchen jedenfalls pflegt man den nur in Privaturkunden genannten Grafen Engildeo zu halten, den der Regensburger Fortsetzer der Fuldischen Annalen zu 895 als Markgrafen der Bayern bezeichnet: Engildio marchensis Baioariorum honoribus privatus est (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 393. Hdb. bay. G. 1981 S. 273). Da neben ihm im Osten Graf Aribo und in der Mark Kärnten der Karolinger Arnulf, dessen amtlichen Titel wir nicht kennen, tätig waren, haben wir es eher mit dem Aufstieg von Großgrafen als mit dem einer gesamtbayerischen herzoglichen Gewalt und einer von Karls Willen gelenkten Entwicklung zu tun. Bald aber muß das Unbehagen an der Regierung des kranken und unfähigen Kaisers Karl die Bayern wieder geeint haben. Ihnen und dem Markgrafen Arnulf dürfte jedenfalls ein maßgeblicher Anteil daran zukommen, daß die Großen des Ostfränkischen Reiches vermutlich unmittelbar nach dem 17. November 887 in Frankfurt ihren Kaiser und König verließen und an seiner Statt seinen Neffen Arnulf zum König erhoben (P. Kehr in MGH. DArn. S. XI. Hdb. bay. G. 1981 S. 273). Obwohl sogleich in allen Regna des Reiches anerkannt, war und blieb Arnulf speziell ein König der Bayern, dem Regensburg als bevorzugte Residenz und das bayerische Volk als erster Rückhalt seiner Macht dienten. Er wird es gewesen sein, der im Jahre 895 dem Vorrange des Markgrafen Engildeo ein Ende machte und seinen Neffen Luitpold an dessen Stelle setzte. Der Regensburger Annalist vermeldet freilich unter Verwendung der üblichen passivischen Formel, die alle Einzelheiten der Erhebung offenläßt, lediglich: Engildio . . . honoribus privatus est; in cuius locum Luitpoldus nepos regis subrogatus est (Ann. Fuld. a. 895 S. 125). Es war zu mühsam und, weil es ohnehin jedermann wußte, auch überflüssig zu erwähnen, daß König Arnulf und das bayerische Volk gemeinsam jenen ab- und diesen eingesetzt hatten; so erfahren wir nicht, ob und in welcher Zeitfolge dies geschah, nämlich entweder in einem Zuge auf einem bayerischen Landtage oder Schritt für Schritt auf mehreren Gerichtstagen in jeder der Grafschaften, die Engildeo verwaltet hatte, oder in Verbindung beider Möglichkeiten in gemeinsamer Erhebung und partikularer Annehmung des neuen Fürsten. Da Luitpold zudem bereits zwei Jahre vorher mit Willen oder auf Geheiß des Königs in Kärnten und Oberpannonien zum Markgrafen angenommen worden war, konnte es nicht fehlen, daß ihm nun allmählich die Stellung eines Ersten in ganz Bayern nach dem Könige und eine Art
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herzoglicher Statthalterschaft zuwuchs (Hdb. bay. G. 1981 S. 278 f., 369 f., 380 f. A. Schmid in LMA 5 Sp. 2206 f. Oben: § 452). Während der schwächlichen Regierung des minderjährigen Königs Ludwig sah sich Markgraf Luitpold in der Stellung an der Spitze des bayerischen Volkes durch die Notwendigkeit, das Land vor den Angriffen der Ungarn zu schützen, nachhaltig gestärkt. Da bereits im Juli 900 in einer Privaturkunde von einem conventus et colloquium principum in dem Pfalzort Reisbach die Rede ist, ergriff offenbar der bayerische Adel die Initiative, die vom Reiche nicht zu erwarten war (Hdb. bay. G. 1981 S. 279). Im Jahre 907 erlitt das bayerische Heer in einer Abwehrschlacht gegen die Ungarn bei Preßburg eine vernichtende Niederlage. In ihr fand auch Markgraf Luitpold den Tod. § 486. War bereits die Stellung des gefallenen Markgrafen als Hauptes des bayerischen Volkes auf den Beistand und Treugehorsam des zum Landtage und zum Heere versammelten, das Wort der Teilverbände haltenden Adels gegründet, so ergibt sich für uns daraus als verfassungsgeschichtliche Folgerung: „Wenn auch nach Luitpolds Tod . . . eine Wahl seines Sohnes Arnulf nicht ausdrücklich bezeugt ist, muß man sie doch annehmen . . . Das Wahlrecht des bayerischen Adels dürfte . . . der gegebenen bedrohlichen Lage sowie der Schwäche des Königtums entsprungen sein“ (F. Prinz in Hdb. bay. G. 1981 S. 382 f. A. Schmid in LMA 5 Sp. 2207). Der König hatte gewiß keinen Grund, dem Erkorenen die Bestallung mit der Markgrafschaft und den Grafschaften, welche bereits der Vater verwaltet hatte (MGH. DLdK. 58 S. 186 Z. 25), zu verweigern. Denkbar wäre jedoch, daß die Bayern den König darum ersucht hätten, ihr Haupt als Herzog mit vizeköniglichen Befugnissen im bayerischen Regnum anzuerkennen, daß die Reichsregierung aber diese auf keinerlei Präzedentien gestützte Bitte abgelehnt habe, denn die daraus resultierende Verstimmung könnte es erklären, daß Arnulf im Gegensatz zu seinem Vater den königlichen Hof vollkommen gemieden und sich jeder Teilnahme an den Reichsgeschäften enthalten hat (Hdb. bay. G. 1981 S. 281, 385). Der Sache nach könnte es in der Herzogsfrage vor allem um die Kirchherrschaft gegangen sein, denn wenn es Arnulfs wichtigste Aufgabe war, das bei Preßburg vernichtete bayerische Heer zu erneuern, so bedurfte er, um unter den weniger gut gestellten Freien und Edelfreien seines Landes die notwendige Anzahl an Reiterkriegern zu gewinnen, der Herrschaft über die in Bayern begüterten Reichskirchen, damit er den Bischöfen und Reichsäbten befehlen konnte, bestimmte Fronhöfe ihrer Kirchen und Klöster den Männern zu Lehn zu geben. Die darauf um ihrer Selbstausrüstung willen angewiesenen Leute (oben: § 124) wurden dadurch zu belehnten Vasallen der Reichskirche und des Königs, dem nach karolingischer Rechtsauffassung die Kirchherrschaft zustand (oben: § 428). Die erstrebte Befugnis hätte Arnulf also an die Stelle des Königs treten lassen. Dem freilich widersetzten sich die Bischöfe, die ihre Zugehörigkeit zum Reiche verteidigten, und wenn sie dennoch immer wieder in die Säkularisierung von Kirchengut einwilligten, so deshalb, weil sie sich wegen mangelhafter Unterstützung von Seiten des Reiches
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schließlich doch den Forderungen des Landes und seines Oberhauptes beugen mußten (Hdb. bay. G. 1981 S. 282, 383 f.). Wenn sich aber Arnulf von Reichs wegen nur als Markgraf oder Graf bezeichnen konnte, so ist es um so auffälliger, daß er bereits im Jahre 908 in seinem Amte den Titel eines Herzogs führte. Er tat dies in einer Urkunde vom 13. September, mit der er einen zwischen Chorbischof und Bischof zu Freising verhandelten Gütertausch bestätigte. Es ist dies die älteste überhaupt (wenn auch nur in Abschrift) erhalten gebliebene Urkunde eines Herzogs aus dem im Zerfall begriffenen Karolingerreiche (K. Reindel 1953 S. 77 n. 48. W. Kienast 1968 S. 409. H. Fichtenau 1971 S. 114 – 118. Hdb. bay. G. 1981 S. 281, 383. C. Brühl 1995 S. 319). Ihr Aussteller nun verschmähte es, sich der privaturkundlichen Formen zu bedienen, in denen gewöhnliche Grafen ihre Amtshandlungen durch Gerichtsschreiber oder Notare beurkunden ließen (oben: §§ 228, 297, 298). Vielmehr wählte er als Muster für seine Urkunde das Formular der karolingischen Königsurkunde, dem er namentlich in der Intitulation und in der Korroboration mittels Siegels, jedoch ohne Nennung von Zeugen nachfolgte. In Privaturkunden waren Siegel bis dahin überhaupt nicht verwendet worden. Arnulfs Urkunde ist, soweit wir wissen, die älteste ostfränkischdeutsche Privat- und Fürstenurkunde, die ein Siegel getragen hat, und sowohl der Wortlaut der Siegelbitte als auch die Anführung des Siegels in der Korroboration verweisen dazu deutlich auf das Königsdiplom als Vorbild. Damit zeigt das Dokument, daß nach bayerischer Rechtsüberzeugung die herzogliche Gewalt etwas anderes als die gräfliche, nämlich eine königsgleiche Gewalt war, die in die Reichsverfassung nur als Vizekönigtum eines Teilreichs hätte eingeordnet werden können. § 487. Da die Könige Ludwig (900 – 911) und Konrad I. (911 – 918) noch nicht dazu bereit waren, dies zu tun, bleibt uns nur die Annahme übrig, daß es das bayerische Volk und der dessen Wort haltende Landtag gewesen sind, die Arnulf nicht nur zum Herzoge erkoren, sondern ihm auch die herzogliche Amtsvollmacht oder Bestallung erteilt haben. Es ist derselbe Kreis von Personen, an die Arnulf seine Urkunde adressierte, damit sie das darin gesetzte Recht beachteten und verteidigten. Das aber hätte er ihnen niemals gebieten können, wenn sie sich nicht zu seinen Untertanen und Getreuen gemacht, wenn sie ihm nicht als ihrem gekorenen Haupte Treue und Beistand gelobt hätten: Arnolfus divina ordinante providentia dux Baioariorum et etiam adiacentium regionum omnibus episcopis comitibus et regni huius principibus (man vergleiche hiermit die Adresse des königlichen Mandates von 968, oben: § 429). Ja, sogar die Übernahme der königlichen Devotionsformel könnte hiermit zusammenhängen. Da deren verfassungsmäßige Bedeutung, wie wir wissen (oben: § 340), völlig unbestimmt bleibt, erhebt sich die Frage, ob Arnulf sie nicht etwa gerade deswegen verwandte, weil er sein Amt nicht kraft königlicher, sondern kraft volklicher Bestallung ausübte? Denn eine mit dieser Formel ausgezeichnete Stellung „konnte man doch wohl nur durch Anerkennung von Seiten der Zentralgewalt oder der Stammesgenossen erringen. Da an das erstere kaum zu denken ist, bleibt als Erklärung nur eine Wahl
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durch das bayerische Volk oder, was für diese Zeit dasselbe sagt, durch den bayerischen Adel“ (K. Reindel 1953 S. 79). Und wenn die Wahl eines Bischofs hec nostra vestraque post deum electio genannt werden konnte (oben: § 429), warum dann nicht auch die eines Herzogs? Das Sprichwort vox populi vox dei hat sich zwar, soweit wir wissen, erst seit dem 12. Jahrhundert in aller Welt verbreitet (G. Büchmann 1981 S. 248), aber da bereits Alkuin es gekannt und am Hofe Karls des Großen in Umlauf gesetzt hat (MGH. Epp. 4, 198 n. 132 c. 9), mag es den geistlichen Herzogswählern auch schon vorher zur Verfügung gestanden haben. Die Bestallung durch den eigenen Untertanenverband, durch die „Fürsten dieses Regnums“, aber hatte der Herzog jetzt, wie wir annehmen, mit dem Könige gemein, über dem ja zu keiner Zeit eine höhere Instanz gegeben war, von der er die Amtsvollmacht hätte empfangen können, als Gott und das Werkzeug, dessen sich Gott bediente, um seinen Willen hörbar zu machen. Gemeinsam mit Franken, Sachsen und Alamannen beteiligten sich die Bayern im November 911 zu Forchheim an der Erhebung und Ermächtigung König Konrads I. (Hdb. bay. G. 1981 S. 282 f.) und damit an der Aufgabe, die eigentlich ihren Rang als Regnum begründete und der sie schon häufiger als alle anderen Regna gerechtgeworden waren. Ob sie von dem Könige die Anerkennung ihres Herzogtums erwartet oder gar verlangt haben, wissen wir nicht. Arnulfs Beziehungen zu ihm waren in den beiden folgenden Jahren gut. Nachdem er bereits 909 und 910 erste Siege über die Ungarn erfochten hatte, vereinigte sich Arnulf im Jahre 913 mit den von Erchanger und Berthold geführten Schwaben (oben: § 478), und gemeinsam gewannen die beiden Heere am Inn einen folgenreichen Sieg. War auch die Kraft der Ungarn zum Angriff nicht gebrochen, so war Arnulf doch imstande, mit ihnen einen Vertrag abzuschließen, dem zufolge Bayern, im Gegensatz zu den anderen Regna des Ostfränkischen Reiches, jahrzehntelang von weiteren Einfällen und Beutezügen der Ungarn nahezu verschont blieb. § 488. Mag nun dieser Erfolg zu neuen Forderungen Arnulfs und der Bayern an den König oder zu schwererer Belastung der bayerischen Reichskirchen geführt haben: auf jeden Fall stand Konrad I. seit 914 im Kampf gegen Arnulf, der etliche Jahre im ungarischen Exil verbringen mußte, schließlich sich aber doch im Besitze des bayerischen Herzogtums unanfechtbar behauptete (Hdb. bay. G. 1981 S. 281 f.). Wohl schon im Jahre 917, als die Bayern Konrads Statthalter aus Regensburg vertrieben und Arnulf heimkehren konnte, also in einem gegen Konrads fränkisches Königtum gerichteten Akte, erhoben Ostfranken und Bayern Herzog Arnulf zum Könige. Unter den Ostfranken ist hier der östliche, mainfränkische Dukatsverband des Regnums Franken mit dem Zentrum Bamberg zu verstehen, den die Konradiner im Jahre 906 gewaltsam mit dem westlichen Dukat vereinigt hatten, der sich aber im 10. Jahrhundert mit den neuen Zentren Würzburg und Schweinfurt wieder selbständig zu machen verstand (oben: § 450). Hoc eodem tempore Arnaldus . . . Hungaria rediens honorifice a Bagoariis atque ab orientalibus suscipitur Francis. Neque enim solum suscipitur, sed, ut rex fiat, ab iis vehementer hortatur (Liudprand II 21 S. 47 Z. 11 – 14).
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Diese Nachricht, die dem seit 956 am Hofe König Ottos I. lebenden italienischen Bischof Liudprand vierzig Jahre später aus mündlicher Tradition zugekommen sein muß, wird bestätigt von den Salzburger Annalen, deren Notiz freilich der Kopist des 12. Jahrhunderts, der sie uns überliefert, arg mißverstanden hat, indem er sie auf ein dem 10. Jahrhundert noch gar nicht bekanntes Reich der Deutschen bezog und zum Jahre 920 einordnete, so daß sie in Bezug zu der Erhebung König Heinrichs I. trat (Hdb. bay. G. 1981 S. 284 f. C. Brühl 1995 S. 228 ff. mit Abb. 9, 419 f.). Berichtigt man die irrige Angabe in regno Teutonicorum in der gebotenen Weise, so dürfte die Salzburger Notiz (Ann. Iuvav. a. 920 S. 472 Z. 31) gelautet haben: Bawarii sponte se reddiderunt Arnolfo duci et regnare eum fecerunt in Regno Baiowariorum. Von einer Wiederergebung des Volkes an seinen Herzog kann sinnvollerweise nur zu 917 die Rede sein, als die Bayern die konradinische Herrschaft über ihr Land gebrochen hatten und ihren alten Herzog aufs neue zum Haupte annahmen (zu suscipere = annehmen siehe oben: § 432); der Tod König Konrads dagegen bot ihnen keinen Anlaß, ihre Herzogswahl zu erneuern. Beide Nachrichten, die des Annalisten und die des Bischofs, stimmen nun darin überein, daß die Erhebung Arnulfs zum Könige vom bayerischen Volke betrieben worden war, was nur auf einer Landesversammlung der Großen geschehen sein kann, deren Willen man mit dem des Landes identifizierte. Dort aber ging die Willensbildung sponte, aus eigenem Antrieb nämlich der Großen, und, so könnte man denken, recht unüberlegt vor sich, denn Arnulf hat sich „offenbar nicht entschließen können, den letzten Schritt zu tun“ und den ihm vom Volke angebotenen Königsnamen wirklich anzunehmen. Kein Gerichtsschreiber oder Schriftsteller des 10. Jahrhunderts jedenfalls hat ihn jemals König genannt: „Weit davon entfernt, die Königswürde in Ostfranken angestrebt zu haben, ist Arnulf stets nur dux im regnum Baiowariorum gewesen“ (C. Brühl 1995 S. 421). Um so kräftiger unterstreichen freilich eben deswegen die beiden Nachrichten die Fähigkeit des in seinen Großen versammelten Volkes zu selbständiger politischer Planung und Willensbildung. § 489. Als Heinrich I., vermutlich im Mai 919, von Franken, Sachsen und Schwaben zum Könige erhoben wurde, könnten die Bayern dem sogleich zugestimmt haben unter der Bedingung, daß der Erwählte mit ihnen einen Herrschaftsvertrag abschlösse, wie er es mit den Schwaben getan, doch dürften sie hierfür weitergehende Forderungen erhoben haben als diese, Forderungen, die dem Elekten als so wenig annehmbar erschienen, daß er sich sogar zu kriegerischen Aktionen wider sie veranlaßt sah (J. Fried 1995 S. 290). Erst im Jahre 921 kam es in einer Unterredung vor Regensburg zur friedlichen Verständigung, wobei sich der Herzog wiederum ganz vom Willen seines Landes abhängig zeigte. Er brachte nämlich Heinrichs Angebot zurück an die Seinen, um sich von ihnen zur Annahme ermächtigen zu lassen: Arnaldus vero cum suis haec omnia retulisset, huiusmodi ab eis audivit . . . responsionem . . . Conivens igitur Arnaldus suorum hoc optimo bonoque consilio Heinrici regis miles efficitur et ab eo . . . concessis totius Bagoariae pontificibus honoratur (Liudprand II 23 S. 48 Z. 22 – 24, 49 Z. 7 – 10). Das
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bayerische Heer hatte seinem Herzoge nur eine beschränkte Vollmacht zum Unterhandeln erteilt, ein Mandat ad audiendum et referendum (oben: § 22), sich selbst aber die letzte Entscheidung über den Abschluß des Herrschaftsvertrages und die Annehmung des zum Könige Erwählten vorbehalten. Weder der Chronist noch seine Gewährsleute können in Arnulf einen Selbstherrscher von eigenen oder von Gottes Gnaden mit obrigkeitlichen Befugnissen gesehen haben. Für sie war er der erste und hehrste seines Volkes, dem er nach dessen Willen als Worthalter zu dienen hatte. Das bayerische Volk war es auch, welchem die Rechte zustanden, die König Heinrich I. seinem Herzoge übertrug. Wie aus den bayerischen Zuständen der folgenden Jahre zu erschließen ist, gewann Heinrich mit dem Herrschaftsvertrag von 921 die bayerische Anerkennung seines Königtums, wozu die Befugnis gehörte, die Herzogswahlen zu lenken und den Erwählten zu bestallen; dagegen gewannen die Bayern die Anerkennung des Reiches für die vizeköniglichen Befugnisse, die ihr Herzog im wesentlichen bereits zu König Konrads Zeiten usurpiert hatte. Dazu gehörten die Verfügung über das in Bayern gelegene Königsgut und dessen Nutzung für Zwecke der herzoglichen Regierung (W. Störmer 1992 S. 525 f.), das Recht, die Wahlen der bayerischen Bischöfe zu lenken, die Elekten zu bestallen und das in Bayern gelegene Gut der Reichskirchen zu nutzen, sowie der königliche comitatus, in dem die Bestallung der Grafen und die Nutzung der grafschaftlichen Fisken enthalten waren, um weniger wichtiges, wie die Vollmacht, eigene Münzen zu schlagen (Hdb. bay. G. 1981 S. 286 A. 57), nicht weiter zu erwähnen. Was die Kirchherrschaft anlangt, so nahmen zwar spätere Könige das Recht der Bestallung wieder an sich, es blieb den Herzögen aber doch die Befugnis, den Bischöfen Hof zu gebieten, so daß sich bezüglich der geistlichen Fürsten im 12. Jahrhundert die auffallendste Übereinstimmung zwischen königlichen und herzoglichen Hoftagen ergibt (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 35 f., 46). Ebenso hatten die Markgrafen und Grafen des Herzogs Hof zu suchen. Wie in Schwaben hinderte der herzogliche Komitat den König daran, bayerische Grafschaften an Bistümer zu vergeben (ebd. S. 55 – 90. Hdb. bay. G. 1981 S. 396 A. 44, 397). Kommt in diesen Rechtsverhältnissen die das gesamte Regnum erfassende und zusammenfassende vizekönigliche Stellung des Herzogs zur Geltung, so vermochte der Herzog doch auf die Dauer nicht auch die niedere herzogliche Vollmacht (oben: §§ 442b.c) allein in der Hand zu behalten. Die Großgrafschaften im bayerischen Nordgau (E. von Guttenberg 1927 S. 207 – 209, 236) und in Tirol (MGH. Const. 3, 299 n. 304, 305) und die südöstlichen Markgrafschaften bewahrten sich stets enge Beziehungen zum Könige und konnten sich daher später dem Herzogtum entziehen. In dessen engerem Umkreise aber sicherte ihm das Komitatsrecht den festen Bestand auch über den frühen Verlust der vollen Kirchherrschaft hinweg. § 490. Auf das Jahr 937, in welchem Herzog Arnulf starb, folgte ein halbes Jahrhundert, das durch häufige Konflikte der Herzöge mit den Königen aus sächsi-
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schem Hause und häufige Wechsel auf dem Herzogsstuhle, durch den Rückfall der Bischofsbestallung an das Königtum schon im Jahre 938 und durch wachsenden Einfluß des Königs auf die Erhebung der Herzöge gekennzeichnet ist. Zugrundeliegen dürfte dem eine nachhaltige Uneinigkeit des bayerischen Adels in Sachen der Reichspolitik. Eine reichsfreundliche, von den Bischöfen geförderte Partei könnte einer patriotischen oder liutpoldingischen gegenübergestanden haben, die ihren Bestrebungen erst entsagte, nachdem im Jahre 989 der letzte männliche Nachkomme des Markgrafen Liutpold verstorben war. Die Unfähigkeit der Herzöge, den inneren Zwist zu schlichten, bestärkt uns in der Überzeugung, daß die Adelsversammlung der eigentliche Herr im Lande und der Herzog nicht mehr als deren Sprecher (H.-W. Götz 1981 S. 422) war. Noch von Herzog Arnulf ist anzunehmen, daß er im Jahre 932 zweimal der bayerischen Bischofssynode und Landesversammlung vorsaß, deren Macht sich bereits daraus ergibt, daß an der zweiten dieser beiden Tagfahrten zu Dingolfing nicht weniger als hundertsiebzehn Bischöfe und Grafen nebst anderen Leuten teilnahmen: Anno . . . 932, regnante in Bawaria Arnolfo duce, convenientibus cunctis Bawariis . . . , 117 episcopis videlicet atque comitibus aliisque populis supradicte regionis, . . . (K. Reindel 1953 S. 161 n. 84. Hdb. bay. G. 1981 S. 286 A. 45, 383). Eine im Archiv der Passauer Kirche überlieferte Notiz aus der Zeit zwischen 985 und 991 vermeldet, Herzog Heinrich II. habe in der bayerischen Ostmark eine allgemeine Landes- und Gerichtsversammlung abgehalten, um im Inquisitionsverfahren die Rechte und Pflichten der Reichs- und herzoglichen Kirchen gegenüber dem Markgrafen festzustellen: Heinricus strenuus Baioariorum dux in marca Liutbaldi marchionis, congregatis omnibus tam episcopis quam comitibus primoribusque cum plebibus regni, publico placito habito populum terminalem . . . iurare fecit . . . (C. d. Bohemiae 1, 41 n. 35. K. Lechner 1994 S. 50). Wie üblich, waren die Fürsten des Regnums cum plebibus oder aliis populis, d. h. begleitet von Worthaltern ihrer eigenen Untertanenverbände, erschienen, um jederzeit die Identität ihres Willens mit dem ihres Volkes feststellen zu können, bevor sie ihn in der Landesversammlung mit dem aller anderen übereinstrugen – sofern ihre Begleiter nicht verlangten, daß sie von ihrem Referenzrecht Gebrauch machten, wenn sie sich nicht länger ermächtigt wußten, im Namen ihres Verbandes zu sprechen. In denselben Jahren, als es besonders darauf ankam, die reichspolitischen Irritationen innerhalb des bayerischen Adels zu schlichten und das Land innerlich zu befrieden, hielt der Herzog einmal einen Hof- und Landtag in der Herzogspfalz zu Ranshofen am Inn ab, der erstaunlich strenge gesetzliche Bestimmungen zur Stärkung des Herzogsamtes und des Landfriedens formulierte. Diese Gesetze „sind das erste Beispiel eines rein territorialen Gesetzes in Deutschland; sie erwähnen das Reich überhaupt nicht, behandeln aber die Grafen vollständig als Untergebene des Herzogs“ (H. Mitteis 1953 S. 157). Der in einer Handschrift der Freisinger Kirche überlieferte Text trägt die Überschrift: Haec est constitutio venerabilis ducis Heinrici et omnium primatum tam episcoporum quam comitum (Const. Ransh.). Das Gesetz verpflichtete zunächst jeden freien Mann, der zugewanderte Personen in
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Schutz und Dienst genommen hatte (oben: § 150), diese einem anderen Herrn zurückzugeben, sofern der sie als seinem Dienste entlaufene Hörige erweisen könne. Dann aber erklärte es jeden Ungehorsam gegenüber diesem Gesetz zur Straftat, selbst wenn ein herzoglicher oder bischöflicher Vogt, ein Meier, ein Kleriker oder ein Schöffe (oben: § 318) ihrer bezichtigt werde, und sprach die letzte Entscheidung über dahingehende Klagen dem Herzog zu. Weiter erklärte es bestimmte Handlungen eines Grafen, Niederrichters oder Schöffen, so namentlich die rechtswidrige Beschützung geächteter Personen, zu Amtspflichtverletzungen, deretwegen der Herzog nicht nur Anklagen Dritter wider sie anzunehmen, sondern auch selbst, d. h. von seines Amtes wegen, gegen sie vorzugehen hatte: Quando vero dux comites aut scabinos impetierit . . . (ebd. c. 6). § 491. Es ist richtig, daß das Reich in dem Gesetz nicht erwähnt wird; es setzt Bayerns Zugehörigkeit zu ihm aber insofern voraus, als es den gräflichen entsprechende Amtsvergehen des Herzogs nicht zu erwähnen brauchte: Über diese nämlich konnte nur der König richten, der den Herzog bestallt und bevollmächtigt hatte. Seiner Tendenz nach wird das Gesetz einer Initiative der Bischöfe und Reichsäbte entsprungen sein. Sie waren nicht nur Eigner der meisten Schutzbefohlenen und Hörigen (oben: §§ 123, 135a, 151) und daher von deren Migrationen am meisten betroffen, sondern hatten auch unter den Amtspflichtverletzungen der Grafen, Vögte, Richter und Schöffen besonders zu leiden. Das Gesetz handelt auch lediglich von den Pflichten des Herzogs, nicht aber von seinen Rechten, wie es sich denn auch als ein Gesetz der Fürsten bezeichnet, unter denen der Herzog nicht mehr als den Vorrang des primus inter pares (oben: § 424) genoß. Die herrschende Lehre, nach der es der Herzog war, der die Satzungen unter Mitwirkung des Landtages oder der Großen gegeben hätte (K. G. Hugelmann 1955 S. 111. Hdb. bay. G. 1981 S. 392), dürfte daher schwerlich zutreffen. Die Fürsten aber waren gewiß auch in Ranshofen cum plebibus regni erschienen, da sie nur mit deren Rat und Zustimmung auf dem Land- und Hoftage etwas beschließen konnten und, falls ihnen die Worthalter ihrer Untertanen nicht beipflichteten, gegenüber Herzog und Land von ihrem Referenzrecht (oben: § 22) hätten Gebrauch machen müssen – denn nach den Regeln des Systems identischer Willensbildung erwuchs das Gesetz nur erst durch unwidersprochene Publikation in den Grafschafts- und Vogtgerichten des Landes zur Rechtskraft (oben: §§ 26, 27). Wie hätte es auch gelten können, wenn die Grafschaftsvölker es nicht in das Landrecht, die Hofrechtsverbände ins Hofrecht aufnahmen und wenn die Schöffen dieser Gerichte es nicht auswendig lernten, um es anwenden zu können? Man mißversteht die gesamte Konstitution, wenn man den Herzog oder den Landtag als Gesetzgeber auffaßt, denn wie das System identischer, einhelliger Willensbildung die staatliche Souveränität auf alle Glieder des von unten her aufgebauten Staates verteilte, so auch das Recht zu souveräner Gesetzgebung. Es ist also anachronistisch, die Frage zu stellen, ob mit den comitatus, die dem Herzoge unterstehen sollten, alle oder wenigstens die meisten bayerischen Grafschaften gemeint waren oder bloß einige von ihnen (H. Hoffmann 1990 S. 375). Der bayerische Landtag
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selbst konnte das erst wissen, wenn er erfuhr, welche Grafschaften seine Satzung erfolgreich publiziert hatten, und er wird schwerlich damit gerechnet haben, daß es jemals alle tun würden. Man hat gesagt, das Gesetz biete „für unser Verständnis vom Mittelalter geradezu unglaubliche Bestimmungen“, so daß man, „um Vergleichbares zu finden, . . . auf die Kapitularien der Karolinger zurückgreifen“ müsse (St. Weinfurter 2000 S. 31 f.). Eben dies hat bereits der Diktator getan, der das Gesetz in lat. Sprache formulierte, denn er kannte und verwandte noch einmal das fränkische Rechtswort forbannitus für den Geächteten, das schon im 9. Jahrhundert aus dem allgemeinen Gebrauch verschwunden war (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 609 Anm. 4). Was aber das Gesetz für unser Verständnis unglaublich zu machen droht, das ist nicht sein Inhalt, sondern die moderne Lehre von der Adelsherrschaft, die die Rechtsgeschichte durch Machtgeschichte ersetzt hat und daher weder ihren Gegenstand noch Vorstellungen wie Amtsrecht und Amtspflicht begrifflich zu bestimmen vermag, auf deren Gebrauch sie doch nicht verzichten kann (oben: §§ 335 – 345). Denn was in dem Gesetz beschrieben und vorgeschrieben wird, ist der Begriff vom Fürsten und vom rechenschaftspflichtigen fürstlichen Amte, den die Kirche aus dem spätrömischen Vulgarrecht und danach die Karolinger aus antiker Tradition übernommen hatten und der mit den germanischen Vorstellungen vom öffentlichen Amte (oben: §§ 313, 412) und vom Fürstentum (oben: §§ 405 – 411) weitgehend übereinstimmt. Die Ranshofener Gesetze weisen sowohl den Grafen als auch dem Herzog den Dienst von Amtleuten zu, deren Pflichten das bayerische Volk, als Hüter und Depositar des Volks- und Landrechtes, durch seine Worthalter, die Großen, bestimmte. Wenn die Bischöfe dabei die Initiative ergriffen, so taten sie nichts anderes, als was ihre Vorgänger bereits im Karolingerreiche getan hatten, als sie die Theorie des theokratischen Amtskönigtums entwickelt und gegenüber den Nachfahren Kaiser Karls des Großen mit Erfolg dazu benutzt hatten, die Schranken zu befestigen, die bereits das Volksrecht ihren Königen und allen Verwaltern öffentlicher Ämter gesetzt hatte (F. Kern 1914 S. 153 – 168. Th. Brückner in LMA 9 Sp. 65 f. Unten: §§ 704 – 708). § 492. Auf lange Jahrzehnte bayerischer Uneinigkeit folgte von 995 bis 1096 ein Jahrhundert besonderer Nähe der Bayern zum Reiche und des Einsatzes ihrer Kräfte in dessen Dienst (Hdb. bay. G. 1981 S. 302 f., 390, 396). Nachdem die Könige aus dem sächsischen Hause bei der Ausübung der königlichen Gewalt in Bayern dieselben Beschränkungen eingehalten hatten wie in Schwaben (oben: § 481), leitete die Reichsregierung während der Minderjährigkeit König Ottos III. einen Wandel ihres Verhältnisses zu den beiden südlichen Herzogtümern ein, der darauf zielte, in diesen beiden, vorher abseits gelegenen Herzogtümern die königliche Herrschaft ebenso stark zu machen, wie sie es bereits seit langem in den Regna der Franken und der Sachsen war. Die Kaiser Otto III., Heinrich II., dieser von 995 bis 1004 und von 1009 bis 1018 zugleich Herzog der Bayern, und Konrad II. setzten
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diese Politik fort, indem sie durch planmäßige Stärkung der Reichskirchen die wirtschaftliche Grundlage für regelmäßige Aufenthalte des Hoflagers sowohl in Schwaben wie in Bayern schufen (O. Engels 1991 S. 488 – 490, nach H. Keller 1982. W. Störmer 1992 S. 518 – 522). „Das entscheidende Movens“ für diesen verfassungsgeschichtlich höchst folgenreichen politischen Umschwung dürfte, so ist neuerdings vermutet worden, weniger in den Vollmachten und in dem Machtwillen der Könige als in dem Drängen des schwäbischen und bayerischen Adels auf Mitsprache bei der Regierung ihrer Regna zu suchen sein, einem Drange, der so stark war, daß er „sich im 11. Jahrhundert nicht mehr auf ein früheres Maß zurückstufen ließ“ und das Zugreifen des Königtums in der Hauptsache als bloße Reaktion erscheinen läßt (O. Engels 1991 S. 492. Oben: § 448). Der „Druck der Großen“ hätte „einen Machtverfall des Herzogtums“ eingeleitet, der „zunächst einer strafferen Bindung des Herzogtums an den Herrscher zugutekam“ (ebd. S. 498), weil er „der Königsgewalt eine Handhabe (gab), ihren direkten Bezug zur Adelswelt im zweiten Glied zu reaktivieren“ (ebd. S. 504). Denn der Adel, der das Wort der bayerischen Völker hielt, bildete nicht nur den Untertanenverband des eigenen Herzogtums oder Regnums, sondern auch einen Teil des ihn umfassenden königlichen Untertanenverbandes, und wenn er dem Herzogsdienste die Reichsunmittelbarkeit vorzog, so hatte er auch die Mittel, um seinen Willen durchzusetzen, war er doch sowohl Herzogs- als auch Königswähler, und es kann nur mit seinem Willen geschehen sein, daß in dem erwähnten Jahrhundert keines der bayerischen Grafen- und Fürstenhäuser einen Vorrang unter seinesgleichen zu gewinnen vermochte, der seine Söhne vor anderen für das Herzogsamt qualifiziert hätte, sondern daß „dreiundfünfzig Jahre lang die deutschen Könige, ihre Frauen und Kinder das bayerische Herzogtum selbst in der Hand behielten“ (Hdb. bay. G. 1981 S. 302, 313 A. 82). Man hat daher wohl zu Recht von besonders großer Bedeutung des bayerischen Landtags in dieser Zeit gesprochen (K. G. Hugelmann 1955 S. 109. Hdb. bay. G. 1981 S. 399), den einzuberufen gewiß nicht allein im Belieben des Herzogs stand. Es könnte ein Erbe dieses besonderen Jahrhunderts bayerisch-deutscher Verfassungsgeschichte gewesen sein, daß es dort einzelne, erst auf spät erobertem Boden gegründete Grafschaften gab, die sich bis zum Ende des Mittelalters die Reichsunmittelbarkeit bewahrten: Sie lagen zwar im Regnum Bayern und in dem daraus hervorgegangenen Lande Österreich, gehörten aber nicht zu den seit 1156 geschiedenen Territorien der Herzöge von Bayern und Österreich. Daher hat man von den bescheidenen Befugnissen, die der Herzog (an Königs statt) im ganzen Lande ausüben konnte, die sehr viel dichteren und weiterreichenden zu unterscheiden, die ihm als Landesherrn nur in seinem Territorium zustanden (O. Brunner 1943 S. 196, 201 = 1965 S. 171, 176. E. Klebel 1957 S. 170). Noch im 13. Jahrhundert kannte man den Ausdruck Regnum Bawariae, als freilich völlig antiquierten und praktisch nicht mehr brauchbaren Begriff (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 90), und erst 1256 wurde der ihm zugeordnete herzogliche Landtag zum letzten Male abgehalten (ebd. S. 34 – 40. E. Klebel 1957 S. 169).
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§§ 493 – 506. Friesland § 493. Mehrfach hatten sich Hinweise darauf ergeben, daß die Landtage der Teilreichsvölker bzw. der niederen Dukate, die sich innerhalb derselben bildeten, auch auf die Wahrung der Rechtseinheit innerhalb ihrer Untertanenverbände Bedacht nahmen (oben: §§ 326, 466, 472, 475, 484). Das Fränkische Reich war von jeher insofern ein Bundesstaat gewesen, als es den Völkern, die es in sich aufnahm, die innere Rechtsordnung bewahrte, die sie hergebracht hatten, und jedem freien Manne gestattete, nach dem Rechte zu leben und gerichtet zu werden, das ihm von seinen Vorfahren überkommen war. König Karl hatte dieses Personalitätsprinzip als Grundlage der Reichsrechtsordnung ausdrücklich in Schutz genommen und allen Amtleuten und Freien befohlen, dafür zu sorgen, daß sich jedermann sein Recht, suam legem, vollständig bewahren könne (MGH. Capit. 1, 66 n. 25 c. 5. K. G. Hugelmann 1955 S. 25). Es war dies eine der Bedingungen des Herrschaftsvertrages, die der König erfüllen mußte, wenn er sich seine Untertanen zur Treue verpflichten wollte (oben: § 285). Königs- und Privaturkunden des 9. bis 12. Jahrhunderts berichten denn auch mehrfach davon, daß Grundstücksgeschäfte gemäß dem Volksrechte der beteiligten Personen abgeschlossen wurden (K. G. Hugelmann 1955 S. 26, 51 – 53). Den im Mai 895 zu Tribur zum Reichstag und Konzil versammelten Bischöfen und Großen des Ostfränkischen Reiches war bekannt geworden, daß ein fränkischer Edeling und eine sächsische Frau ihre bekinderte Ehe nach fünfzehn Jahren aufgelöst hatten, weil sie zwar mit Rat der Verwandten beider Seiten und insofern rechtmäßig, aber allein nach dem sächsischen Rechte der Ehefrau abgeschlossen war und daher für den Ehemann als Franken nicht bindend sei. Die Versammlung verurteilte diese Einrede und erklärte eine Ehe auch dann für gültig, wenn sie nur nach dem Volksrechte der Ehefrau geschlossen worden sei, obwohl die Volksrechte zuweilen sehr verschieden verfaßt seien (MGH. Capit. 2, 196 n. 252, iudicia c. 4, S. 207, und decreta c. 39, S. 235 f.). Wegen dieser Verschiedenheiten entwickelten die Gerichte Kollisionsnormen, die zur Anwendung kamen, wenn in einem Rechtsstreit über das Zusammentreffen widersprüchlicher Volksrechtssätze zu befinden war (H. Brunner 1906 S. 385 ff. K. G. Hugelmann 1955 S. 41 f.). Auch im Ostfränkisch-deutschen Reiche gehörte es zu den im Herrschaftsvertrage festgelegten Amtspflichten des Königs, den Völkern der vier Regna ihre Volksrechte zu bewahren. Der von den Franken erhobene König Konrad II. mußte den Sachsen ihr Volksrecht bestätigen, bevor auch sie ihn zum Könige annahmen; die Sachsen wollten es so, obwohl der fränkische König und sein schwäbischer Biograph dieses Recht für übermäßig grausam, legem crudelissimam, hielten (Wipo, Gesta Ch. c. VI S. 29 Z. 10). Es mag sich dies darauf beziehen, daß das sächsische Recht die besondere Unfreiheit der Liten beibehielt, die links des Rheins schon im 9. Jahrhundert weitgehend verschwunden war (D. Hägermann / A. Hedwig in LMA 5 Sp. 2017), oder darauf, daß die Sachsen an veraltenden Institutionen wie der Kampfklage oder der Prozeßgefahr zähe festhielten, die den Beweispflichtigen
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schon bei bloßen Verstößen gegen verfahrensrechtliche Formvorschriften mit dem Verlust seines Rechtes bedrohte (G. Sello 1886 S. 267 f.). Dies waren Rechtsnormen, die, wie das Personalitätsprinzip selbst, dem altfreien Adel wichtig sein mochten, da er häufig außerhalb des Regnums, dessen Geburtsrecht er besaß, Güter und Lehen erwarb und Ehebündnisse einging, die aber den Neufreien, namentlich den Marktsiedlern und Gewerbeleuten, lästig und nachteilig waren und daher überwunden wurden, sobald Neufreie die Mehrheiten der Gerichtsvölker bildeten und ihre Interessen auch in der Rechtsprechung durchsetzen konnten. So erkennt zwar noch der Sachsenspiegel die Geltung der vier großen Volksrechte und das Personalitätsprinzip als deren Grundregel an, aber er schränkt es doch bereits durch das Territorialprinzip ein, dem zufolge jedes Gericht, welchen Rechtes auch immer die Parteien sein mochten, nach dem Rechte seines eigenen Landes urteilte, dessen Depositare nun die neufreien Landes- und Stadtgemeinden bildeten. Ihnen aber gehörte die Zunkunft: Im 14. Jahrhundert hatten die Völker der alten Regna ihre Bedeutung als personale Rechtsverbände endgültig verloren (K. G. Hugelmann 1955 S. 14, 35, 41, 46). § 494. Es ist die Frage, wie die Volksrechte und die Gebiete, in denen sie jedes Bewohners persönliches Recht bildeten, entstanden sein mögen (oben: § 203). Früher erhielt man darauf zur Antwort, „bei der Entstehung der einzelnen Stämme (habe sich) im Kleinen ein Geheimnis, wie in der Volkwerdung,“ ausgewirkt, daher es „nicht allzu gewagt (sei), in den Besonderungen der Stammesrechte . . . u. a. auch den Ausfluß bestimmter Stammeseigentümlichkeiten oder Stammescharaktere zu erblicken“ (K. G. Hugelmann 1955 S. 62). Aber unsere Neugier geht weiter. Wie dort, wo angeblich Gott die Mächtigen aus seiner Gnade regieren ließ (oben: §§ 340, 487), oder wo sich „bodenständige Elemente“ äußerten (oben: § 445), wüßten wir gerne, wer imstande gewesen sein könnte, diese Eigentümlichkeiten und Charaktere zum Ausfließen zu bringen: Waren es der König oder das Volk oder dessen Fürsten? Wer oder was hinderte die Grafschafts- und Hofrechtsgemeinden, deren Sühnemittler und Schöffen wir als die wirklichen Bewahrer der Volksrechte kennengelernt haben, daran, sich in ihrer eigenen Rechtsüberlieferung zu isolieren und in deren Fortbildung von einander immer weiter zu entfernen? Zwar wissen wir nichts darüber, wie weit eine solche Besonderung, vielleicht namentlich auf dem Gebiete des Privatrechts, etwa doch eingetreten ist oder ihr entgegen sich die Volksrechte jedes Regnums die innere Einheit bewahrt haben (K. G. Hugelmann 1955 S. 62 – 66), aber was die Bewahrung der Einheit anlangt, so kann die Frage wohl nur die sein: ob sie allein dem privaten Rechtsverkehr derjenigen (mobilen) Individuen zu verdanken ist, die außerhalb des eigenen Landes mit Genossen fremder Rechte Verträge über Ehe und Brautschatz, Vieh- und Landleihe, Barkauf und Borgkauf, Erfüllung des Beweisurteils (oben: §§ 67 – 69), Bußen und Wergelder usw. abschlossen, oder ob es darüber hinaus der Unterstützung durch staatliche Einrichtungen oberhalb der Dinggemeinden, also etwa durch herzogliche und königliche Gerichte oder Landes- und Reichsversammlungen, be-
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durfte, um divergierende Rechtsprechung und Rechtsbildung in den lokalen Gerichten hintanzuhalten. Pflegten sich rechtfindende Schöffen und gerichtshaltende (Gau-)Grafen und Vögte auf Landes- und Reichsversammlungen, sei es gerichtlich oder außergerichtlich, wie im Jahre 895 zu Tribur geschehen, auch über Privatrechtsfragen zu verständigen (oben: § 326)? Daß dies letztere geschah, dafür sprechen nicht nur die erwähnten Hinweise auf Beschäftigung von Landtagen der Regna und Dukate mit Rechtsfragen, sondern auch andere Nachrichten. Wie einst, in uralten Zeiten, Reichsversammlungen die Rechte der Burgunder, der Salfranken, der Angelsachsen zusammengetragen hatten (E. Pitz 2001a S. 193 f., 197, 369 f.), so ließ sich Kaiser Karl der Große auf Reichstagen zu Aachen von Worthaltern der Sachsen das sächsische Recht weisen und es in bestimmten Punkten dem fränkischen angleichen (C. von Schwerin 21941 S. 56. Oben: § 457). Schon vorher hatte der König, als die Kirche von Trier vor ihm Klage gegen die Söhne Lantberts wegen Herausgabe des Klosters Mettlach erhob, die Getreuen, die ihm als Urteiler im Hofgericht dienten, mit sämtlichen Schöffen des Moseldukates (oben: § 449) zu einer Gerichtsgenossenschaft vereinigt, die einmütig das Urteil fand: nos una cum fidelibus nostris totos scabinos de ducatu Moslinse coniunximus, qui unanimiter iudicaverunt (MGH. DKar. 148 S. 201 Z. 26 – 27. Hübner, Gerichtsurkunden 1891 S. 21 n. 180). Das Diplom nennt namentlich als Urteiler drei Bischöfe, elf Grafen und vierundvierzig Schöffen; der König hatte also die Rechtskunde mehrerer Grafschaftsgemeinden zusammengeführt, um das Recht der Trierer Kirche zu sichern, und dazu hatte es einer Dukatsversammlung bedurft, die er mit einem Hoftage zusammengelegt hatte. Waren gerichtliche Entscheidungen durch König und Reich zu treffen, so mußte der König stets bei Berufung der Reichs- oder Hofversammlung die Worthalter der Regna und Dukate berücksichtigen, weil das Königsgericht nie nach einem allgemeinen Reichsrechte, sondern stets nach den Volks- und Landrechten der Beklagten zu urteilen hatte und entsprechend mit Rechtskundigen zu besetzen war. Davon ist in den oben (§ 442a) erwähnten Königsurkunden von 895 und 903 die Rede. Als König Karl III. von Westfranken im Jahre 916 der Abtei Prüm das von mächtigen Großen okkupierte Kloster Süsteren zurückgeben lassen wollte, berief er eine allgemeine Versammlung der Großen des Regnums Lothringen in die Pfalz Herstall ein, die gleichzeitig Gericht und Adelskonvent war und durch gemeinsames Urteil die Restitution für rechtmäßig erklärte: habito generali placito apud Haristallium in conventu totius regni tam episcoporum quam comitum et procerum ac iudicum diversarum potestatum omniumque conventu nobilium cunctorum fidelium nostrorum . . . generali iudicio decretum et terminatum est . . . (Actes de Charles III p. 187 n. 84. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 183 – 185). Als anwesende Getreue werden namentlich genannt zwei Erzbischöfe, zwei Bischöfe, ein Pfalzgraf, elf Grafen und neunzehn unbetitelte Edle, die wir als Große und Urteilsfinder verschiedener Dinggemeinden (potestates, oben: § 364) ansehen dürfen. Das Urteil verbürgte dem Kloster Prüm die Einheitlichkeit der Rechtsprechung aller lotharingischen öffentlichen Gerichte über den Besitz des Klosters Süsteren.
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§ 495. Wären wir nach all dem berechtigt, in der Bewahrung der Einheit ihrer Volksrechte eine Aufgabe der karolingischen Regna zu erblicken, so könnte uns die ansonsten in vielen Hinsichten absonderliche Geschichte Frieslands sogar dazu bewegen, dieser Aufgabe erhebliche verfassungsgeschichtliche Bedeutung beizulegen. Denn da für das 9. bis 12. Jahrhundert eine Land und Volk der Friesen zusammenfassende politische Ordnung, ein Reich oder eine Verfassung, schlechterdings nicht zu erkennen ist, aber doch auch in diesen Zeiten „stammeseigene Integrationskräfte“ (H. Schmidt 2001a S. 77) vorauszusetzen sind, so fragt es sich, welchen Personen wir diese Kräfte wohl am ehesten zuschreiben dürfen, und weiter, da wir von Fürsten der Friesen nichts hören, obwohl doch alle Annalistik und Chronistik der Zeit auf Taten von Fürsten fixiert war: ob wir diese Personen nicht am ehesten in einer allfriesischen Volksversammlung zu suchen hätten? Eine solche Versammlung dürfen wir gewiß mit dem altsächsischen Allthing vergleichen, mangelt es doch auch sonst nicht an Übereinstimmungen zwischen friesischem und sächsischem Rechte, die sich nur aus einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden gemeinsamen Sprach- und Rechtsgeschichte dieser Völker erklären lassen (R. His 1931 S. 109, 116. N. Arhammer in LMA 4 Sp. 977. Oben: §§ 84, 85). Von der Existenz eines allen Friesen gemeinsamen Rechtes erfahren wir aus einer Sammlung von Rechtssätzen, die zur Vorbereitung einer amtlichen Rechtsaufzeichnung für den Aachener Reichstag von 802 / 803 angefertigt worden sein dürfte (E. Mühlbacher 1896 S. 212. R. His 1931 S. 108. R. Schmidt-Wiegand in LMA 5 Sp. 1929). Sie besteht aus einem Hauptteil, dem in elf Titeln die Weistümer zweier Rechtskundiger namens Wiemar und Saxmund beigefügt sind, und behandelt im wesentlichen das Strafrecht nebst Wer- und Bußgeldsätzen. Der so vereinigte Stoff betraf das Recht des mittleren Landesteils an der Nordseeküste zwischen den Flüssen Flie (lat. Flevum, im 13. Jahrhundert zur Zuiderzee ausgeweitet) und Lauwers. Hinzu kamen Sonderrechtssätze der Westfriesen aus dem Lande zwischen Sinkfal und Flie und der Ostfriesen, die zwischen Lauwers und Weser saßen. Insgesamt ließ die Aufzeichnung das friesische Recht also vom Sinkfal, dem kleinen Meerbusen, an dessen Überbleibsel, dem Swijn, später die Handelsstadt Brügge entstand, bis zur Mündung der Weser gelten und somit in drei Landesteilen, die man mit den sächsischen Heerschaften vergleichen mag, denn wie diese waren sie ihrerseits gegliedert in Gaue, deren Namen uns bereits Texte der Karolingerzeit nennen. Dies alles deutet auf eine Volksgemeinde hin, die sich aus zahlreichen Gauverbänden und drei Landesgemeinden zusammensetzte und in Erscheinung trat, so oft sich deren Sendeboten zu einem Allthing versammelten. Wie überall im Reiche, so ließen die Kaiser Karl und Ludwig auch in Friesland die königliche Gewalt in den Gaugemeinden durch Grafen und Schultheißen und in dem gesamten, 839 als Dukat bezeichneten Gebiet durch einen Mark- oder Großgrafen vertreten. Aber bevor noch die fränkische Staats- und Grafschaftsverfassung im Lande wirklich Fuß fassen konnte, wurde sie von den Normannen, die Friesland von den dreißiger Jahren bis zum Ende des 9. Jahrhunderts ausplünderten und beherrschten, wieder vernichtet (oben: § 451). Auf sich selbst gestellt, weil die
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Hilfe des Reiches ausblieb, verfaßten die Friesen ihre Gau- und Landesgemeinden nach ihrer Weise, um sich der Feinde erwehren zu können. Da hierzu jeder Mann gebraucht wurde, lösten sich die ständischen Gegensätze zugunsten einer allgemeinen persönlichen Freiheit auf. Nachdem Gerulf und andere Friesen im Jahre 885 den normannischen Herzog Gottfried erschlagen hatten, der auch als König und Inhaber des regnum Fresonum bezeichnet wird (Ann. Vedast. a. 882, 885, S. 51 Z. 23, 57 Z. 3 – 5), geschah es nie wieder, daß die Friesen einen Herzog über sich erhoben oder nach königlicher Designation zum Haupte annahmen (oben: § 452). Obwohl noch zu 882 ein lothringischer Chronist die Friesen unter den Regna des Fränkischen Reiches aufzählt (Regino S. 119. Oben: § 449), haben sich die Friesen, vielleicht ausgenommen im Jahre 911, wohl nie mehr an einer Königswahl beteiligt. Gleichgültig und formlos nahmen sie jeden von den anderen Regna erhobenen Mann zum Könige an, da er in ihrem Lande keinen Hoftag zu halten brauchte (oben: §§ 442a.b) und sie weiter nichts von ihm erwarteten, als daß er darauf verzichtete, sie zu regieren. Die durch die Randlage an der nördlichen Küste des Reiches begünstigte Absonderung der Friesen von Lothringen und Sachsen geht so weit, daß es nur eine einzige Urkunde (Lac. UB 1, 30 n. 65 vom Jahre 855) gibt, die die Anwendung friesischen Rechtes auf ein Grundstücksgeschäft in Begegnung mit und Entgegensetzung zu einem anderen Stammesrechte bezeugt (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 162. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 37 A. 2. K. G. Hugelmann 1955 S. 162). Außerhalb Frieslands war seither von dem Regnum und Volke und seinem eigentümlichen Rechte nichts mehr bekannt. § 496. Ebensowenig wünschten sich die Friesen die Wiederherstellung der fränkischen Grafschaftsverfassung, und genauso wenig wie im sächsischen Tieflande gab es in Friesland Gerichtsgemeinden, die die fränkische Schöffenverfassung übernommen hätten (oben: § 318. R. His 1931 S. 111 f.). Nur an der Rheinmündung gelang es einem friesischen Geschlecht, als Inhaber gräflicher Gewalt allgemein anerkannt zu werden, seit als erster der Herzogsmörder Gerulf gegen Ende des 9. Jahrhunderts in der Umgebung von Leyden und im Kennemerland als Graf hervorgetreten war. Gerulfs Nachkommen haben bis ins 11. Jahrhundert als comites Fresonum, seither als Grafen von Holland bis zum Erlöschen des Geschlechtes im Jahre 1299 regiert (D. P. Blok in LMA 5 Sp. 90). Außerhalb Hollands gibt es keinen einzigen friesischen Gau, in dem uns eine einheimische Grafenfamilie genannt würde. Die mittelfriesische Grafschaft zwischen Flie und Lauwers wurde noch im Jahre 1156 vom Reiche als comitatus Fresonum anerkannt, in dem grundsätzlich der König den Gau- oder Dinggrafen zu bestallen hatte und niemand es wagen konnte, das Indigenats- und Annehmungsrecht des Grafschaftsvolkes in Frage zu stellen (oben: § 323c). Anstatt der Grafen führten nun überall Schulzen den Vorsitz im Gericht. Nichts ist darüber bekannt, ob ihr Amt auf das einst fränkischer Schultheißen zurückgeht (H. Schmidt 1975 S. 20 f.), ob sie zunächst Niederrichter waren, denen erst im
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Laufe der Zeit und in derselben Weise wie anderswo (oben: §§ 153, 283, 321) die Kompetenzen des Hochrichters zuwuchsen, ob sie von der Gerichtsgemeinde gekoren und ermächtigt wurden und ob sie darüber hinaus einer königlichen Bestallung bedurften. Wir werden versuchen müssen, diese Lücken in unserem Wissen durch Hypothesen zu schließen (unten: § 502). Nach Reichsrecht freilich bestanden die friesischen Grafschaften durchaus fort, und man hat angenommen, daß der westfränkische König Karl III., der von 911 bis 923 auch Herr des Regnums Lotharingien war, der bischöflichen Kirche zu Utrecht den königlichen comitatus und somit einen niederen Dukat in Friesland übertragen habe (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 220 A. 2). Sicher ist aber nur erst, daß die Könige aus salischem Hause seit 1024 das Bistum Utrecht mit Grafschaften ausgestattet haben, daß sich seither sächsische Großgrafen wie die Brunonen, die Billunger, die von Stade und die von Werl entweder vom Könige oder vom Bischof zu Grafen friesischer Gaue ernennen ließen und daß seit der Mitte des 11. Jahrhunderts Erzbischof Adalbert von Bremen danach trachtete, diese Grafschaften zu erwerben (Adam III 28, 46, 48. MGH. DH. IV. 18. H. Schmidt 1975 S. 17 – 19. Oben: § 469). Als seit 1040 die ersten Münzstätten in Friesland tätig wurden, geschah dies in den Gauen zwischen Flie und Lauwers im Namen brunonischer Grafen, zu Groningen im Namen des Bischofs Bernold von Utrecht (1027 – 54), zu Emden im Namen Graf Hermanns von Calvelage und zu Jever im Namen billungischer Grafen (B. H. Slicher van Bath 1965 S. 120). Es wäre also denkbar, daß die friesischen Schulzen von diesen Grafen oder von dem Bischof zu Utrecht eine Bestallung erhielten, die sie dazu berechtigte, die königliche Banngewalt auszuüben, Gericht zu halten, zum Heere aufzubieten und das Königsgut zu verwalten (H. Schmidt 1975 S. 20 – 23). Wenn aber die auswärtigen Grafen ins Land kommen wollten, um sich dort zu Fürsten oder Landesherren annehmen zu lassen und diese Rechte selbst zu handhaben, dann pflegten die Friesen ihnen den Gehorsam zu verweigern und sie mit Waffengewalt zu vertreiben (ebd. S. 25. H. Aubin 1950 S. 382. Oben: § 452). Nicht viel anders werden sie die Bischöfe von Utrecht und Münster behandelt haben, wenn sie zu ihnen kamen, um ihnen die Reichskirchenverfassung zu oktroyieren. Dafür spricht die in der abendländischen Kirche wohl einzigartige Einrichtung der weltlichen Dekane oder Pröpste, die sich in den dreizehn friesischen Dekanaten der Diözese Münster bis zum Ende des Mittelalters behauptete: Laien waren es, die hier über die Kirchenzucht wachten, das Sendgericht hegten, die zugehörigen kirchlichen Bußen und Gefälle einzogen und die Pfarrer bestallten, deren das Volk bedurfte, um in den Genuß der kirchlichen Sakramente zu kommen (W. Ebel 1964 S. 311). Im späten Mittelalter waren die Dekanate oder Propsteien zu Pertinenzen bestimmter Ethelings-Herde oder vornehmer Häuser geworden, deren Inhaber sich nicht zuletzt mit ihrer Hilfe zur Häuptlingsherrschaft über ihre Gemeinden aufschwangen, doch werden es am Anfang gewiß Gemeindeämter gewesen sein, deren Verwalter vom Volke gekoren und ermächtigt wurden.
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§ 497. Es hatte sich nämlich bei allen Friesen ein Bewußtsein nicht nur persönlicher, sondern auch gemeinsamer Freiheit und einer von fürstlicher Herrschaft freien Landesverfassung herausgebildet (H. von Lengen in LMA 4 Sp. 977), kraft deren sie sich reichsunmittelbar und nur dem Könige selbst, wenn er denn auf friesischer Erde weilen und dort nach friesischer Art regieren würde, oder seinem bevollmächtigten Boten, wenn sie denn eines solchen bedurften und den König darum baten, ihn zu entsenden, zum Gehorsam verpflichtet wußten. An dieser Rechtsauffassung gemessen, stellten sich den Friesen alle königlichen Bestallungen auswärtiger Grafen allein schon deswegen, weil sie sie weder erbeten noch an der Kur der Bestallten mitgewirkt hatten, als erschlichen (unten: §§ 784, 788b), als vom Kaiser in Unkenntnis der Rechtslage ausgesprochen und damit als nichtig dar. Den ältesten uns überlieferten Ausdruck finden diese gemeinfriesischen Rechtsauffassungen in dem Willkürrecht der Siebzehn Küren, das uns zwar nur in spätmittelalterlichen Handschriften vorliegt, aber aus dem hohen Mittelalter stammt und vielleicht noch im 11. Jahrhundert aufgezeichnet worden ist (Altmann / Bernheim 2. Aufl. S. 274 n. 124, 3. Aufl. S. 306 n. 149. G. Köbler in LMA 4 Sp. 979). Der Text trägt weder eine Überschrift, noch besitzt er eine Einleitung. Er besteht lediglich aus siebzehn Absätzen, die sich in genormter Ausdrucksweise als Bitten oder Küren und zugleich als Zusagen König Karls an alle Friesen bezeichnen: Hec est prima petitio et Karoli regis concessio omnibus Fresonibus quod . . . , Septima decima electio est et regis Karoli concessio, quod singuli Fresones . . . Nichts anderes kann gemeint sein, wenn die übrigen Absätze lediglich mit den Worten Secunda petitio, Tertia petitio usw. eröffnet werden. Obwohl der Text es nicht selbst sagt, daß alle Friesen auch die Petenten waren, welche dem Könige ihre Willküren vorgetragen hatten, damit er sie bestätige, so ergibt sich dies doch mit Gewißheit daraus, daß die königlichen Zusagen nur sie als Begünstigte erwähnen. Omnes Frisones: das war, den Küren zufolge, zunächst eine Personenvielheit, eine Menge von Einzelnen oder singuli (Küre 3, privatus: Küre 8), die jeder für sich, wenn natürlich auch gemeinsam mit allen anderen, den König anriefen und von ihm die geforderte Zusage erhielten, jedem Friesen eine dreifach gesicherte persönliche Freiheit zu gewähren: Jeder einzelne sollte nämlich erstens sein Eigentum, seine Güter, seine sedes oder sein ethel, an dessen Besitz seine Edelfreiheit hing (Küren 7 und 14. W. Krogmann 1954 S. 143 f. Oben: §§ 117, 118), unangefochten nutzen und bewohnen dürfen, solange er sein Recht nicht gerichtlich und von Rechts wegen verlöre (Küren 1, 3, 4, 7). Als Friesen dachte man sich also speziell den auf ererbtem Grunde und Boden gesessenen und deswegen persönlich freien Hausherrn (oben: § 96); über die landlosen Leute, die es zweifellos auch gab, die aber in der Gemeinde der Friesen minder berechtigt waren, spricht der Text nicht. Zweitens konnte jeder Friese, wenn er sich strafbar machte, seine Schuld mit Geld statt mit Leibes- oder Lebensstrafe sühnen und büßen, und nur dann, wenn er kein Geld besaß, sollte er den eigenen Hals verlieren (Küren 4, 9, 15, 16). Drittens brauchte er Erbgut, Freiheit und Unschuld vor Gericht nicht im
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Zweikampf zu beweisen, stets stand ihm der Beweis mit Eideshelfern offen (Küren 5, 6, 14, 17), und zwar auch gegenüber dem Könige (Küre 8. Zu nimis contendat = Zweikampf halten: Ph. Heck 1931 S. 22, 53 A. 2, 55 – 57). § 498. Diese Vielheit einzelner, persönlich freier Friesen bildete nun allerdings auch eine Verbandseinheit oder Verbandsperson, deren Verfassung die Küren jedoch weitgehend im Dunkeln lassen. Wir erfahren lediglich, daß ein gemeinsames Recht alle Friesen einte, denn sie hielten ein jeder seine Güter secundum ius vulgi et omnium Frisonum oder secundum omnium Frisonum iura (Küren 3, 14). Merkwürdig ist der Begriff ius vulgi, da er der lat. Rechtssprache sonst unbekannt ist, bezeichnete lat. vulgus doch vielmehr gerade das unverfaßte und ungeordnete Volk, die Bevölkerung als Volksmenge oder Volkshaufen (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 632. H. Götz, Wb. 1999 S. 721). Der Verfasser unseres Textes hat wahrscheinlich einem Gesetzesvortrag in friesischer Sprache zugehört und das Gehörte unverzüglich Wort für Wort ins Lat. übersetzt und protokollierend niedergeschrieben (Ph. Heck 1931 S. 33 – 50. Oben: § 52). Wenn er aber an dieser Stelle ein friesisches „Recht der Leute, nämlich aller Friesen“ gehört hat, so müssen wir annehmen, daß die Friesen selber für ihre Einung oder Gesamtgemeinde noch keinen anderen (feststehenden) Begriff oder Namen hatten, als „alle Friesen“, daß sie sich ihre Einheit weder als provincia oder gens noch als patria oder terra, geschweige denn als regnum oder ducatus vorstellten. Nur einmal hatte der Übersetzer Anlaß, das lat. Wort patria zu verwenden. Er hörte nämlich, daß die Friesen ihr Heer nicht weiter als bis an die Weser nach Osten, bis zum Flie nach Westen und einen Tagesmarsch nach Süden zu führen brauchten, damit sie ihr Land, eorum patriam, vor der Meeresflut und dem heidnischen (Schiffs-)Heere beschützen könnten (Küre 10). Es ist aber keineswegs sicher, daß diese patria das gesamte Land zwischen dem Flie und der Weser umfaßte, dessen Grenzen jeweils nur wenige Friesen in einem Tage erreichen konnten, daß nicht vielmehr die jeweilige patria jedes Einzelnen gemeint war, also jeweils eine aus der Vielzahl von Gau- oder Landes- oder Teilgemeinden, aus denen sich der Verband aller Friesen zusammensetzte. Nicht dieser Allverband, sondern nur die partikularen Landesgemeinden jedenfalls hießen populus oder (vielleicht ursprünglich als Kirchengemeinden?) plebs, so wie anderswo im Reiche die lat. Rechtssprache unter einem populus die Gaugenossen, pagenses, oder Grafschaftsleute verstand (oben: §§ 275a.b). Daher konnte der Gesetzessprecher von einem gesamtfriesischen Beschlusse sagen, die Völker hätten ihn gekoren: elegerunt populi (Küre 2). Dagegen ist dann jedoch alles, was die Siebzehn Küren über den einzelnen populus, die einzelne plebs aussagen, auf die Teilgemeinden zu beziehen. So kann es nicht die Aufgabe eines friesischen Allthings, sondern nur die der einzelnen Gerichtsgemeinden gewesen sein, den Asega zu wählen, den „Recht-Sager“, durch dessen Mund die Gemeinde dem Gerichtshalter das Urteil wies (Ph. Heck 1931 S. 27. G. Köbler in LMA 1 Sp. 1104. J. Weitzel 1985 S. 375 Anm., 609, 612 f.). Dies zu tun aber war er erst dann befugt,
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wenn das Volk ihn erwählt und er selbst den Amtseid auf den Kaiser abgelegt hatte, nisi plebs elegerit illum, et ipse coram imperatore Romano iuraverit (Küre 3). Auch bedurfte, wer fremdes Land in Besitz nehmen wollte, dazu der Erlaubnis nicht nur des Eigentümers, sondern auch des Asega und des (Gerichts-)Volkes, auctoritate asega et populi licentia (Küre 4). Von der Volksversammlung, dem conventus plebis, erfahren wir, daß sie einen hoch verpönten Sonderfrieden genoß gleich der Kirche und dem Hause, dem Heer und dem Markt (Küren 12, 17 / 3). Wenn sich daneben die weniger streng geschützte pax populi findet (Küre 13), so wird man dabei wiederum eher an den Frieden der Land- und Gerichtsgemeinde, nämlich des engeren, Kirche, Haus und Markt zusammenfassenden Verbandes, als an einen allgemeinen Frieden für ganz Friesland und alle Friesen denken. Plebs heißt ferner das Gerichtsvolk, das gemeinsam mit dem Notrichter den handhaften Täter verfolgte und von dem todeswürdigen Verbrecher das Friedensgeld forderte, mit dem er sich von der Todesstrafe loskaufen konnte (Küren 15, 17 / 2). In demselben Sinne und Zusammenhang verwandte der Diktator aber auch das Wort populus (Küren 16, 17 / 5). Schwierigkeiten scheint dem Diktator ferner der Umstand bereitet zu haben, daß es außer den Siebzehn Küren offenbar kein positives allgemeinfriesisches Recht, sondern nur die Landrechte der einzelnen Gau- oder Gerichtsgemeinden gab. Aus welchem anderen Grunde könnte er sich gescheut haben, das friesische Wort londriucht Glied für Glied ins Lat. zu übersetzen? Wir lesen nämlich, daß der zuständige Asega über jedes freien Friesen Güter und Befugnisse nach dem Rechte der Leute und aller Friesen zu urteilen hatte, iudicat suus asega secundum ius vulgi et omnium Frisonum; daher war er gehalten, alle Rechte zu kennen, nämlich sowohl die Küren wie das Landrecht oder (seine eigenen) Aussprüche: tenetur scire omnia iura, que sunt kesta et londriucht, id est petitiones et edicta (Küre 3). Das Unbefriedigende einer solchen Definition des Landrechts ist unübersehbar. Anderswo ließ der Diktator es daher dabei, daß Straftäter (et) secundum asega iudicium et secundum plebis londriucht oder populi iusticiam zu büßen hatten (Küren 15 und 16). § 499. Alle Friesen: das konnte also sowohl die Personenvielheit aller in Friesland, dem Lande zwischen Flie und Weser, wohnenden freien Hausherren als auch die Verbändevielheit der Gau- und Gerichtsgemeinden sein, zu denen sich jene in ihren einzelnen Ländern vereinigt hatten, macht doch dies gerade die Eigenart der im Mittelalter stufenweise von unten her erbauten politischen Verbände aus, daß ihnen sowohl physische Personen als auch Verbandspersonen oder Teilverbände als Genossen angehören konnten (oben: § 21). Auf welchem Rechtsgedanken aber beruhte die Einheit aller Friesen? Nach den Siebzehn Küren scheint dies allein der Bezug zum Königtum gewesen zu sein, das die bäuerliche Freiheit der Friesen gestiftet hatte und keine fürstliche Herrschaft in Friesland zulassen wollte (H. Schmidt 1975 S. 52 f.). Aber dies war eine reine Fiktion, seit die Friesen aufgehört hatten, sich an der Erhebung des Königs zu beteiligen, und
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folglich auch keinerlei Verpflichtungen ihm gegenüber mehr eingingen. Sie können sich daher nicht als Untertanenverband oder herrschaftliche Genossenschaft verstanden haben, deren Einheit darauf beruht hätte, daß sie gemeinsam dem Könige gehuldigt oder ihm Treue, Beistand und Gehorsam gelobt hätten (oben: §§ 10, 11, 168, 170). Auch denken sich die Küren ihre Verbandseinheit als etwas, das bereits vorhanden war, bevor sie sich noch gemeinsam mit ihren Bitten an den König gewandt hatten. Wir haben sie uns folglich als akephale und freie Einung (oben: §§ 12, 169) vorzustellen, allerdings in der besonderen Verfassung, die eine solche annehmen mußte, wenn ihr der Gebietsbezug oder der Wille, ein Gebiet zu beherrschen (oben: §§ 202, 207, 219), wesentlich war. Dann nämlich erinnerte sich bald niemand mehr an den Gründungsakt, und niemand bedurfte einer solchen Erinnerung, da Völker sich selbst stets etwas Ursprünglicheres sind als ihre Verfassungen und Häupter. Im Gegensatz zu jenen Einungen, die sich lange als reine Personenverbände erhielten, hörte die auf die Beherrschung des friesischen Landes bezogene Einung aller Friesen früh damit auf, sich befristet zu konstituieren und regelmäßig zu erneuern. Ihr Recht war eben nicht nur Einungs-, sondern zugleich auch Volksund Landrecht (geworden). Für die Geschichte der deutschen Landrechte kommt ihr daher eine besondere Bedeutung zu: „Aus der Zahl der Landrechte, die auf Einung beruhen, sind vor allem die Friesischen Küren zu nennen“ (E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1092). Historisch aber ist der Gründungsakt in den Ereignissen aufzusuchen, während deren sich die Friesen nach Vernichtung des normannischen Herzogtums von dem lotharingischen Regnum absonderten und ihre Gau- und Landesgemeinden aus eigener Kraft und nach eigenem Willen neu verfaßten (oben: § 495). Seit dies geschehen war, wurde jeder Friese in seine Gemeinde hineingeboren: Er mußte sich entweder ihrem Rechte und Willen, an dessen Bildung er mitzuwirken hatte, unterwerfen oder aus ihr ausscheiden und das Land räumen. Ungeachtet des fingierten Bezuges zum Könige bilden die Siebzehn Küren ein rein territoriales Gesetz – in der vorliegenden Fassung gewiß nicht das älteste, welches die deutsche Geschichte kennt (oben: § 490), aber doch im hohen Mittelalter als Rechtsweisung eines freien, haupt- und herrenlosen, sich selbst über seine Einrichtungen verständigenden Volkes ganz einmalig (H. Aubin 1952 S. 357). Dem hohen Alter des Gesetzestenors entspricht es, daß sich „alle Friesen“ noch im 11. Jahrhundert als nach den Formen der sogenannten älteren Genossenschaft verfaßt verstanden, nämlich als bloße Personenvielheit, die nur zu gesamter Hand handlungsfähig war und jeden einzelnen Genossen unmittelbar an Gewinn und Verlust der Gemeinschaftshandlungen beteiligte (oben: §§ 16, 17, 248), gleichsam als ob sie sich immer noch in voller Anzahl als Gemeinde hätten versammeln können. Die Siebzehn Küren wissen noch nichts davon, daß sich meliores oder proceres oder principes als eine Führungsgruppe vom Volke abgesondert hätten, deren Versammlung die Friesen mit ihrer Gesamtheit, deren übereinsgetragenen Willen
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sie mit ihrer aller gemeinem Willen identifizieren konnten (oben: §§ 17, 208, 248), geschweige denn von einem Haupte oder Fürsten, den sie über sich gesetzt hätten, damit er nach außen und nach innen für sie sprechen und die vom Könige erlangten Konzessionen als Adressat entgegennehmen konnte, da sie an seinem Privilegienstande beteiligt gewesen wären (oben: §§ 434, 482). Vollends lag ihnen der Gedanke fern, sie könnten ein solches Haupt erheben und dem Könige mit dem Verlangen nominieren, er möge es zum Herzoge bestallen, damit es im friesischen Lande die königliche Gewalt ausübe, da der König ja doch niemals in Friesland verweilen konnte, um die Landesangelegenheiten zu ordnen, und selbst die nächstgelegenen lothringischen Pfalzen in Nimwegen und Utrecht nur allzu selten aufzusuchen vermochte. Statt dessen bestimmten die Siebzehn Küren den König als ihrem Volksrechte zwar vorgegebene und für ihre Verfassung zuständige Instanz, jedoch als eine rein passive, richterliche Instanz, die in Friesland selbst weder durch Herzöge noch durch Grafen ständig vertreten sein sollte und daher aus eigenem Antriebe gar nicht tätig werden konnte, sondern nur dann, wenn die Friesen sie dazu aufforderten, ihre Einrichtungen mit ihrer höchsten Rechtsmeinung zu bestätigen. § 500. Eben weil das von den Siebzehn Küren fingierte Verhältnis aller Friesen zum Könige zwar von Rechts wegen möglich, aber den historisch-politischen Umständen nach ganz unwirklich war, brauchte sich das Gesetz nicht über die Landeskonvente und die meliores zu äußern, die gegebenenfalls vollmächtig gewesen wären, um mit dem Könige zu verhandeln. Statt dessen ließ es alle Friesen oder die Friesen samt und sonders, also jeden einzelnen für sich, jedoch gemeinsam mit allen anderen, dem Könige gegenübertreten und dessen Konzessionen entgegennehmen. So gewährte ihnen König Karl die Sicherheit, daß sie alle auf freier Hausstätte sitzen sollten, unter der Bedingung und zu dem Zwecke, damit sie ihrerseits Christen und Untertanen des „südlichen Königs“ würden und ihm zum Zeichen dessen und ihrer Edelfreiheit die huslotha (Hauslade: RWB 5 Sp. 437), einen Grund- oder Wortzins von jeder Hausstätte, entrichteten (Küre 7. H. Schmidt 1975 S. 13). Weiter wollten sie dem Könige die Buße für Friedensbruch, penam pacis (oben: §§ 107, 109), und die huslotha bezahlen, um sich die freie Nutzung sieben bestimmter Straßen in die südlichen Regna nebst der Gerichtsbarkeit über Verbrecher wider diese Freiheit zu sichern (Küre 9), und auch diesem Handel hatte der König nach ihrer Meinung zugestimmt. Was aber die Begrenzung ihrer Heerfolgepflicht auf das Land zwischen Weser und Flie anlangt, so hatte da König Karl eine Bitte an die Friesen gerichtet, petivit autem rex Karolus, sie möchten den Raum bis an die Elbe und den Sinkfal erweitern, aber das hatten die Friesen ihm abgeschlagen (Küre 10. H. Schmidt 1975 S. 54). Von dem Begehren dagegen, daß sich jeder Friese von Strafklagen mit zwei Eideshelfern sollte freischwören können, nötigte ihnen der König Ausnahmen im Falle von fünf besonders schweren und offenkundigen Verbrechen auf (Küre 17).
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Man kann demnach geradezu sagen, das Gesetz fingiere den Abschluß eines Herrschaftsvertrages zwischen dem „südlichen Könige“ und allen Friesen, wie er anderswo wirklich zustandekam (oben: §§ 461, 481, 489), in Friesland aber nur dann hätte zustandekommen können, wenn einmal ein König dorthin gereist wäre und sich bei den Friesen darum beworben hätte, von ihnen als König angenommen und bevollmächtigt zu werden. Da dies aber niemals geschah, lebten die Friesen in einem fortdauernden Interregnum, war bei ihnen ein verfassungsrechtlicher Zustand die Regel, der in den anderen Regna nur ausnahmsweise vorkam. Nur für die Landesversammlungen der nordalbingischen Sachsen und der Dithmarscher lassen sich vergleichbare Zustände erschließen (H. Stoob 1951 S. 99 f.). Da aber die Friesen dem südlichen Könige niemals die Vollmacht erteilen konnten, sie zu beherrschen, mußten sie die Befugnisse, die in den anderen Regna dem Könige, dem Herzog-Vizekönige und den königlich bestallten Grafen zustanden und die man seit dem 12. Jahrhundert Regalien nannte (oben: § 323b), notgedrungen selbst in Händen halten und ausüben und das in den Siebzehn Küren gesetzte Recht so durchführen, als ob der König es ihnen wirklich konzediert hätte. Ohne der königlichen Münzhoheit zu gedenken, vermeldet daher das Gesetz, die (vereinten) friesischen Dingvölker hätten gewillkürt, den einst für die Entrichtung der Friedensbruchbußen vorgeschriebenen Kölner Pfennig wegen der weiten Entfernung der Münzstätte durch die Münze von Rednath zu ersetzen: quia illa moneta fuit remota, elegerunt populi viciniorem et denarium leviorem et commutaverunt pro 70 et duobus talentis 72 solidos Rednathes monete (Küre 2). Gegenüber den stets im grammatischen Präsens formulierten Petitionen erweist das hier verwandte Präteritum den Satz als berichtenden Nachtrag zu dem älteren Gesetz, der nach unserer Kenntnis der friesischen Münzverhältnisse in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts abgefaßt worden sein mag. Er legt den (vereinten) friesischen Völkern die Vollmacht bei, den vom König gebotenen Münzfuß frei zu interpretieren und zu verbessern. § 501. Ein solcher aus eigener Vollmacht der Friesen gesetzter Einschub liegt wohl auch in der an die erste Erwähnung des Asega anschließenden Bestimmung vor, dieser Amtmann dürfe niemanden verurteilen, es habe denn das Volk ihn erkoren und er selbst sich gegenüber dem (freilich abwesenden) Kaiser eidlich verpflichtet, nisi plebs elegerit ipsum, et ipse coram imperatore Romano iuraverit, alles zu wissen, was zum friesischen Rechte gehöre, sich von niemandem bestechen zu lassen und unparteiisch zu urteilen (Küre 3). Dieser Nachtrag mag irgendwann nach 962 entstanden sein, da erst seit diesem Jahre der „südliche König“ den Kaisertitel führte. Da die Gerichtsbezirke mehrere Burschaften umfaßten, von denen jede ihren eigenen Asega gestellt haben dürfte (W. Ebel 1964 S. 308), kommt wegen großer Zahl der Asegen eine Vereidigung vor dem Kaiser persönlich genauso wenig in Betracht wie bei den Schöffen (oben: § 315). Das friesische Äquivalent zu lat. coram imperatore kann daher nicht gleichen Sinnes mit dem lat. Sprachgebrauch gewesen sein (Ph. Heck 1931 S. 27, 45 f., 60 ff.). Die Bestim-
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mung zeugt möglicherweise davon, daß die Friesen im 11. Jahrhundert das Amt des Asega neu geordnet haben (G. Köbler in LMA 1 Sp. 1104). Unter dieser Voraussetzung wäre es um so bemerkenswerter, daß wir hier den einzigen Beleg für einen Amtseid von Gerichtspersonen vor uns haben, der aus dem Ostfränkisch-deutschen Reiche des 9. bis 12. Jahrhunderts auf die Gegenwart gekommen ist (R. Scheyhing 1960 S. 96). Zwar ist die Eidesformel, aus der das Gesetz die genannten Amtspflichten ableitet, nicht erhalten; diese sind aber von jenen, die der fränkische Schöffeneid gebot (oben: §§ 309, 311, 312), so wenig verschieden, daß der Eid des Asega dem Schöffeneide nachgebildet worden sein könnte. Wäre das aber erst im 11. Jahrhundert geschehen, so können die friesischen Völker es schwerlich auf das Gebot eines Königs oder Grafen hin, sie müssen es vielmehr aus eigenem Antrieb getan haben, und wir könnten mit noch größerer Gewißheit als bisher schon behaupten, daß das mittelalterliche Amtsrecht nicht auf königlichem oder fürstlichem Oktroy, sondern auf Volksrecht beruhte. Um so eher wäre dann zu verstehen, daß es in Friesland nur die Gerichtsgemeinde selbst gewesen sein kann, die dem Asega den Eid auf den Kaiser abnahm. Was anderswo der König oder der von diesem bestallte Gerichtsherr tat, das war hier ein Recht des souveränen, die Königsrechte selbst wahrnehmenden Volkes. Wiewohl auf den Kaiser vereidigt, war der Asega ein Volksbeamter, dessen Urteil, wie wir bereits sahen, stets in Verbindung mit populi licentia, plebis londriucht oder populi iustitia (Küren 4, 15, 16), also nicht kraft königlicher oder fürstlicher, sondern kraft völkischer oder volklicher – und gleichwohl hoheitlicher Sanktion Geltung besaß. Da nimmt es nicht weiter wunder, daß in Friesland auch kein Graf, sondern das Volk selber den königlichen Fiskus verwaltete. Wenn nämlich die königliche Gewalt friesische Reisende oder Kaufleute daran hinderte, die sieben nach Süden führenden Straßen frei zu gebrauchen, dann mußte diesen ihr Schaden aus dem Gelde des Dingvolks und aus (dem Ertrage) der huslotha ersetzt werden, tunc de pecunia plebis et de huslotha eorum dampnum debet suppleri (Küre 9). Daraus darf wohl geschlossen werden, daß in Vertretung des Königs die friesischen Völker selbst den Königszins von den Hausstätten einzogen und den Ertrag nicht nur selbst verwahrten, sondern auch nach eigenem Ermessen für Aufgaben verwendeten, die der König, hätten sie ihn denn angenommen, von seines königlichen Amtes wegen hätte erfüllen müssen. Ebenso gehörte dem Gerichtsvolke das Friedensgeld, dessen Zahlung den Verbrecher mit ihm versöhnte, et plebi pax solvetur (Küre 17 / 2), das es aber anderswo längst seinem Könige und obersten Schutzherrn abgetreten hatte (oben: §§ 107, 109). § 502. So konnte es nicht ausbleiben, daß der Schulze, der vermutlich einst als Niederrichter örtlicher Vertreter des Königs und seines Grafen gewesen, jetzt in dem grafschaftsfreien Lande zum Volksbeamten gleich dem Asega geworden war, den niemand anders als das Volk, dessen Gericht er hielt, erkoren und bevollmächtigt haben kann, daß er aber von dem Volke auch mit der königlichen Banngewalt
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bekleidet wurde, da er bei Königsbann gebot und bestrafte. Da nach späteren friesischen Quellen jedes der nicht eben großen friesischen Länder drei bis vier Schulzenbezirke umfaßte, die Zahl der Schulzen also nicht gering gewesen sein kann, dürfte es schwerlich jemals eine Zeit gegeben haben, in der diese Amtleute die Banngewalt vom Könige persönlich (oben: §§ 319, 322) empfangen hätten. Nicht eine herrschaftliche, sondern die genossenschaftliche Vollmacht bestimmte ihre Stellung und ihr Selbstverständnis (H. Schmidt 1975 S. 26) – und trotzdem hieß der Amtsbezirk des Schulzen in friesischer Sprache kurz und bündig bon oder ban, er selber aber bonnere, nämlich Inhaber und vollstreckender Ansager des Bannes (RWB 1 Sp. 1198, 1209. Oben: § 321. W. Ebel 1964 S. 308. H. Schmidt 1975 S. 20 – 23). Die Siebzehn Küren erwähnen mehrfach, daß, wer einen der zahlreichen Sonderfrieden brach, dem Schulzen die Königsbannbuße in Höhe von 21 Schillingen zu bezahlen hatte, solvet tria talenta sculteto, que sunt 20 et unus solidus, regalis banni (Küren 2, 9, 11, 12, 15; auch supremum bannum, Küre 9). Wir müssen daraus schließen, daß es, sofern nicht vorher ein Notrichter tätig werden mußte (oben: § 105; Küre 17 / 2), zum Amte des Schulzen gehörte, in Königs Namen jedermann diesen Frieden zu gebieten und dessen Bruch mit königlicher Vollmacht zu bestrafen (Küre 8). Da aber die Gemeinde ihrem Schulzen auch gebot, eine vom Volke erkannte Todesstrafe an dem Verurteilten im Namen des Kaisers zu vollstrecken, muß ihm die volle Banngewalt, einschließlich des später sogenannten Blutbannes (oben: § 323b), zugestanden haben: secundum asega iudicium et populi iustitiam iuxta sculteti bannum et imperatoris licentiam (Küre 16). Und wiederum müssen wir folgern, daß, solange der König nicht ins Land kam, um das Interregnum zu beenden, allen Friesen ihre Küren und ihr Recht zu bestätigen und sich dafür von ihnen huldigen und die königliche Amtsvollmacht verleihen zu lassen, nach friesischer Rechtsauffassung diese Vollmacht in den Händen des Volkes zurückblieb, so wie es anderswo nur während eines Interregnums der Fall sein konnte, daß das Volk aber diese Vollmacht, da der Zwischenzustand zur dauernden Ordnung geworden war, vor der Hand auch unmittelbar dem von ihm erhobenen Schulzen anvertrauen konnte. In Friesland verlieh das Volk den Königsbann an den Amtmann, denn keine seiner amtlichen Aufgaben konnte der Schulze erfüllen, wenn ihm nicht seine Gemeinde, seine freien Friesen zu Hilfe kamen: „Ohne sie blieb der Schulze machtlos“ (H. Schmidt 1975 S. 23). Zweifellos war in der Banngewalt des Schulzen aber auch der königliche Fiskalbann (oben: § 320) enthalten. Denn da wie das Friedensgeld, so die huslotha, diese in Höhe von zwei Pfennigen, kraft königlichen Banngebotes zu zahlen war, penam pacis et huslotha propter bannum regis solvere (Küre 9), muß die Gemeinde auch die Verwaltung des königlichen Fiskus in ihrem Bezirk dem Schulzen in Auftrag gegeben haben. Wir sahen bereits, daß das friesische Volk seinen Fiskus selber verwaltete, und haben auch in anderen Regna Hinweise darauf gefunden, daß der fiscus publicus keineswegs allein Sache des Königs, daß er zugleich auch fiscus populi war (oben: §§ 300b, 305, 474, 476, unten: § 624).
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Da der friesische Schulze durch Ermächtigung von Seiten des Volkes in den Besitz des Königsbannes und aller Grafenrechte gelangte, weist die Verfassung der Friesen indirekt auf die Möglichkeit hin, daß auch die Bestallung der Grafen mit einer Bevollmächtigung dieser Amtleute durch die Grafschaftsgemeinden verbunden war oder eine solche in sich enthielt. Wir sind uns dessen bewußt, daß jeder Versuch, eine solche Vollmacht nachzuweisen, ein höchst problematisches Unterfangen darstellt (oben: § 319). § 503. Fragt man nach der Entstehung der Siebzehn Küren, die bereits zutreffend als auf Einung beruhendes Landrecht bestimmt worden sind (oben: § 499), und nach der Einung, welche ihr Urheber war, so mag diese Einung so alt sein wie die mit dem Ende der Normannenherrschaft (oben: § 495) errungene friesische Freiheit. Bei dem Könige Karl, welcher den Friesen den Kernbestand der Küren gewährte, könnte es sich um König Karl III. von Westfranken gehandelt haben, der von 911 bis 923 als Haupt des lotharingischen Regnums und damit auch Frieslands anerkannt war. Besserungen und Ergänzungen könnten den ältesten Küren in der Zeit nach 962 (oben: § 501) und in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts (oben: § 500) eingefügt worden sein. Als jüngste stellt sich uns die siebzehnte Küre dar. Sie ist erkennbar nach dem Beginn des 12. Jahrhunderts von der Landfriedensbewegung (unten: § 769) angeregt worden, da sie es in deren Sinne den Friesen erschwerte, schwere Verbrechen abzuschwören und peinliche Strafen zu vermeiden. In den älteren Küren dagegen nimmt das friesische Recht noch den Standpunkt der fränkischen Volksrechte und des sogenannten Kompositionenstrafrechts (oben: §§ 106, 107, 110, 308, 321, 323b) ein, das den Missetäter vor peinlicher Strafe bewahrte, wenn er seine Tat mit Geld sühnen konnte (R. His 1931 S. 114. H. Aubin 1950 S. 374). So gelange ich zu dem Schluß, daß eine allfriesische Einung, ein „Bund der friesischen Seelande“ (R. His 1931 S. 109) oder „der friesischen Landschaften zwischen Weser und Zuidersee, der an Stelle des in Friesland fehlenden Herzogtums eine Zusammenfassung der friesischen Grafschaften beabsichtigte“ (C. von Schwerin 21941 S. 151), nicht nur erst im 11. Jahrhundert, wie bereits häufig angenommen worden ist, sondern schon seit dem frühen 10. oder sogar seit dem Ende des 9. Jahrhunderts bestanden haben muß. Nicht erst in den Tagen König Heinrichs IV., sondern schon damals muß es „bewußt zu gemeinsamen Initiativen der Rechtssetzung angestrebte und hergestellte Kontakte aus verschiedenen Teilen Frieslands, verschiedener Landesgemeinden“ (H. Schmidt 1975 S. 54) gegeben haben. Mit den Formen, in denen man solche Kontakte herstellte und zu gemeinsamer Willensbildung und Handlungsfähigkeit verdichtete, waren die friesischen Dingverbände gewiß ebenso gut vertraut wie die bäuerlichen Landesgemeinden der Normandie (oben: § 229). Auch kann ihnen die Verfassung der akephalen sächsischen Volksgemeinde nicht unbekannt gewesen sein – wenn wir denn zu Recht annehmen, daß das altsächsische Allthing im Karolingerreiche fortbestanden hat (oben: §§ 457, 458, 464).
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Es besteht kein Grund, um die friesische Rechts- und Verfassungsgeschichte so weit von der niederdeutschen abzurücken, wie es einst Philipp Heck tat, weil er die Niederschrift der Siebzehn Küren nur unter der Voraussetzung eines regelmäßigen mündlichen Gesetzesvortrags vor der Gemeinde in Friesland für möglich hielt und es dafür nur skandinavisch-isländische Muster gibt (Ph. Heck 1931 S. 38 – 43. F. Merzbacher in HRG 1 Sp. 1604 – 1606). Vielmehr boten sich den Friesen für verfassungsrechtliche Neubildungen dieselben Möglichkeiten wie den Küstensachsen, und beide Völker nutzten sie in derselben Weise aus (H. Aubin 1950 S. 376 – 378): Weil in Friesland das fränkische Fronhofssystem so wenig Fuß zu fassen vermochte wie bei den benachbarten Sachsen (oben: § 459), entbehrten beide benachbarten Rechtsgebiete der Möglichkeit, die volkliche Rechtsbildung in die Form der Weistümer und ihres regelmäßigen Vortrags zu kleiden, darin uns im übrigen Deutschland ein Gutteil des Bestandes an mittelalterlichem Volksrecht überliefert ist, und daher bedienten sich beide gemeinsam der Form des gewillkürten Rechtes, die anderswo eher eine Sache der Städte war. Ferner erhielt sich in Sachsen, gewiß aus frühen Zeiten der Volk- und Reichswerdung her, das Gogericht; der Gograf aber war, trotz geminderter Kompetenzen, unstreitig ein Volksbeamter (oben: § 283) und insoweit vergleichbar dem friesischen Schulzen. Obwohl sich schließlich das sächsische Regnum seit dem großen Aufstande gegen König Heinrich IV. in seinen politischen Interessen zu einer ausgesprochen königsfernen Landschaft entwickelte, blieb doch dem Rechtsbewußtsein des sächsischen Volkes der König als sein eigentlicher gekorener Richter über Leib und Gut (oben: § 322b. E. Pitz 2001 §§ 226 – 256) stets ebenso gegenwärtig wie den Friesen. § 504. Haben wir erst einmal erkannt, daß wir es bei dem Verfassungsrecht der friesischen und küstensächsischen Gerichts- und Landesgemeinden mit gewillkürtem oder Einungsrecht von derselben Art zu tun haben, wie es uns formal auch im Satzungsrecht der deutschen Stadtgemeinden vorliegt, daß wir also in Stadt und Land den Auswirkungen der gleichen Grundform mittelalterlichen volklichen Rechtsdenkens gegenüberstehen (H. Aubin 1950 S. 376 f.), so kann eigentlich kein Zweifel mehr bleiben, daß wir in der Niederschrift der friesischen Siebzehn Küren ein Dokument von derselben Art vor uns haben wie in den Schwörbriefen der oberdeutschen und den Bursprakenrollen der niederdeutschen Städte. Allerdings darf der Vergleich zwischen Landes- und Bürgereinungen nicht außer Acht lassen, daß es auch Unterschiede zwischen beider Verfassungen gab, weil sich nur die ersteren von vornherein eines Gebietsbezuges (oben: § 499) erfreuten. Die städtischen Schwureinungen nämlich wurden, weil sie gewillkürtes Sonderrecht außerhalb des Landrechts schufen, von Rechts wegen – wenn auch nicht faktisch – nur auf Zeit errichtet, daher sie nach Zwischenzeiten, in denen sie sich aufgelöst hatten, regelmäßiger Erneuerung bedurften. Als eigentlicher Bürgereid ist daher der alljährlich nach dem Interconsilium, in dem man den Rat erneuerte und umsetzte, wiederholte Gesamteid der Bürgerschaft zu betrachten, den die versammelten Bürger samt und sonders alljährlich an einem bestimmten Tage (dem
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Schwörtag, Maiending, Burgding, Burding, Morgensprache usw.) entweder wirklich ableisteten oder in stillschweigender Annehmung des neuen Rates wiederherstellten. Für die Erneuerung des Schwurverbandes aber war es ebenso wichtig und begrifflich notwendig, daß die von seinen Vorgängern geschaffenen Sätze des stets von neuem zu beschwörenden städtischen Willkürrechtes den versammelten Bürgern vor der Eidesleistung abermals durch Vortrag oder Vorlesung zur Kenntnis gebracht wurden: eine in der germanischen und mittelalterlichen Rechtsvorstellung des Volkes verwurzelte Formvorschrift, die erheischte, daß sich jeder Eidgenosse der Verpflichtungen klar bewußt sein mußte, die einzuhalten er, sei es eidlich, sei es konsentierend, den mitschwörenden Genossen und der Stadt versprach (W. Ebel 1958a S. 4 f., 10. P. Blickle 2000 Bd. 1 S. 41 f., 51, 114. E. Pitz 2001 §§ 203 – 208. Oben: §§ 186, 187, 195, 196, 218, 236). Im Gegensatz zu den Bürgerschaften hatte die allfriesische Einung schon in unvordenklichen Zeiten die Formen eines befristet errichteten Personenverbandes abgestreift und gegen diejenigen einer Einung mit Gebietsbezug (oder dem Zwecke, ein Territorium und dessen Bewohner zu beherrschen) vertauscht. Daher besaß ihr Einungs- oder Willkürrecht seit jeher territoriale Geltung: Es nahm den dort ansässigen Hausherren die Freiheit, dem Verbande nach Belieben beizutreten oder fernzubleiben. Nur um diesen Preis, den die singuli zu entrichten auf sich genommen, hatten omnes, hatte die allfriesische Einung dauernden Bestand und das von ihr gewillkürte Recht die objektive Geltung eines Volks- oder Landrechtes gewonnen, das keiner regelmäßigen Erneuerung auf allgemeinen Schwörtagen mehr bedurfte. Diese Qualität hatte die Einung ihrem Rechte allerdings nicht aus eigener Vollmacht beilegen können, sondern nur mit Willen und Erlaubnis des Königs. Wie später die Stadtgemeinden hatte sie dazu eines königlichen Kommuneprivilegs bedurft (oben: §§ 237 – 242), und in der Vorstellung, ein solches empfangen zu haben, ist die Fiktion der Siebzehn Küren begründet, die Friesen seien mit einem Könige Karl einen Herrschaftsvertrag eingegangen und hätten mit der Konzession ihrer Küren auch diejenige erlangt, ihr Volks- und Landrecht im Wege der Willkür oder gemeinen, einhelligen Willensbildung nach Einungsrecht zu bessern und zu vermehren. § 505. Die Schlußfolgerungen, die sich aus all dem ergeben, sind unvereinbar mit jener noch auf die romantischen Anfänge historischer Rechtswissenschaft zurückgehenden Lehre vom germanischen Rechtsverständnis, die sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein als herrschende Lehre behauptet hat (unten: § 706). Nach ihr wäre die älteste Form der Normenbildung und Gesetzeserkenntnis das Weistum der Sühnemittler und Urteilsfinder gewesen, die in strittigen Einzelfällen die entscheidende Norm zu bestimmen hatten (W. Ebel 1958 S. 10 – 13. Oben: § 172). Die Urteiler aber hätten ihr Wissen aus einer gewöhnlich nur im ganzen angeschauten Weltordnung geschöpft, die schlechthin das Recht genannt werden konnte, da sich dieses noch nicht von der Regelhaftigkeit des physischen Daseins und von den Sitten des Zusammenlebens als besonderer Gegenstand abgelöst hatte. Diese rechtliche Weltordnung, über deren Ursprung man weiter
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nichts wußte, als daß sie nicht von Menschen geschaffen sei, habe so hoch nicht nur über dem Einzelnen, sondern auch über den Völkern und deren Königen gestanden, daß sie jedem menschlichen Eingriff und überhaupt der gedanklichen Erfassung als System einer Vielzahl einzelner, objektiver Normen entzogen war. Freilich konnte sich diese Lehre auf weiter nichts stützen als auf die Etymologie der ahd. Worte lag (as. lag, friesisch lag oder log) = richtige Lage der Dinge und êwa = ewig gültige Ordnung (H. Hattenhauer 1992 S. 45 f.) und auf anachronistische Rückschlüsse aus Spekulationen der spätmittelalterlichen Rechtsbücher über den Zusammenhang zwischen Gott, Natur und Recht, in denen sich gar nicht das volkliche, sondern vielmehr das gelehrte Rechtsdenken und dessen Naturrechtslehre widerspiegelten (G. Köbler 1971 S. 12 – 29). Diese „christlich-germanische Weltanschauung des Mittelalters“, die „kaum auf irgendeinem Gebiete des deutschen Kulturlebens zu schärferem Ausdruck gelangt (ist) als auf dem des Rechtes“ (A. Heusler 1885 – 86 Bd. 1 S. 1), machte es nicht nur überflüssig, sondern verbot es geradezu, den Reichsvölkern des Ostfränkischdeutschen Reiches eine gesetzgeberische Tätigkeit und gesetzgebende Volksversammlungen zuzuschreiben, die befugt gewesen wären, die göttliche Weltordnung zu positivieren. Das irdische Recht, welches diese Völker und mit ihnen alle Germanen kannten, sollte nicht viel mehr als eine Summe subjektiver Berechtigungen gewesen sein, nach deren objektiver, gesetzlicher Grundlage man nur dann Ausschau zu halten brauchte, wenn jene Berechtigungen miteinander in Konflikt gerieten; dafür aber waren die lokalen Dinggemeinden der zuständige Ort, oberhalb deren es keiner gesamtvolklichen Rechtsbildung mehr bedurft habe. Denn „am allerwenigsten besaß“ der Staat „das Recht, die volksrechtliche Ordnung nach seinem Belieben zu gestalten oder zu ändern. Das Recht war vorgegeben da, wurde in den engen Gerichtsverbänden gefunden und weitergegeben, keineswegs von einer Zentrale, auch nicht von einem durch den König eingesetzten oder einberufenen Volkstag“ – jedenfalls soweit wir wissen, denn die „den wirklichen Unterbau (des Reiches) darstellende Rechtsordnung bleibt ungenannt und uns letztlich unbekannt“ (K. S. Bader 1956 S. 248). Dem gegenüber bin ich der Meinung, daß die Regna des Ostfränkisch-deutschen Reiches, wenn nicht äußere Umstände, wie die normannische Fremdherrschaft in Friesland, es verhinderten, seit dem 9. Jahrhundert Landtage oder Allthinge besessen haben, wie immer sie auch verfaßt sein und wie oft sie auch zusammentreten mochten, deren politische Kräfte und rechtliche Vollmachten sie in den Stand setzten, in das ganze Regnum betreffenden Rechts- und Verfassungsfragen als Gesetzgeber eine Entscheidung zu treffen, die nach den Regeln des Systems identischer Willensbildung (oben: § 491) in dem Regnum Gesetzeskraft und allgemeine Verbindlichkeit erlangen konnten. Wenn ich die friesischen Siebzehn Küren als Landesverfassungsgesetz nach Form und Inhalt richtig bestimmt habe, scheint mir keine andere Schlußfolgerung mehr möglich zu sein. § 506. Über die Verfassung des friesischen Allthings ist weiter nichts auszumachen, als daß es, solange omnes Frisones in den vorbehördlichen Formen der älte-
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ren Genossenschaft grundsätzlich zu gesamter Hand beschlossen und handelten, wie unter vergleichbaren Umständen in den Stadtgemeinden üblich (oben: § 248), nur von wechselnden und intermittierend tätigen Worthaltern und von fluktuierenden, vermutlich vor allem aus Schulzen und Asegen der Teilgemeinden bestehenden Personengruppen berufen und geleitet worden sein kann, da die friesischen Gaue mit Grafschaft und Vogtei auch jener alt- und neufreien Stände entbehrten, die anderswo die öffentlichen Aufgaben erfüllten. Wie jene reichen Hausherren, aus deren Kreisen die Gemeinden ihre Asegen koren, zugleich als Schiffseigner und Händler ganz Friesland nebst den nach Süden führenden Reichsstraßen bereisten, so war es auch „ihre Sache“, als Politiker „innerfriesische Verbindungen herzustellen und das ,ganze Friesland‘ zu repräsentieren“ (H. Schmidt 1975 S. 54). So mag der Vornehmste aus ihrem Kreise, wenn er das friesische Allthing eröffnete, dort wie auf einer Morgen- oder Bursprache der Rechtsgenossen zuerst die Siebzehn Küren vorgetragen oder vorgelesen haben, um den Versammelten, die sich mit allen Friesen identifizierten, das von ihren Vorgängern verwillkürte Recht in Erinnerung zu rufen, auf dem die Genossenschaft aller Friesen beruhte und das weiterhin wie für jeden einzelnen Friesen, so für alle gemeinsam gültig bleiben sollte, soferne die Versammlung nicht beschloß, es zu bessern oder zu mehren. Lange freilich kam man nun mit dieser Verfassung nicht mehr aus. Immer häufiger bereisten im 12. Jahrhundert fremde Kaufleute die friesischen Gewässer und Märkte und nötigten den Gemeinden Beziehungen zu ihren Fürsten und Städten auf; im Inneren aber stellten Wasser- und Deichbau der Gemeinschaft kostspielige Aufgaben, denen weder in den Gemeinden die Schulzen und ihnen beistehenden Großen noch in ganz Friesland der gesamthänderische Landtag weiterhin gewachsen waren. Wie in den Städten, wo es zwar eine herrschaftliche Verwaltung gab, diese aber unfähig und untätig blieb, so daß die Bürger selbst die fortlaufende Verwaltung ihrer Angelegenheiten in die Hand nehmen und zu diesem Zwecke Behörden über sich erheben mußten (oben: §§ 234, 249 – 252), so trat auch in Friesland die Notwendigkeit ein, den Gemeinden und der Gesamtheit eine neue, verwaltungsstarke Verfassung zu geben, und wie in den Städten geschah dies so, daß man von den lockeren Formen der älteren Genossenschaft aller Rechtsgenossen, der omnes oder universi, zu den strafferen der jüngeren Genossenschaft, universitas omnium civium oder Frisonum, überging, die die kommunale Selbstverwaltung von der Gerichtsbarkeit abschied und mit ihr einen jährlich wechselnden Rat als kontinuierlich tätige Behörde beauftragte. So ersetzten im Verlaufe des 12. Jahrhunderts die Länder oder Landgemeinden, die an die Stelle der Grafschafts- oder Gaudingverbände getreten waren, ihre formlosen Führungsgruppen durch kollegialische Räte, und an die Stelle des ebenso formlosen friesischen Allthings trat die Versammlung der iurati oder Geschworenen, quos universitas Frisonum de more vetustissimo creaverant apud Upstellesbome, als ein oberstes Gericht über den Ländern oder terrae, wie der friesische Chronist sagt, der ihrer zum Jahre 1216 zum ersten Male gedenkt (Emo S. 495 Z. 48 bis 496 Z. 1, 505 Z. 40). Wenn die Friesen darin keine Neuerung, sondern eine Ein-
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richtung von höchstem Alter sahen, so war das ganz richtig, weil der Landtag nicht selbst neugeschaffen worden war, sondern sich lediglich eine neue Verfassung gegeben hatte. Denn diese stellte ein so kompliziertes, die Gewalten gleichzeitig teilendes, beschränkendes und zusammenfügendes Regelwerk dar, daß sie sich nicht irgendwie entwickelt haben kann, sondern ebenso, wie wir es für die Städte annehmen müssen (oben: §§ 18, 252), von Sachkennern in einem Zuge entworfen und von dem uralten Landtage durch Beschluß oder Rezeß in Kraft gesetzt worden sein muß. In der Neuerung sah man so wenig eine Revolution, daß niemand es für nötig hielt, Anlaß, Ort und Datum des Rezesses der Nachwelt zu überliefern. Es genügte, wenn man hinfort bei Eröffnung der Tagfahrt an Stelle der Siebzehn Küren das neue Verfassungsgesetz rezitierte. Es entsprach dem System identischer und einhelliger Willensbildung, daß der Chronist die gesamtfriesische Landesgemeinde, welche die Geschworenen einsetzte, ohne es auszusprechen, mit den verbündeten Gauen oder Ländern identifizierte, deren Sache es war, eine jede für sich ihre Sendeboten vollmächtig zu machen und mit der beschränkten Vollmacht, die der Rat einer terra seinen Worthaltern überhaupt nur erteilen konnte (oben: §§ 19, 22, 24, 25), zu dem Landtage am Upstalsbom zu entsenden. Eine friesische Besonderheit war es, daß die friesischen Gemeinden ihre Sendeboten vereidigten. Es war dies notwendig, weil sie sich nicht mehr durch gemeinsame Genosseneide konstituierten, sondern nach Volks- oder Landrecht und Gesetz seit unvordenklichen Zeiten bestanden. Es gab daher keine vorangehenden Bürger- oder Untertaneneide, bei denen die Gemeinden ihre Worthalter hätten ferner verpflichten können. Der Eid der Sendeboten aber muß ein Amtseid gewesen sein, der sie zu Beamten ihres Volkes (oben: § 390) machte, an die Vollmacht oder Instruktion ihrer Auftraggeber band und dazu verpflichtete, gegenüber der Versammlung am Upstalsbom jederzeit, falls erforderlich, das Referenzrecht geltendzumachen. Denn die Sendeboten sollten sich nicht, wenn sie sich in Mitglieder des Friesentages verwandelten, deswegen zu Herren und Gebietern der Gemeinde ihrer Herkunft aufwerfen können, sondern als Delegierte oder Amtleute an deren Willen gebunden bleiben (oben: §§ 396, 397), wie es eine nach den Regeln identischer Willensbildung „von unten heraus in gemeindlich-genossenschaftlichem Geiste aufgebaute Verfassung“ (H. Aubin 1952 S. 357 f.) erforderte.
Fünfzehntes Kapitel
Weltliche Fürsten: Die Erhebung zum Herzoge § 507. Schaut man auf die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchungen über Landtage oder Landes-, Adels- oder Volksversammlungen in den Regna des Ostfränkisch-deutschen Reiches oder deren niederen Dukaten, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß wir es mit regel- und verfassungsmäßigen Einrichtungen zu tun haben und daß von der ständigen Mitregierung der Versammelten im Lande die Herzogserhebung schwerlich ausgenommen gewesen sein kann. Oft genug hat denn auch die Forschung aus den Vorgängen darauf geschlossen, daß Herzogswahlen stattgefunden haben müssen. Namentlich Georg Waitz urteilte bereits im Jahre 1876, daß wie im früheren Mittelalter, so ähnlich auch zur Zeit des Ostfränkischdeutschen Reiches erblicher Anspruch bestimmter Geschlechter, Ernennung oder Bestätigung von Seiten des Königs und Wahl oder Anerkennung des Volkes bei der Erhebung der Herzöge zusammenwirkten: In Erinnerung daran, daß die neuen herzoglichen Gewalten ihre Stellung zunächst besonders der Anerkennung der Stämme oder Reichsvölker verdankten, sei „der Wahl des Volks oder der Großen des Volks hier ein gewisser Einfluß gewährt“ geblieben (G. Waitz 1876 – 1896 Bd. 7 S. 114). Dem wäre hinzuzufügen, daß solche Wahlen sogar gegen den Willen des Königs ausgehen konnten (oben: §§ 471, 478, 479, 486, 487) und daß Männer, die von Gerichtsschreibern und Schriftstellern als duces bezeichnet werden, während die Reichskanzlei ihnen nicht mehr als den Grafentitel zubilligte, vermutlich von dem Volke oder Untertanenverbande eines Regnums oder Dukates zum Haupte gekoren oder ermächtigt worden sind, ohne daß der König es verhinderte oder guthieß (oben: §§ 452, 463, 473, 475, 477, 484). Auch wer solchen Männern eine „stammes- oder verbandsherzogliche Stellung“ oder eine „vom Lande mitgetragene Einstufung“ zuschreibt (oben: § 452), setzt damit, im Grunde genommen, ihre Erhebung durch das Land, also eine Kur und Ermächtigung von Seiten der Untertanen, voraus, auch wenn ihn das Schweigen der Quellen daran hindert, es auszusprechen oder auch nur zu denken. Man kann hiergegen nicht einwenden, daß Wahlen, als Auslesen der für eine Hauptmannschaft am besten geeigneten Person aus einer Mehrzahl von Bewerbern, und die Bildung eines darüber beschließenden gemeinen Willens die Möglichkeiten solcher Landtage überstiegen hätten. Denn offensichtlich haben Kaiser Ludwig der Fromme und seine Söhne die Regna vor allem zu dem Zwecke eingerichtet, die geordnete Erhebung fränkischer und ostfränkischer Könige zu erleich-
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tern; tatsächlich jedenfalls haben sich die Bayern seit 830 (oben: §§ 483, 485, 487), die Sachsen seit 839 / 840 (oben: §§ 457, 464), die Lothringer seit 855 (oben: § 451), die Schwaben seit 887 (oben: §§ 475, 477), die Mainfranken im Jahre 917 (oben: § 488) und die Thüringer in den Jahren 920 und 1002 (oben: §§ 473, 474) als Königswähler betätigt, und sogar die Friesen hielten sich als solche bereit, wenn es denn richtig ist, daß sie ihre Verfassung auf die Fiktion eines fortwährenden Interregnums gründeten (oben: § 500). Wer aber Könige erheben konnte, der war auch imstande, Herzöge zu wählen. Aus dem Umstande, daß wir Könige an der Erhebung der Herzöge mitwirken sehen, ergab sich als Schlußfolgerung, daß die Landtage der Regna sowohl im Interregnum unter Leitung ihrer Herzöge den neuen König als auch bei Vakanz des herzoglichen Stuhles unter Leitung des Königs den neuen Herzog erkoren; in dieser Verschränkung wäre der Grund dafür zu suchen, daß in jedem der Regna sowohl der König als auch der Herzog zu unmittelbarer Herrschaft berufen war (oben: §§ 442a.b, 481). § 508. Unter den Nachrichten über Landtage des 9. bis 11. Jahrhunderts sind für die Verfassungsgeschichte diejenigen von besonderem Gewicht, welche bezeugen, daß sich dort nicht nur Fürsten und Große versammelten, sondern daß außerdem infiniti liberi oder der populus (H. Maurer 1988 S. 216), daß frequentia plebis oder omnis populus anwesend war oder daß die primores cum plebibus regni dort erschienen (oben: §§ 460, 464, 474, 482, 490), denn sie bezeugen, daß die öffentliche und gemeine Willensbildung auf den Landtagen den Regeln des Identitätssystems (oben: Erstes Kapitel) gehorchte. Beschlüsse konnte ein Landtag nämlich nur dann fassen, wenn er sich der Identität seines Willens mit dem des ganzen Landes sicher war, und das konnte er nur dann sein, wenn keiner der Anwesenden Widerspruch erhob oder sich seines Referenzrechtes bediente, wenn also die Versammelten einhellig und einmütig die Einzelmeinungenn der Gemeinden, deren Wort sie hielten, zum Gemeinwillen übereinstrugen. Denn jeder Bischof, Reichsabt, Graf oder Herr war an den Willen des Volkes gebunden, das ihn zum Haupte angenommen hatte und auf dessen Beistand seine Macht beruhte, und manche Rückfrage in der Heimat ließ sich vermeiden, wenn genug Große von dort, seien es einfach vermögende oder durch Richter- und Schöffendienste ausgezeichnete Edle, den Fürsten begleiteten und vor der Stimmabgabe auf dem Landtage berieten. Für den Landtag und das Land wäre die Stimme eines einzelnen Fürsten wenig wert gewesen, wenn sie nicht in der Versammlung selbst von dem Beifall seines Gefolges unterstützt worden wäre und wenn nicht jedermann dieses Gefolge mit dem besonderen Volke identifiziert hätte, dessen Wort er führte (oben: § 425). Nicht umsonst erschien zum Beispiel der König der Burgunder, Burgundionum rex Rothulfus, gemeinsam mit Gattin und Stiefkindern und der Gesamtheit der Großen, cum optimatibus universis, im Februar 1018 in Mainz, um Kaiser Heinrich II. seine Krone zu vermachen (Thietmar VIII. 7): Allein war er nicht mächtig, darüber zu verfügen, da sie nicht sein Eigentum, sondern lediglich vom Volke des Regnums seiner Verwaltung anvertraut war.
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Dem entsprach es, daß die Fürsten wie bei jeder, auch der Schöffen-, Bischofsoder Königswahl, so bei der Kur eines Herzogs nur eine gebundene Stimme führen konnten. Obwohl es nur ihnen, und selbst ihrer nur wenigen, möglich war, in geordneter Versammlung zu Worte zu kommen, waren sie in ihren Entschließungen nicht frei, sondern gezwungen, als für das Amt geeignet der Versammlung nur solche Männer vorzuschlagen, die auf den einstimmigen Beifall aller an- und abwesenden Verbandsgenossen rechnen konnten. Denn erst dann, wenn sich dieser Beifall einstellte, hatte der Landtag die Gewißheit, das Wahlgeschäft erfolgreich beendet zu haben, und der Erwählte die Sicherheit, den Beistand des Volkes für seine Regierung und damit eine Vollmacht gewonnen zu haben, die ihm sonst niemand hätte gewähren können. Da wir keine Herzogsviten besitzen, läßt es sich nicht beweisen, es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß in der Regel und in friedlichen Zeiten eine Herzogserhebung gleich jeder Bischofswahl mit einem Akte endete, in welchem Auslese der am besten geeigneten Person und deren Ermächtigung oder Annehmung zum Landesherrn ungeschieden ineinanderfielen, so wie wir zum Jahre 1045 über die Erhebung des geistlichen Fürsten im Würzburger Lande erfahren: „Die Bischöfe der benachbarten Diözesen, sämtliche Prälaten, universi prelati, der Würzburger Diözese, die Fürsten und Großen (als) Worthalter der Bezirke (und deren) Richter und Vornehme, principes et primates patroni regionum, tribuni et optimates“, soweit also sämtliche Verbandshäupter mit jeweiliger Begleitung, dann und darüber hinaus aber überhaupt „Klerus und Volk beiderlei Geschlechtes und jeglichen Lebensalters vom Kinde bis zum Greise, sie alle erheben die Stimmen wie aus einem Munde (d. h. einhellig, oben: §§ 184, 186), in einmütiger Übereinstimmung und vom gleichen Wunsche beseelt: so rufen sie immer wieder aus, Adalbero sei des Bischofsamtes am würdigsten“ (Vita Adalb. S. 131 Z. 7 ff.). Nun gibt es auch einige direkte Zeugnisse dafür, daß solche Herzogswahlen wirklich stattgefunden haben, Zeugnisse, die bereits Georg Waitz zusammengestellt und seinem Urteil zugrundegelegt hat, die aber von der neueren Forschung (oben: §§ 331 – 335) in blindem Eifer beiseitegeschoben oder verdunkelt worden sind.
§§ 509 – 515. Lothringen 959 § 509. Das älteste dieser Zeugnisse (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 116) ist eine Urkunde Herzog Friedrichs von Lothringen (oben: § 453), welche berichtet, der Aussteller habe im Jahre 959 zu Gondreville Recht gesprochen und einen Streit des Klosters Gorze mit einem erlauchten Herrn namens Aquinus durch Vermittlung eines Vergleichs geschlichtet (G. Waitz 1874 S. 443 – 445. Cart. Gorze 1898 S. 198 n. 108. W. Kienast 1968 S. 418 n. 3). Diese Urkunde ist insofern zu den frühen Herzogsurkunden zu rechnen, als in ihrem Hauptteil Herzog Friedrich von Lothringen persönlich zu dem Hörer und Leser spricht: (Idcirco) ego Fridericus, gratia Dei
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et electione Francorum dux, cunctis sancte Dei ecclesie fidelibus omniumque nobilium parentibus, presentibus scilicet et futuris, patefacere cupio quoniam . . . So lauten die Intitulatio und die Inscriptio, und namentlich die ganz unbestimmte Beschreibung der Adressaten an einer Stelle, wo man erwartet, den herzoglichen Untertanenverband genannt zu finden, läßt uns vermuten, daß es dem Diktator an jeder Vorlage und aller Erfahrung im Abfassen herzoglicher Urkunden fehlte. Hieran schließt sich, als Nebensatz beginnend, die Narratio an: (quoniam) tempore nostri ducatus nostram quidem vir illustris nomine Aquinus, una cum conjuge sua Adelindi dicta adiit majestatem, proclamans quod rebus quibusdam . . . a domino abbate Agenoldo et congregatione Gorziensis monasterii . . . injuste privaretur. Nos igitur . . . predictum super hac re studuimus interpellare virum, qui . . . cujus proclamationem cassavit, ostendens videlicet . . . His itaque prelibatis multorum testimonio a patre venerando in conspectu nostro adprobatis, et econtra illis obsistere nitentibus, consultu nostro et clarorum virorum . . . , ut cuncta controversie mordacitas resecaretur, ex sumptibus sancte ecclesie illis XII tribuit libras argenti. Quibus acceptis, facta moris stipulatione, sese cunctosve eorum heredes his proclamatis exuerunt rebus. Damit endet die Narratio; es folgt unmittelbar die Corroboratio: Verum ne deinceps . . . sepedicte ecclesie a quoquam inferri posset calumnia, hoc memorie scriptum exinde facere statuimus, nostroque in conspectu et comitum ac multorum hominum recitatum, manibusque propriis roboratum, et ab illis auctorizatum dedimus. Wir haben es demnach mit einer Gerichtsurkunde zu tun, wie sie auch von Grafen diktiert werden konnte (oben: § 277), und in der Tat berichtet sie von einem Gerichtsverfahren, das freilich, nachdem der Beklagte seine Einrede bewiesen hatte, nicht durch Schöffenspruch, sondern durch gütlichen Vergleich beigelegt wurde, den der Gerichtsherr und angesehene Männer aus dem Gerichtsvolke vermittelten. Die Kläger nahmen eine Abfindung in Silber an und ließen dem Beklagten die beanspruchten Güter auf (zum Verbum exuere siehe oben: § 94). Die Verhandlung fand auf dem Königshofe zu Gondreville bei Toul statt (Cart. Gorze S. 512), wo der Herzog einer Volks- und Gerichtsversammlung vorsaß, denn es sagten nicht nur Zeugen aus, die als öffentliche Personen das Vertrauen des Volkes besitzen mußten, weil auf ihrer Kenntnis des Rechts und der örtlichen Rechtsverhältnisse die Sicherheit aller, auch der privaten, Rechte beruhte (oben: §§ 295 – 297), sondern die Herzogsurkunde wurde auch vor dem Herzoge, vor Grafen und vielen Männern verlesen und von ihnen bekräftigt, indem sie ihre Hände darauflegten, bevor der Herzog sie dem Abte des Klosters Gorze aushändigte. Der Vergleich kam also in villa publica und publice (oben: § 297) zustande, wie es zwar nicht in dieser, wohl aber in anderen Urkunden auch in Lothringen heißt (actum Mettis publice, Jahr 936: Cart. Gorze S. 176 n. 95, actum Mettis coram duce Friderico, Jahr 939: ebd. S. 181 n. 98). § 510. Was die Herzogsurkunde von vergleichbaren Grafenurkunden unterscheidet, das sind die Intitulation und die zwar im Formular der Königsurkunde enthal-
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tene, aber in Privaturkunden ganz ungebräuchliche Inskription, dann aber auch der Umstand, daß nicht die Parteien den Notar hinzuzogen und die Beurkundung in Auftrag gaben (oben: § 278 und G. Despy 1961 S. 1130, 1142 f.), sondern daß der Herzog, wie wiederum sonst nur in Königsurkunden üblich, die Beurkundung anordnete. Über eine Kanzlei freilich verfügte er noch genauso wenig wie über ein Siegel, daher er die von den Großen beglaubigte Urkunde persönlich dem Abte übergab. Um die Unterschiede deutlich zu machen, bezeichnete er das Schriftstück denn auch nicht als notitia, obwohl es seiner Rechtsgeltung nach wohl nichts anderes war (oben: § 296), sondern als memorie scriptum. Erinnert man sich daran, daß Herzog Arnulf von Bayern bereits im Jahre 908 das Formular der Königsurkunde einschließlich der Besiegelung nachgeahmt hatte, um seiner vizeköniglichen Stellung im bayerischen Regnum Ausdruck zu geben (oben: § 486), so folgt, daß Friedrichs Herzogtum von geringerem, nämlich bloß großgräflichem Range gewesen sein dürfte. Dieser Rang kam ihm zu, da an der Volks- und Gerichtsversammlung, der er vorsaß, mehrere Grafen und wohl auch die Großen mehrerer Grafschaftsvölker als Begleiter ihrer gräflichen Häupter teilnahmen. Vermutlich hatten sich Aquinus und Adelinde mit ihrer Klage zunächst an die drei örtlich zuständigen Grafengerichte gewandt, bevor sie an das Gericht des Herzogs und des Landes (Ober-)Lothringen herantraten, um die lokalen Schöffenurteile revidieren zu lassen. Dem großgräflichen Range der herzoglichen Gerichtsversammlung entspricht es, daß man die Herzogsurkunde in der beschriebenen Form, nämlich bestehend aus Intitulation, Inskription, Narration und Korroboration, für unvollkommen erachtete und sie, um den Mangel zu beheben, in einen Rahmen einfügte, der in dem objektiv protokollierenden Stile der Notitia abgefaßt wurde. Der Intitulation ist nämlich eine Arenga vorangestellt, die die objektive Notifikation der Notitien ersetzt: Omnis rei diffinitio . . . propriis gaudet fulciri titulis . . . ; darauf bezieht sich die konklusive Konjunktion idcirco, mit der die Intitulation beginnt. Auf die Korroboration aber folgt noch das fast komplette Schlußprotokoll einer Notitia: Actum in Gondulfi villa, anno ab incarnatione Domini 959, indictione II . . . , anno regni Ottonis imperatoris XXIIII. Signum Friderici ducis. Signum Widonis. Signum Teutberti . . . (folgen die kreuzförmigen Zeichen weiterer vierzehn Zeugen, darunter als letzte die der Kläger und ihrer drei Söhne). Ego Adelardus cancellarius scripsi. Nur darin unterscheidet sich dieses Protokoll von dem sonst in Notitien üblichen, daß es den Beurkundungsbefehl nicht mehr zu erwähnen brauchte und nicht mehr erwähnen konnte, da ja nicht, wie in der Regel, die begünstigte Partei den Notar hinzugezogen hatte (z. B. G. Despy 1961 S. 1142 f.: Signum domini Fulberti, qui hanc notitiam scribi vel firmari iussit). Der Kanzler, welcher beide Teile der Urkunde verfaßt und geschrieben hat, war zweifellos kein herzoglicher Hofbeamter, sondern einer der letzten, damals nur noch in Lothringen amtierenden Grafengerichtsschreiber (oben: §§ 228, 298), und auf das karolingische Formelbuch eines solchen werden die Verwendung des antiquierten Titels vir illuster, die stipulatio und die Bezeichnung des Königs, nach
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dessen Amtsjahren er datierte, als Kaiser (C. Brühl 1995 S. 527) zurückgehen, die sich auch schon 939 in einer lothringischen Privaturkunde (R. Köpke / E. Dümmler 1876 S. 301 A. 1) findet. Unsere Urkunde ist also nicht das Produkt einer herzoglichen Kanzlei, sondern, soweit sie Herzogsurkunde ist, eine aller Vorlagen entbehrende Schöpfung aus dem Nichts. Wenn Friedrich und Adelard dabei andere Wege beschritten als zuvor Herzog Arnulf von Bayern, so geschah das gewiß nicht nur mit Rücksicht auf Friedrichs bloß großgräflichen Rang, sondern auch deswegen, weil Friedrich vom Könige des Ostfränkisch-deutschen Reiches keineswegs so unabhängig sein konnte und wollte, wie es bis 938 der Herzog von Bayern gewesen war. § 511. Das ist zu bedenken, wenn man die ersten Zeilen der Urkunde liest, in denen der Herzog selber spricht: Ego Fridericus gratia Dei et electione Francorum dux . . . patefacere cupio, quoniam, tempore nostri ducatus, nostram quidem vir illustris nomine Aquinus . . . adiit majestatem . . . Wegen seiner Ungewöhnlichkeit ist dieser Wortlaut zur Gänze oder teilweise der Unechtheit verdächtigt worden, wofür man entweder den Kopisten, der die im Kloster Gorze gesammelten Urkunden am Ende des 12. Jahrhunderts in das Kopialbuch der Abtei eingetragen hat, oder seinen Vorgänger verantwortlich macht, denn gewiß waren, als jener die Arbeit aufnahm, viele ältere Originale bereits verlorengegangen. Der Kopist gilt als unzuverlässig nicht nur hinsichtlich der Lesung seiner Vorlagen, sondern auch insofern, als er die Jahreszahlen, die er in seinen Vorlagen vermißte, von sich aus in die Urkunden eingefügt hat (A. d’Herbomez in Cart. Gorze S. IX), aber dieser Verdacht bezieht sich insbesondere auf die ältesten, noch aus der Karolingerzeit stammenden Urkunden, während die jüngeren Texte (Th. Sickel zu MGH. DO. I. 70) in guter Qualität überliefert sind. Was speziell unsere Urkunde betrifft, so ist dem Kopisten nicht mehr als die Verderbnis der Arenga zur Last zu legen (A. d’Herbomez in Cart. Gorze S. 511 – 513). Es wäre zwar denkbar, daß er das Wort electione, auf das es uns besonders ankommt, falsch gelesen hat, aber ich sehe nicht, was statt dessen in seiner Vorlage gestanden haben könnte, zumal mißdeutbare Abkürzungen des Wortes im 10. Jahrhundert wohl noch nicht gebräuchlich waren (A. Cappelli, Dizionario 1961 S. 119). Eine Antwort auf diese Frage wäre noch zu finden, wenn der Verdacht der Verlesung oder Verfälschung wirklich erwiesen werden soll. Unter jenen Historikern, welche die Urkunde für echt halten, stehen einander zwei Auslegungen gegenüber. Einerseits rechnete Georg Waitz das Stück zu den Belegen für die Ansicht, daß königliche Bestallung und volkliche Wahl bei der Erhebung der Herzöge zusammenwirkten, wobei er sich ergänzend darauf berief, daß der Annalist Flodoard von Reims zum Jahre 920 über (Herzog) Giselbert II. (oben: § 452) berichtet: quem plurimi Lotharienses principem, relicto Karolo rege, delegerant (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 169 A. 4, Bd. 7 S. 100, 114 A. 5, 116 f. C. Brühl 1995 S. 430. Th. Bauer 1997 S. 53 ff., 63 f.). Andere dagegen nehmen an, Königsrecht und Volksrecht hätten einander widerstritten, daher die Herzöge, sobald eine Wahl von Seiten ihrer Standesgenossen ihre Stellung bestärkte, in Wettstreit mit dem Könige traten; ihnen dient die herzogliche Intitulation von 959 als
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Beweis dafür, daß gewählte Herzöge ihre Amtsgewalt nicht mehr vom Könige empfingen, sondern sie im eigenen Namen ausübten (E. Bonvalot 1895 S. 95), und sie verweisen darauf, daß Flodoard zu 959 berichtet, die Lothringer seien von ihrem Herzoge, Erzbischof Brun von Köln, abgefallen, hernach aber habe ihnen Brun den Grafen Friedrich als Vizeherzog vorgesetzt: Lotharienses a Brunone duce desciscunt . . . Quibus postmodum evocatis, Fredericum quendam comitem eis vice sua praefecit (Reg. Eb. Köln 1, 133 n. 432). Damit war der begriffliche Gegensatz zwischen Amtsherzogtum und Wahl- oder Stammesherzogtum konstruiert, der bis heute den Streit um die Deutung der ostfränkisch-frühdeutschen Herzogtümer beherrscht. Niemand zog allerdings, solange die philologisch-historische Methode in voller Blüte stand, aus den Widersprüchen, in die sich die Ausleger verstrickten, einen anderen Schluß als den, daß es noch nicht gelungen sei, die Urkunde von 959 richtig zu verstehen. Noch war es nicht denkbar, die Schwierigkeiten der Urkunde selbst zur Last zu legen und sie deswegen der Unechtheit zu verdächtigen. Zwar hatten die ungewöhnliche Intitulation und die Bezeichnung König Ottos als Kaiser in der Datierung diesen Verdacht bereits erweckt (R. Köpke / E. Dümmler 1876 S. 301 A. 1), aber der Herausgeber des Gorzer Cartulars fand dafür keinen Beweis. Obwohl er als erster die Schwächen des Kopisten herausstellte, ließ er es dahingestellt sein, ob dieser als Fälscher zu gelten habe; vielmehr sei für jede Urkunde einzeln zu prüfen, ob und wie er in den Text eingegriffen habe (A. d’Herbomez in Cart. Gorze 1898 S. VII-XI), und speziell für die Urkunde von 959 fand er außerhalb der Arenga keinerlei Hinweise auf Verderbnisse oder Interpolationen. Nicht nur sämtliche Personen- und Ortsnamen, sondern auch das Jahresdatum erwies sich als korrekt (ebd. S. 511 – 513). § 512. Es vergingen denn auch etliche Jahrzehnte, bis sich jemand dazu entschloß, den Fälschungsverdacht ernstzunehmen, und es ist typisch für den inzwischen eingetretenen Wandel des Wissenschaftsbegriffs, daß Heinrich Sproemberg, der das als erster tat, anstatt ein simples diplomatisches Problem mit den Methoden der Urkundenforschung zu lösen, das Thema zur Glaubensfrage aufbauschte. In Umkehrung der Beweislast behauptete er, wiewohl ein verfassungsgeschichtliches Unicum, sei die Urkunde auf Georg Waitz’ Autorität hin angenommen worden, obwohl ihre Echtheit nicht erwiesen wäre. Zwar gab er zu, daß der rechtliche Inhalt der Urkunde, den er in der Eile als Besitztausch bestimmte, durchaus echt sein könne, was aber Intitulatio und Narratio betreffe, so sei diese Annahme töricht, denn nur „wer es für möglich hält, daß ein ottonischer Unterherzog sich den Charakter der Majestät beilegt, der mag auch an ,die Wahl der Franken‘ glauben“. Flodoard vermelde nämlich zu Recht, Graf Friedrich sei den Lothringern durch Herzog Brun vorgesetzt worden, denn im allgemeinen sei es Sache des Königs gewesen, mit dessen Einverständnis Brun hier handelte, Herzöge einzusetzen. Nur in einer Anmerkung ging Sproemberg auf die Frage ein, wann, von wem und warum der Anfang der Urkunde verfälscht worden sei, und da ließ er es bei der vagen Andeutung bewenden, daß der Gorzer Kopist als Urheber und ein gleichzeitiger
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Herzog von Lothringen als sein Auftraggeber in Betracht kämen: Wenn nämlich bereits eine Urkunde von 939 Friedrich den Herzogstitel gebe, so stecke dahinter vielleicht „mehr als lokaler Größenwahn, denn später versuchte man in Lothringen die Herzogsgewalt als möglichst unabhängig vom Reich darzustellen, und dafür konnte dies ein frühes Zeugnis sein“ (ebd. S. 61 Anm. 218). Obwohl diese Erörterung vereinzelt auf Zustimmung gestoßen ist – K. G. Hugelmann (1955 S. 127 f.) und W. Mohr (1974 S. 41 – 43) sind ihr uneingeschränkt, W. Kienast (1968 S. 382 f.) und R. E. Barth (1990 S. 137 f., 174 f.) wenigstens teilweise beigetreten –, muß man feststellen, daß Sproemberg in Wahrheit keinerlei Beweis für die Fälschung geliefert hat. Vielmehr behandelt er das Beweisthema, und das ist die Frage, ob der mittelalterliche Staat von unten oder von oben her aufgebaut war, als bereits zugunsten der letzteren Alternative entschieden und verdächtigt die Urkunde allein deswegen, weil sie der herrschenden Lehre (oben: §§ 331 – 335, 406) von dem widerspricht, was im allgemeinen Aufgabe und Recht des Königs war, und diesem Generalverdacht paßt er seine diplomatischen Argumente an. Selbst Walther Kienast, der als erfahrener Diplomatiker die Nichtigkeit dieser Erörterung durchschaute, beugte sich der vorgefaßten Meinung: „Ist auch die Urkunde nicht sicher als Fälschung zu erweisen, unterliegt doch ihre Zuverlässigkeit so erheblichen Bedenken, daß wir keine Schlüsse aus ihr ziehen dürfen, denn die gegen sie vorgebrachten Argumente gewinnen durch die dem Kölner Erzbischof untergeordnete Stellung Friedrichs vermehrtes Gewicht“ (W. Kienast 1968 S. 383). § 513. Überall, wo man seither näher hinschaute, haben sich Sproembergs Mutmaßungen als unbegründet erwiesen. So schränkte bereits Kienast die Kennzeichnung der Urkunde als Unicum auf das Kolon electione Francorum dux ein, wozu er „in keiner deutschen oder französischen Herzogsurkunde ein Gegenstück“ kannte. Auch dem einzigen wirklich diplomatischen Argument Sproembergs wollte er nicht folgen, da ihm drei Urkunden des 10. und 11. Jahrhunderts bekannt waren, in denen sich französische Bischöfe und Grafen den Charakter der Majestät beilegten; damit war der Gebrauch des Wortes unterhalb der königlichen Sphäre bestätigt und erwiesen, daß wir „den Ausdruck nicht auf die moderne Goldwaage legen“ dürfen (W. Kienast 1968 S. 382 f.). In der Tat bezeichnet lat. maiestas im 10. und 11. Jahrhundert die jetzt auch von Herzögen und Bischöfen in Anspruch genommene hoheitliche Vollmacht, ein authentisches oder mächtiges Siegel zu führen (J. F. Niermeyer, Lexicon 1976 S. 627), ein Siegel nämlich mit öffentlicher Beweiskraft, das geeignet war, auch Rechtsgeschäfte dritter Personen unanfechtbar zu beglaubigen, die selbst entweder gar kein Siegel oder jedenfalls kein authentisches führten (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 713 – 716. A. von Brandt 1973 S. 136). Eben um dieses prozeßrechtlichen Vorteils willen aber hatten der Abt von Gorze und Aquinus im Jahre 959 die Majestät ihres Herzogs aufgesucht, denn wenn Friedrich auch noch kein Siegel führte, so erlangten sie denselben Vorteil doch bereits dadurch, daß der Herzog von seines
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Amtes oder seiner Majestät wegen den Beurkundungsbefehl in ihrer Sache erteilte und die Korroboration der Urkunden durch die Zeugen beaufsichtigte. Es ist also der Kardinalfehler des Latinismus (oben: § 53), auf den sich Sproembergs Glaube an die Unechtheit der Herzogsurkunde aufbaut, und es ist dieser Glaube, der ihn daran hindert, sich von dem Text etwas sagen zu lassen, ohne ihm voreilig ins Wort zu fallen. Denn die Urkunde ist im Umkreise fränkischer Grafengerichte entstanden und noch von einem fränkischen Gerichtsschreiber verfaßt worden. Sie gibt fränkisch-völkische Rechtsansichten wieder, die der Diktator aus der Volkssprache ins Lat. zu übersetzen hatte. Wir dürfen daher dem Worte majestas in seinem Texte nicht die Bedeutung beilegen, die es einst in der römischen Kaiserzeit gehabt hatte und hernach seit Kaiser Friedrich II. (oben: § 258) und der Rezeption des römischen Kaiserrechtes in der Neuzeit wieder annahm, als es die Allmacht eines Gott auf Erden vertretenden Herrschers zum Ausdruck brachte, sondern wir müssen ausgehen von dem ahd. Äquivalent, welches Kanzler Adelard in der Verhandlung, der er beiwohnte, zu hören bekommen und in lat. Sprache wiederzugeben hatte. Das aber war ein Wort, welches die Amtsmacht, ahd. githuuing, und die Herrlichkeit oder Würde ihres Inhabers, ahd. hêrî, kraft, mahtigî, bezeichnete und auch mit lat. dignitas oder potentia hätte wiedergegeben werden können (H. Götz, Wb. 1999 S. 388), maiestas also in einem Sinne, wie er dem Fürstentume der Zeit angemessen war, dem die Volkssprachen noch keinerlei obrigkeitliche Herrschaft oder Hoheit beilegten, sondern lediglich die Würde oder Autorität eines Ersten unter Gleichen in einem Verbande, dem der Fürst gleich allen Edelfreien angehörte und dessen Wort er als gekorenes oder angenommenes Oberhaupt halten durfte (oben: §§ 407 – 411). Der Glaube, der in Sproemberg den Fälschungsverdacht erregte, beruht also letzten Endes auf einer vorgefaßten Meinung über die Allmacht König Ottos I., die ihn der Mühe enthob, der Bedeutung des Wortes maiestas auf den Grund zu gehen. Unverdächtig ist ferner auch der Ausdruck gratia Dei (dux), da ihn seit dem 9. Jahrhundert Grafen und Herzöge, darunter auch lothringische (R. E. Barth 1990 S. 137; oben: § 452), vereinzelt für sich in Anspruch nahmen. Wir haben bereits mehrfach erörtert, daß er möglicherweise gerade dann für zutreffend erachtet worden ist, wenn sich die Stellung eines Großen als Hauptes eines Untertanenverbandes auf eine Wahl stützte (oben: §§ 339, 374, 487). Da dieses Problem einen Teil des Beweisthemas ausmacht, ist es unzulässig, einen gewissen Widerspruch zwischen direkter Bindung des Herzogs an Gott und seiner Wahl durch die Franken vorauszusetzen (R. E. Barth 1990 S. 138) und deswegen die Echtheit der Intitulatio anzuzweifeln. § 514. Auch ist der Ausdruck electione Francorum nicht deswegen zu beanstanden, weil darin der wahlberechtigte Untertanenverband unter dem Namen der Franken erscheint. Er beweist lediglich, was andere Quellen bis herab zum Jahre 1034 bestätigen, daß „die Lothringer . . . sich noch nicht als eigener Stamm, son-
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dern als Teil des Frankenstammes“ fühlten (W. Kienast 1968 S. 383). Schwächt es den Fälschungsverdacht schon erheblich ab, daß ein Lütticher Annalist, der zu 964 den Tod Herzog Gottfrieds von Niederlothringen und zu 965 den des Erzbischofs Brun von Köln vermeldet, dabei beiden Fürsten den Titel dux Francorum gibt (U. Nonn 1983 S. 197), so muß man jenen Verdacht geradezu ausschließen, wenn man sich fragt, wie ein späterer Fälscher hätte wissen können, daß sich gerade in dieser Zeit die Amtsbereichsbezeichnung Francorum regelmäßig auf Lothringen bezog (K. Brunner 1973 S. 297). Das gleiche gilt für die electio. Wie hätte ein Fälscher am Ende des 12. Jahrhunderts auf den Gedanken kommen können, die Unabhängigkeit eines Fürsten vom Reiche just auf eine Wahl durch sein Volk zu begründen? „Warum sollte der Fälscher seine Urkunde mit der so auffälligen Wahlformel belastet haben?“ (W. Kienast 1968 S. 383). So sind es denn nach wie vor auch nicht diplomatische Gründe, mit denen man den Verdacht nachträglicher Interpolation des Wortes in den Text begründet, sondern der „angesichts der politischen Verhältnisse im Jahre 959 ungeheuerlich(e)“ Klang der Formulierung (W. Mohr 1974 S. 42) und der Umstand, daß von einer Wahl Friedrichs durch lothringische Große sonst nichts bekannt, wohl aber bei Flodoard seine Einsetzung durch Erzbischof Brun bezeugt ist. Brun aber gilt als eben jener Statthalter des Königs, gegen dessen Stellung sich die Formulierung in recht aggressiver Weise gewandt habe (R. E. Barth 1990 S. 137 f.). Schließlich ist auch die letzte Aufgabe diplomatischer Kritik, nämlich den Urheber, die Entstehungszeit und die Tendenz der Fälschung soweit wie möglich aufzuklären (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 9. A. von Brandt 1973 S. 103), ungelöst geblieben. Nur einmal findet sich offen die Meinung ausgesprochen, daß der Kopist, der den Text der Urkunde in das Gorzer Cartular eintrug, deren Intitulation verfälscht habe (W. Mohr 1974 S. 42), aber ihr Urheber zeigt keinerlei Bewußtsein von den Problemen, die er damit aufwirft: Warum fertigte der Fälscher kein scheinbares Original an, dessen es doch bedurfte, wenn der mit dem Wahlrecht verbundene Anspruch öffentlich geltendgemacht werden sollte, sondern nahm die Verfälschung in einem Kopialbuche vor, das nur für den Hausgebrauch der Abtei Gorze bestimmt war? Warum verfälschte er darin nur eine einzige Urkunde auf diese Weise? Wer war sein Auftraggeber? Warum sollte ein Herzog von Lothringen, wenn es denn ein solcher war, der einen Vorteil von der Verfälschung erwarten konnte, diese gerade im Kloster Gorze herstellen lassen, das gar nicht seiner eigenen, sondern der Landeshoheit des Bischofs von Metz unterstand, und zwar als quasi camera . . . Mettensis episcopi et principale menbrum ecclesie Mettensis (Cart. Gorze S. 309 n. 177)? Woher nahm der Fälscher das Wissen, dessen es bedurfte, um in eine Urkunde des 10. Jahrhunderts die electio Francorum einzufügen? Keine dieser Fragen läßt sich beantworten, und solange das der Fall ist, dürfen wir getrost die Echtheit der Urkunde als gesichert betrachten. § 515. Wie aber ist die Aussage der Urkunde zu erklären? Da wäre zunächst zu bemerken, daß die Angaben des Annalisten Flodoard von Reims zu 920 und 959 in
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einem Punkte übereinstimmen: In beiden Jahren nämlich hatten die Lothringer zunächst ihr bisheriges Haupt verlassen, bevor sie in jenem Jahre Giselbert zum Fürsten erkoren und in diesem Jahre den Grafen Friedrich von Brun als solchen vorgesetzt erhielten. Wenn sie also imstande, also doch gewiß nach eigener Überzeugung oder nach Volksrecht dazu berechtigt waren, ihr Oberhaupt zu verlassen oder abzuwählen, so darf man aus Flodoards knappen Notizen gewiß nicht schließen, daß ihnen das Recht gefehlt habe, sich nach der Verlassung ein neues Haupt zu kiesen oder den ihnen von Brun vorgesetzten Herzog unter ihren Bedingungen zum Herrn anzunehmen. Es besteht auch kein Grund, um Flodoard so zu übersetzen, wie Sproemberg es tut: „Nachdem er sie aufgeboten hatte, stellte er Friedrich an ihre Spitze“ (H. Sproemberg 1941 S. 62), denn damit legt man der Verfassung die einseitige Befehlsgewalt des Kriegsherrn, den Heerbann, zugrunde. Aber lat. evocare wird mit ahd. foraladôn, lat. evocatio mit ahd. ladunga wiedergegeben (H. Götz, Wb. 1999 S. 232), und daher liegt es näher anzunehmen, Brun habe die Lothringer nach Friedensrecht zu einem Landtage geladen und ihnen den Grafen als Oberhaupt an seiner Statt lediglich designiert, damit sie ihn zum Herzoge annehmen und in die leibliche Gewere an dem Amte einweisen könnten. Daß auch in Lothringen die Erteilung des königlichen Amtsauftrages allein nicht maßgeblich war, hatte sich zuvor im Jahre 940 gezeigt, als König Otto seinem Bruder Heinrich das Herzogtum in Auftrag gegeben hatte (Heinrico ducatus committitur: Regino, Cont.), denn die Lothringer verweigerten dem Beauftragten Huldigung und Investitur (qui mox eodem anno a Lothariensibus expellitur). Otto scheint daraufhin den Lothringern das Wahlrecht zurückgegeben zu haben, denn nun erteilte er einem Einheimischen, dem Grafen Otto, Sohn Richwins von Verdun, den Amtsauftrag (cui Otto comes in eodem ducatu successit), obwohl dessen Eignung zweifelhaft gewesen sein mag, denn es gelang ihm nicht, eine stärkere Herzogsherrschaft zu errichten (RI 2, 1 n. 89a, 91a). Auch Graf Konrad der Rote von Worms, dem der König im Jahre 944 das Herzogtum übergab, scheint von den Lothringern zumindest nicht einhellig zum Haupte angenommen worden zu sein, denn später erhoben sie sich gegen ihn, cum iam olim ei infesti essent, eo quod ducatum super eos administraret ipsis invitis (Widukind III 24): Der König dürfte sich über das Wahlrecht des Volkes hinweggesetzt haben, wie er es so häufig auch bei der Bischofserhebung tat. Es ist nicht bekannt, wann die Wahl stattgefunden hat, auf die sich Friedrich im Jahre 959 berief. Es mochten seither Jahrzehnte vergangen sein, da Friedrich schon in zwei Privaturkunden aus dem Jahre 939 als dux und comes et dux erwähnt wird (R. Köpke / E. Dümmler 1876 S. 301 A. 1. R. E. Barth 1990 S. 173 f.) und folglich wohl vom Volke in eben der Weise als Herzog oder Großgraf angesehen wurde, wie er sich im Jahre 959 selbst darstellt, und gewiß war er vom Reiche auch zumindest stillschweigend in dieser Stellung anerkannt. Als nun im Jahre 959 die Lothringer von ihrem vizeköniglichen Herzog Brun abfielen, wird dieser die Bestallung widerrufen haben, so daß Friedrich tatsächlich von da an bis zur Versöhnung mit Brun, die auf dem oben erwähnten Landtage stattfand, nur kraft der ihm
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einst zuteilgewordenen Wahl, nur als electus, als erwählter Herzog, in seinem Lande amtieren konnte. Hieraus mag sich auch die „Sonderbarkeit“ des Ausdrucks tempore nostri ducatus am Anfang der Narratio unserer Urkunde erklären, den man ebenfalls der Willkür des Gorzer Kopisten hat zurechnen wollen (W. Kienast 1968 S. 383). Geht man also, wie es bereits Georg Waitz tat, von der andernorts vielfach als beweisbar gegebenen Voraussetzung aus, daß bei Erhebung des Herzogs der die Wahl lenkende, designierende, bestallende König und das kiesende, prüfende, annehmende Volk nach den Rechtsvorstellungen des 9. bis 11. Jahrhunderts einhellig zusammenwirken sollten, so ergibt sich demnach eine auch sachlich voll befriedigende Erklärung der lothringischen Herzogsurkunde von 959. Nichts zwingt uns dazu, ihre Interpretation der Lehre vom Staatsaufbau von oben her anzupassen. Politische Leistung und staatsmännische Größe König Ottos I. hängen nicht davon ab, ob oder daß es ihm gelungen wäre, das Volksrecht auf Mitwirkung an der Erhebung aller öffentlichen Beamten zu vernichten; sie beruhen vielmehr auf der Meisterschaft, mit der er unter den schwierigen Umständen, welche das System identischer öffentlicher Willensbildung jedem politischen Führungswillen in den Weg legte, den Reichsuntertanenverband zu stärken und dazu zu bringen verstand, gemeinsam eben das zu wollen, was er für notwendig und richtig erkannt hatte. Es erscheint mir daher sehr zweifelhaft, daß es zutreffend und geboten ist zu sagen: Der Titel eines erwählten Herzogs der Franken „mußte allerdings bei diesem ,Amtsherzog‘ unter der Kontrolle des ,archidux‘ Brun politische Schwäche gegenüber dem lothringischen Adel überdecken“ und kann „nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Otto I. mit Hilfe Bruns in Lothringen zum ersten Mal gelungen war, Amt (Mandat) und Herzogtum auf einen Nenner zu bringen“ (K. Brunner 1973 S. 213, 297).
§§ 516 – 518. Bayern 995 und 1002 § 516. Die nächsten Zeugnisse für die Teilnahme des kiesenden Volkes an der Erhebung seiner Herzöge betreffen das Regnum der Bayern (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 115), dessen Volksrecht einst Anschläge auf das Leben des vom Könige bestallten, aber doch auch (lat. aut: H. Götz, Wb. 1999 S. 66) vom Volke gekorenen Herzogs als besonderen Straftatbestand definiert hatte: Si quis contra ducem suum quem rex ordinavit in provincia illa aut populus sibi elegerit ducem, de morte eius consiliatus fuerit . . . (Leges Baiwar. II 1), und darüber hinaus die Fahrhabe des Herzogs besonders beschützte, quia domus ducis domus publica est (ebd. II 12). Wenn Bischof Thietmar von Merseburg zum Jahre 1002 berichtet, die Bayern hätten von Anfang an das Recht der freien Herzogswahl genossen: Bawarios ab initio ducem eligendi liberam habere potestatem (Thietmar V 14), so bezieht sich dies entweder darauf, daß das alte Volksrecht in Bayern noch immer bekannt und in Gebrauch war (K. Reindel 1953 S. 80. W. Störmer 1992 S. 504; oben: § 411), oder
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aber auf den Herrschaftsvertrag, den die Bayern im Jahre 921 mit König Heinrich I. ausgehandelt hatten (oben: § 489), denn darin könnte der König ihnen das Privileg der freien Wahl zugestanden haben, um das sich offenbar keineswegs nur die Reichskirchen bemühten. Auch nachdem im Jahre 937 Herzog Arnulf von Bayern gestorben war, scheint König Otto I. das freie Wahlrecht der Bayern nicht beschnitten zu haben. Er geriet mit Arnulfs Sohn und Nachfolger Eberhard erst in Streit, als dieser sich weigerte, dem Befehl des Königs zur Hoffahrt Folge zu leisten, regis iussu ire in comitatum (Widukind II 8), und auf das Königsrecht der Bischofserhebung zu verzichten. Es gelang Otto jedoch, Eberhard zu vertreiben und die Wahl der Bayern auf Arnulfs Bruder Berchtold zu lenken (RI 2, 1 n. 69a). Auch bei Ottos ferneren Verfügungen ist von gelenkten Wahlen auszugehen, mag auch in den knappen Notizen der Annalisten nur von der Vergabung des Dukates durch den König die Rede sein. Etwas ausführlicher äußert sich erst der im allgemeinen sehr gut unterrichtete Bischof Thietmar von Merseburg, und zwar über die Erhebung Herzog Heinrichs IV. im Jahre 995. Die Vorgänge haben es also allein Thietmars Auffassungen vom historisch Wichtigen und Berichtenswerten zu verdanken, daß sich uns in ihnen „die erste bekannte Herzogswahl im 10. Jahrhundert“ (O. Engels 1991 S. 491) zu erkennen gibt. Wir erfahren, daß des jungen Herzogs Vater, als er im Jahre 995 auf der Heimreise vom Reichstage zu Magdeburg den Tod nahen fühlte, seinen Sohn zu sich nach Gandersheim berief und ihm gebot, eilends in die Heimat, ad patriam, zu reisen, um seine Nachfolge in der Regierung zu sichern, disponere regnum; und daß der Jüngling, nachdem er dort die Nachricht vom Tode des Vaters empfangen hatte, dank der Wahl und Unterstützung, die ihm die Bayern gewährten, beim Könige die Einsetzung in die Rechte des Vaters erlangte: electione et auxilio Bawariorum patris bona apud regem optinuit (Thietmar IV 20. RI 2, 3 n. 1142a, 1144c. K. G. Hugelmann 1955 S. 110 f. K. Reindel in Hdb. bay. G. 1981 S. 303. F. Prinz ebd. S. 397. St. Weinfurter 2000 S. 34 f.). Das Verfahren war zweifellos von der Reichsregierung zugelassen oder mit ihr abgestimmt, da diese bereits im Jahre 994 den Sohn neben dem Vater als condux tituliert hatte (MGH. DO. III. 155), und Thietmar erzählt, wie der Vater auf dem Sterbelager den Sohn angewiesen habe, sich niemals dem Könige zu widersetzen. Den Bayern dürfte daher die königliche Designation des Sohnes zu ihrem neuen Herzoge vorgelegen haben, als sie zur Wahl schritten. Wir müssen uns darauf beschränken festzustellen, daß der bestallende König und der kiesende Untertanenverband bei der Erhebung des Herzogs zusammenwirkten, ohne entscheiden zu können und zu wollen, welche Seite die Initiative ergriff. Worauf es ankam, das war der einhellige und übereinstimmende Wille aller Beteiligten, nicht aber der Weg, auf dem er zustandekam und der den Handelnden noch von keinerlei Regeln vorgezeichnet wurde. § 517. Nun gewann Herzog Heinrich im Jahre 1002 die Krone des Ostfränkischdeutschen Reiches, und dabei war ihm der Großgraf Heinrich, der die Markgrafschaft im bayerischen Nordgau mit der Hauptmannschaft des mainfränkischen Du-
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katsverbandes in seiner Hand zu vereinigen trachtete (oben: § 450), ein treuer Helfer gewesen. Daher forderte der Graf, nachdem er sich der Fürsprache anderer Großer des zu der Zeit in Schwaben verweilenden Reichsheeres versichert, vom Könige die ihm mehrfach zugesagte Bestallung als Herzog von Bayern, per optimos exercitus eiusdem viros diu firmiterque promissum Bawarii regni ducatum dari postulavit. Darauf soll der König geantwortet haben: „Wißt ihr nicht, daß solches nicht während dieser Heerfahrt geschehen kann, daß die Bayern von Anfang an freie Vollmacht haben, den Herzog zu kiesen, und daß es sich nicht ziemt, sie so plötzlich zu mißachten und das Recht der alten Satzung, constitutionis antique ius, ohne ihre Zustimmung zu brechen? Wolle aber der Graf warten, bis ich selbst in die bayerischen Länder, ad has regiones, kommen kann, so würde ich ihm, mit gemeinem Rate und Willen der bayerischen Fürsten, cum communi consilio principum eorundem ac voluntate, in der Sache gerne genugtun“ (Thietmar V 14. Hdb. bay. G. 1981 S. 308 f. W. Störmer 1992 S. 512 f. St. Weinfurter 2000 S. 187 f.). Da Graf Heinrich das Wahlrechtsprivileg der Bayern genauso gut gekannt haben muß wie der König, kann sich seine Forderung nur darauf bezogen haben, daß der König von dem Rechte Gebrauch machen sollte, welches seine Vorgänger seit 937 / 38 oft genug ausgeübt hatten, nämlich die bayerische Herzogswahl zu seinen Gunsten zu lenken, indem er ihn den Bayern als deren dem Reiche erwünschtes Haupt designierte. Thietmar aber konnte diesen Akt sehr wohl als dare ducatum bezeichnen, weil noch niemand zwischen Designation und Bestallung einen Unterschied machte und der König eine vorgängige Bestallung nur unter Vorbehalt der Rechte des betroffenen Untertanenverbandes auszusprechen pflegte (oben: §§ 415, 417, 427, 428). Folglich waren es nicht rechtliche, sondern politische Gründe, die den König dazu bewogen, dem Großgrafen die Designation zu verweigern. Die Bayern waren es zufrieden, sie machten keine Anstalten, den König, der immer noch zugleich ihr Herzog war, zugunsten eines anderen zu verlassen. Als sich endlich der König selbst dazu bereit fand, das Herzogsamt niederzulegen, waren sie weit davon entfernt, auf eigener, freier Kur des Nachfolgers zu beharren, sondern ganz damit einverstanden, daß er ihre Wahl lenkte, indem er ihnen seinen Schwager, den Grafen Heinrich von Luxemburg, designierte: Offenkundig stand solches nicht im Widerspruch zu dem, was man damals unter freiem Wahlrecht verstand. Von Merseburg nach Italien ziehend, kam nämlich König Heinrich, begleitet unter anderen von dem Bischof von Merseburg, im Jahre 1004 nach Regensburg, ibique habito regali placito militi suimet generoque Heinrico XII. Kal. Aprilis cum omnium laude presentium cumque hasta signifera ducatum dedit (Thietmar VI 3. K. Reindel in Hdb. bay. G. 1981 S. 309). Zu Recht nimmt man an, daß bei dieser Zeremonie der neue Herzog auch auf den Herzogsstuhl geleitet, daß er inthronisiert wurde, da er hinfort von jenem Stuhle aus anstatt des Königs das Gericht zu leiten hatte (W. Störmer 1992 S. 513. St. Weinfurter 2000 S. 193). Darüber hinaus ist aber auch anzunehmen, daß nicht der König die Thronsetzung vornahm, sondern daß die Worthalter des bayerischen Untertanenverbandes das Recht
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übten, den gekorenen und bestallten Herzog auf den Thron zu setzen (oben: §§ 429, 431, 432). § 518. Zu dem Wahlrecht der Bayern gehörte natürlich auch die Befugnis, einen Herzog zu verlassen oder abzuwählen, wenn er seine Amtspflichten verletzte und damit Amtseid und Herrschaftsvertrag brach. Denn nur unter dieser Voraussetzung war es angebracht, daß sich Herzog Heinrich V. im Jahre 1008 von den auf seiner Königstreue beharrenden Bayern zuschwören ließ, sie würden drei Jahre lang von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, als er im Interesse seiner luxemburgischen Verwandten, denen er ebenfalls Treue schuldete, eine Rebellion gegen den König vorbereitete, von der er gewiß hoffte, sie werde in absehbarer Zeit ein versöhnliches Ende nehmen: Selbst wenn die Bayern ihn also deswegen verlassen müßten, konnte er bei einer Versöhnung mit dem Herrscher damit rechnen, das Herzogtum zurückzuerhalten, soferne die Bayern nicht inzwischen einen anderen wählten. Aber der König verwies ihnen eine derart spitzfindige, vergiftete (H. Hattenhauer 1988 S. 668 – 671) Auslegung ihrer Eides- und Treuepflichten: Er nötigte sie dazu, den Herzog zu verlassen, indem sie ihm ihren Beistand versagten, und sich ihm, dem Könige, in spezieller Weise durch Annehmung zu verpflichten, also entgegen jenem als gefälscht erkannten Eide ihn selbst zum Herzog zu kiesen: Quocirca optimi Bawariorum Ratisbone regali edictu conveniunt et, quamvis duci suimet ad tres annos se alterum non eligere omnes sponte iurarent, tamen ob hoc a rege iurgati blandiciis atque minis ab eius famulatu et auxilio deducuntur sibique specialiter assumuntur (Thietmar VI 41. K. G. Hugelmann 1955 S. 110 f. St. Weinfurter 2000 S. 195 f.). Regelmäßig haben seither die zum Landtage versammelten bayerischen Großen in Ausübung ihres Wahlrechts an der Erhebung der Herzöge mitgewirkt (J. Fikker / P. Puntschart 1923 S. 28 – 32. Hdb. bay. G. 1981 S. 313, 314 A. 28, 317 f., 325 f., 332 – 335, 397 – 400. W. Störmer 1992 S. 505 f.). Besondere politische Bedeutung indessen scheinen sie den Kuren nicht beigemessen zu haben. Mochte der König die Wahlen nur nach seinem Willen lenken: Ihnen war jeder Fürst als Herzog recht, da sie, wen immer sie zum Haupte annahmen, durch den Herrschaftsvertrag fest an ihren Willen und ihre Mitregierung gebunden wußten. So ließ das Land selber sein Wahlrecht verfallen und zu dem Huldigungsrecht verkommen, das seit dem 13. Jahrhundert die Landstände ausübten, das sich jedoch, vom Standpunkte des Königs und Fürsten aus betrachtet, immer mehr wie eine bloße Untertanenpflicht ausnahm, zumal nun auch die Gemeinden der zwar verachteten, aber zahlungskräftigen Neufreien, zuerst die Regensburger und dann die der anderen Städte, ihren Eintritt in die Landesgemeinde durchsetzten. Schon zum Jahre 1155 macht ein fürstlicher Schriftsteller diesen neuen, dem frühen Mittelalter fremden Standpunkt geltend: Mediante Octobre imperator Ratisponam, Norici ducatus metropolim, curiam celebraturus ingreditur, habens secum Heinricum, Heinrici ducis filium, in possessionem eiusdem ducatus mittendum . . . Sedente ibi in publico consistorio imperatore, iam sepe nominatus Heinricus dux possessionem suam patrumque suorum recipit sedem. Nam et proceres Baioariae hominio et sacramento sibi
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obligantur, et cives non solum iuramento, sed etiam, ne ullam vacillandi potestatem haberent, vadibus obfirmantur (Gesta Frid. II 43).
§§ 519 – 524. Thüringen 997 und die spätere Landgrafschaft § 519. Beiläufig gedenkt der Bischof von Merseburg noch einer weiteren Herzogswahl, und zwar in einem Rückblick auf das Leben des Markgrafen Ekkehard I. von Meißen, womit er den Bericht über dessen gewaltsamen Tod – Ekkehard wurde am 30. April 1002 in der Pfalz Pöhlde von Bluträchern ermordet – beschloß. In diesem Rückblick steht der kurze Satz: Super omnem Thuringiam communi totius populi electione ducatum promeruit (Thietmar V 7). Die Herzogserhebung könnte entweder vor dem zweiten Italienzuge Kaiser Ottos III. im Jahre 997 oder danach im Jahre 1000 vor sich gegangen sein. Sie ist in die Konkurrenz zwischen der sächsischen und der bayerischen Linie des liudolfingischen Königshauses einzuordnen, denn Ekkehard muß in Thüringen im Wettstreit mit dem Großgrafen Wilhelm II. von Weimar (oben: § 474) gestanden haben, der sich vom Hofe Kaiser Ottos III. fernhielt und die Unterstützung der bayerischen Herzoge suchte, offensichtlich um seine großgräfliche Stellung als Haupt der thüringischen Landesgemeinde zu verteidigen, während Ekkehard zu den getreuesten Helfern des Kaisers gehörte und, obwohl nur im Nordosten Thüringens, an der unteren Unstrut, im Hassegau und in der Mark Merseburg begütert, wohl als einziger in Betracht kam, um die Thüringer als deren Herzog in der Treue zum Kaiser zu erhalten. Nachdem es deswegen im Jahre 1002 zu schweren Kämpfen zwischen Weimaranern und Ekkehardingern gekommen war, stand Graf Wilhelm, sobald Ekkehard den Tod gefunden hatte, wieder als Thuringiorum potentissimus und als deren Worthalter bei der Erhebung Herzog Heinrichs IV. von Bayern zum Könige da (H. Patze 1962 S. 105 – 124. K. Görich 1994 S. 154). Wenn auch niemand die Glaubwürdigkeit Thietmars offen in Frage stellt, so wird sie doch aus zwei Gründen in Zweifel gezogen (K. Görich 1993 S. 151 f.). Erstens nämlich deswegen, weil wir keine anderweitigen gleichzeitigen Zeugnisse für die Existenz eines geeinten, politisch handlungsfähigen thüringischen Volkes besitzen. „Von einer Stammesversammlung, die eine Wahl . . . hätte vornehmen können, haben wir in dieser Zeit keine Nachrichten. Man muß annehmen, daß Ekkehard ein thüringischer Herzog gewesen ist, ohne daß ein thüringisches Stammesherzogtum bestand“ (H. Patze 1962 S. 121). Dieser Einwand ist oben (§§ 473 – 474) widerlegt worden. Er hätte gegen die ältere Forschung (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 116. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 501 f. K. G. Hugelmann 1955 S. 105) nie erhoben werden sollen, denn wer meint, „daß Ekkehard nicht zum thüringischen Stammesoberhaupt gewählt worden sein kann, sondern Thietmars Worte die von den übrigen Großen anerkannte überragende Machtstellung Ekkehards im Altsiedelland umschreiben“ (K. Görich 1993 S. 151), der muß erklären, worin sich eine solche, durch die Großen ausgesprochene Anerkennung von
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einer Wahl, wie man sie im Mittelalter verstand, unterschieden habe. Mit Recht spricht daher der letzte Bearbeiter von dem „dem thüringischen ducatus durch Volkswahl vorstehende(n) Markgraf(en) Ekkehard von Meißen“ (ebd. S. 149). Zweitens aber ist es der moderne Glaube an die Allmacht des ottonischen Königtums und an den Aufbau des mittelalterlichen Staates von oben her, der Zweifel an Thietmars Worten erregt. Da sich der König seit 950 die Herzogtümer strikt untergeordnet und alleine Herzöge und Grafen ernannt oder bestätigt habe, so meint man, sei es „ein unerhörter Vorgang seit einem Jahrhundert“ gewesen, daß jetzt in Thüringen „ein neues Wahl- und Volksherzogtum zu entstehen schien“ und daß der Kaiser, wenn er dies duldete, seine Amtspflichten verletzte: Zu den „schlimmsten Erscheinungen“, die Ottos verfehlte Kaiserpolitik zeitigte, gehörte es, daß „ein Freund und Anhänger des Kaisers, wie der Markgraf Ekkard von Meißen, sich ungestraft in Thüringen zum Volksherzog wählen lassen“ konnte (R. Holtzmann 1941 S. 140 f., 175 – 180, 363, 381). Fest steht aber nur, daß die Reichskanzlei den Markgrafen schon 996 und 998 als dux, freilich ohne den Amtsbereich zu nennen, bezeichnet (K. Görich 1993 S. 151 f.), daß die Reichsregierung weder den Herzog noch die Thüringer jemals wegen Eigenmächtigkeit zur Rechenschaft gezogen oder auch nur mit ihrer Ungnade bedroht hat (ebd. S. 152) und daß Thietmar, aus welchen Gründen auch immer, kein Wort über eine königliche Bestallung oder darüber verliert, ob Otto der Herzogswahl ablehnend oder zustimmend gegenüberstand. Schwerlich wird man aus Thietmars Stillschweigen folgern können, Ekkehard habe niemals eine königliche Bestallung empfangen. Vielmehr wäre in Betracht zu ziehen, daß der thüringische Wählerverband sehr wohl den König um Zulassung der Wahl gebeten, daß der König die Wahl gelenkt, aber auch den Thüringern freigestellt haben und daß er ihnen mit schriftlichem Mandat befohlen haben kann, den Gekorenen anzunehmen und in den leiblichen Besitz des Amtes zu setzen. § 520. Angesichts des geringen Interesses, das die Schriftsteller für Verfassungsfragen und besonders für die Rechte des Volkes zeigen, und des so gut wie vollkommenen Untergangs der Mandate, welche die Reichskanzlei in großen Mengen ausgefertigt haben muß, wäre es unsinnig, wollten wir so ängstlich an der Überlieferung kleben, daß wir die Existenz eines thüringischen Herzogtums, Untertanenverbandes und Landtages nur für solche Zeiten, zu denen die Quellen sie erwähnen, anzunehmen, für andere Zeiten aber zu leugnen hätten, denn dies hieße eine Kette von Revolutionen anzunehmen, in denen Herzogtum und Landtag abwechselnd eingerichtet und abgeschafft worden wären. Viel wahrscheinlicher ist dem gegenüber die Annahme, daß sich das thüringische Volk, da es ja immer da war, auch jederzeit versammeln, seinen Gemeinwillen übereinstragen und politisch tätig werden konnte, und daß lediglich die Form wechselte, in der es sich einen Worthalter bestellte. Es mag lange Zeiten gegeben haben, da es gar keines Hauptes bedurfte, sondern als hauptlose Fürstengenossenschaft bestand (oben: § 464) oder, gleich den Friesen, mit langwährendem Interdukat zufrieden war, andere, in denen
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es an einem potentissimus oder Großgrafen genug hatte, und wieder andere, da ihm an einem dux mitsamt königlicher Bestallung gelegen war. Nur dann aber, wenn man die kontinuierliche Existenz eines thüringischen Untertanen- und Wählerverbandes voraussetzt, scheint mir das Rätsel lösbar zu sein, welches die thüringische Landgrafschaft der Forschung aufgibt. Über deren angebliche Einrichtung im Jahre 1131 unterrichten uns ausschließlich zeitgenössische Annalisten, namentlich der des Mainzer Klosters Disibodenberg an der Nahe, aber auch etliche aus thüringischen und sächsischen Klöstern oder Stiftern. Ihnen zufolge belagerte König Lothar gegen Ende des Jahres 1130 die Burg des als Mörder verfolgten Grafen Hermann von Winzenburg, der nach seinem Vater seit 1122 die Grafschaft in dem südsächsischen, an Thüringen angrenzenden Leinegau innehatte (RI 4, 1, 1 n. 255. H. Schoppmeyer in LMA 9 Sp. 242) und bereits 1129 in einer Königsurkunde als Landgraf, freilich ohne Gebietsbezug, aufgeführt wird (RI 4, 1, 1 n. 194). Danach hielt der König einen Hoftag zu Goslar ab, auf dem er am 31. Dezember die Unterwerfung des Grafen entgegennahm und ihm gemäß Urteils der Fürsten die Grafengewalt in Thüringen aberkannte; noch in Goslar, aber möglicherweise erst im Februar 1131, übertrug er diesen thüringischen Comitat dem Edelherrn und Grafen Ludwig (RI 4, 1, 1 n. 257, 259). Hierüber notierte der Mainzer Annalist in Disibodenberg: Ludewicus comitatum Hermanno iudicio sublatum Turingiae a rege suscepit. Der Erfurter Annalist gibt Hermann den Titel principalis comes Thuringiae und vermeldet: idem Hermannus a rege Lothario deponitur, et comes Ludewicus pro eo constituitur. Dem Chronisten des Klosters Goseck zufolge wurde Hermann durch das Urteil der Fürsten prouinciali comitia honoribus dignitatibus entkleidet, cuius principatu comes Lodeuuicus sublimatur. Der wohl in Halberstadt tätige sächsische und der Magdeburger Annalist berichten: rex . . . comitatum eius predicto Lodowico de Thuringia dedit. Die Stader Annalen sagen von Ludwig: a Lothario rege impetravit comitatum provincialem in Thuringia, und in den Pegauer Annalen heißt es: comes Luodewicus pro eo (sc. Hermanno) constituitur lanthgravius. In den Diplomen König Lothars III. erscheint Ludwig am 2. Februar 1131 als comes Turingie und seit dem 29. März 1131 als lantgravus oder comes regionis (RI 4, 1, 1 n. 258, 267, 298, 384, 391, 408, 481, 496); ebenso in Urkunden des Erzbischofs von Mainz von 1133 als regionarius comes (ebd. n. 367), König Konrads III. von 1138 als comes patriae (MGH. DKo. III. 13) und des Bischofs von Naumburg von 1140 als magnus comes (H. Patze 1962 S. 496). Die Annalisten stimmen demnach darin überein, daß (1) die Landgrafschaft in Thüringen nicht im Jahre 1131 neu eingerichtet wurde, sondern bereits vorher von Hermann von Winzenburg verwaltet worden war, und daß sich (2) für diese Großgrafschaft noch keine feststehende Bezeichnung eingebürgert hatte; man konnte sie als comitatus, comitatus provincialis in Thuringia, comitatus Thuringiae, provincialis comitia oder principatus und den Inhaber als principalis comes Thuringiae, regionarius comes oder lanthgravius bezeichnen. Entsprechend bediente sich
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die Reichskanzlei für den neuen Landgrafen nebeneinander der Titel lantgravus, comes regionarius und comes patriae mit oder ohne Zusatz des Landesnamens. Das Ungewisse und Schwankende des Sprachgebrauchs kann uns nicht verwundern, hatte sich doch zuvor in zwei Jahrhunderten noch kein bestimmter Name oder Titel herausgebildet, welcher die fürstliche, herzogsgleiche Stellung der Großgrafen eindeutig zum Ausdruck gebracht hätte. § 521. Julius Ficker hatte diesen Befund einst dahingehend interpretiert, daß zwar die sachliche Bedeutung des Landgrafentitels den genannten Quellen nicht zu entnehmen, aber eben deshalb die Landgrafschaft von der Großgrafschaft hergeleitet werden könne, die im 11. Jahrhundert die Grafen von Weimar in Thüringen verwaltet hatten (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 455 f., 511 – 514). Denn als das Grafenhaus im Jahre 1112 ausgestorben war, habe Kaiser Heinrich V. zwar dessen Allodialgüter eingezogen (RI 4, 1, 1 n. 20 – 22, 24), aber nirgendwo in den Quellen fände sich eine Andeutung darüber, wie er über die Grafschaften verfügte, die damit vakant geworden waren. Ficker mutmaßte daher, er könne sie an Hermann I. von Winzenburg gegeben haben, von dessen Sohne sie im Jahre 1131 auf Ludwig übergingen. In diesem Falle hätte Kaiser Heinrich V. eine Art Obergrafschaft für ganz Thüringen geschaffen, ohne daß sich dagegen Widerstand erhob, da das Land ohnehin eine Einheit bildete, die sich jederzeit in den Landesversammlungen zu Trettenburg (oben: § 473) verkörperte und mehrmals nahe daran gewesen war, zu einem besonderen Herzogtum aufzusteigen. Außer der Grafschaft in Thüringen, die seit unbekannter Zeit der Erzbischof von Mainz verwaltete und die 1254 als minor comicia bezeichnet wird, müsse es, da diese Bezeichnung eine maior comicia voraussetze, an dem Dingstuhl zu Mittelhausen (oben: § 473) eine zweite Grafschaft gegeben haben, und in ihr suchte Ficker die Landgrafschaft, die er gerade nicht, gleich der minor comicia, auf eine alte Gaugrafschaft, sondern auf die königlichen Maßnahmen von 1112 zurückführen wollte, in der jedoch eher die schon vor 1112 vorhanden gewesene Großgrafschaft fortgedauert haben dürfte. Diese im großen und ganzen, wie ich glaube, richtige Lösung des Problems wird dadurch bekräftigt, daß Hermann I. von Winzenburg bereits in Königsurkunden von 1112 und 1114 als Markgraf bezeichnet wird, denn dies mag im Hinblick auf sein Amt in Thüringen geschehen sein (W. Petke in RI 4, 1, 1 zu n. 78), da man in älterer Zeit vielfach den Titel des Markgrafen benutzt hatte, um Großgrafen von den (ihnen nachgeordneten) Gau- oder Dinggrafen zu unterscheiden, und wir den neuen Titel eines Landgrafen sich erst seit 1131 allmählich verfestigen sehen. Trotzdem schlug die Forschung seit 1938, als sie in den Bannkreis der landesgeschichtlichen Methode geriet, andere Wege ein. Die Beobachtung, daß der landgräfliche Titel der Winzenburger zwar in den Disibodenberger Annalen, nicht aber in urkundlichen Zeugnissen mit Thüringen verbunden wird, mußte jetzt als Argument für die Annahme dienen, jener ältere Titel habe sich möglicherweise zunächst auf ein Amt in Sachsen bezogen, daher König Lothar III. im Jahre 1131 dem Grafen Ludwig keine bereits bestehende Landgrafschaft Thüringen übertragen, son-
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dern diese neu geschaffen habe, indem er Thüringen als selbständige territoriale Einheit aus dem Herzogtum Sachsen herauslöste und dem Grafen Ludwig den Vorsitz im Landding als Reichslehen übertrug. In dieser verwaltungstechnischen Neuschöpfung sei „eine frühe Stufe des Aufbaus einer bereits als staatlich zu bezeichnenden öffentlichen Gewalt“ zu erkennen, „die nicht mehr auf der Herrschaft über Grundbesitz, sondern auf der reinen Hoheit über ein Land beruhte“ und die rasch anwachsenden neufreien Teile der Bevölkerung in ein unmittelbares Verhältnis zum Königtum setzte (Th. Mayer 1938. K. Blaschke in LMA 5 Sp. 1662 f.). § 522. Den Beweis für das Zutreffen dieser Annahmen versuchte im Jahre 1962 Hans Patze zu führen. Entgegen der Auffassung, daß die Annalisten zwar mit verschiedenen Worten verschiedene Standpunkte bezogen, aber doch alle über ein und dasselbe Ereignis berichtet hätten, versuchte er zu zeigen, daß in der Annalistik „zwei voneinander abweichende Überlieferungsstränge bestehen“, von denen der eine den Eindruck erwecke, als ob sich die Landgrafschaft Hermanns von Winzenburg auf Thüringen bezogen und daher Ludwig im Jahre 1131 eine bereits vorhandene Einrichtung übernommen habe, während der andere davon nichts wisse und daher die auf Ludwig übertragene Landgrafschaft stillschweigend nach Sachsen verlege (H. Patze 1962 S. 595 – 598). Da keine der erzählenden Quellen dem Winzenburger mit völlig klaren Worten eine Landgrafschaft in Thüringen zuschreibe, habe der Erfurter Annalist mit den Worten principalis comes Thuringie wohl „nur die umstrittene Macht eines in die thüringischen Verhältnisse vielleicht gelegentlich eingreifenden Grafen hervorheben“ wollen. In einer Anmerkung bestärkt Patze diese Erwägung mit dem Kerngedanken der landesgeschichtlichen Methode, daß Grafen und Fürsten nur dort hätten herrschen können, wo sie auch Grundbesitzer waren: „Der Einfluß Hermanns von Winzenburg reichte im Eichsfeld über Gandersheimer Lehen nach Struth und im Leinetal bis Gertenbach bei Ermschwerd im Werratal“ (S. 598 mit Anm. 60), erfaßte also nur den nordwestlichen Rand des Landes Thüringen, nicht aber das Thüringer Bekken, wo das Zentrum der Landgrafschaft zu suchen ist. Ferner verdächtigt Patze die Königsurkunde von 1129, in der Hermannus landgravius als Zeuge erscheint, die aber nur abschriftlich überliefert ist, der Verunechtung, ohne jedoch dafür den Beweis zu führen. Nach all dem dünkt es ihn das wahrscheinlichste zu sein, daß Hermanns Titel auf eine großgräfliche Stellung in Sachsen zu beziehen sei (wo sie außerhalb der billungischen und der seit 1106 von Herzog Lothar gehaltenen Großgrafschaften, oben: §§ 470, 471, zu suchen wäre) und daß es diese sächsischen Pflichten waren, die der Herzog-König Lothar im Jahre 1131 dem Thüringer Grafen Ludwig zur Wahrnehmung anvertraut habe (ebd. S. 599). Diese Deutung wirft freilich neue Schwierigkeiten auf. Sie erklärt nämlich weder, aus welchem Grunde der König die Entsetzung des Winzenburgers in Sachsen zum Anlaß genommen haben sollte, in Thüringen eine Landgrafschaft einzurichten, die es dort bis dahin nicht gegeben hatte, noch auf welche Weise jene Entsetzung mit dem Aufstieg Ludwigs über die anderen thüringischen Grafen zusammenhängt, der doch, nach Ausweis seines landgräflichen Titels, von dem Reichs-
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tage zu Goslar im Frühjahr 1131 an datiert. Warum hat der König beide Maßnahmen miteinander verknüpft? Wir hören, er möchte eine übergräfliche Gewalt für erforderlich gehalten haben, um die politischen Verhältnisse in Thüringen zu festigen, aber andererseits sei „die Erhebung Ludwigs nur die Anerkennung einer tatsächlich übergräflichen Stellung“ gewesen, „die er erlangt hatte,“ deren rechtlicher Inhalt aber ebenso wenig zu bestimmen sei wie der der Würde, die ihm der König verlieh (ebd. S. 208). Die Einrichtung der Landgrafschaft in Thüringen bedeutete denn auch „keinen entscheidenden Schritt vorwärts . . . Vielleicht lag es auch in der Natur der Sache, daß das in der Reichsverfassung neue Gebilde“ erst nach Ludwigs Tode „stärker hervortrat“ (ebd. S. 211). Vergebens fragt sich der Leser, was mit der übergräflichen Stellung gemeint sein mag, die Ludwig um 1131 bereits innehatte? War doch erst Ludwigs Großvater, ein Edelfreier fränkischer Abstammung, vom Untermain her nach Thüringen gekommen, wo er um 1060 auf Rodeland im Thüringerwalde die Schauenburg und eine Allodialherrschaft über sechs Dörfer errichtete (ebd. S. 145 – 152, 160 – 163, 302 – 326), hatte doch erst Ludwigs Vater im Walde bei Eisenach eine zweite Allodialherrschaft mit der Wartburg begründet und diese bescheidene Habe um einigen Streubesitz im Nordosten Thüringens, nämlich aus mütterlicher Erbschaft um die Herrschaft Sangerhausen, aus eigener Heirat um die zu Freyburg an der Unstrut und aus Lehnsnahme vom Reiche um die zu Eckartsberga, erweitert (ebd. S. 168 – 177, 312 – 314), war daher doch schließlich ihm, Ludwig, selbst der Zugang zur zentralen Beckenlandschaft Thüringens immer noch verwehrt, wo der Erzbischof von Mainz als stärkste politische Kraft im Lande unangefochten das Wort führte (ebd. S. 205 – 208)! Wohl durfte sich Ludwig als mehrfacher Allodialherr nach Sitte der Zeit (oben: § 137a) eigenmächtig den Grafentitel beilegen, aber wie konnte König Lothar hoffen, er könne aus eigener Kraft die Macht des Erzbischofs unter Kontrolle bringen und die landgräfliche Würde zu herzogsähnlicher Stellung steigern (ebd. S. 208 f.)? § 523. Patzes eigentliches Interesse gilt aber nicht diesem Problem, sondern der Frage, wie Ludwigs Nachfahren von 1141 bis zum Erlöschen des Geschlechtes im Jahre 1247 die dem Könige unterstellte Hoffnung erfüllt und den Aufstieg zu herzoglicher Macht bewerkstelligt haben. Wie es die landesgeschichtliche Methode ihren Anhängern suggeriert (oben: §§ 333 – 335), sucht er die Lösung des verfassungsgeschichtlichen Rätsels in den Privaturkunden und Urbaren, ohne daran Anstoß zu nehmen, daß diese späteren Zeiten angehören und daß sich nun die Rechtsfrage in ein „kartographisches Problem“ verwandelt, nämlich in die „Feststellung des Herrschaftsbereiches der Ludowinger, und zwar in ihrem Endstadium“ (ebd. S. 209). Diese Feststellung vollzieht sich in der rein beschreibenden Aufzählung aller urkundlich nachweisbaren Güter und Rechte des landgräflichen Hauses: seiner Allode und Lehen, der Standorte und Güter seiner Ministerialen und freien Vasallen, seiner Vogteirechte, Burgen und Städte (ebd. S. 299 – 496). Erinnert man sich an die Ausgangsfrage nach den landgräflichen Rechten, mit denen König Lothar im Jahre 1131 den Grafen Ludwig bekleidet hat, so fragt man sich verwundert,
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was Institutionen wie die Ministerialität, die Ludwigs Enkel seit 1178 geschaffen hat (ebd. S. 327), oder die ebenso späte Städtegründung (ebd. S. 494) zu ihrer Beantwortung beitragen können? Den Höhepunkt aber erreicht die Verwirrung des Lesers, wenn er anschließend erfährt, ganz zu Recht habe die ältere Forschung in Beantwortung jener Frage der Gerichtsbarkeit des Landgrafen den ersten Platz eingeräumt, habe namentlich Julius Ficker als eigentlichen Inhalt der thüringischen Landgrafschaft die mit dem Landding Mittelhausen verbundenen Grafschaftsrechte einer erschlossenen, reichslehnbaren maior comecia angesehen. Wie Ficker es getan, so nimmt Patze an, die Malstatt habe an die in der Nähe gelegene alte Versammlungsstätte der Thüringer aus dem 11. Jahrhundert angeknüpft (ebd. S. 496 f.), was doch nichts anderes heißen kann, als daß sich hier dasselbe Gerichtsvolk versammelte, das früher auf der Trettenburg zusammengekommen war und von dem die Grafen, die das Gericht noch im 13. Jahrhundert besuchten, obwohl ihrer etliche selber Landgerichte hielten, den letzten Überrest bildeten. Die Mittelhausener Gerichtsgemeinde hat also das Schicksal aller jener Dingverbände geteilt, die sich gegen die Aufnahme neufreier Leute sperrten und daher von der Gefahr zu erlöschen bedroht waren (oben: § 155). Patze selbst stellt übrigens verdienstvollerweise fest, daß diese Gemeinde kein Lehnsverband gewesen ist (ebd. S. 379). Wenn aber dieses aus ältester Zeit hergebrachte Gericht noch im 13. Jahrhundert „das hervorgehobene Gericht der Provincia Thüringen“ darstellte und der Vorsitz in ihm „den eigentlichen Inhalt des landgräflichen Amtes“ bildete (ebd. S. 500), was bleibt dann noch von der Annahme übrig, König Lothar habe dieses Amt im Jahre 1131 neu geschaffen, und was spricht gegen die Vermutung, eben dieses Amt habe der König in jenem Jahre dem Grafen von Winzenburg entzogen und dem Grafen von Schauenburg und Freyburg übertragen? Was gegen die Vermutung, erst durch dieses Amt hätten die Ludowinger eine Stellung in Thüringen erlangt, die es Alt- und Neufreien empfehlen mußte, entweder einzeln als Vasallen oder Ministerialen in ihre Dienste einzutreten oder gemeinsam als Gemeinden sein Kommuneprivileg zu erwerben? So hat denn auch der Versuch, dies alles auszuschließen, wenig Anklang gefunden: „Ob gegen die Disibodenberger Annalen und die thüringische Annalistik die übergräfliche Stellung Hermanns von Winzenburg mit H. Patze . . . 1962 S. 595 – 601 . . . nicht auf Thüringen, sondern auf Südniedersachsen bezogen werden muß, ist eher unwahrscheinlich“ (W. Petke in RI 4, 1, 1 zu n. 257). Innerhalb der Untersuchung von Patze dient denn auch die These von der Erschaffung der Landgrafschaft in Thüringen im Jahre 1131 vor allem dazu, die Anwendung der landesgeschichtlichen Methode auf das verfassungsgeschichtliche Problem zu ermöglichen und zu begründen. Das Ergebnis des Experimentes freilich ist negativ. Noch einmal zeigt sich, daß Landesgeschichte zwar Macht-, Gewalt- und Verwaltungsgeschichte, nicht aber Rechtsgeschichte zu schreiben vermag. Sobald es um den Rechtsbegriff der Landgrafschaft geht, muß Patze daher auf die Lehre von
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Julius Ficker zurückgreifen, und man kann nicht sagen, daß er Fickers Vorstellung von Alter und Kontinuität der Institution mit der These von deren Erfindung im Jahre 1131 zu einem widerspruchsfreien Begriff zu vereinigen vermag. § 524. Aber wie wahrscheinlich ist überhaupt die Annahme, der Wille und ein Machtwort des Königs hätten genügt, um in jenem Jahre dem Lande Thüringen eine neue Verfassung zu geben? Hatte der an den Konsens der Fürsten im Reiche und der Großen im Lande gebundene König wirklich das Recht, ein solches Machtwort zu sprechen und dafür den Gehorsam des Landes einzufordern? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Viel wahrscheinlicher ist es doch, daß die Initiative zur Erhebung wie im Jahre 997 des Herzogs und hernach der Großgrafen, so seit 1112 der Landgrafen von dem thüringischen Untertanenverbande und dessen Verlangen nach innerem Frieden und politischer Stabilität ausging! Ich nehme daher folgenden Gang der Dinge an: Nachdem der König im Sommer 1130 den Landgrafen Hermann verurteilt und abgesetzt hatte, erkor ein thüringischer Landtag Graf Ludwig zu seinem Haupte und schickte Sendeboten zum Könige, um die Bestallung des Gekorenen zu erbitten. Auf dem Reichstage zu Goslar im Februar 1131 erschien Graf Ludwig in Begleitung thüringischer Großer, um die Bestallung oder ideelle Investitur entgegenzunehmen, und dazu händigte ihm die Reichskanzlei ein an alle in Thüringen ansässigen Getreuen des Königs adressiertes Mandat aus, wie es im Jahre 968 der designierte Erzbischof von Magdeburg (oben: § 429) und im Jahre 1286 der designierte Herzog von Kärnten (unten: § 532) empfing, ein Mandat, welches den Untertanenverband anwies, den vom Könige Bestallten zum Landesherrn anzunehmen. Dieses Mandat publizierte Graf Ludwig im Frühjahr 1131 auf einem thüringischen Landtage, der ihm daraufhin die leibliche Investitur mit dem Amte erteilte, indem er ihn auf den Richterstuhl setzte. Der Inthronisierte nahm schließlich mit der Huldigung der Thüringer jenes Beistandsversprechen seiner Untertanen entgegen, auf dem alle legale öffentliche Gewalt im Mittelalter beruhte. Nicht die umstrittene Macht eines gelegentlich von außen her nach Thüringen übergreifenden Grafen, sondern allein diese Grundlage landgräflicher Hoheit kann es bereits den Winzenburgern ermöglicht haben, im Einvernehmen mit der Landesgemeinde in einem Lande zu herrschen, wo sie persönlich nicht begütert waren, und ebenso ermöglichte sie es dem Grafen Ludwig, in Thüringen zu herrschen, obwohl sich sein Hausgut auf einige kleine Allodialherrschaften in ungünstiger, peripherer Lage beschränkte. Man sieht, wie abwegig die der landesgeschichtlichen Methode zugrundeliegende These ist, Herrschaft über Freie habe nur mit Hilfe der Revenuen aus Amts- und Hausgut und des Zwanges, den bewaffnete Unfreie ausübten, aufrechterhalten werden können. Aus den Machtmitteln, welche den Landgrafen von Thüringen später zur Verfügung standen, ergibt sich denn auch, wie Patzes Untersuchung zeigt, nicht der geringste Schluß auf das Recht, mit dem die Landgrafen von ihnen Gebrauch machen durften. Dieses scheint mir allein aus der öffentlichen, von der Landesgemeinde und vom Könige einhellig vor-
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genommenen Erhebung der Landgrafen hergeleitet werden zu können, wobei dem Lande die Kur oder Annehmung, dem Könige aber die Lenkung der Wahl und die Bestallung des Gekorenen zukamen. Mochte Graf Ludwig schon vorher in seinen Allodialherrschaften dinggrafengleicher Hoch- und Blutgerichtsherr gewesen sein: den Königsbann, der seinen Nachkommen zustand (Ssp. Ldr. III 64 § 6), empfing er zum ersten Male im Jahre 1131, als er zum Gerichtsherrn am Dingstuhl des Landesgerichts zu Mittelhausen emporstieg. Obwohl es damals noch keiner förmlichen Erhebung in den Reichsfürstenstand bedurfte, waren sich die Annalisten, die den Landgrafen als principalis comes und sein Amt als principatus bezeichneten, der standesrechtlichen Erhöhung bewußt, die dem Grafen Ludwig damit zuteil wurde. In der Stellung eines herzogsgleichen Großgrafen gehörten Ludwig und seine Nachkommen hinfort zu denjenigen Fürsten, die dazu verpflichtet waren, sich im Rate und Dienste des Königs an den Reichsgeschäften zu beteiligen (J. Petersohn 1992 S. 602 – 605) und auch die Kräfte ihres Landes in Deutschland und in Italien dem Reiche dienstbar zu machen.
§ 525. Schwaben 1079 und 1092 § 525. Das schwäbische Herzogtum war im zweiten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts von Adel und Volk des Landes geschaffen worden (oben: §§ 477 – 479). Zwar sind hier in den folgenden anderthalb Jahrhunderten keine Herzogswahlen weiter bezeugt, wohl aber zum Jahre 1027 die ihnen verfassungsrechtlich gleichkommende Verlassung oder Abwahl eines Herzogs (oben: § 482). Da es aus Gründen, die wir nicht kennen, zu nachhaltiger, die Einung des schwäbischen Volkes vernichtender politischer Zwietracht gekommen zu sein scheint, war es den Königen des Ostfränkisch-deutschen Reiches immer wieder möglich, die Erhebung zum Herzoge nach ihrem Willen zu lenken. Erst seit dem Aufstande der Sachsen gegen König Heinrich IV. und dem Beschluß einer Mehrheit deutscher Fürsten, den König abzusetzen, büßte das Königtum diese seine Lenkungsmacht ein und lebte das latent immer vorhanden gewesene Recht des schwäbischen Volkes auf freie Wahl seines Hauptes wieder auf (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 117). Über die eigentliche Kur allerdings, die Auslese nämlich der am besten geeigneten Person, die auf Berthold, Sohn des im Jahre 1077 zum Gegenkönige erhobenen Grafen Rudolf von Rheinfelden, fiel, berichtet unser Gewährsmann, der Annalist Berthold von Reichenau, lediglich, daß Berthold schon vor Jahren, als er noch ein Kind war, von König Heinrich zu dem Amte designiert worden sei: cui iam parvulo adhuc ducatus Alemanniae a rege Heinrico delegatus est (Berthold S. 319 Z. 38). Indessen widerrief der König, nachdem der Vater und die Schwaben von ihm abgefallen waren, die Designation, und am 24. März 1079 zu Regensburg übergab er das Herzogtum Schwaben dem Grafen Friedrich aus dem später soge-
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nannten staufischen Hause: ducatum Alemanniae in erroris irritamentum comiti Friderico . . . commendans (ebd. S. 319 Z. 15 – 17). Mag nun der Gegenkönig die Designation seines Sohnes erneuert oder den Schwaben die Wahl freigegeben haben, jedenfalls nahmen bald darauf Herzog Welf und einige schwäbische Große ihn zum Haupte an und führten ihn in die Königspfalz zu Ulm, wo die Schwaben einst Herzog Ernst verlassen und seither manchen Landtag abgehalten hatten; dort verpflichteten sie sich ihm gemeinsam mit den Bürgern, wie es seit jeher Recht gewesen, und mit gemeinsamen Stimmen ihrer Worthalter bestellten sie ihn sich von neuem zum Landesherrn und Herzog: dux Welfo cum nonnullis senioribus qui ad eum pertinebant, assumptum Ulmam perduxerunt, eique se cum civibus iure solito subdiderunt, communique suffragio et laudamento dominum sibi et ducem nunc denuo confirmaverunt (ebd. S. 319 Z. 39 – 41. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 28 – 32. H. Maurer 1978 S. 98, 134, 208 f., 215). Dem Grafen Friedrich verwehrten sie dagegen mit bewaffneter Hand den Zugang nach Ulm und die Annehmung (Berthold S. 319 Z. 42 ff.). Unter dem suffragium ist die Abgabe der Einzelstimmen jener Großen zu verstehen, die die Kur tatsächlich bestimmten; hatten sie ihre Meinungen übereinsgetragen, so mußte allerdings noch der Beifall des Volkes hinzukommen, um die Ermächtigung des Gekorenen perfekt zu machen. Die Erwähnung der cives zeigt, daß jetzt auch die Gemeinden der Neufreien der Landesgemeinde angehörten. Da sie durch die Willensbildung der Großen nicht mediatisiert wurden, müssen wir annehmen, daß die kiesenden Fürsten lediglich als Worthalter der partikularen Untertanenverbände auftreten konnten und eine an deren Willen gebundene Stimme führten. Was bei dieser Herzogswahl unausgesprochen blieb, ist dann zum Jahre 1092 sicher bezeugt, daß sich nämlich die Schwaben aus eigenem Willen in freier Wahl und gegen den Willen des Königs einen Herzog nicht nur erkoren, sondern auch bestallten und bevollmächtigten; dies aber war nur dann möglich, wenn sie das Königsrecht der Bestallung als an das Volk heimgefallen betrachteten: Iterum principes Alemanniae ad defensionem sanctae matris aecclesiae contra scismaticos unanimiter convenerunt, sibique ad hoc negocium exequendum fratrem Constantiensis episcopi Berthaldum ducem totius Sueviae constituerunt, qui nondum aliquem ducatum habuit, etsi iam dudum nomen ducis habere consueverit (Bernold S. 454 Z. 6 – 10. H. Maurer 1978 S. 160 f. I. S. Robinson 1999 S. 286). Nachdem die Fürsten im Jahre 1077 den König verlassen hatten und der Gegenkönig drei Jahre später verstorben war, betrachteten sich die Schwaben offenbar als in einem langwierigen Interregnum befindlich, und daraus zogen sie dieselben rechtlichen Konsequenzen wie zuvor bereits die Friesen (oben: § 500).
§§ 526 – 531. Köln 1206 § 526. Falls wirklich ein Herzog von Lothringen am Ende des 12. Jahrhunderts mit der Ansicht an die Öffentlichkeit getreten wäre, seine Amtsgewalt oder Lan-
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desherrschaft beruhe darauf, daß er vom Volke der Franken dazu erwählt worden sei (oben: §§ 512, 514), so kann die Nachricht davon schwerlich bis nach Köln gelangt sein, denn dort erhob sich im Jahre 1205 ein heftiger, auch mit den Waffen ausgetragener Streit über das Wahlrecht des Volkes, ohne daß sich dessen Verteidiger, deren Argumente uns sonst sehr gut überliefert sind, auf den lothringischen Präzedenzfall bezogen hätten. Zu dem Streite war es gekommen, nachdem sich Erzbischof Adolf von Köln mitsamt jener Genossenschaft von geistlichen und weltlichen Magnaten, die sich als nobiles terrae Coloniensis bezeichneten und den Erzbischof zum Haupte und Herzog angenommen hatten (oben: § 456), von König Otto IV. abgewandt hatte und auf die Seite Philipps von Schwaben übergetreten war. Als Adolfs Anhänger werden uns der Herzog von Brabant und die Grafen von Berg, Geldern, Mark, Jülich, Arnsberg, Hochstaden und Kessel genannt (Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 2 – 6. B. U. Hucker 1990 S. 79); da aber auch die Suffraganbischöfe und die meisten Pröpste, Äbte, Kanoniker und Kleriker noch lange auf seiner Seite verharrten (Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 18, 20), ist anzunehmen, daß auch die Prälaten der kölnischen Stifter und Klöster, die das Kollegium der Prioren bildeten und als solche gleich den terrae nobiles am Regimente des Erzbischofs in vollem Umfange Anteil hatten (Dialogus S. 317 Z. 8. H. Stehkämper 1986 S. 107 f.), die reichspolitische Wende ihres Landesherrn zunächst mitgetragen haben. Erst als Papst Innozenz III. den Erzbischof wegen des Abfalls von dem rechten Thronkandidaten exkommunizierte und absetzte, ließen sie ihn erschreckt im Stich. Sie nahmen es nicht nur hin, daß vom Papste eingesetzte Richter Erzbischof Adolf am 19. Juni 1205 seines Amtes entsetzten, sondern ließen sich auch zur Wahl eines neuen Erzbischofs verpflichten: Prefati iudices, convocato universo clero et populo, . . . coram omnibus in maiori ecclesia presente Ottone rege et aliis nobilibus viris, ab officio et dignitate pontificali deposuerunt, et ut alium episcopum eligerent, apostolica auctoritate preceperunt (Chron. reg. Colon. Cont. III a. 1205 S. 221). Diese Wahl ging am 25. Juli 1205 wiederum im Kölner Dome vor sich. Über sie unterrichten uns einerseits die gewöhnlichen Notizen der Annalisten (Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 1), die den von den päpstlichen Richtern ausgelösten Streit um das Wahlrecht zu verharmlosen und zu verschleiern bestrebt sind, andererseits aber ein ganz ungewöhnliches, ja einmaliges Dokument, nämlich ein anonymer Traktat, der in Form eines Dialogs zwischen einem gelehrten Kleriker und einem immerhin der lat. Sprache mächtigen Laien wohl in der zweiten Hälfte des Jahres 1206 entstanden ist und die Argumente beider Parteien in dem als Rechtsstreit aufgefaßten Konflikt um das Wahlrecht darstellt und bewertet (Dialogus. W. Wattenbach / F. J. Schmale 1976 S. 366). Der eben zitierte Kölner Annalist fährt fort: sic eo deposito, secundum sententiam summi pontificis clerus et populus cum aliis nobilibus viris in ecclesia beati Petri convenientes Brunonem Bonnensem prepositum concorditer elegerunt, nemine preter Engilbertum maioris domus prepositum et quibusdam canonicis b. Petri,
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eius fautoribus, reluctante et pro hac indignatione de civitate recedente (Chron. reg. Colon. Cont. III a. 1205 S. 221). Wie üblich, identifizierte der Annalist die zur Wahl Versammelten mit der Gesamtheit nicht nur der Bistums-, sondern auch der Landesgemeinde; indem er aber „andere Edelherren“ zu Klerus und Volk lediglich hinzutreten läßt, verrät er doch eine gewisse Verlegenheit bezüglich dieser Identität. Ebenso steht es um seine Behauptung, die Versammlung habe Bruno so, wie es für die identische Willensbildung erforderlich war, einhellig erkoren, wiewohl eine Minderheit im Widerspruch verharrte und nur durch Ausschluß aus der Gemeinde hatte zum Verstummen gebracht werden können. Jene Verlegenheiten dürften daher rühren, daß die Versammlung nur nach kanonischem Rechte korrekt verfahren war, indem sie die maior et sanior pars der Wortführer den Ausschlag geben ließ; nach deutschem oder Volksrechte dagegen hatte sie unrecht getan, indem sie die Wortführer abstimmen ließ, bevor die gemeine identische Willensbildung zum Ziele gekommen und das punctum unitatis (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 15 Z. 14. E. Pitz 2001 S. 428) erreicht worden war, denn niemals konnte nach deutschem Rechte ein Beschluß concorditer, einhelliglich oder einträchtiglich (L. Diefenbach, Glossarium S. 139), gefaßt werden, solange nicht aller Widerspruch gegen ihn verstummt war (oben: § 26). § 527. Der Verfasser des Traktates dagegen räumt offen ein, daß nur der Klerus Bruno gewählt habe und habe wählen dürfen (Dialogus S. 318 Z. 14 – 15, 320 Z. 12 – 13) und daß, weil weder die nobiles terrae noch die Vasallen der Kölner Kirche noch die Ministerialen des Erzbischofs geladen waren (ebd. S. 318 Z. 35 – 41), nur wenige nobiles außer dem populus multus nimis bei der Wahl anwesend waren (ebd. S. 319 Z. 5 – 7). Es ist also kein Wunder, daß die nobiles des Kölner Landes Einwände gegen das Verfahren erhoben und die Rechtmäßigkeit sowohl der Absetzung Adolfs als auch der Erhebung Brunos bestritten. Gegen ihren Widerstand konnte sich Bruno nur in der Stadt Köln behaupten, weil sich allein die Bürgergemeinde die kanonische Rechtsauffassung zu eigen machte. Die Kämpfe, die sich an Brunos Erhebung anschlossen und am 27. Juli 1206 mit der Niederlage König Ottos IV., des neuen Erzbischofs und der Kölner Bürger in der Schlacht bei Wassenburg (Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 21) endeten, wurden also um die Frage geführt, ob die Erhebung des Erzbischofs von Köln nach kanonischem oder nach weltlichem Rechte, ob sie als Erhebung eines Geistlichen und Seelsorgers oder als die eines Reichsfürsten und Herzogs zu beurteilen war. Daher ist der Traktat, der am Schluß auf die kriegerische Entscheidung noch Bezug nimmt (Dialogus S. 322 Z. 12 – 15), in die Form eines Streitgespräches gekleidet, welches der Kleriker mit einem Laien führte, der im Namen der weltlichen Großen (in persona alicuius baronis, S. 318 Z. 33 – 34) sprach. Der Adelsmann erscheint dabei als Angreifer oder Kläger. Er behauptet, es sei gegen Adolf non recto tramite processum (S. 316 Z. 12) und dabei dem Adel Unrecht geschehen (S. 318 Z. 32), und ist sich dabei der Kollision verschiedener Rechtsordnungen durchaus bewußt: Sit, quod episcopum, quanto ad ecclesiasticum ius attinet, nobis absentibus quocumque mo-
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do eligere possetis: quomodo ducem, cuius est secularis iusticia, sine nobis et nostro consensu nobis preficere poteratis (S. 319 Z. 27 – 30. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 234)? Obsiegen konnte der Laie in diesem Rechtsstreite natürlich nicht, jedenfalls solange nicht, wie er einem Geistlichen das letzte Wort lassen mußte. Denn für den Kleriker bedeutete es bereits eine Herablassung, mit ihm zu diskutieren (S. 316 Z. 6 – 27), anstatt ihn einfach darüber zu belehren, daß er mit seiner Klage letzten Endes die biblische Heilslehre in Frage stellte (S. 321 Z. 16 – 21) und sein Seelenheil aufs Spiel setzte (S. 322 Z. 20 – 41). Besäßen wir einen gleichartigen Traktat, in dem der Adelsmann das letzte Wort behalten und sich der Kleriker vor der weltlichen Rechtsmeinung hätte rechtfertigen müssen, so wäre das Ergebnis gewiß anders ausgefallen. Denn der kölnische Adel hätte sich nicht mit den Waffen gegen Erzbischof Bruno erheben können, wenn er das positive kirchliche Recht in der streitigen Frage nicht für Unrecht und insoweit auch für nicht in der christlichen Heilslehre begründet gehalten hätte. Das aber kennzeichnet, wie wir wissen (oben: §§ 2, 262), das Rechtsleben des Mittelalters, daß nur der Klerus dazu imstande war, sein Recht wissenschaftlich zu bearbeiten und in schriftlicher Darstellung zu einer alle Lebensbereiche umfassenden systematischen und widerspruchsfreien Ordnung zu entfalten, während das von Laien gepflegte weltliche Recht auf mündliche Überlieferung, begriffsarme allgemeine Verständlichkeit und lediglich kasuistische Normierung im streitigen Verfahren angewiesen war und daher weder ins Bewußtsein der Menschen als der kirchlichen vergleichbare Rechtsordnung eindringen noch im öffentlichen Leben als solche anerkannt werden konnte. Im Jahre 1206 war die Zeit noch nicht dazu reif, daß das Kirchenrecht hätte vom Standpunkte des weltlichen Rechtes aus kritisiert werden können. So kommt es, daß der Laie in unserem Dialog dem ecclesiasticum ius kein weltliches Recht, sondern lediglich eine secularis iusticia gegenüberzustellen und sich auf keinerlei Autoritäten und Präzedenzfälle zu berufen vermag, während sein Gegner nicht nur den Evangelisten (S. 319 Z. 25, 322 Z. 1 – 2) und den Kirchenvater Augustinus (S. 316 Z. 29, 322 Z. 20), sondern auch die Dekretalen der Päpste (S. 316 Z. 30 – 35, 318 Z. 25 – 31, 321 Z. 6 – 8) auf seiner Seite hat und außerdem über historische Kenntnisse verfügt, die es ihm gestatten, die Reichsverfassung in seinem Sinne auszulegen (S. 319 Z. 31 bis 320 Z. 18). Woher dagegen hätten Laien wissen können, was in der Chronik Thietmars von Merseburg nachzulesen war und wie sich daraus Argumente zugunsten ihrer Sache schmieden ließen? § 528. Um so schwerer wiegen unter diesen Umständen die Zugeständnisse, die der Kleriker dem Adelsmanne und damit dem deutschen Rechte machen muß. Wäre nämlich der Bischofsstuhl solito more (d. h. durch den Tod des Inhabers) freigeworden, so hätte allerdings, wer immer während der Sedisvakanz dem Bistume vorstand, einen Tag für die Wahl anberaumen und die nobiles terrae dazu einberufen müssen, und zwar jeden einzeln durch Boten, wie denn tatsächlich die Barone und das Volk von der Wahl keineswegs ausgeschlossen waren (S. 318 Z. 39 – 41,
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319 Z. 2 – 8); nur deswegen, weil sich Erzbischof Adolf des Eidbruchs und damit eines der kirchlichen Justiz unterliegenden Verbrechens schuldig gemacht habe und weil daher die Vakanz infolge eines rechtmäßigen Urteils des römischen Papstes eingetreten sei, dann allerdings auch wegen der Feindseligkeit der Barone, die dieses Verfahren nicht anerkannten, habe der Wahlleiter für diesmal davon absehen können und müssen, sie wie üblich zur Wahl zu laden (S. 318 Z. 41 bis 319 Z. 5). Wäre ferner das Kölner Herzogtum von dem Bistum getrennt und beides von verschiedenen Herren zu verwalten, so hätte der Kleriker allerdings schwerlich umhin gekonnt, dem Laien recht zu geben, welcher gefragt hatte: quomodo ducem, cuius est secularis iusticia, sine nobis et nostro consensu nobis preficere poteratis (S. 319 Z. 29 – 30)? Der Notwendigkeit, dem zuzustimmen, entkam er nur mit der unzutreffenden doppelten Behauptung, daß selbst zu der Zeit, da jene Ämter getrennt gewesen, ducatus . . . non per electionem, sed hereditario iure per successionem heredum tenebatur, et si quando herede caruit, in manus imperatoris devenit, et ipse cui voluit eum contulit (S. 319 Z. 36 – 39), daß aber Kaiser Otto den Dukat nicht nur seinem Bruder, Erzbischof Brun, sondern auch der Kölner Kirche auf ewig derart zugestanden habe, daß seither der Dukat ein dem Bistum gewissermaßen inkorporiertes Zubehör sei und daher der Klerus, wenn er den Bischof wähle, zu Recht auch dem Lande den Herzog vorsetze (S. 319 Z. 39 – 41, 320 Z. 7 – 18). Es kennzeichnet das Verhältnis des damaligen deutschen zum römisch-kanonischen Recht, daß der Laie nicht nur der historischen Kenntnisse entbehrte, um dem zu widersprechen, sondern daß er auch das deutsche Recht der Herzogserhebung nicht so weit auf Regeln und Begriffe zu bringen vermochte, wie es erforderlich gewesen wäre, um nicht nur den Begriff der Inkorporation zurückzuweisen, den die Kanonisten eben zu dieser Zeit aus dem Eigenkirchenrecht entwickelten (H. E. Feine 1955 S. 352 f.), um nicht nur die vermeintliche Vererbung des Dukates als Mißdeutung volksrechtlicher Eignungsmerkmale zu entlarven, sondern auch den Unterschied zwischen Kur oder Auslese der geeigneten Person, königlicher Bestallung oder Konstitution, adligem Konsensrecht und völkischer Annehmung klarzumachen. Statt dessen sehen wir den Laien hilflos der Begrifflichkeit und Beredsamkeit des gelehrten Rechtes und seines Verfechters ausgeliefert, da er nichts auf die Behauptung und Frage zu antworten wußte: Cum igitur ducatus numquam antehac per electionem habitus fuisset, nec dux aliquis adhuc hodie per universum imperium a suis hominibus usquam eligatur, sed nec eorum in eius constitutione requiratur assensus, sive dux hereditario iure accedat, sive ab imperatore constituatur: quomodo in eius modo constitutione vobis hoc ius asscribitis, quod sine vobis assumi non debeat, cum ex electione episcopi eius sequatur dominium (S. 319 Z. 41 bis 320 Z. 7)? § 529. Ebensowenig war er imstande, die deutschrechtlichen Bedingungen identischer Willensbildung und des Erfordernisses der Einhelligkeit darzulegen, als es darum ging, die Rechtmäßigkeit der Bischofswahl vom 25. Juli 1205 darzutun. Denn es war deutsches Verfassungsrecht, das er verteidigte und dessen Geltung im
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Normalfalle sogar sein Gegner zugab. So erklärte er zwar zutreffend, electio . . . celebrari non debuit nisi presentibus nobilibus terre, beneficiatis hominibus sancti Petri et summis officialibus episcopi, quorum est electionem approbare (S. 318 Z. 35 – 38), aber warum fügte er nicht hinzu, daß die Stimmführer (S. 319 Z. 7 – 8) von Anfang an im Einvernehmen mit diesen Worthaltern des Volkes vorgehen mußten, da sie niemanden kiesen durften, dem hernach die Großen, als Worthalter der land- und hofrechtlichen Dingverbände, denen sie vorstanden, die Approbation oder Assumption verweigern würden? Warum konnte er zwar zu Recht, nämlich nach deutschem Rechte zutreffend, erklären, die Kleriker hätten die Kur aussetzen müssen, als Dompropst Engelbert und andere der Wahl Brunos widersprachen und damit bekundeten, daß unter den Wählern noch keine Einmütigkeit erreicht war (S. 318 Z. 14 – 15, 22), aber dieses Recht nur damit begründen und in lat. Sprache erläutern, daß er den Widerspruch des Dompropstes zur canonice et legitime eingelegten Appellation an einen höheren Richter machte (S. 318 Z. 22 – 23)? Anstatt das deutsche Recht der nobiles terrae zu vertreten, nahm er damit den Standpunkt des Klerikers ein, für den natürlich der ordo iuris, nach dem alle Rechtsfragen überhaupt zu beurteilen wären, allein aus den Regeln des römischkanonischen Prozesses bestand (S. 317 Z. 36 bis 318 Z. 2, 318 Z. 24 – 25, 320 Z. 27). Das mochte noch angehen, wenn es um die Frage ging, ob die Exkommunikation rechtens war, welche die päpstlich delegierten Richter am 2. Juni 1206 über die Barone verhängt hatten (Reg. Eb. Köln 3, 1 n. 17. Dialogus S. 320 Z. 19 – 44), weil die Verurteilten nur nach kanonischem, nicht jedoch nach deutschem Recht zu dem Gerichtstermin ordnungsgemäß geladen waren, aber wenn es um die Wahl des Erzbischofs und Herzogs ging, war es absurd, weil Appellationen doch nur gegen gültige gerichtliche Urteile eingelegt werden konnten, während weder das Wahlverfahren einen Rechtsstreit noch die Entscheidung der Wähler ein Urteil darstellte und Engelbert selbst gar nicht daran hatte denken können, deswegen einen höheren geistlichen Richter anzurufen (S. 318 Z. 24 – 25). Denn weder die Erzbischöfe noch die Prioren jener Zeit waren Kenner des gelehrten römisch-kanonischen Rechtes (H. Stehkämper 1977 S. 333, 1986 S. 105 f., oben: § 262); sie hatten daher keinerlei Neigung, Verfassungsfragen anders zu beantworten, als es ihre weltlichen Verwandten und geborenen Standesgenossen, die nobiles terrae, taten. Vor allem damit ist es wohl zu erklären, daß niemand gegen den widersetzlichen Adel den Vorwurf der Ketzerei erhob, dessen sich in anderen Ländern Europas der Klerus zu dieser Zeit leichthin gegen seine Feinde bediente, und daß in Köln in einem schriftlichen Traktate dem Laienrecht überhaupt so viel Raum gegeben wurde, wie es in dem Dialogus geschieht. § 530. Einen gleichartigen Traktat allerdings, der in der Volkssprache abgefaßt worden wäre und dem Volksrechte das letzte Wort überlassen hätte, konnte es zu dieser Zeit offensichtlich noch nicht geben. Denn noch war nur der Klerus imstande, sein Recht mit den Mitteln der Schulwissenschaft und in der Sprache des Corpus Iuris Civilis als universell gültiges System darzustellen, und da sich auch der Adelsmann der lat. Sprache bedienen mußte, um als rationis capax zu gelten (Dia-
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logus S. 316 Z. 7 – 8, 19 – 20), so wurde dem in der Sache schwächeren Partner auch noch das Übersetzungsproblem aufgebürdet, das für ihn freilich unlösbar war, mußte er sich doch selbst auf kanonisches Recht (S. 318 Z. 22 – 25, 320 Z. 19 – 24, 321 Z. 31 – 32) oder darauf, daß geistliche Gelehrte ihm beipflichteten (S. 321 Z. 27 – 32), berufen, um die Schwächen auszugleichen, die dem deutschen Rechte deswegen anhafteten, weil es Volksrecht war. Um so beachtlicher ist die Härte, mit der die Barone dieses ihr Recht gegenüber dem gelehrten verteidigten, selbst ungeachtet der Gefahr, als persecutores ecclesiae angeprangert zu werden (S. 316 Z. 4 – 5, 15 – 19, 322 Z. 9 – 19). Wenn aber niemand den Vorwurf der Häresie gegen sie erhob, so ist das damit zu erklären, daß der hohe Weltklerus selbst ganz weltlich eingestellt und weit davon entfernt war, seine politischen Interessen den Forderungen des kanonischen Rechtes zu unterwerfen – wie denn die seit dieser Zeit aufs feinste durchdachten kirchlichen Bestimmungen betreffend die Erhebung der Bischöfe weder auf die Rechtsauffassungen der Bistumsvölker und ihrer Landstände noch auf die Verfassung der geistlichen Territorien im Deutschen Reiche irgendwelchen Einfluß ausgeübt haben (oben: § 436). Zieht man bei der Lektüre des Kölner Dialogs vom Jahre 1206 den Gegensatz zwischen Kirchenrecht und Volksrecht in Betracht, um den er sich dreht, so muß man es unterlassen, aus ihm eine einheitliche oder richtige Rechtsauffassung im Gegensatze zur falschen herauszulesen. Statt dessen wäre festzustellen, daß nur der Kleriker behauptet, im Reiche hätten Fürsten das Herzogtum niemals durch Wahl, sondern stets nur entweder nach Erbrecht oder aus königlicher Willkür erlangt, denn diese Vorstellung lag der theologischen Geschichtsspekulation besonders nahe, weil sie es letzten Endes dem Willen Gottes überließ, die Personen auszuwählen, die auf Erden mächtig sein sollten. Dem nüchternen Sinne des Volkes und seiner Großen, die miteinander um die fürstlichen Ämter kämpften, lag diese Auffassung dagegen fern, so gern sich auch nachträglich derjenige ihrer bediente, der aus freier oder vom Könige gelenkter Wahl als Sieger hervorgegangen war. § 531. Fassen wir nunmehr ins Auge, was uns der Dialog über die Rechtsauffassungen des niederrheinischen Volkes berichtet, so treten drei Grundsätze deutlich hervor. Erstens war das Volk noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts fest davon überzeugt, daß ihm die Auslese der zur Bekleidung der herzoglichen Würde am besten geeigneten Person zustand und daß sie von den an seinen Willen gebundenen geistlichen und weltlichen Großen, von Prioren, Herzögen, Grafen und stiftskölnischen Ministerialen, so vorzunehmen war, daß der Gekorene auf den Beifall allen Volkes und auf die Annehmung zum Haupte im ganzen Lande zählen konnte. Begründet kann diese Überzeugung nur darin gewesen sein, daß der Untertanenverband des kölnischen Herzogs durch freie Einung der Partikularverbände als herrschaftliche Genossenschaft aller derer geistlichen und weltlichen Großen entstanden war, die einen und denselben Fürsten, nämlich den Erzbischof von Köln, zum Oberhaupte angenommen und ihm zur Beförderung des Landfriedens und Gemeinwohls gehul-
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digt, d. h. Gehorsam und Beistand gelobt hatten in allen Maßnahmen, die er nach ihrem Rate und Willen zur Erreichung des Verbandszweckes treffen würde (oben: § 456). Zweitens machte das Volksrecht keinen Unterschied zwischen der Erhebung eines Bischofs und der eines weltlichen Fürsten. In einem und demselben Verfahren erkor der kölnische Landtag in einer und derselben Person sowohl den Landesherrn des Territoriums der Kölner Kirche als auch das Oberhaupt des weit darüber hinausreichenden kölnischen Herzogtums. Die Mitwirkung des Königs sei es als Lenkers der Wahl, sei es als Reichsoberhauptes, das den Gekorenen zu bestallen und seinem Untertanenverbande die Annehmung zu befehlen hatte, brauchte der Dialog nicht zu erörtern, da sie nicht strittig war. Dasselbe gilt für die geistliche Weihe, die der Erzbischof zu empfangen hatte, nachdem seine Erhebung zum Landesherrn und Reichsfürsten abgeschlossen war. Dem Volksrechte war sie gleichgültig. Drittens bestätigt der Dialog, daß die Versammlung der kölnischen Prioren und Barone nur unzureichend als Lehnshof beschrieben wird. Gewiß mochte sie auch das sein, da die Barone ja auch Lehen vom Erzbischof empfingen und daher wünschen konnten, Streitigkeiten mit dem Erzbischof um Lehnsrechte und -pflichten durch Urteil ihrer pares entscheiden zu lassen. Aber die Existenz der Versammlung und ihr Recht, den Herzog zu kiesen, beruhte nicht auf Lehnrecht. Dieses verpflichtete die Vasallen zwar dazu, im Herrenfalle ihre Lehen bei dem neuen Lehnsherrn zu muten, es gab ihnen aber weder ein Recht, diesen zu kiesen, noch machte es die Pflicht zu muten davon abhängig, daß sie den Herrn zum Oberhaupte angenommen hätten. Das Wahlrecht der Prioren und Barone, der nobiles terrae, beruhte vielmehr allein auf Volks- oder Landrecht. Die eine Hälfte dieser Wahrheit war auch dem Kleriker bekannt, wenn er behauptete, daß nec dux aliquis adhuc hodie per universum imperium a suis hominibus usquam eligatur (S. 320 Z. 1 – 2), aber die andere Hälfte blieb ihm verborgen, da auch der Adelsmann nicht imstande war, sie auszusprechen und die Geistlichkeit daran zu erinnern, daß nach Landrecht dem Volke Befugnisse zustanden, an deren Anerkennung Theologen und Kanonisten nichts gelegen war.
§§ 532 – 537. Kärnten 1286 § 532. Gegenüber der neuen, hoheitlich-obrigkeitlichen Rechtsauffassung, die im staufischen Zeitalter emporkam und sich den Staat als von oben her erbaut vorstellte, hat sich das Recht des Volkes, den künftigen Landesherrn zu kiesen, ihn auf Bedingungen hin anzunehmen und zur Herrschaft zu ermächtigen, unter besonderen Umständen noch lange behauptet. Nur ein einziges Mal allerdings erfahren wir etwas darüber, wenigstens einmal noch haben sich nach Thietmar von Merseburg und nach drei nahezu nachrichtenlosen Jahrhunderten zwei Schriftsteller über die Gleichgültigkeit erhoben, die die Chronisten für gewöhnlich gegenüber dem Willen und den Befugnissen des Volkes an den Tag legen, und sich dazu verstanden, mit
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ihren Berichten das gewollt einseitige Bild zu ergänzen, das uns die Reichskanzlei und die auf das Tun von Königen und Fürsten fixierten Geschichtsschreiber vermitteln. Diese Berichter waren der steiermärkische Ritter Ottokar (gest. 1320) und der Abt Johann von dem Zisterzienserkloster Viktring in Kärnten (gest. 1345 / 47), und das Ereignis, das ihre Aufmerksamkeit erregte, war die Erhebung eines Grafen zum Reichsfürsten und Herzog des Landes Kärnten im Jahre 1286. König Rudolf I. hatte das Herzogtum Kärnten, das ihm und dem Reiche nach dem Siege über Premysl Ottokar II. heimgefallen war, im Jahre 1282 seinen Söhnen Albrecht und Rudolf zu Lehen gegeben, aber um die Verdienste zu belohnen, die sich sein Bundesgenosse, Graf Meinhard II. von Tirol, um das Haus Habsburg erworben hatte, sandten die Brüder das Herzogtum, das sie vor vier Jahren empfangen, im Jahre 1286 mit der Bitte in die Hände ihres königlichen Vaters auf, er möge den Grafen von Tirol damit belehnen. Am 23. Januar 1286 fand dieses Abkommen auf einem Reichstage zu Augsburg die Zustimmung des Königs und der Reichsfürsten (Reg. Mein. 479s. H. Wiesflecker 1955 S. 125. M. Uhlirz 1963 S. 277). Der König vollzog den damit rechtskräftig gewordenen Vertrag, indem er gemeinsam mit den Vertragschließenden eine schriftliche Ausfertigung desselben besiegelte (MGH. Const. 3, 355 n. 373) und indem er noch in Augsburg von seinen Söhnen die Resignation entgegennahm und dem gefürsteten Grafen Meinhard die Investitur erteilte. Dabei diente ihm als Investitursymbol dasselbe königliche Szepter, mit dem er unlängst seinen Söhnen das Herzogtum übertragen hatte (ebd. S. 355 Z. 20 und n. 375 S. 357 Z. 26). Aber damit war die Erhebung des neuen Herzogs noch keineswegs vollendet. Noch hatte nur erst der König dazu getan, was seines Amtes war, und allen in Augsburg Versammelten war bewußt, daß dies allein nicht genügte, um Meinhard zum Herzog zu machen. Es mußte dazu auch noch der betroffene Untertanenverband tätig werden. Das Reich erkannte dessen Recht dadurch an, daß der König am 1. Februar 1286 mit dem Zeugnis der Fürsten ein zuerst vage „an alle“ adressiertes Mandat ausfertigte, für das zweifellos Meinhard die Kanzleigebühren zu entrichten hatte, damit er es in Empfang nehmen und den Adressaten zustellen konnte. Erst nachdem es in ausführlicher Narratio über den erwähnten Vertrag und die königliche Investitur berichtet hatte, nennt das Mandat in der Disposition die wahren Adressaten: Universis itaque nobilibus, ministerialibus, militibus, clientibus, civibus ac ceteris, qui predicto ducatui fidelitatis homagio ac debite servitutis obsequio astringuntur, per ipsum ducatum Karinthie constitutis . . . mandamus, quatinus dicto Meinhardo tamquam suo vero duci et domino devotione debita intendentes integra sui iura ducatus eidem exhibeant et assignent (MGH. Const. 3, 356 n. 375 S. 357 Z. 47 bis 358 Z. 4. Reg. Mein. 485). § 533. Als universi und dem Herzogtum durch Treueid und Beistandspflicht Verbundene angeredet, werden uns die Adressaten als eine in den Formen sowohl der älteren (oben: § 248) als auch der herrschaftlichen Genossenschaft (oben: §§ 168, 204) verfaßte Personenvielheit vorgestellt, und zwar als eine gebietsbezogene Ge-
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samtheit, der alle in dem Dukat Angesessenen allein um ihres Wohnsitzes willen angehörten. Eben wegen des Gebietsbezuges war diese Gemeinde dauerhaft oder unsterblich und keiner wiederholenden Erneuerung mehr bedürftig (oben: § 504), selbst dann nicht, wenn der Tod oder die Resignation ihres Herzogs sie enthauptete. Denn nur deswegen, weil sie dies überlebte und während des Interdukates fortbestand, konnte der König das vorliegende Mandat an sie richten. Weder er noch Meinhard waren genötigt, zuerst durch Erneuerung der Treueide die Landesgemeinde wiederherzustellen, bevor sie irgendein Gebot an sie richteten, dessen Ausführung sie verantworten sollte. Das Mandat setzt denn auch ferner voraus, daß die am 23. Januar in Augsburg vollzogene Resignation der Herzöge Albrecht und Rudolf den Treueid der Untertanen keineswegs hinfällig gemacht hatte, denn es erklärte die Kärntner noch jetzt, am 1. Februar, für daran gebunden. Daraus ergibt sich negativ mit Sicherheit, daß es sich, obwohl das Mandat vom homagium redet, ebensowenig wie in Thüringen oder Köln (oben: §§ 523, 531) um einen Lehns- oder Vasalleneid handelte. War nämlich mit der Resignation der beiden Herzöge kein Herrenfall eingetreten, so beruhten weder der Kärntner Untertanenverband noch das Herzogsamt auf Lehnrecht (oben: § 322b). Damit aber ergibt sich positiv, daß wir es mit landrechtlichen Gebilden zu tun haben, daß der ducatus, dem die Einwohner durch Treueid verbunden waren, nicht aus dem herzoglichen Amte oder der Person, die es innehatte, bestand, sondern aus eben der genossenschaftlichen Gesamtperson, an die sich das Mandat richtete und die seit alters und unabhängig von allen Königen und Herzögen als Land (Const. 3 S. 357 Z. 3, 12, 21, 32, 38; oben: §§ 210, 325) vorhanden gewesen war. Das fidelitatis homagium meinte die landrechtliche Treuepflicht, welche die Untertanen dadurch übernahmen, daß sie einen Mann einhellig und samt und sonders zu ihrem Herrn und Haupte erkoren oder annahmen und ihm mit ihrem Zuruf ihrer aller gemeinsamen, gemeindlichen Gehorsam und Beistand verhießen, solange er das Landrecht und den Herrschaftsvertrag achtete. Dieses Landrechtsverhältnis konnte natürlich auch dadurch nicht aufgehoben und durch Lehnrecht ersetzt werden, daß der König in der Narratio des Mandates einmal die Bestallung (collatio) oder Investitur Meinhards beiläufig als Belehnung paraphrasierte (ebd. S. 355 Z. 29: collacio seu infeodacio ducatus Karinthie, S. 357 Z. 16, 24 / 27: dicte terre . . . sunt collate). Der König bekleidete Meinhard auch nicht mit dem Lande, gleichsam als ob dieses ein Lehngut gewesen wäre, sondern er übertrug ihm das zu dem Lande gehörige herzogliche Amt (ducatus terre Karinthie S. 357 Z. 3 usw.), und daher war es auch nicht notwendig, daß er als Investitursymbol die Fahnenlanze benutzte, wie längst bei weltlichen Fürstenlehen sonst üblich, sondern geboten, daß er sich des königlichen Szepters bediente (ebd. S. 355 Z. 20, 357 Z. 26). Damit aber bestallte er sonst nur die geistlichen Reichsfürsten, bei denen sich die amts- und volksrechtlichen Grundlagen ihrer Stellung sehr viel länger lebendig erhielten als bei jenen (oben: §§ 243, 434 – 436). Dieses Land Kärnten nun, über dessen Ducatus der König verfügt hatte, sollte nach dessen Willen erstens in Meinhard seinen wahren Herzog und Landesherrn
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erkennen: eine Forderung, wofür die in der Narratio beschriebene königliche Designation, Investitur oder Belehnung den Rechtsgrund geschaffen hatte; das Land sollte also Meinhard zum Herrn annehmen, um damit seine Pflicht zu Ergebenheit und Gehorsam anzuerkennen. Zweitens aber sollte es dem ihm designierten Herrn „die unverkürzten Rechte seines Herzogsamtes beweisen und zugeben“ (oder „anbieten und zueignen“, L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 216, 55). Denn nicht König und Reich, sondern allein das Land, als Depositar allen Landrechts, war im Besitz des Wissens um die herzoglichen Rechte und Güter, und während des Interdukates war allein das Land imstande und verpflichtet, die Ausstattung des Herzogsamtes vor Übergriffen aller derer, die es für solange als herrenlos ansehen wollten, zu bewahren. Wie einst der königliche Fiskus in den Grafschaften (oben: § 300b), so war das herzogliche Amtsgut Sache des Volkes, res publica, während des Interdukates seiner Verwaltung unterworfen (oben: § 501) und vom Volke dem Manne zu übergeben, den es zum Haupte annahm. § 534. Die Logik des Rechtsverhältnisses zwischen Land und Herzog zwingt uns ferner zu der Annahme, daß ebenso, wie der königlichen Investitur die Anweisung des Herzogsgutes an den neuen Herrn von Seiten des Landes nachfolgen mußte, so auch der Resignation des Herzogtums an den König, die Albrecht und Rudolf am 23. Januar 1286 vornahmen, eine Rückgabe des Herzogsgutes von Seiten dieser beiden Herren an das Land voranzugehen hatte, damit ein geordneter Übergang von der jetzt beendeten herzoglichen in die interimistische volkliche Verwaltung des Amtsgutes ermöglicht wurde. Ja, es müssen wohl überhaupt die Verhandlungen über den Wechsel in der Landesherrschaft von Anfang an mit Zustimmung und im Einvernehmen mit dem Lande und seinem Landtag geführt worden sein. Als Gelegenheit und Termin dafür käme, wie sich sogleich zeigen wird, ein Landtag in Frage, der periodisch alljährlich am 1. September abgehalten worden sein könnte. Der Interdukat mit interimistischer Verwaltung des Herzogsgutes durch das Volk könnte alsdann am 8. September 1285 begonnen und zwölf Monate lang bis zum gleichen Tage des Jahres 1286 angehalten haben. Dank den Berichten Ottokars von Steiermark und Johanns von Viktring kennen wir nun auch die Wirkungen, die das königliche Mandat vom 1. Februar 1286 hervorrief. Denn am 1. September 1286, dem Tage des Heiligen Ägidius, den die Kärntner als einen ihrer himmlischen Schutzpatrone verehrten, weil ihnen sein Festtag wohl seit alters einen bevorzugten Termin für ihre Landesversammlungen geboten hatte, erschien Meinhard in seinem Herzogtume, um sich beim Herzogsstein unter der Karnburg nach uraltem Brauche feierlich einsetzen und huldigen zu lassen (Reg. Mein. 485), und es kann nicht zweifelhaft sein, daß er die Zeremonien mit der feierlichen Publikation des Mandates eröffnete, das er vor sieben Monaten in Augsburg in Empfang genommen hatte. Der Fortgang der Verhandlungen läßt sich in etwa folgendermaßen rekonstruieren (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 117. P. Puntschart 1899 S. 100 f. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 29 – 31. H. Voltelini 1928 S. 108 f. H. Wiesflecker 1955 S. 126. M. Uhlirz 1963 S. 186 – 188. S. Vilfan 1968 S. 90 f., 95):
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Nachdem sich die kärntnischen Edlinger auf dem Zollfelde vor der Karnburg bei dem Fürstenstein, der umgekehrt in die Erde gerammten Basis einer römischen Säule (H. Dopsch in LMA 5 Sp. 1003 f.), zum Landtage versammelt hatten, bestimmten sie aus ihrer Mitte einen Sprecher zum Herzogsbauern und ließen ihn auf dem Fürstensteine Platz nehmen. Qualifiziert und wählbar für dieses Amt war zu dieser Zeit nur noch ein Mitglied des Geschlechtes von Blasendorf, das dafür Abgabenfreiheit genoß (P. Puntschart 1899 S. 145. H. Dopsch in LMA 3 Sp. 1578). Nun näherte sich, geleitet von den Großen des hohen Adels, welcher Meinhard vermutlich vor einem Jahre erkoren und dem Könige zur Bestallung präsentiert hatte, der durch das königliche Mandat vom 1. Februar als bestallter Herzog Legitimierte, um gemäß dem königlichen Gebote Annehmung und Inthronisierung von den Versammelten zu verlangen. Von dem Steine herab richtete der Herzogsbauer in windischer Sprache bestimmte Fragen an ihn, um seine Eignung für das herzogliche Amt zu prüfen; sie zielten auf ein Gelöbnis des neuen Landesherrn, ein guter Christ und Richter sein und Witwen, Waisen und Geistliche jederzeit beschützen zu wollen. Die Fragen zu beantworten war Sache der Großen, die den Designierten umgaben und als seine Wähler für die Qualitäten bürgten, die das kärntnische Volk durch den Mund des Herzogsbauern von ihm einforderte. § 535. Akzeptierte der Herzogsbauer diese Bürgschaft, so kam ein Vertrag zustande (P. Puntschart 1899 S. 136), kraft dessen das slowenische oder windische Volk (S. Vilfan 1968 S. 75) den Bestallten sowohl zum Genossen als auch zum Herzoge annahm. Um das erstere, nämlich die der Verleihung des Indigenatsrechtes (oben: § 276a) gleichkommende Einvolkung, symbolisch sichtbar zu machen, kleidete der Herzogsbauer den Bestallten in die aus grauem Tuche gefertigte Tracht eines kärntnischen Bauern ein (ebd. S. 70). Die Annehmung und Ermächtigung aber setzte er ins Werk, indem er, sobald der Bestallte erklärt hatte, ein gerechter Richter sein zu wollen, und ihm ein gewisses Entgelt für seine Amtswaltung gereicht, den Stein räumte und dem Bestallten gestattete, ihn zu betreten, von dort aus sein Schwert nach allen vier Winden hin zu schwingen und schließlich auf dem Herzogsstuhle Platz zu nehmen. Dazu stimmte die Versammlung in windischer Sprache den Lobgesang an, mit dem sie Gott dafür dankte, daß er ihr und dem Lande einen Herrn nach ihrem Willen gegeben habe. Hierauf zogen alle in die Marienkirche bei der Karnburg ein, wo sie die Messe hörten und der Herzog wohl von dem Bischof zu Gurk für sein Amt gesalbt und geweiht wurde. Erst nachdem dies geschehen war, durfte sich der neue Herr der Bauernkleider entledigen, die ihm der Herzogsbauer angelegt hatte, und den Fürstenornat anlegen. Als Herzog lud er nun zum Herzogsmahle, bei dem die vier Landeserbämter ihre Dienste verrichteten (H. Dopsch in LMA 6 Sp. 286), und am Nachmittage trat er sein Amt an, indem er zum ersten Male Gericht hielt und Privilegien und Lehen bestätigte. Die Versammlung der Edlinger und der in ihrem Auftrage handelnde Herzogsbauer machten mit dieser Zeremonie das ganze kärntnische Volk dem neuen Landesherrn verbindlich, ihr Wille galt als identisch mit dem des ganzen Landes und
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sämtlicher Partikulargemeinden, aus denen es sich zusammensetzte und denen die Edlinger entstammten, die den Gemeinwillen übereinsgetragen hatten. Von der Landesversammlung zum Regieren ermächtigt, war der Herzog berechtigt, von jeder einzelnen Bauern- und Hörigengemeinde die Huldigung zu verlangen und Widerstrebende durch Ausübung seines Brennrechtes, d. h. durch Brandschatzung, zum Gehorsam zu zwingen (P. Puntschart 1899 S. 241. F. Kern 1914 S. 137 Anm. 256. O. Brunner 1965 S. 86 – 92). Zeigte er damit einerseits den Untertanen an, was ihner harrte, wenn sie den Willen des Landes mißachteten und ihm die Huldigung verweigerten, so erkannte er sie andererseits dadurch als rechtsfähige und zu selbständiger Willensbildung berufene Vertragspartner seiner Herrschaft an, die aus eigenem freiem Willen zu der Pflicht zu stehen hatten, die das Land übernommen hatte, als es ihm gestattete, den Fürstenstein zu besteigen. Das fürstliche Brennrecht ist hier überhaupt zum ersten Male bezeugt. Der Herzog kann es schwerlich vom Könige empfangen haben. Es war das Land, das es ihm verlieh. Alle modernen Betrachter sind sich darüber einig, daß das Verfahren der kärntnischen Herzogsannehmung keine Neuschöpfung des 13. Jahrhunderts gewesen sein kann, obwohl keinerlei ältere Zeugnisse etwas davon wissen. Denn wie das Brennrecht zeigt, hatte zu dieser Zeit der obrigkeitliche Steuerstaat bereits begonnen, das Volk zu entmachten (oben: §§ 390, 391), wenn er auch noch nicht so weit zu Kräften gekommen war, daß die neuerdings geäußerte Vermutung zutreffen könnte, die Stuhlsetzung des Jahres 1286 habe von ihrem ursprünglichen Sinne nicht mehr viel an sich gehabt und die Herzogsbauernhandlung sei wohl so sehr nur noch als wunderliches Schauspiel empfunden worden, daß Herzog Meinhard bereits vor erlangter Annehmung und Inthronisierung habe die Zeremonien zugunsten seiner herzoglichen Machtfülle und zum Nachteil der Volksrechte umgestalten können (H. Wiesflecker 1955 S. 126). Schwerlich aber kann die Landesverfassung bereits zur Disposition einer Herrschaft gestanden haben, die vom Lande noch gar nicht anerkannt war! Das hohe Alter der vor dem Jahre 1286 nirgendwo erwähnten Zeremonien ist unter anderen aus dem Umstande zu erschließen, daß der kärntnische Hochadel, der den Herzog gekoren und dem Könige nominiert haben dürfte, offenbar ebenso landfremd war wie der Erkorene und Bestallte und daher nicht dazu befugt war, im Namen des slowenischen Volkes und Landes zu sprechen. Dies zu tun war vielmehr das Vorrecht der Edlinger, eines Standes vollfreier und auf freieigenem Grundbesitz angesessener Bauern, die sich durch den besonderen Gerichtsstand vor dem landesherrlichen Vizedom, durch besondere militärische Pflichten und durch Freiheit von allen drückenden Lasten auszeichneten. Man nimmt an, sie seien ursprünglich slawischer Abstammung gewesen und hätten den Adel jener Slowenen und Kroaten gebildet, die seit dem Ende des 6. Jahrhunderts die Täler der Ostalpen besiedelt hatten (H. Voltelini 1928 S. 102. M. Uhlirz 1963 S. 184 – 186. H. Dopsch in LMA 3 Sp. 1578). Der spätere kärntnische Hochadel dagegen wird auf die bayerischen und fränkischen Herren zurückgeführt, die nach dem Siege der Bayern über die Slawen vom Jahre 772 und der Eingliederung Bayerns in das
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Reich Karls des Großen als Krieger, Markgrafen, Grafen, Kirchenvögte und Richter ins Land gekommen waren. „Vielleicht sind damals schon die Zeremonien der Herzogseinführung am Fürstenstein und Herzogsstuhl im Zollfeld in Übung gewesen“ (M. Uhlirz 1963 S. 195. H. Dopsch in LMA 5 Sp. 1003 f.). § 536. Seit König Ludwig der Jüngere im Jahre 880 das alte slowenische Fürstentum Karantanien zum Regnum erhoben und seinen Neffen, den späteren König Arnulf, dort zum Herzog eingesetzt (P. Puntschart 1899 S. 287 f. H. Dopsch in LMA 5 Sp. 1004. C. Brühl 1995 S. 43), und später dann, seit das Herzogtum Kärnten im Jahre 976 mit Willen Kaiser Ottos II. die Unabhängigkeit vom Regnum der Bayern gewonnen hatte, hat wohl niemals ein im Lande geborener Großer die Herzogswürde erlangt. Namentlich die rasch wechselnden, landfremden Fürsten, die seit 976 den Herzogstitel führten, so zuerst der Liutpoldinger Heinrich der Jüngere, seit 978 der Salier Otto von Worms, seit 983 wieder Heinrich der Jüngere, seit 989 der Liudolfinger Heinrich, Herzog von Bayern, seit 995 erneut Otto von Worms und seit 1004 dessen Sohn Konrad, diese Fremden konnten und wollten wohl auch im Lande gar nicht Fuß fassen. Das tat vielmehr erst der Eppensteiner Adalbero, Herzog von 1011 bis 1035, dessen Haus im Lande reich begütert war und dessen Nachkommen nach anderen Fürsten und nach den acht herzogslosen Jahren 1039 bis 1047 noch einmal von 1077 bis 1122 das Herzogtum bekleideten (Hdb. bay. G. 1981 S. 304, 319 – 323, 333). Da fragt man sich, wer im 10. und 11. Jahrhundert wohl wirklich das Land regiert hat? Ein so häufiger Wechsel auf dem Herzogsstuhle muß ebenso sehr der Macht des einheimischen slowenischen Untertanenverbandes und seiner Edlinger zugutegekommen sein, wie er auf die Macht der ostfränkisch-deutschen Könige hindeutet, die Wahlen des von eigenen auswärtigen Interessen bestimmten Hochadels zu lenken. Alle drei Seiten waren offenbar darauf angewiesen, miteinander zu paktieren. So ist es nicht verwunderlich, daß es dem kärntnischen Volke gelang, sein Recht auf Mitwirkung an der Erhebung der Herzöge und auf Umvolkung des Anzunehmenden zu einem windischen Manne zu wahren (P. Puntschart 1899 S. 287 f. H. Voltelini 1928 S. 102. S. Vilfan 1968 S. 10 f., 75). So löst sich denn die „Schwierigkeit, daß ein Bauer die Fragen stellte und der Adel den Herzog begleitete“, ebenso wie die daraus folgende „große Frage, die jedem, der sich mit der Kärntner Herzogseinsetzung befaßt, entgegentritt, wie kam der Bauer dazu, die Rolle zu spielen, den Herzog einzusetzen“ (H. Voltelini 1928 S. 109), sobald man aufhört, sich den mittelalterlichen Staat als von oben her aufgebaut und allein von Königen und Fürsten geschaffen vorzustellen, und statt dessen dem Rechte und Willen des Volkes den ihm gebührenden Raum gibt. Denn das Volk war immer da, während Herzöge und Könige kamen und gingen. Daher nahm, sobald der Herzogsstuhl vakant wurde, die Gemeinschaft der Edlinger als Treuhänder des kärntnischen Volkes, mit dem man sie und sie sich selbst identifizierten, den Fürstenstein wieder in Besitz, um ihn, das Herzogsgut und das Land solange zu behüten, bis, und ihn erst dann wieder freizugeben, wenn sie einen so-
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wohl von den Großen gekorenen als auch vom Könige designierten, bestallten oder belehnten Bewerber für geeignet befanden, das Herzogsamt anzutreten. Durch seinen Worthalter, den Herzogsbauern, machte dann das Volk die Wahl und königliche Bestallung rechtswirksam, durch ihn übergab es dem neuen Landesherrn das Land, das es bis dahin interimistisch selbst verwaltet hatte (P. Puntschart 1899 S. 136. H. Voltelini 1928 S. 108). Wenn sich dieses Recht des Volkes als wirkliches Verfassungsrecht, das einzuhalten oder zu brechen nicht im Belieben des Herzogs und der Großen stand, noch ferner bis zum Jahre 1414 erhielt, so hatte dies seinen Grund darin, daß der Herzogsbauer keine Macht besaß und nicht danach strebte, die Erhebung zu beherrschen oder zu lenken (P. Puntschart 1899 S. 298 f.). Eben deswegen konnte der Landtag beim Fürstenstein für die Großen des Landes und des Reiches die wichtige Funktion übernehmen, unparteiisch und rechtskräftig festzustellen, daß die in den unaufhörlichen Wettstreit der Großen unter sich und mit dem Könige um den Vorrang im Lande eingebettete Herzogserhebung für diesmal beendet sei, und zu verkünden, wer in dem als Wettstreit um Verdienst und Anspruch geführten Verfahren den Sieg errungen hatte. § 537. So finden wir denn hier in Kärnten, was in Bayern nur zu vermuten und zu erschließen war: nämlich ein positives Zeugnis für das Recht und die Fähigkeit des Volkes, seinen Herzog zu inthronisieren und zur Regierung zu ermächtigen. Nur dadurch unterscheidet sich die Erhebung der Herzöge in Kärnten von der in den anderen Regna des Ostfränkisch-deutschen Reiches, daß hier die kiesenden Großen und das annehmende Volk je eigenständige Landesgemeinden mit je nationalen Sprachen und Gebräuchen bildeten, während sich in der Regel die Großen mit dem Volke identifizierten und daher mit dessen Beifall und in seinem Namen sprechen konnten. Davon abgesehen, gleicht aber das Kärntner Verfahren der Herzogserhebung in den Grundzügen dem überall eingehaltenen und namentlich dem im Jahre 968 bei der Erhebung des geistlichen Fürsten zu Magdeburg befolgten, das uns ebenfalls sowohl durch das ausnahmsweise einmal erhalten gebliebene königliche Mandat als auch durch Berichte über die Inthronisierung bekannt ist (oben: §§ 429 – 431). In dieser Übereinstimmung ist ein, wie ich meine, hinreichender Beweis für die oben (§§ 422, 425) entwickelte These gegeben, daß man bei der Besetzung aller öffentlichen, d. h. zur Herrschaft über Freie berufenen Ämter im Ostfränkischdeutschen Reiche ein und dasselbe Verfahren in Gestalt einer Kettenhandlung befolgte, deren Glieder weder nach dem Inhalt noch nach der Reihenfolge definiert zu werden brauchten, da das Verfahren erst dann rechtskräftig beendet war, wenn alle Beteiligten in ihrem politischen Willen einhellig geworden waren. Als wichtigstes Merkmal des Verfahrens tritt hervor, daß sowohl der König des Gesamtreiches als auch der Untertanenverband des jeweiligen Teilreiches daran beteiligt war, wobei dem Könige, der das Gesamtinteresse aller Teilreichsvölker wahrzunehmen hatte, die Lenkung des Verfahrens derart zukam, daß dort, wo einem Volke das freie Wahlrecht zustand, dieses als ein vom Könige gewährtes Privileg erscheint, so
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2. Teil: Der Staat
wie es viele Reichskirchen, aber seit 919 und 921 auch die Regna Schwaben und Bayern bis auf Widerruf genossen. War es gegeben, so zerfiel das Verfahren deutlich in zwei Teile, nämlich in die Kur oder Auslese der für das Amt am besten geeigneten Person und in die Bestallung oder Ermächtigung des Erkorenen durch den König. Hatte sich aber der Herrscher die Lenkung der Wahl vorbehalten, so reduzierte sich das Recht des Volkes darauf, den Herrschaftsvertrag zu formulieren, den vom Könige Erkorenen oder Designierten anzunehmen und ihn in das Amtsgut und die Amtsrechte einzusetzen, die der Untertanenverband während des Interdukates in eigene Obhut genommen hatte. Wenn man die königliche Bestallung mit dem volklichen Liegenschaftsrecht verglich und insofern als Investitur bezeichnete, so konnte mit Rücksicht auf diese Obhut der König dem Bestallten lediglich eine ideelle Gewere erteilen, da die leibliche Gewere nur von dem Volke zu erlangen war. Nahm der König die Bestallung des Erkorenen vor, ehe noch das Volk ihn zum Haupte angenommen, so hatte die Bestallung nur vorläufig Geltung, stand sie unter dem Vorbehalt, daß es dem Bestallten gelingen werde, die Annehmung und Inthronisierung vom Volke zu erlangen. Nahm aber das Volk den ihm Designierten an und versprach es ihm mit der Huldigung seinen Beistand, so befestigte es damit auch die königliche Bestallung, machte es durch sein Einhellen in den königlichen Willen die Handlungen des Königs rechtskräftig. Denn die Regierungsgewalt, kraft deren sie allein ihre Entscheidungen vollstrecken konnten, zogen die Fürsten während des 9. bis 12. Jahrhunderts ausschließlich aus dem Beistande ihrer freien und einigen Untertanen und nur ergänzend aus dem Herzogsgute und dem Gehorsam der meistens unfreien Hofbeamten, die es verwalteten.
Sechzehntes Kapitel
Bestallung und Belehnung I: Rechts- und Formfragen – Einsetzung der Grafen §§ 538 – 540. Theoretische Überlegungen § 538. In der Entwicklung der europäischen Staats- und Verfassungstheorie hat die Kärntner Herzogseinsetzung eine bemerkenswerte Rolle gespielt. Diese war, was sich bis auf den heutigen Tag bemerkbar macht, dadurch vorherbestimmt, daß die Vorgänge auf dem Reichstage zu Augsburg und das Mandat König Rudolfs I. vom 1. Februar 1286 alsbald in Vergessenheit gerieten. Schon Johannes von Viktring scheint nichts von ihnen gewußt zu haben, es sei denn, sie wären ihm im Lichte eines kärntnischen Patriotismus als unbeachtlich erschienen. Das Mandat verschwand im landesherrlichen Archiv, wo es bis ins 19. Jahrhundert hinein, von niemandem bemerkt, überlebte. Johanns Erzählung dagegen wurde von Aeneas Silvius, dem Geschichtsschreiber Kaiser Friedrichs III. und späteren Papste Pius II., allgemein bekanntgemacht, und zwar gerade deswegen, weil darin von den Möglichkeiten des Königs, die Wahl zu lenken und den Gewählten zu bestallen, gar nicht die Rede war, sondern allein von dem Handeln des Landes und des Herzogsbauern, welcher den Landesherrn einsetzte und ermächtigte (B. Schwineköper 1968 S. 184. P. Krendl 1976 S. 141 f.). Selten läßt sich einmal so deutlich wie in diesem Falle erkennen, in welchem Maße die neuere Verfassungslehre von den Zufälligkeiten abhängig ist, denen die Überlieferung staatlichen Handelns im Mittelalter ausgesetzt war. Denn was den Gelehrten über die Herzogseinsetzung in Kärnten bekannt wurde, das erfaßten sie nicht als Fragment der Wirklichkeit und bloß halbe Wahrheit. Jean Bodin benutzte es, um daraus das einzige europäische Beispiel für ein nicht souveränes Fürstentum zu konstruieren (J. Bodin 1583 S. 128 f. E. Pitz 1987 S. 234) – dies allerdings nicht wegen der Abhängigkeit des Herzogs vom Kaiser, von der er gar nicht spricht, sondern weil er hier den Beweis dafür gefunden zu haben glaubte, daß sich ein Staatsvolk im Besitze seiner Hoheit behauptet habe. Denn der Entdecker der staatlichen Souveränität definierte diese als eine Gewalt, die das Volk oder dessen Große dem Fürsten unwiderruflich und ohne jede Bedingung, ausgenommen den Vorbehalt ihrer persönlichen Freiheit, abgetreten haben müßten; jede darüber hinausgehende Bedingung schränke die höchste Gewalt so sehr ein, daß sie nicht mehr souverän heißen könne. Ob das aber der Fall war, wollte Bodin an den Formen des Herrschaftsantritts erkennen, und diese waren in Kärnten so beschaffen, daß die Souveränität zerstreut in den Händen des Volkes oder Adels verblieb. Das Reich
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aber war ihm eine Aristokratie, der Kaiser daher ein Oberhaupt ohne Souveränität (E. Pitz 1987 S. 260). Aber das kärntnische Volk war im Rahmen der Reichsverfassung ebensowenig souverän, wie es irgendein Fürst oder in älterer Zeit der König auf Grund des bloßen Anscheins der Erblichkeit ihrer Stellung hätten gewesen sein können. Angesichts der trümmerhaften Überlieferung der Ereignisse ist es sinnlos, je nachdem, ob die Quellen uns die volkliche Wahl oder die königliche Bestallung verschweigen, aus den Nachrichten reine Typen der Verfassung zu konstruieren. Gleichwohl geschieht dies bis auf den heutigen Tag überall dort, wo das Begriffspaar Amtsherzogtum und Stammesherzogtum Verwendung findet. Denn unter jenem versteht man ein Herzogtum, das allein auf königlicher Bestallung, unter diesem dagegen eines, das allein auf volklicher Kur oder Ermächtigung beruht habe. Die richtige Einsicht, daß sich König und Volk in die Souveränität teilten und daher bei der Erhebung von Herzögen und Landesherren zusammenzuwirken hatten, daher der König, wenn er sich über das Recht des Volkes hinwegsetzte, dessen gewaltsamen Widerstand erweckte, diese Einsicht ist zwar seit Georg Waitz (1876 – 1896 Bd. 7 S. 114, 118, oben: § 507) immer wieder ausgesprochen worden, aber gegen die genannte, dem modernen Verstande so bequeme Alternative hat sie sich, wie wir sahen (oben: §§ 446a, 447, 511), nie wirklich durchsetzen können. Allerdings ist ihr jüngst noch einmal mit Nachdruck widersprochen worden (O. Engels 1992 S. 480 – 485, oben: § 448). § 539. Nun mag es uns nicht verwundern, daß die ältere, oft genug dogmatisch gebundene deutsche Rechtsgeschichte der Logik jenes Begriffspaares nicht widerstehen konnte (C. von Schwerin 1941 S. 88, 114, 181), quasi tertium non daretur. Es bleibt aber bemerkenswert, daß sich auch die landesgeschichtliche Schule, die jene doch überwinden wollte, davon nicht zu befreien vermochte (oben: § 447). So schrieb etwa Robert Holtzmann, nachdem den Herzögen seit 919 die doppelte Eigenschaft von königlichen Beamten und Stammesfürsten zugekommen sei, habe dreißig Jahre später König Otto I. das alte, mit dem Volke verwachsene Stammesherzogtum durch ein neues, vom Könige ernanntes und mit seiner Person verbundenes Amt ersetzt (R. Holtzmann 1941 S. 82, 140 f., 175 f.). Dagegen meinte Helmut Maurer, Schwaben sei schon seit 919 kein Stammesherzogtum mehr gewesen, sondern ein königliches Amt (H. Maurer 1978 S. 136). Neuerdings versteht HansWerner Goetz unter dem Amtsherzogtum eine vom Könige geschaffene und vergebene Institution, die überhaupt erst aus zufällig entstandener Adelsherrschaft einen Dukat gemacht habe; erst danach habe es auch Stammesherzogtümer geben können, wenn nämlich ein (Amts-)Herzog seine Abhängigkeit vom Könige zu lösen und die königlichen Rechte zu usurpieren verstand. Hierzu freilich habe er der Zustimmung der Großen bedurft, daher sich nun, seit dem Ende des 10. Jahrhunderts, eine königsgleiche Herzogswahl durchsetzte (H.-W. Goetz 1981 S. 25 f., 50 – 68). Träfen diese Auffassungen zu, so müßte es in Bayern zu häufigen Umstürzen der Verfassung gekommen sein, denn nachdem Markgraf Liutpold bis 907 „eine
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Art Amtsherzogtum“ innegehabt und „sicher noch als königlicher Beamter zu betrachten“ war, erfolgte unter Arnulf der „Übergang . . . zu einer königsgleichen Position“, jedoch sah sich im Jahre 938 „Herzog Berthold . . . in die Stellung eines Amtsherzogs zurückversetzt“ (F. Prinz in Hdb. bay. G. 1981 S. 381, 383, oben: § 485). Alle diese scheinbaren Umstürze reduzieren sich jedoch auf Verschiebungen politischer Machtverhältnisse im Rahmen einer und derselben Verfassung, sobald man als Norm das Zusammenwirken des Königs mit dem herzoglichen Untertanenverbande zugrundelegt, sooft ein neuer Herzog zu erheben war. Nur unter außerordentlichen, die Verfassung des von unten her aufgebauten Staates aber immer noch nicht sprengenden Umständen konnte es allein vom Volke (oben: §§ 455, 525) oder allein vom Könige gekorene und bevollmächtigte Herzöge geben. Die letzteren besaßen zwar die Befugnis, herzogliche Rechte auszuüben, aber der König konnte ihnen keinen Untertanenverband anweisen, der verpflichtet gewesen wäre, sie zu Häuptern anzunehmen und zu inthronisieren. Solche inhaltsleeren Herzogstitel führten zuerst, von 985 bis 1004, der Salier Otto (H. Dopsch in LMA 6 Sp. 1577. T. Struve in LMA 7 Sp. 1300), dem freilich die Bewohner seiner rheinfränkischen Großgrafschaft auch ohne königlichen Befehl und aus eigener Vollmacht den Herzogsnamen gegeben haben werden, hernach dann die Schwaben Berthold I. von 1077 bis 1078 und Berthold II. von 1098 bis 1111, deren Großgrafschaft im Breisgau und Zürichgau (K. Schmid in LMA 1 Sp. 2026. Th. Zotz in LMA 9 Sp. 465. I. S. Robinson 1999 S. 298 f.) jedoch kein König jemals als Herzogtum anerkannt hat. Berthold II. und seine Nachfahren mußten sich damit begnügen, sich Herzöge von ihrer Stammburg Zähringen zu nennen. Der König und die Fürsten des Reiches waren zwar in der Lage, das schwäbische Herzogtum in die Interessensphären der Staufer, Zähringer und Welfen aufzuteilen, aber auch den herzoglichen Untertanenverband zu dritteln und damit die Erhebung dreier schwäbischer Herzöge zu ermöglichen, dazu fehlte ihnen sowohl das Recht als auch die Macht – die Landesgemeinde, die sich noch im Jahre 1153 erfolgreich dem Verluste der Grafschaft Chiavenna widersetzte (oben: § 482), hätte sich zweifellos dagegen aufgelehnt. Welche Befugnisse im einzelnen die wirkliche königliche Bestallung zum Herzoge einem Fürsten gewährte, das lassen die Quellen ganz offen, und zweifellos enthielten die Volksrechte darüber keinerlei positive Normen. Wir müssen es daher bei der Aussage bewenden lassen, daß der einem Regnum vorgesetzte Herzog, sooft und solange der König außerhalb desselben weilte, darin vizekönigliche Rechte und Pflichten wahrnahm (oben: § 443), während der niedere, neben anderen Fürsten in einem Regnum in großgräflicher Stellung amtierende Herzog mit der Bestallung den königlichen Comitatus empfing, kraft dessen er den Dinggrafen seines Amtsbereiches die Amts- und Banngewalt verlieh (oben: § 276b). Die vizekönigliche Gewalt indessen war keine volle königliche Gewalt. Der Herzog erhielt z. B. nicht das Recht, Reichsgut zu veräußern oder mittels Privilegs in die Reichsverfassung einzugreifen; Große, die Anspruch auf liegende oder öffentliche Reichsrechte erheben wollten, mußten deswegen entweder den in einem anderen Regnum wei-
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lenden König dort aufsuchen oder solange stillhalten, bis der Herrscher wieder in ihrem Regnum Hof halten würde. § 540. Nun müssen wir uns nicht mit diesen Befunden bescheiden und uns folglich eine Staatsform vorstellen, die ein grundlegendes Problem aller Verfassung ungeordnet gelassen hätte. Wir könnten es nämlich mit einer aus der Mündlichkeit des Rechtslebens erklärbaren Lücke in unserem Wissen zu tun haben und daher genötigt sein, die einstmals vorhanden gewesenen, wenn auch weder positivierten noch von irgendjemandem aufgezeichneten Normen betreffend das Verhältnis der Herzöge zum König zu rekonstruieren. Auszugehen wäre dabei von der Annahme, daß der mittelalterliche Staat von unten her aufgebaut war und daß sich sein öffentliches Leben in erster Linie in den lokalen Dinggemeinden, danach in den Landesgemeinden der Großgrafschaften, Herzogtümer und Regna und erst zuletzt auf den Hof- und Reichstagen des königlichen Bundesstaates abspielte. Da nun, wie wir wissen, besonders seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts die entgegengesetzte Ansicht in der Mediävistik obwaltet, der zufolge das Volk lediglich Baumaterial in Händen der Könige und des Adels war, griff man bei dem Versuch, die genannte Lücke zu schließen, auf eine neue Art und Weise auf das Lehnrecht zurück, das sich den Staatsrechtslehrern seit jeher als ideale Rechtsform für den von oben her aufgebauten Staat empfohlen hatte. Denn das Lehnrecht war, wenn auch bloß als Institution des Personen- und Sachenrechts (oben: §§ 96, 97, 128a, 354), ohnehin eine Schöpfung der karolingischen Könige (oben: §§ 124 – 128, unten: §§ 675, 676), und wenn es eine Lücke ausfüllte, die sich damals im volklichen Liegenschaftsrecht aufgetan hatte, warum sollte es dann eine gleiche Funktion nicht auch im Verfassungsrecht übernommen haben? Gangbar war dieser Weg allerdings nur dann, wenn es gelang, die nicht eben einfache Vorfrage zu beantworten, wie die Unterstellung nicht nur der herzoglichen, sondern aller staatlichen oder öffentlichen Ämter (oben: § 421) unter Benefizialrecht juristisch zu erklären sei: Wie konnten solche Ämter in die Funktion des Benefiziums eintreten, die im Lehnrecht ursprünglich nur liegenden Gütern zugekommen war? Was hatten öffentliche Amts- und private Grundeigentumsrechte miteinander gemein, das den juristischen Denkvorgang verständlich machen könnte? Da uns die Quellen hierüber ganz im unklaren lassen, und zwar die des Ostfränkisch-deutschen Reiches noch viel mehr als die westfränkischen, so waren Antworten auf diese Fragen nur durch Rückschlüsse aus den allgemeinen Verfassungsverhältnissen zu finden.
§§ 541 – 543. Bestallung und Vasallität § 541. So war Georg Waitz der Meinung, bei den höheren Ämtern der Vögte, Grafen, Markgrafen und Herzöge habe die Vasallität der Person die Anwendung des Lehnsverhältnisses auf das Amt nach sich gezogen (G. Waitz 1876 – 96
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Bd. 4 S. 282, Bd. 6 S. 32). Näher ausgeführt hat Waitz diese Ansicht allerdings nicht. Da Vasallität, als personenrechtliches Treuverhältnis, an und für sich jedoch bestehen konnte, ohne mit einer Benefizialleihe verbunden zu sein, nahm er wohl an, daß alle Beamten von Rechts wegen zunächst verpflichtet waren, dem Könige persönlich als Vasallen zu huldigen, und daß erst später das Amt dazu als Lehen gedacht, folglich der Amtseid mit Bedacht in den Lehnseid verwandelt oder aus Unwissenheit mit ihm verwechselt worden wäre. Dergleichen Vermutungen sind leicht ausgesprochen, da es vom Ende des 9. bis hinein in das 12. Jahrhundert an Nachrichten über Amtseide, mit einer Ausnahme (oben: §§ 498, 501), so vollkommen fehlt, daß man auch annehmen kann, es habe sie gar nicht mehr gegeben, sondern ein allgemeiner Treueid oder die allen Untertanen obliegende Treupflicht gegenüber dem Könige habe auch die Amtsverwaltung geregelt: Nur für die Schöffen hätten die Karolinger Amtseide eingeführt, ihren hohen Amtleuten und insbesondere den Grafen dagegen hätten sie nur einen Treueid abfordern können, der zwar die Amtspflichten ganz im Dunkeln ließ, aber doch eine personenrechtliche Beziehung zwischen Amtmann und König herstellte und daher zum Ausgangspunkt der Feudalisierung des Ämterwesens geworden sei (R. Scheyhing 1960 S. 70, 79. L. Kolmer 1989 S. 110 – 112, 114 A. 21). Allein daß man die allgemeine Untertanentreue, die der König kraft seines ihm vom Volke übertragenen hoheitlichen Amtes öffentlich einforderte, von der besonderen, durch Lehnseid begründeten personenrechtlichen der Vasallen nicht (mehr) habe unterscheiden können, das widerspricht allem, was wir über die hohe mündliche Rechtskultur jener Zeiten wissen, und dünkt mich ebenso unwahrscheinlich wie die Existenz eines Satzes des positiven Rechtes, dem zufolge alle Amtleute dem Könige die besondere vasallitische Treue zuzuschwören hatten (H. Mitteis 1933 S. 198 f.). Es ist nämlich bezeugt, daß man anfangs den Amtseid vom Lehnseide, trotz der Ähnlichkeit im Wortlaute (F. L. Ganshof 1961 S. 57), sehr genau zu unterscheiden verstand. Denn der in Verfassungsfragen als Experte erwiesene Erzbischof Hinkmar von Reims berichtet zum Jahre 870, Bischof Hinkmar von Laon habe dem westfränkischen König Karl II. den Treueid allein wegen seines weltlichen Amtes und soweit nach Kirchenrecht zulässig geschworen: Ego . . . domno seniori meo Karolo regi fidelis et oboediens ero secundum ministerium meum, sicut homo suo seniori et episcopus quilibet (per rectum) suo regi fieri debet, ac . . . secundum sacros canones et decreta sedis apostolicae . . . pro scire et posse me oboedire velle profiteor (Ann. Bert. a. 870 p. 109). Die Treue des Bischofs zu seinem Könige wird darin mit der Treue des Vasallen zu seinem Herrn zwar allenfalls (unten: § 670) verglichen, nicht aber identifiziert, und die Worte per rectum, die in der zuverlässigsten Handschrift fehlen, meinen zweifellos das sowohl für Vasallen als auch für Bischöfe geltende Land- oder Reichsrecht, welches die Gehorsamspflicht allgemein ebenso begrenzte, wie es für den Bischof außerdem noch das kanonische Recht tat. Inhalt des Amtes, das der Bischof vom Könige empfing, war nämlich nach Reichs- und Volksrecht nicht nur die persönliche Dienstleistung, die dem königli-
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chen Vasallen oblag, sondern auch das Ausüben öffentlicher Gewalt über (alt- und neu-)freie Untertanen, und solche Gewalt konnte niemand rechtmäßig anwenden, der nicht auch von dem Untertanenverbande, den der König seinem Amte zuordnete, in aller Öffentlichkeit erkoren oder angenommen war. Denn auch diesem Verbande schuldete der Amtmann die Pflicht, seines Amtes getreulich zu walten. Diese Öffentlichkeit ging der mit bloßer Güterleihe verbundenen Vasallität ab. Im Vergleich zur Amtsvergabe, zur Bevollmächtigung eines Amtmannes, war die vasallitische Güterleihe ein privates, nur den Senior und den Lehnsmann angehendes Geschäft. Noch unwahrscheinlicher wird G. Waitz’ Annahme, wenn man bedenkt, daß die Vasallität dem Herrn nur dann einen qualifizierten Gehorsam verbürgte, wenn sie nicht allein durch den Treueid, sondern vielmehr auch durch die Handlungseinheit von Handgang, Treuschwur und Lehnsnahme begründet wurde (R. Scheyhing 1960 S. 29, 48, 53 f. M. Minninger 1978 S. 9. W. Kienast 1990 S. 88), wobei der Handgang den Anwesenden stärker ins Auge fiel als der Treueid (W. Kienast 1990 S. 124), weil er immer noch etwas Demütigendes an sich hatte, soferne er die Fesselung des Besiegten und seine Selbstverknechtung sichtbar darstellte. § 542. Keineswegs aber ist es zulässig, jedes Treueverhältnis, von dem die Quellen berichten, auf einen Vasalleneid zurückzuführen. Vielmehr war fidelis der weitere, vassus dagegen der engere Begriff: Jeder vassus war zugleich fidelis seines Herrn, nicht aber jeder fidelis auch sein durch Handgang gebundener vassus (W. Kienast 1990 S. 126 – 129). Getreuer des Königs oder eines Fürsten wurde man nicht nur durch den Lehnseid, der eine enge persönliche Beziehung zwischen Herrn und Mann begründete, sondern auch durch Teilnahme an der Erhebung oder Annehmung des Königs, Herzogs, Bischofs oder Grafen, da zu dieser stets das Versprechen der Treue, des Beistands und Gehorsams gehörte, das freilich nur die Großen und Worthalter partikularer Verbände individuell ableisteten, während sich das aus der Menge der Edlen, Kleriker und (Neu-)Freien bestehende Volk samt und sonders durch Zuruf verbindlich machte, indem es dem Erwählten wie aus einem Munde akklamierte (oben: § 508). Die so begründete Fidelität unterschied sich wegen ihres öffentlichen Charakters von der Privatheit des Lehnseides und ersetzte die karolingischen Untertaneneide (unten: §§ 658, 668), die es nun schon lange nicht mehr gab. Wer diese öffentlich gelobte Treue brach, indem er sich gegen den König empörte, der verfiel der Ungnade des Herrschers und mußte eine in dessen Belieben gestellte Strafe auf sich nehmen, um wieder in Gnaden angenommen zu werden. Oft mußte er sich bedingungslos ergeben (se tradere, se dedere), um seine konfiszierten Güter und verlorenen Ämter zurückzuerhalten (G. Althoff 1997 S. 36, 38, 201, 204 f.), ohne daß wir anzunehmen brauchen, diese Rückgabe sei in den Formen der vasallitischen Leihe vor sich gegangen. Es war offensichtlich etwas sehr Ungewöhnliches und eine Verschärfung der Strafe, wenn der König den Unterwürfigen auch noch in die Vasallität zwang. So hatte sich der im Vorjahre von König Otto
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abgesetzte König Berengar von Italien im Jahre 952 zu dem Sieger nach Sachsen verfügt, um sich zu ergeben, aber da er noch glaubte, dafür Bedingungen stellen zu können, hatte er unverrichteter Dinge heimkehren müssen. Erst der zweite Versuch in Augsburg war erfolgreich, da er sich nun bedingungslos in die Vasallität ergab, regiae se per omnia in vassallicium dedit dominationi. Dafür erhielt er zwar von Otto die Regierung Italiens zurück, Italiam accepit regendam, aber die Ergebung in die Vasallität empfand er als eine so schwere Demütigung, daß er sein Leiden an ihr nicht anders glaubte lindern zu können, als indem er sie an die Bischöfe, Grafen und anderen Fürsten Italiens weitergab. Damit freilich bereitete er sich selbst den Untergang, denn alle Großen Italiens wurden deswegen seine Feinde (Regino, Cont. zu 952. H. H. Kaminsky in LMA 1 Sp. 1913 f.). Ebenso verhält es sich mit der Vasallität Herzog Heinrichs II. von Bayern. Ihm hatte Kaiser Otto II. im Jahre 976 wegen verschwörerischer Umtriebe das Herzogtum Bayern entzogen; Heinrich aber verharrte im Widerstande und unternahm nach Ottos Tode den Versuch, dessen Sohne das Königtum zu entwinden. Erst im Jahre 985 kam es auf einem Reichstage zu Frankfurt zum Ausgleich, als Heinrich endlich dazu bereit war, auf alle weitergehenden Ansprüche zu verzichten, wenn er dafür das Herzogtum Bayern zurückerhielt. Um dieses Zieles willen und um der verdienten Strafe zu entgehen, mußte er sich jedoch gerechtermaßen demütigen, indem er sich dem Könige mittels Handgangs als Vasall ergab und eidlich gelobte, ihm hinfort wie ein gewöhnlicher Ritter zu dienen, humiliavit se iuste . . . regique . . . totius in aspectu populi, ambabus in unum complicatis manibus, militem se et vera ulterius fide militaturum tradere non erubuit. Er ergab sich bedingungslos in die Gnade des Königs, nil paciscendo nisi vitam, nil orando nisi gratiam (Ann. Quedlinb. a. 985, SS 3 S. 67 Z. 9 – 23. RI 2, 3 n. 969l). Es ist hier keine Rede davon, daß mit der Ergebung eine Ausgabe des Landes Bayern als Lehen derart verknüpft worden wäre, daß Heinrich aus dessen Erträgen seine Dienstpflicht hätte erfüllen sollen; es ist auch schwer vorstellbar, daß eine solche Erklärung der Reichsregierung vom bayerischen Volke und dessen Landtag hingenommen worden wäre. Vielmehr akzeptierten die Regentinnen die reuige Ergebung, summissa deditio, ihres Verwandten und setzten ihn in seinen früheren Stand als engsten Bundesgenossen des Königs wieder ein, indem sie ihn mit angemessener Ehre annahmen, in Treue begnadigten und zur herzoglichen Würde erhöhten, digno eum honore susceptum, gratia fideli donatum, ductoria itidem dignitate sublimatum, deinde . . . inter amicissimos . . . venerantur. Das Herzogtum war kein Lehen, sondern Würde und Amtsauftrag. Mit Recht faßte daher Bischof Thietmar von Merseburg (Chron. IV 8) das Ereignis mit den kurzen Worten zusammen, Heinrich habe in Frankfurt als unterwürfiger Untertan die Gnade des Königs und die Herzogswürde erlangt, regis gratiam in Francanafordi et ducatum dedicius promeruit (R. Scheyhing 1960 S. 80 – 82. G. Althoff 1996 S. 50 – 52, 1997 S. 109 – 111). Da die Freundschaftsverträge (J. Fried 1995 S. 312 – 314. J. Ehlers 1996 S. 264), mittels deren König Heinrich I. das Ostfränkische Reich in die Form eines Bundes-
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staates brachte, eine weitgehende Gleichberechtigung der Fürsten mit dem Könige voraussetzten, ist es demnach sehr unwahrscheinlich, daß Großgrafen, Herzöge und Bischöfe damals schon bereit gewesen wären, sich als Vasallen einer Lehnsherrschaft des Königs zu unterwerfen und die Regna von ihm zu Lehen zu nehmen. Wenn es also „zu den gesicherten Tatsachen der Verfassungsgeschichhte“ gehört, daß die wichtigsten öffentlichen Ämter, vor allem Bistümer, Großgrafschaften und Vize- oder Gaugrafschaften, im Westfränkischen Reiche seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, im Ostfränkisch-deutschen Reiche aber erst seit dem 12. Jahrhundert in den Formen des Lehnrechts vergeben wurden (H. Mitteis 1933 S. 199, 415), so wird sich der Bruch mit der karolingischen Tradition, zu dem der Sachse Heinrich I. bereit war, auch darauf erstreckt haben, daß sich die Großen, die er in der Würde eines Herzogs oder Großgrafen bestätigte, ihm nicht (mehr) in die strenge, den demütigenden Handgang erfordernde Vasallität zu ergeben brauchten (S. Reynolds 1994 S. 405 f.). § 543. Obwohl wir dank den Bischofsviten über die Erhebung der geistlichen Fürsten sehr viel besser unterrichtet sind als über die der Herzöge, um von den Großgrafen und Grafen ganz zu schweigen, fehlt es durchaus an Belegen dafür, daß die Erwählten schon in karolingischer (unten: § 587) und ostfränkischfrühdeutscher Zeit dem Könige außer dem Treueide auch Handgang oder Mannschaft geleistet hätten (M. Minninger 1978 S. 20 – 41. S. Reynolds 1994 S. 407, 419). Zwar hatte Georg Waitz einst eingeräumt, daß uns der eindeutige Ausdruck hominium in den Quellen erst im 12. Jahrhundert begegne, aber er hatte es dennoch für unzutreffend gehalten, daß die Mannschaft erst in staufischer Zeit von den Bischöfen verlangt und geleistet worden sei, da bereits von Bischof Udalrich von Augsburg und dem König berichtet werde: regio more in manus eum accepit munereque pontificatus honoravit (Vita Oudalr. c. 1 p. 387 lin. 24 – 25. Reg. B. Augsb. 1, 66 n. 104. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 286 mit Anm.). Aber der Vorgang ist auch anders zu erklären, nämlich als Aufnahme in den Schutz des Königs, denn da Udalrich nicht in der Hofkapelle erzogen worden war, bedurfte er noch der Zulassung zum Kreise der königlichen Gefolgsleute oder Familiaren. Damit erlangte er auch jenen strafrechtlichen Schutz durch ein erhöhtes Wergeld, den einst das Amtsrecht für karolingische Königsboten und Grafen geschaffen hatte und dessen Rechtsgrund nicht eine personenrechtliche Bindung des Geschützten an den König, sondern allein der königliche Amtsauftrag gewesen war (R. Scheyhing 1960 S. 63 f.). Wirklich eindeutig bezeichnen den Handgang und die dadurch erzeugte Vasallität eben nur Ausdrücke wie in manibus se commendare, in vasatico se commendare per manus und ähnliche (W. Kienast 1990 S. 125). Für sich allein verwandt, waren dagegen weder homagium noch commendatio eindeutige Begriffe. In die entsprechende textliche und rechtliche Umgebung versetzt, konnte der Ausdruck fidelitatis homagium zu einer Zeit, als die feudale Umdeutung aller öffentlichen Verhältnisse noch in den Anfängen steckte, sehr wohl die auf öffentlicher Huldigung beruhende Untertanentreue bezeichnen (oben: § 533). Gewiß hat man seit jeher den Treu- und Amtseid der Herzöge, Bischöfe
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und Reichsäbte mit dem Treueide des Vasallen, dem hominium, verglichen, da dem Wortlaute nach beide Formen des Treugelübdes nicht allzu verschieden gewesen sein können. Man hat sie deswegen aber nicht in eins gesetzt. Wir dürfen daher nicht ungeprüft voraussetzen, daß das Wort hominium immer im lehnrechtlichen Sinne zu verstehen sei, wenn die Schriftsteller es im Zusammenhange mit der Bischofserhebung (M. Minninger 1978 S. 17 f., 34 f.) oder der Huldigung, die die Fürsten dem neuen Könige darbrachten (ebd. S. 41 – 54), verwenden. Vielmehr ist stets das gesamte Erhebungsverfahren in Betracht zu ziehen, wenn man feststellen will, ob das Wort nicht eher ein landrechtliches Treueversprechen meint und ob die Belehnung mehr ist als ein bloßes Synonym für die königliche Bestallung (oben: § 533). Solange zur Erhebung der Herzöge nicht nur die königliche Bestallung, sondern auch die völkische Kur oder Annehmung dazugehörte, solange der Herzog nicht nur Beauftragter des Königs, sondern auch, wie man gewöhnlich sagt, Repräsentant seines Stammes war, entfällt eben der Schluß, die Form der vasallitischen Leihe sei unentbehrlich gewesen, um das Herzogtum sinnenfällig an den König zu binden (R. Scheyhing 1960 S. 81). Da sich die vasallitische Kommendation von der allgemeinen Schutz- und Diensttradition abgespalten hatte, die auf dem Standesrecht der Edlen beruhte, sich selbst einem, meist kirchlichen, Schutzherrn zu unterwerfen (oben: § 117), diente das Wort commendare stets auch dazu, solche Autotraditionen, denen keine lehnsrechtliche Bedeutung zukam (W. Kienast 1990 S. 77, 141. S. Reynolds 1994 S. 29), und überhaupt, als Gegenstück zur emancipatio, Rechtsgeschäfte wie die Ergebung der Braut in die Hausherrschaft des Ehemannes (oben: § 90), des Novizen in die Zuchtgewalt des Abtes, des Schuldners in die Knechtschaft seines Gläubigers zu bezeichnen, die ohne Treueschwur und Lehnsnahme wirksam wurden (W. Kienast 1990 S. 137 – 140, 151). Die Auslegung hat daher stets auf die Intention zu achten, deretwegen sich Vertragspartner der Kommendation bedienten; „m. a. W.: das Wort commendatio ist stets der Ergänzung bedürftig; man kann sich in vassaticum, in mundeburdium, potestati, patrocinio commendare usw.; erst der Dativ des Zwecks gibt ein vollständiges Bild des erstrebten rechtsgeschäftlichen Erfolges“ (H. Mitteis 1933 S. 72). Die Schriftsteller konnten das Kausalverhältnis sogar umkehren, indem sie sagten, der König kommendiere seinem Amtmanne das Szepter oder die Verwaltung (Vita Rimb. S. 90 Z. 1 – 2, oben: § 430. Vita Oudal. c. 21 S. 407 Z. 38 – 41, oben: § 431).
§§ 544 – 549. Bestallung und Benefizialleihe § 544. Da die Treuepflicht der Amtleute nicht ausreicht, um die Verwandlung der königlichen Bestallung in eine Belehnung juristisch zu erklären, schlug die rechtsgeschichtliche Forschung einen anderen Weg ein, um die Entstehung der Ämterleihe zu begründen. Sie nahm an, die zur Ausstattung der Ämter dienenden Grundstücke und Villikationen, als „das sachliche Substrat, das der Amtsführung
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zugrundelag“ und zunächst weiter nichts als ein Zubehör des Amtes war, habe dem juristischen Denken den Übergang ermöglicht; „nach dessen Analogie würde sich die Rechtsnatur des Amtes selbst zum Lehen umgestaltet haben, dieses wäre zum ,Amtslehen‘ geworden“ (H. Mitteis 1933 S. 200, nach H. Brunner / C. von Schwerin 1928 S. 227). Zunächst wäre also derjenige Teil des Amtsvermögens (fiscus, oben: §§ 303 – 305), der „aus Liegenschaften bestand, in ein unlösbares Dauerverhältnis zum Amt gebracht“ worden, als dessen Pertinenz diese Güter fortan „von den persönlichen Benefizien des Amtsinhabers streng zu trennen“ waren (H. Mitteis 1933 S. 200), dann aber habe sich das Pertinenzverhältnis umgekehrt: Der Grundbesitz, der zunächst Zubehör gewesen, verwandelte sich in die Hauptsache, und was zunächst Hauptsache war, nämlich das Amt, das erschien dem Rechtsdenken der Menschen nun als Pertinenz des Grundbesitzes und konnte als solche, gleich der Hauptsache, dem Lehnrecht unterworfen werden (F. L. Ganshof 1961 S. 55). Dieser Wandel der Rechtsauffassung zog sich allerdings sehr lange hin. Im 10. und 11. Jahrhundert konnte man Amtsgewalt und Bodennutzungsrechte noch durchaus unterscheiden (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 31 A. 3). Es bedurfte der Erschütterung der königlichen Gewalt durch den Investiturstreit, in deren Folge man Amtsvergabe und Bannleihe voneinander trennte und den Begriff der Regalien in Umlauf setzte (oben: §§ 320, 323), um im Rechtsdenken den Austausch von Hauptsache und Zubehör zu bewirken; erst seither konnte „Gegenstand der Verleihung alles sein, was einen dauerhaften Ertrag gewährte,“ nämlich insbesondere immer noch Grundbesitz, daneben aber auch die Ämter (R. Schröder / E. von Künßberg 1922 S. 433). Das aber wären nicht mehr die alten karolingischen gewesen, sondern erst jene, die aus der Auflösung der einst einheitlichen, vom Könige ausgegebenen Amtsgewalt in einzelne Regalien hervorgegangen waren. Erst dadurch und erst jetzt wurde „das öffentliche Amt zur nutzbaren Gerechtsame, zur Herrschaft . . . Die Einkünfte des Amtes waren nicht mehr Entschädigungen für die übernommenen Amtspflichten, vielmehr waren diese amtlichen Pflichten umgekehrt die Last, die auf der Herrschaft kraft Amtes ruhte und mit ihr übernommen war“ (H. E. Feine 1955 S. 191). Wenn man es dieser Lehre als Vorteil anrechnet, daß sie das Erblichwerden der Ämter zu erklären vermöchte, so ist daran zu erinnern, daß die hohen Ämter keineswegs in dem Sinne erblich waren wie Erb- oder Hausgut, sondern daß es zunächst lediglich ein Idoneitätsmerkmal bedeutete, Sohn eines fürstlichen Amtmannes zu sein, und daß die Kiesenden dieses Merkmal durchaus anderen unterordnen konnten, etwa wenn ein Fürstensohn minderjährig oder anderweitig behindert oder im Lande nicht mehr hinreichend begütert war. Erblich geworden sind schließlich wiederum lediglich die in Regalien aufgelösten Überreste älterer Ämter, die sich seit dem 12. Jahrhundert in Rechtsame ihrer Inhaber (oben: §§ 98, 99) verwandelten. Jene älteren Ämter, die der ostfränkisch-frühdeutschen Zeit, wären demnach noch keineswegs in der Regel als Lehen aufgefaßt worden. Ihre Inhaber bezeichne-
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ten sie denn auch, den Quellen zufolge, keineswegs besonders gerne als Benefizien, sondern eher als honores, dignitates oder potestates (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 33. H. Mitteis 1933 S. 203 mit A. 99. F. L. Ganshof 1961 S. 54 – 57. J. F. Niermeyer, Lexicon 1976 S. 495 – 498. W. Kienast 1990 S. 393 f. S. Reynolds 1994 S. 111 A. 155) oder allenfalls als beneficiarii honores (Ann. Bert. a. 839. E. Lesne 1924 S. 10, 48, unten: § 588). Denn beneficium hieß alles, was ein Mann durch die Gnade des Königs empfangen konnte, mochte es sich nun um Amtsvollmachten, um Rittergüter oder um bäuerliches Leihegut handeln (S. Reynolds 1994 S. 428 f. Oben: § 159). So hören wir etwa, daß sich die Macht der Fürsten und Großen auf deren ererbte Eigengüter und von der Großmut des Königs gewährten Amtsgewalten, propriis hereditatibus et honoribus regio munere concessis, stützte (Regino a. 903). Wollte der König einen Herzog entmachten, so mußte er ihm daher sowohl Ämter als auch Erbgüter aberkennen, honores hereditates interdicere (ebd. a. 898). § 545. Der Ehrbegriff der Zeit war noch ganz der gemeingermanische (J. De Vries 1964 S. 24 ff.): Er bezog sich nicht auf die innere Überzeugung eines Mannes von seinem Werte, sondern auf das Urteil der anderen über ihn und auf die Art, wie sie ihn behandelten. Beides richtete sich wesentlich nach dem Ansehen des Geschlechtes, dem er entstammte, nach der Zahl der waffenfähigen Männer, die demselben angehörten, und nach der Menge der Güter, über die es gebot, auch wenn sich jeder einzelne Geschlechts- oder Hausgenosse seinen Ruf noch selber verdienen, sich mit Taten als seiner Herkunft würdig und für hohe Ämter geeignet erweisen mußte. Wenn der König einem jungen Manne aus nichtigem Grunde die Ehren verweigerte, die er dessen Vater gewährt hatte, so empfand man dies als eine so schwere Kränkung, daß sich der der Eignung Beraubte, honore patrio privatus (Widukind III 31), nicht mehr an seine Treupflicht gebunden fühlte, sondern zu den Waffen griff und um seinen Vorrang (oben: § 424), d. h. um den Adel seines Hauses, um den Anhang seiner Verwandten und den vollen Umfang seiner irdischen Macht, de nobilitate carnis, de parentum numerosa multitudine, de magnitudine terrenae potestatis (Regino a. 897), kämpfte. Wenn der König einem seiner Großen die Ehren eines Herzogtums, eines Bistums oder einer Grafschaft erwies, so bestätigte er damit dessen verdienten Vorrang, ad summum gradum summumque honorem provexi (Widukind III 32), und umgekehrt war es weniger ein Erbrecht als der angestammte Vorrang unter ihresgleichen, worauf der Anspruch der Großen auf königliche Ehrungen beruhte. Die Ehrung aber bestand darin, daß der König die Adelsverbände der Regna oder Diözesen oder die lokalen Dinggenossenschaften anwies, dem Ernannten als Herzoge, Bischof oder Grafen zu huldigen und damit dessen Vorrang ausdrücklich anzuerkennen. Gleichbedeutend mit honor wurde das Wort dignitas benutzt. So erlangte Bertulf im Jahre 870 zu Trier die episcopalis dignitas, erhob das italische Volk im Jahre 888 in einer Doppelwahl sowohl Berengar wie Lambert zum Amte des Königs, regia dignitate sublimandum decernunt, und wurde bald darauf Poppo, Herzog von Thüringen, seines Amtes entsetzt, dignitatibus expoliatur (Regino a. 869 S. 98,
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888 S. 129, 896). Auch das Hendiadyoin honores et dignitates (a rege acceptae, ebd. a. 897) ist zu finden. König Ludwig II. wurde gerühmt, weil er sowohl bei der Vergabe wie beim Entzuge öffentlicher Würden, in dandis sive subtrahendis publicis dignitatibus, fair und gerecht verfuhr und niemand von ihm eine kirchliche oder weltliche Würde, ecclesiasticam sive mundanam dignitatem, gegen Geld erlangen konnte (ebd. a. 876). In den Schulen glossierte man dignitates und honores in erster Linie mit ahd. ambaht oder Amt, daneben aber auch mit herduom oder Herrschaft. Dies waren dieselben Worte, die auch lat. prefectura erklärten, und daß damit nicht nur der vom Könige erteilte Auftrag, sondern auch der persönliche Anspruch des Inhabers gemeint war, tritt noch deutlicher hervor, wenn man hinzunimmt, daß das Wort ambaht seinerseits (neben magistratus oder pretura) auch lat. felicitas oder Reichtum erläuterte und in der zuletzt genannten Bedeutung wiederum mit ambitus vergleichbar war (H. Götz, Wb. 1999 S. 36, 197, 258, 305, 386, 509, 516. E. Steinmeyer / E. Sievers, Glossen Bd. 2 S. 132 Z. 10). Mit Recht ist daher darauf hingewiesen worden, daß die Quellen die Begriffe libertas, privilegium, honor, dignitas, status und ius in gleicher Bedeutung verwenden (G. Tellenbach 1936 S. 21 f. mit A. 32). Der Sprachgebrauch des 9. und 10. Jahrhunderts führt uns damit auf eine Vorstellung vom Amte, die nichts gemein hat mit dem, was das Amt zufolge der Lehnrechtstheorie hätte gewesen sein sollen, nämlich ein Komplex vom Könige verliehener dauerhafter Einkünfte, auf deren Genuß übrigens einige öffentliche Aufgaben lasteten. Honor und dignitas bestanden dagegen in der Ehre und Würde, die der König und das Volk einem Manne beilegten und erwiesen, indem sie ihn öffentlich zu ihrem Herzoge, Bischof oder Markgrafen erhoben. Während die reichsten und mächtigsten Edelfreien solche öffentlichen Ämter bekleideten und nur unter besonderen Umständen in die königliche Vasallität einzutreten gezwungen wurden, bezeichneten man ärmere Edelfreie und (einfache Neu-)Freie, und nur sie, als Vassen oder Vasallen, weil sie sowohl vom Könige als auch von jenen Fürsten Land bis auf Widerruf oder auch auf Lebenszeit entgegennahmen, um sich ihren vornehmen Stand zu bewahren und dafür Militär- oder Verwaltungsdienste zu leisten (S. Reynolds 1994 S. 110, 402, 404 f.). § 546. Das Ansehen solcher belehnten Vassen war so gering, daß schwerlich jemand auf den Gedanken kommen konnte, sie mit den Inhabern von honores zu vergleichen. Noch war die Annahme eines Lehngutes keineswegs dazu geeignet, Ansehen und Ehre eines Mannes zu steigern und ihm als honor zugerechnet zu werden. Denn das Rechtsgefühl der Zeit kannte keine unentgeltlichen Gaben: Wer Geschenke annahm oder annehmen mußte, der war hinfort nicht mehr wirklich frei, da er nun zu dauernden Gegenleistungen verpflichtet war. Der Beschenkte mußte dem Geber dienen (H. Hattenhauer 1992 S. 13 f.). Wie die Mönche des Klosters Saint-Bertin im westfränkischen Flandern über Männer dachten, die zur Gänze oder überwiegend von Lehnsbesitz lebten (oben: § 124), das zeigt eine Bemerkung in den am Ende des 9. Jahrhunderts gesammelten Berichten über die Wunderwerke ihres Klosterpatrons, wonach fast der gesamte Adel des immer wieder von
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den Normannen heimgesuchten Landes, anstatt es gegen die Seeräuber zu verteidigen, aus Liebe zu seinen teuren Lehnsherren oder wegen deren Tyrannei abgezogen war und das Land seiner Väter im Stich gelassen hatte, ausgenommen einige wenige, die derart reich an Allodialgut waren, daß sie es nicht nötig hatten, sich zu kommendieren, sondern nur dem Gesetz zu gehorchen brauchten, pene nobilitas terrae ex multo iam tempore ob amoren vel dominatum carorum sibi dominorum abscesserat, nativitatis patria relicta, praeter paucos, qui ita hereditariis praediti erant patrimoniis, ut non esset eis necesse subdi nisi sanctionibus publicis (MGH SS 15, 1 S. 513 Z. 21. F. L. Ganshof 1961 S. 23). Wer ein Lehen empfing, der mußte dienen und konnte daher servus oder servitor genannt werden, auch wenn er edler Abkunft war und frei genug blieb, um sich wieder aus der Knechtschaft zu lösen. So übergab der Edelherr, nobilis vir, Chunihoh um 967 dem Erzbischof Friedrich von Salzburg ein Eigengut, um damit seine beiden noch unmündigen dienstbaren Söhne, filios serviles, vom Vasallendienste und aus der Vormundschaft des Erzbischofs zu befreien (W. Kienast 1990 S. 106 f.). Nur wenn man den Verlust an Ansehen bedenkt, der mit der Annahme eines Lehens verbunden war, da dies dem öffentlichen Eingeständnis schmählicher Armut und beschränkter Willensfreiheit gleichkam, kann man ermessen, welch hohen Lohn König Heinrich im Jahre 920 seinem Vasallen Bodo zuteilte, indem er ihm sein Lehnsgut als Eigentum überließ, quicquid . . . hactenus beneficii tenuit, . . . perpetualiter improprium donavimus (MGH. DH. I. 2). Lehnsbesitz war eben nur die zweitbeste Besitzform und weit weniger geschätzt als Eigen (S. Reynolds 1994 S. 96 f., oben: § 127). Und damit hätte man die fürstlichen honores vergleichen sollen? Auf eine weitere Schwierigkeit stößt der Versuch, die Ausbildung der Ämterleihe mit der Pertinenzierung des Amtes an das Amtsgut zu erklären, wenn man nach der territorialen Ausdehnung der geliehenen Gewalt fragt. Denn Lehnrecht und Lehnshoheit haben in Deutschland nie den gesamten Grund und Boden ergriffen. Neben den Lehnsländereien gab es immer lehnsfreies, nach Volks- oder Landrecht besessenes Gut (fränkisch: Allod), und auch das vom Könige unmittelbar mit Hilfe von Hofbeamten verwaltete Reichsgut war nicht Lehen (C. von Schwerin 1941 S. 111). Wie aber hätte sich eine vom König als Zubehör bestimmter Lehnsgüter verliehene Gewalt über diese hinaus auf solche Güter erstrecken können, die nicht vom Könige verliehen worden waren? Konnte der Amtmann nicht nur an dem liegenden Amtsgut, sondern auch an dem weiteren Bezirk, auf den sich die Pertinenzrechte bezogen, eine wirkliche Lehnsgewere erwerben? Ich halte dies für ausgeschlossen, denn niemals hätten es die zu Annehmung oder Zurückweisung des Amtmanns befugten freien Allodialeigentümer, hätte es das von dem Amtmanne zu beherrschende Land hingenommen, daß König und Amtmann sie damit zu Aftervasallen des Reiches und ihr Eigentum zu lediglich geliehenem Besitzrecht degradiert hätten. Zweifellos wäre jeder Herzog, Bischof oder Markgraf, der diese Rechtsauffassung in seinem Amtsbezirk hätte öffentlich geltendmachen wollen, auf denselben Widerstand des Landes gestoßen, den die Italie-
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ner in diesem Falle dem König Berengar entgegensetzten (oben: § 542) und auf den später König Johann von England bei seinen Untertanen stieß, nachdem er im Jahre 1213 sein Königreich dem Papste zu Lehen aufgetragen hatte, ohne dazu ihren Willen einzuholen (H. Mitteis 1953 S. 316 f. K. Kluxen 1987 S. 47 f.). Berengar ist denn auch, nachdem er des ostfränkischen Königs Otto Vasall geworden war, nicht, wie man gemeint hat (L. Kolmer 1989 S. 109), mit dem Lande Italien belehnt, sondern mit der Vollmacht es zu regieren, also mit einem honor, begabt worden: Italiam iterum cum gratia et dono regis accepit regendam (Regino, Cont. a. 952). Ebenso empfingen die Herzöge, die der König bestallte, ihre Regna und deren Untertanenverbände, um sie zu regieren, nicht aber den in ihren Regna gelegenen Boden mitsamt den darauf lebenden Untertanen, um sie als Quelle von Einkünften zu nutzen. Es scheint denn auch kein Zeugnis dafür zu geben, daß in ostfränkischfrühdeutscher Zeit ein vom Könige vergebener Dukat als (vasallitisches) Benefizium bezeichnet worden wäre. Die Behandlung des Amtsbezirks als Erträge abwerfenden Leihegutes muß damals den beteiligten Völkern und Fürsten ganz ferngelegen haben (siehe auch unten: § 712). § 547. Ebensowenig wollte das, was man sich im 10. und 11. Jahrhundert unter einem Lehen vorstellen konnte, auf die Reichskirchen und die Amtsvollmacht zutreffen, die der König einem Bischof oder Reichsabte erteilte. Nie ist daher „ein Bistum einem Weltlichen übertragen, nie auch einem Geistlichen zu Beneficium gegeben“ worden (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 62, Bd. 7 S. 199 f.). Während in der Regel das Nutzungsrecht des Lehnsmannes am Leihegut den Lehnsherrn von der Mitausübung dieses Rechtes ausschloß, zog der König die Reichskirchen so mannigfach zum Reichsdienste heran, daß sein Rechtsverhältnis zu ihnen in der Zeit vor dem Wormser Konkordat nicht als lehnrechtlich aufgefaßt werden kann (R. Scheyhing 1960 S. 86 – 88. S. Reynolds 1994 S. 439). Auch bestand kein Kausalverhältnis zwischen dem Treugelübde eines Bischofs oder Reichsabtes und dem Empfang der Kirche gleichsam als einer dinglichen Gegengabe, und ebensowenig bedurfte eine kirchliche Bestallung der Erneuerung beim Thronwechsel: Sie galt auf Lebenszeit des Erwählten, während ein Lehnsverhältnis durch den Herrenfall beendet worden wäre (M. Minninger 1978 S. 40, 44, 78). Als Gegenstände der Bestallung bezeichneten episcopatus und abbatia keine Sachen, sondern die gesamte (sowohl geistliche als auch weltliche) Leitungs- oder Regierungsgewalt (oben: §§ 428, 429, 438). Wenn man also von dem bestallenden Könige sagte: episcopatum alicui dare, concedere, contradere, aliquem episcopum constituere, alicui episcopalem potestatem concedere, aliquem munere pontificatus honorare, so sollten wir nicht den Mangel einer prägnanten Bezeichnung beklagen, sondern in allen diesen Redeweisen den in seiner dürftigen Bestimmtheit allen Ansprüchen laikalen volklichen Rechtsdenkens genügenden technischen Ausdruck für die königliche Bestallung eines geistlichen Amtmannes oder Fürsten erkennen, der das, was ihm an Bestimmtheit abging, durch seinen Platz innerhalb der gesamten Handlungskette aus-
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glich, die erst die Erhebung in ein Fürstenamt des Ostfränkisch-deutschen Reiches bewirkte. Etwa seit der Jahrtausendwende taucht in diesem Bündel synonymer Begriffe ganz vereinzelt, und nur sehr zögerlich aufgenommen, ein neues Wort auf, nämlich das Verbum investire. Das davon abgeleitete Substantiv investitura ist als technischer Begriff des Reichskirchenrechts sogar noch jüngeren Datums und nicht vor der Zeit Papst Alexanders II. (1061 – 73) zu belegen (R. Schieffer 1981 S. 13). Um das Aufkommen dieser Worte als Synonyme für die königliche Bestallung zu erklären, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist formaler Natur und zielt auf die Herkunft der Synonymie. Denn das Wort war, zunächst in den Kurzformen vestire und vestitura, in der Karolingerzeit als lat. Neologismus und Äquivalent für die ahd. Begriffe „den Erwerber eines Grundstücks mit der Gewere bekleiden“, „die Gewere auf ihn übertragen“, „mit der Gewere bekleidet sein“ in Gebrauch gekommen (oben: § 94). Es handelte sich also um einen Begriff des privaten Sachenrechts, von dem schwer einzusehen ist, wie und warum man ihn in den öffentlichen Bereich der Beamtenerhebung verpflanzen und dort auf die königliche Bestallung hätte anwenden sollen. Eine Analogie der Bestallung zur Besitzeinweisung mag aber darin gesehen worden sein, daß die Praxis germanischen Rechtslebens überall die Weitergabe eines Rechtes durch die Verwendung von Symbolen sichtbar zu machen pflegte, so den Übergang der Gewere an einem Grundstücke durch die Hingabe einer Erdscholle, eines Halmes oder Zweiges (oben: § 95) und den einer Amtsgewalt durch die Übergabe eines Stabes, sei es des Bischofsstabes (oben: § 430), der herzoglichen Fahnenlanze (hasta signifera, oben: § 517) oder eines Szepters (oben: § 533). Seit der Zeit Heinrichs III. benutzte der König bei Bestallung von Bischöfen zusätzlich zum Stabe auch einen Ring, wie ihn zuvor nur der konsekrierende Metropolit dem Elekten angelegt hatte (R. Benson 1968 S. 122 f. R. Schieffer 1981 S. 11. H. Keller 1993 S. 61 – 64). Obwohl sich aus der Zeit vor dem 12. Jahrhundert keine eingehenden Schilderungen von Bestallungs- oder Investiturakten erhalten haben (H. Keller 1993 S. 59), ist anzunehmen, daß es in ostfränkisch-frühdeutscher Zeit bei der Einsetzung geistlicher und weltlicher Fürsten keine formellen Unterschiede gab (M. Minninger 1978 S. 57 – 59). § 548. Wenn nun die Form der symbolischen Investitur sowohl im privaten als auch später im feudalen Rechtsverkehr weit verbreitet war, so bedeutet doch der Umstand, daß der König in denselben Formen auch Hoheitsrechte übertrug, keineswegs, daß damit diese Hoheitsrechte und Amtsvollmachten in der Sache privatisiert oder feudalisiert worden wären (G. von Below 1925 S. 227 – 230). Königliche Ämter veränderten sich innerlich in keiner Weise, wenn sie formal nach Lehnrecht vergeben wurden, obwohl man nach Lehnrecht auch Grundstücke zu übertragen pflegte. „Amt bleibt Amt, auch wenn es verliehen wird. Selbst wenn die Ämter erblich wurden, ist damit durchaus noch nicht bewiesen, daß es sich um einfache Vererbung nach Privatrecht handelt“ (H. Mitteis 1933 S. 9 f.). Gerade das
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Vorhandensein besonderer Symbole einerseits für Grundstücksvergabe und andererseits für die königliche Bestallung läßt die Selbständigkeit der letzteren gegenüber der Bodenleihe aufs schärfste ins Profil treten (ebd. S. 474, 510). Die öffentliche, amtsrechtliche Investitur war von der privaten, land- oder lehnrechtlichen und auch von der eigenkirchenrechtlichen Investitur klar unterschieden (R. Scheyhing 1960 S. 106 f. R. Schieffer 1981 S. 15 – 17). Die zweite Möglichkeit, das Aufkommen des Investiturbegriffs zu erklären, geht von den inhaltlichen Konsequenzen aus, die eintreten mußten, sobald man begann, die Bestallung in Analogie zur vasallitischen Belehnung zu betrachten. Sie zielt auf die Folgen, die der neue Sprachgebrauch nach sich zog. Denn zu derselben Zeit, als man in bestimmten Kreisen zuerst den Begriff der Investitur auf die Bestallung der geistlichen Fürsten anwandte, machte die Entwicklung der Hochvogtei die Aufspaltung des Königsbannes in Sonderbänne und die Funktion der Hochgerichtsbarkeit als Einnahmequelle sichtbar (oben: § 321), und die Reichsregierung begann zweifellos im Zusammenhange damit, Bischofskirchen ganze Grafschaften in Verwaltung zu geben (unten: Siebzehntes Kapitel). Damit war der Weg eingeschlagen, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts zur Ausbildung der Regalien führte (oben: § 323). Zugleich begann man, infolge der Ausbildung von Lehnsgerichten das Lehnrecht als besonderen Rechtskreis zu erfassen und von den Volks- und Landrechten abzusetzen (oben: § 134b). So konnte jetzt in politischen Kreisen, welche darauf Wert legten, das Wort investitura „zum Inbegriff für jenen Vorgang (werden), bei dem der Lehnsmann nach vollzogener Mannschaft (homagium) und geleistetem Treueid (fidelitas) von seinem Herrn die Gegenleistung in Gestalt der Landleihe empfing.“ Hielt man sich an die symbolischen Formen der Übergabe, so war „die phänomenologische Entsprechung zu den äußeren Formen der reichskirchlichen Bischofseinsetzung . . . derart deutlich, daß die Vorstellung nicht ausbleiben konnte, beide Zeremonien beruhten auch auf derselben sachlichen Grundlage. Bekanntlich war diese lehnrechtliche Auffassung des Reichskirchensystems ein zukunftsträchtiger Gedanke, der sich vor allem nach dem Wormser Konkordat durchsetzte, als die Inhaber der hohen Reichskirchen zur Wahrnehmung ihrer weltlichen Hoheitsrechte mit dem Szepter belehnt wurden und damit vollends an die Seite der mit Fahnlehen ausgestatteten Laienfürsten traten“ (R. Schieffer 1981 S. 15. M. Minninger 1978 S. 3, 42 – 46. RI 4, 1, 1 S. 59 Z. 42 – 60). § 549. Es fragt sich nun, was diese Entwicklung für die Geschichte der deutschen Volks- und Landrechte bedeutete. Da aber ist nicht zu übersehen, daß sie ihr von Grund auf fremd war. Denn die treibenden Kräfte, die hinter ihr standen, gingen nicht von den deutschen Reichs- und Bistumsvölkern aus, noch wurden die Rechtsnormen, die sie hervorbrachten, von deutschen Schöffen in den Landgerichten, von deutschen Fürsten auf den königlichen Hoftagen gefunden. Vielmehr geschah es in den Kreisen der Kirchenreformer und Kanonisten, daß sich die Lehre von der Bischofsinvestitur entwickelte, und ihre Urheber schufen sie nicht aus einem objektiven Interesse an der Reichsverfassung, sondern aus spirituellen Erwägungen, die es ihnen nahelegten, die weltliche Rechtsordnung und das deutsche
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Königtum für alle Mißstände verantwortlich zu machen, die sie in Christenheit und Kirche vorzufinden meinten (oben: § 435). Das neue Kirchenrecht, das die Reformer entwarfen und das nach ihrem Willen auch zum Reichskirchenrecht hätte werden sollen, wurde geschaffen von den Kanonisten, die sich seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts an der Errichtung der ersten wissenschaftlichen Rechtsschule des Abendlandes in Bologna maßgeblich beteiligten und, wiewohl bewandert im römischen Rechte, über keinerlei Kenntnisse der deutschrechtlichen Grundlagen der Reichsverfassung verfügten. Sie wußten nichts davon, daß die königliche Bestallung Glied in einer Handlungskette war, deren vollständiger Ablauf erst die Beamtenerhebung im Ostfränkisch-deutschen Reiche rechtskräftig machte, und daß man daher die Bestallung nur vergleichsweise als Investitur bezeichnen konnte, da sie gar nicht allein Sache des Königs, sondern auch Angelegenheit des Volkes war – bezieht sich doch gerade einer der ältesten Belege, die wir für die vestitura eines Bischofs besitzen, nicht auf das Tun des Königs, sondern auf das der Worthalter der Bistumsgemeinde, die den vom Herrscher Bestallten an Ort und Stelle in den Besitz seiner Kirche einwiesen (oben: § 431). Die neue kirchlich-kanonistische Lehre von der Investitur wurde von den Kirchenreformern zu dem Zwecke entwickelt, die von ihnen so genannte Laieninvestitur zu bekämpfen; an der Wirklichkeit der Reichsverfassung ging sie so weit vorbei, daß sie die Rechtsanschauungen des Volkes betreffend die Erhebung der geistlichen Fürsten und deren Bestallung genauso wenig zu beeinflussen und mehr als oberflächlich umzugestalten vermochte, wie es ihr hinsichtlich des Volksrechtes auf Kur oder Annehmung der geistlichen Fürsten (oben: §§ 435, 436, 440, 531) gelungen ist. Am Widerstande der deutschen Fürsten scheiterte nicht nur bald nach 1102 das reformerische Bestreben, die land- oder amtsrechtliche Treue, die die Bischöfe dem Könige schuldeten, in die Vasallentreue des homagium umzudeuten (I. S. Robinson 1999 S. 279), sondern im Jahre 1111 auch die Zumutung, die vom Könige verliehene Amtsvollmacht auf die Temporalien oder Regalien zu beschränken, die jetzt ein für allemal von den Spiritualien hätten getrennt werden können (R. Benson 1968 S. 245 f.), und schließlich sah sich die römische Kirche genötigt, im Wormser Konkordat von 1122 das herkömmliche deutsche Bestallungsrecht in der Sache im wesentlichen anzuerkennen. Zwar mußte der König damals auf den Gebrauch von Ring und Stab als Symbolen der Amtsvollmacht und auf sein herkömmliches Recht, die Bischofswahlen öffentlich zu lenken, verzichten, aber die Kirchenreformer empfanden das Zurückweichen des Papstes als so weitgehend, daß sie es vorzogen, das Konkordat totzuschweigen, und daß Gerhoh von Reichersberg im Jahre 1142 sogar behaupten konnte, die päpstlichen Konzessionen erst hätten die bischöfliche Leistung des homagium an den König in den deutschen Usus eingeführt (R. Benson 1968 S. 229 – 237, 304 f., 312). Das Paarwort homagium et fidelitas, im deutschrechtlichen Sinne ein Hendiadyoin, war tatsächlich nicht mehr aus der Welt zu schaffen
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und leistete je länger, desto mehr der noch lange nicht zutreffenden Vermutung Vorschub, bei der königlichen Bestallung handle es sich um eine Belehnung. Den Kanonisten war nichts daran gelegen, den Irrtum aufzuklären. Am Eide der Bischöfe für den König machten sie sich zwar den fundamentalen Widerspruch zwischen Gewohnheitsrecht, wie sie das deutsche Volksrecht nannten, und Kirchenrecht deutlich und dazu die Notwendigkeit, die Gewohnheit anzuerkennen, weil die Kirchen sonst die Regalien verloren hätten, aber diese Einsicht begeisterte sie natürlich nicht dazu, das Problem ausführlich zu erörtern (ebd. S. 280, 319, 332 f.), hätte ein wissenschaftliches Durchdenken der deutschrechtlichen Bestallung doch vor allem ihren Gegnern zugutekommen müssen, denen sie nicht zuletzt deswegen so hoch überlegen waren, weil die Kenntnis und Pflege des deutschen Rechtes weiterhin eine Angelegenheit juristischer Laien blieb.
§§ 550 – 556. Zum Stande der Forschung § 550. Eine Staatslehre, die auf die hohen Reichsämter das Lehnrecht anwandte, mußte zugleich die königliche Gewalt auf die oberste Lehnsherrschaft reduzieren. Damit aber ging ihr der Begriff des Staates als öffentlich-rechtlich verfaßten Gehäuses für ein geordnetes politisches Leben verloren. Denn wenn eine hoheitliche Verwaltung des Reiches nur so in Erscheinung trat, daß der König seine Herrschaft vererbte und von Zeit zu Zeit weltliche und geistliche Große mit Amtsgut und Amtsgewalt belehnte, dann waren die Ämter nichts anderes mehr als Gegenstände einer nur noch die Kontrahenten angehenden und insofern privaten Beziehung, waren Königsherrschaft und Reich nur noch Summen solcher privaten Beziehungen, neben denen der Öffentlichkeit der Untertanenverbände und dem Volke überhaupt lediglich eine tatsächliche Existenz als Zuschauer, aber keine rechtlich notwendige Mitwirkung mehr zukam. Dieser Lehre zufolge war der deutsche Staat seit jeher Patrimonialstaat, bestehend allein aus dem Könige und dessen Beamten und Offizieren und über das Volk oder die bürgerliche Gesellschaft gesetzt, die mit ihm nichts zu tun hatten, sondern allein von den privaten Interessen der Individuen zusammengehalten wurden (O. Brunner 1943 S. 127 f., 166 – 169 = 1965 S. 114 f., 146 – 149, oben: §§ 165 – 167). Noch im 19. Jahrhundert erhob sich gegen diese Lehre Widerspruch, den Friedrich Keutgen schließlich dahingehend zusammenfaßte, daß das Lehnswesen, weil vom Staate und pro bono publico geschaffen, von Anfang an das Staatsoberhaupt an die Spitze der gesamten Lehnsmannschaft und Lehnshierarchie gestellt habe; die Vergabe in Lehnsform habe daher den öffentlichen Ämtern nicht den staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Charakter, ihren Inhabern nicht die Eigenschaften des Amtmannes genommen: „Ein Amt hört nicht auf, Amt zu sein, damit daß es in den Formen des Lehnrechts übertragen wird“ (F. Keutgen 1918 S. 47 – 54, 106). Allerdings seien selbst Hans Fehr und Georg von Below, die dem Amts- und Landrecht noch den weitesten Spielraum gegenüber dem Lehnrecht einräumten, in der
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Kritik an den patrimonialstaatlichen Theorien nicht weit genug gegangen (ebd. S. 117). Wir wissen bereits, daß sie vor einer Schwierigkeit stehenblieben, die freilich auch Keutgen nicht aus dem Wege zu schaffen verstand: Es gelang ihnen nicht, die mittelalterliche, an den Staatsaufbau von unten her geknüpfte Vorstellung von Öffentlichkeit der Politik und des Rechtes zu entschlüsseln. Daher mußten sie ihren Kampf gegen die feudale Interpretation des mittelalterlichen Staates von den ganz abstrakten Positionen eines souveränen Königtums und von ihm als öffentlich gesetzten Rechtes aus führen (oben: § 49). Über dieses Hindernis kam auch Heinrich Mitteis nicht hinweg, als er sich bald darauf die Aufgabe stellte, das Lehnrecht von dem Makel einer den Staat zerstörenden Ordnung zu befreien, indem er „seine wahre Natur als Teil der öffentlichen Rechtsordnung“ herausstellte. Denn auch der Staat des Mittelalters sei wirklicher Staat, zugleich aber Lehnsstaat eben deswegen gewesen, weil „er sich des Lehnrechtes als Mitträger(s) der Staatsgewalt bedienen mußte“. Nicht auf die private, sachen- und personenrechtliche Substanz, sondern auf die öffentliche Funktion der Lehnrechtssätze komme es an, „und von hier aus müssen wir sagen: das Lehnrecht war im besonders hohen Grade funktionell öffentliches Recht.“ Diese seine Funktion werde nicht dadurch geschmälert, daß es im Privatrecht vorgebildete Formen und Schemata waren, deren sich der Staat bediente, „um den Ausfall an echtem öffentlichen Recht zu decken“ (H. Mitteis 1933 S. 5 – 9. Unten: § 670). § 551. Mitteis machte kein Hehl daraus, daß seine Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht nicht den Quellen entstammte, sondern dogmatischer Natur und ihm als Juristen aus praktischen Gründen der richterlichen Berufsausübung unentbehrlich war. Daher wollte er sie nur soweit historisieren, wie es nötig war, um sie als Arbeitshypothese beibehalten zu können (ebd. S. 6 f.). Als Otto Brunner im Jahre 1939 grundsätzlich bestritt, daß die Unterscheidung überhaupt auf die mittelalterliche Rechtsordnung anwendbar sei, gab er ihm zwar insofern Recht, als es auch ihm um eine Verfassungsgeschichte ging, „die zugleich die Grundlagen alles politischen Handelns verstehen lehrt und auf das Ganze der Volksverfassung gerichtet ist“ (H. Mitteis 1941 S. 273), aber an der Zulässigkeit und Nützlichkeit der Anwendung jenes Begriffspaares auf das mittelalterliche Recht hielt er doch fest. Denn auch dann, wenn man Eigentums-, Arbeits- und Familienrecht „zur Verfassung des deutschen Volkes im weitesten Sinne“ zähle, bleibe „ein Gradunterschied zwischen diesen Ordnungen des Volkslebens und den unmittelbar auf Staat und Reich bezüglichen Rechtssätzen“ bestehen: „Zum Privatrecht gehört alles, was bis auf weiteres dem Volke zur verantwortlichen Eigengestaltung überlassen wurde“ (ebd. S. 276). Hoheitliches Recht, so müssen wir schließen, war dagegen der Gestaltung durch den König und die Fürsten vorbehalten und ging das Volk nichts an. In diesem Sinne wollte Mitteis an dem von Otto Brunner (1943 S. 140 A. 1) kritisierten Begriff des funktional öffentlichen Rechtes um so eher festhalten, als Brunner selbst es im Dunkeln ließ, welchen Begriff wir uns vom Staate „als der Ordnung des Volkes im Bewährungskampfe“ (H. Mitteis
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1941 S. 488) zu machen hätten: ein Vorwurf, der nur allzu berechtigt war (oben: §§ 213 – 215). Und in der Tat hatte ihm seine juristische Denkweise eine erstaunliche Entdekkung ermöglicht. Er gestand sich nämlich ein, daß die Anwendung des Benefizialverhältnisses auf Herzogtümer, Markgrafschaften, Bistümer und Reichsabteien oder die Verwandlung der königlichen Bestallung in eine Belehnung weder aus der Vasallität der Person (oben: §§ 541 – 543) noch aus der Pertinenzierung des Amtes an das Amtsgut (oben: §§ 544 – 549) juristisch in überzeugender Weise abgeleitet oder erklärt werden könne, und zog daraus den Schluß, daß die Ämterleihe von Anfang an eine selbständige, wenn auch von denselben Rechtsgedanken wie die Bodenleihe geprägte Geschäftsform gebildet haben müsse. Für die Verfassungsgeschichte sei, so erklärte er, die Amtsleihe das Primäre und „ein von Anfang an völlig eigenberechtigter Typ. Die Übertragung öffentlicher Machtbefugnisse in lehnrechtlichen Formen bedeutet . . . nicht einfach eine Privatisierung dieser Machtbefugnisse . . . Amt bleibt Amt, auch wenn es verliehen wird. Selbst wenn die Ämter erblich werden, ist damit durchaus noch nicht bewiesen, daß es sich um eine einfache Vererbung nach Privatrecht handelt“ (ebd. S. 9 f., 198 – 201). Als juristische Grundlage des Amtsverhältnisses bestimmte Mitteis „die Konzeption des unkörperlichen Rechtsobjektes, mit anderen Worten: des Lehens an einem Recht . . . Als Objekt der Rechtsübertragung konnte schon damals ein Recht liegenschaftsähnlichen Charakters erscheinen, das sich in der Form der Gewere symbolisieren ließ. Dafür spricht zumindest schon die völlige Gleichförmigkeit, in der diese Erscheinung in allen nachfränkischen Rechten begegnet. Die Investitur mit einem Amt bedeutet also von Anfang an nichts anderes als die Belehnung mit einem Recht, mit dem Recht zur Ausübung öffentlicher Funktionen, mit dem Recht der Ausbeute einer staatlichen Einnahmequelle. Dieses Lehen an einem Recht – die spätere französische Terminologie spricht bezeichnend von einem fief en air – hat sich völlig selbständig neben dem Lehen an Grund und Boden entwikkelt“ (H. Mitteis 1933 S. 202). § 552. Man sieht, worin das Problem dieser Konstruktion steckt: Anstatt die Ämterleihe völlig von der privaten Bodenleihe abzusondern und sie in die ihr angemessene Umgebung des öffentlichen Ämterrechts zu versetzen, hielt Mitteis an der formalen Übereinstimmung beider als einzigem Merkmal fest, von dem her sich die Natur der Amtsvergabe bestimmen ließe. Damit stand auch er vor der unlösbaren Aufgabe, angeben zu müssen, auf welche „Stätte“ sich das verliehene Amtsrecht fundierte. Wir wissen, daß diese „Stätte“ oder das Gebiet, welches der Amtmann beherrschen sollte, definiert wurde durch den Personenverband, dem der König befahl, den von ihm Bestallten oder Designierten zum Herrn anzunehmen; es war das Gebiet oder Land, welches dieser Verband bewohnte und als seinen Lebensraum selber beherrschte. Mitteis dagegen wurde durch sein streng lehnrechtliches Denken dazu genötigt, die partikularen königlichen Untertanenverbände von dem Amtsverhältnis und der Bestimmung seiner „Stätte“ fernzuhalten.
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Wegen der Frage, wie das möglich sei, verwies Mitteis (ebd. S. 202 A. 93) den Leser „einstweilen“ auf die oben (§ 99) dargestellten Überlegungen Andreas Heuslers über die Pertinenzierung von Hoheitsrechten an Grundbesitz, mit deren Vollzug sich die Amtsrechte in haus- oder grundherrliche Rechtsame verwandelten. Ihm war aber natürlich bekannt, daß die Existenz von Rechtsamen noch keineswegs der Karolingerzeit, sondern erst dem späteren Mittelalter eigentümlich war; da aber hatten sich diese Rechte in eine Vielzahl von einzeln veräußerlichen Regalien aufgelöst und gleich anderen versteinernden Überresten des alten Domänenstaates innerhalb der Verfassung dynastisch bedingter Mehrfachherrschaften und des emporsteigenden Stände- und Steuerstaates (oben: § 421) ihre frühere öffentliche Bedeutung längst eingebüßt. Es ist daher sehr zweifelhaft, ob die Konzeption von unkörperlichen Rechten oder Rechtsamen vor dem verfassungsgeschichtlichen Umsturz des 11. Jahrhunderts, der den Begriff der Regalien hervorgebracht hat (oben: §§ 323a.b), bereits denkbar ist. Vor allem aber: Rechtsame waren Pertinenzen entweder ihrer „Stätte“ oder eines Grundstücks; Mitteis dagegen erklärt: „Der mitverliehene Grundbesitz erscheint als Pertinenz des Amtes, nicht umgekehrt“ (ebd. S. 202). Als Beleg für den selbständigen juristischen Charakter der Amtsleihe konnte Mitteis zwar anführen, daß Ämter von Anfang an mittels eigenartiger, im Grundstücksverkehr nicht verwendbarer, weil hoheitlicher Investitursymbole vergeben wurden, aber für die Öffentlichkeit des mit ihnen übertragenen Amtsrechtes fehlte es ihm, da er sich auf die Amtsgemeinde nicht berufen konnte, durchaus an Beweisen. Er wußte dafür nur anzuführen, daß auch verlehnte Ämter der Kontrolle echter öffentlicher Beamter der Zentralgewalt, nämlich der karolingischen missi, unterstanden und daß der Sprachgebrauch der Quellen „die Amtslehen als ,honores‘ deutlich von den gewöhnlichen beneficia abhebt“ (ebd. S. 203). Selbst das Durchdringen der Erblichkeit, die freilich gerade die honores zuerst ergriffen habe, brauchte noch nicht den Zusammenbruch öffentlicher Verwaltung und die Privatisierung der Ämter zu bedeuten, solange es Möglichkeiten gab, unwürdige Erben fernzuhalten und namentlich unter mehreren Brüdern den am besten geeigneten auszuwählen. Seine öffentlich-rechtliche Funktion habe das Lehnrecht solange bewahrt, wie die in lehnrechtlichen Formen organisierte Verwaltung „so weit unter öffentlicher Kontrolle“ verblieb, „daß ihr Funktionieren im staatlichen Herrschaftsinteresse gewährleistet erscheint“ (ebd. S. 205). So ergeben sich unendliche Schwierigkeiten daraus, daß Mitteis auf halbem Wege stehenblieb, indem er die Amtsvergabe zwar als rechtlich selbständiges Institut mit öffentlicher Funktion entschieden von der privaten Bodenleihe abhob, sie aber in der Isolierung stehen ließ, in die er sie damit versetzte, anstatt sie mit anderen Institutionen der Verfassung und deren volksrechtlichem Ursprung zu verknüpfen, obwohl doch erst deren Gesamtheit das funktional öffentliche Recht des hohen Mittelalters ausmacht und das staatliche Ämterwesen bestimmt. Den Blick auf das Lehnrecht konzentrierend, sah er darüber hinweg, daß die vom Könige seit dem 12. Jahrhundert als Investitur vollzogene Ämterleihe, oder wie man für die Zeit
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davor besser sagen sollte, die königliche Bestallung lediglich ein Glied in einer langen Reihe von Handlungen war, deren einhellig beschlossene Gesamtheit erst den Amtmann in seinem Amte und Lande vollmächtig machte und zugleich die Öffentlichkeit des Amtsrechtes begründete. § 553. So war Mitteis denn auch nicht imstande, die Absonderung der Ämterleihe von der Bodenleihe wirklich durchzuführen, denn über jene oder den Akt, den wir Bestallung nennen, für sich allein ist so wenig bekannt, daß sich „die einzelnen Lehnrechtsinstitute“, die in sie eingingen, gar nicht erfassen, sondern nur in Vermengung mit denen der Güterleihe erörtern lassen (H. Mitteis 1933 S. 464 – 707). Und als Ergebnis der Untersuchung ergibt sich weiter nichts – dies allerdings ist sehr wichtig –, als daß die Ämterleihe oder Bestallung mit der Bodenleihe, abgesehen von der Investitursymbolik, nur noch in einem einzigen Punkte übereinstimmt, nämlich im Ausschluß der privatrechtlichen Erblichkeit (ebd. S. 165 – 175, 401 f., 655 – 672. F. L. Ganshof 1961 S. 48 – 51, 145. U. Nonn 1983 S. 231 – 247). Mitteis behauptet zwar, es sei unbekannt, ob sich dieser Ausschluß, der namentlich auch die gleiche Erbberechtigung aller Söhne und damit die Teilbarkeit des Erbes betraf, zuerst in der Bodenleihe oder in der Amtsleihe ausgebildet habe, aber nur für jene nimmt er eine längere tatsächliche Übung ohne gesetzliche Grundlage an, bevor als erstes Gesetz das westfränkische Kapitulare von Kiersy im Jahre 877 klar zu erkennen gab, wie man sich die Erbfolge sowohl in die Boden- wie in die Amtslehen juristisch vorstellte: Die durch Belehnung (oder Bestallung) verliehene Gewere ging nämlich nicht, wie nach Allodialerbrecht geboten, von dem Inhaber und Erblasser derart unmittelbar auf dessen Erben über, wie es später das französische Sprichwort Le mort saisit le vif kurz und bündig ausdrückte (oben: §§ 91, 92, 412), sondern fiel durch Resignation oder mit dem Tode des Inhabers an den König oder sonstigen Lehnsherrn zurück. Dem Allodialerben des letzten Inhabers stand lediglich ein Anspruch auf nachfolgende Belehnung zu, welcher verfiel, wenn er ihn nicht anmeldete oder wenn er nicht bereit war, sich in die königliche Vasallität zu ergeben bzw. den Amtseid zu leisten. Nach Mitteis’ Ansicht hatte das politische Erfordernis, dem Könige vor allem die Erfüllung der Lehns- bzw. Amtspflichten zu gewähren, den Gedanken der Unteilbarkeit sowohl der Lehen wie der Amtsbezirke zur Folge. Schon das Kapitulare von Kiersy habe bei den Grafen die Nachfolge nur eines Erben vorgesehen. Tatsächlich habe sich die Unteilbarkeit der „Amtslehen“ im Deutschen Reiche lange erhalten. Abgesehen von einem zu 949 bezeugten Einzelfall (unten: § 585), seien Grafschaften erst seit dem 12. Jahrhundert geteilt worden. In den Herzogtümern seien sogar, abgesehen von den durch Reichsspruch bewirkten von 1156 und 1180, Teilungen erst seit dem 13. Jahrhundert bezeugt. Alle diese Beobachtungen reichen indessen nicht hin, um zu beweisen, daß die Quellen, wenn sie staatliche Ämter als Benefizien bezeichnen, dabei eine Ämterleihe nach (vasallitischem) Lehnrecht voraussetzen. Denn sie besagen damit nicht
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mehr, als daß der öffentlich bestallte Amtmann an den ihm anvertrauten Amtsvollmachten ebenso wenig ein vererbliches Eigentum erwarb wie der private Nutzer an den ihm geliehenen Grundstücken, sondern daß ihm lediglich ein (auf seine Lebenszeit) befristetes und bei Verletzung der Amtspflichten widerrufbares Wahrnehmungsrecht zustand (unten: §§ 573 – 575), vergleichbar den Nutzungsrechten des Lehnsmannes, für die die Notare sogar das Oxymoron „Erbe auf Lebenszeit“ erfanden (oben: § 128b). Die Anwendung desselben Begriffs auf beide Rechtsverhältnisse beweist nicht deren Identität, sondern lediglich eine Vergleichbarkeit in bestimmten Hinsichten, der in anderen die größten Unterschiede gegenüberstehen konnten, so namentlich zwischen dem liegenden Gute nebst darauf sitzenden Unfreien, auf das sich die Gewere des Lehnsmannes, und dem Verbande freier Männer und königlicher Untertanen samt dessen Lande, worauf sich die Vollmachten des Amtmanns erstreckten. Es war Mitteis bewußt, daß die Unterstellung der Ämter unter Lehnrecht allenfalls für das Westfränkische, nicht jedoch für das Ostfränkisch-deutsche Reich wirklich nachweisbar ist; was das letztere anlange, so könne „nur versucht werden, die wichtigsten Etappen der Geschichte des Lehnrechts zu schildern, um so die Zeit vom Ausgang der Karolinger bis zu dem Moment zu überbrücken, wo das Lehnrecht in den Kaiserurkunden festere Gestalt anzunehmen beginnt“ (H. Mitteis 1933 S. 199, 415), also bis hin zum 12. Jahrhundert. Da Mitteis Verfassungsnormen nicht zu den Gegenständen rechnete, die „dem Volke zur verantwortlichen Eigengestaltung überlassen“ waren (oben: § 551), konnte diese Überbrückung nur einen von oben her aufgebauten Staat betreffen: Da der karolingische Hegemonialgedanke nur noch auf der Grundlage von Lehnsverhältnissen habe zur Geltung gebracht werden können, so liege es „nahe anzunehmen, daß die Beziehungen des sächsischen Königshauses zu den Stammesherzogtümern auf dieser Grundlage aufgebaut werden mußten“ und daß die deutsche Reichsgeschichte von einem „Föderalismus in lehnrechtlicher Form“ ausgegangen sei (ebd. S. 211 – 213, 416 f.). König Otto I. habe dem gegenüber das karolingische Amtsrecht wieder zur Geltung gebracht, wenn auch die äußeren Formen des Lehnrechts wohl nicht aufgegeben worden seien. Nach dem Wiederaufleben des Lehnrechts im 11. Jahrhundert habe das Wormser Konkordat „die Einbeziehung der Kirche in die Hierarchie des Reichslehnverbandes“ eingeleitet, dessen Ausbau schließlich im Jahre 1180 das Ziel erreichte (ebd. S. 211 – 213, 416 – 418, 439 f.). § 554. Nun ist es zwar richtig, daß uns die Anwendung des Lehnrechts auf das Verhältnis des Königs zum Herzoge in einem amtlichen Dokument zum ersten Male zum Jahre 1180 bezeugt ist (MGH. DF. I. 795, S. 362 Z. 34, 36 – 37, unten: § 594), aber selbst damit war das Deutsche Reich noch nicht als Lehnsmonarchie zu erweisen: Im wesentlichen beruhte die Verfassung des Reiches und der Länder weiterhin auf volks- und landrechtlichen Grundlagen und auf der Idee, daß König und Fürsten Ämter zu versehen hatten, wie denn auch damit der Reichs- und königliche Hoftag keineswegs zum Lehnshof geworden ist, in dem nur noch nach Lehnrecht gehandelt und entschieden worden wäre. Er blieb weiterhin ein all-
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gemeiner Hof, eine curia generalis, in der zwar bei Bedarf auch nach Lehnrecht geurteilt werden konnte, der aber in der Regel immer noch nach Volks- und Amtsrecht verfuhr (F. Keutgen 1918 S. 114, oben: § 325). Solange die königliche Bestallung, Investitur oder Belehnung ein Glied in der Handlungskette der Fürstenerhebung blieb und Rechtskraft erst dadurch erlangte, daß alle ferner daran Beteiligten in Einhelligkeit mit dem Herrscher ihren Teil dazu beitrugen, hat es wenig Sinn, das Reich seiner Ämterverfassung nach als Lehnsmonarchie zu bezeichnen. Vielmehr konnte erst dann, wenn jene Handlungskette zerriß und die Institutionen, aus denen sie bestand, jede einzeln für sich in neue politische Zusammenhänge hinübergleiten ließ, die hinfort die Entwicklung ihres rechtlichen Gehaltes bestimmten, die Auffassung entstehen, daß sich das Verhältnis der Fürsten zum Könige auf die Bestallung beschränkte und ausschließlich nach Lehnrecht bestimmte (unten: § 598). Es mußte also der König seinen alten Einfluß auf die Kur der Bischöfe und Herzöge und sein altes Recht, die den Fürsten anvertrauten partikularen Untertanenverbände und Reichsgüter selbst zu regieren (oben: §§ 243, 421, 466, 492, 507), eingebüßt, es mußten die Teilvölker und ihre Landstände ihr Kurrecht den Domkapiteln oder dem Papste beziehungsweise den Fürstenhäusern überlassen haben, die schließlich die Nachfolge im Fürstenamte durch Hausgesetze regulierten, während sie selbst sich mit dem Rechte der Annehmung oder Huldigung begnügten, – es mußte dies alles und manches andere geschehen, bevor im Volke der Eindruck entstehen und durch den Majestäts- und Obrigkeitsbegriff (oben: §§ 258, 391, 513) des gelehrten Rechts verstärkt werden konnte, daß allein der König als Quelle aller Hoheitsrechte durch seine Belehnung die fürstliche Staatsgewalt begründe und den Landesherren das dinglich, als Patrimonium, vorgestellte Land seiner Herrschaft verliehe. Mit den mittelalterlichen Formen des von unten her aufgebauten Staates hatte dies alles kaum noch etwas zu tun. Mag auch jene alte, volks- und amtsrechtliche Handlungskette früh brüchig geworden sein (oben: §§ 214, 324, 330, 436): zerreißen tat sie doch erst in der Neuzeit, als von Fürsten entlohnte Gelehrte die Huldigung der Untertanen um ihren volksrechtlichen Sinn brachten und die allem mittelalterlichen Rechtsbewußtsein zuwiderlaufende Lehre vom Patrimonial- und Lehnsstaate (oben: §§ 165 – 167, 392) ersannen, die das alte Reichsämterwesen um seine Öffentlichkeit brachte und die Ämter zum Privateigentum von Kirchen und Fürstenhäusern machte. Wie lange und in welch grotesker Verzerrung gleichwohl einzelne Institute aus jener Kettenhandlung die Zeiten überdauern konnten, mag uns der Huldigungsstreit in Erinnerung rufen, der im Jahre 1861 den preußischen Staat erregte, als ein halbabsolutistischer König dort das Recht geltendmachte, „sich von jedem einzelnen seiner Untertanen und von jeder Corporation im Lande huldigen zu lassen, wann und wo es ihm gefällt“ (Otto von Bismarck, Brief an Albrecht von Roon vom 2. Juli 1861) – ein König, der gar kein Landesherr mehr war, da es keinen Kaiser mehr gab, der ihn hätte belehnen, und keine Landstände, die ihn hätten zum Herrn annehmen
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können, seit ein Verfassungsgesetz an die Stelle des Herrschaftsvertrages getreten war, der einst den Herrn mit seinem Lande verbunden hatte. § 555. So wenig, wie man aus den Institutionen der alten ostfränkisch-deutschen Reichsverfassung eine einzelne herausgreifen und zum Fundament des Ganzen erklären darf, ebenso wenig darf man aus den Worten, mit denen die Quellen anstatt der Institutionen selbst, die dem Rechtsdenken noch nicht zugänglich waren, deren Funktionen bezeichnen, einzelne, nämlich die lehnrechtlich deutbaren, herausgreifen und zu allein die Sache treffenden Begriffen erklären. Vielmehr muß man die Gesamtheit der lat. Worte und ihrer ahd. Äquivalente in Betracht ziehen und eine Antwort auf die Frage suchen, warum die fürstlichen Ämter (wenn überhaupt schon, so doch) nicht nur Benefizien, sondern auch honores, dignitates oder munera, warum die Kur der geistlichen oder weltlichen Fürsten nicht nur nominatio oder designatio, sondern auch electio, susceptio oder assumptio heißen und warum man das Tun des bestallenden Königs bezeichnen konnte als ducatum oder potestatem regendi committere, concedere, conferre usw., episcopum oder ducem constituere (ad regendum populum, Leges Baiwar. III c. 1), episcopium oder bannum dare (oben: § 322b) – Ausdrücke, denen erst später lehnrechtlich deutbare Worte wie investitura (oben: § 547) oder infeodatio (oben: § 533) an die Seite traten, ohne sie doch zu verdrängen oder sich, jedenfalls in den Augen des Volkes, deutlich von ihnen zu unterscheiden. Ehe wir nicht werden erklären können, was dieser Reichtum an sprachlichen Möglichkeiten zu bedeuten hat und in welchem Sinne die Ausdrücke jeweils synonym (bzw. analog: G. von Below 1925 S. 227 f.) oder heteronym verwendet werden konnten, wird unser Urteil über die Ämterverfassung des hohen Mittelalters nicht auf festem Boden stehen. Hierauf hat kürzlich Frau Reynolds aufmerksam gemacht, ohne daß jedoch ihre Kritiker die Bedeutung des Sachverhaltes gewürdigt hätten (oben: § 127). Denn aus der unstreitigen Tatsache, daß die Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts den Wörtern vassus / vasallus, se commendare, fidelitas, beneficium, feudum keine technische Bedeutung beilegen und damit nicht immer dieselbe Rechtstatsache bezeichnen (S. Reynolds 1994 S. 12 – 14, 93 f., 119 – 123 u. ö.), zog sie ganz zu Recht den Schluß, daß die Wörter zunächst jeweils im Zusammenhange ihres Textes zu erklären wären und hernach nur dann zur Erklärung anderer Vorkommen herangezogen werden dürften, wenn sie wenigstens einmal als Bezeichnungen für eine bestimmte Rechtstatsache erwiesen worden seien. Da Wörter wie vasallus, fevum oder hulde in den romanischen Ländern als barbarisch galten und deshalb puristische Schriftsteller dazu reizten, nach Umschreibungen in gutem lat. Stil zu suchen (W. Kienast 1990 S. 89, 125), stellt sich die Frage nach den volkssprachlichen Äquivalenten lat. Begriffe. Frau Reynolds argumentiert also ganz in Ph. Hecks Sinne (oben: §§ 52 – 54), wenn sie sich fragt, ob ags. manraedene im Domesday Book sowohl mit commendatio als auch mit hominium oder hominatio übersetzt worden sein könne, und dann die Gegenfrage nach der Rückübersetzung der lat. Wörter stellt: Da diese auch andere altenglische Äquivalente
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zuließen, dürfe man sie nicht grundsätzlich im Sinne von feudovasallitischen Beziehungen interpretieren (S. Reynolds 1994 S. 340). Die teilweise synonyme, teilweise heteronyme Verwendung so vieler Wörter ist ein Merkmal sowohl der vulgären als auch der lat. Rechtssprache des Mittelalters, das zweifellos mit deren vorwissenschaftlichem Charakter und damit zusammenhängt, daß die Männer, welche die Volksrechtssätze erkannten und überlieferten, vom Standpunkte des späteren, in wissenschaftlicher Arbeit aufbereiteten römischkanonischen oder gelehrten Rechtes aus gesehen, Laien und rationis expertes (oben: §§ 255, 527) waren. Auch diese juristischen Laien aber empfanden bereits das Bedürfnis, sich die Summe aller positiven Rechtssätze als ein widerspruchsfreies Ganzes vorzustellen, welches es nicht zulassen konnte und sollte, daß im Liegenschafts- oder ehelichen Güterrecht oder bei Klagen auf Schadenersatz etwas Recht sei, was sich im Ämter- oder im Strafrecht als Unrecht erwiese, daß im Rechtsverkehr zwischen Einzelnen etwas zugelassen werde, was im öffentlichen oder Verfassungsrecht untersagt sein müsse. Für das Rechtsbewußtsein des Volkes, das sich der Institutionen seiner Praxis noch nicht im Wege scholastischer Begriffsbildung und ihrer Konkordanz noch nicht im Wege scholastischer Dogmatik und Systematik vergewissern konnte, mag die Anwendung desselben Wortes auf keineswegs identische, sondern nur in einzelnen Merkmalen übereinstimmende Rechtsverhältnisse, mag eine stets nur partiell durchführbare Vergleichbarkeit der Rechtsfiguren das einzige Mittel dargestellt haben, um sich die widerspruchsfreie Einheit allen Rechtes vor Augen zu führen. Vielleicht läßt sich so das Bedürfnis der Schöffen, Fürsten, Notare und Diktatoren erklären, den Rechtswörtern Vieldeutigkeit beizulegen, sie in ihrem Sinne abzuschleifen und ineinander übergehen zu lassen. Was wir hier vor uns haben, ist mehr als ein Merkmal allein der alten volklichen Rechtssprache. Denn alle natürliche, vorwissenschaftliche Begriffsbildung, ja: überhaupt alles sprachliche Bewußtsein ist durchdrungen von einer „grundsätzlichen Metaphorik“, kraft deren Menschen Analogien, Entsprechungen, Ähnlichkeiten der Dinge wahrnehmen und sich ihre Begriffe so bilden, wie sich ihnen daraus sachliche Gemeinsamkeiten und damit eine natürliche, die Seinsordnung überhöhende Ordnung der Dinge erschließt. Erst dann, wenn die Entstehung von Wissenschaft die natürliche Einheit von Sprechen und Denken stört und logische Wesensordnungen der Dinge entdeckt, kann sich diese Metaphorik als unlogisch und die der Sprache eingeborene Begriffsbildung als zufällig und mißverständlich herausstellen (H.-G. Gadamer 1990 S. 432 – 440). § 556a. Heinrich Mitteis’ Buch von 1933 hätte in der Forschung Epoche machen können, da es die Annahme außer Kurs setzte, die Bewohner des Fränkischen Reiches hätten die Feudalisierung der Ämter notwendigerweise deswegen herbeiführen müssen, weil sie sich die an sich öffentliche Amtsgewalt juristisch nur als Pertinenz des Amtsgutes hätten vorstellen können und folglich eines Begriffs von öffentlichem oder Verfassungsrechte ganz entbehrten. Aber die Wirkung des Buches blieb gering. Denn anstatt den Franken einen volksrechtlichen Begriff vom öffentlichen
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Amte wirklich zuzutrauen, suchte Mitteis die Idee der Ämterleihe nach Lehnrecht dadurch zu retten, daß er den Franken unterstellte, sie hätten des Lehnrechts bedurft, um ihre Ämterverfassung überhaupt in die Rechtsordnung einfügen zu können. Durchgedrungen ist Mitteis mit dieser Ansicht nicht. Denn er schrieb damit dem Lehnrecht Eigenschaften zu, kraft deren es als ein selbständig wirkendes Element den historischen Prozeß hätte positiv lenken können, wie bereits die zeitgenössische Kritik bemerkte, indem sie dagegenhielt, daß sich die Dynamik der Rechtsgeschichte nicht immanent vom positiven Recht her, sondern nur von den außerrechtlichen Interessen der Rechtsetzenden, der das Recht Nutzenden und der Rechtsbrecher aus erklären läßt (B. Diestelkamp 1991a S. 13 f.). Ohne die Mitteisschen Bedenken auch nur zu erwähnen, konnte daher F. L. Ganshof seit 1944 die Pertinenzierungstheorie erneut nachhaltig in Umlauf bringen (F.-L. Ganshof 1961 S. 54 – 56, dazu S. Reynolds 1994 S. 35, 111). Seither zeigt sich die Forschung von Ratlosigkeit und Meinungsfreiheit, ja von Meinungswirrwarr (W. Kienast 1990 S. 528 f.) beherrscht. Viele Historiker empfinden ein so offenkundig unlösbares Problem als falsch gestellt und glauben daher, es vergessen oder der Wissenschaftsgeschichte überlassen zu können. Wer bereit ist, sich den mühsamen Untersuchungen des lat. und volkssprachlichen Wortschatzes zu unterziehen, ohne die sich in der Rechts- und Verfassungsgeschichte keine sicheren Ergebnisse gewinnen lassen, der gelangt dazu, Begriff und Theorie der Ämterleihe vollständig zu verwerfen (S. Reynolds 1994, oben: § 127), auch wenn es schwierig bleibt, dem einen volks- und königsrechtlichen Amtsbegriff entgegenzusetzen und damit eine bereits von Julius Ficker (oben: §§ 442, 443) bearbeitete Aufgabe zu lösen. Wer aber diese Mühen scheut, der kann entweder alle Zweifel als Ausdruck übertriebener Skepsis verscheuchen (unten: § 586) oder erklären, da man wegen des farblosen, untechnischen Gebrauchs, den die Quellen von den feudalistischen Leitbegriffen machten, nicht sagen könne, was die Benutzer dieser Worte im 8. bis 12. Jahrhundert genau damit gemeint hätten, müsse man sich an aussagekräftige Einzelfälle (wie den des Herzogs Tassilo III. von Bayern) halten und entscheiden, ob sie die Regel demonstrierten oder Ausnahmen von ihr darstellten (J. Fried 1997 S. 34). Es versteht sich, daß diese Entscheidung nur willkürlich ausfallen kann, solange niemand die Maßstäbe kennt, nach denen sie zu treffen wäre. So ist es denn heute erlaubt, alles zu meinen. Man kann sagen, Herzog Burchard von Schwaben sei zwar nicht Vasall König Heinrichs I. geworden, sondern habe ihm nur als oberstem Landesherrn gehuldigt, mit dem schwäbischen Reichsgut jedoch habe der König ihn belehnt, und nur iure beneficiali habe der Herzog darüber verfügen können (H. C. Faußner 1973 S. 404 f.). Man kann auch gleichzeitig annehmen, die Herzogsherrschaft zwar beruhte auf Volks- oder Landrecht und auf Königsrecht (H. Maurer 1978 S. 124, 146, 206, 218), aber das Verhältnis des Herzogs zum Könige sei nur lehnrechtlich zu beurteilen (ebd. S. 137 f.). Weiter kann man sagen, die Herzöge
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hätten die Oberhoheit des Königs, als dessen wichtigste Vasallen, lehnrechtlich anerkannt und dafür (zwar kein Lehen, wohl aber) die vizekönigliche Gewalt in ihren Gebieten erhalten (H. Keller 1982 S. 105, oben: § 481). Alle diese Meinungen lassen es gänzlich offen, wodurch sich die Belehnung von einer amts- oder volksrechtlichen Bestallung unterschieden haben mag. Ihnen gegenüber kann man aber auch daran festhalten, daß das Lehnrecht des Mittelalters nicht als Privatrechtsordnung zu begreifen sei, sondern die Funktion einer öffentlich-verfassungsrechtlichen Ordnung besaß (B. Diestelkamp 1991a S. 21), und daß der Pertinenzgedanke dies möglich machte (K.-H. Spieß in HRG 2 Sp. 1729): „Zwar hielten die karolingischen Herrscher stets an der Auffassung fest, daß die Herzogtümer, Markgrafschaften und Grafschaften königliche Ämter seien. Aber zu diesen Ämtern gehörte Amtsgut, das wie ein beneficium verliehen wurde, wobei sich – genau wie im Pfründenrecht der Kirche – die Tendenz durchsetzte, Amt und Amtsgut als Einheit anzusehen und schließlich die Ämter selbst als Lehen aufzufassen“ (B. Diestelkamp in LMA 5, 1991, Sp. 1808). § 556b. Nur selten einmal wird bedacht, daß es nicht mehr notwendig wäre, als Grund der Verfassung des Ostfränkisch-deutschen Reiches einen „Föderalismus in lehnrechtlicher Form“ anzunehmen, sobald es gelänge, eine von den vasallitischen Formen unabhängige, „eigenständige Form der Ernennung“ von Würdenträgern auszumachen, denn nur weil dieses bis jetzt nicht gelungen ist, sah sich Robert Scheyhing, der 1960 zuletzt die ebenso wenigen wie wortkargen Belege aus der Zeit des sächsischen Königshauses überprüfte, genötigt, alle Nachrichten im lehnrechtlichen Sinne zu deuten, obgleich er sehr wohl bemerkte, daß von einem voll entwickelten lehnrechtlichen Verhältnis keine Rede sein könne, da eine mit dem Amtsauftrag verbundene dingliche Leihe allenfalls erahnbar wäre, und daß das Königtum eine gegenteilige Rechtsvorstellung nicht zu beseitigen vermochte, nach welcher die Stämme in ihrer Eigenständigkeit von der Herzogsgewalt repräsentiert wurden (R. Scheyhing 1960 S. 80 – 83, 88 Anm. 77). Es ist diese entgegengesetzte Rechtsauffassung, die ich als volklich oder laikal bezeichne. Denn Repräsentation kann nichts anderes heißen als Abhängigkeit der Herzöge von den Untertanenverbänden, die an ihrer Erhebung mitwirkten und ihre Regierung kontrollierten. Wiewohl ausgehend von der Betrachtung des Karolingerreiches als eines streng von oben her ausgebauten Staates und daher ohne die Volksrechte zu beachten, ist neuerdings B. Kasten (1997 S. 177 – 179, 303) zu der Auffassung gelangt, weder Karl der Große noch Ludwig der Fromme hätten das Lehnswesen für geeignet gehalten, um damit eine mehrstufige Verwaltungsorganisation zu errichten; keiner der beiden Herrscher habe sich „auf einen vasallitisch begründeten Dienst der Amtsträger stützen“ können oder wollen. In erster Linie habe das Lehnswesen als Militärorganisation gedient; „selbst wenn die Amtsträger Vasallen gewesen sein sollten, . . . spielte dies für ihr Amt keine Rolle. Kein karolingischer Graf wird als Vasall bezeichnet.“
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Dies bedeutet eine entschiedene Ablehnung der Lehre von der Ämterleihe (ebd. S. 232 f., unten: § 589). Die Verfasserin unterstellt allerdings der Karolingerzeit einen schwer verständlichen Amtsbegriff. Sie meint, dieser sei nur unter Verwendung des (anachronistischen) Begriffs der Repräsentation (oben: §§ 6, 23, 57) zu bestimmen: Wenn der abwesende Gesamtherrscher in den Teilreichen durch seine Söhne vergegenwärtigt wurde, so sei das Entscheidende nicht die Vertretung der Person, sondern die Darbietung der herrscherlichen auctoritas gewesen. Insofern hätten Repräsentanten des Königs sowohl bevollmächtigte Vertreter als auch selbst Herrschende (sind damit Inhaber sogenannter autogener Adelsherrschaften, oben: § 341, unten: § 566, gemeint?) gewesen sein können. Auch Kaiser Ludwig und seine Söhne hätten ihr Königtum nicht als ein Amt verstanden, neben den Unterkönigen aber hätten ferner Königsboten, Bischöfe, Äbte und Grafen den Kaiser repräsentiert (ebd. S. 214, 373 f.). So kann indessen kein Schöffe oder Rechtskundiger des hohen Mittelalters gedacht haben. Will man den Ausdruck Repräsentation überhaupt gebrauchen, so kann damit lediglich der Auftrag des Volkes an den König und die Amtleute bezeichnet werden, sein Oberhaupt und Worthalter zu sein. Das Volk verstand unter Ämtern Komplexe von Pflichten, deren Inhaber an seine oder an königliche Weisungen gebunden waren und ihren Vollmachtgebern Rechenschaft schuldeten.
§§ 557 – 566. Zur Bevollmächtigung der Grafen § 557. Während sich von der Bestallung der Bischöfe und Herzöge ein wenigstens in den Grundzügen plausibles Bild entwerfen läßt, lassen uns die Quellen vollständig im Stich (R. Scheyhing 1960 S. 29), wenn wir uns von den Dukaten und Großgrafschaften hinab auf die lokale Ebene des Verfassungsaufbaus begeben und nach der Bestallung der Gau- oder Dinggrafen fragen, eben jener Amtleute, die regelmäßig in ihrer Grafschaft anwesend sein mußten, weil sie allen echten Dingen vorzusitzen hatten und in allen Notfällen erreichbar sein sollten (oben: §§ 275 – 279). Man nimmt an, daß es im Reiche Karls des Großen neben den hundertneunundachtzig Bischofssitzen etwa zweihundert Königsklöster und drei- bis fünfhundert Grafschaften gab (J. Durliat 1990 S. 265. W. Kienast 1990 S. 208, 578 f.), und auch für das Ostfränkisch-deutsche Reich, das etwa den dritten Teil des Fränkischen Reiches ausmachte und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts nur neunundzwanzig Bistümer nebst etwa ebensovielen Reichsabteien umfaßte, dürfte mit weit mehr als hundert Grafschaften (A. Waas 1938 S. 183) und folglich einem Vielfachen an Dingstühlen zu rechnen sein, über die sich nur wenig mehr als ein Dutzend Großgrafschaften und niedere Herzogtümer (J. Ficker 1861 S. 234) erhoben. Die Bestallung von Grafen muß also zu den häufig vorfallenden Regierungsgeschäften des Königs und derjenigen gehört haben, die neben ihm dafür zuständig waren.
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Da es das Schweigen der Quellen in unser Belieben stellt, ob wir sagen wollen, die Grafen seien vom Könige oder dessen Vertreter zu ihrem Amte bestallt, oder sie seien damit belehnt worden, können uns nur allgemeine, auf die Verfassung des Ostfränkisch-deutschen Reiches im ganzen gerichtete Erwägungen helfen, uns zwischen den beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Eine erste derartige Erwägung läßt sich an den Umstand anknüpfen, daß eine bestimmte Art von Quellen die Grafen nicht als eine besondere Kategorie königlicher Amtleute betrachtet, sondern sie in einem Atem mit Bischöfen und Reichsäbten (und manchmal auch Vasallen) nennt, denn diese Zusammenstellung legt es uns nahe anzunehmen, daß wir es mit einer einzigen Gattung von Amtleuten zu tun haben und daß daher alle Arten derselben auf eine und dieselbe Weise in ihre Ämter gelangten, nämlich im Ablaufe einer Kettenhandlung, an der der König und der jeweilige partikulare Untertanenverband als Kiesende und Ermächtigende beteiligt waren. Seit der Karolingerzeit, als das Herzogtum bereits aufgehört hatte, eine real existierende Würde zu sein, und nur im Volksrechte noch dem Titel nach fortlebte (oben: § 483), begegnet uns nämlich häufig eine Kanzleiformel, welche die hohe Beamtenschaft mittels kasuistischer Reihung der Species episcopi abbates comites (vasalli) auf einen Begriff brachte. Offenbar fehlte der Reichskanzlei noch die Vorstellung, es handle sich bei der Gesamtheit dieser Männer wesentlich um Amtleute des Königs und des Reiches, denn sie pflegte sie noch keineswegs mit den Worten principes oder proceres (oben: §§ 409 – 411) zu belegen und dadurch als Gruppe von dem Verbande aller königlichen Getreuen oder Untertanen abzuheben; dafür galten sie vielleicht noch zu sehr als dessen Worthalter und insofern mit ihm identisch. Soweit es nötig war, sie als Gruppe hervorzuheben, geschah dies in der Regel mittels der erwähnten Aufzählung; wo das aber als unnötig erschien, sah man sich gewöhnlich auch nicht veranlaßt, die Großen vor anderen Untertanen des Königs besonders hervorzuheben, sondern begriff sie in die königlichen fideles mit ein (J. Ficker 1861 S. 42). Vorbereitet war der kasuistische Begriff für die Gesamtheit der königlichen Richter bereits in dem Introitusverbot der älteren Immunitätsurkunden (MGH. DKar. 18, oben: § 358), wenn man die damals noch erwähnten Herzöge zu den Grafen rechnet und die Königsboten als außerordentliche Richter außer Acht läßt. Von dem allgemeinen Untertaneneide, den König Karl im Jahre 792 einforderte, hören wir, daß er zu allererst ab episcopis et abbatis sive comitibus vel bassis regalibus, dann ferner von allen niederen geistlichen und weltlichen Beamten geleistet werden sollte; außerdem hatten alle Freien, die tauglich waren, die Grafendinge zu besuchen oder den Befehl eines Lehnsherrn auszuführen, sive pagenses sive episcoporum et abbatissuarum vel comitum homines, nebst manchen anderen den Eid zu leisten (MGH. Capit. 1, 66 n. 25 c. 2 und 4. Unten: § 657). Bischöfe, Reichsäbte und -äbtissinnen und Grafen standen demnach nicht nur ihren jeweiligen Kirchen-, Kloster- oder Gerichtsgemeinden vor, sondern auch (königlichen) Vasallenverbänden (oben: §§ 117, 122. MGH. Capit. 1, 349 n. 171). Denn sowohl pagenses als auch Vasallen sind als freie Grundeigentümer zu den-
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ken, die letzteren freilich als solche, die zusätzlich eines Lehens bedurften, um deren öffentliche Lasten in vollem Umfange tragen zu können (oben: § 124). Gering Begüterte konnten sich in den Schutz einer Abtei oder eines Fiskus begeben und insofern als Freie in deren Untertanenverbände eintreten. Als freie Grundbesitzer aber gehörten sie alle sowohl einer Bistums- als auch einer Grafschaftsgemeinde (oben: § 286) an. § 558. Die vierte Kategorie des Reihenbegriffs, die der Vasallen, kann nicht jene einfachen Reiterkrieger gemeint haben, daraus sich die eben erwähnten Vasallenverbände zusammensetzten; vielmehr war sie gewiß mit der Gruppe der potentiores identisch, die gleich Bischöfen, Äbten und Grafen mächtig genug waren, um sich dem Gemeinwillen der Gaugerichte zu entziehen und nur vor dem Könige zu Recht zu stehen (episcopi abbates comites et potentiores quique: MGH. Capit. 1, 176 n. 80 c. 2, oben: § 140. S. Reynolds 1994 S. 35). Bei diesen mächtigen Vasallen wird es sich namentlich um die Verwalter bedeutender Castra und jener königsunmittelbaren Fisken gehandelt haben, die das unten (§ 587) ausführlich zu behandelnde Dokument über die Reichsteilung von 837 in der Inhaltsbestimmung neben Bistümern, Abteien und Komitaten an vierter Stelle nennt, denn auf diese viergliedrige Reihe (U. Nonn 1983 S. 48 f.) dürfte sich der mit dem Dokument überlieferte Bericht beziehen, dem zufolge sich episcopi abbates comites et vasalli dominici dem König Karl als Getreue eidlich ergaben. Das Recht, diese hohen Amtleute zu bestallen, konnte als zentrale Kompetenz des königlichen Amtes und als Kern des Regierungsgeschäftes betrachtet werden. Dies tat der St. Gallener Chronist, der uns zum Jahre 865 meldet, wie König Ludwig von Ostfranken das Reich inskünftig unter seine drei Söhne aufgeteilt wissen wollte, denn da heißt es, solange der Vater lebte, hätten die Söhne in ihren Teilreichen lediglich bestimmte Königshöfe (curtes) nutzen und über minores causas entscheiden sollen; episcopia vero omnia et monasteria, necnon et comitiae, publici etiam fisci, et cuncta maiora iudicia seien weiterhin dem Vater und damit der Regierung des Gesamtreiches vorbehalten worden (Erchanbert S. 329 Z. 26 – 29. RI 12 n. 1459a. B. Kasten 1997 S. 530 f. W. Hartmann 2002 S. 70). Auch hier ergibt sich aus der Reihung, die an vierter Stelle die Fisken nennt, der Schluß, daß diese es waren, deren Verwaltung das Amt der Vasallen ausmachte. Da sie den curtes oder königlichen Fronhöfen gegenübergestellt werden, haben wir uns unter ihnen die Bezirke der großen Königspfalzen vorzustellen. Mehrfach findet sich zu dieser Zeit die Unterscheidung der Fisken, die der König selbst nutzte, von jenen, die er an Königsvasallen zu Lehn gegeben, und von denen, die die Grafen (oben: § 303) für ihn zu verwalten hatten (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 144, 163 f., 177 – 179, 189 – 191). Dies alles spricht dafür, daß wir uns unter den Vasallen, die unser Reihenbegriff zu den hohen Reichsbeamten rechnet, die Verwalter der größeren und wegen ihres Umfangs aus den Grafschaften ausgenommenen königlichen Fisken zu denken haben. Diese Männer entstammten vermutlich in der Regel den vornehmsten fränkischen Geschlechtern,
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und unter ihnen jenen, die den Karolingern seit alters nahestanden (W. Metz 1958 S. 111 – 119. C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 97). Ihre Ämter waren so angesehen, daß sie schon 877, gleich denen der Bischöfe, Äbte und Grafen, als honores bezeichnet wurden (MGH. Capit. 2, 353 n. 280B. E. Lesne 1924 S. 47 Anm. 3). So könnte die Machtstellung der Welfen in Schwaben (W. Rösener 1989 S. 142 – 145) und später die der Ezzonen am Niederrhein (oben: § 455) auf Beamtungen in der Krongutverwaltung zurückgehen (MGH. DH. II. 500: G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 129 f. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 309 f. St. Weinfurter 2000 S. 199). Der kanzleimäßige Gebrauch des meistens dreigliedrigen Reihenbegriffs episcopi abbates comites wurde weder dadurch außer Kurs gesetzt, daß die Reichsregierung seit 839 / 840 dem Drängen der Teilreichsvölker nachgeben und die Einrichtung von Regna zulassen mußte, an deren Spitze die Völker Herzöge setzten (oben: Vierzehntes Kapitel), noch dadurch, daß seit dem Ende des 9. Jahrhunderts auch die Bildung von Großgrafschaften in Gang kam und wiederum deren Untertanenverbände ihren Häuptern gerne den Herzogstitel beilegten. Denn auch dann, wenn die Reichsregierung die Existenz dieser Verbände und die teils vizekönigliche, teils übergräfliche Stellung ihrer Häupter anerkennen mußte, pflegte sie doch den letzteren nach Möglichkeit den Titel eines dux zu verweigern und sie weiterhin als Grafen, bestenfalls als Markgrafen oder Pfalzgrafen und später (oben: §§ 520, 524) als Landgrafen zu bezeichnen. Das war möglich, weil sich Großgrafschaften und niedere Herzogtümer nicht überall im Reiche ausbildeten und daher Gau- oder Dinggrafen weiterhin so, wie sie es unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen gewesen waren, die einzigen regelmäßig und überall vorkommenden höheren weltlichen Amtleute des Königs und des Reiches blieben (oben: § 286). Außerdem war und blieb die gräfliche, vom Könige verliehene Bann- oder Gerichtsgewalt die ordentliche, in ihrem Gebiete den König in allen seinen Funktionen vertretende Amtsgewalt; die des Herzogs oder Markgrafen unterschied sich von ihr lediglich dem größeren Umfange des Gebietes nach, auf das sie sich bezog, nicht aber in der Kompetenz: „Das Gericht, welches der König selber hält, und das, welches ein anderer mit der von ihm empfangenen Gewalt leitet, ist beides gleichmäßig ein öffentliches Gericht,“ als ordentliches Gericht aber war es das des Grafen, über dem „das Gericht des Königs, wenn auch fortwährend kompetent, doch nur ergänzend eintreten sollte“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 2 f., 47). Und was für das Gericht des Königs, das muß auch für die Gerichte der Herzöge und Großgrafen gegolten haben. So konnte die Reichskanzlei an dem Worte comes als Oberbegriff für alle den Bischöfen und Reichsäbten gleichzuachtenden richterlichen Beamten festhalten, auch wenn sie sich der Zweideutigkeit des Wortes bewußt war und daher, um spitzfindigen Auslegungen vorzubeugen, im Immunitätsprivileg alle darunter fallenden Amtleute möglichst vollständig aufzählte (oben: §§ 442b, 449). Und ebenso konnte man als comitatus den Amtsbezirk sowohl der Gaugrafen als auch der Mark- oder Großgrafen bezeichnen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 479); ja sogar dem Könige
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konnte man einen, nämlich den höchsten comitatus beilegen (oben: § 276b), kam doch dem Könige, wie man seit dem 11. Jahrhundert bemerkte, auch ein episcopatus zu, nämlich überall dort, wo er das Recht hatte, den Bischof zu bestallen und die Regalien, die dessen weltliches Amt ausmachten, zu halten, solange ein Bistum vakant war (R. Benson 1968 S. 274 – 276). § 559. Nachdem König Heinrich I. zuerst die Herzogtümer in Schwaben und Bayern (oben: §§ 481, 489) und dann das Herzogtum des Großgrafen Giselbert in Lothringen (oben: § 452) anerkannt hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß die Reichskanzlei den Herzögen einen Platz in dem Reihenbegriff gewährte, mit dem sie nach alter Gewohnheit die mit dem Könige regierenden Worthalter des Volkes bezeichnete. So urkundeten König Otto I. im Jahre 950 omnibus regni nostri principibus episcopis abbatibus comitibus diiudicantibus atque nostre fidelitati consiliantibus (MGH. DO. I. 120) und Heinrich IV. 1063 regni nostri principum episcoporum ducum comitum consilio atque interventione (DH. IV. 100. J. Ficker 1861 S. 75). Bereits Julius Ficker hat darauf hingewiesen, daß auch nach dem Hinzutreten der Herzöge die Gesamtheit der Grafen, von den Groß- und Markgrafen bis herab zu den Dinggrafen, weiterhin zu der Gruppe der hohen oder fürstlichen Amtleute gehörte, die man sich jetzt, im 10. und 11. Jahrhundert, freilich regelmäßig als principes regni zu bezeichnen gewöhnte. Staatsrechtliche Bedeutung freilich konnte Ficker in dem neuen Sprachgebrauch zunächst nicht erkennen: Weiterhin habe der König mit Rat aller fideles das Reich regiert, darunter besonders mit dem Rate derer, denen er ein hohes Reichsamt gegeben hatte, die aber noch niemand ständisch von der Allgemeinheit der Alt- oder Edelfreien unterschieden habe (J. Ficker 1861 S. 90 – 94). Davon, daß längst nicht mehr alle, sondern nur noch die Edelfreien dynastischen Standes hohe Reichsämter bekleiden konnten (oben: §§ 138 – 140), war Ficker noch nichts bekannt. Erst seit dem Ende des 11. und dann immer häufiger während des 12. Jahrhunderts beobachtete Ficker eine Scheidung der principes von den nobiles, der zufolge jene einen anderen, höheren Geburtsstand als diese genossen. Aber auch jetzt noch bewahrten sich die Grafen die Zugehörigkeit zu den principes, auch wenn die Zeugenlisten der Königsurkunden sie immer häufiger als deren geringste Klasse nach den Herzögen, Mark-, Pfalz- und Landgrafen aufführten. Auch blieb ihre Zugehörigkeit zum Fürstenstande unabhängig davon, ob sie ihre Grafschaft unmittelbar vom Reiche oder von einem geistlichen oder weltlichen Fürsten in großgräflicher Stellung hielten (ebd. S. 75 – 87). Den Gebrauch der Reichskanzlei, alle beim Kaiser anwesenden Großen, jetzt freilich bis zu den Reichsministerialen hinab, als principes zu bezeichnen, beobachtete Ficker zuletzt in einem Diplom Kaiser Friedrichs I. von 1177 (MGH. DF. I. 695, S. 222 Z. 2 – 10. J. Ficker 1861 S. 129). In den nächsten Jahren habe sich dann eine neue Anschauung durchgesetzt, nach der die Grafen nebst allen noch geringeren Getreuen nicht mehr zu den Fürsten zählten; im Jahre 1180 sei der neue Begriff des Reichsfürstenstandes soweit gefestigt gewesen, daß die Reichskanzlei an den früher gebräuchlich gewesenen Bezeichnungen
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nicht länger festhalten konnte: Sie hätten einer längst vergangenen staatlichen Ordnung angehört, von der im 12. Jahrhundert nur noch die Namen übriggeblieben, die Sachen dagegen vergangen waren (J. Ficker 1861 S. 87, 130 f.). Diese im wesentlichen noch heute gültigen Erkenntnisse (E. Schubert in LMA 7 Sp. 617 f.) berechtigen uns zu der Annahme, daß sich die Stellung der Grafen des Ostfränkisch-deutschen Reiches in der Zeit vom 9. bis zum 11. Jahrhundert durchaus noch nach der Staatsordnung bestimmte, deren Grund die Kaiser Karl und Ludwig im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert gelegt hatten, und daß diese Staatsordnung für die Erhebung der Grafen kein anderes Verfahren vorgesehen haben wird, als man es bei der Erhebung der Bischöfe, Reichsäbte und Herzöge beachtete. In der Ansicht, daß die Kettenhandlung, welche die hohen königlichen Amtleute in ihre Ämter brachte, mit den Grundsätzen späteren Lehnrechts nicht zu vereinbaren ist, werde ich durch den Umstand bestärkt, daß man in der genannten Zeit zwischen Herzögen, Reichs- und Großgrafen einerseits und von diesen bestallten Gau- und Dinggrafen andererseits so wenig einen Unterschied machte, daß man sie alle unter dem Begriffe der comites zusammenfassen konnte. Es hatte für die verfassungsmäßige Stellung eines Grafen, der der Annehmung von Seiten eines zu seiner Kur berechtigten Untertanenverbandes bedurfte, offenbar keine wesentliche Bedeutung, ob er seine Amtsvollmacht von einem Könige, einem Herzoge oder einem Großgrafen empfing. Mit lehnrechtlichem Denken aber ist dies unvereinbar. Daher verlor, sobald im 12. Jahrhundert König und Fürsten begannen, solches Denken auf die Ämterverfassung des Reiches anzuwenden, das Merkmal, welches bis dahin alle höheren königlichen Amtleute einander gleichgestellt hatte, nämlich der Besitz von Grafschaftsrechten, seine frühere Kraft, und etwas anderes, das vorher bedeutungslos gewesen war, nämlich daß nicht alle Amtleute ihre Bestallung vom Könige empfingen, trat hervor und bewirkte, daß sich nun der Reichsfürstenstand über den Stand der Grafen erhob, die ihr Amt von einem Reichsfürsten wenn nicht empfingen, so doch hätten empfangen haben sollen. Es wird also dabei bleiben müssen, daß erst der neuere Reichsfürstenstand, aus dem die Grafen ausgeschlossen waren, wesentlich durch das Lehnsverhältnis der Amtleute zum Könige bedingt war (J. Ficker 1861 S. 83). Was das Ostfränkisch-frühdeutsche Reich betrifft, so ist es geboten, statt von einer Belehnung der Grafen, von ihrer Bestallung zu sprechen. Denn die Belehnung wird üblicherweise in den Rahmen einer von oben her aufgebauten Staatsordnung gestellt und als königliches Gebot verstanden, das den Untertanen ihren Grafen oktroyiert hätte. Das aber ist eine Vorstellung, die noch nicht auf den hochmittelalterlichen, sondern erst auf den späteren obrigkeitlichen Behörden- und Steuerstaat zutrifft. § 560. Eine zweite allgemeine Erwägung über das Wesen der ostfränkischfrühdeutschen Grafschaft mag an das Vorstehende mit der Frage anknüpfen, ob wir es noch weiter bestärken können, wenn sich mit seiner Hilfe erklären ließe, warum sich das Ostfränkische Reich den Titel und das Amt des Vizegrafen nicht zu eigen gemacht hat. Die vielfältigen Aufgaben, die die Grafen bereits im Karolingerreiche sowohl am königlichen Hofe wie als Königsboten außerhalb ihrer Grafschaft über-
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nehmen mußten, hatten es frühzeitig erforderlich gemacht, ihnen Personen beizugeben, die sie in ihrer Grafschaft sei es in einigen oder aber auch in allen Aufgaben für eine bestimmte Zeit oder auf Dauer vertreten konnten. In karolingischen Quellen heißen diese Vertreter vicecomes, vicarius comitis oder centenarius. Belege dafür finden sich besonders in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts sowohl in amtlichen Texten als auch in Privaturkunden, welche die ehemals zum Römischen Reiche gehörig gewesenen westfränkischen Gebiete und Italien betreffen. In der Verbotsformel der Diplome Karls II. (des Kahlen) und Karls III. wird der Vicecomes zusammen mit anderen höheren und geringeren Amtleuten nach dem Grafen und vor dessen Unterbeamten aufgeführt. Im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts gab es in den meisten Grafschaften Westfrankens und Oberitaliens Vizegrafen mit unterschiedlichen Funktionen. Hatte ein Graf mehrere Grafschaften inne, befand er sich also nach unserer Terminologie in einer großgräflichen Stellung, so findet sich in jeder dieser Grafschaften ein vicecomes, der dort die gräfliche Amtstätigkeit fast vollständig ausübte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 397 – 400. W. Huschner in LMA 8 Sp. 1618 f.). Im ostfränkischen, insbesondere rechtsrheinischen Teil des Karolingerreiches fehlen Vizegrafen dagegen fast völlig. Die Könige dieses Reichsteils pflegten das Introitusverbot ihrer Immunitätsprivilegien lediglich an die Grafen schlechthin zu richten, ohne auch deren Unteramtleute zu erwähnen, und wenn sie dieser letzteren doch einmal gedachten, so geschah das unter dem Einfluß kanzleifremder Diktate. So drang der vicarius vorübergehend aus westfränkischen, der vicecomes aus italienischen Vorlagen in ostfränkische Fassungen des Privilegs ein (E. E. Stengel 1910 S. 441 ff., 451). Offenbar hatten sich im Ostfränkischen Reich die germanischen Traditionen des Staatsaufbaus von unten her reiner erhalten und in der Umbruchszeit von 887 bis 925 stärker wiederbelebt als in den romanischen Reichsteilen im Westen und Süden. Die Stellung der Vizegrafen war nämlich von Anfang an insofern prekär gewesen, als sie einer doppelten Bindung, nämlich sowohl an den König als auch an den Grafen, hatten gerecht werden müssen. Noch lange versuchten die Könige, sich eine direkte Beziehung zu den Vizegrafen, von denen sie in den Grafschaften tatsächlich vertreten wurden, zu erhalten, um so zu verhindern, daß sie sich in ausschließlich gräfliche Amtleute verwandelten. Aber während der Schwächeperiode des westfränkischen Königtums, die von 888 bis 987 anhielt, gingen diese Rivalitäten zugunsten der Grafen und Vizegrafen aus. Nur der Herzog der Normandie erreichte, was einst Kaiser Karl erstrebt hatte: Er bestallte nicht nur die Grafen, sondern auch die diesen unterstellten Vizegrafen und erreichte damit, daß auch die untere, lokale Ebene des Verfassungsaufbaus in den Herzogsstaat einbezogen wurde. Als Amtleute des Herzogs und Pächter seiner Fisken streng weisungsgebunden und jederzeit abberufbar, hielten die Vizegrafen im Namen des Herzogs Gericht und legten regelmäßig vor dem herzoglichen Hofe Rechnung ab (H. Mitteis 1933 S. 355. J. Boussard 1956 S. 332 f. K. Kluxen 1987 S. 17. W. Huschner in LMA 8 Sp. 1619. A. Renoux in LMA 8 Sp. 1620). Sowohl die westfränkischen als auch
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die ostfränkischen Könige dagegen überließen diese Verwaltungsebene weitgehend sich selbst (B. Kasten 1997 S. 312, 341). § 561. Was das Ostfränkische Reich anlangt, so könnte dafür der Wille der Könige verantwortlich gemacht werden, sich die Bestallungen sämtlicher Grafen als causae maiores vorzubehalten. Es ist jedoch fraglich, ob die Herrscher imstande waren, diesen Willen zu verwirklichen, denn die Zahl der Dingstühle und Landgerichte in ihrem Reiche war sehr groß, und das Institut der Königsboten, mit dessen Hilfe Kaiser Karl und Ludwig der Fromme die Aufgabe bewältigt hatten, stand ihnen nicht mehr zur Verfügung. Andererseits dürfte aber auch der Wille der Grafschaftsvölker in Rechnung zu stellen sein. Germanischem Volksrechte war nämlich die Auffassung fremd, derjenige, den sich das Volk zum Könige und Richter erkoren habe, könne die Ausübung der ihm persönlich zuerkannten Amtsgewalt nach Belieben einer anderen Person übertragen, ohne dazu den Konsens des Volkes einzuholen, ohne also den Vertreter auch vom Volke ermächtigen zu lassen (J. Fikker / P. Puntschart 1911 S. 154). Mochten sich die Reichsvölker vielleicht einst von Karl dem Großen ein anderes haben gefallen lassen, so waren sie doch nicht mehr dazu bereit, es auch von seinen Enkeln und Urenkeln hinzunehmen. Vielmehr wird in dem Willen der betroffenen Völker einer der Gründe dafür zu suchen sein, daß der ältere König Ludwig seit 839 / 840 und seine Nachfolger nicht nur der Einrichtung der Regna mit ihren vizeköniglichen Herzogtümern zustimmten, sondern es ferner auch hinnahmen, daß sich hier und da Großgrafschaften und niedere Herzogtümer zwischen sie und die Gau- oder Dinggrafen schoben, auf die nun der königliche Komitat oder das Königsrecht, die ihren Gebieten zugeordneten Gaugrafen zu bestallen, überging (unten: § 577). Die Grafschaftsvölker werden darauf gedrungen haben, daß die Vollmacht, welche Herzöge und Großgrafen den Gau- oder Dinggrafen erteilten, der königlichen Amtsvollmacht gleichgeachtet wurde. Denn man konnte diese Gaugrafen nicht schlechter stellen als diejenigen, die sich ihre Königsunmittelbarkeit bewahrten. Bei weitem nicht alle Grafschaftsvölker traten ja den Bündnissen bei, mit denen andere die großgräflichen Länder und Fürstentümer schufen. Wo sich die Schwäche des Königtums und die Bedrohung durch Normannen und Ungarn wenig bemerkbar machten oder sonstige, für uns nicht mehr erkennbare Gründe den Ausschlag gaben, mochten Grafschaftsgemeinden selbständig bleiben und die Bestallung ihrer Grafen weiterhin vom Könige einholen. Wie groß immer noch die Zahl der vom Könige selbst bestallten Grafen geblieben sein muß, läßt sich daran erkennen, daß die Herrscher seit Kaiser Otto III. ein Jahrhundert lang imstande waren, bischöfliche Reichskirchen mit königlichen Komitaten auszustatten, in denen unter anderem das Recht enthalten war, deren Grafen zu bestallen (unten: § 576). Damit steht die Verfassungsgeschichte vor der zuerst von Julius Ficker angepackten Aufgabe, die königsunmittelbaren oder Reichsgrafschaften (mögen es nun Groß- oder Gaugrafschaften gewesen sein) in sowohl geographischer als auch
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rechtlicher Beschreibung von jenen zu unterscheiden, die einem Großgrafen, Herzoge oder Bischof untergeben waren und von Ficker noch als Untergrafschaften, von späteren aber, einer bestimmten Verfassungslehre zuliebe, als Lehnsgrafschaften bezeichnet wurden. Auch in der von K. G. Hugelmann (1955 S. 106 – 135) überprüften Fassung enthält das Gesamtbild immer noch etliche wegen der Dürftigkeit der Quellennachrichten kaum behebbare zweifelhafte Annahmen. Denn erst um die Mitte des 11. Jahrhunderts hörte man auf, die Gau- und Dinggrafschaften dem fürstlichen Obergrafen (Herzog, Bischof, Markgrafen) zuzuschreiben, und begann man, sie um der größeren Genauigkeit willen nach den Untergrafen zu benennen, die dort jetzt regelmäßig den echten Dingen vorsaßen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 274 – 278, 374, 381, 403, 413, 472. H. Aubin 1920 S. 36). In der oberfränkischen Radenzgaugrafschaft begegnen uns von 1059 bis um 1140 als Inhaber des gräflichen Richteramtes edelfreie Männer mit dem Geschlechtsnamen Walpoto. Dies ist offenkundig ein Amtsname, der die Träger als missi oder nuntii comitis oder vicecomites kennzeichnet. Man nimmt an, daß ihr Amt bereits im 10. Jahrhundert von dem Markgrafen Berthold I. (oben: § 450) eingerichtet worden ist (E. von Guttenberg 1927 S. 47, 57 – 61, 66 – 70, 284 f., 307. Walpoto sonst auch als Fürsprecher oder Rechtsbeistand vor Gericht: MGH. DKo. II. 92 S. 126 Z. 2 – 3). Aus der Zeit, in der uns ad vicem comitis fungierende Dinggrafen zuerst namentlich genannt werden, stammt auch die früheste gewissermaßen amtliche Erwähnung der Institution: Der am 20. April 1083 auf einer Kölner Synode verkündete Gottesfrieden bestimmte unter anderem, daß das Friedensgebot nicht dadurch verletzt werde, si interim dux vel alii comites vel advocati vel qui vice illorum funguntur placita habuerint et secundum quod lex habet in fures et predones et alios nocentes iudicia exercuerint (MGH. Const. 1, 602 n. 424 c. 11. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 49 mit A. 4. H. Hirsch 1922 S. 151 f.). § 562. Daß bereits König Arnulf die Befugnis, Dinggrafen zu bestallen, den Mark- und Großgrafen überlassen habe, ist aus dem Diplom von 888 zu erschließen, durch das er dem soeben mit Grafenrechten ausgestatteten Hofbeamten (oben: § 421) Heimo und dessen Erben den Gerichtsstand vor dem Markgrafen der bayerischen Ostmark anwies (MGH. DArn. 32), denn dieser Gerichtsstand dürfte die Zuständigkeit des Markgrafen für die Erhebung derer, die dem Heimo in seiner Grafschaft nachfolgen sollten, eingeschlossen haben. Die Vollmacht solcher Kleingrafen, die gewiß nur einen einzigen Dingstuhl verwalteten, beruhte, wenn der König ihren Gerichtsbezirk einmal konstituiert hatte, zwar auf Königsrecht, nicht aber auf königlicher Bestallung; sie schloß folglich die Übertragung des Königsbannes aus und stellte dem Grafen lediglich den Grafenbann (oben: §§ 319 – 321) zur Verfügung (O. von Dungern 1927 S. 11 ff. M. Uhlirz 1963 S. 313). Eine absolute Königsferne solcher Klein- oder Untergrafen mußte das nicht bedeuten, solange der König Ursprung und Beschützer der Rechte aller Freien blieb und jederzeit eingreifen konnte, wenn man ihm Rechtsbrüche eines Grafen klagte, hatten doch von der Zeit Karls des Großen an bis ins 13. Jahrhundert hinein alle Dynasten,
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gleich welchen Amtes, Ranges oder Titels, ihren Gerichtsstand grundsätzlich vor dem Könige (O. von Dungern 1927 S. 64). Damit erhebt sich die Frage, wie wir uns die Rechtsverhältnisse der Unter- oder Vizegrafen vorzustellen haben, soweit sie sich nicht auf deren Grafschaftsgemeinde beziehen (oben: Achtes Kapitel), sondern auf König und Reich. Was den comitatus oder das Grafenrecht anlangt, das sie mit der Bestallung als Vollmacht empfingen, so muß sich seit dem 9. Jahrhundert ein Unterschied zwischen dem comitatus, den der König entweder selbst ausüben konnte, sooft er eine Grafschaft bereiste, oder aber Herzögen, Großgrafen und später Bischöfen überließ, auf der einen Seite und andererseits jenem herausgebildet haben, den die Gaugrafen sei es, als Reichsgrafen, von ihm selbst oder als Untergrafen von einem jener Fürsten empfingen. Dieses Unterschieds wurden sich allerdings die Edlen und Schöffen, die wir als Depositare des Volksrechtes kennen (oben: §§ 279, 310, 491), erst spät bewußt, nämlich zu der Zeit, da die Gleichheit der Fürsten- und Grafenämter erlosch und der Grafenstand aus dem Reichsfürstenstande auszuscheiden begann, nämlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Bezeugt ist uns die Unterscheidung denn auch erst im Sachsenspiegel: Den kuning kûset men zu richtêre uber eigen unde lêhen unde uber iewelchin mannis lîph. Der keiser ne mach aber in allen landen nit sîn, unde al ungerichte nicht richten zu aller zît; dâ umme lîet her den vorsten grâveschaph unde den grêven schultichdûm (Ldr. III 52 § 2, dazu Lr. 71 § 2). Der Komitat des Königs und der Fürsten schloß das Recht ein, Dingoder Untergrafen zu bestallen; in dem der Dinggrafen aber war dieses Recht nicht mehr enthalten (unten: § 597b). Aus diesem Unterschied ergibt sich der bereits früher (oben: §§ 276b, 539) beobachtete mehrfache Sinn des Wortes comitatus. Der des Königs umfaßte mehr Befugnisse als der des Großgrafen, und dieser wiederum mehr als der des Unteroder Dinggrafen. Bei jeder Bestallung blieben Aufsichts-, Fiskal- und Heimfallsrechte in der Hand des Bestallenden zurück, die den vergabten comitatus so weit minderten, daß die Unter- oder Gaugrafen schließlich ihn nicht mehr weiterreichen, sondern daraus nur noch das Schultheißentum aussondern und vergeben konnten. Auch der Niederrichter war zwar an seinem Dingstuhle wirklicher Vertreter des Grafen, daher er denn in der Regel wohl den Titel Schultheiß, Zentenar oder Gograf führte, gelegentlich aber auch als vicarius comitis auftreten konnte, aber er vertrat den Grafen, der ihn einsetzte, nicht im vollen Umfange seines Amtes, sondern lediglich in der niederen Gerichtsbarkeit: Unter seinem Vorsitz konnte die Dinggemeinde nicht über Eigentum und Leben eines freien Mannes urteilen, und dingen konnte er nur bei der geringen Bannbuße von bis zu fünf Schillingen (oben: § 321), während die Grafen selbst, gleichviel, wer sie bestallte, bei dem vollen Grafenbanne von fünfzehn oder dreißig Schillingen geboten. Die bei jeder Bestallung eintretende rechtsumfängliche Minderung des comitatus war unvermeidlich, wollte der Bestallende nicht zugunsten seines Platzhalters abdanken, sondern diesen lediglich, wie es einst Papst Leo I. formuliert hatte (oben: § 258), in partem sollicitudinis, nicht aber in plenitudinem potestatis beru-
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fen. Als Vize sollte der Bestallte zwar die Lasten und Pflichten seines Oberen übernehmen, nicht aber dessen Vollmacht an sich ziehen. § 563. Wir stehen damit vor der weiteren Frage, ob nicht der König von Anfang an aus dem comitatus, den er Herzögen und Großgrafen doch wohl nur unfreiwillig überließ, die Banngewalt ausgenommen und derart bei sich zurückbehalten habe, daß er die Großgrafen zwar für ihre Person damit ausstattete, ihnen aber nicht erlaubte, sie weiterzugeben: Wollten die Großgrafen Untergrafen bestallen, so hätten sie diese zwar kiesen (lassen) und mit der Gerichtsherrschaft begaben, was aber die Amtsvollmacht oder gräfliche Banngewalt anlangte, lediglich dem Könige nominieren können, weil auch Untergrafen diese Vollmacht nur vom Könige selbst empfangen konnten. In der Tat ist gelegentlich angenommen worden, daß die Bannleihe die Form gewesen sei, in der der fränkische König ursprünglich seine Grafen angestellt habe (E. Mayer 1899 Bd. 2 S. 353), und noch K. G. Hugelmann (1955 S. 111 f.) vermutete, die Ranshofener Gesetze (oben: § 491) erläuternd, der Herzog von Bayern sei an der Einsetzung der Grafen seines Landes insofern beteiligt gewesen, als er wenigstens in der Regel werde die Grafschaften verliehen haben, während der König den Grafen die Banngewalt übertragen hätte. Wegen des Schweigens der Quellen ist es schwierig, über die Richtigkeit dieser Ansicht zu entscheiden. Was sie uns unannehmbar macht, ist der Umstand, daß sie dem Königtum mehr Macht und Einfluß beilegt, als dieses über die Zusammenbrüche von 830 / 33 und 887 / 88 und über die Schwächeperiode zu Beginn des 10. Jahrhunderts tatsächlich hat hinwegretten können. Die Härte der Kämpfe, die die Könige aus liudolfingischem Hause mit den Herzögen und Großgrafen des Reiches ausgefochten haben, wäre schwer zu verstehen, wollte man annehmen, daß noch immer alle Gaugrafen deswegen unmittelbar von den Königen abhängig gewesen wären, weil sie sich bei ihnen um die Amts- oder Banngewalt bewerben mußten. So ist wohl doch die herrschende Lehre im Recht, wenn sie annimmt, daß die Banngewalt in karolingischer und ostfränkisch-frühdeutscher Zeit noch keiner besonderen Übertragung bedurfte, sondern in der Gerichtsherrschaft beschlossen war, deren Vergabe die Könige zwar vielerorts noch selbst in Händen hielten, die sie aber anderswo den Herzögen und Großgrafen etlicher seit der Mitte des 9. Jahrhunderts neugeschaffener politischer Großverbände hatten überlassen müssen. Anlaß dazu, die Amts- oder Banngewalt aus der Gerichtsherrschaft auszusondern und ihre Verleihung dem Könige vorzubehalten, bot sich nach dem ausdrücklichen Zeugnis der Königsurkunden tatsächlich erst dann, als es im 10. Jahrhundert üblich wurde, den Reichskirchen eine grafschaftsgleiche Hochvogtei zuzuordnen, und im 11., ihnen den königlichen Komitat bestimmter Grafschaften zu übertragen, weil nämlich Bischöfe und Reichsäbte um ihres geistlichen Standes willen zwar die Gerichtsherrschaft, nicht aber die gelegentlich zum Blutvergießen verpflichtende Banngewalt vom Könige empfangen und daher zwar jene, nicht aber diese an ihre Vögte weitergeben konnten (oben: §§ 320 – 323, unten: §§ 576 – 580).
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Aber dieses Hindernis bestand noch nicht, als man im 9. und 10. Jahrhundert die Dukate und Großgrafschaften einrichtete, da als deren Häupter und Inhaber nur Laien in Betracht kamen, die ebenso gut wie der König imstande waren, die Banngewalt selbst zu handhaben oder an ihnen untergebene Gau- oder Dinggrafen weiterzugeben. Gleichheit in Bezug auf den Empfang der Amts- oder Banngewalt unmittelbar aus der Hand des Königs war seither nicht mehr gegeben und kann es daher auch nicht erklären, daß die Reichskanzlei ungeachtet des Unterschiedes zwischen groß- und dinggräflichem comitatus und trotz der Rangunterschiede, welche Herzöge, Markgrafen, Großgrafen und Untergrafen voneinander getrennt haben müssen, bis zum Ende des 11. Jahrhunderts und darüber hinaus den karolingischen Brauch (W. Hartmann 2002 S. 139, 142 f.) beibehielt, die den König in der Gerichtsbarkeit über freie Männer vertretenden Richter samt und sonders als comites zu bezeichnen. Wenn es aber nicht das Verhältnis der Richter zum Könige war, was diese Gleichstellung rechtfertigte, welche Umstände taten es dann? Ich wüßte auf nichts anderes hinzuweisen als darauf, daß seit dem Ende des 9. Jahrhunderts die Ausbildung des Dynastenprivilegs (oben: §§ 145, 146) ein standesrechtliches Idoneitätsmerkmal konstituierte, welches alle Richter, gleich welcher amtlichen Stellung, erfüllen mußten, vor allem aber, daß sie alle, wer auch immer ihnen die Gerichtsherrschaft übertragen mochte, darüber hinaus der Kur oder Annehmung durch den Untertanenverband bedurften, an dessen Spitze sie treten sollten. Daß Bischöfe und Herzöge einer solchen Kur bedurften, lassen die Quellen einigermaßen deutlich erkennen (oben: §§ 426 – 440 und Fünfzehntes Kapitel). Was die Erhebung der Grafen anlangt, so fehlen darüber alle Nachrichten. Daraus hat man seit jeher geschlossen, daß nicht die Könige, sondern die Herzöge und Großgrafen selbst über ihre vizegräfliche Stellvertretung bestimmt hätten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 33 – 35). Zwingend indessen ist dieser Schluß nicht, und wer sich den Staat des hohen Mittelalters von unten, vom Volke her aufgebaut vorstellt, wird ihn nicht akzeptieren können. Zwar ist es richtig, daß die Kapitularien des Rechtes der Gauleute, ihre Grafen zu kiesen oder anzunehmen, nicht gedenken, aber das muß nicht bedeuten, daß Kaiser Karl der Große dieses uralte Volksrecht habe abschaffen können oder daß die Gauleute aus Furcht vor dem Kaiser nicht gewagt hätten, es auszuüben; es besagt nicht mehr, als daß die Reichsregierung keinen Anlaß hatte, dieses Volksrecht zu regulieren. Und wenn die herrschende Lehre meint, Kaiser Karl habe mehrfach versucht, Männer seines Vertrauens ohne Rücksicht auf deren Stand und Herkunft zu Grafen zu machen, doch sei er mit diesem Versuch nicht durchgedrungen, so kann er damit wohl nur am Widerstande der betroffenen Grafschaftsgemeinden gescheitert sein, einem Widerstande, den auch der Kaiser als rechtmäßig zulassen mußte, wenn diesen Gemeinden das Recht der Kur oder Annehmung und das Indigenatsrecht zustanden. Dieses letztere, im Jahre 614 gesetzlich anerkannte Recht enthielt ein vom Volke an den König gerichtetes Verbot, Grafschaftsfremde und
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Königsknechte zu Grafen zu machen, und setzt daher die Mitwirkung der Gauleute an deren Erhebung voraus, auch wenn es, da man ja Eintracht erzielen wollte, die Lenkung der Wahl durch den König zuließ (oben: § 276a). § 564. Fügen wir dem die schwachen, aber zahlreichen Hinweise darauf bei, daß nicht schon der König, sondern erst die Grafschaftsgemeinden die bestallten oder designierten Grafen mit der leiblichen Gewere am grafschaftlichen Fiskus bekleideten (oben: §§ 300b, 305, 319, 474, 476, 502, 525), so werden wir nicht daran zweifeln, daß die Macht der Grafen zwar formal auf der Amts- oder Banngewalt, die sie durch die königliche oder herzogliche Bestallung empfingen, in der Sache aber auf dem Gehorsam beruhte, den ihnen die Grafschaftsvölker bei der Annehmung gelobten. Und nur aus dem Wahlrecht des Volkes ist es, wie wir gesehen haben (oben: § 145), zu erklären, daß sich im Ostfränkischen Reiche seit dem Ende des 9. Jahrhunderts das Dynastenprivileg allgemein durchsetzen konnte, dem zufolge der König und die Grafschaftsgemeinden nur solche Männer zu Grafen erheben durften, die durch Abstammung dem neu sich formierenden Dynasten- oder Herrenstande angehörten. Die Rechtsansicht, nach der eine solche Abstammung ein unabdingbares Idoneitätsmerkmal für den Beruf des höheren Richters sei, und überhaupt nur solche Männer fähig wären, Hoheitsrechte auszuüben, die durch Geburt der genealogisch scharf abgegrenzten Blutsgemeinschaft dynastischer Geschlechter angehörten: diese Rechtsansicht kann schlechterdings weder dem karolingischen Königshause noch den Reichs- oder Gauvölkern von den Begünstigten mit Gewalt aufgezwungen, sondern nur dadurch Recht geworden sein, daß das Volk sie anerkannte und sich zu eigen machte, vermutlich um des Vorteils willen, der darin lag, daß es allen Beteiligten die Aufgabe erleichterte, die für gültige Grafenwahlen erforderliche Einhelligkeit herbeizuführen. Denn das Dynastenprivileg begrenzte den Kreis der Geschlechter, die miteinander um die Ämter rangen, und damit setzte es nicht nur deren eigenmächtiger Zwietracht Grenzen, sondern auch der Willkür der Könige, Herzöge und Großgrafen, die befugt waren, die Wahlen zu lenken. Wenn aber der Wille und das Rechtsgefühl des Volkes, worüber sich kein König hinwegsetzen konnte, das Dynastenprivileg in Geltung setzte, so waren dadurch nicht nur die Herzöge und Großgrafen gebunden, die sich seit 839 / 40 zwischen den König und die Grafschaftsvölker schoben, sondern auch die Notare der Reichskanzlei, die sie alle, wenn es ihnen darauf ankam, unter dem Begriff der comites zusammenzufassen pflegten. Die Gauvölker legten ohnehin ihren Dinggrafen denselben Titel bei wie deren Oberen; anstatt sie als Vizegrafen oder Vikare jener zu bezeichnen, hießen sie sie Grafen, ungeachtet dessen, daß ihr Grafenrecht nicht mehr genau denselben Inhalt hatte wie das der Herzöge und Großgrafen. Wenn aber sowohl die Königskanzlei als auch das Volksrecht den Grafentitel ohne Rücksicht darauf vergab, von wem ein Richter die Gerichtsherrschaft empfing, so werden wir notwendig zu der weiteren Annahme geführt, daß König, Große und Dingvölker einem Manne jenen Titel weniger im Hinblick auf seine Bestal-
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lung als vielmehr deswegen beilegten, weil er von einem Grafschaftsverbande, oder als Großgraf: von einer Mehrzahl solcher Verbände zum Haupte oder Richter erkoren oder angenommen worden war. Durch die Annehmung aber dürfte sein Untertanenverband ihn mit einer Vollmacht ausgestattet haben, die nach Ansicht des Volkes und in einem von unten her aufgebauten Staate wichtiger gewesen sein muß als die vom Könige oder Herzog erlangte, sicherte doch erst sie ihm den Beistand der Untertanen zu, auf dem seine Herrschaftsmacht und physische Zwangsgewalt tatsächlich beruhte. Es war eben nicht die bei Hofe erteilte Bestallung, sondern erst die im Lande vollzogene Annehmung, welche die Öffentlichkeit des Grafenamtes herstellte (oben: § 422), wie denn auch hier und secundum sententiam scabinorum der Obergraf den Dinggrafen abzusetzen hatte, wenn dieser seinen Pflichten nicht nachkam (Quellen Köln 2, 380 n. 384, prop. aep. c. 12, diff. ad 12). Als Vertrauensmann des Volkes mußte der ständig in der Grafschaft anwesende Dinggraf denn schließlich auch den Obergrafen verdrängen: Um die Mitte des 11. Jahrhunderts begann man, die Grafschaft nach ihm und nicht mehr nach jenem zu benennen. § 565. Indigenatsrecht und Dynastenprivileg wären demnach nicht als rechtlose Anmaßungen mächtiger adliger Grundherren, sondern als Freiheitsrechte der Grafschaftsvölker zu betrachten, deren Worthalter jene sein mochten, nämlich Rechte, mittels deren das Volk es sowohl Königen als auch Herzögen und Großgrafen verwehrte, willkürlich über die Eignung eines Mannes zum Grafen und über seine Bestallung zu befinden. Als Freiheitsrechte des Volkes aber waren es Verfassungsrechte, die nur von den Grafschaftsgemeinden im ganzen, nicht jedoch von einzelnen Gauleuten, mochten sie auch noch so reich oder vornehm sein, geltendgemacht werden konnten. Keinem einzelnen Grundherrn, keiner einzelnen Dynastie gewährten sie ein subjektives, persönliches oder vererbliches Recht auf Richteramt und Gerichtsbesitz. Daraus, daß tatsächlich immer wieder eine und dieselbe Adelssippe die Grafen einer bestimmten Grafschaft gestellt hat, kann man nicht den Schluß ziehen, es sei dieser Sippe gelungen, sich das Grafenamt anzueignen, es zu privatisieren oder zu allodifizieren. Nur tatsächlich und scheinbar, nicht aber von Rechts wegen handelte es sich dabei um eine Vererbung des Amtes (oben: §§ 284, 341 – 344, 553). Solange die sogenannte wechselnde Sippe (oben: § 103) das Schicksal der Dynastien bestimmte, brachte der Allodialerbgang immer wieder gering begüterte Dynasten hervor, die als solche nicht zu Grafen erhoben werden konnten, solange sie den Mangel nicht durch Heirat, Lehnsnahme oder Landesausbau behoben. Wenn also die Grafschaften auch häufig über zwei oder drei Generationen hinweg bei demselben Hause verblieben, so geschah das nicht deswegen, weil dieses das Amt zu eigen oder als Lehen besessen hätte, was doch nur durch Usurpation oder gewaltsamen Bruch der Gemeinderechte möglich gewesen wäre, sondern weil Söhne und Enkel in diesen Fällen den ungeteilten Grundbesitz ihrer Väter und Großväter übernehmen konnten und daher den bei der Erhebung zum Grafen zu beachtenden Idoneitätsmerkmalen in besonderem Maße genügten. Nicht nur per-
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sönlich, kraft angeborener Grafenfähigkeit, sondern auch dinglich, als bei der Vergabe des Amtes nicht zu übergehende erbgesessene Gaugenossen, erfüllten sie die Bedingungen, an die der König ebenso wie die Gemeinde bei der Erhebung verfassungsrechtlich gebunden war. Ein die Erhebenden wirklich bindendes Erbrecht der Dynasten ist denn auch, was das hohe Mittelalter anlangt, für die Grafschaften ebenso wenig wie für die Herzogtümer nachzuweisen. Ob die Sohnesfolge wirklich eintrat, das hing nicht nur, wie die herrschende Lehre will, von der Gunst und Macht des Herrschers ab, der die Erlaubnis dazu geben mußte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 9 – 11), sondern auch von den Interessen und dem Willen der Grafschaftsvölker, worüber freilich unsere Quellen keinerlei Licht verbreiten. § 566a. Eine dritte allgemeine Erwägung über die Form der gräflichen Bestallung kann an das bereits vor vier Jahrzehnten konstatierte rechtshistorische Dilemma anknüpfen, daß zwar die herkömmliche Auffassung des (Grafen-)Amtes als eines alleine vom König abgeleiteten Wirkungskreises nicht länger aufrechtzuerhalten, daß aber auch ein eigenständiges Recht des Adels auf Ausübung von Herrschaft, das die landesgeschichtliche Schule dem entgegengesetzt hat, noch keineswegs klar zu begründen sei (R. Scheyhing 1960 S. 65, oben: § 406). Es würde zweifellos die Richtigkeit der hier vorgetragenen Verfassungslehre bestätigen, wenn es ihr gelänge, dieses Dilemma aufzulösen. Was die Grafschaft anlangt, so sahen wir uns bereits zu der Annahme geleitet, daß die gräfliche Amtsgewalt tatsächlich zwei Wurzeln habe, da nach volklicher Rechtsanschauung der gräfliche Gerichtsherr seine Amtsvollmacht und Banngewalt nicht allein vom Könige, sondern auch von der ihn annehmenden Grafschaftsgemeinde empfangen haben muß. Nach demselben Schema ließe sich die eigenständige Adelsherrschaft oder der allodiale Gerichtsbesitz mancher Dynasten (oben: §§ 138 – 140, 158, 367) dadurch erklären, daß diese Gerichtsherren ihre Vollmacht allein aus dem Beifall ihres Gerichtsvolkes herleiten konnten, da sie in keinerlei amtlichen Beziehungen zum Könige standen. Eigenständig wäre solche Adelsherrschaft dann lediglich gegenüber der Macht und dem Willen des Königs gewesen, da sie keiner irgendwie gearteten Bestallung bedurfte; gleichwohl wäre sie keine gewaltsam usurpierte, in unrechten Formen über rechtlose Sklaven gebietende Herrschaft gewesen (oben: § 143), da sie auf dem freien Willen eines Untertanenverbandes beruhte und von diesem Willen legitimiert war. Autogene oder autochthone Adelsherrschaft kann, rechtsgeschichtlich betrachtet, nicht heißen, daß sich ein adliges Haus gewaltsam ein Gerichtsvolk schuf, sondern daß ein aus gemeinsamer Siedlung und Nachbarschaft vorhandenes Volk in Anerkennung des Dynastenprivilegs, jedoch ohne dazu, wie es im Jahre 888 Heimo getan (oben: § 562), eine königliche Erlaubnis einzuholen, einen adligen Herrn zum Richter über sich erhob. Gewiß war bereits im Fränkischen Reiche der Spielraum für solche völkische Eigenmacht eng gewesen (oben: §§ 109, 110). Die Allodialgerichte, deren Existenz seit dem 11. Jahrhundert bezeugt ist, waren denn auch kaum mehr als Dorfgerichte und hatten sich wohl nur in abseitigen Lagen, für die sich die Grafschaftsgemein-
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den nicht interessierten, und meistens auf Neubruchland etablieren können. Nur erst in der bayerischen Ostmark, in Ostsachsen und im Koloniallande östlich der Elbe fanden sich Räume, in denen auch allodiale Land- und Grafengerichte gegründet werden konnten (oben: § 144b). Es wären folglich in der Regel neufreie Rodungssiedler gewesen, die aus wilder Wurzel Gemeinden gründeten und sich dafür auch das erforderliche Gericht beilegten. Nur das althergebrachte Recht der Freien, sich zu einen und nach Einungsrecht Gemeinden zu gründen (oben: Sechstes Kapitel), nur das Recht der Gemeinden, die täglich im Gericht anwesenden Niederrichter sowie Notrichter zur Verfolgung handhafter Gewalttäter zu kiesen (oben: §§ 105, 275a, 283), kann daher die Entstehung autochthoner oder allodialer Gerichtsbarkeit erklären (oben: §§ 136, 367). Daß sich der König und seine Amtleute gegenüber solchen Schöpfungen gleichgültig verhielten, zeigt nicht nur im großen Stile die Gerichts- und Landesverfassung der Friesen (oben: §§ 499 – 502), sondern im kleinen auch die Existenz jener allein auf dem Willen einer Gerichtsgemeinde (E. Mayer 1899 Bd. 2 S. 353) oder auf volksrechtlich-allodialer Grundlage (K.-F. Krieger 1970 S. 270) beruhenden Not- und Blutgerichte, denen die Grafen, da sie ihnen nichts einbrachten (oben: § 321), jahrhundertelang keinerlei Interesse erzeigten, solange, bis die gesellschaftliche Entwicklung sie zu ordentlichen Hoch- und Blutgerichten aufwertete (oben: § 323b). Ich frage mich, ob nicht etwa bereits das Formular des Immunitätsprivilegs, das von der Kanzlei Kaiser Ludwigs des Frommen geschaffen worden war und der ostfränkischen Reichskanzlei als Muster gedient hat, die Existenz solcher nichtköniglichen Gerichte anerkannt hat, wendet es doch auf die durch das Introitusverbot ausgeschlossenen Personen einen zweigliedrigen Ausdruck an, der natürlich an erster Stelle die Gruppe der königlichen oder öffentlichen Richter, außerdem aber noch alle sonstigen Inhaber richterlicher Gewalt von der geschützten Grundherrschaft fernhielt: ut nullus iudex publicus neque quislibet ex iudiciaria potestate . . . ad causas audiendas . . . ingredi audeat (E. E. Stengel 1910 S. 441 – 464, 631 f.). Unter den öffentlichen oder königlichen Richtern verstand man zunächst die Grafen und deren Unterrichter; sobald nämlich die Kanzlei begann, die gemeinten Kategorien von Amtleuten genauer aufzuzählen, war es stets weitaus am häufigsten der Graf, der besonders genannt wurde, während der Herzog lange Zeit nur sporadisch vorkommt und erst seit dem Ende der Regierung Ottos II. regelmäßig genannt wird. § 566b. Dagegen entbehrt der Begriff des sonstigen Richters solcher Spezifizierungen. Er konnte aber als quaelibet, aliqua oder alia iudiciaria potestas variiert werden, und damit tritt er um so deutlicher in Gegensatz zu dem des königlichen Richters, als das Wort potestas nicht selten, namentlich in lothringischen Privaturkunden, die grundherrschaftliche Gewalt bezeichnete, in deren Gebiet ein bestimmter Ort gelegen war und eine nicht vom Könige herrührende, autochthone Banngewalt gültig war (oben: § 364; anderer Ansicht: G. Waitz
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1876 – 96 Bd. 8 S. 7 – 9). Sollte man etwa unter potestates auch Allodialgerichte verstanden haben? Meinte die lothringische Kanzlei deren Richter, als sie im Jahre 916, nach Bischöfen und Grafen, der Großen und Richter verschiedener potestates im Lande gedachte (Actes de Charles III S. 187 n. LXXXIV, unten: § 616)? Und konnte man, wenn König Konrad I. im Jahre 913 bestimmte, daß die Hörigen des Klosters Korvey weder vom Grafen noch von irgendeinem anderen Richter, ex qualibet iudiciaria potestate, mit irgendeinem Banne, aliquo banno, zur Gerichtsfolge gezwungen werden sollten (MGH. DKo. I. 14), – konnte man da unter „irgendeinem Banne“ wirklich den des gräflichen Niederrichters verstehen, der doch auch ein öffentlicher, vom Könige herrührender Bann war, oder muß man nicht eher an einen Gerichtsbann denken, dessen Rechtsgrund anderswo zu suchen ist? Wollte und könnte man diese Fragen bejahen, so hätte bereits die Kanzlei Kaiser Ludwigs den sehr präzisen Begriff des königlichen Richters nicht nur deswegen um einen zweiten, weniger bestimmten Begriff erweitert, weil die Diktatoren der Kanzlei befürchteten, in der Aufzählung der Richterkategorien unvollständig zu bleiben (E. E. Stengel 1910 S. 463), was auf die klassische Kurzfassung der Formel ja gar nicht zutrifft, sondern auch und vor allem deshalb, weil sie zwei grundsätzlich verschiedene Kategorien von Richtern nebeneinanderstellen wollten, nämlich einerseits die vom Könige bestellten, andererseits aber die ohne dessen Mitwirkung allein nach den Normen der Volksrechte und dem Willen des Dingvolkes zu ihrer Amts- und Banngewalt gelangten Gerichtsherren. Wenn also einst die Karolinger, als sie die richterliche Zuständigkeit der Grafen durch die einheitliche Beschreibung der causae maiores und minores von der der Zentenare abzugrenzen versuchten, das verfassungspolitische Ziel verfolgten, zur Sicherung des inneren Friedens Grafen und Zentenare zu königlichen Amtleuten zu machen, die sie ohne jede Mitwirkung des Volkes einsetzten, um durch sie den öffentlichen Gerichtszwang ihres eigenen Großkönigtums in den dinggenossenschaftlichen Gerichten repräsentieren zu lassen (J. Weitzel 1985 S. 441, 445, 470 – 473, 560), so müßten wir jetzt aus der Zweiheit der Banngewalten, deren Rechtmäßigkeit die ludowizische Verbotsformel bezeugt, den Schluß ziehen, daß sie dieses Ziel nicht vollständig erreicht haben. Die Zweigliedrigkeit des ludowizischen Introitusverbotes wäre also nicht oder nicht nur aus der Psychologie der Diktatoren zu erklären, sondern auch, und am Ende: vor allem, daraus, daß die Königskanzlei stets auf die Besonderheit der Verhältnisse Rücksicht nahm, unter denen die begünstigten Immunisten das erworbene Vorrecht zu realisieren hatten. „Man legte Wert darauf, diejenigen namhaft zu machen und herauszuheben, von denen der verliehenen oder bestätigten Immunität besondere Gefahr drohte“ (E. E. Stengel 1910 S. 464), und dazu könnten eben jene Bannherren gehört haben, die gräfliche Gerichtsrechte ausübten, ohne vom Könige zu Grafen ernannt worden zu sein. Wenn wir uns den mittelalterlichen Staat nicht als Schöpfung des Königs und der mit ihm regierenden Großen, sondern als von unten her erbaut vorstellen, so
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zwingt uns nichts zu der Annahme, jene Allodialherrschaften, mit denen im 12. Jahrhundert der Grafentitel (O. von Dungern 1927 S. 20) und eine gräfliche Gerichtsbarkeit verbunden war, könnten „doch nur insoweit“ Grafschaften heißen, „als in zahlreichen Fällen die Lehnbarkeit derselben vergessen war“ (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 158). In einer von unten her, nämlich von den Gerichtsvölkern aus aufgebauten Verfassung konnten vielmehr einzelne (in Friesland sogar: alle) Hochgerichte auch dann rechtmäßigerweise existieren, wenn ihre Richter nicht in jener amtsrechtlichen Beziehung zum Könige oder zu dessen höheren Amtleuten standen, der gewöhnlich die Gau- oder Untergrafen genügten. „So far as people thought about the distinction, they would presumably have seen it, not as one between fief and alod, in the sense that historians use the words, but as between those who held royal office and those who did not“ (S. Reynolds 1994 S. 408). Es beruht nämlich erst auf späterer Entwicklung, wenn solche Allodialherrschaften, nachdem sie zur Landeshoheit aufgestiegen waren, durch Lehnsauftragung in die benachbarten größeren Territorien einbezogen worden sind (H. Aubin 1920 S. 165, 395 ff.), weil sie zu klein waren, um sich, wie es jetzt die Verhältnisse erforderten, zu Steuer- und Behördenstaaten (oben: §§ 390, 391, 421) fortbilden zu können. Im Hochmittelalter war das anders; da konnte sich das Volk noch selbst helfen, und Könige, Herzöge, Großgrafen waren anderweitig so vielbeschäftigt, daß sie es duldeten, ohne darin eine Bedrohung ihrer eigenen Macht zu sehen. „Given the expansion of settlement and the preoccupations of counts on the one hand, and the size of the kingdom and the preoccupations of kings on the other, a good deal may have passed unnoticed“ (S. Reynolds 1994 S. 408).
Siebzehntes Kapitel
Bestallung und Belehnung II: Königlicher, herzoglicher und bischöflicher Komitat §§ 567 – 572. Übertragung königlicher Komitate auf Bischofskirchen im 11. Jahrhundert § 567. Mehr Hinweise auf die Formen der Ämterbesetzung als allen anderen Quellen sind den Diplomen zu entnehmen, mittels deren ostfränkisch-deutsche Könige in der Zeit von 983 bis 1106 vierundsechzigmal Grafschaften auf Bischofskirchen übertragen und damit der modernen Verfassungsgeschichte die Aufgabe gestellt haben, Sinn und Zweck dieser Maßnahmen zu ergründen. Die Gelehrten, die sich zuerst mit der Frage beschäftigten, nahmen an, treibende Kraft sei der Wille der Könige gewesen, mit Hilfe der Bischöfe den fürstlichen Adel aus den Herrschaftspositionen hinauszudrängen, die sich dieser seit dem Zerfall der karolingischen Reichsgewalt angeeignet hatte; die Könige hätten erwartet, auf diesem Wege das Machtstreben des Adels dem Willen der Reichsregierung unterwerfen zu können. Manche Historiker sprechen sogar davon, durch Steigerung der bischöflichen Territorialgewalt hätten die Könige die Reichsverfassung auf dem Boden eines Reichskirchensystems neubegründet, und wollen darin einen Höhepunkt ottonisch-salischer Herrschaftspraxis erkennen. Im einzelnen freilich ließ sich dies alles schwer verifizieren, da die eingesessenen Grafen kaum einmal aus den kirchlich gewordenen Grafschaften verschwanden und die geistlichen Territorien des Spätmittelalters vielfach gerade da nicht entstanden, wo die Bischöfe im 11. Jahrhundert den königlichen Komitat erworben hatten. Der letzte Bearbeiter des Problems geht daher von der Tatsache aus, daß fast alle Grafschaften, die der König einem Bischofe gab, weiterhin von Laien verwaltet wurden, und sucht den Sinn der Übertragungen eben darin, daß die Grafen den Lehnsherrn wechselten, da sie ihre Grafschaft nun nicht mehr vom Könige, sondern von einem Bischof empfingen. Denn dieser konnte sie weit besser kontrollieren als der meistens abwesende König. Funktionieren habe dies allerdings nur können auf Grund einer Lehnsbindung, die die Grafen den Bischöfen zur Vasallentreue verpflichtete und sie beim Bruch ihrer Lehnspflichten gerichtlicher Verfolgung aussetzte. Die Schenkung von Grafschaften, die die Bischöfe weiterverleihen und in der Regel in den Händen der bisherigen Inhaber belassen mußten, sollte „offensichtlich nicht die Macht der Bischöfe verstärken oder ihnen mehr Möglichkeit zur unmittelbaren Herrschaftsausübung geben. Vielmehr war mit den Schenkungen bezweckt, die Grafen in ein engeres, lehnrechtliches Verhältnis zu den Bischöfen zu
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2. Teil: Der Staat
bringen;“ die Bischöfe hätten gewiß damit gerechnet, „auf diese Weise die Grafen zu Wohlverhalten zu veranlassen und sie vor allem von Übergriffen auf das Kirchengut abzuhalten.“ Wahrscheinlich hätten die Schenkungen ihren Zweck, die Gier des Laienadels nach Kirchengut zu bezähmen, auch erreicht, solange die Königsmacht ungebrochen war (H. Hoffmann 1990 S. 376, 469 f., 478 – 480. St. Weinfurter 2000 S. 159 f.). Wie die Lehre vom Reichskirchensystem geht auch diese Deutung von der Annahme aus, hinter den Schenkungen von Grafschaften an Bistümer sei ein bestimmter Wille des Königs und der Bischöfe zu suchen. Wir hätten es demnach mit einem Umbau der Reichsverfassung von oben, von der königlichen Spitze, her zu tun. Aber diese Deutung scheitert daran, daß sie die Vergabe der Grafschaften nach Lehnrecht, und das heißt: die Behandlung der grafschaftlichen Personenverbände als Lehnsgüter, und damit eine Rechtsauffassung voraussetzt, die den Volksrechten und dem Reichsrecht des 11. Jahrhunderts noch ganz fremd war und uns in dieselben Schwierigkeiten verstrickt, mit denen wir wegen der Titulierung der Unteroder vermeintlichen Lehnsgrafen mit dem einfachen Grafentitel zu kämpfen hatten. Es erhebt sich daher die Frage, ob nicht auch die Vergabung von Grafschaften an Bistümer leichter zu erklären ist, wenn man neben dem königlichen ein Interesse der Grafen selbst sowie der Bistums- und Grafschaftsgemeinden an ihr voraussetzt. Sollte ein so weitreichender Umbau der Reichsverfassung wirklich allein vom Könige dekretiert worden sein können, ohne daß die Gemeinden dazu ihren Willen geäußert und nachdrücklich geltendgemacht hätten? Könnte nicht vielleicht sogar von ihnen die Initiative zu dem Umbau der Verfassung ausgegangen sein, so daß der König durch sein Privileg letzten Endes nur noch als rechtmäßig und dem Reiche nützlich anerkannt hätte, was die Gemeinden und ihre höchsten Worthalter, die Grafen und Bischöfe, für wünschenswert hielten? § 568. In den meisten Diplomen betreffend königliche Komitate wird uns kein Petent genannt. Statt dessen erscheint in etwa der Hälfte der Urkunden der Bischof der begünstigten Kirche entweder als einer der Intervenienten, auf deren Empfehlung hin der König seine Entscheidung traf (z. B. MGH. DH. II. 504, DKo. II. 23, 64, 169, DH. III. 48, 301, DH. IV. 424), oder es wird erwähnt, daß der König in Ansehung seiner Verdienste oder dem Reiche geleisteten Dienste verfügte (z. B. DH. II. 268, DH. III. 77, 101, 280, 281, DH. IV. 22, 206, 208, 218, 219, 293, 424). Etwa ein Zehntel der Diplome aber nennt weder einen Petenten, noch gedenkt es des Bischofs in der zuletzt genannten Weise (z. B. DH. II. 142, 444, DKo. II. 101, 102, DH. III. 101). Das ist auffällig, denn da kein Herrscher berechtigt war, seine Privilegien oder Wohltaten Widerwilligen zu oktroyieren, gehörte die Nennung des Petenten und des Inhalts seiner Bitte notwendigerweise dem Kontext einer jeden formgerecht ausgefertigten Königsurkunde an (unten: § 790). Von dieser Norm weicht der Text der Grafschaftsurkunden bemerkenswert häufig ab, und zwar so, daß Arenga, Narratio, Sanctio und Corroboratio entweder vollständig übergangen oder nur mit einigen Worten angedeutet werden. Diese Erscheinung wird sich daraus erklären, daß die Beteiligten die Grafschaftsverleihungen, wie wir noch sehen
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werden, als interne Verfügungen der Reichsregierung betreffend die Verwaltung von Reichsrechten ansehen konnten, deren Außenwirkung auf Dritte (also auf die Bistums- und Grafschaftsgemeinden) so gering blieb, daß die Reichskanzlei sie vernachlässigen konnte. Dies ändert aber nichts daran, daß in der Regel der Bischof der begünstigten Kirche als Urheber oder Anreger der königlichen Maßnahme zu betrachten ist. Ein Drittel der Diplome etwa nennt ihn ausdrücklich als Petenten und erzählt formgerecht, daß er den König aufgesucht habe, um dessen Konzession zu erlangen (z. B. DO. III. 16, DH. II. 225, 226, 227, 259, DKo. II. 103, 198, DH. IV. 18, 108, 112, 113). Daß aber auch der intervenierende Bischof zugleich Petent und Betreiber der Ausfertigung zu sein pflegte, dürfen wir daraus schließen, daß Intervenieren und Bitten gelegentlich einander gleichgesetzt werden (DKo. II. 178). Nur sehr vereinzelt geben uns erzählende Quellen oder weitere Diplome näheren Aufschluß über die Absichten der Petenten. So berichtet die allerdings nicht zeitgenössische Vita des Bischofs Meinwerk von Paderborn (ihr Verfasser war vermutlich Abt Konrad, der von 1142 bis 1173 dem von dem Bischof gegründeten Kloster Abdinghof vorstand), Meinwerk, seit langem vertrauter Berater König Heinrichs II. (Vita Meinw. c. 9), habe sich im Januar 1016 wegen vieler Geschäfte bei dem Herrscher in Dortmund aufgehalten und dort von ihm unter anderem comitatum in Haverga erlangt, der seiner Kirche schon im Jahre 1011 gegeben, seither aber durch Invasion gewisser Leute verwirrt worden sei (ebd. c. 133). Die betreffende Urkunde (DH. II. 344), welche die Verfügung von 1011 (DH. II. 225) erneuert, bezeichnet diese Grafschaft als Komitat des verstorbenen Grafen Hahold. Zum Jahre 1011 berichtet die Vita, nachdem Herzog Bernhard I. von Sachsen gestorben, habe dessen gleichnamiger Sohn (vor allem deswegen) den sächsischen Dukat erlangt, weil sich Meinwerk und seine Freunde (beim Könige) für ihn verwandten; (daher) sei er Vasall des Bischofs geworden und habe ihm in aller Treue den gebotenen Gehorsam erzeigt (Vita Meinw. c. 14). Sein Bruder Graf Thietmar indessen scheint sich dadurch nicht für gebunden erachtet zu haben, denn es ist zu vermuten, daß er es war, der die Grafschaft im Havergau so verwirrte, daß Meinwerk deren Übergabe an seine Kirche im Jahre 1016 erneuern lassen mußte. Möglicherweise erhob Thietmar Anspruch darauf, dem verstorbenen Hahold in der Grafschaft nachzufolgen. Aber sei dem, wie ihm wolle, erkennbar ist, daß sich der Bischof, bevor er den König um die Übertragung einer Grafschaft auf seine Kirche bat, deswegen mit den Großen des Landes, und dann wohl auch mit dem Grafschaftsvolke, das an der Erhebung des Grafen mitwirkte, verständigen mußte, wenn er den Zweck erreichen wollte, den er mit der an den König gerichteten Bitte verfolgte. Gelang ihm dies nicht, so nützte ihm auch die königliche Bewilligung nichts. § 569. Zweifellos ging von Meinwerk auch die Initiative zum Erwerb der Komitate der verstorbenen Grafen Dodico (von Warburg) und Liudolf aus (DH. II. 439, 440). Denn nachdem Dodico am 29. August 1020 verstorben war, hatte der
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Bischof den Kaiser nach Paderborn eingeladen, und hier empfing er am 16. Februar 1021 das erbetene königliche Diplom. Den Herrscher auf der Weiterreise begleitend, erlangte er am 1. März 1021 zu Imbshausen die Verleihung der Grafschaft des verstorbenen Grafen Liudolf (Vita Meinw. c. 171, 172). Da hierzu Papst Benedikt VIII. als Intervenient genannt wird, muß Meinwerk die Verleihung jedoch bereits im April / Mai 1020 erbeten haben. Wir wissen nicht, ob er danach im eigenen Lande oder bei Hofe auf Widerstände stieß, die die Beurkundung verzögerten. Bald darauf ging ihm Dodicos Grafschaft wieder verloren, weil der junge König Konrad II., rudes adhuc in regno iniusto persuasi consilio, sie wieder an sich nahm, um sie auf Bitten des Erzbischofs von Mainz der Mainzer Kirche zu übertragen; erst nach dem Tode des Erzbischofs erschien es Meinwerk opportun, wegen der Rückgabe beim König Klagen und Bitten zu erheben, und so gelangte seine Kirche am 2. August 1033 wieder in den Besitz (DKo. II. 198. Vita Meinw. c. 216 S. 128 Z. 7 – 11). Man sieht, daß die Herrscher zwar grundsätzlich bereit waren, mit Grafschaftsund anderen Schenkungen der Armut der Paderborner Kirche abzuhelfen, daß es aber Aufgabe des mit den Landesverhältnissen vertrauten Bischofs war, dem Könige zur rechten Zeit erfüllbare Vorschläge für konkrete Maßnahmen zu machen und dafür die Unterstützung sowohl des Landes als auch des königlichen Hoftages zu gewinnen. Ich nehme daher an, daß sich der Bischof in dieser Situation namentlich mit dem Grafen und der Gemeinde, deren Grafschaft er gewinnen wollte, vorab über die geplante Veränderung ihrer Verfassung verständigen mußte. So berichtet die Urkunde, mittels deren König Otto III. im Jahre 985 der bischöflichen Kirche zu Lüttich den Besitz der Grafschaft Huy übergab, deren Bischof Notker habe den Aussteller in der Absicht aufgesucht, ut comitatum Hoiensem quod in nostra ditione hactenus erat quodque Ansfridus comes illustris vir qui illum ad presens tenebat, pro dei honore . . . ipsiusque episcopi amore reddiderat, perpetuo habendum concederemus (DO. III. 16). Bei der um die Mitte des 10. Jahrhunderts zum ersten Male erwähnten Grafschaft Hui handelte es sich vermutlich um einen zu jener Zeit neugebildeten politischen Bezirk, der aus der alten Gaueinteilung herausgelöst worden war und seinen Dingstuhl in der Burg und Kaufmannssiedlung Huy aufschlug (U. Nonn 1983 S. 105 – 110, 136 – 140). Schon diese Neugründung muß von den Bewohnern der Burg, von den umliegenden Grafschaften und von der Lütticher Bistumsgemeinde vorbereitet und beschlossen worden sein, bevor man den König gebeten hatte, sie gutzuheißen, so wie die Betreiber sie auch auszuführen hatten, sobald die königliche Einwilligung eingetroffen war. Mit den Gemeinden seines Bistums und der Grafschaft hatte Notker zweifellos auch verabredet, daß Graf Ansfrid seine Amtsvollmacht an den König zurückgeben und der Bischof den Herrscher darum bitten sollte, die Lenkung der Wahl des Nachfolgers und dessen Bevollmächtigung oder Bestallung und was sonst noch an Hoheitsrechten bezüglich dieser Grafschaft in Händen des Königs lag, der bischöflichen Kirche zu Lüttich und deren Vorsteher zu überlassen. Für das Grafschaftsvolk mochte dies nicht nur deswegen vorteilhaft sein, weil es den
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Bischof ohnehin an allen Geschäften beteiligen mußte, die es bei Hofe zu erledigen hatte, sondern auch deshalb, weil sich nun alle Wege verkürzten, alle Reisekosten verminderten und alle Entscheidungen einfacher und rascher erreichen ließen, als wenn man ihretwegen hätte den König aufsuchen müssen. Insbesondere ist eine solche Vorverständigung des bischöflichen Petenten mit der Grafschaft in allen den Fällen anzunehmen, wo der zuvor vom Könige bestellte Graf über den Tag, an dem die Königsrechte auf den Bischof übergingen, hinaus in seinem Amte blieb. Gegen seinen und seiner Dinggemeinde Willen hätte der Bischof schwerlich an die Stelle treten können, die in der Grafschaftsverfassung bis dahin der König ausgefüllt hatte. Erwähnt wird das indessen nur selten, so einmal im Jahre 1040, als Kaiser Heinrich III. die Grafschaftsrechte zu Basécles mit Zustimmung Graf Balduins von Hennegau und seines Schultheißen, eiusdem terre comitis suique militis Gotsuini vicecomitis, dem Kloster St. Ghislain schenkte (DH. III. 48). Außer der Abkürzung des Entscheidungsweges können solche Schenkungen für die Grafschaften wegen besonderer lokaler Umstände vorteilhaft gewesen sein. Als Bischof Burchard von Worms im Jahre 1011 zu Bamberg die Übertragung der Königsrechte an den Grafschaften im Gau Wingarteiba und im Lobdengau erlangte (DH. II. 226, 227), waren die Vögte der Wormser Kirche beziehungsweise deren Bischöfe als Immunitätsherren seit drei Jahrzehnten in Streitigkeiten mit den Inhabern der umliegenden Grafschaften wegen der Hochgerichtsbarkeit über die Immunitätsleute verstrickt (H. Hirsch 1922 S. 114 – 118). Der Schlichtung solcher Wirren mag es förderlich gewesen sein, wenn die Grafen ihre Bestallung aus derselben Hand wie die Vögte empfingen und die letzte Entscheidung nicht mehr vor dem Könige, sondern vor dem ständig im Lande weilenden Bischof auszuhandeln war. § 570. Durch den Domkanoniker Adam von Bremen, der seit 1066 / 67 der Bremer Kirche angehörte, sind wir über die Grafschaftspolitik Erzbischof Adalberts von Bremen (1043 – 1072) ungewöhnlich genau unterrichtet. Nach Adam war diese Politik einzig und allein von dem Erzbischof ersonnen – und auf offensichtlich falsche Voraussetzungen aufgebaut. Wir hören nämlich (Adam III 5 und II 2), Adalbert sei der Ansicht gewesen, sein Vorgänger Adaldag (Erzbischof von 937 bis 988) habe das Bremer Bistum befreit, indem er es vom Könige in der gleichen Weise wie die anderen Bischofsstädte mit der Immunität begaben ließ, Bremam . . . precepto regis absolvi et instar reliquarum urbium immunitate simulque libertate fecit donari. In der Tat hatte Adaldag von König Otto I. im Jahre 937 talem libertatem et tuitionem für die Klöster seines Bistums erbeten, wie sie die anderen Reichsklöster genossen, und Otto hatte daraufhin dem locus Hamburg als Stätte des Domstiftes sowie den dem Bistum gehörigen Klöstern in Ramelsloh, Bremen, Bassum und Bücken die Immunität derart verliehen, daß auch ihre Liten und Kolonen dem öffentlichen Gericht entzogen sein sollten, solange der Vogt des Erzbischofs ihrer Herr werden könne; andernfalls sollte er sie dem Grafengericht überstellen (MGH. DO. I. 11. K. Reinecke 1971 S. 22 – 30).
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In der Wirklichkeit freilich wird das letztere nicht Ausnahme, sondern die Regel gewesen sein und wird sich die Immunität auf die genannten Klosterorte beschränkt haben, wo auch die Haupthöfe der erzbischöflichen Grundherrschaft gelegen waren, denn diese bildeten nicht die Zentren geschlossener Villikationen, sondern lediglich Hebeämter, die von den zerstreut im Lande sitzenden hörigen Bauern Zinse und Renten einzogen (oben: § 459). Die Liten regelmäßig zu echten Dingen versammelnde Hof- und Vogtgerichte oder gar Bannbezirke, die auch fremde Hörige oder gar Grafschaftsfreie vor ihr Gericht zu ziehen vermocht hätten (oben: §§ 364, 566b), konnten sich daher im nördlichen Sachsen nicht ausbilden; schon um der kürzeren Wege willen werden die erzbischöflichen Liten im allgemeinen bei dem nächstgelegenen Grafengericht dingpflichtig geblieben sein, anstatt den fernen Klosterhof aufzusuchen, wo sie einmal im Jahre ihre Abgaben abzuliefern hatten. Grundsätzlich änderte sich an dieser Situation auch dadurch nichts, daß sich die Bremer Immunität über die fünf ältesten Stätten hinaus auf alle künftigen Erwerbungen der Kirche erstreckte und schließlich mehr als fünfzig Hebeamtshöfe, curtes dominicales, beschützte (Adam III 45). Die erzbischöflichen Vögte blieben infolgedessen so machtlos, daß wir so gut wie nichts über sie erfahren (K. Reinecke 1971 S. 57 – 74, 88). Die Grafschaften aber, in denen das Kirchengut lag, vermochte kein König mehr der Bremer Kirche zu übertragen, denn wohl schon im 9. Jahrhundert hatten sich die Grafschaftsvölker ihrer Diözese zu Großverbänden vereinigt, deren Häupter, die späteren Grafen von Werl und von Stade und die seit 973 als Herzöge anerkannten Billunger, den königlichen Komitat an sich zogen und seither im Gebiet des Bistums Hamburg-Bremen links der Elbe die Gau- und Dinggrafen bestallten (oben: §§ 463, 468 – 470). Erzbischof Adalbert war also offenkundig im Irrtum, wenn er meinte, Güter und Leute seiner Kirche würden von den Herzögen mit unrechter Gewaltherrschaft überzogen, iniqua ducum potentia vexari, und folglich sei es seine Pflicht eandem ecclesiam pristinae libertati reddere, ita ut nec dux nec comes aut aliqua iudicialis persona quempiam districtum seu potestatem haberet in suo episcopatu (Adam III 15). Ungeschickt und letzten Endes verfehlt war es auch zu glauben, um dieses Ziel zu erreichen, müsse er den Status erlangen, den als einziger im Reiche der Bischof von Würzburg besäße, qui dicitur in episcopatu suo neminem habere consortem, ipse cum teneat omnes comitatus suae parrochiae, ducatum etiam provintiae gubernat episcopus (Adam III 46). Bemerkenswerterweise bezeichnete man es in Bremen nicht als feststehende und allgemein bekannte Verfassungstatsache, sondern wußte lediglich von Hörensagen von dem Status des Würzburgers, der sogar das Herzogtum des Landes verwaltete, mit dem sich sein Bistum deckte (M.-L. Crone 1981 S. 6 f.). Ein Beispiel aber konnte sich Adalbert daran nicht nehmen, da jener weder den königlichen Komitat noch den Dukat erst im 11. Jahrhundert durch königliche Schenkungen, sondern beides bereits im 10. Jahrhundert und vermutlich durch Willen und Voll-
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macht der vereinigten Grafschaftsvölker empfangen hatte (oben: § 450). Viel eher als Adalbert hätten sich also der Herzog und die sächsischen Großgrafen auf das Würzburger Beispiel berufen können, um ihre Landesherrschaft zu rechtfertigen. Unter diesen Umständen mußte Adalbert etwas unternehmen, was vor ihm noch kein Bischof getan hatte: Anstatt königlicher Komitatsrechte über Gau- und Dinggrafschaften mußte er großgräfliche Rechte erwerben, die gar nicht mehr zur Disposition des Königs standen! § 571. Zwar erlangte Adalbert bereits 1047 / 48 von Kaiser Heinrich III. die Zusage, daß das Reich seine Pläne betreffend die Großgrafschaften in Friesland und Westfalen unterstützen würde (Adam III 8 und 28) – es handelte sich dabei um illum maximum Fresiae comitatum (ebd. III 46), den damals Herzog Gottfried von Niederlothringen innehatte, dessen sich aber wenig später Graf Ekbert I. von Braunschweig bemächtigte, und um die Großgrafschaft Bernhards von Werl im Emsgau und in Westfalen (oben: § 468) –, aber dann hoben die Schwierigkeiten, die Adalbert zu überwinden hatte, überhaupt erst an: Er mußte die Zustimmung der Betroffenen erlangen. Nach Adam, der damals noch nicht in Bremen lebte und hernach offenbar keine ganz zuverlässigen Nachrichten mehr erhielt (dicunt III 46 S. 189 Z. 3), erlangte er schließlich drei Grafschaften. Für die in Friesland entrichtete er Kaiser Heinrich III. tausend Pfund Silber, wovon der (nominelle?) Inhaber Graf Ekbert, welcher Vasall der Bremer Kirche geworden, zweihundert Pfund übernahm. Den Komitat Udos von Stade gewann Adalbert offenbar, ohne dafür dem Könige etwas zu bezahlen, jedoch mußte er dem Grafen, dessen Zustimmung er offenbar brauchte, Kirchengüter im Werte von tausend Pfund Silber übertragen. Adam läßt es merkwürdigerweise offen, ob es sich dabei um den jährlichen Ertrag oder um den Kaufpreis handelte. Für den Komitat im friesischen Emsgau, erfuhr Adam, habe Adalbert dem König eine Gabe von tausend Pfund Silber zugesagt. Vierzig Jahre später und zwanzig Jahre, nachdem Adam seine Ermittlungen angestellt hatte, behauptete Adalberts Nachfolger gegenüber Kaiser Heinrich IV., Adalbert habe auch dem Grafen Bernhard einen Preis entrichtet, um seine Einwilligung zu erhalten (MGH. DH. IV. 452 vom Jahre 1096, oben: § 469); Adam weiß davon nichts und zweifelte wohl auch daran, daß der Graf der königlichen Schenkung zugestimmt hatte, denn er berichtet uns lediglich, Bernhard habe den Vogt oder Grafen Gottschalk, den Adalbert im Emsgau einsetzte, erschlagen (Adam III 46). Mit Herzog Bernhard II. von Sachsen und dessen Nachfolger Ordulf scheint der Erzbischof überhaupt nicht ins Geschäft gekommen zu sein. Wir hören nichts davon, daß er irgendeine billungische Grafschaft gewann, obwohl ihm doch daran besonders viel gelegen gewesen sein muß. Die königlichen Diplome, die der Bremer Kirche in den Jahren 1057 und 1063 die Übertragung der Grafschaften verbrieften, schweigen sich über die seit spätestens 1047 geführten Vorverhandlungen, über die Konsense der Beteiligten und über Adalberts Zahlungen vollkommen aus. Sie teilen uns lediglich mit, daß der
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Erzbischof die Ausfertigung erbat und der König die von ihm geleisteten Dienste würdigte. Was Friesland betrifft, so hatte Graf Ekbert seine Rechte offenbar dem König aufgelassen; er wird als Vorbesitzer der Grafschaft nicht mehr erwähnt, die Grafschaft als nostri iuris bezeichnet (DH. IV. 18). Wenn aber der König dem Erzbischof gleichzeitig das Recht gewährte, in Winsum und Garrelsweer Märkte zu gründen, so weist uns dies darauf hin, daß Adalbert seine Pläne wenn schon nicht mit den Friesen, so doch mit den in Friesland Handel treibenden Kaufleuten von Bremen abgestimmt hat, denn nur diese waren mit den friesischen Verkehrsverhältnissen vertraut und imstande, dem Erzbischof und dem Könige die für solche Zwecke am besten geeigneten Orte zu benennen. Anders als Ekbert blieben die Grafen Udo von Stade und Bernhard von Werl über den Tag der Verleihung hinaus im Besitz der Grafenrechte (DH. IV. 112, 113), die sie zuvor durch königliche Bestallung erlangt hatten; aber die Reichskanzlei hielt es nicht für nötig zu erwähnen, daß oder ob sie der Übertragung der Königsrechte auf die Bremer Kirche zugestimmt hatten. Niemand weiß, wie das unterschiedliche Verhalten der drei Grafen und der Herzöge zu Adalberts politischen Plänen zu erklären ist. Besaß der Erzbischof ein Mittel, um Ekbert in die Vasallität und zur Übernahme eines Anteils an seinen Unkosten zu zwingen? Ließ er sich von Udo übervorteilen? Warum vermochte er die Herzöge nicht zu gewinnen? Wie brachte er die notwendigen ungeheuren Geldsummen auf? Genügte es, wie Adam berichtet, dafür den Domschatz einzuschmelzen, oder mußte er darüber hinaus die Kaufleute und bäuerlichen Bewohner seiner Immunitätsorte um Beisteuern ersuchen? Sollten er und die Grafen ein Jahrzehnt lang und darüber hinaus über die Verfassung der Grafschaften miteinander verhandelt haben, ohne die Landtage der betroffenen Untertanenverbände (oben: §§ 466, 469, 470) hinzuzuziehen, auf deren Rat und Zustimmung sie angewiesen waren, um überhaupt regieren zu können? Wenn aber dieses geschah, müssen wir dann nicht auch eigene Interessen der Grafschafts- und Landesgemeinden an den Lösungen, die sie unterstützten, voraussetzen? Ist die Grafschaftspolitik des Erzbischofs auch deswegen gescheitert, weil er sie gegen den Willen der Grafschaftsvölker betrieb? § 572. Denn für gewöhnlich handelten Bischöfe, die sich beim König als Petenten oder Intervenienten um die Überlassung von Grafschaftsrechten bemühten, nicht als einzelne Personen, sondern als Worthalter der Bistumsgemeinde, die sie zu ihrem Haupte erkoren oder angenommen hatte, die an ihrem Privilegienstande beteiligt war (oben: §§ 231, 306, 327b, 434, 468) und ihnen bei der Verwaltung der weltlichen Angelegenheiten ihrer Kirche Beistand leistete, da sie ohne ihre Hilfe namentlich den ihnen obliegenden Reichsdienst nicht hätten erbringen können (oben: §§ 244, 428, 429). In ihrem Rate saßen und zu ihren Synoden erschienen daher die Häupter und Worthalter der Teilgemeinden, aus denen sich das Bistumsvolk zusammensetzte, und dazu zählten nicht nur die Vögte und Ministerialen ihrer Hofrechtsverbände (oben: §§ 375, 376), sondern auch die Grafen, Schöffen und
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vornehmen Grundbesitzer jener Dinggemeinden, deren Dingstühle innerhalb ihrer Diözese gelegen waren. Den Grafschaftsvölkern aber oblag es insbesondere, das Königsgut und die königlichen Rechte in ihren Bezirken zu kennen, sie während der Interregnen oder der Vakanz der Bistümer und Grafschaften zu schützen und sie den neuen königlichen Amtleuten bei deren Annehmung zuzuweisen (oben: §§ 300b, 420, 429). So war ein einst königlich gewesenes Gut im Chiemgau cum totius populi iudicio dem Fiskus des Herzogs von Bayern zugewiesen und cunctis videntibus dem Grafen Eberhard übergeben worden, bevor König Otto es im Jahre 946 dem Empfänger übereignete (MGH. DO. I. 78). Auf denselben volksrechtlichen Schutz war das Reichskirchengut angewiesen. Als das Bistum Bamberg, das gewiß bereits bei der Gründung im Jahre 1008 von Kaiser Heinrich II. mit Komitatsrechten ausgestattet worden ist, ein Vierteljahrhundert später von Konrad II. die erste allgemeine Bestätigung seines Besitzes an Gütern, Grafschaften und sonstigen Rechten empfing, geschah dies so, daß die jeweiligen Bischöfe zwar freie Vollmacht erhielten, darüber zu verfügen, dies jedoch nur mit Willen des Klerus und des Bistumsvolkes, liberam potestatem cum consensu cleri et populi habeant res et proprietates eiusdem ecclesiae ordinare componere commutare et augmentare (DKo. II. 206). Diese Bindung der bischöflichen Gewalt an Rat und Zustimmung des Landes, wie wir wohl übersetzen dürfen, ist nicht nur in die späteren Erneuerungen dieses allgemeinen Privilegs (DH. III. 3. DH. IV. 39, 479) übergegangen, sondern auch in die spezielle Bestätigung der königlichen Rechte an vier genannten ostfränkischen Gaugrafschaften aus dem Jahre 1068 (DH. IV. 208). Ein Grund für die Annahme, daß diese Bindung des Bischofs als Obergrafen an den Willen des Landes eine bambergische Besonderheit gewesen sei, ist nicht zu erkennen. Es ist wohl als Folge der bereits erwähnten, auffällig knappen Fassung der Grafschaftsdiplome anzusehen, daß die Bindung an den Willen des Landes in ihnen sonst nicht geäußert wird. Als König Heinrich IV. der Kirche zu Aquileja im Jahre 1081 das bereits mit den Grafschaftsrechten in seiner Diözese ausgestattete Bistum Trient übertrug, wurde es aber doch noch einmal ausgesprochen, daß nicht der Bischof allein, sondern das ganze Land für den Königsdienst aufzukommen hatte: Statuimus etiam nostra auctoritate, ut episcopus eiusdem Tergestine civitatis et clerus et populus per totum episcopatum servitium nobis debitum Aquilegensi patriarche impendent (DH. IV. 338). Es ist demnach eine gut gesicherte Vermutung, daß sich jeder Bischof, der den König darum ersuchte, die königlichen Rechte an den in seiner Diözese gelegenen Grafschaften seiner bischöflichen Kirche zu übertragen, vorher mit den Großen der Diözese und ihrer Grafschaften über die Zweckmäßigkeit dieses Gesuches verständigt und geeinigt habe. Kein König mußte daher befürchten, mit seinem Privileg die betroffenen Grafen, Grafschaftsvölker und Länder gegen sich aufzubringen, solange, bis sich Erzbischof Adalbert von Bremen über diese Verfahrensregel hinwegsetzte. Und nicht jeder Bischof, der sich mit einer solchen Bitte an den König
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wandte, muß dies aus eigenem Antrieb getan, es könnte ihn auch ein Begehren des Landes und der bischöflichen Räte überhaupt erst dazu bewogen haben.
§§ 573 – 575. Eigentum und Leihe nach volks- oder öffentlichem Recht § 573. Der comitatus, den der König einer bischöflichen Kirche übertrug, machte einen Teil jener hoheitlichen Gewalt aus, die das Volk seinem Herrscher anvertraute, wenn es ihn zu seinem Haupte erhob. Insofern, als der König Teile davon an Fürsten veräußern und diese sie erwerben konnten, glichen diese königlichen Gewaltrechte dem Eigentumsrecht des Königs an seinem Erb- oder Hausgut. Sie belasteten den Inhaber jedoch stets mit der unablösbaren Pflicht, sie zum Nutzen und im Dienste des Reiches zu verwenden. Wenn die Reichskanzlei daher den königlichen Komitat hinsichtlich der Veräußerlichkeit gelegentlich als königliches Eigentum bezeichnete, so benutzte sie das Wort proprietas doch immer bloß als Synonym für das Königsrecht oder die königliche Hoheit. Wo sie in den Diplomen diese selbstverständlichen Umstände überhaupt erwähnte, konnte es daher heißen, der König übertrage quendam nostre proprietatis oder nostri iuris comitatum (DH. III. 77. DH. IV. 18); die Übertragung erging de nostro iure et dominio (DO. III. 366) oder ex nostra regali potestate (DH. IV. 206), und sie erfolgte prout firmissime potuimus (DH. II. 142), prout iuste ac legaliter possumus (DH. II. 444) oder potestative . . . et de nostro iure (DH. III. 77). Zu demselben Rechte empfing aber auch die Bischofskirche den königlichen Komitat. Der König übergab ihn ihr in proprium, wie es in den Diplomen in den meisten Fällen heißt (z. B. DH. II. 142, 225. DKo. II. 101, 178. DH. III. 101, 280. DH. IV. 18, 112), oder in ius et dominium oder in suum ius . . . in proprium (DO. III. 366. DH. III. 77). Erläutert werden konnte dieses Eigentum durch Zusätze wie in proprium perpetuo iure possidendum (DH. IV. 206), in proprium . . . ea ratione ut . . . eundem . . . potestative (firmiterque perpetua stabilitate) retineant (DH. III. 279. DH. IV. 22) oder potestative possideant (DH. II. 268). Das wesentliche war aber auch gesagt, wenn es bloß heißt, der Komitat werde perpetualiter habendum oder in perpetuum übertragen (DKo. II. 64, 169). Denn darauf kam es an: auf die ewige, wenn auch nicht unwiderrufliche Dauer des Rechtes, welches hinfort der Kirche an dem comitatus zustehen sollte. Man sieht, daß die Reichskanzlei im 11. Jahrhundert noch nicht über eine völlig feststehende Terminologie verfügte, um den hoheitlichen Charakter der königlichen Verfügung auszudrücken. Der Sprachgebrauch und das in ihm enthaltene Rechtsdenken der Reichsregierung, aber auch der Bischöfe, die ihr als Petenten und Intervenienten angehörten, dann aber folglich auch der Bistums- und Grafschaftsvölker, mit deren Rat und Willen die Bischöfe handelten, kurzum: die Volksrechtssprache lehnte sich auf der Suche nach dem treffenden Wort an die Ausdrucksweise der Privaturkunden an, welche vom freien (allodialen) Grund-
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eigentum alt- oder edelfreier Hausherren handelten. Wir sahen, daß dort das Erbe oder Eigen proprium (oben: § 94), das Eigentumsrecht ius et dominium, ius et proprietas, ius et utilitas (oben: §§ 96, 99), die Verfügungsmacht des Eigentümers über die Sache potestas (oben: § 97), das Innehaben der Sache iure proprietario possidere oder in proprium habere (oben: §§ 96, 295) hieß und daß der Eigentümer potestative oder manu potestativa mit seinem Gute verfuhr (oben: §§ 295 – 297). Aber deswegen faßte man doch die hoheitliche Verfügung des Königs nicht als privatrechtliches Liegenschaftsgeschäft auf, stellte man doch den König und den Bischof nicht beliebigen altfreien Grundbesitzern gleich. Daher vermied es die Reichskanzlei sorgsam, die bischöfliche Bitte und die königliche Konzession als Teile eines Vertrages (einer sala oder traditio, oben: §§ 95, 296), die Übertragung der Grafschaft als aus königlicher Auflassung und bischöflicher vestitura (oben: §§ 94, 95, 295, 296) bestehend zu beschreiben. Namentlich der Begriff der Investitur, den zu dieser Zeit die Kirchenreformer in Umlauf brachten, um aus der königlichen Bestallung eine Belehnung zu machen (oben: §§ 547 – 549), ist den Grafschaftsurkunden so vollständig fremd, daß sich damit unsere Ansicht bestätigt, der Rechtsauffassung des Volkes sei diese Vorstellung unbekannt gewesen. So zeigt der Sprachgebrauch der Königsurkunden trotz seiner terminologischen Unschärfen doch, daß man sich des Unterschiedes zwischen nur dem Könige zukommendem und allen freien Männern offenstehendem Eigentum, des Unterschiedes zwischen hoheitlichen Regierungsakten und den Geschäften des gewöhnlichen Liegenschaftsverkehrs, und warum sollen wir es nicht aussprechen, folglich auch des Unterschiedes zwischen öffentlichem und privatem Rechte deutlich, wenn auch nicht mit allen jenen Konsequenzen, die gelehrte Juristen daraus hätten ziehen können, bewußt war. § 574. Voraussetzung dieses Bewußtseins war allerdings der Umstand, daß das Königtum und die Bischofskirchen in einem anderen und höheren Sinne öffentliche Einrichtungen bildeten als alle von weltlichen Häuptern geleiteten partikularen Untertanenverbände – auch die der Regna, Dukate und Großgrafschaften, die doch offensichtlich schon seit dem 9. Jahrhundert, wenn auch nicht auf Grund einer ausdrücklichen königlichen Konzession, ebenfalls in ihren Gewaltbezirken den königlichen Komitat ausübten. Denn während die Bistümer verfassungsrechtlich mit dem Königtum insofern auf einer und derselben Stufe standen, als sie in gleichem Maße des Eigentums am Königs- und Reichsgute fähig waren wie der Herrscher selber, scheinen die genannten weltlichen Fürstentümer dieser Fähigkeit ebenso entbehrt zu haben wie die Gau- und Dinggrafschaften, die im Range unter jenen standen, da ihre Häupter lediglich über den gräflichen Komitat, oder wie es im Sachsenspiegel heißt (oben: § 562), über das Schultheißentum geboten. Zu diesem Schlusse sehe ich mich durch den Umstand genötigt, daß die Grafschaftsdiplome den Grafen, die die betroffenen Grafschaften sei es zuletzt, sei es weiterhin innehatten, niemals den eigentümlichen, sondern lediglich einen leihweisen Besitz ihrer Grafenrechte zuschreiben. So übertrug Kaiser Konrad II. im Jahre
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1027 der bischöflichen Kirche zu Trient genannte Grafschaften so in proprium, wie sie duces comites sive marchiones huc usque beneficii nomine habere visi sunt (DKo. II. 101, 102), und als 1051 die Hildesheimer Kirche von Heinrich III. die Großgrafschaft der Brunonen empfing, sagte die Urkunde: comitatum quem . . . comites ex imperiali auctoritate in beneficium habuerunt, in proprium dedimus (DH. III. 279). Heinrich IV. fügte dem später zwei weitere Grafschaften hinzu, welche genannte Grafen ex regali potestate bzw. ex imperiali donatione in beneficium habuerunt (DH. IV. 206, 218). Dasselbe Rechtsverhältnis ist vorauszusetzen, wenn zwar vom beneficium nicht ausdrücklich die Rede ist, von der Grafschaft aber gesagt wird, daß der namentlich genannte Graf sie ad presens tenebat (DO. III. 16), sie dum vixit tenuit (DH. II. 439) oder sie ex imperiali nostro tenuit munere (DH. II. 444). Bei der letztgenannten Wendung scheint es mir ebenso ausgeschlossen zu sein, an eine vasallitische Leihe zu denken, wie dort, wo der König comitatum quondam Welfoni commissum oder potestatem comitatus quam Hermannus comes habet einer Bischofskirche übertrug (DKo. II. 103, 178). Das Wort beneficium wird hier ebensowenig in dem liegenschaftsrechtlichen Sinne verwandt, der ihm in anderem, lehnrechtlichem Zusammenhange (oben: §§ 125, 134b) durchaus zukommen konnte, wie zuvor der Begriff proprium, mit dem es in etlichen Grafschaftsurkunden unüberhörbar korrespondiert. Wie dieser, so ist auch das beneficium im Kontext einer solchen Urkunde ein öffentlich-rechtlicher Begriff. Er bezeichnet die öffentliche Bestallung einer natürlichen Person mit einem königlichen Amte, denn diese war in zwar nur einer, aber eben einer sehr wesentlichen Hinsicht der Bodenleihe ähnlich und vergleichbar, nämlich darin, daß sie die privatrechtliche Vererbbarkeit der übertragenen Rechte ausschloß (oben: §§ 552, 553). Die durch königliche Bestallung und volkliche Annehmung begründete Amtsgewalt konnte genauso wenig wie die durch grundherrliche Belehnung verliehene Gewere von dem Inhaber durch dessen Rücktritt, Absetzung oder Tod auf den Erben seines persönlichen Eigentums übergehen, sondern fiel an den König zurück. § 575a. Nur Institutionen wie den unsterblichen Bischofskirchen legte demnach das Volksrecht die Fähigkeit bei, Reichsgut als Eigentümer innezuhaben. Schon die Reichsklöster, die allein an einem Konvente eigentumsloser Brüder und an einem neufreien Hofverbande, nicht aber an einer altfreien Gemeinde von Grundbesitzern einen Rückhalt hatten (oben: § 437) und sich daher der Willkür ihres königlichen Eigenkirchenherrn kaum entziehen konnten, waren solchen Eigentums in Wahrheit nicht fähig, denn kaum einmal sind ihnen Grafschaften übertragen worden, und wo dies geschah, da pflegte es sich um Kleingrafschaften zu handeln, die sich kaum noch von königlichen Bannimmunitäten unterschieden (DH. II. 268, 509. DKo. II. 23. DH. III. 48, 101. H. Hoffmann 1990 S. 458 – 461). Das freiweltliche Damenstift zu Gandersheim stand in dieser Hinsicht den Bischofskirchen näher als den Klöstern (DH. II. 444, oben: § 304). Wenn der König seinen Komitat einer unsterblichen bischöflichen Kirche übertrug, so erlangten deren Bischöfe die Komitatsbefugnisse nach Amtsrecht, nämlich
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als einen Teil ihrer bischöflichen Amtsbefugnisse, und nach Amtsrecht fiel der Komitat nach ihrem Tode ebenso notwendig an die Kirche zurück, die den Nachfolger zu erheben hatte, wie er vorher an den König heimgefallen war, der die Erhebung lenkte. In den wenigen Fällen, wo der König seinen Komitat nicht der Kirche, sondern dem derzeitigen Bischof und dessen Nachfolgern zu eigen gab (DO. III. 366. DH. III. 279, 301), steht zweifellos die als unendlich gedachte Reihe der Bischöfe für die bischöfliche Kirche selbst, die man sehr wohl mit jener identifizieren durfte; die Reichskanzlei verwandte beide Ausdrucksweisen als Synonyme. Der übertragene Komitat aber unterlag auch als Eigentum einer Bischofskirche weiterhin derselben Beschränkung wie alles Königsgut: Die Bischöfe konnten zwar frei darüber verfügen, jedoch nur zum Nutzen ihrer Kirche und damit des Reiches, dem das Königsgut auch dann zu dienen hatte, wenn es einer Reichskirche gehörte. Es war diese in der Mehrzahl der Grafschaftsdiplome (z. B. DH. II. 142. DKo. II 23. DH. III. 101. DH. IV. 206) enthaltene Klausel, in die man in Bamberg die Bedingung cum consensu cleri et populi einzufügen pflegte (oben: § 572). Angesichts der Bischofskirchen war dem christlich gewordenen Volke im frühen Mittelalter offensichtlich ein erster Begriff von überpersönlichen (oder transpersonalen: H. Beumann 1956) Institutionen, von als unsterblich fingierten Gesamtpersonen aufgegangen, wie man ihn mit weltlichen Regna, Dukaten und Grafschaften noch nicht zu verbinden pflegte. Denn wo es um Kirchen ging, brauchten sich Schöffen und Rechtskundige das Fiktive dieser Vorstellung nicht bewußt zu machen (das taten erst später die gelehrten Entdecker der juristischen Person), wenn sie nur an Gottes reale Existenz, an das Kirchenrecht als Norm des göttlichen Willens und an die Kirchen als göttliche Stiftungen glaubten. Immer wieder sahen sie ja mit eigenen Augen, daß der Bischof nicht nur die königliche, sondern auch eine kirchliche oder göttliche Bestallung empfing, daß er als treuhänderischer Eigentümer von Reichsgut dem Könige gleichgestellt war und daß das Kirchengut, soweit es unveräußerlich und unvererblich war, außerhalb des gewöhnlichen, volksrechtlich normierten Güterverkehrs stand. Dies alles trug dazu bei, daß das weltliche Recht die Bischöfe als besonders ausgezeichnete Verbandshäupter anerkannte und ihnen Eigenschaften beilegte, deren Herzöge und Großgrafen nicht teilhaftig waren, auch wenn ihnen der königliche Komitat, den jene jetzt erwarben, seit langem zustand. Den italienischen Beratern des Königs lag es näher als den sächsischen oder fränkischen, sich den darin enthaltenen Grundsatz bewußt zu machen, weil der südlich der Alpen sehr lebhafte Liegenschaftsverkehr im Begriffe war, das von den Kirchen verwaltete Reichsgut zu privatisieren, so oft dessen zeitliche Verwalter die Beschränkungen außer Acht ließen, denen es auch unter königlicher Verwaltung unterlag: Nam cum regibus et imperatoribus ea que regni et imperii sunt, nisi se vivis, dare non liceat, exceptis ecclesiis, quomodo abbatibus et episcopis res aecclesiarum per tempora suorum successorum distribuere liceat? wie Kaiser Otto III. bereits im Jahre 998 gefragt hatte (MGH. Const. 1, 49 n. 23, hier: S. 50 Z. 18 – 21. F. Keutgen 1918 S. 11). – Nicht beipflichten kann ich der Auslegung, die F. C.
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Faußner (1973) den königlichen Verfügungen iure beneficiario und iure proprietario zuteilwerden läßt (unten: § 714). Die von den Bischöfen seit jeher betriebene Sakralisierung und Theokratisierung des Königtums (unten: Zwanzigstes Kapitel) hatte nicht weniger als die Gleichstellung der Bischöfe mit den Königen längst auf die Vorstellung abgefärbt, die sich das Volk vom König und vom Fränkischen Reich machte. Auch diese dachte es sich als unsterbliche und unvergängliche Institutionen, und daher legte es auch seinen Königen die Fähigkeit bei, das ihnen vom Volke zugewiesene Reichsgut wie Eigentum innezuhaben. Diese Denkweise war nur deswegen möglich, weil die Franken ihr Weltreich und ihr Königtum als gottgewollt und im göttlichen Schöpfungsplan begründet glaubten. § 575b. Alles dies galt noch nicht von den Herzogtümern, Großgrafschaften und Dinggrafschaften. Noch legte niemand deren Häuptern eine gottgewollte Herrschaft oder Obrigkeit bei. Denn selbst wenn sich einige von ihnen bereits mit dem Prädikat „von Gottes Gnaden“ schmückten, so bedeutete dies doch etwas anderes, als wenn es der König oder in späteren Jahrhunderten die Landesherren taten (oben: §§ 339, 374, 487, 513). Noch dachte niemand daran, in ihnen und ihren Untertanenverbänden überpersönliche und gottgewollte Institutionen vor sich zu haben, sah man doch, daß sie nur eine weltliche Bestallung vom Könige empfingen, daß ihre Dynastien, Häuser, Geschlechter ebenso vergänglich waren wie ihre Reichtümer und daß sich ihre Macht auf den Beistand der Untertanen und damit auf den Willen und das Recht sterblicher Menschen gründete. Aber auch deren Verbänden legte man noch keine vom Dasein der einzelnen Genossen abstrahierbare Existenz bei, sah man doch ständig Siedlungen gegründet werden und wüstfallen, Landesgemeinden einswerden und sich auflösen, Regna und Dukate aus dem politischen Willen von Königen und Großen hervorgehen und wieder dahinschwinden. Abgesehen vom Reiche, verhieß der christliche Glaube noch keiner irdischen Macht jene ewige Dauer, deren sich allein Gottes Kirchen gewiß sein konnten. Sterbliche physische Personen aber waren von Rechts wegen nicht fähig, wie Reichsrechte überhaupt, so auch Grafschaften zu Eigentum innezuhaben; sie konnten sie lediglich wie ein Leihegut in beneficium, d. h. höchstens auf Lebenszeit empfangen. Dies galt nicht nur für Laien, sondern auch für solche Bischöfe, welche der König allein für ihre Person begabte, ohne ihrer Kirche zu gedenken. So empfing Bischof Bernward von Hildesheim die Grafschaft Mundburg für die Dauer seines Lebens in beneficiarium ius (DH. II. 259), um die Kosten ersetzt zu erhalten, die ihm der Bau der Mundburg verursacht hatte, und der Bischof von Worms übernahm die Komitate im Wingarteiba und im Lobdengau nicht in proprium, sondern lediglich in sue ditionis manum, also für sich persönlich (DH. II. 226, 227). Ein Gut oder Recht in beneficium zu halten bedeutete also, es nur vorübergehend zur Leihe oder auf Borg zu besitzen, in einem Rechtsverhältnis, das die Römer hätten als possessio oder Besitz bezeichnen können, für das aber den Schöffen,
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denen es im Ostfränkisch-deutschen Reiche oblag, das Recht zu erkennen und zu überliefern (oben: § 555), nur der Begriff der Nutzungsgewere zur Verfügung stand. Der nun war in lat. Sprache so schwer wiederzugeben, daß manche Notare sogar zu dem „spitzfindig-dummen“ Ausdruck „Erbrecht auf Lebenszeit“ griffen (oben: § 128b), um sich in ihrer Not zu behelfen. Meistens aber bedienten sie sich der Worte beneficium oder ius beneficiarium. Wie alle Geweren an Reichsgut und Reichsrechten, so unterlag auch dessen vorübergehender oder leihweiser Besitz den Normen des Volks- und Amtsrechtes. Es ist weder richtig noch nötig, mit dem Worte beneficium in jedem Falle ein Innehaben nach dem Recht der vasallitischen Bodenleihe zu verknüpfen oder anzunehmen, ein in beneficium übertragenes Amt habe dem Inhaber Einkünfte verschaffen sollen, gleich als ob es ein nach Lehnrecht in beneficium gegebenes Landgut gewesen wäre, als ob eben das Amt Gegenstand der Verleihung gewesen sei und die Bedeutung der Sache wesentlich darin bestanden habe, daß der Inhaber die mit dem Amte verbundenen Vorteile für sich zog (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 6). Vielmehr ließ die Übertragung eines Amtes auf Lebenszeit die volks- und amtsrechtliche Pflicht des Inhabers, dem Könige oder einer Bischofskirche von seiner Verwaltung Rechenschaft zu geben, in keiner Weise erlöschen. Noch der Sachsenspiegel kennt diese landrechtliche Ämterleihe und weist, wo er von der Bannleihe spricht, deren lehnrechtliche Interpretation ausdrücklich zurück (oben: § 322b). Der Rangunterschied zwischen Bischöfen und weltlichen Fürsten dürfte sich für die Grafschaftsvölker vor allem darin fühlbar gemacht haben, daß die Gau- und Dinggrafen, die sie unter der Leitung eines Bischofs erkoren und auf Grund bischöflicher Bestallung zu Häuptern annahmen, wegen des Erfordernisses der Bannleihe (oben: § 563) doch königsunmittelbar blieben, während die von Herzögen und Großgrafen bestallten Dinggrafen mit der Amtsvollmacht auch den Gerichtsbann empfingen und daher der Gefahr ausgesetzt waren, mediatisiert zu werden.
§§ 576 – 580. Königlicher, herzoglicher und bischöflicher Komitat § 576. Die Diplome geben aber nicht nur die (eigentums- oder amts-)rechtliche Form zu erkennen, der gemäß die bischöflichen Kirchen den königlichen Komitat besitzen sollten, sondern sie äußern sich in der uns geläufigen, variierenden Ausdrucksweise auch über dessen Inhalt, also über das, was der König da im einzelnen aus der Hand gab. Betreffend die Grafschaft zu Huy, die die Lütticher Kirche im Jahre 985 von König Otto III. empfing, war dies die Vollmacht zu bestimmen, welchem Getreuen des Bischofs und des Königs die Grafschaft gegeben werden sollte, denn niemand sollte in Huy Graf oder Richter sein, der nicht vom Bischof einoder unter sich gesetzt, suffectus, wäre, und ferner die Erlaubnis, alle Gefälle entgegenzunehmen, die der königlichen Kammer aus der Grafschaft zukamen (DO.
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III. 16). Der königliche Komitat enthielt demnach die dreifache Befugnis, bei vakanter Grafschaft die Kur des künftigen Grafen zu lenken, den Gekorenen zu bestallen und den Ertrag des zur Grafschaft gehörigen Fiskus einzuziehen. Dieselbe Dreiheit konzedierte der König im Jahre 1000 der Würzburger Kirche, diesmal unter Voranstellung der königlichen Einkünfte, als deren Quellen das Hochgericht (cum omni districto placito et banno nostro imperiali lege et iudicum iudicio) und die Fiskalgüter (cum omni utilitate rei publicae, oben: § 300b, unten: § 626) genannt werden; hinzu kam die Befugnis, die Komitate nach Belieben zu ordnen und die vom Bischof erkorenen Grafen zu bestallen (comitatus qualitercumque voluerint ordinent et quos velint comites ponant, DO. III. 366). Von da an tritt je länger, desto mehr der Genuß der königlichen Einkünfte an die erste Stelle und macht das Recht, den Grafen zu bestimmen, zu einer Beigabe, die der Sicherung jenes ersten Zweckes diente – was um so nötiger war, als zur gräflichen Amtsvollmacht eine (Unter-)Gewere am Königsgut gehört haben muß (oben: § 146). So übertrug Heinrich II. den Bischöfen von Cambrai potestatem eundem comitatum in usum aecclesiae supra dictae tenendi, comitem eligendi, pannos habendi seu quicquid sibi libeat modis omnibus inde faciendi (DH. II. 142; pannos = Einkünfte aus dem Hochgericht: H. Hirsch 1922 S. 176), und als Konrad II. der Utrechter Kirche die Grafschaft im Teisterbant cum omni utilitate übergab, bestimmte er, daß dort niemand ohne des Bischofs Erlaubnis gebieten sollte, quia totum sibi concessimus quiquid utilitatis in illo habemus, et ut firmiora sese inibi haberent iura legalia, bannum statuimus illi dare, quemcumque vellet episcopus ad regendum eligere (DKo. II. 64). Immer weniger Urkunden gedenken seither der königlichen Vollmacht, die Grafenwahl zu lenken und den Grafen zu bestallen, immer häufiger übertrugen sie der bischöflichen Kirche einfach den Komitat cum omnibus suis pertinentiis et utilitatibus (DKo. II. 101), cum omni usu iureque ad eum legaliter pertinente (DKo. II. 103), cum omni (iure et) utilitate quae ullo modo inde provenire potest (DH. III. 279. DH. IV. 206, 424), oder wie immer es den Petenten und der Kanzlei beliebte, die Einkünfte zu umschreiben. Nur selten wird daneben die Vollmacht zu bestallen noch einmal erwähnt (eundem comitatum potestative habeant et cui velint tradant, DH. III. 280), obwohl sie gewiß auch weiterhin in jedem königlichen Komitat enthalten war. Nur war sie eben nicht die Haupt-, sondern eine Nebensache. In der Hauptsache ging es um die Einkünfte, die dem Könige aus seinen Grafschaften zustanden. Bezüglich der Paderborner Kirche wird uns berichtet, daß Kaiser Heinrich II. mit seinen Zuwendungen an sie ihrer Armut abhelfen wollte, und bei der Übertragung der Grafschaft Augst an die bischöfliche Kirche zu Basel wird dieser Zweck sogar von der Reichskanzlei erwähnt (DH. III. 77). Die wichtigste Wirkung der Grafschaftsübertragungen bestand demnach darin, daß Grafen, Schultheißen und Domänenverwalter den königlichen Anteil an den Gerichtsgefällen und Fiskalerträgen nicht mehr an die nächste Königspfalz oder königliche curtis, sondern an den Bischof der bewidmeten Kirche abzuführen hat-
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ten. Daß es hierauf angekommen sei, ist neuerdings bezweifelt worden, da vermutlich ein Kirchenfürst, der vom Könige eine Grafschaft erhielt, diese aber wieder an einen Grafen austat, davon Einnahmen nicht gehabt haben werde (H. Hoffmann 1990 S. 461, 464 – 467). Dahinter steht offenbar die althergekommene Überzeugung, die Grafen hätten ihr Amt zu Lehen getragen, mit dem Lehen aber sich die Einkünfte kurzerhand aneignen können. Dem steht entgegen, daß die Grafschaften ersichtlich nicht als Lehen betrachtet und behandelt worden sind, daß die gräflichen Fisken im 11. Jahrhundert noch intakt waren (oben: §§ 303 – 306) und daß die Hinterziehung ihrer Erträge just zu der Zeit eingetreten sein soll, als sich das Königtum auf einem Höhepunkt seiner Macht befand – sollen doch gerade die Könige die Grafen zur vermeintlichen Lehnstreue gegenüber den Bischöfen angehalten haben (oben: § 567)! Für die königliche Kammer wird die Umleitung ihrer Einkünfte von den Pfalzen auf die Bischofskirchen vorteilhaft gewesen sein. Wären sie hier nicht wirklich angekommen, so hätte der Verlegung der Königsaufenthalte von den ländlichen Pfalzen in die Bischofsstädte, die im 11. Jahrhundert vor sich ging (I. R. Robinson 1999 S. 6, 9), die wirtschaftliche Grundlage gefehlt. § 577. Im Jahre 1027 übergab Kaiser Konrad II. der bischöflichen Kirche zu Trient die Grafschaften Trient, Vintschgau und Bozen. Diese waren im Jahre 952 zu der damals von König Otto I. eingerichteten Mark Verona gelegt worden, die seit 976 der Herzog von Kärnten mitverwaltet hatte. Kaiser Konrad muß folglich die königlichen Rechte zuvor von dem Herzog-Markgrafen zurückerhalten haben, um sie der Trienter Kirche schenken zu können, doch wissen wir nichts über die Verhandlungen, die Bischof Hartwig mit dem Herzog und den betroffenen Grafen und Grafschaften geführt und erfolgreich beendet haben muß, bevor er an den König herantreten konnte, um dessen Privileg zu erwerben (darin er freilich weder als Petent noch als Intervenient genannt wird). Die Kirche empfing den Komitat denn auch cum omnibus . . . utilitatibus illis, quibus eum duces com(it)es sive marchiones huc usque beneficii nomine habere visi sunt, und zwar so, daß kein Herzog, Markgraf, Graf, Vizegraf oder Gastalde ohne die Erlaubnis des Bischofs darin zu gebieten hatte (DKo. II. 101, 102). So ließen besondere Umstände hier einmal ein ausdrückliches Zeugnis dafür entstehen, daß Herzögen und Großgrafen dieselben königlichen Komitatsrechte zustanden, welche seit 985 durch so viele königliche Verfügungen auf Bischofskirchen übergingen. Es dürfte demnach allgemein gelten, was für die Trienter Komitatsrechte bezeugt ist: „Der Komitat wurde . . . an die Kirchen gegeben nicht allein mit den Befugnissen, welche dort bisher den Grafen zustanden, sondern auch mit den darauf haftenden herzoglichen und markgräflichen Rechten; er wurde ganz vom Verbande des Herzogtums und der Mark gelöst“ (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 134). Es sind diese, seit dem 9. Jahrhundert außer dem Könige nur Herzögen und Großgrafen zukommenden Vollmachten (bestehend aus dem Bezug von Einkünften, der Lenkung der Grafenwahl und dem Recht, den Grafen zu bestallen),
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welche den königlichen Komitat von jenen Grafenrechten unterschieden, die die Gau- und Dinggrafen durch Bestallung und dingvölkische Annehmung erlangten. Ihr Empfang stellte die Bischofskirchen dem (niederen) Herzogtum (oben: § 539) gleich. Von ihnen ist auch sonst gelegentlich als Herzogsrechten die Rede, so z. B. in der Urkunde, mittels deren Konrad II. den Bischöfen von Bamberg, zwar ohne den Komitat ausdrücklich zu nennen, aber doch die dahin gehörigen Rechte einzeln aufzählend, Markt, Marktbann, Zoll, Mühlen und Gerichtsbann in der Villa Amberg et quicquid ad nostrum ius ducisque pertinet übertrug (DKo. II. 207). Im bayerischen Nordgau gelegen, gehörte Amberg zu der um Schweinfurt konzentrierten Großgrafschaft, in deren Nachfolge später der Bischof von Würzburg den Herzogstitel führte; Kaiser Heinrich II. hatte das Bistum Bamberg nicht zuletzt in der Absicht gegründet, diese Großgrafschaft zu zerschlagen, indem er einen Teil ihrer herzoglichen Rechte der Bamberger Kirche übergab. Was hier als Königs- und Herzogsrecht bezeichnet wird, heißt in der Bestätigung der Bamberger Grafschaftsrechte von 1068 nur noch Königsrecht: quicquid . . . regio iuri in eisdem comitatibus seu in placitis publicis legitimisve in acquisicione prediorum mancipiorumque seu in privatis causis seu in districto seu quolibet modo competebat (DH. IV. 208). Obwohl der Bischof von Bamberg also in einem größeren Bezirk den königlichen Komitat verwaltete, ist ihm, wohl mit Rücksicht auf Ansprüche Würzburgs und Bayerns, niemals der herzogliche Titel beigelegt worden. Die Herzogsgewalt des Bischofs von Würzburg über die bambergischen Grafschaften mußte im Jahre 1160 ausdrücklich aufgehoben werden (MGH. DF. I. 305. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 12 f., 70 f.). Aus den Königsrechten gingen schließlich die Regalien hervor. Im Jahre 1077 nämlich empfing die Kirche zu Aquileja die Grafschaft Friaul cum omnibus ad regalia et ad ducatum pertinentibus, hoc est placitis collectis fodro districtionibus universis omnique utilitate (DH. IV. 293). Der Dukat war zu erwähnen, weil die Königsrechte an der Grafschaft zuvor beim Herzog von Kärnten gelegen hatten; der Verzicht Herzog Liutolds, welcher als erster weltlicher Intervenient an der Verleihung mitwirkte, auf die Regalien wird eine der Bedingungen gewesen sein, unter denen die Eppensteiner gleichzeitig das ihnen im Jahre 1035 entzogene Herzogtum Kärnten zurückerhielten (I. S. Robinson 1999 S. 166). „Es handelt sich nicht zunächst um ein Herzogtum Friaul, sondern um die Grafschaft Friaul mit allen Rechten, welche dort bisher dem Herzoge von Kärnten gebührten . . . Wir dürfen schließen, daß die Überlassung von Grafschaften an eine Kirche überall die etwa darauf haftenden herzoglichen Rechte in sich schloß, obgleich das nicht ausdrücklich gesagt ist, wie hier; erscheint bei mehreren Bischöfen, welche Grafschaften hatten, später ohne besondere Veranlassung eine Herzogsgewalt, so mußte das im vorliegenden Falle bei den Worten der Verleihung noch näher liegen.“ So begann man hundert Jahre später, die Grafschaft Friaul als Herzogtum zu bezeichnen (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 126 f., auch 47 – 49. MGH. DF. I. 791 S. 355 Z. 18).
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§ 578. Wenn der König den Schultheißen oder Meier, welcher einen grafschaftlichen Fiskus verwaltete, anwies, dessen Ertrag, statt an die königliche Kammer, an die örtliche Bischofskirche abzuführen, so wurde davon die Verfassung der Grafschaft nicht unmittelbar berührt. Die Amtsführung des Grafen, die Tätigkeit der Gerichte an den gräflichen Dingstühlen, die Rechte und Pflichten des Grafschaftsvolkes blieben, was sie gewesen waren, wenn hinfort anstatt des Königs der Ortsbischof die Grafenwahl lenkte und den Grafen bestallte, erteilte der König ihm doch die Befugnis, dies zu tun, offensichtlich vor allem deswegen, damit nicht dem Bischof feindlich gesonnene Männer das Grafenamt erlangten, die unter dem Vorwande der Königstreue dem Bischof die Einkünfte aus der Grafschaft hätten vorenthalten können. Die Verfassung der Grafschaft war ohnehin aller königlichen, herzoglichen oder bischöflichen Willkür entzogen, weil das Grafschaftsvolk sie im Gedächtnis bewahrte. Dabei sollte es auch dann bleiben, wenn der königliche Komitat auf einen Reichsabt überging. So erhielt Fulda einen Komitat tali iure talique constitutione, quali et debet et a principio ab omnibus sibi prelatis huc usque est habitus (DH. II. 509. DKo. II. 23). Derselbe konservative Wille spricht sich darin aus, daß mancher Bischof die königliche Grafschaft ebenso empfing, wie sie vorher ein Herzog gehalten hatte (DKo. II. 101, 102). Wenn der Dinggraf im Amte blieb, den der König bestallt hatte, bevor er seine Rechte einem Bischof übergab, so versteht sich ohnehin von selbst, daß auch die gräflichen Rechte und Pflichten unverändert fortdauerten. Nur die Würzburger Kirche empfing bereits im Jahre 1000 die Grafschaften Waldsassen und Rangau in der Weise, daß die Bischöfe prenominatos comitatus qualitercumque voluerint ordinent et quos velint comites ponant (DO. III. 366, oben: § 576). War damit eine keinem anderen Bischof zugestandene Erlaubnis gemeint, die vom Königtum geschaffene Verfassung der beiden Grafschaften neu zu ordnen? Bejaht man diese Frage, so scheint das Diplom „gewissermaßen am Anfang des viel umrätselten Würzburger Herzogtums zu stehen“ (H. Hoffmann 1990 S. 452). Allerdings lagen die beiden Grafschaften, Waldsassen im Westen gegen den Spessart hin und Rangau im Osten zur Rednitz hin, außerhalb des eigentlichen Würzburger Landes am mittleren Main und der Fränkischen Saale, welches späterhin das Territorium des Herzogtums bildete. Da es seit dem Sturze der Babenberger 906 und Herzog Eberhards im Jahre 939 in Mainfranken keine herzogliche Gewalt mehr gab, werden sich die Grafschaftsvölker und Dinggemeinden dieses Raumes zu einem Landesverbande zusammengetan und auf ihren Landtagen den Bischof von Würzburg zum Haupte und Worthalter angenommen haben, der seiner Kirche mit königlicher Duldung die herzoglichen Rechte über jene beilegen konnte (oben: § 450). Einer ausdrücklichen königlichen Erlaubnis hierzu werden sich die Bischöfe nicht erfreut haben, denn gerade hinsichtlich des königlichen Komitates über das Würzburger Kerngebiet haben sie niemals eine Königsurkunde vorgewiesen, die ihnen dessen Übertragung zugesichert hätte. Der Mangel eines solchen Diploms spricht dafür, daß das Recht der Würzburger Kirche auf den königlich-herzoglichen Komitat älter war als die ältesten Königsur-
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kunden, welche anderen Bischofskirchen dieses Recht zu verbriefen begannen. So mag denn auch das Würzburger Land schon im 10. Jahrhundert den Grund zu jener Verfassungspolitik gelegt haben, deren Resultate man später mit der herzoglichen Stellung des Bischofs identifizierte. Sie zielte nämlich darauf ab, die Grafenämter zu beseitigen und deren Aufgaben einerseits dem bischöflichen Landesherrn, andererseits den Niedergerichten der Zentgrafen zuzuteilen, deren Aufstieg zu hochgerichtlichen Kompetenzen sich bis ins 13. Jahrhundert hinzog (H. Hirsch 1922 S. 185 – 203). Zweifellos konnte es nur im Einvernehmen der Grafschaftsvölker und ihrer vornehmen Worthalter, aus deren Geschlechtern sie die Ding- und Zentgrafen zu kiesen pflegten, mit dem Bischof, der sie zu bestallen hatte, gelingen, die Grafenämter aufzuheben, ohne daß unwillige Gemeinden oder enttäuschte Große deswegen den König anriefen und eine Entscheidung des Reiches über die neue Verfassung herbeiführten. Soweit wir wissen, hat sich vor dem Beginn des 12. Jahrhunderts das Reich niemals mit der herzoglichen Stellung des Bischofs von Würzburg befaßt. Wo es aber gelang, die Grafschaft zu beseitigen, war die Folge, daß nun der Bischof einerseits unmittelbar die vorher vom Grafen eingesetzten Niederrichter bestallte, andererseits aber die nicht diesen übertragbaren Grafenrechte selber ausüben mußte. So kam es zur straffen Zusammenfassung der oberstrichterlichen Gewalt innerhalb der Diözese zu jener uneingeschränkten potestas iudiciaria, die bereits Erzbischof Adalbert von Bremen so sehr bewunderte und die später den Kern der herzoglichen Gewalt der Bischöfe bildete. Und nimmt man an, daß das Land die zu diesem Ergebnis hinführende Verfassungspolitik bereits im 10. Jahrhundert entwickelt habe, so wäre in der Ordinationsgewalt, die Kaiser Otto III. dem Bischof im Jahre 1000 verlieh, die Befugnis dazu zu erblicken, diese Politik auch in den Grafschaften Waldsassen und Rangau zu verfolgen. Dies aber hätte die Reichsregierung dem Bischof Heinrich, dessen Ehrwürdigkeit sie hervorhebt, ohne ihn offen als Petenten zu nennen, schwerlich gewährt, wenn sie sich nicht der Zustimmung der betroffenen Grafschaften und des Würzburger Landes zu ihrer Maßnahme hätte sicher sein können. § 579. Soweit wir wissen, hat vor Erzbischof Adalbert von Bremen kein anderer Bischof eine derartige Ordinationsgewalt aus dem ihm übertragenen Komitat abgeleitet oder sie auszuüben versucht. Dem Bischof Meinwerk von Paderborn etwa gelang es zwar, in einem Vierteljahrhundert fast alle Grafschaften seiner Diözese zu erwerben, er unterließ es aber, daraus eine Paderborner Großgrafschaft zu formen, geschweige denn, die Grafenämter aufzuheben; den größten Teil derselben scheint er dem billungischen Herzog von Sachsen, andere den Grafen von Northeim und denen von Winzenburg überlassen zu haben, in deren eigenen Großgrafschaften sie denn auch aufgegangen sind (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 424 – 429. H. Hoffmann 1990 S. 426 – 430). Offenbar war Meinwerk damit zufrieden, seiner Kirche die Erträge der grafschaftlichen Fisken zu sichern. So mag es sich erklären, daß Kaiser Heinrich ihm im Jahre 1021 die Grafschaft des verstorbenen Grafen Liudolf mit der doppelten Maßgabe übertrug, daß ihr Ertrag zur In-
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standhaltung der Domkirche verwandt werden solle und daß die Bischöfe sie keinem eigenen oder fremden Vasallen zu Lehen geben, sondern ihr nur einen Ministerialen der Paderborner Kirche vorsetzen dürften (Vita Meinw. c. 172 = DH. II. 440). Sollte der im 12. Jahrhundert angefertigte Auszug aus dem Diplom, darauf unsere Kenntnis von dessen Inhalt beruht, nicht überhaupt denselben nach zeitgenössischen Vorstellungen verformt haben, so kann er doch insofern nicht zutreffen, als gerade in Westfalen mit seinen zahlreichen, großbäuerlich lebenden altfreien Geschlechtern schwerlich ein bloß neufreier Ministeriale dem Grafengericht vorgesessen haben kann. Sinnvoll dagegen wäre ein Gebot, statt freier Vasallen unfreie Verwalter einzusetzen, dann gewesen, wenn es dabei um den königlichen oder grafschaftlichen Haupthof gegangen wäre, dem der örtliche Fiskus zugeordnet war, so wie zur ostfälischen curtis Dahlum der Fiskus der Grafschaft im Ambergau (oben: § 305) oder zur curtis Gerau die Grafschaft Bessungen gehörte (DH. II. 268). So begann denn etwas ganz Neues, als Erzbischof Adalbert von Bremen vor der Mitte des 11. Jahrhunderts seine Grafschaftspolitik eröffnete (oben: §§ 570, 571). Jetzt ging es nicht mehr darum, die Bremer Kirche mittels der Grafschaftsfisken zu bereichern; im Gegenteil, die Kirche hatte ihrerseits ungeheure Reichtümer aufzuwenden, um jene Politik zu ermöglichen. Und wenn sich Adalbert an der Verfassung des Bistums Würzburg ein Beispiel nahm, so wollte er die königlichen Komitate zu einem Zwecke verwenden, dem sie bis dahin noch nirgendwo gedient hatten, nämlich dazu, die Grafenämter einzuziehen und außer den königlichen auch die gräflichen Komitatsrechte in seine Hand zu bekommen. Diese Politik ist gescheitert, und sie mußte auch wohl scheitern, weil ihr die Grundlage fehlte, auf der das Würzburger Herzogtum beruhte, nämlich die Existenz eines Landes, das willens und imstande gewesen wäre, den Erzbischof zum Haupte anzunehmen. Die Bereitschaft der Reichsregierung, Adalberts Absichten zu unterstützen, konnte diesen Mangel nicht ersetzen. Zum ersten Male geschah es im Jahre 1086, daß der König einer Bischofskirche zwei Komitate derart zu eigen gab, daß die Bischöfe darin tale ius et potestatem deinceps habeant, qualem hactenus illic laici comites habuerunt (DH. IV. 381. H. Hoffmann 1990 S. 477 f.). Es waren das aber keine Gau- oder Dinggrafschaften mehr, sondern bereits Cometien (oben: § 326). Die allgemeine Auflösung der Gaugrafschaften in solche Landgerichtsgemeinden war wohl die wichtigste Ursache dafür, daß die Könige seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts keine weiteren Grafschaften mehr auf Bischofskirchen übertragen haben, während die mit den jetzt sogenannten Regalien ausgestatteten geistlichen und weltlichen Fürsten damit beginnen konnten, die alte Grafschaftsverfassung zur Landesherrschaft fortzubilden. § 580. Übertrug der König seine Komitatsrechte bezüglich einer bestimmten Grafschaft auf eine bischöfliche Kirche, so entstand damit keine Leerstelle innerhalb der Gesamtheit seiner königlichen Pflichten und Rechte. Denn es stand ihm
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nicht frei, diese nach Belieben und zu seiner Entlastung aus der Hand zu geben, hatte er doch selbst alle königlichen Vollmachten von dem Reichsvolk oder Reichsuntertanenverbande empfangen, als dieser ihn zu seinem Oberhaupt erkor und durch sein Gehorsamsgelübde mit der königlichen Gewalt ausstattete. Dem Volke blieb daher der König für die richtige Ausübung seiner Komitatsrechte auch dann verantwortlich, wenn er sie einer Bischofskirche übertragen und damit ihre Wahrnehmung deren Bischof anvertraut hatte. Wie bei allen Veräußerungen von Reichsgut und Reichsrechten, so hatte der König auch im Falle der Grafschaftsschenkungen darüber zu wachen, daß der Empfänger von den geschenkten Rechten den richtigen, und das heißt, einen dem Reiche nützlichen Gebrauch machte, und wenn er feststellte, daß der Empfänger gegen diese Pflicht verstieß oder ein anderer sie besser würde erfüllen können, so hatte er die Schenkung zu widerrufen, sein Diplom zu kassieren und die veräußerten Rechte wieder in die eigene Hand zu nehmen, eventuell, um sie von neuem zu veräußern. So machen es die Grafschaftsdiplome regelmäßg zur Pflicht der Bischöfe, den Ertrag der Schenkung zum Nutzen ihrer Kirche zu verwenden. Dieser Nutzen nämlich war identisch mit dem des Reiches, nicht nur weil das Reich christlich und der Schutz der Kirchen eine seiner vornehmsten Aufgaben war, sondern auch weil umgekehrt die Kirchen mit ihren geistlichen und weltlichen Mitteln dem Reiche dienten. Daß die Verpflichtung auf den Nutzen der Kirche die bischöfliche Willkür einschränken sollte, brachte die Reichskanzlei gelegentlich mit Hilfe der adversativen Konjunktion tamen zum Ausdruck, indem sie sagte: liberam habeant potestatem de eodem comitatu eiusque utilitatibus quicquid eis placuerit faciendi ad eorum tamen utilitatem ecclesiae (DH. II. 225. DKo. II. 169, 178; ebenso, und nicht ohne ironischen Beiklang, das Adverb scilicet: DH. II. 268). Darüber, daß die Bischöfe diese Bedingung einhielten, hatte der König zu wachen. Seine Pflicht, dies zu tun, wurde auch dadurch nicht aufgehoben, daß einige Diplome die Verfügungsmacht des Bischofs von Einsprüchen sowohl des Ausstellers als auch seiner Nachfolger auf dem Throne freistellten (DO. III. 366. DH. II. 268. DH. III. 280, 281). Denn freigestellt wurde der Bischof nur, sofern er zum Nutzen seiner Kirche verfügte, und nur von willkürlichen oder rechtswidrigen Einsprüchen eines Königs. Rechtmäßig dagegen blieb jeder königliche Widerspruch gegen dem Reiche schädliche Verfügungen eines Bischofs. Um solchem berechtigten Einspruch Nachdruck zu verleihen oder auch, um über den königlichen Komitat mit größerem Nutzen für das Reich neu bestimmen zu können, hatte der König das Recht, Übertragungen von Grafschaften zurückzunehmen. So mag Kaiser Heinrich II. die von seinem Amtsvorgänger vollzogene Schenkung der Grafschaft Rangau an die Würzburger Kirche aufgehoben haben, weil es dem Reiche größeren Nutzen brachte, wenn die von ihm neugegründete Kirche zu Bamberg diesen Komitat erhielt; die Würzburger freilich werden sich mit dieser Entscheidung nicht abgefunden haben, aber erst im Jahre 1160 hat ein Urteil des Reichshofgerichtes den dadurch ausgelösten Rechtsstreit beigelegt (DF. I. 305. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 11 – 13, 71. H. Hoffmann 1990 S. 455.
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Oben: § 577). Aus amtlicher Quelle dagegen wissen wir, daß König Konrad II. zu Anfang seiner Regierung, weil in den Geschäften noch unerfahren, einem rechtswidrigen Begehren des Erzbischofs von Mainz stattgegeben und die von seinem Vorgänger verfügte Übertragung eines Komitats auf Paderborn kassiert hatte. Erst im Jahre 1035 war die Klage Bischof Meinwerks gegen diese Mainzer Erschleichung erfolgreich, so daß der Kaiser ihm die verlorene Grafschaft zurückgab (DKo. II. 198. Oben: § 569). Niemand weiß, wie oft ein derartiger Widerruf dafür verantwortlich gewesen sein mag, daß Bischöfe einmal erworbene Komitatsrechte ihrer Kirche im 12. oder 13. Jahrhundert nicht mehr zur Territorialbildung nutzen konnten. Eine weitere Möglichkeit, dem Reiche schädliche Entscheidungen eines Bischofs zu verhindern, bot sich dem Könige deshalb, weil die vom Bischof zur Verwaltung des Grafengerichts Erwählten von ihm den Gerichtsbann erlangen mußten, da der Bischof als Geistlicher ihnen durch seine Bestallung lediglich den Gerichtsbesitz übertragen konnte (oben: §§ 323b, 575b). Für den Reichsdienst Ungeeignete brauchte der König gewiß nicht zu bestätigen. Insofern blieben also die bischöflichen Grafschaften weiterhin reichsunmittelbar. Nur selten jedoch scheint man vor dem Investiturstreit bemerkt zu haben, daß die Stellung bischöflicher Grafen derjenigen eines Hochvogtes glich, denn nur einmal, und zwar anläßlich der Übertragung der Grafschaft im Teisterbant auf die Kirche zu Utrecht, findet sich die für das Vogteiverhältnis (oben: § 322a) typische Bestimmung ut firmiora sese inibi haberent iura legalia, bannum statuimus illi dare, quemcumque vellet episcopus ad regendum eligere (DKo. II. 64. Weiter: DF. I. 497 S. 424 Z. 37 – 39, E. Mayer 1899 Bd. 2 S. 351 A. 1. Nach älterer Auffassung wird die Bannleihe bereits in DO. III. 16 S. 414 Z. 26 – 27 erwähnt: G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 259, 286 A. 3, J. Fikker / P. Puntschart 1923 S. 213 f.).
§§ 581 – 583. Mehrfacher Sinn der Grafschaftsschenkungen § 581. Legt man sich die Frage vor, welchen Sinn die Grafschaftsschenkungen hatten (H. Hoffmann 1990 S. 376), so darf man sich nicht darauf beschränken, das Interesse des Königs und der Bischöfe zu bestimmen, sondern muß auch das der betroffenen Grafen und Grafschaften betrachten. Zwar geben insbesondere jene Diplome, die den begünstigten Bischof als einen der an der Maßnahme beteiligten Intervenienten aufführen, die Absicht zu erkennen, lediglich eine neue Verteilung bestimmter Aufgaben innerhalb der Reichsregierung als Gegenstand der königlichen Verfügung darzustellen, gleichsam als ob die Übertragung königlicher Komitatsrechte den Bischof der begünstigten Kirche lediglich fester in die Regierung einfügte, aber deswegen dürfen wir doch die Stellung der Bischöfe als Worthalter einer Diözesangemeinde, welcher stets auch die Grafen, Schöffen und Dinggenossen der örtlichen Grafschaftsgemeinden angehörten, nicht außer Acht lassen.
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Vor allem wohl deshalb, weil sich ein Bischof ohne den Willen seiner Gemeinde schwerlich um die Übernahme der Königsrechte an Grafschaften hätte bewerben können, verband sich mit der Übertragung des königlichen Komitats auf eine Kirche keine Mediatisierung der betroffenen Grafen. Da diese ihre gräfliche Banngewalt weiterhin vom Könige empfingen, bewahrten sie sich den Status königsunmittelbarer Reichsgrafen – im Gegensatz zu jenen Grafen, deren Gemeinden sich bereits im 9. und 10. Jahrhundert einem niederen Dukat oder einer Großgrafschaft angeschlossen und den König genötigt hatten, dessen Oberhaupt seine sie betreffenden Komitatsrechte zu überlassen. Aber seitdem das von Heinrich I. und Otto I. erneuerte Reich imstande war, seine Grenzen gegen Dänen, Slawen und Ungarn siegreich zu verteidigen, hatten diese Gebilde mit der Organisation der Landwehr ihre wichtigste Aufgabe verloren, und so begannen die Grafschaftsvölker, die herzogliche oder großgräfliche Herrschaft als beschwerlich zu empfinden (oben: § 455). Sie drohte sie nämlich zu mediatisieren, da weltliche Fürsten den Grafen, die sie anstatt des Königs bestallten, nicht nur das Gericht, sondern auch die Banngewalt verliehen und weil sie, wenn sie eine Grafschaft bereisten, an deren Dingstühlen auch selbst Gericht halten konnten, während ein Bischof wegen seines geistlichen Standes, wie die im Verlaufe des 10. Jahrhunderts eingetretene Entwicklung der (Kloster-)Vogtei offenbar gemacht hatte, dafür der Hilfe eines Vogtes bedurfte, an dessen Erhebung die Gerichtsgemeinde teilzunehmen pflegte (oben: § 322a). Daß und wie dagegen Herzöge die Grafen und Grafengerichte ihrer Machtgebiete zu beherrschen gedachten, und zwar nicht zuletzt im Interesse der Kirchen, die zu schützen ihres Amtes war, das gab gegen Ende des 10. Jahrhunderts Herzog Heinrich II. von Bayern in den Ranshofener Gesetzen (oben: §§ 490, 491) auf eine Art und Weise zu erkennen, die weder der Reichsregierung noch den Grafschaftsvölkern sonderlich gefallen konnte, da sie den letzteren den Zugang zum König vollkommen zu verlegen drohte. Seither könnten sich die Grafschaftsvölker durchaus dessen bewußt gewesen sein, daß es für sie günstiger war, wenn der König seinen Komitat einer Kirche übertrug, als wenn ein weltlicher Fürst darüber verfügte, da es das Standesrecht den Bischöfen nicht gestattete, selber Gericht zu halten oder den Grafenbann zu verleihen, denn beides enthielt die Vollmacht, auch blutige und Todesstrafen zu vollstrecken. Grafschaften, deren Komitat der König einem Bischof überließ, waren demnach davor geschützt, von Herzogtümern oder Großgrafschaften aufgesogen zu werden. Auch stellte sich im Laufe der Zeit heraus, daß die Maßnahme dazu beitragen konnte, bereits herzoglich gewordene Grafschaften wieder aus dem Machtbereich eines weltlichen Fürsten herauszulösen (oben: § 577), doch trat dieser Effekt nur unter so besonderen Umständen ein, daß er keinen allgemeinen Widerstand der Laienfürsten gegen die Begünstigung der Kirchen hervorrief. In der Tat konnte auch ein König nicht mehr Rechte übertragen, als er selbst ausübte, und über Komitate, die er Herzögen oder Großgrafen wenn auch nicht direkt verliehen, so doch
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stillschweigend überlassen hatte, war ihm jede weitere Verfügung verwehrt, in die die Berechtigten nicht einwilligten. Schon immer hat man daher beobachtet, daß sich die Übertragungen auf Bischofskirchen ganz ungleich über das Reich verteilten, daß sie häufig in Franken, Lothringen, Sachsen, selten in Alemannien und gar nicht in dem bayerischen (niederen, um die Marken verkürzten) Dukat stattgefunden haben, und dies damit erklärt, daß nur dort der König im 11. Jahrhundert seinen Komitat noch selbst gehandhabt, nur dort noch die Gaugrafen bestallt und die Erträge der grafschaftlichen Fisken zu seiner Kammer eingezogen habe (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 259. J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 71 – 78, 158 f., 301. G. Tellenbach 1943 S. 46, 59. K. G. Hugelmann 1955 S. 103). § 582. Das Interesse der Grafschaftsvölker an der Übertragung des königlichen Komitats auf eine Bischofskirche könnte demnach vor allem darin bestanden haben, daß sie ihnen den unveränderten Bestand ihrer Verfassung sicherte, da sowohl ihre Grafen als auch ihre Fisken königsunmittelbar oder dem Reiche dienstbar und damit öffentliche Institute blieben, denn das war der Fall, solange der Graf seine Banngewalt vom Könige empfing und der Fiskus einer Reichskirche diente, oder umgekehrt, solange der Bischof vor allem die Verwaltung des Fiskus kontrollierte und zu diesem Zwecke die Grafenwahl lenkte. In der Sache wird sich die Lage der Grafschaft durch die Übertragung nicht erheblich geändert haben, da der Bischof als (wenn auch durch Immunität geschützter) Großgrundbesitzer auf Kur und Annehmung der Grafen, in deren Amtsbezirk die Bischofsstadt und die bischöflichen Fronhöfe gelegen waren, schon immer einen wesentlichen Einfluß ausgeübt haben muß. Da aber mit den Erträgen des Fiskus auch die Reichsdienste auf den Bischof übergingen, die daraus bezahlt wurden, mag in dieser Hinsicht sogar eine Entlastung der Grafschaftsgemeinden eingetreten sein, da sie dem Könige nicht mehr direkt dafür zu haften brauchten. Dem Volke aber war es gewiß vorteilhaft, die Erhebung seines Dinggrafen nicht mehr durch den König, sondern durch seinen eigenen Bischof gelenkt zu sehen. Denn der König, der überall das Reichsinteresse zu wahren hatte und daher versucht war, das Indigenatsrecht der Gemeinden (oben: § 276a) zu mißachten und ihr landfremde, aber um das Reich verdiente Männer zu oktroyieren, war gewiß schwerer zu beeinflussen als der Bischof, der stets im Lande weilte und in der Regierung seines Bistums auf den Rat und Beistand der Grafschaftsleute angewiesen war. Auch in anderen Geschäften, wo man königlicher Entscheidungen bedurfte, war es ein Vorteil, wenn man statt des Herrschers den Bischof anrufen konnte, zumal der sein Großreich im Herumreisen regierende König oft jahrelang schwer zu erreichen war, weil er das Heer in fernen Grenzmarken oder in Italien anzuführen hatte. Die Komitatsverleihungen setzten ja zu einer Zeit ein, als sich die Folgen davon nachhaltig bemerkbar zu machen begannen, daß der König nun auch Italien zu regieren und die römische Kirche zu beschützen hatte. Da aber seit den Kämpfen, die König Otto I. in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit gegen die Herzöge der Regna hatte führen müssen, die Könige eifrig weiter daran gearbeitet hatten, deren vizekönigliche Position zu zertrümmern, war im 11. Jahrhundert außer den
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Bischöfen niemand mehr da, den die Völker als Vertreter des Herrschers hätten in Anspruch nehmen können. So waren es gewiß auch die jetzt partikulierten Untertanenverbände der zerfallenden spätkarolingischen Regna, die sich nun hinter die Bischöfe stellten. In dem ewigen Ringen zwischen Reich und Ländern waren es, je weiter das 11. Jahrhundert fortschritt, um so mehr die Bischöfe, die jetzt die Interessen der Länder vertraten. Für die Bischöfe selbst mag der Sinn des Erwerbs königlicher Komitatsrechte in der weiteren Festigung ihrer hergekommenen verfassungsmäßigen Stellung als Träger und Stützen der Reichseinheit gelegen haben, einer Stellung, die darauf beruhte, daß jeder von ihnen Haupt und Vertrauensperson nicht nur seiner Bistumsgemeinde, sondern auch der mit dieser identischen, weil in seiner Diözese angesessenen Grafschaftsvölker war. Niemals hatten daher germanische Könige ihre Reiche gegen den gemeinen Willen der Bischöfe und ohne deren wichtigste in ihren Rat aufzunehmen, regieren können. Als Inhaber königlicher Komitatsrechte jetzt den Laienfürsten gleichgestellt, gewannen die Bischöfe in der Reichsregierung und als Intervenienten bei königlichen Entscheidungen noch entschiedener als zuvor den Vorrang vor den Laienfürsten, weil nur sie Grafschaften an Gau- und Dinggrafen ausgeben konnten, ohne diese zu mediatisieren, daher es auch Herzöge und Großgrafen nicht verschmähten, von ihnen solche Bestallungen anzunehmen. Zwar wuchs damit auch die Abhängigkeit ihres Regierens vom Konsens der Grafschaftsgemeinden, aber dies empfanden sie nicht als Nachteil, da deren Beistand, wenn er einmal gewonnen war, wiederum ihre Macht sowohl im eigenen Lande als auch am königlichen Hofe mehrte. Die Bereicherung ihrer Kirche aus dem grafschaftlichen Fiskus, die in den Diplomem so stark in den Vordergrund tritt, beleuchtet dagegen lediglich die administrative Seite dieser Grafschaftspolitik und reicht nicht aus, um deren Sinn zu erhellen. Damit stimmt überein, daß das Interesse der Bischöfe, mit ihrer königlichen Vollmacht die Verwaltung der Komitate zugunsten kirchlicher Landesherrschaft neu zu ordnen, indem sie die Gerichte durch Vögte oder Ministerialen hegen ließen, gering war und daß noch Erzbischof Adalbert mit dem Versuch, die Komitatsrechte zu diesem Zwecke zu verwenden, gescheitert ist. Es trifft also zu, daß sich die Schenkungen nicht gegen die Interessen des jeweiligen Landesadels und der betroffenen Grafen richteten, sondern mit deren Billigung stattfanden und daher bis zum Ausbruch des sächsischen Aufstandes gegen König Heinrich IV. im Jahre 1073 keinen Widerstand ausgelöst haben (H. Hoffmann 1990 S. 479). Wie aber ist damit die Annahme zu vereinbaren, die Schenkungen hätten die Grafen in ein engeres lehnrechtliches Verhältnis zu den Bischöfen bringen sollen, weil die Reichsregierung die Grafen mit den Zwangsmitteln des Lehnrechts von Übergriffen auf das Kirchengut abhalten zu können hoffte (ebd. S. 473 f., 479)? Hätte ein so tiefer Eingriff in die Verfassung der Grafschaft, wie ihn die Anwendung des Lehnrechts auf die gräfliche Amtsführung bedeutete, nicht den Widerstand der gesamten Grafschaftsgemeinde hervorrufen müssen, mit deren Rat der Graf regierte und deren Beruf es war, die hergekommene landrechtliche Verfassung zu hüten?
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§ 583. Treffen unsere Überlegungen zu, so wäre dem König in der Grafschaftspolitik eine wesentlich passive Rolle zugefallen. Denn nicht er war Urheber der einzelnen Maßnahmen; diese wurden vielmehr von den Bischöfen und Großen der Diözesen und betroffenen Grafschaften vorbereitet und der Reichsregierung zum Vollzug vorgeschlagen. Der König und seine Berater hatten also lediglich noch zu entscheiden, ob die ihnen vorgetragenen Bitten, eventuell nach Korrekturen, die den Petenten annehmbar waren, dem Reiche nützlich und folglich gutzuheißen, oder ob sie dem Gesamtinteresse, das der König zu wahren hatte, schädlich und folglich zurückzuweisen seien. So hatte der König das Kammergut des Reiches zu wahren und zu mehren; er mußte daher, wenn er grafschaftliche Fiskalerträge einem Bistum zuwies, darauf dringen, daß dieses entsprechend vermehrte Reichsdienste übernahm. Er mochte dabei erwägen, daß die Umleitung seiner Einkünfte von Reichshöfen und Pfalzen auf Bistümer es dem reisenden Hofe ermöglichte, anstatt auf ländlichen Wohnplätzen in den komfortableren Bischofsstädten Quartier zu machen (oben: § 576). Außerdem hatte die Regierung mit ihren Entscheidungen die Rechtseinheit des Reiches zu wahren und zu fördern. Sie durfte daher gleichgerichtete Bitten nicht mit ungleichen Verfügungen beantworten, indem sie willkürlich dem einen Bistum mehr, dem anderen weniger Komitatsrechte zugestand, als die örtlichen Verhältnisse es geboten. Dabei mag auch die Angleichung der Grafschafts- an die Vogteiverfassung eine Rolle gespielt haben. Denn im Jahre 983, also zwei Jahre bevor der König (MGH. DO. III. 16) zum ersten Male seine vollen Komitatsrechte auf eine Bischofskirche übertrug, hatte er ebenfalls zum ersten Male das Recht des Abtes eines Reichsklosters, Vögte über das Klostergut zu setzen, das bis dahin nur als Anhängsel zu anderweitigen Bestimmungen gewährt worden war, zum Gegenstande einer besonderen Verfügung gemacht und dabei die Befugnis zu kiesen von der Vollmacht zu bestallen getrennt: concessimus proprietates monasterii . . . per advocatos quos ipse elegerit, ex hoc presentis auctoritatis precepto statuere et ordinare, et ne qua iudiciaria dignitas aut potestas eis iniuste obsistere ullo modo presumat (DO. III. 290). Vogtwahlprivilegien, die den König verpflichteten, den vom Abte Erwählten zu ernennen, brauchten das königliche Einsetzungsrecht nicht zu erwähnen; davon zu reden war erst dann geboten, wenn auch dieses Recht auf den Abt übergehen sollte. Das Kloster Memleben, dem der König im Jahre 994 zunächst nur das Wahlrecht gewährt hatte (DO. III. 142), ließ sich bald darauf auch noch das Bestallungsrecht erteilen: advocatos pro sua electione constituant (DH. II. 25. R. Scheyhing 1960 S. 315). Zu derselben Zeit also, in der man sich wegen der Grafschaftsverleihungen an Bischöfe den Unterschied zwischen königlichem und dinggräflichem Komitat klarmachte, geschah dasselbe bezüglich der reichsklösterlichen Vogtei. Die Vogtei des Königs engte sich ein auf das Recht, die Wahl des Vogtes zu lenken und den Gekorenen zu bestallen, und konnte auf Reichsäbte übertragen werden, während sich das Recht des Vogtes auf die Ausübung derjenigen Gerichtsbarkeit und Banngewalt beschränkte, die dem Kloster auf Grund seiner Immunität zustand (daher
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dem Vogte auch die Vollmacht fehlte, das Amt zu veräußern oder zu vererben). Da die Immunitätsgerichtsbarkeit damals das Blutgericht noch nicht umfaßte, brauchte man das Bestallungsrecht des Abtes noch nicht von der Bannleihe zu trennen und auf Vergabe der Gerichtsherrschaft zu beschränken, wie es die Übertragung des königlichen Komitats auf einen Bischof sehr bald erforderlich machte. Offensichtlich achtete die Reichsregierung darauf, Grafschafts- und Vogteiverfassung nach einheitlichen Rechtsvorstellungen fortzubilden. Seit je waren die Bischöfe weit mehr als die weltlichen Großen dazu bereit gewesen, das Reichsinteresse über den Nutzen ihres Landes zu stellen. Das Reich hätte sich am Ende des 9. Jahrhunderts in Teilreiche oder Regna auflösen können und hat sich schließlich in Territorialstaaten aufgelöst, aber eine Verselbständigung der Bischofskirchen gegenüber der einen Reichs- oder universalen Kirche war zu keiner Zeit denkbar. Allein die Regna waren einer selbständigen staatlichen Existenz fähig, seit den Herzögen an ihrer Spitze die Rechte von Vizekönigen zukamen, ohne daß man imstande gewesen wäre, diese Rechte klar gegen die königlichen abzugrenzen und sie ihnen unterzuordnen. Die harten Kämpfe der Könige gegen die Herzöge, die schließlich mit dem Untergang der vizeköniglichen Herzogtümer endeten, waren daher unvermeidlich. Dem Könige war es in diesem Ringen sicherlich hilfreich, in den Bischofskirchen Einrichtungen vorzufinden, die in die Lücke eintreten konnten, welche das Verschwinden der vizeköniglichen Herzogtümer in die Reichsverfassung riß. Auf diese Weise konnte er verhindern, daß sich (niedere) Herzöge und Großgrafen in sie hineindrängten und zu einer neuen Gefahr für die königliche Herrschaft erwuchsen, da sie nicht in dem Maße gezwungen waren, ihre Vollmachten mit Dinggrafen und Vögten zu teilen und deren Reichsunmittelbarkeit zu achten, wie die durch die geistlichen Standesrechte beschränkten Bischöfe. Die herzoglichen Rechte, welche die Reichskanzlei im 11. Jahrhundert nur erst den Bischöfen von Aquileja und Trient und im 12. den Würzburgern bestätigte, die sich hernach aber auch andere, wie Brixen und Münster (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 48 f., 350 – 360), beilegten, waren nur noch die der alten niederen Dukate, nicht mehr die der auf ein ganzes Regnum (Land: ebd. S. 231) bezogenen vizeköniglichen Herzogtümer.
§§ 584 – 589. Keine Belehnung der Grafen im hohen Mittelalter § 584. Der königliche Komitat enthielt demnach, mochte der König ihn nun selbst ausüben oder durch einen Bischof ausüben lassen, unter anderem das Recht, den Grafen zu wählen und zu bestallen. Die Diplome benutzen dafür die Worte eligere, sufficere, ordinare, ponere, tradere (oben: § 576), und nichts deutet darauf hin, daß die von einem Bischof eingesetzten Grafen ihren Komitat zu einem anderen Rechte besessen hätten als die vom Könige bestallten. Obwohl es nur von den letzteren ausdrücklich gesagt wird (oben: § 575), müssen auch jene ihr Amt in beneficium, d. h. ad vitam oder bis auf Widerruf, bekleidet haben. Es gilt hier dem-
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nach dasselbe wie hinsichtlich der Bestallung der Bischöfe und Herzöge (oben: § 555): Wir haben es mit Beamtungen nach Volks- oder Königsrecht zu tun. Nirgendwo findet sich der Gebrauch von Worten oder Begriffen, die im Sinne des Lehnrechts deutbar wären oder gar eine solche Deutung erzwängen. Trotzdem erhält sich hartnäckig die Auffassung, besonders in den Fällen, wo früher vom Reiche bestallte Grafen auch nach der Übertragung des königlichen Komitats auf eine Kirche im Besitz ihrer Grafschaft verblieben, sei nur die Lehnshoheit an die Kirche gekommen, sei der Bischof also Lehnsherr des Grafen geworden, was, wenn es nicht bloß eine Redensart sein soll, die Anwendung vasallitischen Lehnrechts auf das Amtsverhältnis implizieren müßte – und damit letzten Endes dessen Untergang. Bereits Georg Waitz (1876 – 96 Bd. 7 S. 5 – 14) hat dieser Auffassung Vorschub geleistet, obwohl ihn seine immense Kenntnis der Quellen über ihre Fragwürdigkeit nicht im Unklaren ließ. Er sah nämlich sehr wohl, daß uns die Quellen zu ihrer Begründung weiter nichts als das Wort beneficium zur Verfügung stellen, und zwar so, daß die Bezeichnung der Grafschaft mit diesem Worte zwar in die karolingische Zeit zurückginge, in Deutschland jedoch später durchgedrungen sei als im Westfränkischen Reiche: Zuerst unter Otto I. trete sie bestimmt hervor (in DO. I. 327 vom Jahre 966, S. 441 Z. 40: in comitatu ipsius Mamaconis, quem ipsi in beneficium concessimus), doch seien die Belege bis ins 12. Jahrhundert hinein sparsam gesät. Dazu bemerkt Waitz, für die Art des Besitzes werde öfter das Prädikat tenebat oder tenuit gebraucht, doch geht er nicht so weit, dem einen rechtlichen Gehalt beizulegen. Denn die benefiziale Auffassung, die er als lehnrechtliche deutet, habe weder sofort noch überhaupt vor dem 12. oder 13. Jahrhundert vollständig die Herrschaft gewonnen; die Bedeutung der Grafschaft als Amt habe sich vielmehr erhalten, denn eben das Amt sei Gegenstand der Verleihung zu Benefizium gewesen, und die wesentliche Wirkung der Sache habe darin bestanden, daß der Inhaber dann die mit dem Amte verbundenen Vorteile für sich zog. Indessen die Art, wie die Quellen von dem beneficium reden, rechtfertigen diese Urteile in keiner Weise (oben: § 575). Wir stehen vor einem der seltenen Fälle, in denen Waitz weder Belege für sein Urteil anführt noch dasselbe als Vermutung kennzeichnet. Des weiteren stellt er fest, daß die Grafen Vasallen des Königs gewesen seien, er äußert sich aber nicht zu der Frage, ob die Ergebung in die Vasallität um des Erwerbs der Grafschaft willen notwendig war oder ob sie sich auf anderweitigen Besitz an Königsgut bezog. Immer sei es der König gewesen, der den Grafen bestallte oder diesem die Grafschaft erteilte, sofern er nicht dieses Recht einem anderen übertragen habe. Die Verleihung sei (nach Thietmar V 21) in der Form der Belehnung erfolgt; es habe da keinen Unterschied gemacht, ob der König den Empfänger frei ernannte oder bloß einen schon vorhandenen Anspruch desselben anerkannte. Die erbliche Nachfolge des Grafensohnes sei von Hause aus kein Recht, sondern von der Gnade des Königs abhängig gewesen, doch sei sie schon bald zur Regel und zu einem Rechte des Grafenhauses geworden, das der König
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nur noch zu bestätigen hatte (oben: § 142). Ja, unter Berufung auf DO. III. 19 aus dem Jahre 985 hielt Waitz es sogar für möglich, daß nicht nur Bischofskirchen, sondern „auch Weltliche die Grafschaft nicht bloß wie ein Benefizium erhalten und nutzen, (sondern) sie auch als Eigentum empfangen, oder doch so betrachten oder behandeln (mochten), namentlich da, wo sie mit großem Hausbesitz verbunden war“. § 585. Wie riskant diese Erwägung ist, hat Waitz selbst gesehen, gab doch der König dem Grafen von Holland im Jahre 985 lediglich bestimmte Güter, die er bis dahin als Benefizium besessen, zu eigen, nicht jedoch die – freilich von dem Beschenkten selbst verwalteten – Grafschaften, in denen diese gelegen waren: Die Übereignung der Güter werde zwar „sachlich nicht wesentlich verschieden von einer Verleihung der Grafschaft selbst gewesen sein, . . . aber ganz dasselbe ist es doch nicht“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 14 A. 3). Andere haben mit Recht auf dem Unterschied beharrt und betont, daß der comitatus nicht als in das beneficium eingeschlossen gedacht werden kann. Damit entfällt aber der einzige bisher versuchte Beweis dafür, daß die Grafengewalt über eine Gaugrafschaft von Rechts wegen Eigen des Grafen werden konnte (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 224). Vielmehr pflegte man Gut und Amt, geliehenes Recht und erbliches Eigen genau zu unterscheiden. So hören wir zu 949: Udo comes obiit, qui permissu regis, quicquid beneficii aut prefecturarum habuit, quasi hereditatem inter filios divisit (Regino, Cont. a. 949 S. 164). Wie jede Verfügung über Reichsgüter und Grafschaften, so konnte auch deren Teilung nur der König selbst anordnen, mochte der Begünstigte sie auch beantragt haben; mit der Erbfolge in die gräflichen Hausgüter aber konnte man die Nachfolge der Söhne in die Grafschaft lediglich vergleichen, nämlich wegen ihres Effektes, nicht jedoch wegen ihrer Rechtsnatur. Nichts anderes ergibt sich aus dem Sprachgebrauch des Bischofs Thietmar von Merseburg, aus dem Waitz die Belehnung als Form der königlichen Bestallung herleiten wollte. Benefizium heißt bei Thietmar gewöhnlich ein königlicher Fronhof oder Fiskus, den sowohl Geistliche (wie der Missionsbischof Boso, II 36) als auch Grafen lediglich ad vitam besitzen konnten. Gab der König Grafschaften aus, so pflegt Thietmar in der Regel Amt und Fiskus nebeneinander zu nennen, was doch wohl nur bedeuten kann, daß keines von beiden in dem anderen bereits enthalten war und daß der König auch getrennt darüber verfügen konnte (comitatum cum beneficio IV 69, comitatum . . . et beneficium ad hunc pertinens VI 16, comitatum ac omne benefitium VI 50). Nur einmal (da V 3 zweifelhaft ist) nennt Thietmar das Grafenamt selbst beneficium: Als König Heinrich II. dem Gebhard eine vorher vom Herzog von Schwaben vergebene Grafschaft übertragen hatte, verlor Gebhard die Lanze, qua beneficium ducis comes idem acceperat a rege (V 21): ein herber Verlust offenbar deswegen, weil Gebhard die Annehmung von Seiten der Grafschaftsgemeinde noch nicht erlangt hatte, wofür vor allem er des Symbols der ihm vom Könige erteilten Vollmacht bedurfte.
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Thietmar kam es an dieser Stelle darauf an, die Vollmacht zu kennzeichnen als eine, die zuvor der Herzog auf Lebenszeit oder bis zum Widerruf gehalten hatte (F. Keutgen 1918 S. 111 f. H. Keller 1993 S. 71); da konnte er es wohl unterlassen, ihr Verhältnis zum Fiskus zu erwähnen. Ob der König aber die Fahnenlanze dem Grafen im Zusammenhange einer Belehnung übergeben habe, wie Waitz annimmt, ist ganz unbestimmbar; Waitz selber läßt es auch offen, ob sich der Graf etwa zuvor habe in die Vasallität ergeben müssen oder nicht. Thietmars Gebrauch des Wortes beneficium an dieser Stelle berechtigt uns um so weniger dazu, hier an eine Vergabe der Grafschaft nach (strengem) Lehnrecht zu denken, als sich Thietmar anderswo auch des volks- oder amtsrechtlichen Sprachgebrauchs der Reichskanzlei bedient: comitatum et super Suisili pagum potestatem Thiedricus imperatoris munere suscepit (VII 50). So ist auch mit Thietmar der Beweis nicht zu führen, daß bereits im 10. und 11. Jahrhundert das Grafenamt als Lehen betrachtet und behandelt worden sei. So, wie hier beschrieben, bietet sich uns der status causae bis auf den heutigen Tag dar, denn der 1933 von Heinrich Mitteis geführte Nachweis, daß sich die Anwendung des Benefizialverhältnisses auf die Übertragung öffentlicher, dem König zugeordneter Machtbefugnisse, die Verwandlung der königlichen Bestallung in eine Belehnung aus den Rechtsbegriffen des hohen Mittelalters weder ableiten noch erklären lasse (oben: §§ 551 – 553), machte auf die Forschung nicht nur deswegen keinen Eindruck, weil sich Mitteis speziell mit der Grafschaft gar nicht befaßte, sondern auch und vor allem deswegen nicht, weil Mitteis an dem Begriff der Ämterleihe als einer genuin öffentlichen Institution festhielt, obwohl er weder angeben konnte, worauf deren Öffentlichkeit beruhte, noch auf welche Stätte, welchen Bezirk, welches Substrat sich die verliehene Amtsgewalt beziehen sollte. § 586. Gewissermaßen nur noch in Ermangelung eines Besseren hält man daher bis heute an der zahlreicher Modifikationen fähigen Waitzschen Lehre fest. So erkennt Robert Scheyhing zwar an, daß wir an der Auffassung des Amtes als eines allein vom Könige abgeleiteten Wirkungskreises nicht länger festhalten könnten, aber den Anteil anderer an dessen Begründung hält er für unerkennbar (R. Scheyhing 1960 S. 65, oben: §§ 406, 556): denn nur über das königliche Amtsrecht seien nach den Quellen Aussagen möglich. In der Karolingerzeit habe danach zunächst allein der königliche Auftrag und nicht etwa eine personenrechtliche Bindung das Beamtenverhältnis geschaffen; eine Treuebindung des Beauftragten an den König sei mit dem Auftrag nicht verbunden gewesen (oben: § 422). Speziell den Grafen hätten die Könige nur einen allgemeinen Treueid abfordern können, der die Amtspflichten im Dunkeln gelassen, aber ausgereicht habe, um eine personenrechtliche Beziehung zwischen Amtmann und König herzustellen, von der die Feudalisierung des Ämterwesens ausgegangen sei (ebd. S. 70, 79, oben: § 541). Scheyhing vermeidet es hier, von Vasallität der Grafen zu sprechen, erklärt aber an anderer Stelle (ebd. S. 321), seit der Karolingerzeit habe sich die Ernennung der Grafen in lehnrechtlichen Formen vollzogen. Zeugnisse für die Verwendung vasallitischer Rechtsformen bei der Erhebung der Grafen fänden sich jedoch, wiewohl enthalten
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in einem lückenhaften Bilde der Reichsverfassung, seit Otto I. (ebd. S. 82): Der ostfränkische König habe seinen Herrschaftsanspruch über die Ämter nur noch in vasallitischen Formen kundtun können (ebd. S. 83); jedenfalls seien andere als diese Formen für die Ämtervergabe gar nicht nachzuweisen (ebd. S. 83 A. 7). Hier scheint demnach die These gewagt zu werden, deren Waitz sich noch enthalten hatte, daß nämlich die (also doch wohl: alle) Grafen seit dem 10. Jahrhundert wegen ihrer Grafschaft in die königliche Vasallität hätten eintreten müssen. Das aber ist den wenigen, bereits Waitz bekannt gewesenen Quellen nicht abzugewinnen. Walther Kienast jedenfalls konnte ihnen nicht mehr entnehmen, als daß man zur Zeit Ottos I., der karolingischen Zurückhaltung in dieser Frage entsagend, keine Bedenken mehr trug, (einige) Grafen als Vasallen zu bezeichnen. Noch Thietmar unterscheide zwischen Grafschaft und Amtsgut dahingehend, daß nur dieses als Lehen gegolten habe. Dies habe zwar das Übergreifen (der Bezeichnung? oder des Lehnrechts?) auf die Grafschaft selbst erleichtert, aber dennoch müsse die Antwort auf die Frage, ob schon Otto I. die Grafen als Lehnsleute behandelt habe, wohl eher „nein“ lauten (W. Kienast 1990 S. 567, 569). Auch die Erblichkeit, die im 11. Jahrhundert allgemein geworden sein solle, kann nach Kienast nicht bedeuten, daß nun die Grafschaften vom Könige lehnbar geworden und den Charakter königlicher Ämter abgestreift hätten, da nicht zu erweisen sei, daß der Erbgang ohne Wissen und gegen den Willen des Herrschers eintrat (oben: § 553). Gleichwohl könne mit der königlichen Übertragung dreier Grafschaften auf die Kirche von Trient im Jahre 1027 eine neue Entwicklung eingesetzt haben, weil die Diplome (DKo. II. 101, 102) bezeugten, daß die Komitate vorher zu Lehen, beneficii nomine, ausgetan waren (ebd. S. 570). – Wiederum hängt alles, da der Vasallenstatus der Grafen undurchsichtig bleibt, an der Bedeutung des Wortes beneficium, und daß es auch an dieser Stelle den Schluß, den Kienast daraus zieht, nicht tragen kann, ist oben (§ 577) gezeigt worden. Von einem Erbrecht der gräflichen Häuser aber kann deswegen und solange nicht die Rede sein, weil und wie der König einer Bischofskirche sein Recht, die Grafen zu kiesen, zu übertragen vermochte. Hartmut Hoffmann, der aus vermeintlicher Lehnshoheit der Bischöfe über die Inhaber der ihnen geschenkten Grafschaften den Sinn der Grafschaftspolitik überhaupt ableitet (oben: §§ 567, 582), muß um dieses Zweckes willen annehmen, die direkt vom Könige bestellten Grafen seien schon in spätottonischer Zeit im allgemeinen dessen Vasallen gewesen und hätten ihre Grafschaften als Lehen empfangen (H. Hoffmann 1990 S. 456). Er gesteht sich allerdings ein, daß diese Ansicht „auf den ersten Blick etwas leicht Irreales an sich“ habe: „Wir kennen zwar im großen ganzen die Normen des Lehnrechts, aber wir wissen nicht, in welchem Umfang sie durchgesetzt wurden. Vielleicht sollten wir nicht allzu skeptisch sein und eher damit rechnen, daß sie im ottonischen und frühsalischen Reich noch weitgehend Anerkennung fanden, zumal wenn als letztes Druckmittel die Macht des Königs dahinterstand“ (ebd. S. 479). Freilich kann man mit den Problemen, die
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sich seit mehr als einem Jahrhundert jeder Lösung widersetzen, wohl nur dann auf diese Weise umgehen, wenn man glaubt, die Hoffnung auf bessere Einsichten ein für allemal fahrenlassen zu müssen. § 587. Wie steht es denn nun aber um unsere Kenntnis der Normen des Lehnrechts, die im Ostfränkisch-deutschen Reiche möglicherweise hätten angewendet werden können? Da es sich hier nicht um die Normen der vasallitischen Bodenleihe (oben: §§ 125, 134b), sondern um die der Ämterleihe handelt, von der noch nicht einmal feststeht, daß sie bereits im Hochmittelalter die vasallitische Bindung voraussetzte oder mit ihr zu einem einheitlichen Rechtsgeschäft verschmolzen war, ist es schwer, den von Hoffmann empfohlenen Optimismus zu teilen. Wie Heinrich Mitteis 1933, Robert Scheyhing 1960 und Susan Reynolds 1994 gezeigt haben, wissen wir über die Normen der Ämterleihe aus dieser Zeit tatsächlich nichts. Es ist aber wohl angebracht, daß wir uns selbst davon überzeugen. Als besonders wichtiges Zeugnis dafür, daß die hohen Reichsämter seit der Regierungszeit Kaiser Ludwigs des Frommen in der Rechtsform vasallitischer Lehen vergeben wurden, gilt der Bericht des Bischofs Prudentius von Troyes über die Einrichtung eines Teilreiches für den Prinzen Karl, die dessen Vater, Kaiser Ludwig der Fromme, im Jahre 837 auf einem Reichstag zu Aachen vornahm. Zu der Versammlung hatte der Kaiser nicht nur die Könige von Bayern und Aquitanien, sondern auch alles Volk geladen, damit sie seiner Verfügung zustimmten: adveniente atque annuente Hlodowico et missis Pippini omnique populo qui presentes in Aquis palatio adesse iussi fuerant, dedit filio suo Karolo maximam Belgarum partem, ein Gebiet, das nach Grenzen und darin gelegenen Grafschaften oder Gauen im einzelnen beschrieben, dem Inhalt nach aber bestimmt wird als omnes videlicet episcopatus, abbatias, comitatus, fiscos et omnia intra predictos fines consistentia cum omnibus ad se pertinentibus, in quacumque regione consistunt, umfassend (Ann. Bert. a. 837 S. 14 f.). Da uns sowohl die geographische Beschreibung als auch die inhaltliche Bestimmung gleichlautend auch von Nithard (Hist. I 6) mitgeteilt wird, ist beides zweifellos einem offiziellen Dokument der Reichsregierung entnommen (U. Nonn 1983 S. 47 f.). Die Bestimmung gibt Nithard allerdings ausführlicher wieder: . . . in quacumque regione consistebant et sui iuris esse videbantur, una cum auctoritate divina atque paterna praefato filio suo Karolo dedit. Was im Anschluß hieran geschah, sagen Nithard und Prudentius zwar mit verschiedenen Worten, sie hatten aber unzweifelhaft dieselbe Sache vor Augen. Während Prudentius schreibt: Sicque iubente imperatore in sui praesentia episcopi, abbates, comites et vasalli dominici in memoratis locis beneficia habentes Karolo se commendaverunt et fidelitatem sacramento firmaverunt, heißt es bei Nithard: Hilduinus autem abbas ecclesiae sancti Dionysii et Gerardus comes Parisius civitatis ceterique omnes praedictos fines inhabitantes convenerunt fidemque sacramento Karolo firmaverunt (Hist. I 6 S. 9 Z. 16 – 20). Was ist demnach im Jahre 837 in Aachen geschehen? Es fand dort eine Reichsversammlung statt, die man mit dem gesamten Volke identifizieren konnte, weil
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Bischöfe, Äbte, Grafen und Fiskalverwalter (vasalli, oben: § 558), die das Wort der Teilvölker hielten, von so vielen angesehenen Männern: Kanonikern, Schöffen, Rittern, Vögten (oben: § 279), aus ihrer Heimat begleitet wurden, mit denen sie sich wegen ihrer Stimmführung ständig beraten konnten, daß ihr Wort weit mehr als ihre persönliche Meinung, nämlich den gemeinen Willen jenes Untertanenverbandes ausdrückte, als dessen Haupt ein jeder von ihnen geladen worden war (oben: §§ 21, 22, 203, 508). Auf der Reichsversammlung übergab Kaiser Ludwig seinem Sohne Karl ein genau umgrenztes Gebiet mit den darin gelegenen Bistümern, Königsabteien, Grafschaften und Fisken als Unter- oder Vizekönigtum: Karl sollte sie so beherrschen, wie es das Recht des Vaters war, es zu tun, so oft er im Lande weilte, und daher erteilte der Kaiser den geistlichen und weltlichen Großen, die in jenem Gebiet Benefizien, d. h. Ämter auf Lebenszeit, besaßen (Prudentius) oder die dort mit vielen anderen freien Männern als Einwohner ansässig waren (Nithard), den Befehl, dem neuen Könige Beistand und Gehorsam zu versprechen, ihm den Treueid zu leisten und auf diese Weise einen im Umfange dem neugeschaffenen Königreich entsprechenden Untertanenverband zu konstituieren, da es ohne einen solchen keine Königsherrschaft geben konnte. Denn dazu reichte es nicht aus, einem Unterkönige ein Gebiet anzuweisen: Beherrschen konnte dieser es erst dann, wenn die darin angesessenen Amtleute und Bewohner ihn zu ihrem Herrn annahmen und ihm die Herrschaftsmittel des Landes zur Verfügung stellten. In den Bischöfen, Äbten, Grafen und Vasallen des Landes sind die Vertrauensleute und Worthalter der Teilgemeinden zu erkennen, aus denen sich dieser neu zu schaffende Teilreichsuntertanenverband zusammensetzte. Gewiß hatte der Kaiser eben deswegen omni populo befohlen, an der Reichsversammlung teilzunehmen, damit man den einmütigen Willen der in Aachen Versammelten tatsächlich mit dem aller Einwohner des neuen Regnums in eins setzen konnte. § 588. Wir haben es also mit der öffentlichen Erhebung eines Unterkönigs zu tun, die im wesentlichen genauso verlief, wie später die Erhebungen der Herzöge und Bischöfe im Ostfränkisch-deutschen Reiche. Der Kaiser wußte, daß das Volk ihm das Kurrecht überlassen würde (Nithard: Videns autem, quod populus nullo modo diebus vitae suae illum relinquere . . . vellet), das Volk aber nahm den Erkorenen zu seinem Oberhaupte an und setzte ihn durch sein Treueversprechen in den Besitz der königlichen Gewalt. Eben dies sagt kurz und knapp Nithard, und mehr brauchen wir auch aus Prudentius nicht herauszulesen. Da es sich um ein öffentliches, d. h. vom ganzen Reichsvolke mitgetragenes Verfahren gemeinsamer politischer Willensbildung handelte, konnte und kann es nur nach den Regeln des fränkischen Volks- und Staatsrechts beurteilt werden, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, im Gegensatze zu Nithard habe Prudentius darin einen lehnrechtlichen Vorgang gesehen. So sagt denn auch keiner der beiden Chronisten etwas davon, daß König Karl in Aachen Lehen ausgegeben habe. Es ist daher unzulässig, Prudentius’ Worten Begriffe des Lehnrechts zu unterstellen. Im volks- und amtsrechtlichen Zusammenhange heißt aber Benefizium je-
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des vom Könige auf Lebenszeit oder bis auf Widerruf vergebene Recht (oben: §§ 574, 575b), und was das Verbum commendare anlangt, so ist bereits gezeigt worden, daß es auch Land- oder Volksrechtsverhältnisse bezeichnen konnte und nicht unbedingt auf Vasallität bezogen werden muß (oben: § 543). Es wäre dem jungen König Karl auch gar nicht möglich gewesen, in Aachen neue Belehnungen vorzunehmen, da kein Herren- oder Thronfall eingetreten war, sondern der Kaiser im Besitze der obersten Gewalt verblieb und niemanden aus der Beamten- oder Untertanentreue zu entlassen brauchte, um Karl zum Unterkönige zu erheben; er hätte eine solche Entlassung auch gar nicht aussprechen können, da er ja wußte, daß das Volk nicht bereit war, ihn zu verlassen, solange er lebte. Hätte er aber den Eintritt des Thronfalls erklärt, so hätte er damit abgedankt und Karl zu seinem Nachfolger gemacht, anstatt ihn zum Unterkönige zu erheben. Über das Zeremoniell der Annehmung ist uns so gut wie nichts bekannt (S. Reynolds 1994 S. 86 – 90, 99). Die hohen Amtsträger könnten dem Könige einzeln und persönlich die Hand gereicht haben, um ihm Treue zu geloben, während die Vielen, die das Volk darstellten, nur samt und sonders und, statt zu gesamter Hand, lediglich wie aus einem Munde dem neuen Herrn Treue und Beistand gelobten. Aber sei dem, wie ihm wolle: In keinem Falle besteht ein Grund, um anzunehmen oder gar annehmen zu müssen, daß Prudentius den Hergang der Huldigung oder Annehmung genauer als Nithard geschildert, daß nur er über die Fachwörter der damaligen Rechtssprache geboten, Nithard dagegen der Unbestimmtheit alltäglichen Sprechens nachgegeben habe. Was im Dezember 837 in Aachen geschah, können wir erst dann verstanden haben, wenn wir imstande sind, beider Autoren Berichte in eins und widerspruchsfrei zu erklären. Was nun die Frage anlangt, ob das Grafenamt bereits in der Karolingerzeit als Gegenstand eines Lehnsverhältnisses aufgefaßt worden sei, so ist bereits E. Lesne zu dem Ergebnis gelangt, daß die Kanzleien karolingischer Könige weder dieses noch das bischöfliche Amt als Lehen zu bezeichnen pflegten: „A notre connaissance, il n’est jamais dit au contraire d’un roi qu’il cède en benefice des comtés ou des évèechés.“ Es sei dies nicht nötig gewesen, da ohnehin jedermann wußte, daß der König seinen Getreuen oder Untertanen die staatlichen Ämter nicht zu Eigentum schenken, sondern nur bis auf Widerruf, also allenfalls ad vitam in Auftrag geben konnte (E. Lesne 1924 S. 8 f. S. Reynolds 1994 S. 93). Eben dieses besagt der Ausdruck beneficiarii honores, den Prudentius zu 839 verwandte (Ann. Bert. S. 20): staatliche, vom Könige widerruflich auf Lebenszeit des Inhabers durch Bestallung vergebene Ämter (E. Lesne 1924 S. 10, 48). Hierin ist bereits der Mitteissche Gedanke enthalten, daß benefizial alle jene Geschäftsformen heißen konnten, die keine privatrechtliche Erbfolge in die vergebenen Rechte zuließen (oben: § 553). Lesne bemerkte weiter, daß es private Urkundenschreiber waren, die im 9. Jahrhundert damit begannen, das weltliche Gut einer Bischofskirche oder Abtei als Lehen des Bischofs oder Abtes zu bezeichnen, weil der geistliche Inhaber des Gutes
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nicht Eigentümer, sondern lediglich Nutzer desselben war. Erst Erzbischof Hinkmar von Reims aber zog im Jahre 858 aus dieser Redeweise den Schluß, daß, weil als Lehnsherr nur der König in Betracht käme, Bistümer und Klöster als beneficia regis a Deo sibi commendata den Fisken gleichzustellen wären, die der König zu Lehn ausgegeben habe. So seien in der zweiten Hälfte des 9. und im 10. Jahrhundert Bistümer und Abteien sicherlich für beneficia regalia gehalten worden (E. Lesne 1924 S. 42 – 46) – allerdings, wie sich aus den angeführten Belegen ergibt, nicht von westfränkischen Reichsregierungen und Reichskanzleien, sondern von Klerikern, die sich einen theoretischen Begriff von der Rechtslage des Reichskirchengutes zu machen versuchten. Ebenso aber dachten sie sich die comitatus, die zusammen mit Bistümern, Abteien und Fisken die honores regni ausmachten. Diese indessen unterschieden sich nicht rechtlich von den gewöhnlichen, zur Mobilisierung von Kriegern bestimmten Benefizien, da sie gleich diesen nicht zu Eigentum besessen werden konnten, sondern nur sozial, nämlich durch das fürstliche Ansehen, das die beneficiarii honores ihren Inhabern verschafften (ebd. S. 46 – 48). § 589. Nur bis hierher können wir dem Verfasser mühelos folgen. Schwierig wird es jedoch, wenn er des weiteren meint, wegen der erwähnten Vergleichbarkeit der honores mit den Ritterlehen lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Benefizien der Grafen, Bischöfe und Äbte aus liegendem Gute, wie die herrschende Lehre annahm, oder aus der hoheitlichen Amtsgewalt jener Amtleute bestanden; die Quellentexte ließen beide Annahmen zu (E. Lesne 1924 S. 49 – 53). Hier nun kommt er auf den Bericht des Prudentius über den Aachener Reichstag von 837 zu sprechen: Dessen Ausdruck beneficia habentes sei gewiß nicht ausschließlich auf die Vasallen des viergliedrigen Reihenbegriffs, sondern auch auf die ihnen in der Reihe vorangehenden Bischöfe, Äbte und Grafen zu beziehen. Er interpretiert den Reihenbegriff demnach so, als ob damit episcopi, abbates, comites et ceteri vasalli gemeint seien, als ob also auch die Bischöfe, Äbte und Grafen königliche Vasallen gewesen wären. Aus dieser nach meiner Ansicht (oben: §§ 557, 558) ebenso unzutreffenden wie unnötigen Interpretation folgert der Verfasser, ferner sei anzunehmen, daß Prudentius auch die Amtsgewalten jener Fürsten zu den beneficia zählte, da sich andernfalls nicht alle, sondern nur diejenigen Bischöfe, Äbte und Grafen Karl hätten kommendieren müssen, die außer ihren Ämtern auch noch den einen oder anderen königlichen Fiskus zu verwalten hatten. Daher sei die Annahme begründet, daß auch schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts Bistümer, Abteien und Grafschaften (manchen Beobachtern) als königliche Lehen gegolten hätten (ebd. S. 53 f.). Erst hier erfährt man beiläufig, daß sich E. Lesne unter Benefizien wohl stets vasallitische Lehen vorstellt und einen volksrechtlichen Sinn des Wortes gar nicht in Betracht zieht. Auf die Darstellung des Vorgangs bei Nithard geht er denn auch ebensowenig ein wie auf die Frage, ob im Dezember 837 zu Aachen wirklich Belehnungen mit den genannten honores stattgefunden hätten. Offenbar hielt er es nicht für möglich, mit Prudentius’ Worten zu beweisen, daß nicht nur Notare und Chronisten, sondern auch die Beteiligten selbst, der Kaiser, der König und die be-
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amteten Großen, die königliche Bestallung als vasallitische Belehnung angesehen hätten. In dieser Auffassung sind ihm H. Mitteis (1933 S. 108 f., 132 – 146, 198 – 206) und S. Reynolds (1994 S. 89 – 96, 111 – 114) insofern gefolgt, als sie in ihren Untersuchungen zur Geschichte des Lehnrechts und Lehnswesens dem Dokument von 837 keine Beachtung geschenkt haben, und jüngst hat sich B. Kasten (1997 S. 193 – 197), allerdings ausgehend von einem meines Erachtens unzutreffenden Amtsbegriff (oben: § 556b), geweigert, jenem Dokument nebst verwandten Texten, speziell aber den Worten commendare und fidelitas, einen lehnrechtlichen Sinn beizulegen. Andere Forscher jedoch gaben diese Zurückhaltung auf. Die Mißdeutung des karolingischen Reihenbegriffs für die hohe Reichsbeamtenschaft als eines kasuistischen Begriffs für die königliche Vasallität, die Lesne als problematisch nur in Erwägung gezogen hatte, wurde jetzt zur maßgeblichen Interpretation der Prudentius-Stelle. F. L. Ganshof (1961 S. 25 f., 42, 57) fand, daß in dem Bericht des Prudentius – von Nithard machte er keinen Gebrauch –, wonach sich die in Karls Reich mit Benefizien Angesessenen dem Könige zu kommendieren und ihm Treue zu schwören hatten, „die Vasallenbindungen begründenden Rechtsakte genau beschrieben“ seien, und sah darin den Beweis dafür, daß zwischen Ergebung in die Vasallität und Belehnung bereits eine Rechtsbeziehung derart bestanden habe, daß jene die notwendige Voraussetzung für diese gewesen sei. Nicht zuletzt unter Berufung auf Prudentius hält er es für erwiesen, daß im 9. Jahrhundert nicht nur die weltlichen Träger der königlichen Macht ihre Ämter als vasallitische Lehen besaßen, sondern daß auch Bischöfe und Äbte dem Könige (offenbar auf dessen Verlangen) Kommendation leisten und die Angleichung ihrer Ämter an den Status von Benefizien hinnehmen mußten. Wenn sich dem (gegen B. Kasten 1997 S. 232 f.) ein neuerer Kritiker mit der Behauptung anschließt, der Satz des Prudentius beweise, daß die Großen als Vasallen behandelt wurden, auch wenn hohe Kleriker nie als Vasallen bezeichnet würden (J. Fried 1997 S. 36 f.), so zeigt bereits die passivische Form der Aussage, daß uns noch alle Überlegungen darüber bevorstehen, wer jemanden so behandelte und bezeichnete und in welcher sprachlichen Form er es tat. Studiert man diese Art der Quelleninterpretation, der jeder Bezug zu der öffentlichen Verhandlung auf einem Reichstage verlorengegangen ist, über die Prudentius und Nithard berichten, so kann man schwerlich umhin, Frau Reynolds zuzustimmen, wenn sie feststellt, daß aus dem frühen Mittelalter kaum irgendwelche gesicherten Belege für Lehen und Vasallität auf uns gekommen sind und daß diese wenigen Belege es nicht rechtfertigen können, ein ganzes Zeitalter kurzerhand als feudal zu bezeichnen, zumal die Quellen unendlich oft von freien Grundbesitzern, die ihrem Könige nach Volksrecht gehorchten, und damit von einer Gesellschaft reden, deren Ämterverfassung und soziale Beziehungen keineswegs überwiegend von der Landleihe bestimmt worden sind. Es ist Frau Reynolds allerdings nicht gelungen, deutlich zu machen, wie wir uns diejenige mittelalterliche Verfassung und Gesellschaftsordnung vorzustellen ha-
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ben, die an die Stelle des Feudalismus zu setzen ist. Sie gibt ihren Kritikern zu, daß sie mehr über vorwissenschaftliches Volksrecht und genossenschaftliche Rechtsfindung hätte sagen müssen, die das politische und soziale Leben bestimmten, ohne doch irgendwelche Anzeichen von der Dominanz feudovasallitischer Beziehungen an sich zu tragen: Von den Gemeinden bis hinauf zu den Königreichen seien die politischen Einheiten von den Geboten kollektiver Loyalität und Verpflichtung mindestens ebenso kräftig wie von den persönlichen Bindungen Einzelner an ihre Häupter zusammengehalten worden, und diesen Einheiten (die ich Untertanenverbände nenne) habe das öffentliche Leben mehr Gewicht beigelegt, als das feudale Modell zulassen wolle (S. Reynolds 1997 S. 34). Damit weist sie uns den Weg, auf dem wir zur Erkenntnis einer anderen Form von öffentlicher Beamtenerhebung als der feudalen gelangen und damit den Grund für eine neue Verfassungslehre zu legen versuchen können.
§§ 590 – 598. Zum Eindringen feudaler Institutionen in die Reichsverfassung im 12. bis 14. Jahrhundert § 590. Mit dem lehnrechtlichen Denken, das wir aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit kennen, ist nichts von dem vereinbar, was sich über Grafschaftsverfassung und königlichen Komitat im hohen Mittelalter hat feststellen lassen, und vieles steht dazu geradezu im Widerspruch. So hätten das Fehlen des Begriffs Vizegraf und die Gleichstellung aller Richter, die die Reichskanzlei vornahm, wenn sie sie alle, ungeachtet des Titels, den sie führten, und des Herrn, der sie bestallte, unter dem Namen von comites zusammenfaßte, die feudistisch absurde Konsequenz gehabt, daß der belehnte Verwalter einer Grafschaft oder Lehnsgraf gerichtsverfassungsrechtlich die gleiche Rangstufe erreichte wie der Lehnsherr (R. Scheyhing 1960 S. 240). Ebensowenig wäre es mit einer Reichslehnsverfassung vereinbar gewesen, daß das Volksrecht die königliche oder bischöfliche Belehnung erst dadurch gültig werden ließ. daß die Landes- oder Gerichtsgemeinde den Belehnten zum Haupte annahm und in den Besitz der Amtsgewalt setzte. Verständlich dagegen wird dies alles ebenso wie das, was wir über die Erhebung zum Bischof, Reichsabt oder Herzog in Erfahrung bringen konnten, nur dann, wenn wir dem hohen Mittelalter eine volks- oder landrechtliche Verfassung zuschreiben und uns die Erhebung der Grafen als nach denselben Regeln wie die der Bischöfe und Herzöge ablaufend vorstellen. Der Komitat, den die Könige im 9. und frühen 10. Jahrhundert Herzögen und Großgrafen überlassen hatten, im späten 10. und im 11. Jahrhundert aber vielen Bischöfen und einigen Reichsäbten ausdrücklich übertrugen, war ein weit umfassenderes Hoheitsrecht als die Oberlehnsherrlichkeit, die im Spätmittelalter davon übrigblieb. Wenn man sich fragt, was überhaupt eine Grafschaft war, so reicht es nicht aus, die Befugnisse aufzuzählen, die der Graf vom König oder Bischof empfing, und nebenher zu bemerken: „Die Grafschaft war jedenfalls in erster Linie ein Gerichtsbezirk – daß sie sich infolge-
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dessen auch über einen Personenverband erstreckte, braucht wohl nicht eigens gesagt zu werden“ (H. Hoffmann 1990 S. 456 f.): Vielmehr muß man dies nicht nur ausdrücklich sagen, sondern es auch in den Mittelpunkt der Grafschaftsverfassung rücken. Denn dieser Personen- und partikulare Untertanenverband war genauso wie jene höheren Verbände, zu denen er sich mit anderen Grafschaften vereinigte, um Bischöfe, Herzöge und Großgrafen anzunehmen, und wie der Reichsuntertanenverband, durch den das Volk einen König zum Herrn annahm, vergleichsweise unsterblich. Nicht er, sondern seine Grafen wechselten; nicht dem König, sondern ihm gehörte, er nutzte und beherrschte das Land, welches der König oder ein Bischof dem Grafen als Gebiet oder Amtsbezirk zuwies, in dem er zu gebieten hatte, und nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie auf der Verfügung des fernen Königs, sondern auch und vor allem auf der Kur oder Annehmung durch das Grafschaftsvolk beruhte die Öffentlichkeit des Grafenamtes. Vor allem wegen der Teilnahme des Volkes an der Grafschaft können wir deren Verfassung, gleich der der Bistümer, Herzogtümer, Großgrafschaften und des Königreiches, als öffentliches Recht bezeichnen. Die Gewere des Lehnsmannes erstreckte sich als private Nutzungsgewere auf liegendes Gut und dessen unfreie Bewohner, die Amtsgewalt des Grafen dagegen auf einen Verband alt- oder neufreier Grundeigentümer und das von diesen besiedelte Land, das er zu gesamter Hand in aller Öffentlichkeit als Gerichtsgemeinde beherrschte, ohne daß der Graf daran irgendeine Gewere erlangte. Aus diesem Unterschied ergibt sich der von Heinrich Mitteis (oben: § 552) noch nicht beachtete Grund dafür, daß Bodenleihe und Ämterleihe, mochte man sie in Einzelheiten auch miteinander vergleichen können, doch jede für sich genuine, nicht auseinander ableitbare volksrechtliche Institutionen gewesen sind. Wenn man sich demnach fragt, seit wann die Grafschaften zu Lehn gingen, so hat man, wie hinsichtlich der Ämterverfassung des Reiches überhaupt (oben: § 554), die gesamte Handlungskette ins Auge zu fassen, die ablaufen mußte, damit ein Graf die Gebotsgewalt in einem bestimmten Bezirk erlangte, denn die königliche Bestallung konnte sich nur dadurch in eine Belehnung verwandeln, daß diese Kette zerriß und daß die Kur oder Annehmung durch das Volk aufhörte, ein rechtlich selbständiges Glied in ihr zu sein. Erst dann, wenn sie zur bloßen, mittels Brennrechts (oben: § 535) erzwingbaren Rechtsfolge der königlichen Bestallung geworden, wenn ferner der König des Rechtes, die Kur zu lenken, verlustig gegangen und gezwungen war, demjenigen die Bestallung zu erteilen, der auf Grund dynastischer Hausverträge und des daraus entstehenden Privatfürstenrechts dazu bestimmt war, sie zu empfangen, erst dann konnte man beginnen, diesen Teil der Reichsverfassung als nach Lehnrecht geordnet zu betrachten. Um die Entwicklung zu erfassen, die dahin führte, reicht es aber nicht aus, das Bestallungsrecht des Hochmittelalters allein mit den Begriffen beneficium und vasallus zu erfassen, wie es bisher üblich ist.
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§ 591. Am Ende des 11. Jahrhunderts war die erwähnte Handlungskette noch intakt und das Volk willens und imstande, sie gegen königliche Willkür zu verteidigen. Das erfuhr Kaiser Heinrich IV., als er den Höhepunkt seiner Macht erklommen und im April 1085 auf einem Reichstage zu Mainz einen Gottesfrieden für das ganze Reich verkündet hatte. Von Mainz aus wandte er sich gegen das Zentrum der Opposition in Sachsen, wo ihn das Volk wieder zum Herrscher annahm, cum omni deditione susceptus est, und dem eigenmächtig erhobenen Gegenkönige abschwor: Herman, quem prius regem habuerunt, ab ipsis cum iuramento deiectus est. Das Einvernehmen mit den Sachsen zerbrach jedoch wieder, als der Kaiser die sächsischen Reichsämter absque eorum consensu neu besetzen wollte. Die Sachsen stimmten zwar noch zu, als er die ihm feindlich gesonnenen Bischöfe ab- und die Bistümer mit ihm ergebenen Klerikern besetzte, aber dum seculares eorum potestates vellet similiter permutare, sensit prope omnes principes Saxonicos adversum se coniurare, so daß er unverrichteter Dinge aus dem Lande fliehen mußte (Ann. Ratisp. a. 1085 S. 89. I. S. Robinson 1999 S. 256). Der Widerstand mag sich daraus erklären, daß der Kaiser wohl hätte landfremde Männer zu Grafen erheben müssen, um sich ihrer Treue sicher sein zu können, und daß die Sachsen dagegen ihr Indigenatsrecht verteidigten. Die älteste gräfliche Äußerung über die eigene Bestallung liegt uns aus dem Jahre 1135 vor. In der Narratio einer Urkunde, die Graf Konrad von Luxemburg damals auf Bitten des Abtes, der Brüder und der Ministerialen des Klosters St. Maximin bei Trier ausfertigen ließ, heißt es: Postquam providente deo post discessum piissimi genitoris nostri Willelmi comitis de manu regia quicquid iuris nostri est, cum omni integritate recepimus, consilio fidelium nostrorum, quid nos hominibus nostris, quid nobis homines nostri, quid nos ecclesiis, quid nobis ecclesiae ad advocatiam nostram spectantes deberent sollicite perscrutari studuimus (C. Wampach, UB 1, 548 n. 385). Konrad hatte demnach die väterlichen Reichsämter: den Komitat nämlich sowie die Vogteien (oben: §§ 365, 440) der Reichsklöster St. Maximin und Echternach, nicht vom Vater ererbt, sondern vom Könige empfangen, und zwar nicht nach Lehnrecht, sondern nach Amts- und Land- bzw. Hofrecht, denn hätte er nicht der Annehmung durch seine Untertanen bedurft, um deren Beistand zu gewinnen und dadurch in den Besitz der Amtsgewalt zu gelangen, warum hätte er dann dem Rate seiner Getreuen folgen und die beiderseitigen Rechte und Pflichten durch ein Weistum feststellen lassen sollen? Tatsächlich hätte er weder diesen Rat verwerfen noch Rechte und Pflichten einseitig und willkürlich festsetzen können, denn erst mit deren gegenseitiger Anerkennung kam der Herrschaftsvertrag (oben: §§ 232, 237, 260, 276b, 375, 436) zustande, der ihm die Landesherrschaft verschaffte, worauf ihm die königliche Bestallung lediglich erst ein Anrecht gewährte. So erscheint es mir nicht zweifelhaft, daß, was die Urkunde über die Klostergemeinde St. Maximin bezeugt, auch am Dingstuhl der Grafschaft (oben: § 310) in Luxemburg und im Kloster Echternach vor sich ging, ohne dort freilich beurkundet zu werden: Am Tage nach dem Feste des Klosterheiligen zog der Graf in die Kirche ein, nahm zusammen mit dem Abte
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auf dem Richterstuhl Platz und erfragte in Gegenwart seiner Freien und Ministerialen und der Ministerialen des Klosters das Hofrecht derart, daß drei genannte Worthalter der Klostergemeinde nach Beratung mit den Standesgenossen auszusagen hatten, was sie darüber von ihren Vätern oder aus den Privilegien des Klosters erfahren hatten. Ihr Weistum erging aus gemeinsamem und einhelligem Rate, und als der Graf es angehört hatte, verpflichtete er sich es einzuhalten, hec igitur per sententiam nobis dicta et in . . . privilegiis romanorum imperatorum et regum expressa et confirmata rata habemus nobisque et omnibus successoribus nostris inviolabiliter tenenda in perpetuum relinquimus. Die Urkunde erwähnt es nicht, aber es ist anzunehmen, daß erst nach diesem Gelübde des Grafen, sich dem Hofrecht zu unterwerfen, die Hofgemeinde ihrerseits den Herrschaftsvertrag vollzog, indem sie dem Grafen huldigte. Niemand wird behaupten wollen, die Männer, die an dieser Verhandlung teilnahmen, hätten zwischen dem öffentlichen Amte eines königlichen Grafen oder Vogtes und dem privaten, vom Vater ererbten Gute des Amtsinhabers nicht recht unterscheiden können, sie seien daher versucht gewesen, jenes mit diesem zu verwechseln oder es als sein Zubehör anzusehen oder gar in ihm aufgehen zu lassen, oder was sich die herrschende Lehre auch immer als Wirkungen der Feudalisierung der Ämter auszudenken pflegt. Von einer solchen ist vielmehr im 12. Jahrhundert selbst dann noch nichts zu verspüren, wenn (die Grafschaft und) der König anerkannte(n), daß nur die erblichen Eigentümer eines bestimmten Herrenhofes geeignet sein sollten, eine bestimmte Grafschaft zu verwalten, wie es eine Königsurkunde vom Jahre 1158 bezüglich der Herren von Einbeck und der Grafschaft im Lisgau verfügte (MGH. DF. I. 200). Denn auch dann konnte das begünstigte Grafenhaus allein jenen Herrenhof iure hereditario besitzen und vom Vater an den Sohn weitergeben, die Grafschaft dagegen mußte sich jeder Grafensohn vom Könige neu übertragen lassen: Sie konnte immer noch vom Könige lediglich iure beneficiario vergeben und vom Grafen nach demselben Recht, nämlich leihweise für die Zeit seines Lebens, besessen werden. Es mag dahingestellt bleiben, inwiefern man hier von Anpassung der Ämterleihe an das Allodialerbrecht und Anerkennung der Erbfolge in dem Amte sprechen kann (H. Mitteis 1933 S. 420). Wer darüber spekuliert, sollte nicht übersehen, daß (das Grafschaftsvolk,) die Großen des Reiches und die Reichskanzlei immer noch imstande waren, klar zwischen erblichem Grundeigentum und befristetem Amtsrecht zu unterscheiden: Sie können keiner feudalen Begriffsverwirrung bezichtigt werden. § 592a. Die Anwendung lehnrechtlicher Denkformen auf die Reichsverfassung, die nach der Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzte, war nicht, wie die herrschende Lehre meint (oben: § 544), auf dem Boden der älteren ostfränkisch-deutschen Staatsverfassung herangewachsen, sondern ist ebenso, wie zuvor bereits die Lehre von der Ämterinvestitur (oben: § 549), von außen her an sie herangetragen und ihr als etwas Fremdes aufgepfropft worden. Das ergibt sich aus dem bekannten Vorfall auf dem Reichstag zu Besançon im Oktober 1157, wo Papst Hadrian IV. den Kaiser zur Dankbarkeit dafür aufforderte, daß die römische Kirche ihm durch seine Hand
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die Kaiserkrone mit der kaiserlichen Würde übertragen habe und ihm noch größere beneficia übertragen hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Diese Botschaft empörte die deutschen Fürsten, weil sie daraus als Auffassung der Römer heraushörten, daß ihre Könige imperium urbis et regnum Italicum kraft päpstlicher Schenkung besäßen, daher König Lothar III. im Jahre 1133 zuerst habe Vasall des Papstes werden müssen, bevor er die Krone empfing. Dieser römischen stellten sie die eigene Auffassung entgegen, wonach ihr Oberhaupt wie das Königreich, so das Kaisertum durch ihre Wahl unmittelbar von Gott empfinge (Gesta Frid. III c. 8 – 11). Es handelte sich hierbei um einen Streit nicht über die deutsche, sondern über die römisch-kirchliche Auffassung der Kaiserwürde, um einen Streit also unter Theologen und Kanonisten, wie man daran sieht, daß sich die Deutschen zur Begründung ihrer Ansicht nicht auf das Verfassungsrecht des Reiches, sondern auf die altkirchliche Zweischwerterlehre beriefen: Denn dieser widerspreche, wer behaupte, Kaiser Friedrich habe die Krone vom Papste empfangen, als ob sie ein Lehen wäre, nos imperialem coronam pro beneficio a domno papa suscepisse. Daran freilich hatten die alten ostfränkisch-deutschen Völker nie gedacht, wenn sie sich ihres einhelligen Wählerwillens als göttlich inspiriert gewiß waren und sich die Gekorenen als gratia dei amtierend vorstellten (oben: §§ 487, 513). Aus der deutschen Rechtsauffassung, nach der die Bodenleihe Nutzungsrechte sowohl des Grundherrn als auch des Lehnsmannes und damit eine Zweiheit gleichberechtigter Geweren an dem Leihegut begründete (oben: § 96), kann denn auch die Ansicht nicht erklärt werden, daß die römische Kirche der wahre und ewige Inhaber des Kaisertums wäre und der weltliche Kaiser dieses lediglich in ihrem Auftrage auf Lebenszeit verwaltete. Um die formale Gleichstellung beider Seiten zu tilgen, bedurfte es vielmehr der gelehrten gemeinrechtlichen Interpretation des Erbpachtverhältnisses, die dem Grundherrn das wahre Eigentum an der Sache oder dominium directum, dem Pächter dagegen nur eine Art von Besitzrecht oder dominium utile beilegte und nicht länger wahrhaben wollte, daß die mittelalterlichen Erbpachtverhältnisse mit der klassischen Dichotomie von Eigentum und Besitz nicht zu erfassen, sondern einst als ein Drittes neben sie getreten waren (oben: §§ 352 – 354). Der Lehnsherr als Obereigentümer: diese Auffassung war dem deutschen Recht völlig fremd. Die Deutschen hatten seit jeher das Herrenrecht dem Nutzerrecht nachgeordnet, indem sie den Nutzern ein eigentumsähnliches Erbrecht und das Einungsrecht zugestanden, kraft dessen auch das Herrenrecht darauf angewiesen war, von der Genossenschaft der Lehnsmannen erinnert, tradiert und beschützt zu werden. Aber an dem deutschen Recht waren weder die gelehrten Berater der römischen Kurie noch deren Politiker interessiert, und die Deutschen selbst waren intellektuell unfähig, es ihnen zu erläutern. So setzten sich die Römer kühn über die Frage hinweg, ob die deutsche Reichsämterverfassung überhaupt eine nach den Regeln der Bodenleihe konstruierbare Ämterleihe kannte – eine Frage, die natür-
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lich sofort hätte verneint werden müssen, wenn das Recht des Volkes, seine Häupter zu kiesen und zu ermächtigen, zu berücksichtigen und wenn anzugeben gewesen wäre, auf welches liegende Gut oder Amtsgebiet sich die mit der Kaiserkrone verbundenen Rechte beziehen sollten. Die Deutschen hielten jenes Volksrecht den Römern zwar entgegen, aber sie beharrten nicht auf den juristischen Konsequenzen, da sie ihnen selbst unklar waren. Vielmehr glaubten sie klug zu handeln, wenn sie sich aus den Archiven des Gegners das Argument der Zweischwerterlehre aneigneten, ohne zu bedenken, daß sie deren Interpretation den Kanonisten überlassen mußten und daß die Kanonistik über den Standpunkt dieser Lehre längst hinweggegangen war. Es war eben keine wissenschaftliche Debatte, die hier geführt wurde, sondern eine politische Auseinandersetzung, und die intellektuelle Überlegenheit, zu der die italienische Rechtswissenschaft der römischen Kurie verhalf, gehörte zu den Waffen, mit denen sie ausgetragen wurde. Ihr ist die Behauptung zuzuschreiben, bei der Kommendation und dem Friedenskusse, womit König Lothar III. am 4. Juni 1133 Papst Innozenz II. geehrt hatte, bevor er die Lateransbasilika betrat, um dort die Kaiserkrone zu empfangen, habe es sich um einen Vasalleneid gehandelt (RI 4, 1, 1 n. 345). Auf dieser Behauptung fußte die juristische Theorie, der zufolge das höchste, vom deutschen Volke im Rahmen seiner Reichsverfassung vergebene Amt den in Deutschland ganz unbekannten Regeln eines in Rom konstruierten Lehnrechts unterliegen sollte. § 592b. Unzutreffend ist daher auch die Behauptung, nachdem Kaiser Friedrich im Anschluß an jenen Reichstag zu Besançon, nach neuerer Ansicht jedoch erst dreizehn Jahre später (MGH. DF. I. Bd. 3 S. 581, Bd. 5 S. 279 f.) durch ein Reichsweistum habe feststellen lassen: Quoniam ea, quae ab imperio tenentur, iure feodali possidentur, hätten „keine Grafschaften mehr Amtscharakter haben“ können (W. Kienast 1990 S. 570, nach H. Lieberich 1954). Um ein Reichsweistum nämlich kann es sich dabei nicht gehandelt haben, da der Kaiser außerhalb des Reiches im Königreich Burgund verweilte, als er jenen Ausspruch tat, und weil er dort imperiali auctoritate, d. h. als selbsturteilender Einzelrichter (K. F. Krieger 1970 S. 425) nach italienischem gemeinem Rechte (J. Weitzel 1985 S. 1061), nicht aber im deutschrechtlichen Verfahren mit Rat der Fürsten urteilte. Die Sentenz ist in einem offenen (an alle adressierten) Mandat enthalten, dessen Kontext aus drei Sätzen besteht: (1) Alles, was vom Reiche (ab imperio) gehalten wird, ist Besitz nach Lehnrecht (iure feodali possidentur) und kann daher nur mit Willen des Eigentümers (domini) ins Eigentum (dominium) eines anderen übergehen; (2) die Bürger von Marseille haben ein Leihegut (beneficium), das sie vom Erzbischof von Arles hielten, an den Grafen der Provence vertauscht, ohne hierzu unsere oder des Erzbischofs Zustimmung einzuholen; (3) daher ist dieser Tausch nichtig, ohne daß es eines Urteils bedarf (inanis est et ipso iure irritatur), und wir kassieren ihn kraft kaiserlicher Autorität (MGH. DF. I. 187). Der Form nach haben wir es mit einem klassischen Syllogismus zu tun. In ihm stehen da, wo der Obersatz vom Kaisertum und vom Lehnrecht spricht, im Unter-
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satz der Erzbischof von Arles und ein als Benefizium besessenes Gut (notabene: kein Reichsamt). Das Mandat spricht damit die alte deutsche, uns aus den Grafschaftsschenkungen an Bischöfe vertraute Rechtsansicht aus, wonach die bischöflichen Reichskirchen insofern dem König gleichstanden, als sie (und nur sie) gleich ihm das volle und ewige Eigentum des Reiches am Reichsgut innehaben konnten, wogegen allen anderen Personen, seien es Einzelne oder Gemeinden, daran nur ein befristetes Besitzrecht erreichbar war. Unter dem ius feodale des Mandates ist also nichts anderes als das deutsche ius beneficiarium zu verstehen. Das lombardische und okzitanische Lehnrecht hatte jedoch die deutsche Rechtsauffassung längst hinter sich gelassen. In den südlichen Ländern war man es bereits gewohnt, Lehen als Eigentum zu behandeln, auf dem zwar noch unablösbare dingliche Lasten zugunsten des Lehnsherrn ruhten, dessen Veräußerung dies aber nicht mehr im Wege stand (H. Mitteis 1933 S. 403 f.). Die Bürger von Marseille und der Graf von Provence werden deshalb die Interpretation des ius feodale, die ihnen das kaiserliche Mandat entgegenhielt, zweifellos zurückgewiesen und dabei die Rechtsprechung der örtlichen Land- oder Lehnsgerichte auf ihrer Seite gehabt haben. Für die Bewohner des Deutschen Reiches nördlich der Alpen dagegen hätte der Obersatz des Mandates, wenn dieses ihnen denn jemals zur Kenntnis gekommen wäre, in der Sache nichts anderes ausgesagt, als was sie ohnehin für Recht hielten. Als neu dagegen hätten sie gewiß dessen Sprache vermerkt. Denn noch nie hatten sie gehört, daß jemand ihrem ius beneficiale den Namen ius feodale gab. Auch konnte es sich bei dem Imperium, dem das Reichsgut so gehörte, daß allein kraft kaiserlicher Autorität darüber zu verfügen war, nicht um die Kaiserwürde handeln, die das deutsche Reichsvolk für seinen König vom römischen Papste erwarb, sondern nur um die autokratische der altrömischen Imperatoren, welche sich König Konrad III. seit 1142 und Friedrich I. schon vor seiner römischen Krönung gelegentlich beizulegen pflegten. Und nur der Inhaber eines solchen Weltkaisertums konnte es wagen, das deutsche ius beneficiarium zum ius feodale oder vasallitischen Lehnrecht im italienischen Sinne zu erklären und ihm damit einen Rechtsinhalt zu unterschieben, der dem Benefizialrecht in der deutschen Rechtssprache nicht zukam. Nimmt man hierzu die Form des Syllogismus hinzu, in die das autoritäre kaiserliche Mandat gekleidet ist, so ergibt sich mit Sicherheit, daß dieses Mandat weder aus dem Rechtsdenken der Fürsten, die dem deutschen König die Urteile zu weisen pflegten, noch aus dem Sprachgebrauch der Reichskanzlei hervorgegangen ist. Hier war vielmehr ein Diktator am Werke, der in den zu Bologna gelehrten Künsten der Ars dictaminis (F. J. Worstbrock 1991 S. 141), des Glossierens und Subsumierens erfahren war, ein Meister in der Kunst, „mit Hilfe einer juristischen Konstruktion, die in einer für die Barbarossazeit sehr bezeichnenden Weise das römische Recht ausnutzt,“ die Beziehungen zwischen König, Bischof und Grafen einer lehnrechtlichen Interpretation zu unterwerfen (P. Classen 1963 S. 93).
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§ 593. So dürften der Begriff des ius feodale und seine Anwendung auf die hohen, fürstlichen Reichsämter zusammen mit dem gelehrten römisch-kanonischen Recht nach Deutschland gekommen sein, übermittelt von Klerikern, die die hohen Schulen in Bologna oder Paris besucht hatten und jetzt die deutschen Bischöfe bei der Aufgabe berieten, die verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus dem Wormser Konkordat (oben: § 323b) zu ziehen. Aber auch die Herrscher aus dem staufischen Hause bedienten sich solcher Berater. An die Idee des römischen Imperiums und seiner universalen Rechtsmacht anknüpfend, gelangte Kaiser Friedrich I. zu einer neuen Auffassung vom Staate und von seinem königlichen Amte. Sie beide sollten sich ihre Aufgabe nicht mehr von der Kirche vorschreiben lassen, sondern ihre Zwecke als die eines weltlichen Imperiums selbst bestimmen, sollten Recht und Frieden nach den Geboten des gemeinen Nutzens (oben: § 236) bewahren und sich nur insoweit in den Dienst der universalen Kirche stellen, wie es diesem Staatszwecke dienlich war. Wo aber bei Hofe keine gelehrten Berater am Werke waren, da wußte man auch weiterhin nichts davon, daß königliche Ämter nach Lehnrecht vergeben worden wären, so in dem von Kaiser Friedrich im Jahre 1165 vermittelten Vergleich betreffend die Verfassung der Grafschaft Friesland (oben: § 323c). Und nicht nur die Urkunden, sondern auch ein Schriftsteller wie Giselbert von Mons, der seine Chronik der Grafschaft Hennegau im Jahre 1196 verfaßte und dabei mit einer für mittelalterliche Chronisten ganz ungewöhnlichen Genauigkeit die staatsrechtlichen Verhältnisse beobachtete, zeigt, daß man im comitatus und principatus das vom König empfangene Amt selbst dann noch von dem ererbten fürstlichen Hausgut unterschied, als man es bereits gewohnt war, jenes als Lehen zu bezeichnen. Belehnung war eben zunächst nichts weiter als ein neues Wort für eine alte Sache, nämlich für die königliche Bestallung. Weitaus länger, als gewöhnlich angenommen wird, hielt man geliehene Amtsgewalt und ererbte Rechte der Fürsten scharf auseinander; erst im 13. Jahrhundert erlosch das öffentliche Interesse an der Scheidung und begann man, den Gegensatz zu verdunkeln (J. Ficker / P. Puntschart 1923 S. 216). Seit dem Wormser Konkordat entfaltete sich an den Bischofshöfen und auf den Reichstagen eine neue Auffassung von dem Verhältnis der Reichskirchen zum Könige, weil es jetzt darauf ankam, zwischen den extremen Forderungen der Kirchenreformer und dem herkömmlichen Reichskirchenrecht zu vermitteln. Wenn man nämlich annahm, die Bestallung, die der König den Bischöfen und Reichsäbten erteilte, sei eine vasallitische Belehnung, Kirchenfürsten besäßen daher Reichsrechte oder Regalien wie den königlichen Komitat vom Reiche zu Lehen, so sicherte man ihnen damit ebenso deren ewigen und unwiderruflichen Besitz zu wie dem Reiche das Obereigentum und den Anspruch auf die herkömmlichen Servitien, die dem Könige nun als Lehnsherrn zustanden. Die für die Bodenleihe und das Verhältnis zwischen fürstlichen Grundherren und ritterlichen Vasallen ausgebildeten und von den Lehnsgerichten gehüteten Normen gewährten den Vasallen längst ein erbliches und somit eigentumsartiges Besitzrecht am Lehen, solange sie getreulich den Pflichten nachkamen, deren Erfüllung der Lehnsherr von ihnen ver-
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langen durfte. Die Anwendung dieser Normen auf die hohen Ämter der Reichskirche lag aber näher und war einfacher zu rechtfertigen als eine Anwendung auf die weltlichen Ämter, weil der kirchliche Grundbesitz mitsamt den darauf errichteten Kathedral- und Klosterkirchen, nebst zugehörigen Bischofs- und Klosterpfalzen, als Reichsgut galt und seit jeher sowohl vom Könige als auch vom Bischof oder Abte genutzt wurde. In diesem vom Reiche geschützten und bevogteten Grundbesitz hatte man das Lehngut vor Augen, ohne das eine lehnrechtliche Interpretation der königlichen Bestallung nicht möglich gewesen wäre, eben jenes dingliche Leihegut, als welches sich Herzogtümer und Grafschaften so schwer vorstellen ließen, solange sie sich die Formen gebietsbezogener Personenverbände bewahrten (oben: §§ 206 – 212, 552). § 594. Aber diese Schwierigkeiten waren nicht groß genug, um angesichts der politischen Vorteile, die sich die Fürsten davon versprachen, den Lehnsgedanken von den weltlichen Fürstentümern fernzuhalten. Wie sie dessen Anwendung rechtfertigten oder ob sie der Meinung waren, darum könnten sich ihre juristischen Berater später kümmern, das wissen wir nicht; fest steht lediglich, daß König und Fürstenrat die Anwendung bis zum Jahre 1180 hin beschlossen und vollzogen, da sie in diesem Jahre, als Hofgericht konstituiert, Herzog Heinrich den Löwen einerseits wegen hartnäckigen Ungehorsams gegenüber wiederholten Vorladungen nach Königs- und schwäbischem Volksrechte in die Reichsacht urteilten, andererseits aber ihm seine Herzogtümer Sachsen und Bayern nach Lehnrecht, sub iure feodali, aberkannten, weil er sowohl die Reichskirchen und die Rechte von Fürsten und Edlen als auch die kaiserliche Majestät mißachtet habe, was voraussetzt, daß man die Rechte der geistlichen und weltlichen Fürsten als Reichslehen und die königliche Majestät als lehnsherrliche Gewalt betrachtete. Es ist nicht nur zu erkennen, wie zu dieser Zeit die Verschiebung der Rechtsbegriffe vom alten, volks- und amtsrechtlichen hinüber zum lehnrechtlichen Denken im Gange war, sondern auch, daß sie im Bunde mit jenen neuen, römischrechtlichen Vorstellungen vom Kaisertum vor sich ging, ohne die man den Herzog weder als contumax hätte verurteilen noch ihm evidenten reatus maiestatis vorwerfen können. Welche alten Begriffe von der Herzogserhebung sich darunter verbargen, geht daraus hervor, daß das Urteil dem Herzoge schließlich sowohl die beiden Dukate als auch universa que ab imperio tenuit beneficia aberkannte (MGH. DF. I. 795): Die beiden herzoglichen Ämter waren immer noch etwas anderes als die Regalien, die der Herzog vom Reiche hielt, und unter ius feodale dachte man sich nun sowohl das früher durch königliche Bestallung begründete Amtsrecht als auch, was man zuvor ius beneficiarium genannt hatte. Ius feodale war der Oberbegriff, unter den sich nun beides subsumieren ließ, die königliche Quelle und die rechtliche Form des Fürstenrechts. Damit war die Bestallung der Güterleihe gleichgestellt und endlich der Begriff der Ämterleihe erfunden, den die herrschende Lehre so gerne in die Karolingerzeit zurückdatiert. Vom Standpunkt des alten Reichsrechts aus betrachtet, war dies alles fragwürdig, und es sollte noch lange währen, bis das neue Reichsrecht, das jetzt an den
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Tag drängte, eine deutlichere Gestalt annahm. Das Reichsurteil von 1180 läßt aber zugleich die politischen Interessen hervortreten, die die Fortbildung der Reichsverfassung antrieben. Es waren die der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten, der principes imperii, deren Name uns hier zum ersten Male entgegentritt und auf den ständestaatlichen Dualismus vorausweist, darauf sich später die neue Reichs- und Staatsverfassung gründen sollte. Wie ein Senat des Reiches traten die Fürsten, die den König berieten und ihm in Einhelligkeit sowohl die Urteile wider den Herzog wie die Grundzüge einer neuen Reichsverfassung diktierten, dem Herrscher gegenüber, um als Verband ihm gleichberechtigter Mitregenten die Geschicke des Reiches zu lenken. Gemeinsamer Wille nun sowohl der geistlichen als auch der weltlichen Reichsfürsten war es, daß sich der König die Macht nicht mehr mit den vizeköniglichen Herzögen der alten Regna, sondern mit ihnen teilen sollte, daß die Untertanenverbände der Regna und ihre Volksrechte abgetan sein und durch die Gebietsherrschaft ersetzt werden sollten, die ein jeder Fürst in seinem Lande zusammen mit der Landesgemeinde ausübte, und schließlich, daß die Nachfolger der alten Gauund Dinggrafen in ihren Cometien nicht mehr unmittelbar vom Könige bestallt, sondern, gleich allen anderen nichtfürstlichen Reichsvasallen, grundsätzlich zur Mediatisierung durch die Reichsfürsten und zur Einordnung in deren Landesherrschaften bestimmt sein sollten (H. Mitteis 1953 S. 256 – 259). § 595. Der neue, den irdischen Aufgaben des Staates verpflichtete Staatsgedanke war nicht allein eine Schöpfung des staufischen Königtums. Unabhängig von der königlichen Politik, ja vielleicht sogar im Widerspruch zu ihr nämlich verfolgten die Fürsten das Ziel, sich zum Senat des Reiches zu machen. Die Anfänge dieser Bestrebungen liegen im Investiturstreit. Im Jahre 1076 / 77, als die königliche Regierung durch den Ausschluß Heinrichs IV. aus der kirchlichen Gemeinschaft gelähmt war, hatten zum ersten Male die Fürsten gemeinlich das Reich regieren müssen und während der Erhebung König Rudolfs sogar die Königswahl selber gelenkt. Während der Interregna von 1125 und 1138 hatte sich diese politische Konstellation widerholt. Besonders die geistlichen Fürsten waren seitdem bestrebt, gemeinsam sich die Lenkung der Königswahl vorzubehalten. Doch konnten sie die Laienfürsten nicht völlig davon ausschließen. Um aber nur möglichst wenige derselben zu ihrem Kreise zulassen zu müssen, ohne doch die Rechtsgleichheit innerhalb des Fürstenvereins zu verletzen, suchten sie das Wahlrecht auf einige wenige Gebietsherzöge und Großgrafen zu beschränken, indem sie die Reichsunmittelbarkeit zur Voraussetzung der Zugehörigkeit machten. Und dabei kam ihnen die neue Lehre vom fürstlichen Lehnrecht zu Hilfe: Nur solche Fürsten, die gleich ihnen, den geistlichen, zusammen mit dem Fürstenamte auch königliche Komitate und Regalien aus der Hand des Königs selbst empfangen hatten und daher nicht nur königlich bestallte Amtleute, sondern auch Kronvasallen heißen konnten, sollten fähig sein, dem Kreise oder Stande der Reichsfürsten anzugehören. Folge dieser Politik war der Ausschluß des Volkes und seiner lokalen Worthalter, der Schöffen, Vögte und Dinggrafen, von der Kur. Zwar blieb es erwünscht, daß
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das Volk jubelnd zustimmte, wenn die Fürsten den Namen des Gekorenen öffentlich bekanntgaben, aber staatsrechtlich war seine Zustimmung und Huldigung bald nicht mehr notwendig. Zum ersten Male gab die Doppelwahl von 1198 etlichen geistlichen Reichsfürsten Anlaß zu der amtlichen Erklärung, daß die Kur von Rechts wegen denjenigen geistlichen und weltlichen Fürsten zustünde, die ihre Reichslehen, feoda nostra, que ab imperio tenemus, aus der Hand des Erwählten gegen Leistung des Vasalleneides alsbald nach der Krönung in Empfang nähmen (H. Mitteis 1944 S. 134). Da das ältere Reichsrecht, das die Rechte der königlichen Amtleute auf deren Bestallung durch den König und Annehmung durch das Volk begründete, insofern zwischen Herzögen und Großgrafen auf der einen und Gauoder Dinggrafen auf der anderen Seite keinen Unterschied gemacht, sondern sie alle als königliche Richter oder comites einander gleichgestellt hatte (oben: §§ 561 – 564), obwohl doch nur jene den königlichen, diese dagegen nur den gräflichen Komitat verwalteten, hat es lange gedauert, bis die einfachen Grafen, die nach neuem, feudalrechtlichem Verständnis nicht mehr als Reichsfürsten gelten konnten, definitiv aus dem Kreise der Königswähler ausgeschlossen und das Standesgefühl der neuen Reichsfürsten so weit erstarkt war, daß sie die Mitwirkung von Untergenossen bei der Königswahl ebenso strikt ablehnten wie beim Urteil über beklagte Standesgenossen (H. Mitteis 1944 S. 151. Oben: § 209, unten: § 730). Erst mit der Terminologie des gemeinen und feudalen Rechtsdenkens wurden Begriffe wie Reichsunmittelbarkeit und Mediatisierung auf freie Männer und Untertanenverbände anwendbar; das alte Reichsrecht hatte für solche Vorstellungen keinen Raum gehabt (D. Willoweit in HRG 4 Sp. 799 – 801. P.-J. Schuler in LMA 7 Sp. 645). Den Grafen, die den Volksgerichten vorsaßen und das ihnen durch die Schöffen gewiesene Recht des Volkes verwalteten, gelang es nicht, ihre alte Gleichstellung mit Herzögen und Großgrafen zu behaupten, und damit büßten auch die Gerichtsvölker die Stellung ein, die ihnen einst als kleinsten Einheiten des Reichsuntertanenverbandes zugekommen war. Ihre Grafen aber waren zu zahlreich (oben: §§ 206, 286, 319) und zu sehr königliche und volkliche Beamte, um in ihrer Gesamtheit mehr als eine bloße Gruppe, etwa einen als ganzes handlungsfähigen Stand zu bilden und im Reiche oberhalb der Länder und neuen Gebietsherrschaften, denen sie sich eingeordnet fanden, eine bestimmte Standespolitik betreiben zu können, wie es die Reichsfürsten taten (F. Keutgen 1918 S. 89). Denn während von diesen oft genug die Mehrheit an den Reichsversammlungen teilnahm und dort dem Könige als Einheit gegenübertrat, konnten von den Grafen, gemessen an ihrer großen Zahl, doch immer nur einzelne an den Reichs- und Hoftagen teilnehmen, und diese wenigen blieben auf Grund der Folgepflicht, die die gemeine Willensbildung beherrschte (oben: § 26), auf die Rolle eines Appendix der Fürstengruppe beschränkt. § 596a. So gelang es den Reichsbischöfen und Reichsäbten, sich unter Hinzuziehung einiger Herzöge und Großgrafen mit Hilfe des Lehnrechts über den Stand der Edelfreien zu erheben und als Sondergruppe der Kronvasallen im Reichsfürsten-
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stande feste Formen zu geben. Dabei wahrten sie sich den Vorrang vor den Laienfürsten nicht nur dank ihrer größeren Zahl, sondern auch deswegen, weil die Laienfürsten nicht nur vom Könige, sondern auch von ihnen Lehen anzunehmen gewohnt waren; sie standen daher im Heerschilde über ihnen. Das neue Reichslehnrecht diente jedoch nur dazu, den Reichsfürstenstand gegen den Stand der Grafen und Edelfreien abzugrenzen. Die Standesverfassung selbst dagegen war nicht feudal, sondern beruhte auf dem Einungsrecht, dessen sich seit jeher nach Volksrecht alle freien Männer hatten bedienen dürfen, sofern sie keine reichsfeindlichen Zwecke verfolgten (oben: Sechstes Kapitel). Auch das Recht, den König zu kiesen, stand den Reichsfürsten nicht als Kronvasallen zu, sondern nach Volksrecht als Worthaltern ihrer Untertanenverbände. Noch dem Verfasser des Sachsenspiegels stand fest, daß es die Deutschen (insgesamt) waren, die sich durch die Fürsten einen König erkoren (Ssp. Lr. 4 § 2), mochten diese im übrigen auch Kronvasallen sein. Als nahezu unlösbar erwies sich namentlich das Problem (oben: § 546), den dinglichen, sachen- oder liegenschaftsrechtlichen Gegenstand anzugeben, über den der König verfügte, wenn er einen Reichsfürsten mit einem Fürstentum in bestimmten territorialen Grenzen belehnte. Denn wie konnte das gesamte Territorium ein Reichslehen sein, wenn der König einen geistlichen Fürsten doch bloß mit dem vom Reiche stammenden Kirchenvermögen, neben dem es auch noch sowohl kirchliches als auch privates Allodgut gab, und wenn er einen weltlichen Fürsten mit einem Lande belehnte, das sowohl aus Reichsgut wie aus fürstlichem und privatem Allod bestand? Die Juristen mußten den merkwürdigen Widerspruch anerkennen, daß die Fürstentümer zwar insgesamt, nicht aber unbedingt auch in allen ihren Bestandteilen als Reichslehen galten. „Den hier zutage tretenden Grenzen des Feudalisierungsprozesses“ versuchte die Reichskanzlei seit Karl IV. durch eine Erweiterung der Verleihungs- bzw. der Pertinenzformel Rechnung zu tragen, und so entstand „die von der Rechtssystematik her paradoxe Situation . . . , daß der König dem betroffenen Reichsfürsten nicht nur seine Reichslehen, sondern auch sein Eigengut nach Lehnrecht verlieh . . . Mit dieser eigentümlich anmutenden juristischen Konstruktion wollte man wohl einerseits den Realitäten in der Praxis Rechnung tragen und andererseits aber auch deutlich zum Ausdruck bringen, daß das Fürstentum in seinem gesamten Güterbestand dem Fürsten vom Reich verliehen sei, und daß daher selbst das zugehörige Eigengut als vom Reiche abgeleitet und damit als herrschaftlich gebunden anzusehen sei“ (K.-F. Krieger 1979 S. 262 f., 316 – 318, 578). Möglich geworden war diese Konstruktion erst zu einer Zeit, als der Untertanenverband, dem der Fürst vorstehen sollte und der ihm die Gebietsherrschaft wirklich vermittelte, den Blicken der Mächtigen und ihrer juristischen Helfer völlig entschwunden war. § 596b. Als herrschaftlicher Verband hatte die Genossenschaft der Reichsfürsten einer Begründung durch Schwureinung nicht bedurft; die Reichsfürsten konstituierten sich jedesmal dann als Einung, wenn sie sich durch Übereinstragen der Einzelwillen einen einhelligen Gemeinwillen bildeten, denn Uneinigkeit hätte es ihnen
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ebenso wie jeder anderen Einung verwehrt, überhaupt etwas rechtsgültig zu beschließen. Wenn sie während eines Interregnums zusammentraten, um als Verbandshaupt des Reiches den neuen König zu kiesen, so konstituierten sie sich als akephale gebietsbezogene Einung (unten: § 721). Hatten sie sich aber dem Gekorenen durch Treueid und Lehnsempfang verpflichtet, so kehrten sie zur Form der herrschaftlichen Einung zurück, in der sie nur noch auf Befehl des Königs zusammentreten und beschließen konnten. In ihrer Willensbildung jedoch blieben sie auch dann formal frei, da der König von ihren Beratungen über Reichsgesetze und Urteile von Rechts wegen ebenso ausgeschlossen war wie jeder Richter von denen seiner Schöffen und Urteilsfinder (oben: § 310). Man hat den Reichsfürstenstand als ständische Einung auf feudaler Basis bezeichnet (H. Mitteis 1953 S. 257). Aber bei näherem Hinsehen erweist sich die volks- oder einungsrechtliche Basis als sehr viel gewichtiger denn die feudale, war doch der feudale Rahmen der Standesbildung nicht älter als diese selbst und weniger ihre Grundlage als ihr Geschöpf. Der Sprachgebrauch der Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts scheint mir nur dann verständlich zu sein, wenn ich annehme, daß der Rechtsinhalt dessen, was man als ius feodale bezeichnen wollte, damals erst im Entstehen begriffen war und nur sehr allmählich die älteren volks- und amtsrechtlichen Vorstellungen überlagerte und mit neuem Sinn erfüllte. Hätte damals das ius feodale als Grundlage der Ämterverfassung des Reiches, wie man gewöhnlich annimmt, bereits eine vierhundertjährige Geschichte hinter sich gehabt, so müßten seine Formen bereits ausgereift gewesen sein und die neue Reichsverfassung weit stärker, als es tatsächlich der Fall ist, geprägt haben. Ich betrachte demnach das ius feodale, von dem die Verfassungsurkunden des Reiches sprechen, (im Gegensatz zum Recht der vasallitischen Bodenleihe) als eine von der Reichsregierung beförderte, dem Volksrechte fern-, wenn nicht sogar entgegenstehende Neubildung des 12. und 13. Jahrhunderts, die nicht ohne Beihilfe von Seiten des in Reichsitalien ausgebildeten gelehrten römisch-kanonischen Rechts hätte geschaffen werden können. Diese Neubildung war niemals imstande, die gesamte Reichsverfassung zu durchdringen, geschweige denn die Masse der althergekommenen volks- und amtsrechtlichen Verfassungsnormen zu verdrängen oder durch etwas Neues zu ersetzen. Niemals sind die Vollmachten des Königs und Kaisers auf die eines obersten Lehnsherrn reduziert worden. Königliche Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit, das Verhältnis des Königs sowohl zu den reichsunmittelbaren Land- und Stadtgemeinden als auch zu den immer noch zahlreichen freien Grundeigentümern etwa beruhten weiterhin auf Volks- oder Landrecht. Für den Allodialbesitz selbst der Reichsfürsten blieb das Gericht der cometia zuständig, in deren Bezirk es gelegen war, und nur um fürstlichen Lehnsbesitz mußte die Klage vor dem Königsgericht erhoben werden. Dieses blieb als oberstes Gericht sowohl nach Land- wie nach Lehnrecht für alle freien Männer erreichbar, wenn sie einen Grund hatten, Evokation ihrer Klage vom Gericht der Landes- oder Lehnsherren an das Reich zu begehren oder gegen dessen Urteil an dieses zu appellieren.
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§ 597a. Die fremdrechtliche Überformung der Reichsverfassung, in deren Gefolge die Reichsregierung ihre Position durch das ius feodale zu stärken suchte, rief nämlich durchaus volksrechtlichen Widerstand hervor. Obwohl sich die römische Kirche seiner am erfolgreichsten bediente, darf man das gelehrte römisch-kanonische Recht nicht einfach als päpstliches Recht betrachten; es war vor allem die Frucht eines neuen Bildungs- und Wissensdranges, der das Verhältnis der Menschen zu Recht, Staat und Kirche im ganzen Abendlande veränderte und letzten Endes auf einen Ausgleich der im Investiturstreit aufgebrochenen Gegensätze drängte. Unter diesen aber litten insbesondere die geistlichen Reichsfürsten, die sowohl dem alten Volks- und Amtsrecht als auch dem neuen kanonischen Recht gehorsam sein sollten. Konflikte, wie sie im Jahre 1206 in Köln wegen des Herzogs- und Bischofswahlrechts ausbrachen (oben: §§ 526 – 531), konnten jedoch nur dann friedlich geschlichtet werden, wenn sich auch das Volksrecht Gehör zu verschaffen vermochte, und dazu bedurfte es der Fürsprache von Männern, die einerseits als Schöffen oder Richter mit ihm vertraut, andererseits aber in der neuen Wissenschaft so weit bewandert waren, daß sie sich der lat. Sprache zu bedienen verstanden, die sie als rationis capaces erwies und dazu befähigte, die Argumente des gelehrten Rechtes aufzunehmen. Ein solcher Experte war der von 1209 bis 1233 durch mehrere Urkunden als lebend erweisliche ostsächsische Schöffe Eike von Repgow, der es in den Jahren 1221 – 25 unternahm, zuerst in lat., dann aber auch in der Volkssprache das in den Gerichten seiner Heimat angewandte Land- und Lehnrecht schriftlich darzustellen. Vermutlich gaben die von Papst Innozenz III. (1198 – 1216) beförderte Kodifikation des reformierten Kirchenrechts und dessen intensive gelehrte Kommentierung den Anstoß dazu, daß damals in ganz Europa ein Streben nach schriftlicher Festlegung des weltlichen Rechtes einsetzte, wovon Eikes Sachsenspiegel und das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch die ersten Früchte waren. Allein schon als Erzeugnis der Schreibkunst mit dem Schulwesen der Kirchen verbunden, erweist sich denn auch der Sachsenspiegel als durchsetzt von biblischem Gedankengut und gern dazu bereit, von Kanonisten treffend formulierte Normen zu übernehmen (St. Gagnér 1960 S. 300 – 307). Deren Kenntnis verdankte Eike allerdings wohl vorwiegend dem Gespräch mit kundigen Klerikern. „Konkrete Verwendung einzelner Schriften ist kaum erwiesen, nur Ähnlichkeiten, die aus unmittelbarer oder sekundärer Lektüre stammen können, sind gegeben, so daß nicht viel mehr als ein allgemeiner – allerdings weiter – Bildungshorizont auszumachen ist“ (F. Ebel in HRG 4 Sp. 1234). Bei aller Gläubigkeit und Kirchentreue allerdings favorisiert das Reichs- und Rechtsbild des Sachsenspiegels entschieden die weltliche Seite gegenüber der kirchlichen (ebd. Sp. 1235). Das Lehnrecht des Sachsenspiegels ist das Lehnrecht des Ritterstandes (Ssp. Lr. 2 § 1), und zwar derjenigen Ritter, die Aftervasallen des Reiches waren, derer nämlich, die, wenn die Deutschen einen König koren, mit ihren Fürsten den neuen Herrn nach Rom begleiten mußten, damit er dort die Weihe empfinge: denn auf diese Heerfahrt mußte jeder Mann fahren mit sime herren, de des rikes
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2. Teil: Der Staat
gut to lene hevet (ebd. 4 §§ 2, 3). Das gemeine Lehnrecht (ebd. 71) ist daher das Recht der zu Afterlehn ausgetanen Rittergüter des Reiches. Die Fürsten als Kronvasallen und der König als oberster Lehnsherr erscheinen hier lediglich als Inhaber der Gerichtsbarkeit über diese Lehen (ebd. 65 – 70). Dagegen war es Landrecht, daß sich die Fürsten strafbar machten, wenn sie dem königlichen Aufgebot zu Reichsdienst oder Hoffahrt nicht Folge leisteten (Ssp. Ldr. III 64 § 1). Obwohl diese Norm wohl auch auf die Heerfahrt zu beziehen ist, war für ihre Begründung das Landrecht offensichtlich wichtiger als das Lehnrecht (K. G. Hugelmann 1955 S. 430 – 450). Ebenso ist es im Landrecht geregelt, daß die Reichsfürsten, die befugt sind, den König zu kiesen, Kronvasallen sein müssen und daß namentlich Laien nur als Inhaber eines Fahnlehens dazu gehören (ebd. III 57 § 2, 58 §§ 1 – 2, 60 § 1), und Landrecht ist auch, daß erwählte Bischöfe und Reichsäbte die Verwaltung ihrer Fürstentümer samt der Lehnshoheit über die Aftervasallen erst dadurch erlangen, daß sie vom Könige die Belehnung empfangen: daz lên sollen sie vore untfân und die bîsorge nâ (ebd. III 59 § 1, oben: § 430). Eike war vermutlich nicht davon überzeugt, daß die königliche Belehnung etwas anderes war als die alte volks- und amtsrechtliche Bestallung; der neue Name hatte für ihn die Sache nicht verändert. So brauchte er auch nichts weiter über den Kreis der Königswähler zu bemerken und darüber, wie sich in den letzten hundert Jahren die Formen der Wahl und Annehmung verändert hatten (oben: §§ 435, 436, 440). § 597b. Dies alles spricht dafür, daß Eike die Vorstellung einer Ämterleihe im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich als Anwendung der Regeln ritterlicher Güterleihe auf königliche Amtsgewalten, im Grunde genommen immer noch fremd war, auch wenn er sich den Gebrauch des Wortes Belehnung für die Bestallung bereits angeeignet hatte. Wo er im Zusammenhange des Lehnrechts darauf zu sprechen kommt, nimmt er, was darüber zu sagen ist, von dem gemeinen Lehnrecht der Güterleihe sogar ausdrücklich aus: Anders nämlich sei gestellt, wer Gerichte vom König zu Lehen habe, denn solches (Lehen) dürfe nicht in die vierte Hand kommen, abgesehen von dem Schultheißentum, dürften doch Grafen ohne belehnten Schultheißen nicht dingen (Ssp. Lr. 71). Hier ist von dem königlichen Komitat die Rede, den die Laienfürsten nach Herkommen, die geistlichen dagegen kraft königlicher Übertragung innehatten. Er enthielt einerseits die Befugnis, die Grafenwahlen zu lenken und die Gekorenen mit dem gräflichen Komitat auszustatten; weiter konnte der Komitat nicht gemindert werden, daher die Grafen nur noch Schultheißen zu ermächtigen hatten (oben: §§ 562, 563). Andererseits enthielt der königliche Komitat das Recht, die königlichen Anteile am Ertrage der königlichen Fisken in Empfang zu nehmen (oben: § 576). Insofern konnten die königlichen Gerichte als regelmäßige Erträge abwerfende Sachen betrachtet und tatsächlich mit liegenden Lehnsgütern verglichen oder ihnen gleichgestellt werden. Wenn Eike aber diesen Vergleich anstellte, wie er sich denn in seiner Darstellung überall von freier Assoziation der Gedanken, anstatt von einem bestimmten Gedankengang oder gar einer juristischen Systematik, leiten ließ
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(F. Ebel in HRG 4 Sp. 1235), so war es durchaus angebracht, den Gerichtsbesitz im Zusammenhange des Lehnrechts zu erwähnen. Damit war aber noch kein Begriff einer Ämterleihe gegeben. Denn von der wegen des Ertrages lehnbaren Gerichtsherrschaft unterscheidet Eike strenge die richterliche Amtsgewalt, die jeder Richter in Gestalt des Königsbannes unmittelbar aus der Hand des Königs empfangen mußte. Die Institution des Königsbanns aber war nicht Teil des Lehnrechts, sondern hatte ihren Platz im Landrecht (Ssp. Ldr. I 59 § 1, III 64 § 5, oben: § 322b). Während der Gerichtsbesitz die Grafen zu Aftervasallen der fürstlichen Kronvasallen machte, stellte der Empfang des Königsbanns noch immer so, wie es die Ämterverfassung des Ostfränkisch-deutschen Reiches seit jeher getan (oben: §§ 560 – 565), die Richter aller Rangstufen als königsunmittelbare Amtleute einander gleich. Es ist nicht ersichtlich, daß Eike den Widerspruch bemerkt hat, der seine Auffassung der hohen Reichsämter durchzieht und wohl darauf beruht, daß zu seiner Zeit das alte volkliche Amtsrechtsdenken, mit dem er es als Schöffe im Grafengericht in erster Linie zu tun hatte, und die neue lehnrechtliche Amtsvorstellung, die von Königen und Fürsten propagiert wurde, noch recht unvermittelt nebeneinanderstanden. So reich auch das Recht der vasallitischen oder ritterlichen Güterleihe bereits ausgestaltet war: die dem Volke fremde Vorstellung von der Ämterleihe steckte, soweit der Sachsenspiegel sie reflektiert, noch in den Anfängen. In der rechtsgeschichtlichen Forschung hat dieser Sachverhalt die verschiedensten Deutungen gefunden. Auf der einen Seite ist gesagt worden, der Sachsenspiegel kenne keine einheitliche juristische Konstruktion des Fürstenstandes, sondern hier ein Lehnsfürstentum, das sich auf der Verleihung, und dort ein Amtsfürstentum, das sich auf der Verwaltung der Grafenämter aufbaue, wenn der Spiegler auch damit, daß er den seit 1180 eingetretenen Ausschluß der Amtsfürsten von der Königswahl anerkannte und nur Lehnsfürsten als Wähler zuließ, doch den Riesenfortschritt feststellte, der in der Feudalisierung des deutschen Staatswesens und Zurückdrängung des Amtsrechts erreicht worden war (H. Fehr 1906). Andere freilich schätzen diesen Fortschritt gering und betonen, daß das Grafenamt trotz rechtsförmlicher Verleihung und (tatsächlicher) Erblichkeit Amt geblieben sei und daß selbst im 13. Jahrhundert und darüber hinaus das Lehnrecht nicht imstande gewesen sei, das Amtsrecht zu erdrücken (F. Keutgen 1918 S. 97 – 99. Oben: §§ 133b, 324, 550). Andererseits wird aber auch bestritten, daß sich aus den Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts ein strikter Gegensatz zwischen Bannleihe als amtsrechtlicher und Gerichtsleihe als lehnrechtlicher Ernennungsform ergebe, dies allerdings unter der Voraussetzung, daß sich die Ernennung der Grafen seit der Karolingerzeit in lehnrechtlichen Formen vollzogen habe (R. Scheyhing 1960 S. 321). Diese Meinungsunterschiede lassen sich wohl nur dann ausgleichen, wenn man die ältere, jetzt auf dem Rückzuge befindliche amtsrechtliche Auffassung und die neue, von oben, von der Reichsregierung und den Fürsten her, allerdings mit mancherlei Inkonsequen-
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zen verbreitete lehnrechtliche Auffassung des Grafenamtes voneinander unterscheidet. § 598. Mit der älteren, volks- und amtsrechtlichen Ämterverfassung zerfiel die Handlungskette, die einst die allgemeine Form der Erhebung aller öffentlichen oder königlichen Amtleute gewesen war. Dafür gibt es viele Ursachen. Seit die deutschen Könige die Kaiserkrone trugen, hatte sich der Begriff des Fürsten tiefgreifend gewandelt. Seit dem 12. Jahrhundert begann er, jene obrigkeitlichen Züge in sich aufzunehmen, davon er in der ahd. Zeit noch frei gewesen war (oben: §§ 405 – 411, 557). Das Volk aber, in den Zeiten der alten bäuerlichen Gesellschaft überall dominiert von den altfreien Geschlechtern, die ihm Schöffen, Richter, Bischöfe und Fürsten stellten und seinen Willen von den Dinggemeinden an bis hinauf in die Reichsversammlungen übereinsgetragen hatten, dieses Volk bestand jetzt nur noch aus Neufreien (oben: §§ 147 – 152), deren Stände in raschem demographischem und ökonomischem Aufschwung begriffen waren, sich dabei immer weiter voneinander entfernten und in Ministerialität und Bürgertum ihre eigenen, früher nicht dagewesenen Führungsschichten hervorbrachten. Die Zahl der Geschlechter des einst führend gewesenen Standes der Edelfreien war dagegen seit langem rückläufig, und während sich die weniger Wohlhabenden unter ihnen der Lebensweise und dem Standesrecht der Neufreien unterwarfen, sonderten sich die anderen im Stande der Grafen und Herren und im Fürstenstande von ihnen ab. Damit vergrößerte sich der soziale und politische Abstand zwischen dem Volke und dem edelfreien oder hohen Adel in einer Weise, die der Gesellschaft des hohen Mittelalters noch fremd gewesen war. Die enge räumliche und ökonomische Symbiose, in der einst die Menschen aller Stände in den Grafschafts- und Hofgerichtsverbänden zusammengelebt hatten, war jetzt kaum noch irgendwo anzutreffen. Das Leben des Volkes ging nun ganz in den Land-, Stadt- und Landesgemeinden auf, die es sich nach den Regeln des Einungsrechtes als Beschützer seiner Freiheiten schuf und deren Existenz zu dulden es die oft widerstrebenden Könige und Landesherren zu zwingen vermochte. Mit dem Rückzug in die Welt des Kommunalismus (oben: §§ 234 – 236) verlor es das alte Interesse am Reiche und dessen Teilreichen und Gebietsherrschaften. Die Reichs-, Territorial- und Verfassungspolitik den Fürsten und deren Kanzleien überlassend, beteiligte es sich an Landes- und Reichsversammlungen nur noch in der Absicht, sich vor fürstlicher Willkür und anderen ihm von oben her drohenden Übeln zu schützen. Namentlich das Landvolk nahm es in der Regel hin, daß in den Versammlungen Fürsten, Prälaten und Ritter sein Wort hielten. So wurden im 13. Jahrhundert die alten Grafschafts- und Landesversammlungen (oben: §§ 210, 211, 324 – 326, 388, 456, 472) von Landtagen abgelöst, deren Verfassung Fürsten, Prälaten und Ritter in derselben, die neuen Landstände abgrenzenden Weise teils nach Lehn-, teils nach Einungsrecht ordneten, wie es im 12. Jahrhundert König und Fürsten im Reiche getan hatten. Gemeinsam mit den Sendeboten der landsässigen Städte bildeten sie hinfort die Korporation des Landes, die ihren Willen mit dem des Landesvolkes in eins
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setzte und das Volk gegenüber dem Landesherrn vertreten und beschützen sollte (oben: §§ 38, 46, 50). So vermochte das Lehnrecht zwar als „ein Mittel zur Festigung der Landesherrschaft“ (K.-H. Spieß in HRG 2 Sp. 1737) seinen Einfluß auf die deutsche Verfassungsgeschichte im 13. Jahrhundert noch einmal auszuweiten, aber insgesamt blieb sein Anteil am deutschen Verfassungsrecht gering, und gerade in den Territorien wurde er wieder vermindert, als der Aufbau des landesherrlichen Steuer- und Behördenstaates in Gang kam. Nie gelangte das Lehnrecht dahin, ein Teil der politischen Ordnung des gesamten Volkes zu werden. Als einer neben manchen anderen Rechtskreisen blieb es darauf beschränkt, die Lehnsverhältnisse der adligen Stände zu ordnen. Kein öffentliches Interesse hinderte jetzt noch die Reichskanzlei, die fürstlichen Kanzleien und die studierten Juristen, die ihnen dienten, daran, die lehnrechtliche Denkweise auf die hohen königlichen und Reichsämter anzuwenden und aus der Möglichkeit dieser Anwendung jene Schlüsse auf die Rechtswirklichkeit zu ziehen, die später die Grundlage für die Theorie des Patrimonialstaates abgeben sollten (oben: §§ 47, 48, 165 – 167). Solange die alte Teilnahme des seine Häupter kiesenden oder annehmenden Volkes nicht zu übersehen war, mußte sich freilich die Reichskanzlei darauf beschränken, den alten Rechtstatsachen die feudale Terminologie bloß überzustülpen (oben: § 554), wie es noch unter König Rudolf I. geschah, als man den Untertaneneid als fidelitatis homagium und die königliche Bestallung als infeudatio ausgab (oben: § 533). Aber je leichter es war, das Recht des Volkes an seinem Staate zu ignorieren, je weiter daher unter Juristen und Kanzlisten in Vergessenheit geriet, daß Königtum und Amtmannschaft Herrschaften über Personenverbände gewesen waren und hätten sein sollen, desto einfacher wurde es, sie sich als Gebietsherrschaften vorzustellen und darauf das Lehnrecht anzuwenden, gleichsam als ob die beherrschten Gebiete dem Könige wie lehnbare Grundstücke gehörten und daher dem feudalen Sachenrecht unterlägen. In den königlichen Lehnbriefen über reichsunmittelbare Grafschaften kommt diese neue Vorstellung seit dem 14. Jahrhundert zum Ausdruck. Unter König Sigismund vertrat die Reichskanzlei dann die Auffassung, daß nicht nur der gräfliche Besitzstand, sondern das gesamte Territorium einer Grafschaft als reichslehnbar anzusehen sei (K.-F. Krieger 1979 S. 271 f.). Da die Juristen das Volk nicht mehr um seine Meinung zu befragen brauchten, konnten sie nun endlich das sachliche oder körperliche Rechtsobjekt angeben, dessen Existenz notwendig hatte entdeckt werden müssen, um den Begriff der Ämterleihe juristisch konstruierbar zu machen (oben: §§ 546, 550 – 552).
Achtzehntes Kapitel
Die Großen und die Reichsregierung §§ 599 – 601. Funktion und Vollmacht der Großen § 599. Die den Königen vorgegebene Interims- und Mitregierung der Großen im Reiche (oben: § 423) war keine Neuerung des 11. Jahrhunderts, sondern so alt wie die germanischen Reichsbildungen überhaupt (unten: § 645). So zeigt sie sich denn auch als Merkmal der Reichsverfassung bereits in fränkischer Zeit, freilich als eines, das, wenn innere Uneinigkeit die Existenz des Reiches bedrohte, stärker hervorzutreten pflegte als in kraftvollen und gedeihlichen Zeiten (E. Pitz 2001a S. 159 f., 193 f., 199 f., 273 f., 278 f., 369 f.). Es waren die Vorfahren der Großen, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, die im Jahre 613 die Königin Brunichilde verlassen und ihren Nachfolger Chlothar II. gezwungen hatten, mit ihnen über die Reichsverfassung zu paktieren und in der Art einer Wahlkapitulation ihr Recht auf Mitregierung gesetzlich anzuerkennen; es waren ihre Vorfahren, die im Jahre 751 den letzten Merowingerkönig verließen und ihren Hausmeier zum Könige erhoben, von denen aber viele, als Pippin die Langobarden angreifen wollte, adeo voluntati eius renisi sunt, ut se regem deserturos domumque redituros libera voce proclamarent (Einhard c. 6 S. 8 Z. 8 – 9). Wenn König Karl der Große, ein Meister in der staatsmännischen Kunst, die gemeine öffentliche Willensbildung auf die von ihm gesetzten Ziele hinzulenken, derartige Konflikte mit ihnen vermeiden konnte, so gelang ihm das gewiß auch deswegen, weil er sich sorgfältig davor hütete, ihre Rechte auf Mitregierung einzuschränken oder gar grundsätzlich anzutasten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 639). Unter seinem Sohne, Kaiser Ludwig dem Frommen, dem die politische Meisterschaft des Vaters abging, trat daher, ohne daß es dazu verfassungsrechtlicher Neuerungen bedurft hätte, die Teilnahme der Großen an der Reichsregierung wieder ebenso unübersehbar hervor wie später während des Investiturstreits. Nur mit Bezug auf das Verfahren identischer Willensbildung dürfte es zu erklären sein, daß der früh- und hochmittelalterliche Begriff der Großen, die das Subjekt so weitreichender öffentlicher Rechte bildeten, nicht selbst ein Rechtsbegriff war, sondern lediglich ein Funktionsbegriff, eine Bezeichnung für einen bestimmten politisch-sozialen Sachverhalt (J. Ficker 1861 S. 46 – 50. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 529 – 590, Bd. 4 S. 326 – 329, Bd. 5 S. 434, Bd. 6 S. 401 – 448), für die Existenz nämlich eines in seiner Zusammensetzung rechtlich nicht bestimmten, folglich auch nicht geschlossenen Kreises von Männern, die sich durch die Herr-
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schaft über ein großes Haus (oben: § 119) mit reichem Besitz an Grund und Boden, durch die Verwaltung königlicher Ämter und durch Einfluß am königlichen Hofe auszeichneten und sich daher besonders gut dafür eigneten, als Worthalter partikularer Untertanenverbände zu fungieren. Für die Existenz und den politischen Zusammenhalt des Reiches war ihre Eintracht oder Zwietracht ebenso wichtig wie der Wille ihres Königs. Die Geschichtsschreiber der Karolingerzeit bezeichnen diese Männer mit Vorliebe als proceres, proceres regni, proceres palatii, summi proceres, proceres lecti primique potentes. Die Reichskanzlei dagegen vermied das Wort proceres: Die Verfasser der Kapitularien und Königsurkunden zogen es vor, von optimates zu sprechen. Auch das bei den Schriftstellern beliebte Substantiv principes schätzten sie nicht. Es kommt in den Kapitularien zuerst zum Jahre 828 vor, als Kaiser Ludwig seine Bischöfe beauftragte zu untersuchen, welche Regeln a principibus et reliquo populo in Sachen der christlichen Religion eingehalten würden (MGH. Capit. 2, 2 n. 184, vgl. 26 n. 196 c. 61 S. 50 Z. 22), und erst seit 859 tritt es häufiger an die Stelle der Worte proceres und optimates, worin man hat ein Indiz für die steigende Macht der Gruppe erblicken wollen (E. Mühlbacher 1896 S. 501; unten: § 618). Der Singular princeps nämlich – alle genannten Bezeichnungen der Gruppe kommen nur im Plural vor – war in amtlichen Schriftstücken den Königen vorbehalten (J. Ficker 1861 S. 24, 52). Nicht hier, sondern nur bei den Schriftstellern finden sich ferner Ausdrücke wie principes palatii, summi principes oder totius populi principes und weiterhin principales homines, primores, magnates, seniores, seniores terrae, maiores natu, potentes, potentiores. Lediglich das Substantiv primates begegnet uns auch in Diplomen. Als ahd. Äquivalente zu allen diesen lat. Begriffen erhalten wir thie fordaron, furiston, hêriren, hêriston, zu lat. magnatus auch frambârêr (zum Adverb fram = vorwärts, fort, weiter) und stiurêr (zum Verbum sturen = stützen, steuern, lenken, H. Götz, Wb. 1999 S. 387, 518, 519, 602), von denen wir bereits wissen, daß es nicht die Aufgabe der so bezeichneten Männer war, Herrschaft über andere Freie auszuüben, sondern den Gemeinwillen zwischen Gauvölkern, König und Reich zu vermitteln und die Häupter der Untertanenverbände zu kiesen, eine Aufgabe, die ihnen nicht als Inhabern öffentlicher Ämter, sondern als durch Autorität und Nobilität oder Vorrang ausgezeichneten Genossen der Verbände zukam, deren Wort sie hielten (oben: §§ 405 – 411, 423 – 425, 545). Wir haben es also bei den Großen oder proceres nicht mit einem Amtsadel zu tun, wenn natürlich zu denen des Reiches auch Bischöfe, Äbte und Grafen zählten (oben: § 557), denn neben diesen nahmen stets auch nicht beamtete Vornehme und königliche Getreue an ihrer öffentlichen Tätigkeit teil. Erst im 10. Jahrhundert begann sich der Fürstenbegriff allmählich auf die hohen königlichen Amtleute einzuengen, aus denen sich schließlich ein fest begrenzter und nach unten hin abgeschlossener Stand von Reichsfürsten bildete (oben: § 559). § 600. Denn wenn der Einzelne, abgesehen vom König, niemals princeps, sondern allenfalls unus e principalibus heißen konnte, so sieht man, daß in den Plura-
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len keine Amtsbezeichnung, kein amtlicher Titel enthalten war, sondern daß man damit die unter sich wesentlich gleichstehenden Ersten, sei es im Reiche, sei es in einem von dessen Teilreichen oder Regionen, verstand. Es waren die Ersten oder Vornehmsten in einem Verbande, die sich von dessen übrigen (edel- oder neu-)freien Mitgliedern durch Ehrenvorrechte abhoben und als primär vorhandene Gruppe dem erst von ihnen erhobenen Haupte ihres Bezirks gegenüberstanden, eine Oberschicht sowohl der Grafschaften, Regionen und Teilreiche als auch des Gesamtstaates, die nur dann, wenn sie sich unter besonderen Umständen gemeinsam öffentlich betätigte, durch die genannten, nur im Plural verwendbaren Substantive hervorgehoben wurde (F. Keutgen 1918 S. 65 – 68). Die Gruppe der Großen bestimmte sich nicht von oben, vom Staate oder Könige her, wie es ein durch Königsdienst ausgezeichneter Amtsadel getan hätte, sondern von unten, von dem Ansehen, das die Völker ihr beilegten, und dem Vertrauen her, das diese in sie setzten. Die seit langem beobachtete enge Verbindung der Vornehmen oder Großen zum Volke (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 596 – 598, 4 S. 645 – 647, 5 S. 327 A. 1) beruhte eben darauf, daß es principes oder proceres nicht nur im Fränkischen Reiche, sondern auch in jeder einzelnen Grafschaft (oben: §§ 208, 287b, 297, 595) und seit dem 9. Jahrhundert in jedem Teilreich und Herzogtum des Reiches gab. So sahen wir in den Würzburger Markbeschreibungen von 779 die Vornehmen und Ältesten (nobiles) des Würzburger Landes in der Funktion der proceres auftreten, als rechtskundige Worthalter nämlich ihrer Gaue und Markgemeinden im Rate des Königs (oben: § 117), und im Jahre 802 wies Kaiser Karl einmal „alle“ an, zur Vermeidung inzestuöser Ehen den Verwandtschaftsgrad der Verlobten durch Bischöfe und Priester cum senioribus populi untersuchen zu lassen (MGH. Capit. 1, 91 n. 33 c. 35), wofür das notwendige Wissen nur in den Gerichts- und Kirchengemeinden vorhanden gewesen sein kann. Königliche Getreue aus den Kreisen dieses Grafschafts- oder Landesadels aber pflegten die fürstlichen Worthalter ihrer Gemeinden zu den Reichsversammlungen zu begleiten, so daß die Großen dort ihre Stimme mit ihrem Rate und ihrer Vollmacht erheben konnten. Wenn bei Franken, Sachsen und Friesen der Volksname zugleich als Standesbezeichnung der nobiles diente (oben: § 120), so erklärt sich das auch daraus, daß die vornehmen Edlen als Sprecher des ganzen Volkes auftraten und das Recht nicht nur der Edelinge, sondern auch der Neufreien und Unfreien zu hüten hatten. Mit Recht konnten daher die Annalisten sagen, daß omnis populus zur Reichsversammlung geladen worden sei, und diese Versammlung mit dem Reichsvolke, mit der Gesamtheit aller königlichen Getreuen identifizieren (oben: § 587). In dreifach verschiedener Weise pflegte demnach das Reichsvolk in Erscheinung zu treten: einmal als Gesamtheit der Einwohner des Reiches, zweitens als von dieser gestellte Heeres- oder Reichsversammlung: „Man kann nicht zweifeln, daß es ein Recht aller Freien geblieben ist, sich auf der großen Jahresversammlung einzufinden“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 581), und drittens als aus solcher Versammlung hervorgehender und mit dem Könige regierender Rat der Großen.
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Nur einmal freilich beleuchtet, was das 9. Jahrhundert anlangt, eine Urkunde die Anwesenheit jener einfachen, amtlosen, großbäuerlich lebenden Edelfreien auf einer Reichsversammlung. So kennen wir von den dreimal vierzig Großen, die seit dem Sommer 842 namens der Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen über die Teilung des Reiches verhandelten und im August des nächsten Jahres den Vertrag von Verdun zustandebrachten, keinen einzigen mit Namen, aber eine Privaturkunde vom 10. August 843, die zwar den Verkauf von in Bayern gelegenem Grundbesitz betrifft, gleichwohl aber datiert ist zu „Verdun, wo die drei Brüder übereinkamen und das Reich teilten“, nennt als Zeugen des Verkaufsgeschäfts sechs Grafen und fast hundert weitere Männer aus Westbayern mit Namen, und wir dürfen annehmen, daß alle diese Zeugen als Teilnehmer an der Reichsversammlung nach Verdun gereist waren. So läßt diese Zeugenliste auf eine beträchtliche Anzahl von Begleitern der drei Könige und darauf schließen, daß nicht nur großgrundbesitzende Herren, die wegen der Streulage ihrer Güter von der Reichsteilung unmittelbar betroffen waren, sondern auch die geringeren Getreuen der Herrscher in die Entscheidung von Verdun einbezogen waren (W. Hartmann 2002 S. 39). Die proceres des 9. Jahrhunderts stellen also eine sehr viel breitere Schicht dar als diejenige, die Gerd Tellenbach (1943 S. 30 Anm. 29) als Reichsadel bezeichnet hat, die sich jedoch nur genealogisch und besitzgeschichtlich, nicht aber rechtlich von der Gesamtheit der edelfreien Getreuen des Königs absondern läßt. § 601. Kaiser Karl der Große selber bezeugt die Identität des Willens der Großen mit dem des Volkes, freilich ohne sie ausdrücklich auszusprechen oder zur Institution zu erheben, sondern allein dadurch, daß er in seinen Kapitelgesetzen eine sie implizierende Sprache benutzt, wie es das ganze Mittelalter hindurch, solange es Sache von Laien war, das Recht des Volkes zu weisen und zu überliefern (oben: §§ 2, 13), üblich blieb. So erklärte er im Jahre 803: Ut populus interrogetur de capitulis, quae in lege noviter addita sunt, et postquam omnes consenserint, subscriptiones et manufirmationes suas in ipsis capitulis faciant (MGH. Capit. 1, 114 n. 40 c. 19). Dieses Gebot ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man das im grammatischen Passiv stehende Verbum zutreffend auflöst: Mit dem Gebot wandte sich Karl an die in Aachen um ihn versammelten Großen; sie sollten den populus, d. h. ein jeder von ihnen den seinigen, befragen, während für den Kaiser die Gesamtheit dieser Teilverbände identisch war mit dem einen Volke seines ganzen Reiches. Das hier pronominal verwandte Adjektiv omnes bezog er sowohl zurück auf diese Gesamtheit des populus und der Teilvölker, deren Zustimmung er erwartete, als auch voraus auf deren Worthalter, denn nur von Einzelpersonen konnte er die Kapitel unterschreiben oder signieren lassen. Ohne die proceres ausdrücklich zu nennen, identifizierte Karl auf diese Weise ihren einhelligen Gemeinwillen mit dem seines Reichsvolkes. Es war dieser Reichsuntertanenverband in seiner jedem einzelnen Könige vorangehenden und im Verhältnis zu jedem Menschenleben unsterblichen Daseinsweise, an den während der Interregna sogar die höchste Gewalt im Reiche zurückzufallen pflegte, um alsdann allein durch die Großen ausgeübt zu werden. Davon
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redet ein Brief, den König Karls Berater Alkuin im Jahre 797 an „den Stamm und das Volk und das Reich“ der Kenter richtete, nachdem diese sich gegen das Oberkönigtum von Mercia erhoben und ihren Erzbischof vertrieben hatten. Als Vornehme des Reiches betrachtete Alkuin den Klerus, der das Volk auf den Weg des Heils zu führen hatte, und die nobiles qui sunt in populo. Sie ermahnte er dazu, ihre Würden in der Beratung (des Volkes) zu betätigen: Sie sollten nicht nur dem Volke mit Gerechtigkeit und als Rechtsweiser vorstehen, sondern auch geeignete Männer zu Fürsten und Lenkern über sich erheben, et rectores vobis praeponite nobilitate claros, suorum dignitate pios, iustitiae decore honorabiles. Einmütig, unanimo consilio, sollten die Edlen den Gemeinwillen, quod bonum sit genti vestrae, wiederherstellen, denn Zwietracht, divisio, in den Völkern, die unter sich selbst nicht Frieden zu halten wüßten, pflege alle Königreiche zu zerstören (MGH. Epp. 4 S. 191 n. 129). Offen trat diese Souveränität der Großen, deren einziger Auftrag darin bestand, den König zu kiesen, im Fränkischen Reiche bei der Verlassung und Restitution Kaiser Ludwigs des Frommen im Jahre 830 und bei der Verlassung Kaiser Karls III. mit anschließender Erhebung etlicher Teilreichskönige im Jahre 887 / 888, hernach aber im Ostfränkisch-deutschen Reiche bei jeder Königserhebung hervor. Die Herrscher und die Reichskanzlei vermieden es zwar nach Möglichkeit, das Wahlrecht des Volkes und der Großen beim Namen zu nennen, aber in dem ständigen Bemühen, die Wahl dadurch zu lenken, daß sie sie noch zu ihren Lebzeiten in die Wege leiteten, ist doch die Anerkennung dieses Rechtes enthalten. Jeder König war sich der Möglichkeit bewußt, die nur der junge König Otto I. im Jahre 936 einmal ausgesprochen hat, daß nämlich anstatt eines von ihm gezeugten Sohnes alter e populo eligatur rex (MGH. DO. I. 1 S. 90 Z. 11): daß das Volk aus seiner Mitte einen anderen kiese. Da die Bischöfe und ihre Missionare die Völker darüber belehrten, daß dort, wo sie einmütig eines Willens wären, der Geist Gottes mit ihnen sei, konnten christliche Völker mit Recht ihre einhellige Stimme bei der Königswahl, aber gewiß nicht nur dort, mit Gottes Stimme identifizieren. Denn Gott in seiner lediglich sei es geglaubten, sei es von reiner menschlicher Vernunft postulierten Wirklichkeit bedurfte für alle praktischen Zwecke der Bevormundung, und diese Vormundschaft nahmen die Völker nach ihrer germanischen Rechtsüberzeugung für sich selbst und für die Versammlung ihrer geistlichen und weltlichen Großen in Anspruch. An ihrem Recht, dies zu tun, hat auch Kaiser Karl der Große nicht gezweifelt. Wenn Alkuin einmal, ohne daß wir erfahren, aus welchem Anlaß es geschah, ihm gegenüber erklärte: nec audiendi qui solent dicere: ,vox populi vox Dei‘ (oben: § 487), so wollte er schwerlich dem Könige raten, sich über den Willen des Volkes und das Wahl- und Konsensrecht der Großen hinwegzusetzen, sondern, da er sich zur Begründung auf sanctiones divinas berief, lediglich daran erinnern, daß in Fragen des Glaubens und der Bußdisziplin das Volk die Entscheidung seinen Bischöfen zu überlassen habe. Was ihre weltlichen Geschäfte und namentlich die Kur ihrer Häupter anlangte, so beharrten die christlich gewordenen Völker auf der Überzeu-
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gung, daß Gott, als letzter Herr ihrer Geschicke, seinen Willen durch ihre Stimme kundgebe und, wie wir zu vermuten Grund haben (oben: §§ 339, 374, 487, 513), gemäß ihrem Willen Königen, Herzögen und Grafen seine Gnade zuwende.
§§ 602 – 610. Die Reichsregierung nach Adalhard und Hinkmar § 602a. Auf welcher Vollmacht das Recht der Großen beruhte, in der Reichsversammlung und bei Hofe das Wort für ihre heimatlichen Gerichts- und Volksgemeinden zu halten, darüber äußern sich die Quellen der Karolingerzeit ausdrücklich ebenso wenig wie die des Mittelalters überhaupt. Nur in der Sprache, deren sie sich bedienten, können wir hoffen, eine Antwort auf unsere Frage zu erhalten, weil sich in ihr die Art und Weise der Menschen, über Recht und Staat zu denken, unmittelbar niederzuschlagen pflegt. Aus dem 9. Jahrhundert sind uns zwei Schriften überkommen, die für die Untersuchung der Staats- und Verfassungssprache besonders gut geeignet sind, weil ihre Verfasser, im Gegensatz zu allen anderen Schriftstellern des ostfränkisch-frühdeutschen Zeitalters, selbst dem Kreise der Großen angehört und an deren Mitregierung im Reiche teilgenommen haben. Daher kannten sie aus eigener Erfahrung, worüber die in Dom- und Klosterschulen tätigen Chronisten nur vom Hörensagen unterrichtet sein konnten. Es sind dies der, soweit wir wissen, unbeamtete Laie Nithard und der Erzbischof Hinkmar von Reims. Der letztere verfaßte seine Schrift über den Königshof und die Reichsregierung zwar erst im Jahre 882, jedoch in der Absicht, nicht sein eigenes, in einem halben Jahrhundert erworbenes Wissen, sondern die Praxis der Vorfahren darzustellen, derer, die vor seiner Zeit mit den Staatsgeschäften befaßt gewesen waren und von denen er sich als junger Mann am Hofe Kaiser Ludwigs darüber hatte unterrichten lassen (Hinkmar Z. 7 – 12, 44 – 45, 641 – 646). Zu seinen Gewährsleuten hatte damals Abt Adalhard von Corbie gehört, ein Vetter Karls des Großen und dessen bester inter primores consiliarios, zugleich Verfasser einer Schrift über die Hofordnung, die Hinkmar nicht nur gelesen, sondern auch exzerpiert hat (ebd. Z. 218 – 221). Wie immer sich die Praxis im Laufe eines Jahrhunderts verändert haben mochte: Hinkmar war sich keines Bruchs in ihrer Entwicklung und in der Tradition der von Kaiser Karl geprägten Regierungsform bewußt. Seiner auf die Adalhard-Exzerpte gestützten Darstellung schickte Hinkmar eine Einleitung (ebd. Z. 22 – 217) voran, in der er seine eigenen Gedanken über Königtum und Reichsverfassung niedergelegt hat. Jenes bestimmte er als ein Amt (rectoris officium Z. 31, 115), das der König von Gott empfing und das ihn, gemäß der kirchlichen Lehre von den zwei Schwertern (Z. 91 – 95), sowohl an das göttliche als auch ans weltliche Recht band (Z. 139 – 141). Dieser Auffassung waren bereits die Berater der Kaiser Karl und Ludwig gewesen, wie sich aus des letzteren Erklärung aus dem Jahre 818 / 819 ergibt, es sei seines Amtes zu bessern, si quid in ecclesiasticis negotiis sive in statu reipublice emendatione dignum perspexissemus
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(MGH. Capit. 1, 273 n. 137: S. 274 Z. 32. W. Wehlen 1970 S. 35). In Hinsicht auf das weltliche Recht stellte Hinkmar die Könige und die Amtleute des Gemeinwesens, rei publicae ministri, einander gleich. Es ist das einzige Mal, daß er den im 9. Jahrhundert viel benutzten Begriff res publica verwendet. Diese Stelle zeigt, daß er darunter sowohl den Reichsuntertanenverband als auch die damit identifizierbaren partikularen Volksgemeinden verstand, die den König und die Amtleute dazu zwangen, sowohl die einzelnen Volksrechte als auch das mit ihrem Willen und Konsens gesetzte Reichsrecht zu beachten: Habent enim reges et rei publicae ministri leges, quibus in quacunque provincia degentes regere debent, habent capitula christianorum regum ac progenitorum suorum, quae generali consensu fidelium suorum tenere legaliter promulgaverunt (Z. 143 – 147). Dazu, diese allgemein bekannten Rechtsgrundlagen des königlichen Amtes und seiner Regierungsgewalt im einzelnen darzulegen, fühlten sich Adalhard und Hinkmar von dem Thema, das sie sich gestellt hatten, nicht gehalten. Lediglich an sie zu erinnern hielt Hinkmar für geboten. Dabei aber setzte er voraus, daß es die res publica war, die den König und die Amtleute über sich erhob und ihnen ihre Amtsvollmacht unter der Bedingung erteilte, daß sie die Amtsgewalt nach Maßgabe der von ihr gewiesenen Volksrechte und des von ihr beschlossenen Reichsrechtes ausüben würden. § 602b. Die Übersetzungsgleichungen, in denen sich die Denkweise des Klerus und seiner Schulen widerspiegelt, liefern uns als ahd. Äquivalente für lat. res publica nur solche Substantive, die den Staat als Sache, Recht oder Herrschaft des Königs bestimmen, wie frônothing, fronoreht, hêrtuom oder kuningrîhhi (H. Götz, Wb. 1999 S. 570. W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 113 f., 1956 S. 139 f.): Um den göttlichen Ursprung der Staatsgewalt, den der christliche Glaube lehrte, nicht zu verdunkeln, überging dieser Sprachgebrauch das Volk, dessen sich Gott als Werkzeugs bediente, um den Königen ihre Amtsvollmacht zu übertragen. Lat. publicare und publicus übersetzte man dagegen nicht nur mit ahd. frônen = in königlichen Besitz überführen, bzw. mit frônisc oder kuniglîh, sondern auch mit lûtbaren = (öffentlich) bekanntmachen bzw. mit lûtmâri = laut, deutlich vernehmbar, oder allelîh = allgemein verbreitet (ebd. S. 538), denn allgemeine Geltung erlangte ein königliches Gebot erst dann, wenn es in der Öffentlichkeit des Volkes oder vor allem Volke publiziert wurde (oben: §§ 275b, 279, 297, 300, 410). Es dürfte demnach seinen Grund in den Schulbedürfnissen gehabt haben, daß zwar die Volkssprachen das Adjektiv / Adverb offanlîh = etwas, das offenbar oder allgemein bekannt ist, bereits gebildet hatten, die Übersetzungsgleichungen aber noch davon absahen, es als Äquivalent zu lat. publicus zu verwenden. Wir wissen bereits, daß die Privaturkunden des Hochmittelalters mit publicus alles bezeichnen, was im conventus populi vor sich ging und dem Grafschaftsvolk bekannt war. Die Schriftsteller dieser Zeit kannten noch den hostis publicus oder rei publicae, d. h. den durch Urteil geächteten und zum Feinde des Königs und Reiches erklärten Verbrecher, der von jedermann verfolgt werden und dessen Gut die Verfolger ein-
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ziehen, publicare, sollten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 610. MGH. DH. IV. 301 S. 395 Z. 10 – 12): Die Vollstreckung der Acht war und blieb Sache des Volkes, und dieses Volksrecht war so mächtig, daß es den König für immer daran hinderte, aus seiner Vollmacht zu verurteilen ein Gewaltmonopol herzuleiten (oben: §§ 63, 70). Denn dieses sein Recht stammte von dem des Volkes her, nicht umgekehrt. Die Wörter publicus und publicare bewahrten sich im ganzen Mittelalter den Bezug auf das Volk und dessen gemeinsames Wissen und Handeln. Erst im Neuhochdeutschen hat das Adjektiv öffentlich die Bedeutung „der Gemeinde, dem Staate angehörig oder darauf bezüglich“ angenommen (F. Kluge, Wb. 1975 S. 520). § 603. Hinkmar ging also über den Schulgebrauch hinaus und gab dem Begriff res publica einen weiteren Sinn als die Glossatoren, sofern er darunter auch das Reichsvolk und die Teilvölker verstand, von denen die Könige ihre Vollmachten empfingen. Gewiß ist er darin dem Kirchenvater Augustinus gefolgt, dessen Staatslehre allen Gelehrten des Mittelalters geläufig war. Augustinus hatte zwar nicht nur die irdischen Staaten gleich welcher Verfassung, mochten sie nun von Kaisern oder Königen, von Adelseinungen oder vom versammelten Volke, ab uno rege sive a paucis optimatibus sive ab universo populo, regiert werden (Aug. Civ. Dei II 21 Z. 55), sondern auch den von Christus gegründeten und gelenkten Gottesstaat als civitates, d. h. als Bürgergemeinden und damit als Personenverbände, nämlich einerseits eines Reichsvolkes und andererseits des Gottesvolkes, bezeichnet; definiert hatte er sie jedoch nach Cicero, auf den er sich hierfür ausdrücklich beruft, als Volksstaaten, nämlich so, daß ein Staat nur dann gegeben sei, wenn erstens ein Staatsvolk bestand, welches sich über seine Rechtsordnung und die als gemeinnützig anerkannten Staatszwecke einig war, und wenn sich zweitens dieses Staatsvolk einer guten und gerechten Regierung erfreute: Denn sobald es mit sich uneinig sei, sobald seine Regierung in ungerechter Weise dem Eigennutzen einer Partei diene, sei gar kein Staatsvolk mehr vorhanden und folglich auch kein Staat, da die so regierte Gemeinschaft nicht mehr die Sache eines Volkes sein konnte. Sobald die Gerechtigkeit daraus verschwunden sei, was seien Reiche dann anderes als große Räuberbanden und Räuberbanden anderes als kleine Reiche? Im Hinblick auf das Folgende ist es mir wichtig, daß der Leser den augustinischen Wortlaut im Ohre habe: Cicero lasse Scipio sagen, wie in der Musik der Einklang verschiedener Instrumente und Stimmen, so ex summis et infimis et mediis interiectis ordinibus, ut sonis, moderata ratione civitatem consensu dissimillimorum concinere, et quae harmonia a musicis dicitur in cantu, eam esse in civitate concordiam, artissimum atque optimum omni in re publica vinculum incolumitatis, eamque sine iustitia nullo pacto esse posse (Aug. Civ. Dei II 21 Z. 13 – 24). Nach Erörterung der Gerechtigkeitsfrage ad intermissa revertitur recolitque suam atque commendat brevem rei publicae definitionem, qua dixerat eam esse rem populi. Populum autem non omnem coetum multitudinis, sed coetum iuris consensu et uti-
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litatis communione sociatum esse determinat . . . Tunc esse rem publicam, id est rem populi, cum bene ac iuste geritur sive ab uno rege sive a paucis optimatibus sive ab universo populo. Cum vero iniustus est rex, quem tyrannum more Graeco appellavit, aut iniusti optimates, quorum consensum dixit esse factionem, aut iniustus ipse populus, cui nomen usitatum non repperit, nisi ut etiam ipsum tyrannum vocaret: non iam vitiosum . . . sed . . . omnino nullam esse rem publicam, quoniam non esset res populi, cum tyrannus eam factione caperet, nec ipse populus iam populus esset, si esset iniustus, quoniam non esset multitudo iuris consensu et utilitatis communione sociata, sicut populus fuerat definitus (ebd. Z. 48 – 66) . . . Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? quia et latrocinia quid sunt nisi parva regna? Manus et ipsa hominum est, imperio principis regitur, pacto societatis astringitur, placiti lege praeda dividitur (ebd. IV 4 Z. 1 – 4). Unzweifelhaft waren Abt Adalhard und Erzbischof Hinkmar mit dem ciceronianisch-augustinischen Wort res publica id est res populi vertraut, zumal Augustinus Ciceros Definition als Maßstab, an dem der irdische Staat zu messen sei, ausdrücklich bestätigt hat: Zwar sei danach die römische Republik nicht wirklich res publica gewesen, weil in ihr lediglich eine irdisch-heidnische, nicht jedoch die wahre göttliche Gerechtigkeit geherrscht habe; gleichwohl et ipsam rem publicam placet dicere, quoniam eam rem populi esse negare non possumus (II 21 Z. 108 – 118) . . . Ita etiam terrena civitas, quae non vivit ex fide, terrenam pacem appetit in eoque defigit imperandi oboediendique concordiam civium, ut sit eis de rebus ad mortalem vitam pertinentibus humanarum quaedam compositio voluntatum (XIX 17 Z. 11 – 15). Wäre das Substantiv res publica zu seiner Zeit in der lat. Sprache noch lebendig gewesen, so hätte Augustinus es gewiß vorgezogen, die beiden Staaten, auf deren Gegensatz seine Staatslehre beruht, Republiken zu nennen, sagt er doch ausdrücklich, weil jenes Wort nicht mehr gebräuchlich sei, müsse der von wahrer Gerechtigkeit beherrschte Staat civitas Dei heißen (II 21 Z. 119 – 123). Auch den von Gott regierten Staat stellte Augustinus sich als Sache des Volkes, als Staat des Gottesvolkes vor. § 604. Gewiß hätte die ciceronianisch-augustinische Definition des Staates die Gelehrten der Karolingerzeit nicht so nachhaltig beeindruckt, wie es die Rezeption des Begriffs res publica durch Hinkmar und Nithard (unten: § 620) bezeugt, wenn sie nicht darin den Staat der christlich gewordenen Franken, in dem sie selber lebten, überall hätten wiedererkennen können, einen Staat nämlich, der nicht von oben her errichtet worden war und deshalb dem Königshause gehört hätte, sondern einen von unten her erbauten und vom Volke getragenen Staat, in dem das Volk dem Könige die Staatsgewalt unter der Bedingung zu übertragen pflegte, daß er es rechtmäßig nach Volks- und Reichsrecht regiere. Wie Cicero und Augustinus den König, die Optimaten und das sich selbst regierende, also versammelte Volk als Staatsteile nicht nur in die res publica oder civitas terrena und deren vom Volke übereinsgetragene Verfassung eingefügt, sondern auch an das vom Volke vereinbarte Recht und die volklichen Staatsziele gebunden
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hatten, so betrachtete Hinkmar den König, die auf die Volksrechte verpflichteten Staats- oder Reichsbeamten in den Provinzen und die Versammlung der königlichen Getreuen, deren Konsens das vom König gewollte Reichsrecht in Kraft setzte, als dem gemeinen Nutzen dienstbare Amtleute und Glieder einer ihnen vorangehenden und übergeordneten Einheit, für die es in den Sprachen der germanischen Völker keinen eigenen Begriff gab, weil ihnen die scharfe Entgegensetzung fremd war, in die das römische Rechts- und Staatsdenken die res publica, als jenen Teil des menschlichen Daseins, der der Gemeinschaft gehört, zur res privata oder dem Hauswesen und Vermögen des Einzelnen (oben: §§ 4, 9) gebracht hatte. Noch die Vokabulare des Spätmittelalters glossieren lat. res publica mit mhd. eyn gemeyne oder gemeyn nutze, dingk oder gut (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 495). Erst die Humanisten haben diese Lücke in der deutschen Rechtssprache durch Eindeutschung des lat. Begriffs Republik geschlossen. Zu den Pflichten des an das Recht gebundenen Königs (Hinkmar Z. 152) zählte Hinkmar an erster Stelle die Besetzung der öffentlichen Ämter. Der König sollte die Bischofsämter nicht verkaufen, sondern dafür sorgen, daß die Bischöfe zwar nicht gegen seinen Willen und ohne seine Zustimmung, im übrigen aber electione cleri ac plebis et approbatione episcoporum erhoben würden (Z. 156 – 158). Auch durfte er zu Grafen und zu Richtern bei Hofe nur unbestechliche und rechtstreue Männer bestellen, damit sie ihn als solche in seinem königlichen Amte verträten und sich ebenso rechtschaffene Männer zu Unterrichtern nähmen (Z. 176 – 179). Dadurch, daß Hinkmar dieses Thema im Proömium des Werkes behandelt, gibt er uns, ohne es auszusprechen, zu verstehen, daß die königliche Bestallung niemandem zu den Funktionen eines Großen verhalf. So oft er auch, wenn er hernach über die Reichsregierung spricht, die Großen zu nennen hat, so erwähnt er dabei doch nur einmal beiläufig, daß ihrer Gruppe auch Bischöfe, Reichsäbte, Grafen und andere derartige Fürsten angehörten (Z. 605 – 607). Wenn es aber nicht die königliche Bestallung war, was einem Manne die Funktion eines Großen beilegte, dann, so müssen wir schließen, kann dies nur das Vertrauen des Volkes bewirkt haben, das die Amtleute deswegen genossen, weil das Volk sei es kiesend, sei es annehmend an ihrer Erhebung beteiligt war. Denn nur unter dieser Bedingung konnte das Fränkische Reich eine res publica id est res populi sein. Dasselbe Vertrauen erwies das Volk aber auch seinen nichtbeamteten Fürsten, und damit ermächtigte es auch sie dazu, als seine Worthalter jene Funktion wahrzunehmen. § 605. Was den eigentlichen Gegenstand seiner Abhandlung anlangt, so schloß sich Hinkmar dem Abte Adalhard an, dem zufolge der Zustand, die Lage oder die Verfassung der gesamten Reichsregierung, totius regni status, aus zwei Teilen bestand, nämlich aus der Ordnung des königlichen Palastes oder Hofes auf der einen, dem Zustande der Gesamtreichsregierung an sich oder in ihrer eigentlichen Beschaffenheit, totius regni status secundum suam qualitatem, auf der anderen Seite (Z. 221 – 228). Die begrifflichen Schwierigkeiten, die Hinkmar hier zu überwinden hatte, sind offensichtlich: Weder die lat. Schriftsprache noch die Volkssprachen boten ihm Rechtswörter an, mit deren Hilfe sich der als Oberbegriff
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benutzte totius regni status von demjenigen unterscheiden ließ, der einen Teil davon ausmachte. Wie es später, an dessen Anfang, heißt, war dieser zweite Teil derjenige, durch den sich der (übergeordnete) Zustand des Gesamtreiches selbst stabil erhielt, qua totius regni status . . . conservari videbatur (Z. 466 – 468). Der Sache nach jedoch ist der Unterschied klar, denn erst dieser zweite Teil behandelt das Zusammenwirken des Königs mit den Großen, von deren Eintracht der Bestand des Reiches abhing; durch den ersten Teil dagegen regierte und ordnete sich lediglich der königliche Hof, qua assidue et indeficienter regis palatium regebatur et ordinabatur (Z. 226). An der Spitze des Hofes oder Palastes standen der König, die Königin und ihre Nachkommen; ihnen oblag es, jederzeit die Tätigkeit der Hofbeamten zu leiten, ministros gubernari (Z. 231 – 232). Als Hofbeamte, die Adalhard und Hinkmar in der üblichen Weise (oben: §§ 419 – 421) wenn auch nicht explizit, so doch durch die Art der Darstellung von den öffentlichen Amtleuten sorgfältig unterschieden, werden als höhere (superiores, maiores) Erzkaplan, Kanzler, Kämmerer, Pfalzgraf, Seneschall und andere aufgeführt (C.Brühl 1968 Bd. 1 S. 77 – 80). Dann aber heißt es: Trotz der großen Anzahl ihnen untergeordneter Dienstmannen (ministeriales) sei nicht die totius regni confoederatio ihre Aufgabe gewesen, sondern die Zusammenarbeit mit dem Hofpersonal (conglutinare: H. Götz, Wb. 1999 S. 133) bei der Bewältigung der täglich anfallenden notwendigen Geschäfte (Z. 284 – 287). Was die zuerst erwähnte Aufgabe anlange, so obliege sie im wesentlichen anderen oder den übrigen, wie unten ein- oder angefügt sei (insertum: H. Götz, Wb. 1999 S. 342), womit Hinkmar zweifellos auf den zweiten Hauptteil verweisen wollte. Auch der Ausdruck totius regni confoederatio, ein hapax legomenon in Hinkmars Abhandlung wie zuvor bereits res publica, zeugt von den begrifflichen Schwierigkeiten, mit denen Schriftsteller des 9. Jahrhunderts zu ringen hatten, wenn sie volksrechtliche Verfassungsprobleme erörterten. Im Gegensatz zu res publica ist aber weder das Verbum confoederare noch das Verbalsubstantiv confoederatio bereits im klassischen Latein belegt. Jenes findet sich zuerst bei Tertullian um die Wende zum 3. Jahrhundert, dieses hundert Jahre später bei Hieronymus als Bezeichnung für durch Vertrag geschaffene weltliche oder spirituelle Gemeinschaften einzelner Personen. Nur Papst Leo I. (442 – 460) hat das Wort einmal im politischen Sinne benutzt (ut multa regna uno confoederentur imperio: Thesaurus l. l. IV Sp. 246). Unter den mittelalterlichen Belegen ist die Hinkmar-Stelle die zweitälteste (Mlat. Wb. II Sp. 1357 Z. 20). Lediglich ein Vertrag, den die Könige Lothar, Ludwig und Karl im Jahre 851 abschlossen, geht ihr voran: Um sich gegenseitig untereinander und gleichzeitig mit ihren Getreuen und alle zusammen mit Gott zu einen, ut sic simul coniuncti et nos fratres ad invicem et nos cum fidelibus nostris et fideles nostri nobiscum et omnes simul cum Deo nos reconiungamus, verpflichten sie sich, sollten sie aut singillatim aut communiter . . . in ordine ecclesiastico et statu regni gegen göttliches Recht verstoßen, unter anderem dazu, daß nemo nostrum
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suo aut amico aut propinquo vel confoederato, immo nec sibi saeculariter parcat, ut spiritualiter parcere possit; vielmehr sollten sie alle nach Kräften dafür sorgen illa in commune certatim emendare (MGH. Capit. 2, 72 n. 207: S. 73 Z. 39). Weder einer der Könige noch einer ihrer Getreuen sollte demnach dem ihm durch Freundschaft oder Verwandtschaft oder Genossenschaft Verbundenen einen solchen Verstoß nachsehen (confoederatus = socius: Mlat. Wb. II Sp. 1359 Z. 6 – 8). Da zudem zwei ahd. Glossen das Verbum confoederare kennen, von denen die eine das grammatische Passiv mit gizumftit werdan = in eine vereinbarte Satzung aufgenommen werden (oben: § 187), und die andere das Partizip confederatus mit kisippoto = Sippengenosse, Verwandter, übersetzt, sind wir berechtigt, das Verbum mit lat. coniungere, coadunare, unire = verbinden, vereinen, gleichzusetzen (Mlat. Wb. II Sp. 1358 Z. 18 – 20). Nimmt man hinzu, daß lat. foedus in den Glossen als Äquivalent unter anderem für ahd. friuntscaft, gihîlich = Ehebund und einunga, gizumft (H. Götz, Wb. 1999 S. 271), genôzscaft, angeführt wird (oben: §§ 182, 187), so ergibt sich, daß der Vertrag von Meersen – der selber eine Einung der Könige und ihrer Untertanenverbände darstellt (coniuncti . . . reconiungamus S. 73 Z. 33, 34, adunati S. 74 Z. 16, 34, concordes et uniti Z. 21, unanimes Z. 25) – drei Formen persönlicher oder privater Einungen, die freie Männer nach Einungsrecht jeweils durch Vertrag zu begründen befugt waren, dem Interesse der Reichsregierung unterordnet, nämlich Freundschaften (amicitiae), Verwandtschaften – denn jede Generation pflegte durch ihre Ehebündnisse neue, ihr eigene Sippenverbände zu begründen (sogenannte wechselnde Sippen, oben: § 103) – und (Zweck-)Genossenschaften. Wir sind demnach berechtigt, das im Jahre 851 amtlich verwandte Wort confoederatus den oben (§ 182) in Betracht gezogenen Bezeichnungen für den fränkischen (Eid-)Genossen hinzuzufügen, deren ahd. Äquivalente uns unbekannt bleiben. So ist denn auch das Substantiv confoederatio, dem nicht einmal Georg Waitz (1876 – 96 Bd. 4 S. 716) eine Bestimmung hat zuteilwerden lassen, bei Hinkmar noch ganz im Sinne des spätantiken Sprachgebrauchs als von natürlichen Personen errichtete Genossenschaft zu erklären und den oben (§ 183) ermittelten frankolat. Worten universitas (Mlat. WB. II Sp. 1357 Z. 20), communio, generalitas, congregatio als ein weiterer Name für gebietsbezogene und unbeeidete Genossenschaften beizufügen. Hinkmar hätte sich demnach den Reichsuntertanenverband als aus den je einzelnen (Alt-)Freien zusammengesetzt vorgestellt und dessen tatsächliche Gliederung in Partikularverbände für einer Betonung nicht wert erachtet, was keine Verwunderung erregen kann, wenn er sich den Gesamtwillen des Reiches als nach den Regeln identischer Willensbildung entstehend dachte. Hinkmar faßte den karolingischen Staat noch nicht als Bundesstaat auf. Auch als das Wort confoederatio später allgemeiner in Gebrauch kam, behielt es stets die ältere Bedeutung von privaten, vertraglich begründeten Personenverbänden bei. Erst seit dem 12. Jahrhundert (Otto von Freising) nahm es daneben einen engeren, auf Gesamt- und Verbandspersonen bezogenen Sinn an (Mlat. Wb. II
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Sp. 1356), der namentlich die Herstellung von Eintracht und Frieden als deren existentielle Voraussetzung in sich enthielt (ebd. Sp. 1357 Z. 21 – 31, 1358 Z. 55 – 57). In diesem speziellen Sinne übernahm schließlich auch die Reichskanzlei das Wort: Im Jahre 1226 nannte sie den Rheinischen Städtebund so, und 1231 sprach sie erstmals von confoederationes civium = eidgenössischen Schwurgemeinden (MGH. Const. 2, 409 n. 294 Z. 39, 413 n. 299 Z. 31 und 34). § 606. Was die Besetzung der Hofämter anlangt, so erwähnt Hinkmar nur ein Element des Verfahrens, nämlich die Auswahl der dafür geeigneten Personen (eligere Z. 295, 299, 536), und auch diese allein hinsichtlich der Idoneitätsmerkmale, die der oder die nicht genannten Wähler zu beachten hatten. Unter diesen Merkmalen ist eines besonders interessant, und das ist die Herkunft der Kandidaten. Da das Reich, hoc regnum, aus Ländern oder Teilreichen, regiones (H. Götz, Wb. 1999 S. 563) bestehe, seien Angehörige derselben auszulesen, damit jedes Land um so vertrauensvoller den Palast aufsuchen könne in dem Wissen, daß es dort Sippenoder Landesgenossen, suae genealogiae vel regionis consortes, antreffen werde (Z. 293 – 301). Namentlich deswegen bedürfe der Palast einer großen Schar von Hofbeamten, damit selbst dann, wenn die höheren Hofbeamten alle zusammen in das ganze Reich betreffenden Geschäften oder etliche niedere einzeln in speziellen Angelegenheiten den Hof verlassen müßten, jederzeit eine angemessene Menge von Hofleuten dort zurückbleibe und der Palast niemals von würdigen Beratern entblößt sei (Z. 408 – 414). Denn jeder einzelne, der sich, weil alleinstehend, eines Unrechts nicht erwehren könne, aus welchem Lande immer er herbeieile, sollte bei Hofe stets jemanden vorfinden, durch den er seine Sache dem Könige vortragen lassen könne (Z. 419 – 426). Die im wesentlichen mit den inneren Angelegenheiten des Hofes und der täglichen Versorgung seiner vielen hundert Angehörigen befaßten Hofbeamten wurden demnach in externen Geschäften nur dann tätig, wenn Anliegen einzelner Personen oder Landesgemeinden zu befördern waren, in denen der König zwar tätig werden, über die er jedoch nach geltendem Rechte entscheiden und die er ohne Mithilfe der Gesamtheit seiner Untertanen friedlich beilegen konnte. Schon hier zeigt sich deutlich, daß der Hof oder Palast keineswegs eine Angelegenheit des Königshauses, sondern eine Einrichtung auch des Reichsvolkes und königlichen Untertanenverbandes war, der jeden einzelnen Reichsgenossen zu beschützen hatte und zu diesem Zwecke nicht nur Könige über sich erhob, sondern ihnen auch das Reichsgut zur Verfügung stellte, aus dessen Erträgen sie die ihnen vom Volke zugewiesenen Amtspflichten erfüllen konnten. Aufgabe der Hofbeamten war es nicht nur, diese Hilfsmittel zu verwalten, sondern auch, dem Könige die Vorbereitung und Vollstreckung aller jener Einzelfallentscheidungen abzunehmen, die das Gesamtreich nicht unmittelbar interessierten. Denn die eigentliche Aufgabe des Königs war eine andere: Er sollte vor allem ad totius regni statum ordinandum vel conservandum dasein (Z. 370 – 372). Den König aber beim Einrichten und Bewahren des Gesamtreiches und seiner Verfassung zu beraten und ihm die Vollstreckung des Beschlossenen zu ermög-
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lichen, das war nicht die Aufgabe der Hofbeamten und Reichsgutverwalter, sondern die der Großen und des Reichsuntertanenverbandes, für den sie das Wort hielten, eben jener totius regni confoederatio, von der bereits die Rede war (Z. 285) und die nach dem Palaste den zweiten Hauptteil der Verfassung ausmachte, qua totius regni status . . . conservari videbatur (Z. 466 – 468). Der König aber stellte die Verbindung und Einheit beider Teile des Staates und der Staatsverfassung her. Er allein gehörte beiden an. Es ist bemerkenswert, daß Hinkmar in ihm keinen eigenen Hauptteil des fränkischen Staates sah, und schon gar keinen, der die beiden anderen Hauptteile auf den zweiten und dritten Platz verwiesen hätte. Hinkmar verstand das Karolingerreich nicht als von oben her erbaut und von seinen Königen erschaffen, sondern als eine res publica: Schöpfung und Angelegenheit des Volkes, das den König über sich erhob. § 607. In diesem Sinne leitet Hinkmar denn auch den zweiten Hauptteil (Z. 466 – 634) ein, dem es aufgegeben war, die Verfassung des Gesamtstaates zu erhalten: qua totius regni status . . . conservari videbatur. Hierfür sei es die Gewohnheit der alten Zeit, also derjenigen Karls des Großen und Abt Adalhards, gewesen, nur zweimal im Jahre Reichsversammlungen abzuhalten, ut . . . placita duo tenerentur (Z. 466 – 469). Als logisches Subjekt dieser beiden Sätze dachte sich Hinkmar zweifellos den König, dessen Amt es war, die Geschäfte des Reiches zu führen, zu den Versammlungen einzuladen und deren Tagesordnung festzustellen (Z. 370 – 372, 575 – 580, 618). Der Stil dieser beiden ersten Sätze kennzeichnet den gesamten zweiten Hauptteil der Darstellung: Überall da, wo des Königs als handelnden Staatsoberhauptes zu gedenken gewesen wäre, kleidet Hinkmar die Prädikate seiner Sätze in die Form des grammatischen Passivs, die es ihm erlaubt, dem Leser deren logisches Subjekt zu verschweigen. Sobald dagegen vom Tun der Großen die Rede ist, pflegt Hinkmar diese als logisches und grammatisches Subjekt seiner Aussagen auch zu nennen und folglich die Prädikate seiner Sätze im genus activum zu konjugieren. Diese Ausdrucksweise hat er gewiß nicht in der Absicht gewählt, das Königtum herabzusetzen, denn seine Schrift ist dem jugendlichen Könige Karlmann gewidmet und sollte dessen Erziehung befördern. Es muß ihm also die Sache, die er darzustellen hatte, geboten haben, in dem zweiten Hauptteil die Person des Königs nach Möglichkeit unerwähnt zu lassen und die Reichsversammlungen als vom Könige unabhängige Einrichtungen zu beschreiben. Auf der ersten, gewiß ins Frühjahr fallenden der beiden jährlichen Reichsversammlungen pflegte man die Lage des Gesamtreiches für das laufende Jahr zu ordnen, ordinabatur status totius regni ad anni vertentis spacium (Z. 470): Es wurde festgelegt, was die Reichsregierung zu tun hatte, um den status regni zu erhalten. Ausdrücklich bestätigt uns Hinkmar hier, daß die darüber beschließende Reichsversammlung so zusammengesetzt war, wie wir sie bereits kennen: In quo placito generalitas universorum maiorum, tam clericorum quam laicorum, conveniebat; seniores propter consilium ordinandum, minores propter idem consilium suscipien-
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dum et interdum pariter tractandum et non ex potestate, sed ex proprio mentis intellectu vel sententia confirmandum; caeterum autem propter dona generaliter danda (Z. 470 – 479). Das Substantiv generalitas ist zwar wiederum in Hinkmars Schrift nur ein einziges Mal anzutreffen, es ist aber anderweitig als ein den Hofnotaren geläufiges Rechtswort nachzuweisen. So war es König Karls des Großen Wille, daß ihm cuncta generalitas populi, und zwar jeder einzelne Volksgenosse persönlich, vor seinen Missi den Treueid des Untertans schwöre (MGH. Capit. 1, 66 n. 25 c. 4, S. 67 Z. 5), und bei anderer Gelegenheit, daß seine Missi im Notfall die Bischöfe, Reichsäbte, Grafen und Vassen (oben: §§ 557, 558) cum omni generalitate aufbieten sollten (ebd. 1, 213 n. 104 c. 3, S. 213 Z. 23). Hier bezeichnet generalitas populi den gesamten Reichsuntertanenverband oder die Summe aller zur Königstreue verpflichteten Männer, die der König niemals in einer einzigen Versammlung um sich scharen, sondern nur partikuliert in den lokalen Bistums-, Gerichts- und Hofgemeinden durch seine Missi erreichen konnte (ebenso ebd. S. 303 Z. 25). Generalitas populi hieß aber auch die Versammlung der Worthalter dieser Gemeinden, die der König aus dem ganzen Reiche zu sich zu rufen pflegte, um von ihnen den Gemeinwillen des Reichsuntertanenverbandes feststellen zu lassen. Dieser synonyme Sprachgebrauch beweist, daß man beide Erscheinungsformen des Reichsuntertanenverbandes, die nur gedanklich erfaßbare der partikulierten Gesamtheit von Individuen und die sichtbare Versammlung der Worthalter, miteinander identifizierte: Die Versammlung war das Volk. So berichtet Kaiser Ludwig der Fromme, daß er im Jahre 817 zu Aachen sacrum conventum et generalitatem populi nostri propter ecclesiasticas vel totius imperii nostri utilitates pertractandas zusammengerufen habe und daß dort die Getreuen ihn aufgefordert hätten, (mit ihnen) de statu totius regni et de filiorum nostrorum causa zu verhandeln (ebd. 1, 270 n. 136, S. 270 Z. 33 – 37). Im Jahre 833 versammelte sich die Gesamtheit der Reichsbischöfe, generaliter convenimus, bei der Pfalz Compiègne, um dem Kaiser sive optimatibus illius seu omni generalitati populi, quae undique illuc confluxerat, zu erklären, welchen Anforderungen die Regierung nach göttlichem Rechte zu genügen habe. Demgemäß tat der Kaiser bald darauf in der Kirche St. Medardus zu Soisson Buße in Gegenwart vieler Kleriker, praesente etiam . . . eiusque proceribus atque totius populi generalitate, soviele ihrer die Kirche nur fassen konnte (ebd. 2, 51 n. 197 pr., S. 52 Z. 27, 53 Z. 28). Daß das Substantiv generalitas insbesondere in Verbindung mit Verben wie iurare (ebd. 1 S. 67 Z. 10), congregare (S. 270 Z. 34) und convenire der Rechtssprache des Einungswesens angehört, ist bereits oben (§ 183) dargelegt worden. Es kann daher kein Zweifel sein, daß Hinkmar dem Reichsuntertanenverbande in seiner doppelten Form, als partikulierter oder konföderierter, nur in Gedanken vorstellbarer Gesamtheit und als sicht- und hörbarer Versammlung der Worthalter dieser Gesamtheit, die Eigenschaften einer Genossenschaft und herrschaftlichen Einung (oben: §§ 202 – 204) beigelegt hat.
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§ 608a. Sobald die Großen der zum Reiche vereinigten Partikularverbände von überallher zur Reichsversammlung zusammengekommen waren, traten aus dieser die dem Kaiser zugeordneten optimates oder proceres hervor, um als Gruppe das Wort für die Versammelten zu halten. Das waren die Großen des Reiches, proceres regni, die als Einung oder Genossenschaft eine dritte Erscheinungsform des Untertanenverbandes darstellten und mit jeder der beiden anderen identifiziert werden konnten, ja sogar identifiziert werden mußten, da sie als offene, in ihren Mitgliedern von Tagfahrt zu Tagfahrt wechselnde Gruppe ihre Einheit allein aus dieser Identifikation und aus der Vollmacht herleiten konnten, die ihnen die Übereinstimmung ihres übereinsgetragenen Willens mit dem Willen sowohl der Versammlung als auch der konföderierten Gesamtheit verlieh. Bereits mehrfach hat uns das Verhältnis dieser engsten Gruppe des Reichsvolkes sowohl zu dessen Versammlung als auch zur partikulierten Gesamtheit beschäftigt mit dem Ergebnis, daß die proceres regni auch auf den Reichsversammlungen, ein jeder für sich, des Konsenses von Worthaltern ihrer Länder bedurften, um als deren vollmächtige Sendeboten an der Willensbildung des Reiches mitwirken zu können. Was Hinkmar nun, gewiß in Übereinstimmung mit Adalhard, über die Reichsversammlung, placitum, und deren generalitas sagt (Z. 470 – 479), bestätigt dieses Ergebnis. Denn es war die Genossenschaft sämtlicher Großen, generalitas universorum maiorum, die zu der Versammlung zusammentrat, conveniebat, und diese bestand aus zwei Gruppen, den führenden, erfahrenen, worthaltenden Großen, seniores, auf der einen und den einfachen, nicht zum Reden berufenen Großen, minores, auf der anderen Seite. Beiden Gruppen weist Hinkmar verschiedene Aufgaben zu, und das sind eben jene, die wir bereits früher erschlossen und beschrieben haben. Den Worthaltern oblag es, ordnungsgemäß das Ergebnis der Beratungen abzufassen als Weistum oder Ratschlag, an den die Versammlung den König binden wollte, den minores aber stand das Recht zu, diesen Ratschlag anzunehmen oder, wenn sie dazu nicht bereit waren, in gleicher Weise (wie jene) darüber zu verhandeln und ihn schließlich, sei es verändert oder unverändert, zu bestätigen. Dies aber taten sie nicht kraft irgendeiner Vollmacht oder in irgendjemandes Auftrag, ex potestate, sondern nach persönlichem Sachverstande und Urteil, ex proprio mentis intellectu vel sententia. Vollmächtig nämlich waren sie nur dann und nur so lange, wenn und wie ihr Urteil mit dem des Landes ihrer Herkunft übereinstimmte. Ob dies aber der Fall war, darüber konnte auf der Reichsversammlung nach den Regeln identischer Willensbildung niemand anders als sie selbst entscheiden (oben: §§ 22, 25). Nach denselben Regeln wird ihnen auch das Referenzrecht, das Hintersichbringen einer Sache, in der sie sich ihrer Vollmacht nicht gewiß waren, an die heimatliche Dingoder Landesversammlung zugestanden haben, ein Recht, das sie allerdings schwerlich haben ausüben können, da sie damit unter den damaligen Verkehrsverhältnissen jegliches rechtzeitige Beschließen in der Reichsversammlung verhindert hät-
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ten. Zieht man dies in Betracht, so waren Adalhard und Hinkmar durchaus im Recht, wenn sie sagten, die geringeren Großen hätten während der Versammlungen in niemandes Auftrage gehandelt. Der Anteil der minores an der gemeinen Willensbildung war also nicht nur erheblich, sondern sogar entscheidend: Erst das von ihnen bestätigte consilium der seniores war ordnungsgemäß festgestellt und, wenn einhellig beschlossen, für den König verbindlich. § 608b. Auf diese Rolle der minores mußte man auch bei dem zweiten, vermutlich im Spätherbst abgehaltenen placitum Rücksicht nehmen, da man dieses nur mit denjenigen Großen des Reiches abhielt, die sich der König zu engsten Ratgebern erkoren hatte, cum senioribus tantum et praecipuis consiliariis habebatur (Z. 480 – 481). Da das Prädikat dieser Aussage im grammatischen Passiv steht, vermied es Hinkmar wie üblich, deren logisches Subjekt, nämlich den König, als Mitglied der Reichsregierung ausdrücklich zu erwähnen. Thema der Beratungen war die Lage des Reiches im kommenden Jahre und damit die Tagesordnung für die nächste allgemeine, von allen seniores und den minores besuchte Reichsversammlung. Der jetzt gefundene Ratschlag wurde daher bis zu diesem generale placitum geheimgehalten, damit sich niemand anschicken konnte, ihm zu widersprechen, und damit sich die jetzt, im Herbste, Abwesenden nicht übergangen fühlten (Z. 493 – 500). Im Frühjahr wurde dann der Ratschlag sowohl mit Rücksicht auf die übrigen Großen als auch um die einzelnen Reichsvölker dafür zu begeistern, vel propter satisfactionem caeterorum seniorum vel propter non solum mitigandum, verum etiam accendendum animum populorum, so behandelt, als ob er jetzt erst unter deren Mitwirkung gefunden und mit Hilfe der Großen ordnungsgemäß fertiggestellt werde, nunc a novo consilio et consensu illorum et inveniretur et cum magnatibus ordo . . . perficeretur (Z. 500 – 505). Mit dem Plural populorum ist hier nicht irgendeine anwesende Volksmenge gemeint, sondern die Vielzahl der Bistums-, Grafschafts- und zum Reiche gehörigen Hofdinggemeinden, deren Willen die minores, die einfachen, im Plenum der Reichsversammlung nicht zu Worte kommenden Großen, in dessen Beratungen geltendzumachen hatten. Es war dies aber nicht ihre einzige Aufgabe. Möglicherweise noch wichtiger für die Existenz und Machtentfaltung des Reiches war es, daß die in ihre Länder und Gemeinden heimkehrenden Großen dort die Beschlüsse der Reichsversammlung öffentlich bekanntgaben und ihre Völker dazu überredeten, sie sich zu eigen zu machen, denn erst dann, wenn sie damit Erfolg hatten, wenn die Sühnemittler, Urteiler, Schöffen der Völker bereit waren, vom Reiche beschlossene Rechtsnormen in ihre Volks- und Landrechte aufzunehmen, und wenn ihre jungen Männer freiwillig und begeistert dem vom Reiche aufgebotenen Heere zuströmten, erst dann erlangten die Reichsbeschlüsse Rechtskraft und der mit ihrer Ausführung beauftragte König die Macht, sie gegen inneren und äußeren Widerstand durchzusetzen. Wie alle Macht der Grafen, alle weltliche Macht der Bischöfe, so beruhte die Macht des Königs und der Reichsregierung auf dem freiwillig geleisteten und niemals gegen Mehrheiten mit Gewalt zu erlangenden Beistand und Gehorsam der Völker und ihrer einzelnen Genossen.
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§ 609. Daß die Reichsregierung den von (Adalhard und) Hinkmar beschriebenen Tagungsrhythmus wirklich eingehalten habe, ist zwar für die Regierungszeit Karls des Großen nicht sicher (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 571) nachzuweisen, wohl aber für die seines Sohnes und der Enkel wenigstens wahrscheinlich zu machen. Namentlich König Ludwig, der Begründer des Ostfränkisch-deutschen Reiches, hat nicht nur, soweit erkennbar, die Mahnung beherzigt, nach Möglichkeit die Regionen des Reiches an den Hofämtern zu beteiligen, vielmehr ist auch für eine ganze Reihe von Jahren die Frequenz zweier jährlicher Versammlungen nachzuweisen (W. Hartmann 2002 S. 136, 145 f.). Wohl nur aus gutem Grunde hätten die Könige darauf verzichten können, die Periodizität einzuhalten, denn sie setzten damit den Beistand der Untertanen aufs Spiel, und dieser Verlust war eine so wirksame Strafe für die Unterlassung, daß die Großen der Notwendigkeit enthoben waren, ausdrücklich den Anspruch auf Regelmäßigkeit ihrer Zusammenkünfte zu erheben und den König zu periodischer Ladung zu verpflichten. Unterließ es der König, sie zu laden, so zwang er sie dazu, sich eigenmächtig zu versammeln, wie sie es sonst nur während des Interregnums zum Zwecke der Königswahl tun mußten, wenn sie über ihr Schicksal selbst bestimmen und es nicht dem Zufall und der Bestimmung durch Nachbarn und Fremde überlassen wollten. Keimhaft war bereits in der karolingischen Ordnung sowohl ein Anspruch des Königs auf Ladungsgehorsam als auch ein Recht des Volkes auf periodische Ladung angelegt (G. Waitz Bd. 3 S. 567, 576 – 580). Einer vergleichbaren Zweiseitigkeit unterlag auch die Auswahl der Berater, mit denen sich der König zu jeder Zeit des Jahres umgab: Er mußte sie zwar den Rängen der Großen entnehmen, brauchte sie sich aber nicht von diesen aufdrängen zu lassen, sondern konnte sie einerseits nach Eignung und Amt, andererseits nach Königs- und Reichstreue auswählen, ut . . . nihil regi et regno praeponerent (Z. 510 f., 569). Das Recht der Auslese dem König ausdrücklich zuzusprechen hielt Hinkmar nicht für nötig; wie üblich, steht das Prädikat seiner Aussage im genus passivum, so daß es offenbleibt, ob darin überhaupt ein Recht des Königs oder nicht vielmehr eines der Genossenschaft der versammelten Großen zu erblicken ist. Ebenso steht es um das Recht, den Erzkaplan, den Kämmerer und andere ausgewählte Hofbeamte zu den Beratungen hinzuzuziehen (Z. 534 – 541) und die Räte zur Versammlung zu laden (Z. 545, 565); denn die Hofbeamten an den Geschäften zu beteiligen war geboten, damit es dem Hofe auch dann nicht an erfahrenen Beratern gebrach, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintraten und es an Zeit fehlte, um die zu Beratern ausgelesenen Großen zusammenzurufen. Nur einmal erwähnt Hinkmar überhaupt, daß die gekorenen Räte zusammen mit dem Könige, electi consiliarii una cum rege (Z. 517 f.), über Reichsangelegenheiten und Personalsachen zu beraten pflegten. Nur insgeheim und mit besonderer Vorsicht waren die letzteren zu behandeln, weil sie nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Sippengenossen und sogar das ganze Land, dem sie entstammten (Z. 530 – 533), dazu bewegen konnten, sich zu empören. Die Großen nahmen, wie sich daraus ergibt, eben nicht als Einzelne, sondern als Worthalter der Personen-
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und Gemeindeverbände, zu deren Häuptern sie erhoben worden waren, an den Reichsversammlungen teil. Dem König oblag es vor allem, den zur Versammlung oder zum Reichsrate geladenen Großen eine Tagesordnung vorzulegen, damit es nicht den Anschein habe, als würden sie ohne Grund zusammengerufen (Z. 575 – 580). In einzeln benannten und geordneten Kapiteln eröffnete er ihnen namentlich diejenigen Dinge, die ihm erst seit der letzten Tagfahrt bekanntgeworden waren, damit die Großen sie übereinstrügen oder wenigstens erörterten, ad conferendum vel ad considerandum. Die Vorlage erfolgte alsbald oder sogleich, mox, was wohl heißen soll: zugleich mit der Ladung. Dies jedenfalls wäre nach den Regeln identischer Willensbildung zu erwarten (oben: § 22), da die Großen nur dann als vollmächtige Sendeboten ihrer Länder und Gemeinden zur gemeinen Willensbildung beitragen konnten, wenn sie deren Meinung vorzutragen, dieselbe also schon vor dem Antritt ihrer Reise an den Hof festzustellen vermochten, und dazu waren sie wohl nur in Kenntnis der Tagesordnung imstande. Vermutlich gerade deswegen, weil sie an die Willensmeinung derer gebunden waren, deren Wort sie hielten, oder doch wenigstens darauf Rücksicht zu nehmen hatten, gelang es der Reichsversammlung nicht immer, ja nicht einmal in der Regel, ihre Ratschläge einhellig zu beschließen. Oft genug wird sie dem König lediglich die Meinungen von Mehrheiten und Minderheiten haben vorlegen können (Z. 597 – 599), so daß dem Herrscher die letzte Entscheidung zukam und quicquid a Deo data sapientia eius eligeret, omnes sequerentur (Z. 583 – 587). Hatte der König entschieden, so oblag es den Anhängern der unterlegenen Meinung, ihrer in der Treuepflicht aller Untertanen begründeten Folgepflicht nachzukommen und so die Einmütigkeit des Beschließens herzustellen. § 610. Die Willensbildung im Rate der Großen und in der Reichsversammlung war aber frei, sie unterlag keiner unmittelbaren Lenkung durch den König, und daher haben wir sowohl in der Genossenschaft der Großen als auch in dem Reichsuntertanenverbande, mit dem sie sich identifizierte, eine zwar herrschaftliche, gleichwohl aber freie Einung vor uns (oben: § 218). Denn Hinkmar berichtet, wiederum gewiß im Einklang mit Adalhard, daß die Beratungen der Großen – gemeint sind deren seniores – in Abwesenheit des Königs vor sich gingen (Z. 590) und daß der König nur dann und nur so oft und so lange im Rate erschien, wenn und wie es ihr Wille war (Z. 595). Wille, voluntas, voluisse, ist ein bemerkenswertes Wort. Stellt man sich das Reich als von unten her aufgebaut vor, so gibt es keinen Grund dafür, den von Hinkmar gewählten Ausdruck zum bloßen „Wunsch der abgesonderten Berater“ abzuschwächen. Hinkmar dürfte eher einen Befehl gemeint haben, dem der König zu gehorchen hatte. Von den Beratungen ausgeschlossen, widmete sich der König unterdessen der reliqua oder caetera multitudo (Z. 591, 602, 608), wobei wir an die minores proceres zu denken haben, auf deren bereits vorher bestimmten Anteil an der Willensbildung Hinkmar hier nicht noch einmal eingeht. Damit sie Gelegenheit hatten,
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den Ratschlägen zu konsentieren, fanden zu gegebener Zeit, sei es im Beisein oder in Abwesenheit des Königs, öffentliche Versammlungen statt, zu denen die seniores, getrennt nach Geistlichen und Laien, in den für sie bestimmten Saal des Palastes zusammengerufen wurden, wo Sessel für sie bereitstanden, soweit sie es nicht vorzogen, gemeinsam zu tagen und zu sitzen (Z. 609 – 614). Die Reichsversammlung bot nun den Anblick eines Gerichtstages dar: Die seniores als Urteilsweiser oder Schöffen um ihres Vorrangs willen, honorificabiliter, ausgezeichnet als Sitzende, die minores um sie herumstehend, um ihre Weistümer zu prüfen und ihnen, gegebenenfalls nach Verbesserung, zuzustimmen. Eines Richters allerdings bedurfte die Versammlung nicht; eines königlichen Thrones in ihrer Mitte brauchte Hinkmar nicht zu gedenken. Erst ganz am Schlusse seiner Abhandlung gibt uns Hinkmar zu erkennen, daß dem Könige doch ein größerer Anteil an der Reichsregierung zukam, als er im allgemeinen bis dahin eingeräumt hatte. Denn offensichtlich war es königliche Amtspflicht, die Geschäfte des Reiches zu führen (Z. 370 – 372) und zu diesem Zwecke die gemeine Willensbildung des Untertanenverbandes indirekt und durch seine Vertrauten doch insoweit zu lenken, daß sich die Rolle der Großen am Ende darauf beschränkte, auf seinen Willen zu reagieren und mit ihm, statt wider ihn, an der Regierung teilzuhaben. Nach Hinkmar war der König im wesentlichen deswegen imstande, diese seine Amtspflicht zu erfüllen, weil er das Recht hatte, der Reichsversammlung die Tagesordnung vorzugeben (Z. 577 – 580, 618). Wie wir aus anderen Quellen wissen, war es ferner das Recht des Königs, die Beschlüsse der Reichsversammlung förmlich bekanntzugeben (adnuntiare, dicere, in populum recitare) und die Teilnehmer förmlich zu entlassen (redire permittere, redeundi licentiam tribuere, ad propria resolvere: Capit. 2 S. 75 Z. 8, 92 Z. 6, 361 Z. 37, 362 Z. 2, 363 Z. 7 – 8. Ann. Bert. a. 834, 835 S. 8 Z. 22, 10 Z. 4, 11 Z. 15. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 598). Es ist dies derselbe Staatsakt, den man seit dem Spätmittelalter als Rezeß oder Abschied bezeichnete (oben: §§ 26, 27). Aber mit der Ladung der Großen verfolgte der König nicht nur den Zweck, zu den Kapiteln der Tagesordnung die – eventuell kontroversen (Z. 597 – 599) – Weistümer der Reichsversammlung einzuholen, sondern auch als zweites, sich durch Befragung der Großen über die politische Lage in deren Heimatländern und Gemeinden zu unterrichten, denn es war den Großen nicht nur gestattet, sondern strenge befohlen (Z. 621 f.; commissum: H. Götz, Wb. 1999 S. 119), sich danach bei Freund und Feind zu erkundigen, ob und warum das Volk eines Reichsteils, eines Landes oder Ortes in Angst oder Zwietracht geraten war, ob es seinen Ärger vernehmlich äußerte, ob auswärtige, unterworfene Völker rebellierten oder sonst eine Sache bekannt sei, mit der sich der Reichsrat, generale consilium, befassen müsse (Z. 626 – 631). Die Großen waren eben nicht nur Worthalter ihrer Völker, sondern auch Getreue und Große des Königs und daher dazu verpflichtet, dem Könige beizustehen und ihm bei Erfüllung der Aufgabe zu helfen, die sie ihm übertragen hatten, als sie ihn
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zum Haupte über sich erhoben und ihm Treue und Gehorsam gelobten. Im Reiche mitzuregieren und dessen Regionen in Eintracht zusammenzuhalten war nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht. Wie der Hausmeier Karl Martell und die Könige Pippin und Karl nur mit ihrer und ihrer Völker Hilfe das Fränkische Reich hatten wiederaufrichten können, so vermochten Karls Nachfolger es nur so lange zu erhalten, wie die Teilvölker und ihre Großen gewillt waren, ihre Pflicht zur Reichstreue anzuerkennen und zu erfüllen. Über diese Grundlage der Reichsverfassung zu sprechen, war Hinkmar freilich nicht genötigt, da er sich ja lediglich die karolingische Regierungsweise zum Thema gemacht hatte.
§§ 611 – 619. Die Reichsregierung nach Nithard I: Die Großen und das Volk § 611. Zwar einen weniger umfassenden Einblick in die Regierungsform, als sie uns Hinkmar gewährt, statt dessen aber um so genauere Auskunft sowohl über Einzelheiten als auch über die Denk- und Redeweise der Könige und Großen bieten uns die Historien, die der amtlose, jedoch durch Zugehörigkeit zum karolingischen Hause und eine unter Laien ganz ungewöhnliche Bildung ausgezeichnete Große Nithard in den Jahren 841 und 842 aufgezeichnet hat. Von der Mutter her ein Enkel Karls des Großen, ergriff Nithard im Streit seiner Vettern um die Nachfolge nach Kaiser Ludwig dem Frommen beratend und tätig für Karl Partei, dessen Rechte Lothar, nach seiner Meinung, nachdem er sie einmal anerkannt, nicht mehr hätte verletzen dürfen. Als einer jener Großen, die gemeinsam mit Karl unter solchem Unrecht zu leiden und dawider zu kämpfen hatten, schrieb er nicht nur für den König, der ihn dazu aufgefordert hatte, die Geschichte dieser Ereignisse zu erzählen, sondern auch für dessen Große als seine eigenen Fürstengenossen (vos vestrique: Nithard, Hist. I pr. S. 1 Z. 3 und 11). Weil er nicht nur als Getreuer seines Königs und Herrn, sondern auch in eigener Sache Lothar Widerstand leistete, lebt in seiner Erzählung ein Hauch von jener Freiheit und vornehmen Weltsicht, die man eigentlich nur bei Thukydides und Caesar zu suchen pflegt, weil sie nur dann die Geschichtsschreibung belebt, wenn freie Männer, die ihr Schicksal in eigenen Händen halten und daher die Gründe der Entschlüsse und Taten kennen, für deren Folgen sie mit Gut und Blut haften, selbst die Ereignisse beschreiben, wogegen Schriftsteller, die persönlich von der Gestaltung des Gemeinwesens und seiner Politik ausgeschlossen sind und daher das Geschehen nur aus der Froschperspektive der hilflos Leidenden betrachten können, notwendig dahin gelangen, die für sie sinnlosen Ereignisse, wie so oft in der römischen Kaiserzeit, auf den allmächtigen Zufall, wie so oft im Mittelalter, auf einen göttlichen Willen, und wie so oft in neuerer Zeit, auf ihre eigenen Hirngespinste von historischer Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, deren Walten die handelnden Freien zu bloßen Marionetten degradiert. Auch Nithard deutet dergleichen an, wenn er sich in seinen Rechtsanschauungen immer wieder durch Himmelserschei-
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nungen und wunderbare Vorfälle bestätigt sieht, aber so oft er sich auch die für das Recht streitenden Großen dessen vergewissern läßt, daß sie nach Gottes Willen handeln und das göttliche Recht auf ihrer Seite haben: nie läßt er Gott direkt die Ereignisse lenken, stets sind es die Freien, die er als Handelnde zu Subjekten seiner Aussagen macht, auch wenn sie gelegentlich einem Weistum der Bischöfe folgen, die Gott auf Erden zu bevormunden hatten. Wie wir sehen werden (unten: § 640), sprechen Nithards Geschichten dafür, daß nicht die extreme christliche Frömmigkeit der weit überwiegenden Mehrheit mittelalterlicher Schriftsteller, sondern Nithards Denkweise diejenige nicht nur der Laien, sondern auch der Mehrzahl politisch interessierter Kleriker seiner Zeit gewesen ist. Wir dürfen uns die mittelalterliche Kultur keineswegs als eine ausschließlich kirchlich geprägte Einheitskultur vorstellen, sondern müssen namentlich den Laien eine auf profanen weltlichen Grundlagen fußende Geisteskultur zubilligen. Um uns davon Kenntnis geben zu können, mußte Nithard eine Bedingung erfüllen, der Laien seiner Zeit kaum einmal genügten und die es daher verständlich macht, daß nicht die empirische laikale Denkweise der Mehrheit, sondern die inspirierte einer klerikalen Minderheit die mittelalterliche Überlieferung im ganzen geprägt zu haben scheint: Nithard besaß eine für seine Zwecke hinreichende Kenntnis der lat. Sprache und damit eine damals für Laien ganz untypische Schulbildung. Seine Sätze sind nicht immer besonders lichtvoll. Eine eigenwillige Syntax, namentlich der häufige beiläufige Subjektswechsel, der die Satzaussage in der Luft hängen läßt (z. B. Hist. III 2 S. 29 Z. 24), beweist, daß Nithard nicht lat., sondern in seiner Muttersprache dachte, derjenigen der romanisierten Franken des Westens, neben der ihm jedoch, wie gewiß vielen Großen, auch das Ahd. seiner östlichen Landsleute vertraut gewesen ist. Das Interesse, das er an dem volkssprachlichen Wortlaut der Straßburger Eide (ebd. III 5) nahm, spricht in seiner Einmaligkeit innerhalb der mittelalterlichen Literatur für sich. So gewähren uns Nithards Geschichten einen durch die lat. Schriftsprache zwar verfremdeten, aber doch leicht zu entschlüsselnden Einblick in das Denken des fränkischen Adels und Volkes, sobald wir sie nicht von der klassischen Sprachform des Lat. und von dem geistlichen Schulwissen des hohen Mittelalters, sondern von der Sprache und dem Rechtsdenken des Volkes ausgehend interpretieren. § 612a. Was nun die Gruppe der Großen anlangt, der er selber angehörte, so verhielt sich Nithard gegenüber den Bezeichnungen principes und proceres ebenso ablehnend wie die Reichskanzlei (oben: § 599. W. Wehlen 1970 S. 78 – 91). Den Begriff principes behält er allein den Königen vor, und wo er das Wort proceres einmal benutzt, geschah es vielleicht um der Alliteration willen (facta principum procerumque nostrorum, Nithard, Hist. IV pr. S. 39 Z. 27). Sonst aber nennt er die Großen regelmäßig primores oder (einmal: IV 6 S. 48 Z. 19) primates. Die drei Worte kommen bei ihm, gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch, nur im Plural vor. Eine einzelne Person zu kennzeichnen, dazu waren sie nicht geeignet.
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Wo handelnd auftretende Gruppen von Großen zu benennen waren, pflegt Nithard deren eine, zwei oder drei, einmal auch vier Personen mit Namen, die übrigen aber nur als Gesamtheit anzuführen. So erscheinen beispielsweise zum Jahre 834 Mathfridus et Lantbertus ceterique a parte Lodharii (I 5 S. 7 Z. 9), zu 837 Hilduinus abbas ecclesiae sancti Dionysii et Gerardus comes Parisius ceterique omnes als Untertanen Karls (I 6 S. 9 Z. 16 – 18), und zu 841 im Gebiet zwischen Seine und Maas Arnulfus et Gerardus ceterique als Anhänger Lothars, dagegen Teutbaldus Warinus Otbertus ceterique als Anhänger Karls (II 6 S. 20 Z. 14 – 17). Die namentlich genannten Männer sind als Sprecher und Anführer einer solchen Gruppe, die übrigen als Genossen, als ceteri omnes, ceteri coadunati, socii oder hi qui sequi deliberabant, wie es gelegentlich heißt (S. 9 Z. 18, 16 Z. 16, 20 Z. 20, 30 Z. 9) zu betrachten, mit denen zusammen, una cum ceteris (S. 18 Z. 27, 31 Z. 18, 35 Z. 4, 43 Z. 21), die Führer tätig wurden. In der Mehrzahl der Fälle nennt Nithard die Namen der Führer, ohne ihnen Amtsbezeichnungen beizugeben, obwohl sie uns in der Regel anderweitig als Inhaber königlicher Ämter begegnen, und nur einmal läßt er die Amtsinhaber überhaupt an die Stelle der Genossen treten, als nämlich König Karl im Jahre 841 Guntboldum Warnarium Arnulfum Gerardum necnon et omnes . . . comites abbates episcopos in dem Lande zwischen Seine und Kohlenwald für Anhänger Lothars erkannte (II 6 S. 19 Z. 25 – 27). Für die Stellung dieser Männer als Sprecher und Führer einer solchen Gruppe war es demnach nicht wichtig, daß sie zugleich Reichsämter innehatten. Nicht darauf beruhte ihre Führerschaft, sondern auf dem Ansehen, das sie bei den übrigen genossen (unten: § 632), und daher, wie wir annehmen dürfen, auf Einungsrecht, mochte sich eine solche Gruppe nun, wenn sie einem Könige anhing, als herrschaftliche, oder wenn sie ihn ablehnte und bekämpfte, als freie, in ihrer Willensbildung von niemandem abhängige Gemeinde betrachten. Da wir uns die Völker der Teilreiche und Regionen als partikulierte und gestufte Einungen (oben: §§ 21, 206, 444) vorzustellen haben, kann es uns nicht befremden, daß auch die Gruppe der Genannten und Übrigen, die ein solches Volk führte, als Einung (coadunati, socii, oben: § 182) verfaßt war und daß darüber hinaus die Übrigen weder abgezählt noch von dem Heere oder dem (versammelten) Volke abgegrenzt zu werden brauchten. Wir erfahren nie, ob unter den Übrigen ein halbes Dutzend oder Hunderte von Personen zu verstehen sind. Für die auf Eintracht und Einmütigkeit aller gegründete Existenz und Handlungsfähigkeit der Völker, Heere und Führungsgruppen kam es auf die Zahlen nicht an. Dies alles spricht gegen eine monarchisch und hierarchisch verfaßte Führung der Völker, wie sie im Rahmen einer Lehnsverfassung zu erwarten wäre. Wir wissen bereits, daß Nithard weder Bischöfe, Äbte und Grafen (S. 9 Z. 10, 13 Z. 2, 44 Z. 5) als königliche Vasallen noch ihre Ämter als königliche Lehen behandelt (oben: § 587). § 612b. Allerdings legt Nithard keinen Wert darauf, die Einung der Großen, deren Ergebnis die Erzeugung einer Verbandsperson war, zu betonen. Wohl wegen ständig wechselnder Zusammensetzung der das Wort der Einung haltenden Ver-
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sammlung faßt er die gemeinsam handelnden Großen für gewöhnlich als eine Vielheit von Personen auf. Nur ein einziges Mal gibt er ihnen eine Bezeichnung, welche anzeigt, daß er sie sich als Gesamtperson oder Institution dachte und daß die Gruppe selbst nach einer von der fluktuierenden Personenvielheit unterscheidbaren Verfassung strebte. Als nämlich Kaiser Ludwig im Jahre 832 seinem Sohne Pippin das Königreich Aquitanien entzog, um es auf Karl zu übertragen, da leistete dessen kaisertreuer primatus populi dem neuen Könige den Gehorsamseid: in eius obsequio primatus populi, qui cum patre sentiebat, iurat (S. 5 Z. 10, unten: § 618). Da der Gehorsamspflicht der Großen die Pflicht des Königs gegenüberstand, ihnen nicht anders denn nach Recht und Gesetz zu befehlen, kam bei der Gelegenheit ein Herrschaftsvertrag von derselben Art zustande, wie ihn am 14. Februar 842 die Könige Karl und Ludwig und die Großen zu Straßburg abschlossen, praedicti fratres necnon et primores populi praefatum pepigere pactum (S. 37 Z. 12). Die Könige wollten ihr Bündnis gegen Kaiser Lothar bekräftigen und den Getreuen, von deren Gehorsam ihre Macht abhing, jeden Zweifel nehmen, ihr jeweiliger König könne dem Bruder in den Rücken fallen, um sie an Lothar zu verraten; für den Fall eines solchen Verrats entband daher jeder König die Seinen von der Gehorsamspflicht, die sie einst bei seiner ersten Annehmung beschworen hatten, a subditione mea necnon et iuramento, quod mihi iurastis, unumque vestrum absolvo (S. 36 Z. 2 – 4, unten: § 639). Die Großen aber leisteten zur Sicherheit des jeweils anderen Königs einen Eid darauf, daß sie jener Pflicht zu gehorchen ledig sein wollten, wenn ihr eigener Herr den Bruder verriete: Wenn ich ihn davon nicht abwenden kann, so werde weder ich noch irgendeiner von denen, die ich davon abwenden kann, ihm wider (den anderen) zu Hilfe kommen, si io returnar non l’int pois, . . . in nulla aiudha . . . non li iuer – ob ih inan es iruuenden ne mag, . . . imo ce follusti ne uuirdhit (S. 36 Z. 26 – 28, 37 Z. 3 – 5). Die Verfassung der Gruppe oder des primatus ist hieraus gut zu erkennen. Wie die Könige jedes einzelne Mitglied der Gruppe von einem Eide lösten, den es persönlich geleistet hatte, so schwor auch jeder einzelne den Sicherheitseid. Als dessen sprachliches Subjekt erscheint daher das Personalpronomen erster Person im Singular. Aber schwor auch jeder als einzelner und für seine Person, so tat er es doch nur zugleich mit allen anderen Großen. Die Gruppe konstituierte sich dadurch, daß sie sich vom Kanzler des paktierenden Königs die Eidesformel ansagen ließ und sie im Chore nachsprach. Samt und sonders schworen also die Großen den Sicherheitseid, für dessen Verbindlichkeit nichts darauf ankam, welche und wieviele Personen bei dieser Gelegenheit den primatus populi bildeten. Bischof Prudentius von Troyes, ein Zeitgenosse Nithards, der seit 835 die westfränkischen Reichsannalen führte, bestätigt uns, daß es eine regelmäßige Aufgabe des primatus war, derartige bedingte Abmachungen der karolingischen Herrscher mit Sicherheitseiden zu untermauern (Ann. Bert. a. 839, S. 22 Z. 14). Diese Eide machten die Gruppe zur herrschaftlichen Schwureinung mit speziellem Zweck und spezieller Satzung. Auch wenn sich Nithard die primores nur ausnahmsweise als primatus oder Institution in Gestalt eines zu gesamter Hand rechts- und handlungsfähigen Verban-
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des vorzustellen vermochte, während er sie in der Regel als offene Personenvielheit betrachtete, so galt ihm doch auch diese Vielheit als verfassungsmäßige Einrichtung, führt er doch das Wort häufig im Nominativ Plural und damit als Subjekt der Handlungen auf, von denen zu berichten ihm wichtig war. An den angeführten Stellen seines Berichtes war es die Aufgabe der primores, den Huldigungseid zu leisten (iurare S. 5 Z. 10) oder gemeinsam mit den Königen den Straßburger Vertrag abzuschließen (praefatum pepigere pactum S. 37 Z. 12). § 613. Da Nithard vom primatus populi und gelegentlich von den primates oder primores populi spricht (S. 5 Z. 10, 45 Z. 20, 48 Z. 19), stellt er sich die Großen als in enger Verbindung nicht nur zu ihren Königen, sondern auch zum Volke stehend vor. Wie bereits richtig erkannt, wenn auch nicht richtig erklärt worden ist (W. Wehlen 1970 S. 78 – 80), war diese Verbindung so eng, daß Nithard die Worte primores und populus als Synonyme verwenden und folglich die Großen mit dem Volke identifizieren konnte. So hören wir, daß König Karl den Grafen Adelard für sich zu gewinnen suchte, der zeitweilig seines Vaters einflußreichster Berater gewesen und als solcher mit dem Kammergut so großzügig umgegangen war, daß er in der jetzigen Bedrängnis das Volk mit Leichtigkeit wenden konnte, wohin er wollte, in hac tempestate populum qua vellet facile devertere posset; dieser Gabe sollte er sich nun bedienen, um maximam partem plebis für Karl zu gewinnen (Hist. IV 6 S. 49 Z. 3 – 13). Da als Empfänger königlicher, auf Antrag vergebener Güter und Freiheiten nur einzelne Personen aus dem Kreise der Großen in Betracht kamen, die allerdings die Völker, deren Wort sie hielten, an ihrem Privilegienstande zu beteiligen hatten (oben: §§ 376, 434, 565), war es berechtigt, daß Nithard allein durch seine Redeweise an dieser Stelle primores, populus und plebs miteinander identifizierte, ohne die ersteren überhaupt zu erwähnen. Daß ein Volk nur durch die Personen seiner Großen Vorrechte empfangen konnte, verstand sich für Nithard, wie für mittelalterliche Schriftsteller überhaupt, von selbst. Nur selten bringt Nithard dies einmal zum Ausdruck. So schreibt er, im Herbst 842 habe (Kaiser) Lothar omnes primores suae portionis populi ihrer Ämter entsetzt, die ihn hatten verlassen müssen, als er sein Teilreich im Stich gelassen, dum e regno abiret (IV 4 S. 45 Z. 20 – 22). Das waren die primores des Reichsuntertanenverbandes, von dem jedem der drei Brüder ein Teil zugewiesen werden sollte, um das Teilvolk oder den Untertanenverband eines Teilreichs zu bilden, und von den Partikularverbänden (Bistums- und Grafschaftsvölkern) eines solchen Teilvolkes verlangte Lothar, daß sie ihrerseits den von ihm abgesetzten Großen Treue und Gehorsam aufsagten. Diese Konsequenz der königlichen Verfügung war ebenso selbstverständlich wie die von Nithard vorgenommene Identifikation des lotharischen regnum mit einer portio populi und mit deren primores. Nicht schon Nithards damalige Leser, sondern nur erst wir heutigen müssen die in Nithards Denk- und Redeweise latent enthaltenen Vorstellungen jedesmal entfalten, um zu verstehen, was damals vor sich ging. Die Großen mit ihrem Volke zu identifizieren lag immer dann nahe, wenn sich Nithards Bericht auf ein in seinem Lande zerstreut lebendes Volk bezog, das als
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solches sowohl Landesgemeinde und Untertanenverband als auch Objekt des politischen Geschehens war. Erst dann, wenn ein solches Volk selbst handeln wollte, war es geboten, der Großen eigens zu gedenken, weil sie die volkliche Willensbildung ebenso anleiten mußten wie die Ausführung des Beschlossenen. Im Herbst 832 kam es zu einem Schisma in dem Volke von Aquitanien, denn der kaisertreue primatus populi nahm Karl zum Könige an, während andere den populus dazu anstachelten, Pippin die Treue zu halten (I 4 S. 5 Z. 9 – 14). Solche Aktivitäten erforderten, daß sich die Großen zu Land- und Reichstagen versammelten und damit sichtbar von dem Volke schieden, dessen Willen sie erfüllten. Davon berichtet Nithard zum Herbst 842, als die in Koblenz anwesenden primores populi, weil sie keinen weiteren Krieg wollten, dem Friedensvertrage der Könige zustimmten und bald darauf in Diedenhofen zusammenkamen, wo sich die primates populi mit Eiden für dessen Einhaltung verbürgten (IV 6 S. 48 Z. 15 – 20). Im allgemeinen hält es Nithard nicht für nötig, den Anteil der Großen am Tun und Erleiden des Volkes hervorzuheben. Wenn die rivalisierenden Könige ein Volk dazu anstachelten, den seinen zu verlassen (populum sollicitare S. 2 Z. 27, 5 Z. 13, populum compellere S. 5 Z. 25, plebem subducere S. 21 Z. 12), wenn einer von ihnen sich das eigene Volk zu verpflichten und dessen Abfall zu verhüten suchte (populum sacramento sibi firmare S. 21 Z. 22, 41 Z. 3), oder wenn sie über die Teilung eines Volkes und Reiches verhandelten (de populo ac regno deliberare S. 40 Z. 4): stets waren selbstredend die Großen dieses Volkes mit betroffen und beteiligt. Ebensowenig war es nötig, die leitende Teilnahme der Großen jedesmal dann zu erwähnen, wenn ein Volk aktiv wurde, wenn es sich etwa, die Zwietracht der Brüder erkennend, trotzig und aufsässig zeigte (quod quidem populus cernens molestus erat S. 6 Z. 11; molestus = ahd. thruzzisam: H. Götz, Wb. 1999 S. 410), wenn es sich schämte, weil es den Kaiser zweimal verlassen hatte (occurrebat verecundia universae plebi S. 6 Z. 11 – 13), oder wenn es einen König verlassen oder nicht verlassen wollte (populus relinquere non vult S. 8 Z. 27, deficere vult S. 41 Z. 23). § 614. Nicht die sterblichen und wechselnden Könige, sondern dieses immerwährende, als Gesamtperson unsterbliche Volk betrachtete Nithard als das Subjekt der Ereignisse, die er zu schildern hatte, und daher, weil ihm der Begriff der Souveränität noch nicht zur Verfügung stand, als unmittelbar zu Gott. Es schien ihm erwiesen zu sein, daß die Einzelnen, deren Egoismus und Zwietracht jene Gesamtperson verletzte und zerstörte, zugleich Gott beleidigten. Denn solange zur Zeit Karls des Großen hic populus unam eandemque rectam ac per hoc viam Domini publicam incedebat, lebte es in allen seinen Teilen in Frieden und Eintracht, während jetzt, wo jeder seinen eigenen Weg ginge, überall Zwietracht und Streit offen ausgebrochen seien (S. 49 Z. 30 bis 50 Z. 1). Es ist bemerkenswert, daß Nithard zu dem biblischen Ausdruck via Domini das Adjektiv publica hinzufügt; er muß daraus dessen ciceronianische Deutung als populicus oder volklich herausgehört haben, so daß ihm der rechte Weg derjenige war, auf dem Gott und das christliche Volk oder das Volk mit seinem Gotte voranschritt, ganz so, wie es vierhundert Jah-
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re vorher der Kirchenvater Augustinus in seiner Staats- und Geschichtslehre dargestellt hatte. Anläßlich der Schlacht bei Fontenoy, in der die Zwietracht seiner Zeit ihren blutigen Höhepunkt erstieg, bezeichnet Nithard das dadurch tödlich getroffene Reichsvolk mehrfach betont als populus Christianus und als Opfer des Haders der Könige und Völker, die sich auf dem Schlachtfelde gegenübergetreten waren (S. 26 Z. 2 und 22, 28 Z. 27, 32 Z. 12, 35 Z. 26, 36 Z. 7 und 16, 43 Z. 5). Im Gegensatz zu den weltlichen Völkern konnte Nithard vom populus Christianus (ahd. thaz Christâni folch S. 36 Z. 16) nur im Singular reden, denn nur dann, wenn dieses Volk eins und einig war, war es überhaupt. Zwischen ihm und Gott blieb selbst für Könige kein Raum; sie waren ein Teil seiner und hatten ihren Platz in seiner ersten Reihe, aus ihm heraus- oder hervorzutreten vermochten sie nicht. Gemeinsam bewiesen die siegreichen Könige und ihre Heere nach der Schlacht ihre Barmherzigkeit, gemeinsam beklagten reges populique das Los des Bruders und des christlichen Volkes und erfragten sie von den Bischöfen ein Weistum, das ihnen die Gerechtigkeit ihrer Sache als durch Gottesurteil erwiesen bestätigte (III 1 S. 28 Z. 19, 27 – 33). Selbst dort, wo Nithard ein irdisches Volk als politisch wollend und handelnd beschreibt, war es nicht nötig, die Großen, die es führten, hervorzuheben. Auch den als Heer oder königliches Gefolge versammelten Teil des Volkes pflegt Nithard kurzum als populus zu bezeichnen, ohne ihn von dem sein Land bebauenden und beherrschenden Gesamtvolke und der Einung seiner Großen zu unterscheiden. Angesichts der Identität des durch seinen Gemeinwillen geeinten Volkes mit seinem Heere und der Gruppe seiner Großen fehlte der Anlaß, um eine solche Unterscheidung zu denken oder auszusprechen. Besonders dann nennt Nithard die Heeresoder Reichsversammlung einfach populus, wenn sie zusammengekommen war, um einen König zum Haupte anzunehmen oder ihn zu verlassen (S. 2 Z. 12 – 13, 3 Z. 29 – 32, 12 Z. 11 – 17, 21 Z. 13 – 16). Populus war aber auch das Heer, welches die Abmachungen der Könige über Reichsteilung und Frieden entweder zustimmend zur Kenntnis nahm (coram cunctis, coram omni populo S. 11 Z. 8 und 34, 12 Z. 8) oder aktiv durch seinen Eid verbürgte (S. 36 Z. 22). § 615. Näher beleuchtet wird der Sachverhalt, den Nithard mit dem Worte populus in dessen dreifacher Bedeutung (als Untertanenverband eines bestimmten Landes, als dessen Heeres- oder Ratsversammlung und als Einung seiner Großen) meint, durch andere Begriffe, die er synonym mit populus verwendet, so durch das Substantiv plebs, zu dem wir als Äquivalente ahd. folc, thiota und liut mit der Bedeutung von Volk, Bevölkerung, Gemeinschaft, Volkshaufe, Menge, erhalten (H. Götz, Wb. 1999 S. 495). Uodo et Odo, Vivianus, Fulbertus ac plebis innumera multitudo: das war das Heer des Landes zwischen Seine und Loire (S. 7 Z. 17 – 18), und plebs war auch Kaiser Lothars bei Fontenoy besiegtes Heer (S. 28 Z. 9). Circumfusa plebs heißt das um seinen König versammelte und dessen Rede anhörende Heervolk (S. 23 Z. 30, 35 Z. 14), und wo ein König pendulam plebem
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oder maximam partem plebis für sich gewinnen wollte (S. 21 Z. 12, 49 Z. 13), da handelte es sich um eine Landesgemeinde, die das Recht ausüben konnte, einen König über sich zu erheben oder ihn zu verlassen. Bezeichnet Nithard ein Volk als plebs, so betont er weniger dessen Verbandsverfassung als die unzählbare Menge von Männern, aus der es bestand und vor dessen Masse der Adel, die Altfreiheit der Krieger verblaßte. Verständlich daher, daß Nithard die plebs nur ein einziges Mal mit einer Gruppe namentlich genannter Worthalter verbunden hat. Da das Kennzeichen der plebs eben die Massenhaftigkeit und Unzählbarkeit war, setzt Nithard mehrfach das Substantiv multitudo als Synonym dafür ein, wie es bereits Cicero und Augustinus getan hatten (oben: § 603). Collectam hinc inde infinitam multitudinem (S. 21 Z. 14, 33 Z. 36) führten Könige bei kriegerischen Unternehmungen an, wie uns denn auch unter anderem ahd. folc, heriscaft, liut als Äquivalente zu dem lat. Begriff genannt werden (H. Götz, Wb. 1999 S. 417). Als cetera multitudo assentientes billigte das Heer die Entscheidungen seines Königs und der Großen (S. 28 Z. 14), und octoginta electi ex omni multitudine omni nobilitate praestantes (S. 46 Z. 20) besorgten im Herbst 842 das Geschäft der Reichsteilung. Nithard schließt die Großen und den höchsten Adel keineswegs aus der Menge der Krieger aus (S. 38 Z. 11 und 22). Für die Substantive populus, plebs, multitudo läßt Nithard vielfach kurz und bündig die Pronominaladjektive omnes oder cuncti eintreten. So vermochte König Karl nicht nur omnes inter Sequanam et Ligerem degentes (S. 7 Z. 12, 10 Z. 7), sondern auch omnes Aquitanos für sich zu gewinnen (S. 12 Z. 20, 19 Z. 19), während omnes inter Mosam et Sequanam oder citra Carbonariam degentes zwischen Karl und Lothar schwankten (S. 9 Z. 18, 15 Z. 12, 16 Z. 1, 19 Z. 26). Wäre Karl hier Lothar nicht entgegengetreten, so hätten cuncti ihn als mutlos getadelt; als daher omnibus bekannt wurde, daß ostfränkische Helfer herbeikamen, forderten cuncti Karl auf, dem Bruder standzuhalten (S. 23 Z. 17, 27, 28). Es ist klar, daß sich diese Scharen einen Gemeinwillen nur unter Anleitung ihrer Großen bilden konnten. Mehrfach hat Nithard denn auch deren einzelne als namentlich Genannte den omnes vorangestellt (S. 7 Z. 11, 9 Z. 16 – 18, 19 Z. 25 – 26). Hatte ein Volk einen König zum Haupte angenommen, so konnte dieser es als populum nostrum ansprechen (S. 35 Z. 32), und da der König nun als oberster Worthalter die Großen übertraf, war Nithard imstande, dieses Volk, statt durch die Namen genannter Großer, durch den Namen des Königs zu bestimmen: Lodharius et sui, Karolus suique, Lodhuwicus cum suis, das war nun der knappste Ausdruck für einen Verband königlicher Untertanen. Die Könige läßt Nithard einfach von den Ihren, sui, reden, wenn sie ihr Volk oder Reich bezeichnen wollten. Gemeint war damit wiederum das Volk im dreifachen Sinne: als ein Land oder Gebiet bewohnende und beherrschende Personenvielheit (S. 14 Z. 37, 15 Z. 29, 29 Z. 33, 33 Z. 28, 44 Z. 18), als das von diesem Lande gestellte Heer (S. 8 Z. 4 und 24, 11 Z. 3, 16 Z. 19, 17 Z. 37, 18 Z. 4 und 38, 23 Z. 18, 24 Z. 34, 29 Z. 29) und als Gruppe seiner Großen (S. 11 Z. 26 und 30, 22 Z. 10 und 20, 24 Z. 31, 40 Z. 35).
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§ 616. Auf den Beistand und Gehorsam der Seinen aber dachte sich Nithard das Königtum oder die Würde des Königs begründet. Wir hören nämlich, daß Karl von seinem Bruder Lothar verlangte, er solle die Seinen nicht ferner aufwiegeln, um nicht das ihm von Gott anvertraute Königtum zu gefährden: ne amplius suos sollicitet, ne regnum sibi a Deo commissum perturbet (S. 14 Z. 37 bis 15 Z. 1), ne suos sibi subtrahens regnum quod Deus . . . illi dederat, amplius dissipet (S. 15 Z. 29 – 31). Nithard empfindet in dem Begriff des Regnum offenbar nicht nur einen Gebietsbezug im Sinne des vom König beherrschten Landes (W. Wehlen 1970 S. 98 – 100), nicht nur einen personalen Bezug zu einem bestimmten König, der darauf ein Recht hat (H.-W. Goetz 1987 S. 129), sondern auch einen Bezug zu dem Volke, welches das Reichsgebiet bewohnte, dem Könige die Herrschaft darüber und über sich anvertraute und sie wieder an sich nahm, sobald der König es im Stich ließ. Auch das Regnum war demnach res populi. Wie die Gesamtheit als Reich des fränkischen Volkes galt (regnum Francorum S. 43 Z. 8), so konnte Lothar aus seinem Teilreich fortgehen und die Entscheidung de populo ac regno . . . relicto den Brüdern überlassen (S. 40 Z. 1 – 5). Scheint also „die Person des Herrschers . . . ohne weiteres austauschbar“ zu sein, „ohne daß das ,Reich‘ sich ändert“ (H.-W. Goetz 1987 S. 130), so hat dies seinen Grund darin, daß man das unsterbliche Volk, welches das Reichsgebiet bewohnte und bebaute, als dessen wahren Herrn ansah, während der König lediglich auf seine Lebenszeit im Auftrage des Volkes darüber herrschte. Aus demselben Grunde konnte Nithard die einzelnen Karl zugeteilten Regionen als regna und das Land der Sachsen als regnum bezeichnen (S. 17 Z. 19, 42 Z. 5, oben: § 457): Sie hatten zwar keine eigenen Könige, wohl aber das Recht, je selbständig einen der karolingischen Brüder zum Könige anzunehmen. So mußte man dahin kommen, auch die Worte populus und regnum synonym zu gebrauchen, in der Sache also Volk und Reich miteinander zu identifizieren. Dies tat die Kanzlei Karls des Einfältigen, Königs der Westfranken und Lothringer, im Jahre 916, als sie eine Entscheidung zugunsten des Klosters Prüm beurkundete, die auf einer allgemeinen Reichsversammlung getroffen worden war, indem sie den Begriff conventus totius regni durch eine Aufzählung der Teilnehmer erläuterte, der zufolge das regnum aus allen Klassen seiner Großen sowie aus der Gesamtheit aller Edlen und Getreuen des Königs bestand: in conventu totius regni tam episcoporum quam comitum et procerum ac iudicum diversarum potestatum omniumque conventu nobilium cunctorum fidelium nostrorum (Actes de Charles III S. 187 n. LXXXIV, S. 189 Z. 10 – 13). Unter dem aus Bischöfen, Grafen, amtlosen Großen, Allodialgerichtsherren (oben: § 566b) und allen übrigen Altfreien bestehenden Regnum kann man kein Gebiet königlicher Herrschaft, sondern nur die Personenvielheit des königlichen Untertanenverbandes verstanden haben. Es war daher nur konsequent, daß die Reichskanzlei, als König Otto I. dreiunddreißig Jahre später die Entscheidung von 916 bestätigte, den zitierten Passus zwar sonst wörtlich übernahm, aus dem conventus totius regni jedoch einen conventus totius populi machte (MGH. DO. I. 111, S. 104 Z. 39).
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Dem imperium legt Nithard dagegen nur indirekt und ohne es auszusprechen die Bedeutung eines Untertanenverbandes bei. Er gebraucht das Wort einerseits im Sinne einer besonderen, von Karl dem Großen erworbenen Würde, in der jedoch Amtspflichten und Befehlsgewalt enthalten waren (illi imperatoris nomen magna auctoritate fuisse impositum . . . quatenus eiusdem nominis magnificum posset explere officium S. 26 Z. 30 – 32), andererseits im Sinne des Gebietes, auf das sich die kaiserliche Regierungsmacht erstreckte (W. Wehlen 1970 S. 100 – 103. H.-W. Goetz 1987 S. 126). Nur einmal spricht er von dem kaiserlichen Heere als imperium: imperator una cum omni quod habebat imperio . . . confluunt (S. 5 Z. 21 und 24). Eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob nicht die Teilung des Reiches unter Karls Enkeln auch die Teilung der kaiserlichen Gewalt nach sich zöge, verrät Nithard dadurch, daß er das ungeteilte Kaisertum und Kaiserreich mehrfach als omne oder universum imperium bezeichnet (S. 1 Z. 28, 2 Z. 30, 3 Z. 2 und 7, 6 Z. 5, 8 Z. 5, 13 Z. 30, 33 Z. 9, 47 Z. 16, 49 Z. 5, totum imperium S. 46 Z. 35), gleichsam als ob sich dessen Einheit nicht von selbst verstünde. Um den kaiserlichen, alle Teilreiche und Völker des Fränkischen Reiches umfassenden Untertanenverband zu benennen, bedient sich Nithard betont des Adjektivs universi, sei es in substantivierter Form oder als Attribut zu Substantiven wie nationes, exercitus oder plebs. Dabei fehlt es freilich an einer scharfen Abgrenzung gegen die gesamte Christenheit (universum populum Christianum S. 26 Z. 2) oder den europäischen Erdteil (universis Europam degentibus S. 41 Z. 9, dazu 1 Z. 24). Dem Worte universi legt Nithard denselben dreifachen Sinn bei wie dem Begriff populus und dessen Synonymen. Wenn Karl der Große ab universis nationibus zum Kaiser berufen worden war (S. 1 Z. 22, 41 Z. 10), so denkt Nithard dabei an die in ihren Regionen und Ländern ansässigen, zur Annehmung des Herrschers berechtigten Völker des Fränkischen Reiches, und dieselben sind gemeint, wenn es heißt, Kaiser Lothar habe um Aufschub der Verhandlungen mit den Brüdern wegen Teilung der universa Francia ersucht, weil er sich zuvor von deren Nutzen sowohl für sie als auch für die universa plebs überzeugen wollte (S. 26 Z. 21). Universus exercitus heißt dann regelmäßig das von Kaiser Ludwig oder Kaiser Lothar aufgebotene Heer, weil Nithard es sich als vom kaiserlichen Untertanenverbande gestellt denkt (cum universis qui trans Renum morabantur S. 8 Z. 9, cum universo exercitu S. 14 Z. 12). Erst nachdem es Lothar bei Fontenoy besiegt hatte, konnte auch das vereinigte Heer der Könige Karl und Ludwig universus exercitus oder universi heißen (S. 24 Z. 23, 26 Z. 6, 28 Z. 20, 38 Z. 33). Schließlich und drittens erscheinen universi oder universa plebs als Reichsoder kaiserliche Ratsversammlung, welche Beschlüsse faßt oder ihnen zustimmt (S. 6 Z. 15, 10 Z. 25, 24 Z. 14, 43 Z. 16) und dem Kaiser Gehorsam gelobt oder aufkündigt (S. 4 Z. 20, 6 Z. 13). § 617. Die Beziehung der primores zum populus, die in dem dreifachen Sinn des Wortes populus und seiner Synonyme (ceteri, plebs, multitudo, omnes, cuncti, sui, universi) zum Ausdruck kommt und die auf der einungsrechtlichen Identität ihres engeren Kreises mit dem weiteren des versammelten und dem weitesten des
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gesamten Volkes beruht, hat zur Folge, daß wir uns überall da, wo Nithard das oder ein Volk als politisch handelnd hervortreten läßt, wo es einen Herrscher annahm oder wieder verließ oder ihm als Heer seinen Beistand leistete, wo es als Reichsversammlung beschloß oder konsentierte, seine Großen auch dann als Leiter der gemeinen Willensbildung und als Worthalter des Gemeinwesens beteiligt denken müssen, wenn Nithard diese Mitwirkung der primores nicht ausdrücklich erwähnt. Als aquitanische Große etwa haben wir uns jene gewissen Leute zu denken, die im Jahre 841 König Pippin verließen und sich durch einen Herrschaftsvertrag mit Karl verbündeten, quidam tamen a Pipino desciverunt . . . illos sibi foederatos recepit (S. 29 Z. 35 – 38, unten: § 638). Ebenso ist es um das Verhältnis bestellt, in das Nithard die Großen eines Volkes zu den königlichen Getreuen, fideles, setzt: Es ist das Verhältnis eines engeren zum weiteren Kreise, der sich bei einhelliger Willensbildung als mit diesem identisch darstellt. So berichtet Nithard über die Ereignisse des Jahres 833 / 834: Als Kaiser Ludwig mit dem Reichsheere, imperio, seine drei Söhne mit gewaltigem Heere, exercitu, und Papst Gregor mit dem gesamtem römischem Gefolge, comitatu, bei Kolmar versammelt waren, bedrängten die Söhne das Volk, populum, damit es den Kaiser verlasse. Erst nachdem sich etliche, scilicet Große, ihrem Druck durch die Flucht entzogen hatten, quibusdam fuga lapsis, erreichten sie ihr Ziel (Hist. I 4 S. 5 Z. 21 – 27). Dann aber entzweiten sich nicht nur die Brüder, sondern auch Kaiser Lothars Berater, ohne Rücksicht auf das Gemeinwesen, rem publicam (S. 6 Z. 10), und den Widerwillen des Volkes, populus (S. 6 Z. 11), zu nehmen. Schließlich einigten sich die Söhne mit Zustimmung des Reichsvolkes, universa plebs (S. 6 Z. 13), darauf, Kaiser Ludwig zu restituieren. In Saint-Denis versammelt, zwang eine beträchtliche Menge Volkes, plebs non modica (S. 6 Z. 20), Lothar zur Flucht, bevor sie und die Bischöfe ihren König mit Krone und Waffen bekleideten und in Beratungen über das weitere Vorgehen eintraten, coronam et arma regi suo imponunt et ad cetera deliberaturi contendunt (S. 6 Z. 24 – 25). Dieser Bericht beleuchtet nicht nur die Art und Weise, wie Nithard die Worte exercitus, populus und plebs als Synonyme verwendet, sondern auch die Beiläufigkeit, mit der er die Funktion der Großen als Worthalter des Volkes anzudeuten pflegt, denn es ist klar, daß das Volk weder zu gesamter Hand den König zu krönen noch sich in offener Vollversammlung über sein Vorgehen zu beraten vermochte, sondern daß es diese Tätigkeiten den Großen überlassen und deren Handlungen lediglich mit seinem Konsens und Beifall begleiten konnte. Dies bestätigt Nithard, indem er hinzufügt, bei dem restituierten Kaiser hätten sich hinc inde fideles, qui evaserant et rem publicam regere consueverant (S. 6 Z. 30 – 31, W. Wehlen 1970 S. 78), versammelt und ihre Funktionen wieder aufgenommen. Die aus der Versammlung zu Kolmar Entflohenen waren danach jene Großen, die einerseits die Willensbildung des Reichsvolkes anleiteten und andererseits im kaiserlichen Rate dessen Wort hielten, die also in jener Funktion als Einung die res publica und in dieser als Getreue des Kaisers gemeinsam mit ihrem Haupte das imperium und regnum regierten. Aus diesem Sachverhalt erklärt es sich, daß Nithard das substan-
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tivierte Adjektiv fideles synonym mit dem Begriff primores zu verwenden vermochte. Die Identifikation wiederholt sich, wenn wir hören, daß König Karl seine geheimen Berater beschließen ließ (participes secretorum convocat – sibi undique consultum videri S. 18 Z. 36, 19 Z. 10), wie er sich gegenüber Kaiser Lothar verhalten sollte, und mit Bezug darauf demselben erklärte, er wolle de regno consiliis suorum fidelium . . . parere (S. 22 Z. 34 – 36), oder wenn sich später die drei Brüder darüber verständigten, ut . . . ad placitum, quod fideles illorum inibi statuissent, regnum omne . . . dividerent (S. 45 Z. 4 – 7). An beiden Stellen meint Nithard mit den fideles die Großen in der bereits von Adalhard und Hinkmar beschriebenen Doppelrolle als Worthalter und Treuhänder des Volkes und als Berater des Königs, der es im allgemeinen nicht wagen konnte, sich über ihren Ratschlag hinwegzusetzen. Zwar nicht bei Nithard, wohl aber bei seinem Zeitgenossen Prudentius findet sich auch der Begriff fideles populi. Während Nithard von dem Straßburger Abkommen zwischen Karl und Ludwig sagt: praedicti fratres necnon et primores populi praefatum pepigere pactum (S. 37 Z. 11 – 12), heißt es bei Prudentius: fideles quoque populi partis utriusque pari se iuramento constrinxerunt (Ann. Bert. a. 842 S. 27 Z. 15 – 16). § 618. Es war dies zugleich der Sprachgebrauch der Reichskanzlei. Im 9., auch noch 10. Jahrhundert pflegte diese die Berater kaum einmal als Fürsten des Reiches zu bezeichnen (cum consilio principum nostrorum MGH. DK. III. 147, S. 238 Z. 4, praesentibus plurimis principibus nostris DK. III. 170, S. 275 Z. 35); sie alle waren, dem Könige gegenüber, zunächst nur seine getreuen Untertanen, fideles, der mächtigste Erzbischof oder Herzog gleich jedem anderen (J. Ficker 1861 S. 42 – 44). Wie aber ein populus nicht nur aus den Großen bestand, deren Einung man mit ihm identifizierte, so hießen fideles nicht nur die Großen, die mit dem König regierten, sondern alle Mitglieder des Volkes oder Verbandes königlicher Untertanen. Auch darin stimmte Nithard mit den Diktatoren der Kanzlei überein. König Karl erklärte sich gegenüber seinem Bruder, Kaiser Lothar, dazu bereit, fidelem se et subiectum fore (S. 14 Z. 34), so wie Herzog Bernhard von Septimanien ihm selbst ein Getreuer sein wollte (S. 18 Z. 19). Karls Heer und Reichsversammlung bestand aus seinen Getreuen (S. 19 Z. 16, 32 Z. 15, 49 Z. 16), und auf das Reich zwischen Seine und Maas konnte der König nicht verzichten, cum tanta nobilitas illum secuta de his regionibus esset, quos in sua fide deceptos esse minime oporteret (S. 33 Z. 15 – 17). Die Edlen oder Edelfreien des Landes machten seinen Untertanenverband aus. Das Verhältnis des Königs zu ihnen beruhte auf einem Eide. So hatte einst, als Karl Aquitanien erhielt, der primatus populi in eius obsequio geschworen (S. 5 Z. 10 – 11), und zu 842 heißt es. daß nach der Reichsteilung jeder König (die Einung der Großen?) e populo, qui se secutus est, suscepit ac sibi, ut deinceps fidelis esset, sacramento firmavit (S. 41 Z. 3 – 5). Was war das für ein Eid? Für viele Neuere steht von vornherein und ungeprüft fest, daß die Treue der primores populi, als fideles regis, durch Vasalleneid be-
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schworen wurde (W. Wehlen 1970 S. 86) und daß, obwohl die Magnaten durch mehrfache Verlassung und Annehmung ihrer Könige „das System des vasallitischen Gefolgschaftsverbandes“ erschüttert hatten, Karl dessen Möglichkeiten dazu benutzte, mittels eidlicher Verpflichtungen und Schenkungen Gefolgschaft um sich zu scharen und seine Getreuen als wichtigste Ratgeber um sich zu haben, deren Entscheidungen er sich anschloß (A. Krah 2000 S. 32 f.). Der Leser bemerkt allerdings rasch, daß diese Aussagen nicht ernstzunehmen sind. Denn wenn Nithard berichtet, nach dem Tode des Vaters habe Lothar das Kaisertum für sich beansprucht und angekündigt, er werde zwar einem jeden die von Ludwig gewährten Reichsämter, honores, zugestehen, aber von Zögernden den Treueid, fidei sacramentum, verlangen und dessen Verweigerung mit dem Tode bestrafen (Hist. II 1 S. 13 Z. 21 – 23), so lesen wir dazu, Lothar sei willens gewesen, „den Lehnseid von allen Magnaten der westlichen Gebiete entgegenzunehmen,“ um die kaiserliche Gesamtherrschaft zu erzwingen: „der Untertanen- und Vasalleneid sollte unter Androhung der Todesstrafe geleistet werden“ (A. Krah 2000 S. 41). Auch der Treueid, durch den sich Nomenoe, Herzog der Bretagne, Karl unterwarf, suae se ditioni subdere (Hist. II 5 S. 18 Z. 29 – 32), soll „Huldigungs- und Lehnseid“ gewesen sein (A. Krah 2000 S. 61), wie überhaupt „Unterordnung im vasallitischen Sinne durch Lehnseid und Huldigung“ vollzogen worden sei (ebd. S. 52). Es ist erstaunlich, kennzeichnet aber auch die Gefahren, die der Mediävistik drohen, wenn sie den Kontakt zur Rechtsgeschichte und rechtssprachlichen Lexikographie verliert, daß sich trotz der erst jüngst von S. Reynolds (1994 und 1997, A. Krah 2000 S. 183) erhobenen Bedenken die Unterscheidung zwischen Untertanen- und Vasallentreue und damit zwischen öffentlichem oder Volksrecht und privatem Haus-, Vermögens- und Lehnrecht so vollständig zu verflüchtigen vermag, wie es hier festzustellen ist. Sollen wir wirklich glauben, daß König Karl dazu bereit war, Vasall seines kaiserlichen Bruders zu werden, oder daß die Gemeinde der Edelfreien zwischen Seine und Maas ein königlicher Vasallenverband gewesen sei? Konnte man mit lat. subiectus (ahd. thuruhtio, gihorîg, untarthionôt, bei Notker dann untertân, H. Götz, Wb. 1999 S. 633), populus oder plebs im 9. Jahrhundert wirklich Vasallen oder Vasallenschaften bezeichnen? Kann Karls Halbschwester, Äbtissin Hildegard von Laon, als sie sich ihrem Bruder ergab und ad fidem suam venit (Nithard, Hist. S. 34 Z. 16), seine Vasallin geworden sein (A. Krah 2000 S. 127), obwohl nach allem, was wir sonst wissen (H. Mitteis 1933 S. 644 f., B. Diestelkamp in LMA 5 Sp. 1810), Frauen zu der Zeit noch nicht lehnsfähig waren? Kann Nithard die kaiserliche Vasallenschaft gemeint haben, wenn er berichtet, plebs non modica habe Ludwig wieder als König angenommen und ihm Krone und Waffen angelegt, rege recepto . . . coronam et arma regi suo imponunt (S. 6 Z. 20 – 24), was ja doch hieße, daß das Recht des Volkes, den König zu kiesen und zu bestallen, eine Institution des karolingischen Lehnrechts und nicht des fränkischen Volksrechts gewesen sei? Solche Fragen zu stellen heißt bereits, sie zu verneinen. Dies setzt allerdings Klarheit über den Unterschied zwischen Volksrecht und Lehnrecht voraus. Aber
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darauf wird die Verfasserin nicht einmal dann aufmerksam, wenn sie das Versprechen der königlichen Brüder vom Jahre 860 zitiert, das den Großen unter bestimmten Bedingungen ihren Allodial- und Lehnsbesitz, alodes de hereditate et de conquisitu et quod de donatione nostri senioris (ihres Vaters) habuerunt (MGH. Capit. 2, 152 n. 242, S. 158 Z. 22 und 27. A. Krah 2000 S. 201), garantierte. Unproblematisch ist dieser Passus nur für den, der aus anderen, mir nicht zugänglichen Erkenntnisquellen bereits im voraus weiß, daß er es hier mit einem „in vasallitischen Abhängigkeiten strukturierten Gesellschaftssystem“ zu tun hat und daß es die „Kohärenz zwischen persönlichem und dinglichem Element“ war, die „das Wesen der vasallitischen Gesellschaftsstruktur jener Zeit bestimmte“ (ebd. S. 95, 182). § 619. Auf diese Prämisse kann ich mich nicht einlassen, steht sie doch nur für denjenigen fest, der daran glaubt, das Karolingerreich sei als Schöpfung seiner Könige von oben her erbaut worden, und der um dieses Glaubens willen gegen Hinkmar (oben: § 602) erweisen will, daß die Mitregierung der Großen im Westfränkischen Reiche eine nach dem Tode Kaiser Ludwigs des Frommen eingeführte Neuerung darstelle (unten: § 640): „Königsherrschaft meint ein hierarchisch strukturiertes Ordnungssystem“ (A. Krah 2000 S. 11), wie es später der bürokratisch regierte Steuer- und Behördenstaat ausgebildet hat. Ein solches Ordnungssystem war indessen dem Staat des hohen Mittelalters fremd. Es läßt sich daher nachträglich nur so konstruieren, daß man die Vasallität an die Stelle der neuzeitlichen Bürokratie setzt und um der Logik dieses Schlusses willen darauf verzichtet, die Quellen daraufhin zu befragen, ob sie überhaupt etwas von Amtslehen, Vasallität der Großen, Identität des Untertanen- und Lehnseides und königlicher Lehnsherrschaft wissen. Die Möglichkeit, daß der karolingische Staat von unten her aufgebaut war und daß das Volk, wie Adalhard und Hinkmar berichten, auch schon im 8. Jahrhundert durch seine Großen das Reich mitregiert habe, muß sich jedoch vor dem Auge dessen, der sich auf den Boden jener Dogmatik stellt, völlig verdunkeln. Er kann gar nicht auf den Gedanken kommen, daß es auch volks- und landrechtliche Treuepflichten gegeben habe, daß Völker sowohl herrschaftliche als auch freie Einungen gebildet hätten und daß es keine Einsicht in deren Rechtsformen gibt, wenn man in die Aussagen der Quellen hartnäckig lehnrechtliche Vorstellungen hineinlegt, deren sich im hohen Mittelalter noch kein Rechtskundiger bewußt war. Es ist demnach notwendig, darüber Klarheit zu schaffen, daß Nithard die fideles nicht als Vasallen betrachtet und daß auch für ihn der Eid oder das Gelöbnis, das die Getreuen ihrem Könige leisteten, kein Vasallen-, sondern ein Gehorsams- und Beistandseid (oben: § 556) gewesen ist. Da wäre zunächst festzustellen, daß Nithard Belehnungen, sei es mit Gütern oder mit Ämtern, an keiner Stelle, und schon gar nicht im Zusammenhange mit der Annehmung des Herrschers und Huldigung der Untertanen erwähnt und daß er das Wort beneficium überhaupt vermeidet, darunter zweimal an Stellen, wo Prudentius es ausdrücklich gebraucht (I 6 S. 9 Z. 26 – 20, oben: § 587, IV 2 S. 42 Z. 8 mit A. 3). Von den honores sagt er lediglich, daß der König sie übertrage und einziehe (honores alicui concedere, dare, donare, honoribus aliquem privare S. 13 Z. 21, 15 Z. 10, 29 Z. 20, 33 Z. 18, 45 Z. 22), und
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diese Redeweise ist weit einfacher als volks- und amtsrechtlich denn als lehnrechtlich zu erklären. Auch den Begriff vassus sucht man bei Nithard vergebens (W. Kienast 1990 S. 205). Das Substantiv homo kommt bei ihm zwar einmal vor, aber da bezeichnet es ersichtlich die Untertanen König Karls, deren etliche Lothar zum Abfall bewogen oder getötet hatte (S. 22 Z. 24). Ebensowenig geht es an, das Wort senior so, wie Nithard es benutzt, unbesehen als (oberster) Lehnsherr zu übersetzen (A. Krah 2000 S. 35, 45, 51, 91, 95 u. ö.). Die ahd. Übersetzungsgleichungen kennen es in dieser Bedeutung gar nicht, sondern nur im Sinne des Älteren, Vorfahren und Verbandshauptes: ther altiro, altisto, her(i)ro, hêrôsto, fordaro, senior populi = ther hêrîsto (H. Götz, Wb. 1999 S. 602, oben: §§ 408, 410, 607, 608a). Als Oberhäupter ihrer Reichsuntertanenverbände erscheinen in den Straßburger Eiden Karolus meos sendra und Ludhuuuig min herro (Nithard S. 36 Z. 26, 37 Z. 2), und nicht von irgendeiner Vasallentreue oder vasallitischen Verpflichtung (A. Krah 2000 S. 134), deren Bruch den Verlust des Lehens hätte zur Folge haben müssen, sondern von der beschworenen Treue der Untertanen, a subditione mea necnon et a iuramento, quod mihi iurastis (S. 36 Z. 2 – 3), sprachen die Könige die um sie versammelten Männer gegebenenfalls frei. Außerdem heißt bei Nithard der königliche Mandant, der seinen Sendeboten Vollmacht, auctoritas, erteilt, senior (S. 46 Z. 3, 47 Z. 28 und 30). Nithards Sprachgebrauch verbietet es damit geradezu, in dem senior einen Lehnsherrn zu sehen. Ebenso steht es mit dem Worte commendare: Da, wo Nithard es verwendet, hat es keinerlei lehnrechtliche Bedeutung. Nithard bezeichnet damit einerseits die (landrechtliche) Unterstellung einer unmündigen oder entmündigten Person unter die Vormundschaft eines Erziehers (S. 3 Z. 22, 29 Z. 21) oder unter Hausarrest, sub libera custodia (S. 2 Z. 29), andererseits die freiwillige Ergebung eines Untertanenverbandes unter die Herrschaft eines Königs (regi se commendare S. 12 Z. 19, 29 Z. 35; synonym: ditioni regis se committere S. 18 Z. 6, unten: § 638), mit der Folge, daß die Kommendierten ihrem Haupte den Treueid aller Untertanen leisteten (fidem sacramento commendati eidem firmaverunt S. 10 Z. 8, 12 Z. 20). Nur in einem dieser Fälle ist es möglich, nicht jedoch notwendig, an eine Kommendation zum Zwecke der Belehnung zu denken (F. L. Ganshof 1961 S. 33. W. Kienast 1990 S. 322 f., 391, 584. A. Krah 2000 S. 94, 96, 117). Frau Krah bestätigt uns denn auch, daß Nithard dem Benefizium und damit der dinglichen, materiellen Seite der Vasallität keine Bedeutung beimesse, sondern allein deren persönliche Seite, die Bindung im Gefolgschaftsverbande, akzentuiere (A. Krah 2000 S. 183). Allerdings entkleidet sie damit den Begriff der Vasallität eben jenes Merkmals, mittels dessen die Rechtsgeschichte ihn zu definieren und für die Verfassungsgeschichte nutzbar zu machen versucht (oben: §§ 551 – 553), und so läßt sie zwar nicht die allgemeine Untertanentreue in der speziellen Lehnstreue, wohl aber umgekehrt diese in jener aufgehen.
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§§ 620 – 623. Nithard II: Res publica die Reichsgemeinde § 620. Es kann daher nicht zweifelhaft sein, daß sich Nithard den fränkischen Staat nicht als Lehnsmonarchie vorstellte, sondern als einen von freien Männern und Untertanen nach Volksrecht von unten her aufgeführten Staat. Nithards fideles waren keine Vasallen von Königen, sondern Genossen von Untertanenverbänden, die sie selbst gemeinsam und aus freiem Willen geschaffen hatten. Ob ein Mann Lehen von Königen oder Kirchen besaß oder nicht, das war für seine verfassungsmäßige Stellung als Großer oder fidelis genauso gleichgültig wie der Umstand, ob er Reichsämter übernommen hatte oder nicht. Nithards Denk- und Redeweise aber kann wohl verallgemeinert werden. „It is therefore misleading to refer to great men generically as, for instance, Lehnsträger,“ wie es, als „the result of old habits, notably the habit of telescoping centuries of medieval history“ (S. Reynolds 1994 S. 110), heutzutage für gewöhnlich geschieht. Um diese Eigenart des fränkischen Reiches und Staates, von unten, vom Volke her aufgebaut zu sein und daher derart dem Volke zu gehören, daß den Königen nur ein abgeleitetes Recht an ihren Reichen zukommen konnte, zu kennzeichnen, bedient sich Nithard in einmaliger, sein Staatsdenken besonders auszeichnender Weise des Begriffs res publica. Seine Kenntnis der lat. Sprache ermöglichte es ihm, jene Eigenschaft mit einem abstrakten Begriff zu benennen, für den die Volkssprachen kein Äquivalent besaßen. Den Völkern, die sich Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen unterworfen und damit diese Fürsten zu Königen angenommen hatten, genügte es zu wissen, daß sie gemeinsam im Reiche der Franken und einzelne von ihnen im Reiche der Langobarden, Aquitanier oder Bayern lebten. Sie verspürten kein Bedürfnis, ihren durch Volksnamen anschaulich bestimmten Staatsbegriff gegen einen abstrakten zu vertauschen, der in der Sache nicht mehr besagte als der ihnen vertraute. Auch Nithard hätte dieses Bedürfnis schwerlich empfunden, wenn ihn nicht die Schule mit der augustinischen Staatslehre so weit vertraut gemacht hätte, daß er in dem Staate, den Cicero und Augustinus mit dem Wort res publica bezeichneten, das ihm aus eigener Erfahrung bekannte Reich der Franken und dessen Verfassung oder status rei publicae hätte wiedererkennen können. Da dies aber der Fall war, gewährte ihm die Verwendung des abstrakten lat. Begriffs einen zusätzlichen Vorteil, nämlich die Möglichkeit, sein Verständnis der miterlebten und mitgestalteten Ereignisse auf jene Staatslehre zu beziehen und dadurch zu rechtfertigen (oben: § 614). Sechzehnmal bedient sich Nithard des Wortes res publica (W. Wehlen 1970 S. 103 – 105. H.-W. Goetz 1987 S. 130 f., 171 – 173. A. Krah 2000 S. 101 – 106), und jedesmal bezieht er es auf das Kaisertum Ludwigs des Frommen und Lothars I. Elf Nennungen finden sich da, wo er die Ereignisse von 829 bis 834 schildert, vier weitere zu den Jahren 840 bis 843 beziehen sich indirekt oder zurückblickend auf das Kaisertum jener Zeit, und sogar dort, wo Nithard von sich selbst und von
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seiner Absicht spricht, sich aus der Reichspolitik zurückzuziehen, quo ab universa re publica totus secedam (S. 39 Z. 20), deutet er mit dem Adjektiv universus darauf hin, daß es sein politisches Ziel gewesen sei, die an die kaiserliche Würde geknüpfte Herrschaft der Franken in dem gesamten Vielvölkerreiche, zugleich mit ihr aber den universalen, von den Franken dominierten Untertanenverband zu bewahren, der den Kaiser als sein Haupt betrachtete. Offensichtlich hat er gehofft, daß die im Jahre 817 errichtete Reichsverfassung erhalten werden könne, wenn nur der damals zum Mitkaiser gekrönte König Lothar dazu zu bewegen war, sein einst beschworenes Versprechen einzulösen und seinem Halbbruder Karl ein königliches Teilreich in dem Imperium zuzugestehen. Aber nachdem schon Kaiser Ludwig im Jahre 829 Lothars Mitregentschaft beendet und zwei Jahre später selbst die Reichseinheit preisgegeben hatte, indem er den Teilreichen seiner Söhne die künftige Selbständigkeit gewährte, mußte schließlich auch Nithard erkennen, daß sich die universa res publica der Franken nicht länger würde zusammenhalten lassen. Dem Kaiser schrieb er daher die Aufgabe zu, diese Einheit zu bewahren: rem publicam solidare, rei publicae statum restaurare, eam pro viribus erigere (S. 3 Z. 24 und 28, 4 Z. 10 – 11, W. Wehlen 1970 S. 47). Kaiser sein konnte deshalb nur, wer hierfür geeignet war, und Lothar sprachen die in Aachen versammelten Bischöfe im Jahre 842 die Eignung ab: Lotharium neque scientiam gubernandi rem publicam habere (S. 40 Z. 19, W. Wehlen 1970 S. 42 – 44, 69 – 77). Zwar hielt sich Lothar für befugt, den kaiserlichen Untertanenverband und die kaiserliche Würde an sich zu nehmen: rem publicam adipisci, imperium adeptum obtinere (S. 4 Z. 1, 6 Z. 2 – 3), aber Nithard sprach ihm diese Befugnis ab, indem er seinen Zugriff für gewaltsam erklärte: rem publicam oder imperium invadere (S. 5 Z. 16, 33 Z. 10). Es trifft demnach nicht zu, daß Nithard die res publica von dem fränkischen Imperium unterschieden und darunter ein geordnetes Staatswesen schlechthin verstanden habe. Es war allerdings nicht die Person des Kaisers, sondern das fränkische Staatsvolk, welches es ihm, als beiden gemeinsames Drittes, erlaubte, die beiden Begriffe miteinander zu identifizieren. § 621. Nur zu oft freilich mußte Nithard feststellen, daß der Kaiser, sei es persönlich oder durch ungeschickt ausgewählte Helfer, seine Amtspflicht zum Schaden des Gemeinwesens vernachlässigte. Dies war der Fall, sobald er inconsulte re publica abutebatur und sie dadurch penitus evertit oder penitus annullavit, oder sobald er es duldete, daß die res publica, quoniam quisque cupiditate illectus sua querebat, cotidie deterius ibat, daß sie inutiliter tractabatur und daß Lothars Gegner sie penitus neglegebant (S. 3 Z. 23 – 24, 4 Z. 5 – 6, 5 Z. 12, 6 Z. 10, 49 Z. 9, W. Wehlen 1970 S. 66 – 69). Lothar selbst schädigte sie noch einmal, als er im Jahre 842, um dem Abfall der Sachsen zu wehren, rem publicam in propriis usibus tribuebat (S. 41 Z. 26). Steht nach allen diesen Zeugnissen dem Kaiser die res publica als etwas Objektives gegenüber (W. Wehlen 1970 S. 47, 49), so gilt dies auch für diejenigen, die mit ihm zusammen regierten: für den Stellvertreter, der nach Kaiser Ludwig secun-
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dus in imperio war oder sein wollte (S. 3 Z. 22, 5 Z. 1), für Ludwigs Söhne, die drei königlichen Brüder, nebst dem versammelten Heervolke, das sie unterstützte, tam fratres quam universa plebs oder cum omni populo (S. 3 Z. 27 – 30), und schließlich für die Großen oder Gruppen und Parteien von solchen, etwa die Mönche et ceteri, die des Kaisers Entmachtung bereuten und daher Ludwig befragten, si res publica eidem restitueretur, an eam pro viribus erigere ac fovere vellet (S. 4 Z. 7 – 10). Diese Männer müssen sich, wenn sie glaubten, Ludwig ein solches Angebot machen zu können, als Worthalter derer betrachtet haben, die befugt waren, ihm die Reichsgemeinde zurückzugeben; sie müssen sich selbst als deren Worthalter angesehen haben. Nach Ludwigs Wiederherstellung begannen die ersten unter den Großen und Ludwigs ältere Söhne, zum Nachteil des jüngsten um die Führung der Staatsgeschäfte zu streiten. Dem aber widersetzten sich illi per quos tunc res publica tractabatur (S. 4 Z. 27 bis 5 Z. 8), also wohl jene Großen, zu deren Partei sich Nithard hielt: es war dieselbe Partei, die das Gemeinwesen gekränkt sah, ut res publica inutiliter tractaretur (S. 5 Z. 12), als die kaiserlich gesonnenen Großen des aquitanischen Volkes in zwiespältiger Wahl Karl zum Könige annahmen, und die daher nicht nur Lothar nötigte, sich des Staatswesens zu bemächtigen, ut rem publicam invadat (S. 5 Z. 16), sondern auch die Autorität des Papstes als Stütze ihres Eigenwillens heranzog, in supplementum suae voluntatis assumunt (S. 5 Z. 20). Offenbar waren diese Männer der Auffassung, ihr Wille sei mit dem der res publica identisch und ihre Gruppe daher zu deren Worthalter berufen oder vollmächtig. Als aber Kaiser Ludwig und seine drei Söhne mit ihren Heeren und Papst Gregor bei Kolmar versammelt waren, veranlaßten Lothars Umtriebe alsbald etliche ludowizisch und karlisch gesonnene Große zur Flucht (S. 5 Z. 25 – 26), und so gelang es Lothar, den Vater zu entmachten und unter Hausarrest zu stellen. Rasch freilich begannen die Großen, die ihn dabei unterstützt hatten, um die Regierungsgewalt zu streiten, ungeachtet dessen, daß sie, nach Nithards Urteil, in ihrem Egoismus rem publicam penitus neglegebant, obwohl der populus ihnen dies übelnahm (S. 6 Z. 10 – 11). Nachdem daher das empörte Reichsvolk, universa plebs (S. 6 Z. 13 und 20), Ludwig wieder zum Könige angenommen und in Saint-Denis gekrönt hatte, waren es diese fideles qui evaserant et rem publicam regere consueverant (S. 6 Z. 30 – 31), die von neuem gemeinsam mit Ludwig das Reich regierten, cum quibus . . . pater imperium regebat (S. 5 Z. 32, 6 Z. 3 – 4). Aus der Art und Weise, wie Nithard diese Vorgänge und die Funktion jener Großen schildert, die recht oder schlecht die res publica lenkten, als deren Worthalter auftraten, ihren Willen mit dem ihren identifizierten, und die dabei umgeben waren von dem Reichsvolke, mit dem Nithard sie in eins setzt (oben: § 613), – aus dieser Schilderung hatte sich für uns bereits in anderem Zusammenhange (oben: § 617) ergeben, daß Nithard die res publica mit dem kaiserlichen Untertanenverbande identifiziert, den er für gewöhnlich als die universi bezeichnet und dadurch vom populus, dem fränkischen Reichsvolk, unterscheidet. Die um den Kaiser versam-
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melten Großen, die einerseits die res publica regierten und die Willensbildung des Reichsvolkes leiteten, regierten andererseits als Getreue und Berater des Kaisers und gemeinsam mit diesem das imperium. Die Personenvielheit der universi, die Nithard dem Kaisertum zuordnet, war aber genauso verfaßt wie der populus des Fränkischen Reiches oder die populi der Teilreiche, Regionen und Gaue. § 622. Wie sich aus dem allgemeinen (oben: § 600), nicht nur von Adalhard und Hinkmar (oben: §§ 605, 607, 608), sondern auch von Nithard (oben: § 615) übernommenen Gebrauch des Wortes populus und seiner Synonyme ergibt, pflegte das Volk sowohl in den Grafschaften und Ländern als auch im König- und im Kaiserreich in dreifacher Form in Erscheinung zu treten: erstens als Vielheit der (alt-)freien, dem Könige zur Treue verpflichteten Hausväter und fideles, die man als Einheit oder generalitas populi (oben: § 607) nur denkend erfassen, nicht aber leiblich anschauen konnte, weil sie, als einzelne das Land bewohnend und bebauend, in der Zerstreuung und innerhalb ihrer örtlichen Dingverbände lebten, zweitens als von dieser Vielheit gestelltes Heer oder von ihr besandte Gerichts-, Landes- oder Reichsversammlung, worin sich das Volk seiner selbst ansichtig wurde, sich für sich selbst und andere hör- und sichtbar machte, sich einen gemeinsamen Willen bildete und fähig war, danach politisch und militärisch zu handeln, drittens aber als aus dieser Versammlung hervortretende Gruppe der Großen, die, zugleich Worthalter ihres Volkes und Berater seines fürstlichen Hauptes, zusammen mit ihrem Grafen, Bischof, Herzog, König oder Kaiser die Volksgemeinde regierten. Obwohl nun Nithard das Volk in dem erstgenannten, weitesten Sinne der zerstreut in ihrem Gau, Land, Reich lebenden Vielheit als den wahren Herrn des fränkischen Regnums und Inhaber der Reichsrechte betrachtet (oben: § 616), stellt er es uns zugleich als in dieser Daseinsform handlungsunfähig dar und als bloßes Objekt des politischen Geschehens, denn handeln konnte es nur dann, wenn es sich versammelte und seine Großen bevollmächtige, als seine Worthalter und Regenten tätig zu werden, wenn es sich also in der zweiten und dritten Erscheinungsweise konstituierte: wenn es sich sei es als Heer, sei es als Gerichts-, Land- oder Reichstag oder als um sein fürstliches Haupt gescharte Versammlung seiner Großen von sich selbst absonderte. Eben diese Ohnmacht zu handeln, dieses bloße Objektsein kennzeichnet nun in allen Äußerungen Nithards auch die res publica. Wie die oben (§ 620) gegebene Übersicht zeigt, erscheint die res publica in Nithards Satzgefügen so gut wie immer als Objekt dessen, was Könige, Große oder Heere taten, und in den wenigen Fällen, wo sie das Subjekt eines Satzes bildet, enthält dieser lediglich entweder eine Seinsaussage (res publica . . . cotitie deterius ibat S. 4 Z. 5 – 6, paululum respirari videtur S. 4 Z. 26, inconsultius quam oporteret omissa S. 29 Z. 30), wobei Nithard es nie versäumt, auf die Urheber dieses meist unerfreulichen Zustandes hinzuweisen (quoniam quisque cupiditate illectus sua querebat, quo quemque voluntas rapuit), oder aber das Prädikat des Satzes steht im grammatischen Passiv, wobei Nithard es jedoch dem Leser stets ermöglicht, das
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logische Subjekt zu erkennen (si res publica eidem restitueretur S. 4 Z. 9, illi per quod res publica tractatur oder inutiliter tractatur (S. 5 Z. 7 und 12). Diese für das Volk, wenn es sich gewissermaßen im Naturzustande der Zerstreuung lebend zeigte, typische Inaktivität und Handlungsunfähigkeit, dieses sein pures Objekt-Sein ist der Grund dafür, daß jene Gesamtpersonen und Versammlungen, durch die es sich willens- und handlungsfähig machte, so deutlich sichtbar aus ihm hervortraten oder herausragten, daß Nithard und andere Beobachter sie als Subjekte aller Politik, das Volk aber, von dem sie ihre Vollmacht herleiteten, als deren passiven Gegenstand darstellen konnten oder mußten. Da Nithard aber die Großen der res publica genauso gegenüberstellte wie dem populus oder den universi, ergibt sich abermals der Schluß, daß es das Volk, verstanden im weitesten Sinne des Wortes, war, was er mit der Bezeichnung res publica meinte. Ebenso hatten Adalhard und Hinkmar die res publica mit dem Reichsuntertanenverbande in eins gesetzt, dessen Oberhaupt der Kaiser war (oben: § 602a). Den lat. Begriff aber hatten sie nicht durch die Übersetzung eines volkssprachlichen gewonnen, den es nicht gab und auch nicht geben konnte, solange niemand die volklichen Rechtswörter wissenschaftlich bearbeitete und in definierte Fachausdrücke überführte, solange vielmehr Laien die Volksrechte pflegten und überlieferten, die den Beweis für die Wahrheit ihrer Rechtskenntnisse gerade darin fanden, daß sich die Rechtswörter in einem möglichst weitreichenden Sprachgebrauch gegenseitig stützten und bewährten (oben: § 555). § 623. Die Macht jedoch der ciceronianisch-augustinischen Staatslehre, die unseren Schriftstellern den Begriff res publica in einer klaren Definition als res populi darbot, lag eben darin, daß ihr zufolge das Volk es war, was die res publica konstituierte, indem es sich selbst sein Recht setzte, eine Verfassung gab und die Staatsziele bestimmte, so daß Königen, Optimaten, Magistraten und dem versammelten Volke der Gesamtheit oder res publica gegenüber lediglich der Rang von Staatsteilen zukam, deren Tätigkeit sich den von ihr gegebenen Gesetzen und Aufträgen unterzuordnen hatte (oben: § 604). Wie Nithards Sprachgebrauch zeigt, waren die Staatsmänner der Karolingerzeit durchaus imstande, den Verfassungsrang des populus oder der universi zu erkennen, obwohl sie sich von der Einheit des im Raume über viele Regionen und Länder zerstreuten, in der Zeit aber, gemessen am Menschenleben, unsterblichen Reichsvolkes nur in Gedanken und in der Abstraktion einen Begriff machen konnten. Transpersonal (H. Beumann 1956, oben: § 575a) kann man dieses lediglich intelligible Gebilde nur dann nennen und nach dem Zeitpunkte, da es zuerst gedacht worden sein mag, nur dann suchen, wenn man sich den mittelalterlichen Staat als von oben her aufgebaut und als Schöpfung einzelner Personen vorstellt. Adalhard und Nithard brauchten den transpersonalen Sachverhalt nicht zu entdecken, sondern nur einen Namen für ihn zu finden, und da sie den fränkischen Staat in der augustinischen Beschreibung wiedererkannten, nahmen sie dafür den lat. Ausdruck res publica in Gebrauch. „Dieser Gebrauch . . . beweist immerhin, daß die Zeitgenossen durchaus in der Lage sind, einen ,Staat‘ (als Abstraktum) zu denken“ (H.-W. Goetz 1987 S. 172).
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Indessen auch sonst lehnen sich Nithards Staatsauffassung und Sprachgebrauch eng an Augustinus (oben: § 603) an. So betrachten beide Autoren die Einheit, concordia, als Grundlage für die Existenz der res publica (unten: § 634), beide verknüpfen die Vorstellung vom Volke mit der einer Menschenmenge, multitudo, beide begründen deren Verschmelzung zur Einheit des Volkes auf den gemeinen Nutzen der Menschen, utilitatis communio oder publica utilitas (Nithard, Hist. S. 2 Z. 4, 19 Z. 1. A. Diehl 1937 S. 297 – 299 und oben: § 236. H.-W. Goetz 1987 S. 172. A. Krah 2000 S. 105 f.), beide erklären den ungerechten König und das ungerechte Volk zum Tyrannen (Nithard S. 12 Z. 14 und 21); für ungerecht aber gelten beiden die Optimaten oder das Volk, wenn statt der Gesamtheit eine Partei oder factio nach der Macht greift und durch Zwietracht und Hader sowohl das Staatsvolk wie die Republik zerstört. Augustinisch (Aug. Civ. Dei II 21 Z. 67 – 71, IV 4 Z. 4 – 8 u. ö.) ist auch Nithards Ansicht, daß Unrecht, Lasterhaftigkeit und Begierde (iniqua oder caeca cupiditas S. 13 Z. 28, 28 Z. 10, 35 Z. 37, 47 Z. 19. W. Wehlen 1970 S. 91 – 94) der Mächtigen die Republik zugrunderichten, derer, die, statt dem gemeinen Nutzen zu dienen, den eigenen Nutzen suchen und daher begierig und unberaten die Republik mißbrauchen oder sie in unnützer Weise regieren (S. 3 Z. 23, 4 Z. 5 – 6, 5 Z. 12, 41 Z. 26, 49 Z. 5 – 6). Nur dann, wenn alle den Eigennutzen der publica utilitas unterordnen, ist es nach Nithards Ansicht möglich, das Reich Karls des Großen aufrechtzuerhalten (S. 49 Z. 23 – 33, oben: § 614. H.-W. Goetz 1987 S. 131). Durch die Verknüpfung mit der publica utilitas gibt Nithard der res publica zuweilen die Bedeutung von Staatsgut, Fiskalgut oder Krondomäne, deren Erträge der Herrscher kraft seines königlichen Amtes zum Nutzen des Reichsvolkes zu verwenden hatte (W. Wehlen 1970 S. 94 f. H.-W. Goetz 1987 S. 130. A. Krah 2000 S. 105). So berichtet er vom Kämmerer Bernhard und (Seneschall: W. Kienast 1990 S. 212, 215, 228) Adelard, die zeitweilig unter Kaiser Ludwig die Regierungsgeschäfte führten, daß der eine inconsulte re publica abuteretur, während der andere utilitati publicae minus prospiciens placere cuique intendit; hinc libertates, hinc publica in propriis usibus distribuere suasit, wodurch beide die res publica gründlich vernichtet hätten (S. 3 Z. 23 – 24, 49 Z. 5 – 9). Gewiß ist dabei an die Befreiung einzelner Personen oder Gemeinden von öffentlichen Lasten und an die Veräußerung von Staatsgut sei es als Ritterlehen, sei es als Kirchengut zu denken, infolge deren sich die königlichen Einkünfte so weit verringerten, daß die Regierung entweder mittellos dastand oder die Beihilfen erhöhen mußte, die sie von der generalitas populi verlangen konnte. Vielleicht war dasselbe gemeint, wenn Kaiser Lothar in Sachsen rem publicam in propriis usibus trahebat (S. 41 Z. 26), aber wegen des verbandsrechtlichen Ursprungs, den wir der Un- oder Neufreiheit der sächsischen Frilinge und Liten zuschreiben müssen (oben: §§ 82 – 85), wollte der Kaiser wohl eher „die Volks- oder Landesverfassung zu seinem Vorteil verändern“.
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§§ 624 – 631. Res publica und transpersonale Staatsauffassung (9. bis 16. Jahrhundert) § 624. Wenn das Reichs- oder Königsgut nach Nithard unter den Begriff der res publica fällt, so bedeutet dies, daß es Sache des Volkes war und vom Volke dem Könige anvertraut worden sein muß, damit seine Erträge für die ordentlichen Kosten des Regierungsamtes aufkämen. Dies nun ist ein Sachverhalt von so erheblicher verfassungsgeschichtlicher Tragweite, daß wir uns fragen müssen, ob Nithards Sprachgebrauch seine persönliche oder eine allgemeine zeitgenössische Rechtsauffassung widerspiegelt, oder mit anderen Worten: ob es richtig ist, daß Nithard in der ciceronianisch-augustinischen Staatsbeschreibung die karolingische Staatsverfassung wiedererkennen konnte. Daran zu zweifeln ist durchaus erlaubt, da Nithard mit diesem Sprachgebrauch unter den Schriftstellern des Hochmittelalters durchaus allein steht (W. Wehlen 1970 S. 33 f. H.-W. Goetz 1987 S. 172. A. Krah 2000 S. 102). Erst als spät im 11. Jahrhundert das ostfränkisch-deutsche Königtum gegen den römischen Papst und gegen die Bischöfe und Fürsten des Reiches um sein Recht kämpfen mußte, gab es wieder Schriftsteller, namentlich Lampert von Hersfeld und Ekkehard von Aura, die das durch die Fürsten handelnde Reich als res publica der Person des Königs und seiner königlichen Gewalt gegenüberstellten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 464). Den Ausschlag gibt indessen die Beobachtung, daß die Bezeichnung des Reichsgutes und des fiscus publicus oder regius als res publica in der Kanzlei- und Rechtssprache des Hochmittelalters weit verbreitet war (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 5 – 7). Schwache, aber zahlreiche Hinweise darauf, daß die grafschaftlichen Fisken bereits im 9. Jahrhundert Einrichtungen nicht allein des Königs, sondern auch der Gauvölker oder grafschaftlichen Dinggenossenschaften waren, daß nicht der König, sondern die örtlichen Grafschaftsgemeinden dem bestallten oder designierten Grafen die leibliche Gewere daran erteilten, haben sich uns bereits früher (oben: §§ 300a.b, 476) ergeben. Ein italienisches Kapitulare unbekannter Herkunft, das im Liber Papiensis überliefert und dort Karl dem Großen zugeschrieben wird, bestimmt de rebus quae ad rem publicam pertinent: si comes aut ministerialis rei publicae cuiquam concesserit, pro infidelitate computetur (MGH. Capit. 1, 215 n. 105 c. 9); es handelt von den Gütern, die zum Reichsgut gehören, und vom Grafen oder Reichsbeamten, der es verwaltet. Dieser dem Grafen nachgeordnete Amtmann, der dem grafschaftlichen Fiskus vorstand, wird von der Reichskanzlei häufig im Introitusverbot der Immunitätsurkunden nach dem comes vel iudex publicus als rei publicae procurator, quilibet superioris vel inferioris ordinis rei publicae procurator, rei publicae minister vel administrator erwähnt (MGH. DLD. 13 S. 16 Z. 15 – 22, 22 S. 27 Z. 31, DKn. 8 S. 297 Z. 8, 16 S. 307 Z. 40, DLJ. 7 S. 343 Z. 6 – 7, DK. III. 37 S. 61 Z. 14, DArn. 123 S. 181 Z. 44 – 45, 142 S. 216 Z. 40 – 41. K. Bosl 1943 S. 79). Darunter ist der villicus, Zentenar oder Schultheiß zu verstehen, der unter der Aufsicht des Grafen den örtlichen Fiskus verwaltete, nicht jedoch der dem Grafen gleichgestellte Vassus, der einem grafschaftsfreien Königshof oder einer Pfalz vorstand (oben: § 558). Gehörte nämlich der graf-
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schaftliche Fiskus dem Volke, das ihn dem Grafen zuwies, so konnte er vom Könige weder als Lehen noch als Pertinenz der gräflichen Amtsgewalt vergeben werden und daher auch nicht dazu beitragen, daß diese selbst als Lehen hätte angesehen werden können (oben: §§ 544 – 546). Zumindest insofern war das Reichsgut Sache des Volkes, als es nicht bestehen konnte, wenn das Volk nicht willens gewesen wäre, es zu beschützen, indem es seine topographischen und Rechtsverhältnisse im Gedächtnis behielt und den Nachfahren überlieferte (oben: § 279). Kaiser Karl beharrte darauf, daß die Treue, die ihm jeder Einwohner des Reiches hatte zuschwören müssen, die Pflicht aller Untertanen begründete, sich selbst aller Übergriffe auf das Reichsgut zu enthalten und Übergriffen Dritter darauf entgegenzutreten (MGH. Capit. 1, 91 n. 33 c. 4, unten: § 668). Der kaiserliche Hof besaß keine hinreichend genaue Kenntnis von der Lage und Ertragskraft der einzelnen Reichsgüter, um danach das Reich unter die Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen aufteilen zu können; daher mußte man Kommissionen einsetzen, die das ganze Reich zu bereisen hatten, um ein zweckdienliches Güterverzeichnis anzufertigen (Nithard, Hist. IV 7 S. 46 Z. 38 – 39, 47 Z. 16), und da man per descriptas mansas teilen wollte (Ann. Xanten. a. 843 S. 13), konnten die Sendeboten die gesuchten Daten gewiß nur von den Send-, Hof- und Landgerichtsgemeinden der Bistümer, Reichsabteien, Grafschaften und Pfalzbezirke erfragen, deren Gedächtnis allenfalls geistliche Güterverwalter durch aktuelle Polyptychen zu unterstützen vermochten. Die Teilung erfolgte nicht „im Sinne tradierter dynastischer Hausrechtsvorstellungen“ (A. Krah 2000 S. 162), sondern gemäß der Sach- und Rechtskenntnis des Volkes, das seinen Königen die Ausstattung mit Reichsgütern zuwies. § 625. Im Königreich England kam zu dieser Zeit der Begriff folcland auf, um das Reichsgut, das der König selbst nutzte, von dem zu unterscheiden, das er durch Urkunde, ausgestattet mit der Immunität, einem weltlichen oder geistlichen Herrn übertrug und das man daher bocland nannte. Als Erklärung für den Namen folcland ist neuerdings vorgeschlagen worden, daß der König über dieses Fiskalland als Herrscher des Volkes und nach Volksrecht verfügte (H. Vollrath 1971 S. 67 f.). Diese Erklärung wird dadurch gestützt, daß der König für jede Umwandlung von folcland in bocland der Zustimmung der Großen bedurfte, wenn wir diese als Worthalter des Volkes betrachten und bedenken, daß die Umwandlung diejenigen Einkünfte des Königs schmälerte, die er zum Nutzen des Volkes verwenden sollte. Läßt man dies außer Acht, so ist es offensichtlich sehr schwierig, die Begriffe folcland und bocland in einleuchtender Weise zu erklären (S. Reynolds 1994 S. 324 – 332). Bereits das altenglische Heldenepos Beowulf erzählt in Vers 68 – 81 von einem König, der seinen Männern befahl, eine Halle zum Mettrunke oder eine Volkshalle zu bauen, darin er alles austeilen wollte, was Gott ihm anvertraut hatte, ausgenommen das Vermögen des Volkes und die Menschenleben. Gewiß war es eine alte, gemeingermanische Vorstellung, daß die Männer niemanden zum Könige über sich erhoben, um von diesem ausgeplündert und versklavt, sondern vielmehr um von ihm bereichert und geehrt zu werden, und was für das Sondereigentum
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jedes einzelnen, das galt wohl auch für das gesamthänderische Eigentum aller oder des Volkes, das die Männer in gemeinsamer Anstrengung schufen und dem Könige zur Erfüllung seiner Amtspflichten übertrugen, so wie sie ihm die Volkshalle errichteten, in der er sie aus dem mit ihrer Hilfe gewonnenen Reichtum beschenkte. Königs- und Volksgut waren dasselbe. So spricht einmal auch Kaiser Otto I. vom regius rei publicae fiscus (MGH. DO. I. 307 S. 422 Z. 39). Im Ostfränkisch-deutschen Reiche erhielten sich die karolingischen Verhältnisse bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Bis dahin blieben die grafschaftlichen Fisken in der Weise intakt, daß die Grafschaftsgemeinden sie mancherorts selbst verwalteten und dem Könige die Reinerträge zu gesamter Hand schuldeten (oben: §§ 303 – 306, 474, 502). Übertrug der König einer bischöflichen Kirche eine Grafschaft cum omni utilitate rei publicae, so verstand die Reichskanzlei darunter jene Erträge des grafschaftlichen Fiskus (oben: § 576), die nun nicht mehr an eine Königspfalz, sondern an das bewidmete Bistum abzuführen waren. Ebensolange fuhr die Kanzlei fort, bei Verleihung der Immunität an eine Reichskirche den rei publicae exactores, procuratores, ministri, administratores das Betreten der Kirchengüter zu untersagen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 448 A. 1, 455, 461 – 464, Bd. 8 S. 219). Die Veräußerung der Einkünfte an Reichskirchen minderte das königliche Einkommen weit über das hinaus, was die Kirchen dafür dem Könige an Reichsdiensten zu leisten hatten. Bereits König Heinrich II. tadelte deswegen den beharrlich auf solche Zuwendungen drängenden Bischof von Paderborn, qui me bonis concessis cum detrimento regni spoliare non cessas (Vita Meinw. c. 182 S. 105 Z. 24 – 25. G. Waitz Bd. 7 S. 203, 8 S. 236). Mit dem regnum war hier die res publica gemeint, nämlich die Reichsgemeinde oder der Reichsuntertanenverband, zu dessen gemeinem Nutzen der König seine Einkünfte zu verwenden hatte. § 626. Bald darauf benutzte König Konrad II. den Begriff des regnum in demselben Sinne, als er im Sommer 1025 zu Konstanz mit den Italienern über seine Wahl oder Annehmung zu ihrem Haupte und über den Herrschaftsvertrag verhandelte. Sein Biograph berichtet darüber unter der Überschrift Qualiter rex cum Italis placitavit (Wipo, Gesta Ch. c. VII; placitum = ahd. thing, githingi, einuuurtig thing „Einhelligkeit“, einunga, und mhd. thinc, teyding, gedinge: H. Götz, Wb. 1999 S. 493, L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 439). Nur mit den Bürgern von Pavia gab es keine Einigung. Sie hatten den König dadurch beleidigt und erzürnt, daß sie, als ihnen der Tod Kaiser Heinrichs II. gemeldet worden war, die in ihrer Stadt gelegene Königspfalz abgerissen, und um jeden Wiederaufbau zu verhindern, sogar die Fundamente zerstört hatten. Sie rechtfertigten dies damit, daß sie nach des Kaisers Tode keinen König gehabt und daher ein Haus ihres Königs, regis nostri domum, gar nicht hätten zerstören können. Konrad räumte dies ein, erklärte aber, sie hätten ein Haus des Reiches, domum regalem oder aedes publicas, zerstört, das nicht ihr, sondern eines anderen Eigentum gewesen sei, denn: Si rex periit, regnum remansit. Gegenstand des Streites war also die Rechtslage der Pfalz, und damit des Reichsgutes überhaupt, während des Interregnums, das im Jahre 1024 vom 13. Juli
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bis zum 8. September gedauert hatte. Die Pavesen waren offenbar der Ansicht, mit dem Tode eines Königs falle das Reichsgut an das Volk als seinen wahren Eigentümer zurück, und das Volk, das sich während des Interregnums selbst regierte, indem es sich einen neuen König erkor, habe auch darüber zu befinden und im Herrschaftsvertrage mit dem Gekorenen zu bestimmen, welche Aufgaben der künftige König erfüllen sollte und in welchem Umfange es ihn daher mit Hilfsmitteln auszustatten hatte. Und die Pavesen waren der Meinung, daß er dafür hinfort einer Pfalz in ihrer Stadt nicht mehr bedürfe. Hier nämlich waren sie das Volk, denn es „galt der Grundsatz, daß was das öffentliche Interesse erheischte, unmittelbar wie und wo es erfordert ward, geleistet werden mußte. Das Volk gab nicht dem Staat oder seinem Regenten die Mittel, um zu beschaffen, was ihm oder dem Ganzen notwendig war; sondern es leistete und lieferte, worauf es in jedem einzelnen Falle ankam“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 11), und für den Einzelfall waren eben zuerst die Grafschaftsvölker zuständig. Konrad widersprach dem nicht grundsätzlich. Er war lediglich der Meinung, nicht die Pavesen als bloß partikularer Untertanenverband, sondern das Regnum, die italienische Reichsgemeinde, sei während des Interregnums Eigentümer des Reichsgutes gewesen, und in der Tat werden die Pavesen mit deren Zustimmung gehandelt haben, wenn auch seit dem Reichstag von Konstanz nur noch wenige italienische Große zu ihrem Worte standen (Wipo c. XII S. 33 Z. 17 – 18). Mit dem Regnum, das während des Interregnums fortbestand, können Konrad und Wipo nur das unsterbliche Reichsvolk gemeint haben, das kein Geschöpf seines Königs, sondern umgekehrt tatsächlicher und rechtlicher Ursprung des königlichem Amtes war. Auf diesen Ursprung bezieht sich der „abstrakte Begriff der unsichtbaren Einheit des Ganzen als des wahren Subjektes der von den Häuptern oder Versammlungen ausgeübten Verbandsgewalt“, dem der König gegenüber den Pavesen Ausdruck verlieh (F. Keutgen 1918 S. 8 f., nach O. Gierke). Wohl nur um dies deutlich zu machen, mag Wipo den Ausdruck domus regalis als aedes publicae erläutert haben: Die Königspfalz war Sache des Volkes, sie gehörte der res publica, die von der Reichskanzlei überall als Inhaber der königlichen Fisken behandelt wurde und zu deren Nutzen der König ihre Erträge zu verwenden hatte. Wir müssen annehmen, daß der König in dem Rechtsstreit mit den Pavesen eine Niederlage erlitten hat, denn Wipo berichtet nichts darüber, unter welchen Bedingungen er den Bürgern schließlich seinen Frieden gewährte. Die Pfalz jedenfalls brauchten sie nicht wiederaufzubauen. Die Italiener werden sich des Volksrechts am Reichsgut klarer bewußt gewesen sein als Franken und Sachsen, hatte doch schon Kaiser Otto III. im Jahre 998 auf einem Hoftage zu Pavia festgestellt, daß der Kaiser und König Reichsgut an natürliche Personen – denn ausgenommen waren die dem Reiche gleichgestellten Reichskirchen – nur auf die Dauer seiner eigenen Lebenszeit ausgeben dürfe (MGH. Const. 1, 49 n. 23, hier: S. 50 Z. 18 – 20, oben: § 575), wobei diejenigen, die ihm dieses Recht wiesen, nur den einen Zweck verfolgt haben können, das Reichsgut, welches das Volk oder die res publica ihrem Könige bei dessen Erhebung übergeben hatte, nach dem Tode des Herrschers un-
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verkürzt wieder zum Volke zurückkehren zu lassen. Der Gegensatz zwischen volklicher und kaiserlicher Rechtsauffassung war noch im 12. Jahrhundert aktuell (MGH. DF. I. 239). Ich kann mich also der herrschenden Lehre (H. Beumann 1956. F.-R. Erkens 1998 S. 66 f.) nicht anschließen, der zufolge sich die Pavesen „auf die zeitübliche Vorstellung vom personalen Charakter der Herrschaft“ berufen hätten, „die, da sie an Personen gebunden war, nicht von Dauer sein konnte und deren materielles Substrat gleichsam herrenlos wurde, wenn der Träger der Herrschaft ausfiel,“ wogegen Konrad „ein völlig anderes, ein transpersonales Verständnis von der Königsgewalt“ vertreten hätte, zeugten seine Worte „doch von einer zukunftsweisenden Auffassung vom Staatswesen, das als eine von der Person des Herrschers unabhängige und dauerhafte Institution begriffen wird, als eine transpersonale Größe eigenen Rechts.“ Diese vermeintlich neue Staatsauffassung war mindestens so alt wie der Gebrauch des Wortes res publica in der lat. Urkundensprache (S. Reynolds 1994 S. 404) und wahrscheinlich so alt wie das germanische Königtum überhaupt. § 627. Im Unterschied zu den meisten Schriftstellern seiner Zeit und weit häufiger als sie nahm seit etwa 1070 der Geschichtsschreiber Lampert von Hersfeld den Ausdruck res publica in Gebrauch, um den Reichsuntertanenverband und die Reichsversammlung, oder kurzum: das Reich von der königlichen Gewalt abzuscheiden und beides einander feindlich entgegenzusetzen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 409 – 448, 464, 498). Wenn auch nicht, wie einst Nithard, von Augustinus, sondern direkt von Cicero und Livius, so übernahm er doch gleich jenem den antiken Begriff, um eine mittelalterliche Institution zu bezeichnen und um seine Sorge um das Gemeinwesen auszudrücken, dessen Wohl er von König Heinrich IV. bedroht sah (T. Struve 1969 – 70 T. 1 S. 13 f., T. 2 S. 83 – 85). In der Vorstellung von der res publica oder dem regnum, welches nicht mit dem Könige starb, war wohl von Anfang an der Gedanke enthalten, daß der König als bloß zeitweiliger Verwalter der Reichsrechte nichts davon ohne Zustimmung des Volkes veräußern dürfe, weil jede Veräußerung das Gemeinwesen schwächte und die Mittel minderte, die das Volk seinem Könige zur Verfügung gestellt hatte, damit er sie zum Unterhalt seines Palastes und zur Mehrung des gemeinen Nutzens einsetzte. Er sollte nicht darauf angewiesen sein, in Friedenszeiten für den ordentlichen Bedarf der Regierung über den Ertrag des Reichsgutes hinaus vom Volke und von den Kirchen zusätzliche Leistungen zu erhalten. Schon um die Teilungspläne Kaiser Ludwigs und seiner Söhne auszuführen, wird die Reichsregierung nicht nur auf das Wissen, sondern auch auf die Zustimmung des Volkes angewiesen gewesen sein, war doch auch in der Abspaltung königlicher Haushalte vom kaiserlichen Hofe leicht eine Veräußerung oder Umwidmung von Reichsgut für bisher nicht vorgesehene Zwecke zu erkennen. Solange allerdings die wirtschaftlichen Verhältnisse der Karolingerzeit Bestand hatten, sahen sich weder das Volk und die Depositare des Volksrechts noch die
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Großen, die das Reich regierten, dazu veranlaßt, sich diesen Gedanken bewußt zu machen, ihn zu entfalten und auszusprechen. Aber im Laufe des 11. Jahrhunderts (S. Reynolds 1994 S. 417) begannen sich jene Verhältnisse zu verändern. Vor allem die umfangreichen Veräußerungen von Reichsgut und Reichsrechten an Kirchen, aber auch das fortwährende Wachstum des Marktverkehrs und der auf den Märkten umlaufenden Geldmengen führten dazu, daß die Herrscher mit den ordentlichen Einkünften des Reiches nicht mehr auskamen. Schon Heinrich III. und Heinrich IV. sahen sich deswegen dazu genötigt, Anleihen aufzunehmen und den Gläubigern Reichsgüter zu verpfänden (G. Waitz Bd. 8 S. 238, 412), aber damit verschlimmerten sie die Lage, sobald es ihnen an Mitteln fehlte, um die Pfänder wieder einzulösen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als vom Volke zusätzliche Beihilfen und Steuern zu erbitten. Bereits im Jahre 1073 boten die Bürger von Worms dem Könige eine solche Geldsteuer an (oben: § 231). Vollends um die Kosten der Romfahrt und Kaiserkrönung zu decken, mußte Heinrich IV. in Italien Anleihen aufnehmen, die er aus eigenen Mitteln, ex suis propriis opibus, nicht zurückzuzahlen vermochte. Daher suchte er bei den Reichsfürsten, die sich ihm unterworfen (und dadurch zum Beistande verpflichtet) hatten, de subiectis sibi episcopis et abbatibus aliisque suis principibus prope omnibus, Hilfsgelder einzusammeln, wobei er das meiste Geld bei den Regensburgern und fast allen zum Reiche gehörigen Bürger(gemeinde)n gewann. Freilich machte er sich dadurch weithin verhaßt (Ann. Ratisp. a. 1084): Zweifellos mußten die Fürsten sein Begehren an ihre eigenen Untertanen weitergeben und auf Landtagen (oben: § 210) deren Hilfe erbitten. Kaiser Heinrich V. dachte sogar daran, eine allgemeine Reichsgrundsteuer nach englischem Vorbilde, d. h. so, daß der von der Regierung aus gegebenem Anlaß für notwendig erachtete Bedarf auf alle Gerichtsgemeinden und weiter auf alle Grundbesitzer hätte repartiert werden können, einzuführen, jedoch scheiterte er mit diesem Plane am Widerstande der Fürsten (G. Waitz Bd. 8 S. 399 f.), die darin zweifellos von ihren Landtagen und Ländern bestärkt wurden. So ging im Laufe des 12. Jahrhunderts den Völkern der Stadt- und Landesgemeinden im Reiche und ihren Worthaltern, von deren Gemeinschaft sich der engere Kreis der Reichsfürsten abzusondern begann, der Zusammenhang auf, der zwischen Umfang und Ertrag des Reichsgutes auf der einen und dem zusätzlichen Geldbedarf des Reiches auf der anderen Seite bestand, zumal der König und die Fürsten sie um so öfter um ihre Beihilfen bitten mußten, je mehr sie das Reichsgut durch Veräußerungen, Verlehnungen, Verpfändungen dezimierten. Da aber die Völker die Bitten ihrer Häupter erfüllen mußten, wenn diesen der Nachweis gelang, daß sie ihrer Steuern de necessitate und um des Gemeinwohls willen (oben: §§ 330, 376) bedurften, drängte sich umgekehrt den Völkern die Frage, warum das Reichsgut für die notwendigen Kosten nicht (mehr) ausreichte, und der Verdacht auf, der König könne es in unrechter Weise verkürzt und damit seine Amtspflicht verletzt haben. § 628. Als erster stellte der bayerische Regularkanoniker und Theologe Gerhoch von Reichersberg in einer um 1128 / 29 entstandenen Schrift „Von Gottes Gebäu-
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de“, De aedificio Dei, den Grundsatz auf, daß der König frei und für sich alleine nur über sein und seines Hauses Eigengut verfügen könne, jedoch der Zustimmung der Fürsten bedurfte, wenn er Reichsgut belasten oder veräußern wollte: De regni autem facultate, quae est res publica, non debet a rege fieri donatio privata. Est enim aut regibus in posterum successuris integre conservanda aut communicato principum consilio donanda. De re autem privata tam a regibus quam a caeteris principibus potest fieri donatio privata (Migne P. L. 194 Sp. 1225A. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 243. G. Landwehr 1967 S. 201 f. H. C. Faußner 1973 S. 392, 447 f.). Bald darauf benutzte ein für das Kloster Ottobeuren tätiger Fälscher die Behauptung, Kaiser Otto I. habe seine Auftraggeber nur erst mit Rat und Zustimmung der Fürsten gemeinlich von allen Reichsdiensten befreit (MGH. DO. I. 453 S. 614 Z. 15 – 19. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 69 A. 3), um seinem Machwerk Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Gerhochs Werk pflegt man als „Kommentar zum Wormser Konkordat“ zu lesen, das die Gelehrten vor die Aufgabe stellte, königliche und kirchliche Rechte von einander zu trennen, und „präziser als irgendein Zeitgenosse“ stellte Gerhoch den Unterschied heraus, der zwischen Schenkungen aus königlichem Hausgut und solchen aus Reichsgut zu machen war, denn jene gingen das Reich nichts an, für diese aber formulierte Gerhoch „als einziger das tatsächlich bestehende und in den Zeugenunterschriften der Urkunden ausgedrückte Konsensrecht“ der Großen und Fürsten des Reiches (P. Classen 1960 S. 40 – 43). Gerhoch verstand den Grundsatz nicht als Aufforderung an den Gesetzgeber, neues Recht einzuführen, sondern lediglich als Entfaltung dessen, was seit jeher im Recht des Reiches enthalten war. In der Tat hatten die Könige stets die Notwendigkeit, zu Verfügungen über Reichsgut den Konsens der Großen einzuholen, dadurch anerkannt, daß sie derartige Verfügungen in der Öffentlichkeit ihrer Hofund Reichstage trafen. So war es denn auch nicht in der Sache, sondern im Gedanken und Begriff eine Neuerung, daß Gerhoch das Reichsgut (facultas = Hab und Gut, Besitz, Macht der zeitlichen Güter: H. Götz, Wb. 1999 S. 254, L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 222) als res publica dem Hausgute oder der res privata gegenüberstellte. In der Sache griff Gerhoch altes Herkommen auf, wenn er jenes dem regnum, dieses aber dem Könige zuordnete und damit König und Reich einander objektiv gegenüberstellte. Ebensowenig war es neu, daß Gerhoch zu dem passivischen Ausdruck facultas conservanda das logische Subjekt entweder nicht nennen wollte oder nicht nennen konnte. Das Reichsgut zu erhalten war offensichtlich eine Amtspflicht des Königs und der Fürsten und ihnen auferlegt von dem regnum als Eigentümer des Reichsgutes. Aber da Gerhoch nicht so weit ging, die res publica, wie es einst Nithard getan, als res populi zu bestimmen, blieb ihm das regnum ein abstrakter Begriff. Den unsterblichen Reichsuntertanenverband und die Großen oder Fürsten als dessen Worthalter vermochte er nicht mehr mit ihm in Verbindung zu bringen. Damit freilich stand Gerhoch nicht allein. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts begannen auch in Frankreich und England Magnaten und Schriftsteller, die Person des Königs und die Institution des Reiches einander gegenüberzustellen, und auch
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sie machten sich das Reich nicht als Gemeinwesen oder Sache des Volkes anschaulich, deren Worthalter den König umgaben, sondern als enthalten in oder dargestellt von der Krone, die der König bei Antritt der Regierung empfing, unter der er hinfort seines Amtes waltete und die er sterbend an den Koronator zurückgab, damit sein Nachfolger sie abermals empfangen konnte. Mit dem Reichsvolke hatte die Krone die Unsterblichkeit gemeinsam, eine Eigenschaft, die man allenfalls noch dem königlichen Hause beilegen konnte, jedenfalls dann, wenn die Krone, wie es in Frankreich der Fall war, über Jahrhunderte hinweg vom Vater auf den Sohn überging und schließlich alle Interregna vertilgte. In England dagegen, wo die Dynastien ebenso häufig wechselten wie in Deutschland, erkannte man in der Krone insbesondere den Eigentümer des Reichsgutes, der den jeweiligen König und dessen Beamte lediglich damit beauftragte, es zum Nutzen der Allgemeinheit zu verwalten, nicht aber damit, es dem Reiche zu entfremden. Nachdem um 1200 die Unveräußerlicheit aller Kronrechte prinzipiell klar formuliert und zum Grundgesetz des Reiches erklärt worden war, beschwor zum ersten Male im Jahre 1216 ein König von England mit dem Krönungseid auch das Versprechen, keine Besitzungen oder Rechte der Krone zu veräußern (E. H. Kantorowicz 1966 / 1990 S. 338 – 355). Aber da er dieses Versprechen der sowohl sichtbaren als auch unpersönlichen Krone gab, sahen sich die Gelehrten nicht daran gehindert, die Krone einerseits mit der Nation oder dem Reichsvolke zu identifizieren, andererseits aber sie als göttliche Gnadengabe und die Nation als übersinnlichen zweiten Leib des Königs zu mystifizieren, denn niemand hielt sie dazu an, die Frage zu beantworten, woher die Amtsgewalt des Koronators rührte und ob ihn nicht eher die Nation nach Volksrecht als Gott nach Kirchenrecht dazu ermächtigte, dem König die Krone aufzusetzen. § 629. Im Deutschen Reiche konnte es dahin nicht kommen, weil die Interregna und Königswahlen von 1125, 1138 und 1152 für jedermann sichtbar machten, wer das Reich regierte, solange es keinen König gab, und wer dem erkorenen König die Amtsgewalt übertrug, indem er ihm seinen und des Volkes Beistand versprach und zur Erfüllung der Beistandspflicht, sofern nicht außergewöhnliche Nöte ein mehreres erforderten, das Reichsgut anvertraute. Auch in Deutschland traten Kaiser und Reich ersichtlich auseinander, aber es gab keinen Zweifel daran, daß das Reich die Fürsten waren, die im Einvernehmen mit ihren Völkern den König koren und über sich erhoben, um hinfort gemeinsam mit ihm das Reich zu regieren. Während sich das Volk in früheren Jahrhunderten nur vorübergehend, in Zeiten der Zwietracht und gefährdeten Reichseinheit, des Unterschieds zwischen König und Reich bewußt geworden war, um alsbald nach wiedergewonnener Einheit und Stabilität von neuem auf die verfassungsmäßige Identität beider zu vertrauen, hatten seine Rechtskundigen seit den schweren Kämpfen zwischen König und Fürsten, die der Investiturstreit ausgelöst hatte, darin einen dauernden Zustand und Grundzug seiner Verfassung erkannt. Daher währte es nun nicht lange, bis sich die Fürsten, als Worthalter ihrer Lande und Völker und höchste Depositare des Volks- und Reichsrechtes, über die Folgen
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klar wurden, die sich daraus für die Verwaltung des Reichsgutes ergaben. Denn Eigentümer desselben waren zum Teil das Reich und zum Teil die Bischofskirchen und Reichsabteien, sie alle unsterbliche Institutionen des Volks- und Reichsrechts (oben: § 575a), die den zeitlichen König, Bischof oder Abt nur zu zeitlichen Verwaltern bestellten und dem Volke dafür verantwortlich waren, daß sie diese beschränkte treuhänderische Vollmacht nicht mißbrauchten, sondern das ihnen anvertraute Reichsgut bei ihrem Tode dem Eigentümer unverkürzt und so, wie sie es einst von ihm empfangen, wieder zurückgaben. Nichts Neues erschaffend, sondern etwas, das schon immer Recht gewesen war, lediglich erkennend, stellten daher die vom Kaiser darum befragten Reichsfürsten im Jahre 1184 fest, daß kein geistlicher Reichsfürst dazu berechtigt sei, das Kirchengut ohne Zustimmung des Kaisers und des Domkapitels zu belasten oder etwas davon ohne Zustimmung des Kaisers zu veräußern (MGH. DF. I. 866). In der Zustimmung des Kaisers aber war die des Reiches enthalten, wie die Reichsfürsten hernach in einem Weistum von 1225 erklärten (MGH. Const. 2, 404 n. 289 Z. 6). Demselben Recht unterlag das Reichsgut, das der König verwaltete. Bei der im Jahre 1191 „in Italien durch Heinrich VI. vollzogenen Schenkung von Kloster Erstein an das Bistum Straßburg (waren) zwar eine Anzahl von Fürsten, zum Teil Italiener zugegen, aber von einer formalen Konsenserteilung durch sie ist nach dem Wortlaut der Urkunde offenbar abgesehen worden; und diese Schenkung mußte dann 1192 durch den Kaiser rückgängig gemacht werden. Bei dieser Gelegenheit ward festgestellt, daß es nicht erlaubt sei res ad imperium spectantes alienare absque imperii proventu et utilitate, und es wird gestattet sein, daraus . . . zu schließen, daß eben über die Frage, ob eine derartige Veräußerung im Interesse des Reichs liege, der Urteilsspruch der Fürsten eingeholt wurde“ (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 2 S. 40 f. MGH. Const. 1 S. 491 Anm. 1). Offenbar betrachteten die Urteiler den begünstigten Bischof nicht mehr als Amtmann des Reiches, sondern als Landesherrn, und seinen Vorteil nicht mehr als mit dem des Reiches identisch. Unter dem imperium aber, um dessen Nutzen es hier ging, verstanden sie nicht mehr die kaiserliche Gewalt in der Form, wie Heinrich VI. persönlich sie ausübte, sondern das dem Kaiser mit eigenen Interessen gegenüberstehende Reich, auch wenn sie dabei nicht mehr an den Personenverband der universi, von dem Nithard gesprochen, und an die res publica dachten, welche die Reichskanzlei so lange als Eigentümer des Reichsgutes angesehen hatte, sondern an ihre eigene, die seit einem Jahrzehnt fest etablierte Standesgenossenschaft der Reichsfürsten, als welche sie jetzt jenen Großen des Reiches nachgefolgt waren, die einst das Wort des partikulierten Untertanenverbandes gehalten hatten. Die Reichsverfassung hatte sich so sehr verändert, daß es jetzt möglich und nötig wurde auszusprechen, was schon immer gegolten hatte. Schon immer hatte der König Reichsgut und Reichsrechte nur dann veräußern dürfen, wenn dies ex necessitate oder pro utilitate imperii geschah; neu war lediglich, daß das Reich dies bei seinen Verfügungen nicht mehr stillschweigend voraussetzte, sondern ihm den Beweis dafür abverlangte (G. Landwehr 1967 S. 152 f., 160 f.).
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§ 630. Da sich weder der Kaiser noch das Reich im Spätmittelalter durch Machtstreben und Tatkraft auszeichneten, blieb der deutsche Verfassungsdualismus eine ebenso allgemein anerkannte wie unauffällige Rechtstatsache, die keine der beiden Seiten dazu bewegte, ihr Recht im Staate durch neue, über das königliche Gottesgnadentum und die Heiligkeit des Reiches hinausgehende Mystifikationen zu stärken. In England dagegen hatten der beharrliche Machtwille der Barone gegenüber dem König und dann der Eintritt der Gemeinden in die Reichsversammlung, deren künftiges Unterhaus sie bildeten, zur Folge, daß Theologen und Juristen ihre Spekulationen über das Wesen der Staatsgewalt nicht länger auf das Königtum beschränken konnten: Sie mußten sie auch auf die Nation erstrecken, deren Wort die versammelten Abgeordneten der Gemeinden hielten und dank des Rechts, dem Könige Gravamina vorzutragen und Steuern zu bewilligen, mit Nachdruck verlautbarten. Einen ganz anderen Weg schlug die Entwicklung in Frankreich ein, denn hier waren Königswahlen schon im 11. Jahrhundert außer Gebrauch gekommen und seit dem Ende des 12. Jahrhunderts von den Historikern durch den fiktiven reditus ad stirpem Carolinorum (Ph. Contamine in LMA 6 Sp. 936), von den Juristen aber durch die Fiktion der Erbmonarchie hinwegerklärt worden. Seither glaubte die französische Nation, daß der sterbende König die Staatsgewalt auf dieselbe Weise seinem Sohne hinterließe, wie ein Grundeigentümer durch seinen Tod den leiblichen Erben sein Recht am Hausgute vermachte, gleichsam als ob die germanische Gewere mit dem Eigentum des römischen pater familias identisch und das Königreich nichts anderes als ein Hausgut gewesen wäre (le mort saisit le vif, oben: §§ 91, 412, 535). Mit der Königswahl war aber auch die Reichsversammlung untergegangen. Nur in den Regionen gab es seither noch Ständeparlamente, die Generalstände dagegen waren ein spätes Geschöpf des Königtums, daher sie nicht nur selbständiger Kompetenzen als Worthalter der Nation, sondern auch der Vorrechte der Periodizität und Initiative entbehrten. Der im Deutschen Reiche und in England so augenfällige staatliche Dualismus trat daher in Frankreich so wenig in Erscheinung, daß der Begriff des Gemeinwesens zwar bekannt blieb, aber sich in dem Maße allen Sinnes entleerte und schließlich unverständlich wurde, wie die französische Verfassung auf dem Wege zum königlichen Absolutismus voranschritt. Nur das Königtum konnte seitdem noch Gegenstand dogmatischer Mystifikationen sein. Die ihm dienstbaren Gelehrten, die es bis zum allerchristlichsten steigerten, haben auf dem Gebiete der Heiligung der Staatsgewalt eine in Europa damals einmalige Begabung bewiesen. Um so erstaunlicher ist es, daß nicht einmal in Frankreich die Staatsdogmatik imstande war, den verfassungsrechtlichen Dualismus auszulöschen. Notgedrungen mußte sie ihn zur Kenntnis nehmen, da er die königliche Gewalt immer noch nachhaltig beschränkte. Auch in Frankreich blieb der für absolut angesehene König an das Gebot der Gemeinnützigkeit seiner Regierung, an die Unveräußerlichkeit des
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Fiskus und an die Unverbrüchlichkeit aller Privatrechte als ihm vorgegebene Grundgesetze des Reiches gebunden. Um diese innerhalb der absolutistischen Dogmatik unerklärliche Rechtstatsache plausibel zu machen, erfanden gewitzte Juristen das Gleichnis von der Verheiratung des Herrschers mit dem Reiche: Die Domäne sei unveräußerlich, weil der König sie von der res publica zur Mitgift erhalte; als maritus rei publicae hätte er in dieser Hinsicht, so der scheinbar logische Schluß, den Regeln des unverbrüchlichen, weil privaten ehelichen Güterrechts unterlegen (E. H. Kantorowicz 1966 / 1990 S. 231). Welche doch offensichtlich rechtsfähige Persönlichkeit sich unter dem Namen res publica verbarg und warum der König ehelichen mußte, was er bereits ererbt hatte, danach hätte nur ein ganz witzloser Kritiker fragen können. Es war ja nicht der Zweck solcher zwar geistreichen, aber paradoxen Wort- und Gedankenspiele, die Widersprüche innerhalb der Staatsdogmatik zu erklären, sondern sie dadurch zu überspielen und beiseitezuschieben, daß sie sie verrätselten und mystifizierten, kann sich doch nur menschlicher Witz anmaßen, die ganze Welt in die Kategorien eines einzigen Systems von Gedanken und Begriffen einzufangen (oben: § 596a). In Jean Bodins Souveränitätslehre nahm jener Widerspruch die Gestalt des heute sogenannten Steuerparadox an, denn just die Hoheit über Finanzen und Steuern, nach Cicero die nervi rei publicae, schloß Bodin aus der Anzahl der Rechte aus, deren Gesamtheit die staatliche Souveränität konstituierte (J. Bodin 1583 S. 855 – 913. E. Pitz 1987 S. 295 – 299). In Geldsachen war auch der souveräne und sonst an die (eigenen, von ihm selbst sanktionierten) Gesetze nicht gebundene Monarch (nach den Grundgesetzen des Reiches) auf die Reichsversammlung und deren spätmittelalterliche Emanationen, wie Parlamente, Ständeversammlungen und Rechenkammern, angewiesen. Die aber hatten, nach Bodin, an die erste Stelle unter den staatlichen Einnahmequellen die Domäne gesetzt, war doch diese dem Fürsten von der res publica übertragen worden, damit er sie beschützen und unterhalten könne. Bei Veräußerungen aus ihr seien die Formen zu beachten, die das gemeine (Privat-)Recht für Mündelgut vorschreibe, „da das Gemeinwesen immer gleich den Mündeln geachtet wird“ (d. h. zwar rechts-, nicht aber handlungsfähig sei). Der Fürst dürfe die Domäne weder zum Hausgut ziehen noch Dritten übereignen, da sie ihn davor bewahren sollte, die Untertanen besteuern zu müssen, um die Staatsaufgaben erfüllen zu können; außer im Notfalle aber habe er kein Recht, den Untertanen ohne deren Zustimmung Steuern aufzuerlegen, weil er damit in deren grundgesetzlich geschütztes Eigentumsrecht eingreife. Wolle er die Domäne antasten, so erforderten sowohl das gemeine Recht als auch die (volksrechtliche) Gewohnheit, daß er dazu die Zustimmung der Stände einhole. Nur unter dieser Voraussetzung dürfe er, wenn der Ertrag der Domänen nicht ausreiche, die Untertanen besteuern. Alle mittelalterlichen Steuern seien außerordentliche Subsidien und das Bewilligungsrecht der Stände noch im 15. Jahrhundert anerkannt gewesen. Jede eigenmächtige Erhebung verwandle daher die königliche Gewalt in Tyrannei (J. Bodin 1583 S. 877 – 882). § 631. Nur als inhaltsleere Schatten einer unerkennbaren Wirklichkeit sind res publica und Reichsversammlung in dieser Darstellung wahrzunehmen. Ihres ur-
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sprünglichen, die beiderseitige Identität begründenden Zusammenhanges war sich im 16. Jahrhundert niemand mehr bewußt, wie denn Bodin an anderer Stelle den Reichsversammlungen jedes eigenständige Recht auf Souveränität abspricht, da sie lediglich dazu dienten, die Dekrete der souveränen königlichen Gewalt zu publizieren (J. Bodin 1583 S. 146 – 161. E. Pitz 1987 S. 248 f. Oben: § 608b). Trotzdem ist zu erkennen, daß Bodin hier den Verfassungsdualismus mittelalterlicher Königreiche ins Auge faßt, denn er stellt zweierlei Rechte und Rechtsquellen einander gegenüber. Auf der einen Seite nennt er das von dem Souverän sanktionierte Gesetz, das seinen Urheber nicht binden konnte, da dieser es so, wie er es aus freiem Willen setzte, auch aus eigenem Willen abändern oder aufheben konnte. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, daß Bodin die Souveränität, die er dogmatisch aus dem Naturrecht begründet, historisch mit dem mittelalterlichen Jurisdiktionsprimat gleichsetzt. So nämlich nenne ich diejenige Einheit von legislativer und judikativer Gewalt, die auf die prätorische Magistratur der römischen Republik zurückgeht und durch die römischen Kaiser bzw. deren Prätoriumspräfekten sowohl dem römischen Papsttum als auch den Königen der Germanen übermittelt worden ist (E. Pitz 1987 S. 106 – 111, 1990 S. 18 – 24, 2001a S. 64 – 67, 86. Unten: §§ 783 – 788). Auf der anderen Seite nennt Bodin das Recht der res publica als etwas, das nicht von der königlichen Sanktion abhing, sondern als ein Grundrecht des Volkes die souveräne königliche Gewalt sowohl beschränkte als auch, nämlich durch die von Parlamenten und Ständetagen ausgeübte Kontrolle, davor bewahrte, in Tyrannei umzuschlagen. Das Steuerparadox nun ergab sich zwangsläufig daraus, daß Bodin zwischen diesen beiden Rechten, dem des Königs und dem des Gemeinwesens, keinen Zusammenhang herzustellen vermochte, weil er nicht wußte, was die res publica im Hochmittelalter einmal gewesen war und was auch wir nicht wissen könnten, wenn es nicht aus Nithards Historien zu erschließen wäre. Bodin war daher genötigt, das Recht des Gemeinwesens begrifflich dem Königsrecht unterzuordnen. Aber da er nicht in Versuchung geriet, es totzuschweigen, ist es just das Paradox, an dem seine Staatslehre der begrifflichen Logik nach scheitern muß, was sie dem historischen Inhalt nach wahr macht. Es folgt nämlich daraus, daß in Bodins Denkweise der begriffliche Dogmatismus und der praktische Realitätssinn des Juristen miteinander im Widerstreit liegen. Diesen Streit vermochte Bodin nicht zu schlichten, sondern nur zu dämpfen, und zwar dadurch, daß er der dogmatischen Begründung des Souveränitätsbegriffs einen scheinbaren Vorrang verlieh, indem er ihr das Erste Buch seiner Abhandlung widmete und davon die historische Beschreibung des Volksrechtes möglichst weit entfernte: Sie findet nämlich ihren Platz erst in deren Sechstem und letztem Buche. Nur dann, wenn der Leser, dieser Anweisung folgend, das Souveränitätsdogma zum Merkmal der Beurteilung erhebt, entsteht das Steuerparadox, weil er danach von dem späteren Auftritt des Volksrechtes ganz unversehens überrascht wird.
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Setzt er sich dagegen über Bodins Willen hinweg und macht er die Beschränkung der souveränen königlichen Gewalt durch die Steuerhoheit des Gemeinwesens zum Maßstabe, so verschwindet zwar das Paradox, aber der Leser steht nun vor der Aufgabe, die Bodin nicht zu lösen vermochte, nämlich Königsrecht und Volksrecht aufeinander zu beziehen und die Regeln zu bestimmen, nach denen sie sich gegenseitig sowohl beschränkten als auch ergänzten. Die Lösung dieser Aufgabe aber liegt in der Erhellung des Verfassungsdualismus, der im frühen und hohen Mittelalter die Regierungsweise aller germanischen Königreiche bestimmt hat. Seit dem Altertum wird das politische Denken der Europäer von Theorien geprägt, die das Recht des Volkes, die Regierung zu kontrollieren und zu beschränken, außer Acht lassen, weil ihre Urheber glauben, der Staat sei von oben, von der Regierung her erbaut worden, und daher sei eine Staatsgewalt zu postulieren, die als dem Wesen nach absolut oder souverän und keiner Kontrolle unterworfen gedacht werden könne. Alle Theorien dieser Art, nicht nur die Bodinsche, gehen der grundlegenden Frage nach Wesen und Recht der res publica aus dem Wege, deren Existenz sie doch nicht leugnen können, und erweisen sich deswegen, vom Standpunkte der Logik und des logischen Positivismus aus betrachtet, notwendigerweise als paradox (R. Popper 1957 / 1980 Bd. 1 S. 170 – 174). Es ist allerdings auch nicht einfach zu verstehen, wie das Gemeinwesen aus Menschen bestehen kann, die einerseits als Einzelne seine Untertanen, andererseits als Genossen oder Bürger gemeinlich der Souverän sind. Schon der Einzelne muß deshalb mehr als bloßer Untertan, schon er muß mit einem Funken jener Souveränität begabt sein, den er freilich nur gemeinsam mit allen anderen zur Energie einer Staatsgewalt zu entfachen vermag.
§§ 632 – 641. Nithard III: Die Formen gemeiner identischer Willensbildung § 632a. Kehren wir zu der Frage (oben: § 624) zurück, ob es richtig sei zu sagen, daß Nithard in dem ciceronianisch-augustinischen Staatsbegriff die Verfassung des karolingischen Reiches wiedererkennen konnte, an dessen Regierung er selber tätig beteiligt war, so halte ich es für erwiesen, daß diese Frage zu bejahen ist und daß Nithard, wenn er die res publica als Reichsuntertanenverband und Eigentümer des Reichsgutes bestimmt, damit etwas Wirkliches beschreibt, nämlich die eine Seite jenes verfassungsrechtlichen Dualismus, dessen kontinuierliche Entwicklung von den ältesten, dem 5. und 6. Jahrhundert angehörenden Anfängen germanisch-mittelalterlicher Königreiche an (E. Pitz 2001a S. 159 f., 192 – 194, 197 – 200, 369 f., 436 f.) bis über das Ende des Mittelalters hinaus und in die Neuzeit hinein verfolgt werden kann. Als Komplement, das die Reichsverfassung erst vollständig machte, standen im frühen und hohen Mittelalter dem Untertanenverbande der König und die Reichsregierung gegenüber. Den Großen oblag es, zwischen beiden Seiten zu vermitteln.
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Daher hießen sie sowohl primores populi als auch proceres regis, gehörten sie gleichzeitig dem Volke als dessen Worthalter und dem Herrscher als dessen Berater zu (oben: § 608a). Um ihre Aufgabe zu erfüllen, bedurften sie des Vertrauens und der Vollmacht beider Seiten. Die königliche Vollmacht erlangten sie, sobald die Regierung in einem Auslese- und Wahlverfahren ihre Eignung festgestellt hatte (oben: § 609). Man mag ihr Mandat, wenn es einmal hervorgehoben werden mußte, als auctoritas bezeichnet haben, denn darunter verstand man einerseits das Ansehen, den Willen, die Machtvollkommenheit, die jemand besaß oder empfangen hatte, und andererseits den Willen oder die Vollmacht, die er einem anderen übertragen konnte (H. Götz, Wb. 1999 S. 63. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 474). Nithard kennt dem entsprechend die von Gott erteilte auctoritas des Papstes (Hist. S. 5 Z. 18), der Bischöfe und Kaiser Ludwigs (auctoritas divina S. 9 Z. 14, 40 Z. 9 und 32, 43 Z. 26), die von Kaiser Ludwig erteilte amtliche auctoritas der Söhne (S. 9 Z. 14, 26 Z. 30, 48 Z. 32) und die von einem der Könige erteilte auctoritas der Gesandten (seniorum suorum auctoritas S. 47 Z. 28) und Amtleute (S. 48 Z. 32. W. Wehlen 1970 S. 101 f.). Gewiß waren diese vom König bevollmächtigten Großen gemeint, wenn Ludwig und Karl im Jahre 842 den Bischöfen gelobten, nach Gottes Willen se et suos gubernare et regere velle (S. 40 Z. 31 – 32. W. Wehlen 1970 S. 48 f.). Bediente sich ein König seiner Großen, primores sui (S. 42 Z. 27), als Gesandter, so erteilte er ihnen lediglich eine beschränkte Vollmacht: Was sie mit anderen Königen vereinbarten, bedurfte seiner Ratifikation, neuter quod alter volebat absque seniorum suorum auctoritate assentire audebat (S. 47 Z. 28 – 29). Setzte er sie dagegen zu Bürgen für sein Wohlverhalten, so begab er sich, wie die Straßburger Eide zeigen (oben: § 612b), in Abhängigkeit von ihnen: so schon im Jahre 834 Kaiser Lothar, als sich die Franken weigerten, um seinetwillen den alten Kaiser zu verlassen, und ihn nicht nur dazu zwangen, vertragsweise, pactione, nachzugeben, sondern auch zusammen mit seinen Großen, tam is quam sui, den Vertrag zu beschwören (S. 8 Z. 15 – 24. Weiter zu 839: S. 11 Z. 3 – 5 und 17 – 19). Denn die Großen übernahmen die Bürgschaft nur dann, wenn der König ihnen vorher Gelegenheit gegeben hatte, dem Inhalt des Vertrages zuzustimmen (S. 17 Z. 17 – 24, 48 Z. 15 – 24). Schwer ist daher die Grenze zu ziehen, an der die Großen aufhörten, des Königs zu sein, und anfingen, das Wort des Volkes zu halten. Es ist gewiß kein Zufall, daß Nithard das Possessivpronomen auch entfallen lassen konnte, wenn er davon berichtet, daß die Könige una cum primoribus zur Beratung zusammenkamen (S. 43 Z. 17, 45 Z. 1). § 632b. Auch um das Wort ihrer Völker zu halten, bedurften die Großen einer Vollmacht, aber diese ging so formlos auf sie über, daß man sich des Sachverhaltes möglicherweise gar nicht bewußt wurde. Sie empfingen sie nämlich dadurch, daß das Volk ihrem Willen zustimmte, und sie behielten sie so lange, wie die Identität ihres Willens mit dem Volkswillen fortdauerte (oben: § 602). Bei Nithard zeigt sich das nicht nur darin, daß er die Worte primores und populus synonym gebraucht (oben: § 613), sondern auch in den Formen, die die gemeine Willensbildung einhielt. Hierfür ein Beispiel: Als endlich die drei Brüder bereit waren zu teilen et illis
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plebique universae perplacidum esset, in unum una cum primoribus coeunt (Hist. S. 43 Z. 16 – 17), um zu beraten, aber weil die primores populi keinen weiteren Krieg wollten, willigten die Könige in eine Vertagung ein (S. 48 Z. 15 – 18). Was das Volk will oder nicht will, das ist zugleich das, wozu die Großen vollmächtig oder unbefugt sind. Formlos ging auch die Auslese vor sich, in der sich das Volk der Eignung seiner Worthalter bewußt wurde. Es folgte dabei dem Eindruck, den ihm seine Großen durch Abstammung, Reichtum, adlige Tugenden, Beredsamkeit und Führungskraft, kurzum: durch Autorität und Vorrang (oben: §§ 119, 276a, 389, 424) machten. Nithard bestätigt dies durch den Gebrauch, den er von den Worten nobilis und nobilitas (W. Wehlen 1970 S. 76 f.) macht, um einerseits Männer hervorzuheben, die auf Grund ihrer Tüchtigkeit zu königlichen Beratern oder Gesandten besonders gut geeignet waren (S. 24 Z. 14 – 16, 46 Z. 18 – 20), um andererseits aber auch die nobilitas des Heeres oder eines Volkes überhaupt zu bezeichnen (S. 33 Z. 15 – 17, 38 Z. 20 – 22). Adlige Eigenschaften oder Adel schlechthin war es, was in seinen Augen Könige (S. 38 Z. 1, 45 Z. 24) und Große vor den gewöhnlichen Edelingen auszeichnete. Als Vertrauenspersonen und Worthalter ihrer Völker waren die Großen verpflichtet, in der Reichsregierung die Interessen der Teilreiche, Teilreichsvölker, Länder und Ortsgemeinden (regna, nationes, regiones, civitates) wahrzunehmen, denn wenn diese durch ihre Vermittlung den Königen ihr Vermögen an Reichsgut und Heeresmacht zur Verfügung stellten, so erwarteten sie dafür als Gegenleistung die nur allzu oft ausbleibende königliche Fürsorge für ihre jeweils besonderen, etwa durch die Normannen verursachten Nöte. Für diese volklichen Zwecke nutzten die Großen das komplementäre Interesse aus, das die Könige daran nahmen, gleich allen anderen Edlen ihren besonderen Stand nebst den ihnen vom Volke verliehenen Gütern zum Vorteil ihres Hauses an ihre Nachkommen weiterzugeben. Nur dann, wenn man die Bindung der Großen an den Willen ihrer Völker und ihre Pflicht to speak on behalf of the less (S. Reynolds 1994 S. 36 f.) außer Acht läßt, wenn man sich einen Staatsaufbau allein von oben her vorstellen kann, nur dann mag man von einer Teilungseuphorie der Magnaten, einem Teilungstaumel, der sowohl die Adelsgesellschaft wie die Söhne Ludwigs des Frommen erfaßt hätte (A. Krah 2000 S. 25, nach J. Fried 1994) reden. Viel wahrscheinlicher ist es, daß sich die Teilungspolitik um die Frage gedreht hat, ob das Reich Karls des Großen als zentralisierter Staat, der keiner Zwischengewalten oberhalb der Grafschaften bedurfte, fortbestehen konnte oder ob die Völker unter einer schwächeren Regierung, als es die des großen Karl gewesen war, nach solchen Zwischengewalten verlangten, weil sie ihr politisches Schicksal selbst in der Hand behalten und sich nur insofern, als ihre engeren Verbände den Aufgaben und Nöten der Zeit nicht gewachsen waren, also subsidiär, einer wenig Vertrauen erweckenden Reichsregierung überlassen wollten. § 633. Bereits die Partnerschaft beim Abschluß der Herrschaftsverträge (oben: §§ 612b, 632a) setzt voraus, daß sich die Großen einen Gemeinwillen zu bilden
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vermochten, ohne dazu den König beizuziehen. Wie bereits Abt Adalhard (oben: §§ 607, 610), so läßt auch Nithard die Großen ohne das Oberhaupt ihrer Gemeinde und wider dessen Willen selbständig handeln (W. Wehlen 1970 S. 83 f.), gleichsam als ob ihr Verband eine freie Einung gebildet hätte, da ja nach germanisch-fränkischer Volksrechtsauffassung Einungsrecht dem Königsrecht vorging (oben: § 171). Die universa plebs, die im Jahre 834 in Saint-Denis zusammenkam, um Kaiser Ludwig wieder in seine Würde einzusetzen (S. 6 Z. 13 – 17), kann nur einem Aufgebot ihrer Großen gefolgt sein, da der entmachtete Kaiser nicht dazu in der Lage war, sie einzuberufen, und als einige Jahre später das Greisenalter den Kaiser geschäftsunfähig machte, waren es Kaiserin Judith und die primores populi, die den Beschluß faßten, mit den Söhnen über die Nachfolge zu verhandeln und dabei sowohl einhellige als auch zwiespältige Lösungen zu erwägen (S. 10 Z. 15 – 26). Nithard nennt diese Erwägung electio: Cumque necessitate instante . . . in hac electione versarentur, universorum sententia consensit. Eligere heißt ganz allgemein: sich zwischen mehreren Möglichkeiten oder Meinungen entscheiden (S. 11 Z. 22 und 32, 16 Z. 7 und 30, 25 Z. 4, 45 Z. 8), speziell dann auch: eine Personalentscheidung treffen, den besser Geeigneten auswählen, wie es wohl an dieser Stelle der Fall ist. Als ahd. Äquivalente erhalten wir dem entsprechend sowohl irheffen und kiosan als auch uuellen oder gernôr uuellen (H. Götz, Wb. 1999 S. 222). Nun hat das ahd. Verbum uuellen auch die Bedeutung von wollen, und während mit ahd. kiosan = kiesen das Erwählen eines Einzelnen aus einer Mehrzahl von Personen auf Grund einer Prüfung gemeint war, betont ahd. uuellen das Auswählen auf Grund einer Willensbildung (R. Schmidt-Wiegand in HRG 2 Sp. 714). In diesem Sinne verwendet Nithard, wenn es um die Teilung des Reiches nach dem Grundsatz „Der eine teilt, der andere wählt“ geht, für das Wählen sowohl lat. eligere / electio (S. 11 Z. 22) als auch lat. velle (S. 26 Z. 11, 44 Z. 32), ja er setzt eligere und velle sogar gleich: essetque super his sua electio, ut quam vellet harum acciperet (S. 44 Z. 28). Wir können daher in der electio der Großen von 839 auch ein Zeugnis Nithards für die Willensbildung der Großen sehen, und zwar für deren freies Wollen, denn es war daran kein Kaiser oder König beteiligt, der es hätte lenken oder bestätigen können. Von solcher freien Willensbildung ist auch zu 841 die Rede, als Karl Boten zu den Franken schickte, um zu erkunden, ob diese ad illum reverti oder venire vellent (S. 29 Z. 40, 30 Z. 14 und 26, 31 Z. 9). Dabei handelte es sich um die Frage, ob die Franken Karl oder Lothar zum Könige wählen und mit welchem von beiden sie einen Herrschaftsvertrag, aliquod foedus (S. 30 Z. 8), eingehen oder wem sie sich ergeben, se subdere (S. 30 Z. 29 – 30), wollten. Die endliche, im August 843 zustandegekommene Teilung des Reiches schreibt Nithard ebenfalls vorzugsweise der freien Willensbildung der Großen zu: Das dafür notwendige placitum beraumten die fideles der Könige an (S. 45 Z. 4 – 5), und weil die primores populi nicht abermals Krieg führen wollten, willigten die Könige unter der einzigen Bedingung in die Teilung ein, daß der Frieden, den ihre Sendeboten vereinbart hatten, (von den Großen) bekräftigt werde (S. 48 Z. 15 – 18). Ohne daß ihre Könige dabei ge-
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wesen wären, kamen daraufhin die primates populi von allen Seiten her in Diedenhofen zusammen, um den Frieden zu beschließen und sich eidlich nicht nur dafür zu verbürgen, daß die abwesenden Könige ihn einhielten, sondern auch dafür, daß sie sich durch sie nicht davon abhalten lassen würden, das Reich zu teilen (S. 48 Z. 18 – 23). Die Freiheit der Großen, in Abwesenheit der Könige zur Reichsversammlung zusammenzutreten, einen Reichsfrieden zu errichten und die Teilung vertraglich zu vereinbaren, mutet viele moderne Betrachter so paradox an, daß sie entweder das Fernbleiben der Könige oder überhaupt den ganzen Schwörtag von Diedenhofen mit Stillschweigen übergehen (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 1 S. 187 f. A. Krah 2000 S. 165, 173, 192). Aber nicht die Könige, sondern die Großen waren es leid, gegenseitig ihr Blut zu vergießen um eines Zweckes willen, der keineswegs im Interesse der Völker, deren Wort sie hielten, sondern ausschließlich in dem des königlichen Hauses lag, nämlich die Vorherrschaft Kaiser Lothars über die Brüder durchzusetzen oder zu verhindern. Einmal hatten sie sich dazu hergegeben, wegen des Unwillens und der Unfähigkeit der Brüder, sich zu einigen, die Rechtsfrage mit den Waffen zu entscheiden, ut . . . quid cuique debeatur, armis decernant (S. 14 Z. 20 – 22, 24 Z. 31, 25 Z. 22, 27 Z. 6 – 11). Ein zweites Mal wollten sie sich dem Drängen der Könige (S. 33 Z. 21 – 22, 44 Z. 7 – 9) nicht beugen und für deren dynastische Ziele nicht aufopfern. Dem mußten sich die Könige fügen. § 634. In der vielzitierten Betrachtung, mit der er sein Werk abschließt, spricht Nithard es aus, auf welchem Grunde die Existenz des fränkischen Gemeinwesens beruhte: Die Reichsgemeinde bestehe, solange hic populus unam eandemque rectam ac per hoc viam Domini publicam beschreite, denn solange seien ihr pax atque concordia sicher, dagegen zerbreche sie, wenn die Teilvölker utilitatem publicam verachten, um privatis ac propriis voluntatibus nachzujagen, und daher überall dissensiones et rixae ausbrechen (Hist. IV 7 S. 49 Z. 23 bis 50 Z. 1, oben: § 614. W. Wehlen 1970 S. 62 – 66. H.-W. Goetz 1987 S. 130 f.). Nithard bestimmt die Grundlage der Reichsverfassung, indem er die positiven Begriffe einiges Rechtsbewußtsein, Friede, Eintracht ihren negativen Abbildern Willkür, Zwietracht, Streit gegenüberstellt und die Konsonanz der Dreiheit davon abhängig macht, daß das Volk den Inhalt seines Rechtsbewußtseins nicht willkürlich zugunsten besonderer Interessen, sondern in Übereinstimmung mit dem göttlichen Recht und seinem eigenen, dem wohlverstandenen Gemeinnutzen festsetzt – denn nur dann konnte es sich der Gerechtigkeit seines Staatsziels gewiß und daher etwas anderes sein als eine Räuberbande, nämlich ein Staatsvolk (oben: § 603). Herzustellen waren Rechtseinheit, Friede und Eintracht nur dadurch, daß die im Fränkischen Reiche zusammenlebenden Völker durch ihre Großen die Meinungen so lange übereinstrugen, bis alle ihnen zustimmen konnten. Leiter dieses Verfahrens war von seines Amts wegen der König, doch konnte es auch ohne ihn und in seiner Abwesenheit gelingen, daß universorum sententia consensit (S. 10 Z. 25 – 26, oben: § 633). Der König mußte dabei nicht unbedingt Meinungsführer
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sein, wie es starke und staatsmännisch begabte Herrscher allerdings in der Regel gewesen sein werden; er mochte sich auch auf die bloße Vermittlung zwischen den Großen, die das Wort verschiedener Völker hielten, beschränken, und davon ist vielleicht die Rede, wenn Nithard über Kaiser Ludwig sagt: (filios) ut videbatur oder prout valuit unanimes effecit (S. 10 Z. 4, 11 Z. 35). Wenn der König des consensus des Volkes oder seiner Getreuen bedurfte, um etwas entscheiden oder beschließen (lassen) zu können, so ist mit dem consensus nicht nur die Zustimmung der Großen zu seinem Willen, sondern auch die Übereinstimmung der Großen unter sich und damit die Einhelligkeit aller Willen gemeint. Um seine Leitungspflicht erfüllen zu können, war der König berechtigt, die Großen zur Hof- oder Reichsversammlung zu laden. Nithard vermeldet zwar nur einmal direkt: Kal. Iulii ad Vangionem urbem conventum indixit (S. 12 Z. 30), mehrfach aber indirekt: conventu condicto oder indicto (S. 4 Z. 19, 8 Z. 28, 10 Z. 12, 11 Z. 6), daß Kaiser Ludwig solche Ladungen ausgesprochen habe, und von Karl und Lothar sagt er es je einmal (S. 23 Z. 10, 31 Z. 14). Zweimal bezeugt er aber auch, daß die Großen quid facerent consilium convocant (S. 16 Z. 27 und 43 – 44) oder eine Tagfahrt anordneten: placitum quod fideles illorum inibi statuissent (S. 45 Z. 4 – 5). Offensichtlich schloß das königliche Ladungsrecht die Versammlungsfreiheit der Großen nicht aus. Nur von den Sachsen wissen wir, daß Karl der Große ihnen im Jahre 782 das Recht entzogen hat, sich periodisch und frei zu versammeln – freilich auch, daß seine Nachfolger es ihnen zurückgegeben haben (oben: § 457). Gegenüber den Franken wird selbst Kaiser Karl an dergleichen nicht gedacht haben können (oben: § 609); allenfalls konnte er unerwünschte, insbesondere heimliche Versammlungen zu Verschwörungen erklären (oben: §§ 173, 174, 185, 195) und ebenso wie den Ladungsungehorsam mit seiner königlichen Ungnade und willkürlicher Buße bestrafen. Insgesamt war dieser Teil der Reichsverfassung noch kaum und ebenso wenig verrechtlicht wie viele andere auch. Man überließ es dem persönlichen Vermögen der Könige und Großen und dem Spiel der politischen Kräfte zu bestimmen, was richtig und was möglich sein sollte, und so wurde es auch später im Ostfränkisch-deutschen Reiche gehalten. Das Unbestimmte der Einrichtung ließ bis zum Ende des Mittelalters hin für die königlichen Hof- und Reichsversammlungen keine festen technischen Bezeichnungen aufkommen (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 1 – 3, 235 – 245). § 635. Befragt man Nithard daraufhin, wie das Zusammenstimmen der für gewöhnlich und von Hause aus divergierenden Einzelwillen in einem gemeinen Willen des Reiches und aller seiner Untertanen zustandekam, so erfährt man, daß er die Willensbildung auf der Ebene der Nationen oder Regionen einsetzen läßt, oder besser gesagt: daß er sie von ihr an aufwärts verfolgt; vorauszusetzen ist gewiß, daß auch die unterste Ebene des Staatsaufbaus in sie einbezogen war, daß Nithard jedoch der Meinungs- und Willensbildung innerhalb der Grafschafts-, Bistums- und Hofdingsgemeinden im Rahmen seiner auf die Reichsgeschichte gerich-
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teten Erzählung keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. So hören wir gelegentlich, daß die Bretonen in Anhänger Lothars und Karls und die Sachsen in solche Lothars und Ludwigs gespalten waren (Hist. S. 18 Z. 31, 41 Z. 19 – 22), und mehrfach, daß die zwischen Seine und Maas lebenden Franken unentschieden zwischen Lothar und Karl hin- und herschwankten (S. 15 Z. 12 – 20, 16 Z. 1 – 5, 20 Z. 13 – 17, 29 Z. 38 bis 30 Z. 14, 33 Z. 12 – 17). Nithards Interesse galt vornehmlich der Willensbildung auf der höchsten Ebene, nämlich auf der des Reiches und der Teilreiche, die es abzulösen begannen. Nachdem es nach Nithard dem alten Kaiser Ludwig nur anfangs gelungen war, Zustimmung zu seinem Teilungsplane zu finden (Lodharius consensit S. 3 Z. 10), konstituierte der Konsens seit 830 nur noch die Sonderwillen der Teilungsparteien. Es war eine Partei oder Gruppe von Großen, die in diesem Jahre die kaiserliche Regierung wiederherstellen wollten (in restauratione consensum est S. 4 Z. 13) und Lothars Anhänger (qui cum Lodhario senserunt S. 4 Z. 31) verbannten. Im Jahre 839 einigten sich am kaiserlichen Hofe diejenigen primores populi, die Karls Sache unterstützten, in dem Willen (ratum duxerunt), wenigstens einen der Brüder für sich zu gewinnen, damit, si ceteri concordes esse nollent, saltem hi duo unanimes effecti der Partei der anderen widerstehen könnten (S. 10 Z. 20 – 23). Was die primores partium Karoli einte, das war die Zustimmung zu dem Teilungsplan des Vaters (statutis consentiunt S. 17 Z. 17 – 18). Sie forderten Lothar auf, sich dem zu fügen und so Frieden und Eintracht zu stiften (cederent undique paci atque concordiae S. 15 Z. 2); könnten sie sich aber darüber mit ihnen nicht verständigen, so müßten sie mit den Waffen über das Recht entscheiden: vellent cum paucis, vellent cum omni comitatu, omnes conveniant et, ni statutis aut statuendis concordia concurrat, quid cuique debeatur, armis decernant (S. 14 Z. 20 – 22, 33 Z. 19 – 22, oben: § 633). Waren Eintracht und Übereinstimmung unerreichbar, so blieben nur Streit und Streitende, dissensio und dissentientes (S. 41 Z. 20, 47 Z. 22) übrig. Begierden (oben: § 623) und Sonderwillen triumphierten dann über das Gemeinwesen: quo quemque voluntas rapuit, perfacile omissus abscessit (S. 29 Z. 32). In Nithards Sprachgebrauch erscheinen die Verben consentire, convenire, concordes esse, unanimes effici ebenso als Synonyme wie die ihnen entgegengesetzten dissentire, concordes esse nolle, armis decernere, und was beide Reihen unterscheidet, sind pax und concordia, die mit jener eng zusammenhängen, von dieser aber ausgeschlossen werden (oben: § 614). Als mangelnde Übereinstimmung der Willen kennzeichnet denn auch Nithard den ganzen Streit der Brüder: Schon in exordio dissensionis sei es Ludwigs und Karls Wille gewesen, se voluisse, das Reich in drei Teile zu scheiden, wogegen Lothar semper pacem atque concordiam spreverat (S. 43 Z. 19 – 24). Wollte man den Dissens nicht mit den Waffen austragen und damit den Willen einer Partei völlig auslöschen, so mußte man miteinander verhandeln, um mit Hilfe von Zugeständnissen beider Seiten die Parteiwillen schließlich zu einem einzigen gemeinen Willen und zur Eintracht übereinszutragen. Hilfreich war es, wenn in der
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Beratung ein anerkannter Meinungsführer auftrat, wie es unter den Anhängern Lothars zeitweise Graf Adalbert von Metz war: erat enim eo in tempore ita prudens consilio, ut sententiam ab eo prolatam non quilibet mutare vellet (S. 21 Z. 8 – 10). Auch die Könige hatten im Rate nur eine beratende Stimme, auch sie mußten die anderen von ihrer Meinung überzeugen (suadebant S. 28 Z. 14); Beredsamkeit rechnete Nithard daher zu den wichtigen königlichen Tugenden (S. 37 Z. 9). Standen einander zwei Meinungen gegenüber, so konnte die anfangs unterlegene schließlich doch obsiegen, wie es vor der Schlacht von Fontenoy geschah, als einige Karl zum Abzuge, die meisten, maxima pars, aber zum Ausharren rieten: Quamquam difficile praevaluit tamen sententia priorum (S. 23 Z. 11 – 22). Ohne daß die Stimmen gezählt worden wären, allein durch Verstummen des Widerspruchs verwandelte sich die Meinung einiger weniger in den Gemeinwillen, in dem alle übereinstimmten, universorum sententia consensit (S. 10 Z. 26. W. Wehlen 1970 S. 82 f.). Nach der Schlacht gab es im Lager der Sieger einige, die Lothar und die Seinen vernichten, und andere, die mit den Besiegten verhandeln wollten; damit endlich alle unanimes in vera iustitia devenirent, stimmte die zuhörende Mehrheit diesen letzteren bei, cetera multitudo assentientes, und entschied damit über den Gemeinwillen (S. 28 Z. 8 – 15). § 636. So muß die gemeine Willensbildung auch dann vor sich gegangen sein, wenn Nithard lediglich vermeldet, der Fürst sei der Meinung der Mehrheit, consiliis plurimorum, gefolgt (S. 18 Z. 31). Handelte nämlich eine Partei nach ihrem Willen, bevor sie die Widersacher überredet und durch Zugeständnisse dazu bewegt hatte, ihren Einreden zu entsagen und Einhelligkeit herzustellen, so machte sie sich nach Nithard unrechter Gewalttat schuldig. So geschah es im Jahre 839, als nach dem Tode König Pippins von Aquitanien pars quedam populi den Befehl des Kaisers abwartete, pars autem den ältesten Sohn des Verstorbenen in ihre Gewalt brachte und sich dadurch zum Tyrannen aufwarf, tyrannidem exercebat (S. 12 Z. 10 – 14 und 21, oben: § 623). Die notwendigen Zugeständnisse zu machen, war gewiß niemals einfach. Als die drei Könige im Oktober 842 zu Koblenz durch Gesandte über das Teilungsgeschäft verhandelten, wagte deren keiner dem Willen der anderen zuzustimmen, quod alter volebat assentire, ohne dazu die Erlaubnis seines Mandanten einzuholen (S. 47 Z. 27 – 29); die Könige aber stimmten offenbar widerwillig und nur deswegen zu, assentiebant, weil die Großen des Volkes nicht noch einmal zu den Waffen greifen wollten (S. 48 Z. 13 – 18). Nur allzu oft kamen Zustimmung und Eintracht der Großen und Könige nur necessitate instante zustande (S. 10 Z. 24, 33 Z. 11, 35 Z. 33, 45 Z. 21); die Minderheit konnte sich durchsetzen, wenn ihre paucitas ac per hoc summa necessitas sie unanimes effecit, während maxima multitudo die Mehrheit securos discordes et inordinatos reddidit (S. 7 Z. 14 – 16). Wer sich auf necessitas berief, der faßte auf seine Weise auch das Gemeinwohl ins Auge; communis utilitas et necessitas oder necessitas et utilitas regni erscheinen in der Kanzleisprache oft miteinander verbunden (MGH. Capit. 2 S. 77 Z. 11, 272 Z. 13. W. Wehlen 1970 S. 39 f.).
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Seit sich im Jahre 841 Ludwig und Karl gegen Lothar verbündet und damit den Anhängern der Teilungspolitik die Übermacht verschafft hatten, kamen die Verhandlungen, in denen die Großen zu einem einhelligen Gemeinwillen zu gelangen suchten, rascher voran, und Nithard, der persönlich daran teilnahm (S. 28 Z. 2 – 3, 40 Z. 36), geht daher auf ihren Ablauf im einzelnen ein. Stets begann es damit, daß die Unterhändler zusammentreffen mußten; das Zusammenkommen am ausgemachten Orte und zur bestimmten Zeit, die Versammlung zum conventus (S. 24 Z. 7, 45 Z. 15, 48 Z. 22) oder conventus publicus (S. 28 Z. 31) bezeichnet Nithard gewöhnlich als convenire (S. 24 Z. 6 und 11, 35 Z. 11, 45 Z. 2, 46 Z. 18 und 25, 47 Z. 8 und 24), einmal aber auch als in unum una cum primoribus coire (S. 43 Z. 17). Sobald die Parteien beisammen waren, traten sie in die Beratung ein, concilium ineunt (S. 24 Z. 11), um sich eine Meinung zu bilden oder ein Weistum zu finden: unanimes ad concilium omnes episcopi confluunt inventumque . . . est (S. 28 Z. 29 – 31); dies geschah so, daß sie die einzelnen Meinungen zusammen- oder übereinstrugen, conferunt (S. 24 Z. 8, 43 Z. 18). Conferre oder deferre ad episcopos (S. 40 Z. 7, 43 Z. 26, 47 Z. 7) heißt aber auch die Überweisung bestimmter Rechtsfragen an die geistlichen unter den anwesenden Großen, wenn es deren fachliche Meinung zu erfragen galt (percontari S. 28 Z. 27. W. Wehlen 1970 S. 88 – 90). Denn nach Nithards offenbar von allen Großen geteilter Ansicht durfte das Volk sein Recht nicht willkürlich, sondern nur unter Beachtung der Grenzen setzen, die ihm das göttliche Recht und der Gemeinnutzen zogen (oben: §§ 603, 634). Während über den letzteren zu entscheiden die Sache aller Großen war, konnten das erstere nur Bischöfe und Priester erkennen. Die Frage, ob Lothar sich nach göttlichem Rechte versündigt und deswegen nicht nur die Eignung zum Herrscheramte, sondern auch den Anspruch darauf verloren habe, ja ob man mit ihm als potentiellem Sünder überhaupt noch verhandeln und paktieren dürfe, die Frage, ob die Sieger von Fontenoy, als sie zu den Waffen griffen, gesündigt oder rechtgetan, ob sie um eigennütziger Begierden willen oder pro sola iustitia et aequitate gekämpft hätten, schließlich die Frage, ob ein bestimmter Eid sündhaft oder gerecht sei (S. 28 Z. 30 bis 29 Z. 11, 40 Z. 10 – 26, 43 Z. 25 – 29, 47 Z. 3 – 22), dies alles konnten nur die Bischöfe beantworten, nur sie konnten der Versammlung veluti numine divino oder auctoritate divina (S. 40 Z. 8 und 32, 43 Z. 26) die richtige Antwort offenbaren. Es zeigt sich in diesen Vorgängen, daß die Bischöfe in zwei verschiedenen Funktionen am öffentlichen Leben und an den Reichsversammlungen teilnahmen, nämlich einmal als Inhaber weltlicher Ämter und Vorsteher von Partikulargemeinden innerhalb des Reichsuntertanenverbandes, und zweitens als Inhaber geistlicher, durch Priester- und Bischofsweihe vor den laikalen ausgezeichneter Ämter. Wenn allein sie über das göttliche Recht Auskunft geben und es auf Einzelfälle anwenden konnten, so war es in ihrer zweiten Funktion, daß die Reichsversammlung sie als Berater in Anspruch nahm, so wie sie im Jahre 751 zum ersten Male auch den Bischof von Rom um seinen Rat in der Frage ersucht hatte, wer nach der göttlichen Weltordnung im Frankenreiche König sein sollte (unten: § 686). Um ihren Rat-
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schluß zu fassen, schieden die Bischöfe vorübergehend aus der Reichsversammlung aus und konstituierten sich als Reichskonzil, das zu berufen ihrem Könige zustand. § 637. Es trifft demnach nicht zu, daß durch die Überweisung an die Bischöfe „die Sachentscheidung kurzerhand den Geistlichen überlassen und auf eine spirituelle und intellektuelle Ebene verschoben“ worden wäre (A. Krah 2000 S. 155, 192). Ebenso wenig kann ich darin, daß die Bischöfe Ludwig und Karl aufforderten, die von Lothar verwirkten Rechte an sich zu nehmen, sofern sie gemäß Gottes Willen regieren wollten (S. 40 Z. 27 – 34), eine „inszenierte Herrschaftseinweisung Ludwigs und Karls durch die Bischöfe“ (A. Krah 2000 S. 147) erkennen. Vielmehr belehrten die Bischöfe die Reichsversammlung lediglich über die Grenzen, innerhalb deren die erst noch nach empirischem politischem Ermessen zu treffenden Entscheidungen gerechtfertigt seien, und in der Tat haben sich Könige und Große jene Aufforderung nicht zu eigen gemacht, sondern später eine andere Lösung des politischen Problems gewählt, ohne dadurch das göttliche Recht und die Bischöfe zu kränken. Darin freilich stimmten göttliches und weltliches Recht überein, daß Friede und Eintracht das letzte und höchste Ziel der Verhandlungen sein mußten, daß Könige und Große verpflichtet seien, den Frieden zu schließen und zu bewahren, pacem pangere, conservare, und den Untertanen Frieden und Recht zu gewähren, pacem et leges subiectis concedere (S. 42 Z. 28, 43 Z. 14 – 15 und 24, 45 Z. 4). Zu einem dieser Pflicht genügenden Ende aber konnten die Beratungen nur dadurch gelangen, daß die Parteien mit ihren Meinungen zusammen- oder übereinskamen. Auch hierfür, für das Übereinkommen in der Sache, benutzt Nithard das Verbum convenire (S. 35 Z. 33, 46 Z. 11). Kennzeichen der Konvention, mit der die Beratung abschloß, Kennzeichen des Beschlusses waren Einmütigkeit und Einstimmigkeit: universis visum unanimiter parique consensu (S. 24 Z. 14), omnibus unanimiter visum est atque consentiunt (S. 40 Z. 24). Endgültig kamen unanimitas und sancta et veneranda concordia (S. 37 Z. 26, 38 Z. 2) dadurch zustande, daß auch die Könige dem von den Großen vereinbarten Weistum zustimmten, con- oder assentiunt (S. 43 Z. 29, 48 Z. 18). Von schriftlicher Fixierung der Konvention ist nie die Rede. Man bedurfte ihrer nicht, die Konvention, der Pakt war perfekt und gültig, wenn niemand mehr in der Öffentlichkeit der Versammlung dem Weistum widersprach, denn alle Anwesenden waren dessen Zeugen wider den, der sich aliter quam convenisset verhielt (S. 46 Z. 11). Gewissermaßen besiegelt wurde das Beschlossene dadurch, daß die Versammelten im Abschied auseinandergingen, discedere, secedere (S. 45 Z. 17, 47 Z. 22, 48 Z. 25; dagegen abscedere das Auseinandergehen im Dissens S. 29 Z. 32). Vergleicht man mit diesem Befunde, was sich aus anderen Quellen über die gemeine Willensbildung in den nach germanischem Einungsrecht verfaßten Personenverbänden des Mittelalters erheben läßt (oben: §§ 30, 192 – 196), so ergibt sich aus den Übereinstimmungen als unzweifelhaft, daß Nithard in lat. Überset-
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zung die volkliche Rechtssprache aller derer wiedergibt, die sich im 9. Jahrhundert und später an der öffentlichen gemeinsamen Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems beteiligten. In ihr bezeichnet lat. consensus das endliche Übereinstimmen der Meinungen aller Versammelten, aber auch der Abwesenden, deren Wort sie hielten, in einem einzigen, allen gemeinsamen Willen, in dem schließlich universorum sententia consensit (S. 10 Z. 25 – 26) und alle einmütig, unanimiter, übereinstimmten (S. 40 Z. 24). Die in verfassungsgeschichtlicher Hinsicht entscheidende Frage nach dem Rechtsgrunde der Vollmacht, kraft deren die proceres je einzeln anstatt ihrer Völker und gemeinsam, als maiores natu Francorum, anstatt des gesamten Reichsvolkes dessen Gemeinwillen für alle Edlen und Freien verbindlich erklären konnten, ist meines Wissens bisher nur ein einziges Mal gestellt worden. Beantworten ließ sie sich nur mit dem Hinweis auf „den von der neueren Staatslehre ausgearbeiteten Begriff der Repräsentation“, wenn auch mit der Einschränkung, dieser Begriff sei für die fränkische Zeit „mit Vorsicht zu gebrauchen, sonst gerät man wieder in Anachronismen“ (G. Tellenbach 1979 S. 195, 251). Die gebotene Vorsicht erheischt indessen nicht, die Frage nach der Vollmacht überhaupt zu unterdrücken, sondern lediglich, die unbeschränkte Vollmacht des Repräsentanten als spätes Produkt der europäischen Verfassungsgeschichte von der beschränkten Vollmacht zu unterscheiden, die den Worthaltern der im Reichsuntertanenverbande vereinigten Partikularverbände im frühen und hohen Mittelalter nach den Regeln der identischen Willensbildung zukam (oben: §§ 22 – 24, 390). Herbeiführen tat man die Einmütigkeit, indem man, wie das Verbum convenire in eigentlicher und übertragener Bedeutung aussagt, zusammen- und übereinskam und die Meinungen, so das Verbum conferre im eigentlichen Sinne, zusammenund übereinstrug zur Eintracht, concordia, und damit zum Frieden aller mit allen. Einsicht in die necessitas und communis utilitas förderte diesen Prozeß; wer sich ihr entzog, wer Zugeständnisse an die anderen verweigerte und ihnen seinen Sonderwillen gewaltsam aufzunötigen suchte, der setzte sich ins Unrecht und machte sich zum Tyrannen. Aus der necessitas ergab sich unmittelbar für jedermann, wie im Gericht und bei der Königswahl (H. Mitteis 1944 S. 73 – 77), so in der Reichsregierung die Pflicht, derjenigen Meinung zu folgen, die sich als konsensfähig herausstellte (E. Pitz 2001 S. 405 – 407). Diese Pflicht war das Komplement zu dem Recht, an der Reichsversammlung und gemeinen Willensbildung teilzunehmen, und wer sich ihr entziehen wollte, der mußte auch auf dieses Recht verzichten. § 638. Solches Übereinstragen der Meinungen bedeutet, daß der allgemeine consensus, auf dem Friede und Eintracht beruhten, durch einen Vertrag, foedus, pactum, zustandekam, den die Großen unter sich und mit dem Könige abschlossen. Jeder Beschluß, dem der König zustimmte oder dem er seine Sanktion erteilte, stellte eine Fortschreibung oder Interpretation des Herrschaftsvertrages dar, den das Volk mit ihm bei seiner Erhebung eingegangen war. Zwar konnte Kaiser Ludwig im Jahre 829 seinem Sohne Karl Alamannien per edictum übergeben (Nithard
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S. 3 Z. 25), denn damit überwies er dem Sechsjährigen lediglich die Einkünfte aus den alamannischen Fisken, und davon waren die Rechte der Völker nicht betroffen: Sie mußten nur wissen, an wen sie die Fiskalerträge abzuliefern hatten. Aber als Ludwig drei Jahre später Pippin das Königreich Aquitanien entziehen und es auf Karl übertragen wollte, da reichte ein kaiserliches Edikt nicht aus, um dies zu bewirken. Der Kaiser mußte den primatus populi dazu bewegen, Karl anzunehmen und ihm Gehorsam zuzuschwören (S. 5 Z. 9 – 11). Ebenso konnte er im Jahre 837 das für Karl bestimmte Teilreich nur conventu indicto und dadurch errichten, daß er dessen Bewohner ihm Treue schwören ließ (S. 8 Z. 28 – 29, 9 Z. 19, 10 Z. 7, oben: §§ 587, 588). Nithard betrachtet diese Vorgänge allerdings gelegentlich einseitig mit den Augen desjenigen, der von seinem Vater das Recht erhalten hatte, König sein zu wollen. So sagt er von Ludwig, er habe sich nach Karls Tode im Jahre 814 nach Aachen begeben und dort das herbeikommende Volk seiner Gewalt unterworfen, undique ad se venientem populum . . . suae ditioni addixit (S. 2 Z. 7 – 8; zu addicere H. Götz, Wb. 1999 S. 12), und von Karl, er habe seinem Bruder Lothar die Gewalt, ditio, in einem Teilreich zugesagt, sich selbst aber seinen Neffen Pippin unterwerfen, sibi subdere, wollen (S. 26 Z. 11, 29 Z. 14). Aber damit sagt er nicht, daß sich die Untertanen solchem Rechte und Willen stumm hätten beugen müssen. Schon zu 814 bemerkt er, daß keineswegs alles Volk nach Aachen gekommen war, um sich Ludwigs Gebot zu unterwerfen, sondern daß es ceteri gab, qui sibi creduli videbantur (S. 2 Z. 13 und 33 – 37). Was die Aquitanier anlangt, so mußte Ludwig sie dazu ermahnen und überreden, Karl zu huldigen, und Karl mußte versuchen, sie sich untertänig zu machen (S. 12 Z. 20, 18 Z. 26). Nithard brauchte nicht zu erwähnen, was jeder seiner Leser ohnehin wußte, daß es nämlich, um die königliche Gewalt zu begründen, nicht nur des Wollens und Handelns eines Thronbewerbers, sondern auch des willigen Tuns der Untertanen bedurfte. Nithard widerspricht sich also keineswegs, wenn er für gewöhnlich das Volk oder dessen Haupt zum Subjekt seiner Aussage macht und für deren Handeln verschiedene verbale Ausdrücke synonym verwendet: alicui oder alicuius ditioni se subdere, committere, commendare, copulare (S. 4 Z. 20, 12 Z. 19, 17 Z. 29, 18 Z. 6, 23 Z. 20), aber auch mit Betonung der Freiwilligkeit: fidelis alicui esse velle, se subdere velle oder se per presens subdere differre (S. 18 Z. 19 und 30, 30 Z. 29). Auch wenn Nithard von einem Könige sagt, er habe Leute seinem Rechte eingefügt, suo iuri adiecit, so setzt er dabei voraus, daß diese dazu willig waren, sui iuris esse vellent (S. 19 Z. 22, 22 Z. 25). Die Einwilligung oder Zustimmung des Volkes war aber nur um den Preis bestimmter Zusagen zu erlangen. Diejenigen, die Kaiser Ludwig im Jahre 830 schließlich wieder in sein Amt einsetzen wollten, wurden sich darüber mit ihm einig, nachdem er gelobt hatte, das Gemeinwesen, rem publicam, und vor allem den Gottesdienst nach Kräften aufzurichten, außerdem aber die Reiche der Söhne Pippin und Ludwig zu vergrößern (S. 4 Z. 7 – 13 und 16 – 18). Den Vertrag, der
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hierbei durch Angebot und Gelöbnis formlos zustandekam, nennt Nithard foedus oder pactum, auch pactio (oben: § 612b), mochte er nun von den Häuptern und Großen beider Seiten beschworen werden (S. 10 Z. 17 und 27, 11 Z. 5, 17 Z. 7 und 22, 37 Z. 12) oder nicht (S. 18 Z. 2, 29 Z. 23 und 33, 31 Z. 18). Wie pangere pactum, so sagt Nithard einmal pangere pacem (S. 37 Z. 12, 43 Z. 15), denn was der Vertrag bewirkte, das war Friede zwischen den Parteien oder auch Freundschaft, amicitia (S. 17 Z. 18, 18 Z. 24. A. Krah 2000 S. 57 f., 60 f., 87 f., 137). Wer sich dem Könige durch ein solches foedus unterwarf, den nahm dieser zum Genossen an, illos sibi foederatos recepit (S. 29 Z. 37). Da das Partizip foederatus zweifellos dasselbe bedeutet wie confoederatus (oben: § 605), bewirkte der Vertrag stets auch eine Erneuerung oder Bestärkung der Reichsgenossenschaft der Großen und des Reichsuntertanenverbandes, dessen Wort sie hielt. § 639. In dem Recht des Volkes, einen solchen Herrschaftsvertrag abzuschließen und einen Karolinger zum Könige über sich zu erheben, war das Recht enthalten, den König wieder zu verlassen, wenn er den Vertrag nicht (länger) erfüllte oder gar ihn verletzte: a patre deficere, imperatorem dimittere oder relinquere (S. 5 Z. 26, 6 Z. 14, 8 Z. 15 und 27), a rege deficere oder desciscere, regem derelinquere (S. 15 Z. 20, 16 Z. 5 und 24 und 31, 29 Z. 36, 45 Z. 22). Im Straßburger Vertrag vom 14. Februar 842 erkannten Ludwig und Karl ausdrücklich an, daß die ihnen eidlich verbundenen Untertanen gegebenenfalls berechtigt, ja sogar verpflichtet sein sollten, sie zu verlassen: a subditione mea nec non et a iuramento, quod mihi iurastis, unumquemque vestrum absolvo (S. 36 Z. 2 – 4). Subditio bedeutet nicht eine Pflicht zu gehorchen, die der König seinen Untertanen aufgezwungen hatte oder hätte aufzwingen können, sondern eine solche, die freie Männer freiwillig übernommen hatten, als sie einen der ihren zum Könige erhoben und zu diesem Zwekke sich selbst zu subiecti regum oder subditi (S. 14 Z. 34, 18 Z. 25 und 30, 43 Z. 14) gemacht und eidlich für ihren König verbürgt hatten. Verließen sie jeder einzeln und für sich selbst den König, so lösten sie damit zugleich auch die Reichsgenossenschaft auf, die sie errichtet hatten, als sie samt und sonders jene Herrschaftsverträge mit dem Könige abgeschlossen hatten. Ohne ein solches pactum, einen Herrschaftsvertrag, konnte es keine gerechte Königsgewalt geben, wäre jede Königsmacht in Nithards Augen Tyrannei oder Dominat (S. 12 Z. 14 und 22, 34 Z. 32. W. Wehlen 1970 S. 69) gewesen. Für seine Person redete Nithard König Karl zwar als seinen Herrn, mi domine, an (S. 1 Z. 2), aber Herr war der König nur jedes Einzelnen, der ihm Beistand und Treue gelobt hatte; sein Verhältnis zur Gesamtheit der Untertanen und Großen war das des Vertragspartners und Genossen, wie sehr ihn auch immer der Vorrang auszeichnen mochte, der ihm kraft seiner Abstammung von Kaiser Karl dem Großen zukam. Auch der Umstand, daß das Königtum dem Herrscher letzten Endes von Gott anvertraut werde, regnum sibi a Deo commissum oder datum (S. 15 Z. 1, 20 Z. 7), machte den König nicht zum Herrn des Volkes, denn Nithard wußte sehr wohl, daß Gott das Amt nicht mit eigener Hand verlieh, sondern menschlicher Hilfe bedurfte,
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um seinen Willen geltendzumachen (S. 15 Z. 30, 22 Z. 34, 35 Z. 37. W. Wehlen 1970 S. 74). Das Volk aber übertrug seinem Haupte stets nur eine beschränkte Amtsvollmacht (oben: § 489). Es war weit davon entfernt, sein Selbstbestimmungsrecht durch eine lex regia ein für allemal und so bedingungslos auf den König zu übertragen, daß diesem daraus das schrankenlose Mandat eines Herrn und Tyrannen zugewachsen wäre. Wie sehr das vom Volke mit göttlicher Zulassung übertragene Amt den König auch auszeichnete: als Vertragspartner blieb er doch stets Genosse der Reichsgemeinde. Denn mochte das Paktieren zwischen Herrscher und Volk auch wie eine Verhandlung zwischen zwei politisch selbständigen Willensträgern aussehen: im germanischen Rechtsverständnis war es doch nie etwas anderes als die Herausbildung eines einzigen, allen (Rechtsgenossen) gemeinsamen Willens (M. Borgolte 1984 S. 273). Es gilt demnach allgemein, was bereits speziell für die königliche Gerichtsbarkeit gezeigt worden ist, daß nämlich „die Vorstellungen jener Historiker, die die mittelalterliche Verfassung vom Begriff der Herrschaft ausgehend zu beschreiben und zu erklären suchen“ und deswegen die Genossenschaft der Großen und Untertanen für zweitrangig erachten, ganz unzutreffend sind (J. Weitzel 1985 S. 102). Schon in der von Otto Gierke entwickelten Konzeption schlossen diese Vorstellungen die Auffassung ein, erst als unter dem Einfluß des Lehnswesens der Reichstag zur Lehnskurie geworden sei, habe die Reichsgenossenschaft das Recht der Mitbestimmung erlangt (O. Gierke 1868 S. 197. J. Weitzel 1985 S. 69. Oben: § 271). Ich muß daher auch der These widersprechen, daß zuerst nach der Reichsteilung von Verdun in König Karls Reich die verfassungspolitische Konzeption der „monarchie contractuelle“ entwickelt worden sei, auf die sich seither die Verfassung des Westfränkischen Reiches gegründet habe, wogegen eine ähnliche Basis für das Ostfränkische Reich zu dieser Zeit kaum zu ermitteln sei (A. Krah 2000 S. 189, 206, oben: §§ 618, 619). Denn der Vertrag von Coulaines, auf den sich diese These stützt, ist in derselben Rechtssprache abgefaßt, deren sich vorher bereits Nithard bediente, und beweist damit, daß seine Verfasser denselben Rechtsauffassungen gefolgt sind wie er. § 640. Es heißt nämlich darin, daß die Großen des Königs zunächst unter sich eine Einung errichteten, bevor sie mit ihrem Könige paktierten: Weil in dem Könige, in den geistlichen Großen und in denen, die dem Gemeinwesen hilfreich beizustehen pflegen, et in rei publicae nostrae solaciatoribus, mannigfache Zwietracht fortwährte, seien die königlichen Getreuen, sowohl Geistliche als auch vornehme Laien, zusammen- und übereinsgekommen, venientes in unum fideles nostri, um sich gegenseitig zur Eintracht zu ermahnen, omnes se invicem monuerunt, mit anderen Worten: um sich in Frieden, Eintracht und Freundschaft zu verbinden, ut . . . sese in pacis concordia et vera amicitia copularent, schließlich aber um als Verbundene nicht nur über den Nutzen des Königs und des Reiches zu verhandeln, sondern auch um dem eigenen sowie dem gemeinen Nutzen des ganzen Volkes zu
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dienen, quatenus . . . de regis ac regni stabilitate et utilitate possent tractare sublimius et suum atque totius populi communem profectum et tranquillitatem obtinerent (MGH. Capit. 2, 253 n. 254, hier: S. 254 Z. 9, 12, 17 – 18, 21 – 24). Was geschah hier anderes, als daß sich die Großen, nach altem Brauche (oben: §§ 607, 610, 633) in Abwesenheit des Königs, über die Bedürfnisse des Gemeinwesens verständigten, bevor sie zu ihrer Meinung die Zustimmung des Königs einholten? Erst nachdem diese Willenseinung der Großen und Worthalter des Gemeinwesens einhellig zustandegekommen war, conventu unanimiter ac rationabiliter perpetrato, teilte die Versammlung ihren Willen dem Könige mit: nostrae mansuetudini suam devotionem et actionem fidelissime suggesserunt. Obwohl sie dabei die höfische Form ergebener Bittsteller wahrten, blieb dem Herrscher, wie üblich (oben: § 638), gar nichts anderes übrig als ihren Beschluß gutzuheißen und ihrer Einung beizutreten: Nos . . . eis condignas gratiarum actiones retulimus et nos nostramque potestatem eorum bonae convenientiae . . . sociam et comitem fore tota devotione spopondimus (ebd. S. 254 Z. 25 – 31). Frau Krah fragt sich selbst, ob die Einung der Magnaten und das Bewußtsein ihrer Verantwortung für das Regnum nicht schon seit dem Beginn der Bruderkriege vorhanden gewesen wären, aber sie glaubt, diese Frage verneinen zu können, wofür die Begründung mir freilich unverständlich bleibt (A. Krah 2000 S. 208 f.). Zudem verstehe ich weder sprachlich noch sachlich, wie man aus dem Akkusativ actionem und dem Adverb fidelissime (Capit. 2 S. 254 Z. 26), als ob dies ein Paarwort wäre, herauslesen kann, der Beitrittserklärung des Königs sei die Huldigung der Magnaten vorausgegangen, und darin werde „die vasallitische Konzeption als Basis der Königsherrschaft sichtbar“ (A. Krah 2000 S. 215), waren doch die Großen bereits zu dem Zeitpunkt Getreue des Königs, als sie ihre vorgängige Einung errichtet hatten. Ganz und gar nicht schließlich kann ich der Bewertung beitreten, „es dürfte nicht zu weit gegriffen sein,“ in der Reichsversammlung von Coulaines vom November 843 „eine Vorform einer verfassunggebenden Versammlung zu sehen“ (ebd. S. 253). Denn es ist zwar richtig, daß damals das Königtum des Westfränkischen Reiches, nachdem es in Verdun erstmals eine gesicherte Existenz erlangt hatte, gefestigt und neu gegründet werden mußte, aber ganz unzutreffend, daß die Großen dafür neue Rechtsformen zu ersinnen hatten. Vielmehr sind es uralte Rechtsgedanken, deren sich die Beteiligten bedienten. Zumindest den älteren unter ihnen wird zweifellos die Erinnerung daran noch gegenwärtig gewesen sein, daß ihre Vorfahren erst vor neunzig Jahren Karls Urgroßvater zum Könige über sich erhoben und dazu den Weg freigemacht hatten, indem sie ihren alten König und dessen Dynastie verließen. Aufnehmen möchte ich dagegen die Beobachtung, daß, wenn die Magnaten, „die das Reichsvolk repräsentierten,“ zu Coulaines den König „nach Einigung über die Kursrichtung und Vorgaben der Herrschaftsausübung an ihre Spitze“ stellten, „die Ähnlichkeit eines solchen Vorgehens mit späteren Königserhebungen und die analoge Vorgehensweise bei Wahlversprechungen im Deutschen Reiche offensichtlich ist“ (A. Krah 2000 S. 215). Denn dies setzt voraus, daß die
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Großen des Ostfränkischen Reiches, aus dem später das Deutsche Reich hervorging, im 9. Jahrhundert denselben Rechtsgedanken anhingen wie die des lotharischen und des Westreiches, wie dies ja auch Nithards Darstellung dadurch bestätigt, daß sie uns keinerlei Unterschiede zwischen den verfassungsrechtlichen Anschauungen der Großen in den einzelnen Regionen des Fränkischen Reiches zu erkennen gibt. Der Wortlaut des Vertrags von Coulaines bestätigt demnach einen Schluß, der sich uns bereits mehrfach (oben: §§ 618, 624, 637) ergeben hatte, daß nämlich in Nithards Art und Weise, über Regierung und Verfassung des Frankenreiches zu denken und zu sprechen, keineswegs der persönliche Stil eines Schriftstellers zum Ausdruck kommt, mit dem sich insoweit kein zweiter Autor des hohen Mittelalters vergleichen läßt, sondern daß uns in Nithards Rechtssprachgebrauch und Rechtsvorstellungen die Rede- und Denkweise aller seiner Rechtsgenossen, als der geistlichen und weltlichen Großen und der Völker, deren Wort diese hielten, entgegentritt, und zwar in derselben lat. Übersetzung, deren sich die Reichskanzlei bediente und vor Nithard bereits Abt Adalhard bedient hatte. Es war daher zu erwarten, daß die Verfassung, die uns Nithard ebenso wie Adalhards Schüler Hinkmar vor Augen rückt, den Regeln des germanischen Einungsrechts und der das Volk mit der Reichsregierung verbindenden identischen Willensbildung gehorchen würde, die sich auch in mancherlei anderen Quellen des hohen und späten Mittelalters aufspüren lassen. § 641. Nichts deutet darauf hin, daß sich die auf den Reichsversammlungen des Ostfränkisch-deutschen Reiches eingehaltenen Formen des Verhandelns, Paktierens und Konsentierens im Verlaufe des Mittelalters wesentlich und in demselben Ausmaß verändert hätten, wie sich das Staatsziel und der Inbegriff des gemeinen Nutzens wandelten, nachdem das Reich zuerst die große Aufgabe bewältigt hatte, Mitteleuropa im Kampfe gegen Dänen, Slaven, Ungarn und Byzantiner zu befrieden, und sich endlich auch der Notwendigkeit enthoben sah, Rom und Italien zu beherrschen. Die Unbestimmtheit der Formen, die die Reichsversammlungen des 9. Jahrhunderts kennzeichnet, ist noch in der Regierungszeit Kaiser Maximilians an der Schwelle zur Neuzeit wahrzunehmen (oben: §§ 29, 635). Noch immer sah der Reichstag einem karolingischen Hoftag zum Verwechseln ähnlich, war der Kreis der Teilnehmer offen, zielte das Verfahren auf Eintracht statt auf Gesetzgebung und war die Frage umstritten, inwiefern die Beschlüsse Abwesende verpflichteten. Seit 1521 gab es dann zwar eine Matrikel, die den Zugang zum Reichstag auf die darin verzeichneten Reichsstände einschränkte, aber „die Beschlüsse eines Reichstags behielten immer den Charakter freier konsensual-vertraglicher Einigung. Die Mehrheitsregel hatte nur den Status einer pragmatischen Übereinkunft, der sich ein dissentierender Stand durch förmliche Protestation entziehen konnte. Die Durchsetzung mehrheitlich gefaßter Beschlüsse blieb ohne Zustimmung der Betroffenen immer prekär, denn es gab keine unabhängige Exekutionsinstanz. Reichsabschiede waren daher eher Konsensbestätigungsurkunden als Gesetze im modernen Sinne“ (B. Stollberg-Rilinger 2003).
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2. Teil: Der Staat
Wie ist dieser Befund zu erklären? Offensichtlich waren Kaiser und Reich weder willens noch imstande, von den Regeln des althergekommenen Systems identischer Willensbildung abzugehen, welche die romanischen Länder Europas damals zugunsten des Repräsentativsystems abzustreifen im Begriff waren (oben: § 390). Wie auf den Reichstagen, so war auf den Tagfahrten der Hansestädte der etwa erreichte Konsens wegen des offenen Teilnehmerkreises nicht durch Auszählen abgegebener Stimmen, sondern nur dadurch festzustellen, daß die Debatte verstummte und niemand mehr Widerspruch erhob gegen den Spruch, in dem der Vorsitzende das Ergebnis der Hin- und Widerreden zusammenfaßte (E. Pitz 2001 S. 398 – 407). Wie weit die erreichte Eintracht die Städte verpflichtete, das wußte niemand genau, zumal da es den Sendeboten erlaubt war, sich der Zustimmung zu entziehen, indem sie sich für nicht vollmächtig erklärten und das Referenzrecht ausübten, das einer jeden Stadt zustand (oben: § 22). Indessen unter dem Druck der Folgepflicht, die auf allen Städten und Sendeboten lastete als unvermeidliche Voraussetzung dafür, daß einhellige Beschlüsse überhaupt möglich waren, unterließen es nur allzu oft einzelne Ratssendeboten, der Mehrheitsmeinung zu widersprechen oder sie lediglich ad referendum anzunehmen, obwohl sie wußten, daß sie nicht vollmächtig waren, ihr zuzustimmen, und daß ihre Stadt den fraglichen Beschluß nicht ratifizieren würde. Im Jahre 1447 endlich sah sich die hansische Versammlung mit der zwar längst bekannten, aber niemals ins Bewußtsein erhobenen Konsequenz konfrontiert, die sich unter diesen Umständen aus den Regeln identischer Willensbildung ergab: daß nämlich auch ihren einhellig getroffenen Entscheidungen unmittelbar keinerlei Rechtskraft zukam, weil sie unter dem Vorbehalt der Ratifikation von Seiten der einzelnen hansischen Kontor- und Stadtgemeinden standen. Erst dann und nur dort, wo eine Gemeinde den Beschluß publizierte und ihre Genossen auf ihn verpflichtete, erlangte der Wille der Ratssendeboten Rechtsgeltung (ebd. S. 408 – 415, oben: §§ 27, 608b). Derselben Rechtsauffassung, denselben Formen identischer Willensbildung gehorchten die Fürsten, Großen und Bürgermeister, die als Worthalter ihrer Landesund Stadtgemeinden den Reichstag besuchten. Im Gegensatz jedoch zur hansischen Gemeinschaft, die sich zwar in dem Rate zu Lübeck ein gekorenes Haupt gegeben, diesem aber keinerlei hoheitliche Befugnisse übertragen hatte, war das Oberhaupt des Reiches von der Reichsgemeinde, die es erkor und über sich erhob, seit unvordenklichen Zeiten mit den hoheitlichen Rechten und der Sanktionsgewalt eines Königs ausgestattet worden, und in Kaiser Karl V. besaß das Reich nicht nur einen überaus mächtigen König, sondern auch ein Haupt, das wegen seiner spanischen Erziehung der deutschen Rechtsauffassung ebenso fremd und feindselig gegenüberstand wie einst Kaiser Friedrich II. (oben: §§ 254, 256). Dieser König schreckte nicht davor zurück, sich nach deutschen Begriffen zum Tyrannen aufzuwerfen, indem er diejenige im Reichstag geäußerte Meinung, die er für richtig und notwendig hielt, als beschlossen feststellte und sanktionierte, auch
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wenn sie weit davon entfernt war, von der Reichsversammlung einhellig, einmütig, einstimmig gutgeheißen zu werden. Gegenüber der ungeheuren Zwangsgewalt, die Karl V. im Reiche auszuüben vermochte, half es den dissentierenden Reichsständen wenig, wenn sie im Reichstage auf Widerspruch verzichteten, weil sie darauf vertrauten, daß erst die Ratifikation durch ihre Länder und Städte einen Reichsbeschluß zur Rechtskraft erwachsen ließ. In der hansischen Gemeinschaft war es gegenüber einem Haupte, welches lediglich den Vorrang eines Ersten unter Gleichen genoß, den Dissentierenden auch dann möglich, ihr Recht zu wahren, wenn sie sich auf der Tagfahrt des Widerspruchs enthielten, obwohl sie damit den Anschein erweckten, als ob sie die Folgepflicht gegenüber der Mehrheit erfüllen wollten. Im Reiche dagegen verlegte Kaiser Karl V. den Dissentierenden diesen Ausweg. Der alten deutschen Auffassung, daß Reichsabschiede nur einhellig zustandekommen könnten, setzte er die moderne westeuropäische entgegen, wonach dazu auch eine bloße Mehrheit der Stimmen genügte. Unter diesen Umständen hätten Dissidenten, die sich verschwiegen, ihrem Rechte nicht nur im einzelnen Falle, sondern ein für allemal entsagt, sie hätten einer veritablen Verfassungsänderung zugestimmt. Um das zu verhindern, war die öffentliche Protestation geboten. Sie bezeugte nicht nur, daß sich der Kaiser über das Erfordernis der Einstimmigkeit hinwegsetzte, sondern nahm auch die hergebrachte Reichsverfassung gegen die Anmaßung eines Tyrannen in Schutz. Erst am Ende des 16. Jahrhunderts war das alte Verfassungsrecht, waren namentlich der Reichsuntertanenverband und die Regeln seiner identischen Willensbildung so weit verblaßt, daß man die variable Zahl der Stimmen weltlicher Fürsten im Reichstag als regellos und zufällig gegeben und weder den historischen Grundlagen noch den tatsächlichen Machtverhältnissen noch billiger Verteilung von Rechten und Pflichten entsprechend empfand. Denn man hatte aufgehört, sie als Verbandsstimmen zu verstehen, und definierte sie statt dessen nach altrömischem Vorbild als Virilstimmen im Gegensatz zu den Kuriatstimmen der Prälaten, Grafen und freien Herren. Schließlich fixierte man ihre Menge bei der im Jahre 1582 erreichten Zahl und erkannte die Mehrheit der Stimmen offen als für die gemeine Willensbildung ausreichend an (J. Ficker 1861 S. 265 – 270. C. von Schwerin 21941 S. 305).
Neunzehntes Kapitel
Der Reichsuntertanenverband §§ 642 – 645. Amtskönigtum und Untertanenverband § 642. Das Königtum war das höchste Amt, das die Völker Europas im hohen Mittelalter zu vergeben hatten. Um Könige über sich erheben zu können, mußten sie sich zu Reichsgemeinden zusammenschließen und bereit sein, ihre fürstlichen Worthalter in Reichsversammlungen zu entsenden, denn nur solche Versammlungen konnten die notwendigen Handlungen in einer für alle verbindlichen Weise vornehmen: Nur sie konnten die für das Amt am besten geeignete Person aus ihren eigenen Reihen auswählen und hernach die Amtsgewalt im Namen des Volkes auf sie übertragen. Diese Bevollmächtigung des Erwählten vollzog sie, indem sie ihn öffentlich, d. h. unter dem zustimmenden Beifall des Volkes, zum König ausrief und ihm Gehorsam und Beistand bei der Erfüllung der Amtspflichten gelobte. Die Amtsgewalt des Königs bezeichne ich, einem eingebürgerten, wenn auch unbefriedigenden Sprachgebrauch folgend, als Herrschaft. Dominus oder Herr nämlich war der König nur im Verhältnis zu jedem einzelnen Untertan und zu den Partikularverbänden, da er ihnen gegenüber die Interessen der Gesamtheit, deren Wort er hielt, zu vertreten hatte; er war es aber nicht im Verhältnis zur Gesamtheit selbst, zu der Reichsgemeinde als eigentlicher und unsterblicher Herrin der Untertanen, die auch die Interregna überlebte und von der er selbst erst die Herrschaft empfing. Vorstehendes ergibt sich aus allem, was wir bis hierher über die Verfassung des Fränkischen und des Ostfränkisch-deutschen Reiches haben in Erfahrung bringen können, vor allem aber daraus, daß Erzbischof Hinkmar von Reims in seiner Schrift über die Regierungsformen nur von zwei Hauptteilen des fränkischen Staates redet, dem königlichen Palaste nämlich und der Reichsversammlung, und daß er in beidem Einrichtungen sowohl des Königs als auch des königlichen Untertanenverbandes sieht, ohne des Königtums als eigenen, sei es ersten oder dritten, Staatsteils zu gedenken, geschweige denn es über sie zu erhöhen (oben: § 606). Der König besaß eben keine eigenen, von dem Staatsvolke und dessen Beistand unabhängigen Hilfsmittel, mit denen er Macht über die Untertanen hätte ausüben können. Gewiß konnte seine Macht ins Unermeßliche steigen, wenn staatsmännische Gaben und mitreißende Beredsamkeit seine Person dazu befähigten, die nach den ihr innewohnenden Regeln schwierige, schwerfällige und langwierige identische Wil-
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lensbildung des Reichsvolkes auf bestimmte Ziele hinzulenken. So bewiesen die Könige von England seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert die Gabe, das Volk zu lenken und zu führen, indem sie den Teilgemeinden und der Reichsgemeinde das Repräsentativsystem aufnötigten (oben: §§ 274, 390), unterstützt von den Baronen, den einstigen Fürsten der Völker und jetzigen Lords des Königreichs, und wir sahen die Gemeinden zähneknirschend ihre Folgepflicht gegenüber dem königlichen Willen und einem Staatsinteresse erfüllen, das sie noch lange nicht als gemeinnützig anerkennen konnten. Die Macht konnte dem Herrscher aber auch vollständig entgleiten, wenn ihm jene Gaben abgingen und an ihre Stelle Eigenschaften traten, die den Willen des Reichsuntertanenverbandes kränkten und unterdrückten. Denn die mit dem königlichen Amte verbundene institutionelle Macht war gering, soweit die Völker zu dieser Zeit überhaupt erst im Begriff waren, sich eine Rechtsvorstellung, einen Rechtsgedanken von überpersönlichen, im Verhältnis zum Menschenleben unsterblichen Institutionen mit eigenen Machtbefugnissen zu bilden (oben: §§ 575a.b). Völlig machtlos schließlich, und mächtig nur, soweit er die Großen und die Reichsversammlung dazu bewegen konnte, ihm einhellig beizupflichten, war der König als Gesetzgeber. Namentlich eine aktive Verfassungspolitik zu betreiben war nicht seine Aufgabe. Wir sahen ihn daher in der deutschen Grafschaftspolitik eine wesentlich passive Rolle spielen: Er hatte zu prüfen, ob das, was die Bistumsund Grafschaftsvölker ihm vorschlugen oder von ihm forderten, dem Reiche nützlich oder schädlich sei und ob es unter Wahrung der Rechtsgleichheit, hier speziell der Kongruenz von Grafschafts- und Vogteiverfassung, durchzuführen wäre (oben: § 583). § 643. Trotzdem freilich entspricht die Beschreibung des Königtums als eines Wahl- und Amtskönigtums nicht der heute in der Wissenschaft vom Mittelalter herrschenden Lehre. Communis opinio ist eher die Annahme erheblicher eigenständiger königlicher Befugnisse, die in Verbindung mit dem vom Volke abgesonderten Machtapparat der Krondomäne und Vasallität die königliche Gewalt bis zur Vollmacht einer Militärdiktatur (oben: §§ 332, 420) habe steigern können, einer Vollgewalt, aus der heraus der König den Völkern Bischöfe, deren Wahl er der Öffentlichkeit nur vorzutäuschen brauchte (oben: § 428), und Herzöge, die in der Ausübung ihres Amtes allein von ihm abhängig waren (oben: §§ 453, 539, 563), oktroyieren konnte. Diese Lehre kann sich darauf berufen, daß zwar Herzogtümer, Bistümer und Grafschaften unzweifelhaft Ämter waren, weil deren Inhaber einer königlichen Bestallung bedurften, daß aber über dem Könige selbst keine höhere Instanz mehr existierte, die ihn ihrerseits hätte in seinem Amte bestallen können. So notwendig und mühsam es daher ist, bei Bischöfen, Herzögen und Grafen eine die Bestallung ergänzende Erhebung (Wahl oder Annehmung) durch das Volk vorauszusetzen und nachzuweisen, so notwendig ist es auch, was den König anlangt, nicht nur die Wahl, sondern auch die Bestallung durch das Volk anzunehmen und ihrer Rechts-
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form nachzugehen (unten: §§ 749 – 752). Der Vorgang war freilich so wenig spektakulär, daß schon im Mittelalter die Beobachter, namentlich die daran nicht selbst aktiv beteiligten, aus der Diskrepanz zwischen Unansehnlichkeit der Bestallung und unerhörter Macht eines Menschen über Menschen, die daraus folgte, auf eine Lücke in der Reichsverfassung schlossen, die sie durch allerlei Mystifikationen auszufüllen versuchten (unten: Zwanzigstes Kapitel). So entstand der Glaube an eine überempirische, transzendente Herleitung und Begründung der Königsmacht, und diesem Glauben folgt noch heute die wissenschaftliche Lehre von der Verfassung des Königtums. Für die hier vorgetragene Verfassungslehre ist es von grundlegender Bedeutung zu prüfen, ob sich nachweisen läßt, daß diese Mystifikationen im frühen und hohen Mittelalter dem volkstümlichen Rechtsgefühl und Staatsdenken fremd waren, daß es sich dabei vielmehr um Schöpfungen gebildeter und gelehrter höfischer Kreise handelt, deren Spekulationen sich aus dem Lehrstoff kirchlicher Schulen und aus biblisch-christlichen Ideen nährten, und daß das Volk von diesem Schul- und Bildungswissen erst im und seit dem Spätmittelalter allmählich erreicht worden ist. Damit wir uns diesem Problem aber mit Aussicht auf Erfolg zuwenden können, ist es notwendig, vorher festzustellen, über wen oder was der König in Wirklichkeit herrschte und woher ihm wirklich die Amtsgewalt zukam, die er als Vorsteher der Reichsregierung ausübte. § 644. Die noch kaum seßhaften germanischen Völker hatten bereits in alter Zeit – schon Caesar schildert diese Institution – die eigentümliche Form des Heerkönigtums ausgebildet (Caesar, Bellum Gallicum 6, 23. Tacitus, Germania 13 – 14. H. Dannenbauer 1941 / 56 S. 80 – 85. W. Schlesinger 1956 S. 147 – 158, besonders 153 f., 1956a S. 105 ff. R. Wenskus 1961 S. 318 – 323, 346 – 350. K. Kroeschell 1968 S. 11 – 13, 17. K. Bosl 1970 S. 702 – 706. H. Drüppel in LMA 3 Sp. 1678 f. H.-W. Goetz in LMA 4 Sp. 1030 f. G. von Olberg in LMA 4 Sp. 1171. H. H. Anton in LMA 5 Sp. 1298 – 1304. W. Kienast 1990 S. 51 – 73). In der Volksversammlung erklärte einer der Gaufürsten, er wolle Anführer eines Beutezuges sein, wer ihm folgen wolle, möge sich melden. Nicht ein Volkskrieg sollte geführt, sondern der Privatkrieg einer Freiwilligentruppe, einer Gefolgschaft (comitatus bei Tacitus) vorbereitet werden. Zu diesem Zwecke gingen die einzelnen zur Teilnahme bereiten Krieger einen Vertrag mit dem Anführer ein, in dem sie sich eidlich zu kriegerischem Gehorsam verpflichteten und dafür einen ihrem Range gemäßen Anspruch an der erhofften Beute zugesagt erhielten. Die ersten germanischen Eide, von denen die Überlieferung zu berichten weiß, waren Gefolgschaftseide. „Es ist der Kern der Eidespflicht, daß lebenslängliche Schande und Infamie den Mann treffen soll, der nach dem Tode des Anführers lebendig das Schlachtfeld verläßt, denn jenen zu verteidigen und zu beschützen und die eigenen Heldentaten dem Anführer zuzurechnen,“ darauf käme es an, berichtet Tacitus. Durch Verwillkürung also, wie später die freiwillige Unterwerfung unter eine selbstgesetzte Norm hieß (oben: §§ 15, 175 – 177, 186), und mittels einer entspre-
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2. Teil: Der Staat
chend bedingten Selbstverfluchung nahmen die Mannen eine Treuepflicht auf sich, kraft deren jeder, der sich hinfort dieser verbindlichen Zusage entzog, bei seinem Volke als Meineidiger und Verräter jegliche Rechtsfähigkeit einbüßte. Wir haben es demnach mit personenbezogenen herrschaftlichen Genossenschaften (oben: §§ 185, 197) und deren gekorenen (vertraglich angenommenen) Häuptern zu tun. Dasselbe Recht muß die Heerhaufen zusammengehalten haben, die sich zum Zwecke der Landgewinnung in der Fremde um einen Führer versammelten, zu Unternehmungen also, die auf dauernde Niederlassung zielten, bei denen die Krieger daher auch Frauen und Kinder und ihre bewegliche Habe mit sich führten. Zu den weitgespannten Heerfahrten des 4. und 5. Jahrhunderts warb freilich der Führer nicht nur auf einer Volksversammlung und liefen ihm die Krieger nicht nur aus einem Gauvolke zu, und nicht nur Einzelne schlossen den Gefolgschaftsvertrag ab, sondern auch Fürsten, die bereits eigene Gefolgschaften mitbrachten. Freiwillig ordneten sich diese Großen dem Anführer unter, zu dessen Kriegskunst und politischem Geschick sie Vertrauen gefaßt hatten, so wie sich aus demselben Grunde ihr eigenes Gefolge um sie geschart hatte. Namentlich diejenigen Heervölker, die gegen die Heermeister des Weströmischen Reiches kämpften und sich schließlich auf Reichsboden dauerhaft niederließen, zeigen bereits dieselbe innere Partikulierung und Schichtung wie später dte Untertanenverbände des Fränkischen und des Ostfränkisch-deutschen Reiches. Erreichten ihre Unternehmungen den gewünschten Erfolg, gelangen also Landnahme, Ansiedlung und Reichsgründung, so machten Heerkönigtum und Gefolgschaft einen gründlichen Wandel durch. Ursprünglich eingerichtet, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, und daher zu einem befristeten Dasein mit endlicher Selbstauflösung bestimmt, gewannen sie nun den gesicherten Bestand dauerhafter Institutionen: Das wandernde Heer und sein Anführer konstituierten sich neu als gebietsbezogene herrschaftliche Genossenschaften (oben: § 203), denn Verbandszweck war nun die dauerhafte Beherrschung des eroberten Gebietes mitsamt der Bevölkerung, die es bebaute und davon Steuern zahlte. Äußeres Anzeichen der neuen Konstitution war die Erhebung des Heerführers zum König. Wie das beharrliche Bestreben der Heervölker nach Anerkennung für den Königsnamen, den sie ihrem Anführer nach dem entscheidenden Siege noch auf dem Schlachtfelde beizulegen pflegten, beweist, galten der König und das hohe Ansehen, das man von seiner Person auf seine Nachfahren übertrug, als einzige Bürgschaft dafür, daß das junge Staatsvolk und sein neugegründetes Reich zu der erhofften dauerhaften Existenz gelangen würden (R. Wenskus 1961 S. 318 – 323). § 645. Denn wenn der König starb, so mußte ihm die kriegerische Gefolgschaft, die jetzt als Staatsvolk einen Untertanenverband bildete, einen Nachfolger geben, um sich selbst zu erhalten. Es stand ihr nicht mehr frei, dies zu unterlassen und länger als vorübergehend in den alten Zustand eines akephalen Volkes zurückzukehren, denn während des Interregnums drohte ihr die Gefahr, sich selbst aufzulösen und in Anarchie unterzugehen (oben: § 167b). Zugleich mit der Partikulie-
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rung und Schichtung des Untertanenverbandes ergab sich daher ein zweites Grundgesetz der mittelalterlichen Königreiche, der Zwang nämlich, stets einen König zu haben und die Interregna nach Möglichkeit abzukürzen. Die gemeinsame Erhebung des Königs und die Pflicht, ihm beizustehen, die die Krieger dabei auf sich nahmen, hielt, wie anfangs den bunten Heerhaufen der Eroberer, so später den partikulierten und um Verbände der Unterworfenen erweiterten Reichsuntertanenverband zusammen. In diesem Zustande aber verschob sich die Verteilung der Macht innerhalb der herrschaftlichen Genossenschaft, die jetzt ein Reich beherrschte, zugunsten der Reichsgenossenschaft. Erst dann, wenn man diesen Wandel in Betracht zieht, lassen sich die Schwierigkeiten überwinden, die der bereits von Walter Schlesinger zutreffend durchgeführten „gefolgschaftsrechtlichen Interpretation des fränkischen Königtums“ entgegenstehen (A. Holenstein 1991 S. 98). Denn während des Eroberungskrieges war die militärische Gefolgschaft von der Feldherrnkunst ihres Führers abhängig gewesen und nur durch die auf seine Person beschworene Treue, durch die Summierung von Herreneiden also, zur Verbandseinheit zusammengefügt worden; oft genug hatten sich daher früher wandernde Heerhaufen, wenn die Eroberung fehlschlug und der Anführer im Kampfe gefallen war, vollständig wieder aufgelöst, waren sie spurlos vergangen. Jetzt aber wollte die Reichsgenossenschaft fortbestehen, wenn ihr König in Frieden aus dem Leben schied, und das konnte sie als hauptlos gewordener Verband nur dann tun, wenn sie sich während des Interregnums als freie Einung verstand und verhielt. Neben der Königstreue und unabhängig von ihr trat ein autonomes genossenschaftliches Interesse hervor, das die Krieger und ihre Großen einte und sie auch ohne von einem Haupte angeleitet zu werden, zu gemeinsamem Handeln nötigte. Während des Interregnums von herrschaftlicher Lenkung frei, einigte sich das Heer- und Reichsvolk aus gegenseitiger Verpflichtung aller heraus, die nur einungsrechtlich begründet worden sein kann, um durch den Mund ihrer Fürsten und Großen mit dem Sohne ihres verstorbenen Oberhauptes oder anderen Bewerbern über die Erhebung eines Nachfolgers zu verhandeln. Dabei war ihre Verhandlungsmacht so groß, daß sie Bedingungen stellen, einen Herrschaftsvertrag und ständige Mitregierung (oben: § 599) fordern konnten. Denn von sich aus durfte niemand, weder ein Königssohn noch auch der Beste unter den Sprechern und Fürsten der Gefolgschaft, nach dem Königstitel greifen. Selbst der Mächtigste war darauf angewiesen, ihn von seinem Heere oder Volke verliehen zu erhalten (R. Wenskus 1961 S. 318 – 323). Im Gegenzug mußte jeder Reichs- und Volksgenosse die Folgepflicht anerkennen, ohne die keine einhellige Königswahl möglich gewesen wäre (unten: § 720). Angesichts der germanischen Wertschätzung von Vorrang und edler Herkunft (oben: § 424) und angesichts des Interesses aller daran, die eigenen, mit der Eroberung und Reichsgründung gewonnenen Güter, Rechte und öffentlichen Positionen an ihre Kinder weiterzugeben, hatte natürlich ein Königssohn die besten Aussichten darauf, den Königsnamen zu erhalten. Das altenglische Beowulfslied weiß davon zu erzählen, daß es als göttliche Fügung zum Wohle des Volkes galt, wenn
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dem Könige ein Nachfolger geboren wurde, denn dieses Ereignis bannte die mit der Akephalie verbundene Gefahr wilder Thronkämpfe, die stets auf dem Rücken der Untertanen ausgefochten wurden. Jedoch „sollte ein junger Mann durch jegliche gute Tat, / Durch schöne Geschenke noch unterm Schutz des Vaters bewirken, / Daß ihm im Mannesalter die Mannschaft der Krieger / Willig folge, wenn eine Fehde ausbricht, / Die Leute ihm leicht gehorchen . . .“ Falls aber das Kriegsglück ausblieb und Heldentum, Mut und Manneskraft des Jünglings den Erwartungen nicht entsprachen, wandten sich Edle und Leute von ihm ab und suchten sich einen anderen Führer. Daher war Beowulf selbst als bewährter Krieger noch nicht bereit, „sich zum König erklären zu lassen,“ bevor er nicht das angemessene Alter erreicht hatte (Vers 12 – 24, 64 – 67, 901 – 915, 2373 – 2379). Die Abstammung von einem königlichen Vater für sich allein bewies noch keineswegs die persönliche Eignung des Sohnes für das königliche Amt, um das er sich bei den Kriegern und beim Volke bewarb. Denn sie allein konnten es ihm übertragen, indem sie ihm den Königsnamen beilegten und ihm Treue und Gehorsam gelobten.
§§ 646 – 650. Die königliche Vasallität § 646. Bei den Franken hatten die Merowingerkönige Childerich (gest. 482) und Chlodwig (482 – 511) ein mächtiges Heerkönigtum aufgerichtet (oben: § 89) und während der Begründung eines großen Reiches ihre Gefolgschaft ebenso strenge diszipliniert wie reich belohnt. Nachdem sie den Privatkriegen einzelner Scharen ein Ende bereitet und alle Fürsten von sich abhängig gemacht hatten, fiel ihnen sogar ein Gefolgschaftsmonopol im Fränkischen Reiche zu. Wie sich nur noch der König princeps nennen durfte, so bildeten seine Antrustionen die einzige Gefolgschaft, die noch geduldet wurde. Die franko-lat. Worte trustis = Gefolgschaft und antrustio = Gefolgsmann (W. Kienast 1990 S. 59) gehören zu dem ahd. Substantiv trôst = Hilfe, Unterstützung, und weisen damit bereits auf die Abhängigkeit der Männer von ihrem Heerführer und auf die Erwartungen hin, um deretwillen sie ihm dienten (D. Anex-Cabanis in LMA 1 Sp. 735. St. Sonderegger 1965 S. 492). Lat. princeps dagegen stand für ahd. truhtîn, das zu fränkisch druht (franko-lat. dructis) = Männerschar, bewaffneter Heimführungszug, zu stellen ist und gewiß seit ältester Zeit den Gefolgsherrn, den princeps eines comitatus, bezeichnet hatte. Aus diesem sprachlichen Befund ergibt sich, daß die Franken ihre Fürsten und Herrscher zunächst nur durch den Bezug auf das Gefolgschaftswesen definiert hatten (G. Ehrismann 1905 / 06 S. 173, 177, 188. G. von Olberg in LMA 4 Sp. 1171. D. Willoweit in LMA 4 Sp. 2176). Seit aber nur noch der König Gefolgsherr war, verdrängte der Königsname das Wort truhtîn auch in dieser Bedeutung aus dem Sprachgebrauch. Da die Eroberung neuer Länder nicht unbeschränkt fortgesetzt werden konnte, mußten die Merowinger noch im 6. Jahrhundert die Eigenschaften von Heerkönigen mit denen von Wahl- und Amtskönigen und ihre Getreuen die einer Antrustio-
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nengefolgschaft mit denen eines Untertanenverbandes vertauschen (oben: § 599). Noch als Heerkönige leiteten Chlodwig und seine Söhne den Übergang dadurch ein, daß sie die Fürsten und Krieger der unterworfenen romanischen und germanischen Völker in das Heer aufnahmen und schließlich diese Völker selbst als Partikularverbände denen der Franken politisch und verfassungsmäßig gleichstellten. Die Folge war, daß sie nicht mehr nur die Antrustionen, sondern alle Leute, leudes, oder freien Männer auf sich vereidigten und damit das gesamte Reichsheer und Reichsvolk in die königliche Gefolgschaft überführten (W. Kienast 1990 S. 24 – 26, 44 – 51, 556). Aus dem Gefolgschaftseid der Krieger ging somit ein allgemeiner Untertaneneid hervor. Dies war eine Institution, die jeglicher spätantiken Vorbilder entbehrte und daher die germanische von der römischen Staatsvorstellung grundlegend unterscheidet (W. Schlesinger 1956 S. 168. W. Kienast 1990 S. 45). Wie neu sie war, ist daraus zu ersehen, daß die Diplome der Merowinger als Adressaten, denen es zukam, die königlichen Gebote zugunsten des Bewidmeten zu beachten oder auszuführen, nur erst ganz selten die königlichen Getreuen nennen: (omnes) fideles nostri in DMerow. 2 und 53; in der Regel wenden sie sich an die königlichen Amtleute, wie es einst die Reskripte der römischen Kaiser und ihrer Prätoriumspräfekten getan hatten. Je mehr jedoch im 7. Jahrhundert die Macht im Staate den Königen entglitt, desto weniger ließ sich die allgemeine Vereidigung der Untertanen auf den König aufrechterhalten. Aus den Enkeln und Urenkeln jener Getreuen, die ihr Fortkommen allein von den Siegen und der Gunst ihres Heerkönigs hatten erwarten können, waren saturierte, in den Regionen des Reiches eingewurzelte und an der Vererbung des gewonnenen Reichtums interessierte Große geworden, die sich ihrem Könige immer mehr entfremdeten und damit die Treuebindung an ihn allmählich zerstörten, zumal den in das Reichsvolk aufgenommenen Romanen das germanisch-fränkische Einungsrecht von Hause aus überhaupt fremd war. Schließlich drängte das neuartige, von den Großen geschaffene Fürstentum der Hausmeier in den Teilreichen Neustrien, Austrasien und Burgund und der Herzöge in den Randprovinzen Aquitanien, Bayern, Alamannien, Thüringen das durch Zersetzung der Gefolgschaftsbande entmachtete Königtum ganz in den Hintergrund. Das einst vom Heervolke der Franken gegründete Reich war im Begriff, sich in Teilreiche aufzulösen. Die Hausmeier selbst sorgten dafür, daß die Untertaneneide außer Gebrauch kamen, da ihnen nichts daran gelegen war, eine Bindung zu festigen, die über sie hinwegging und die freien Krieger persönlich mit dem Könige verknüpfte (H. Mitteis 1933 S. 50 f. Th. Mayer 1956 S. 177. L. Kolmer 1989 S. 80). § 647. Nachdem der mittlere Pippin im Jahre 688 / 89 alle Hausmeierämter in seiner Hand vereinigt hatte, setzten sich die Hausmeier aus dem karolingischen Hause (und das Volk der Franken) das Ziel, die Einheit des Merowingerreiches wiederherzustellen. Weder sie noch die Franken, die die Lande an Maas, Rhein und Main von der Schelde bis zum Fichtelgebirge bewohnten, wollten es leiden,
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daß sich die Teilreiche, in deren Mitte sie saßen, selbständig machten. Während der Kriege, die deswegen im Verlaufe des 8. Jahrhunderts zu führen waren, machte sich im Fränkischen Reiche eine soziale Bewegung bemerkbar, die bereits vor Jahrhunderten in der ganzen römisch-germanischen Welt eingesetzt hatte, von jetzt an aber die Gesellschaftsordnung des Abendlandes allmählich vollständig umformte. Denn an die Stelle der Gleichheit und Freiheit aller Hausherren (oben: Viertes Kapitel), auf der die Sozialverfassung im Altertum beruht hatte, ließ sie die ständische Scheidung von mediatisierten Bauern und staatsunmittelbaren Rittern in der Weise treten, daß sie die politische Selbstbestimmung der Bauern auf deren Gemeindesachen beschränkte (oben: §§ 235, 236, 245) und sie insofern unfrei machte, den Rittern dagegen das Recht, im Staate mitzuregieren, vorbehielt, das einst allen alt- oder edelfreien Hausherren zugestanden hatte. Wenn sich für derartige tausendjährige soziale Veränderungen, die sich als Ganzes menschlichem Wollen und irdischer Verfügbarkeit zu entziehen und daher in ihrer politischen Gestaltbarkeit in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Ergebnissen zu führen pflegen, überhaupt bestimmte Ursachen angeben lassen, so dürften für die hier betrachtete soziale Bewegung in erster Linie jene neuen militärischen Bedürfnisse den Ausschlag gegeben haben, die in den Kämpfen der Römer und Germanen mit den östlichen Nomadenvölkern um die Vorherrschaft in Osteuropa und Vorderasien erwacht waren, denn sie bewirkten, daß die Phalangentaktik schwerbewaffneter Fußtruppen, die das Kriegswesen der Antike kennzeichnet, veraltete und von dem Einsatz schnellbeweglicher und weiträumig gestaffelter gepanzerter Reiterkrieger (oben: § 126) überholt wurde. Während Kaiser Heraklius (610 – 641) der neuen Taktik noch mit einer zwar gepanzerten, jedoch dem Nahkampf ausweichenden Bogenschützenreiterei hatte genügen wollen (E. Darkó 1935. A. Stratos 1965 / 66 Bd. 1 S. 317 – 323, Bd. 2 S. 714 – 724. E. Pitz 2001a S. 307 f.), war hundert Jahre später der Hausmeier Karl Martell (714 – 741), möglicherweise deswegen, weil jetzt im Abendlande der Steigbügel bekannt wurde, der dem Reiter endlich einen festen Sitz im Sattel verschaffte, dazu imstande, seine Reiter mit Wurfspeeren und Langschwertern auszurüsten und sie im Nahkampf mit Hiebwaffen vom Sattel aus fechten zu lassen. Diese Taktik indessen erforderte so ungewöhnliche und schwer zu erlernende Fertigkeiten, daß sie noch im 9. Jahrhundert als Neuerung galt, die keineswegs allgemein verbreitet war (L. White 1964 S. 3 – 13, 27 – 33. W. Kienast 1990 S. 73 f., 97 – 102. E. Pitz 2001a S. 401). Erst danach hat sie sich wirklich durchgesetzt und die Bahn für den Einsatz der wirksamsten Waffe des Reiters freigemacht, nämlich der unter dem Arm eingelegten Stoßlanze, auf deren Gebrauch in geschlossen attackierender Schlachtreihe die eigentlich mittelalterliche Kampfesweise und die Überlegenheit der abendländischen Kreuzfahrerheere über Byzantiner und Sarazenen beruhte. Ebenso langsam, wie die Umrüstung der für den Angriffskrieg bestimmten Bewegungsheere auf Reitertruppen voranschritt, vollzog sich die Beschränkung der Fußtruppen, im Fränkischen Reiche also des Volksheeres, auf die Aufgaben der Landesverteidigung. Als Landwehr blieben Fußtruppen für die
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Kriegführung im Mittelalter jederzeit unentbehrlich und unter günstigen Umständen der Kavallerie sogar überlegen. § 648. Zum Geburtshelfer einer neuen Gesellschaftsordnung taugte die neue Taktik des Reiterkampfes deswegen, weil sie sehr kostspielige und nachhaltige, die Völker auch in Friedenszeiten belastende Vorbereitungen erforderte. Denn nicht nur Pferde zu halten war teuer, solange sie noch nicht als Arbeits- und Zugtiere verwendbar waren, sondern auch der Erwerb der eisernen Schutz- und Hiebwaffen (oben: § 124) und der notwendigen Übung im Fechten vom Sattel aus, die in der Jugend beginnen mußte und mit gewerblicher Arbeit nicht zu vereinbaren war. Die Kosten aber trafen den einzelnen freien Mann, den die germanische allgemeine Wehrpflicht nicht nur mit dem Waffendienst, sondern auch mit der eigenen Ausrüstung belastete (oben: §§ 122, 123). Die Heervölker des Fränkischen Reiches konnten daher nicht viele Reiterkrieger stellen, da nur die reichsten Hausväter jene Kosten zu tragen vermochten. Den gewöhnlichen, bäuerlich lebenden Alt- oder Edelfreien dagegen fehlten die Mittel, um sich als solche auszurüsten und zu üben. Wollte die Regierung die berittenen Truppen vermehren, so mußte also sie selbst den Männern, die bereit waren, beritten zu kämpfen, die dazu nötigen Mittel zur Verfügung stellen. Da ihr aber das Geld fehlte, um sie fortlaufend zu besolden, kam nur eine Ausstattung mit entsprechend ertragreichem Staats- oder Fiskallande in Betracht. In der Tat waren die fränkischen Reiterkrieger keine Söldner mehr. Im Reiche der Hausmeier waren Münzen so rar, daß man längst die aus römischer Zeit überkommenen Geldsteuern zu Naturalabgaben und Arbeitsdiensten und die staatlichen Heberechte zur Grundherrschaft hatte verdinglichen müssen (oben: § 129). Um freie Männer zum Kriegsdienst von bäuerlicher Arbeit abkömmlich zu machen, mußten Karl Martell und seine Nachfolger sie daher mit einer Grundherrschaft ausstatten und zu Grundherren befördern. Hatte man bis dahin als miles nur den niederen, besoldeten Kriegsknecht mit halbem Wergelde (ahd. thegan, heriknecht, heriman, kempho, brotritter: H. Götz, Wb. 1999 S. 404), niemals jedoch den kriegerischen Gefolgsmann des Königs bezeichnet (W. Kienast 1990 S. 4 Anm. 19), so machte diese Beförderung das Wort jetzt zu einem Ehrennamen, dem es angemessen war, daß Karl den römischen Offiziersgürtel als Rangabzeichen für seine Ritter in Gebrauch nahm (W. Paravicini 1994 S. 3). Die wohl seit jeher befolgte, wenn auch noch nicht positivierte Regel, der zufolge das Staats- oder Fiskalgut unveräußerlich war, da es nicht dem Könige oder der Regierung, sondern dem Volke gehörte (oben: § 623), nötigte Karl Martell und seine Nachfolger dazu, seinen Kriegern den für den Reiterdienst erforderlichen Grundbesitz in der Rechtsform der spätrömischen widerruflichen Landpacht (praecaria) oder Leihe zu übertragen. Allerdings entfielen dabei deren ursprüngliche, für bäuerliche Pächter vorgesehene Bedingungen, so namentlich die Verpflichtung, bäuerliche Arbeitsdienste und Abgaben zu erbringen: An die Stelle der unfreien bäuerlichen Bodenleihe trat damit die neue Rechtsform der freien ritterlichen
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Leihe (oben: §§ 125, 128, 128a. H. Mitteis 1953 S. 60 – 64. K. Bosl 1970 S. 736 f. H. Hattenhauer 1992 S. 168 f.). Der freie Leihe- oder Lehnsmann erhielt kein Eigentumsrecht an dem Staatslande, sondern lediglich ein befristetes Nutzungsrecht, befristet nämlich zunächst auf die Dauer seiner Dienstfähigkeit, sehr bald dann darüber hinaus auf seine Lebenszeit, ein Recht also, das er nicht einmal seinen direkten Leibeserben hinterlassen konnte. Dafür mußte er sich gegenüber dem Hausmeier oder Könige zu Treue und Dienstgehorsam, zur Instandhaltung des genutzten Gutes und zu Boten- und Verwaltungsdiensten verpflichten, deren die Reichsregierung auch in Friedenszeiten bedurfte. Wegen dieser günstigen Leihebedingungen empfand der Lehnsmann den Vertrag, den der Hausmeier ihm anbot, als Wohltat oder beneficium, denn wenn er ihn annahm, brauchte er nicht mehr bäuerlich zu leben oder gar als besitzloser Söldner zu dienen; vielmehr stieg er empor zum Inhaber eines stattlichen Landgutes und zum Herrn der Bauern, deren dem Staate zustehende Dienste und Abgaben er verzehrte. Diese vornehme, adlige Landleihe ist insbesondere gemeint, wenn wir hinfort von der Benefizialleihe sprechen. § 649. Zu diesen Friedenspflichten des Lehnsmannes kam die Kriegsdienstpflicht des schwerbewaffneten Reiters hinzu. Sie brauchte in dem Lehnsvertrag nicht ausdrücklich festgelegt zu werden, da sie bereits nach Volksrecht auf allem Grundbesitz ruhte, der den Umfang von mindestens zwölf bäuerlichen Hufen erreichte, mochte der zur Nutzung berechtigte Inhaber ihn nun zu Eigentums- oder zu Lehnrecht besitzen (oben: §§ 122, 124). Denn unzweifelhaft war „die Heerfolgepflicht grundsätzlich nicht lehnsrechtlich fundiert“, sondern hatte, ebenso wie „ihr Gegenteil, das Waffenrecht aller waffenfähigen Freien,“ den germanischen, vom Könige ausgeübten Heerbann zum Rechtsgrunde. „Der Grundbesitz war nur Maßstab, nicht Grundlage des Waffendienstes; er bestimmt den Inhalt der Leistungspflicht, ohne sie aber zu begründen“ (H. Mitteis 1933 S. 150, 178). Selbst der Grundbesitz der Kirchen und Klöster, den ihnen ja zum größten Teil ebenfalls der Staat zugeteilt hatte, war davon nicht ausgenommen. Bischöfe, Reichsäbte und Äbtissinnen mußten daher einen Teil ihrer Güter, den der Hausmeier festsetzte, vom Kirchendienst freistellen und in Ritterlehen umwandeln, sobald ihnen der König einen Mann benannte, der bereit war, ein solches Kirchengut nach den Regeln der Benefizialleihe zu übernehmen (oben: §§ 122, 128a). Allerdings brauchten die Kirchen diese auf königlichen Befehl ausgegebenen Ritterlehen, beneficia verbo regis, nicht gänzlich aus ihrer Grundherrschaft zu entlassen. Um ihr Eigentumsrecht daran zu wahren und wenigstens zum Teil für die ihnen entgangenen Einkünfte entschädigt zu werden, konnten sie sich einen Zins in Höhe eines Zehntels der Erträge reservieren, den der Lehnsmann alljährlich an sie abzuführen hatte. Die unmittelbar aus Königsgut ausgeschiedenen Lehen waren von solcher Zinspflicht frei. Aber es gab im 8. Jahrhundert zu wenig Königs- oder Kammergut, als daß der Hausmeier daraus den militärischen Bedarf hätte befriedigen können. Den Karolingern blieb nichts anderes übrig als von dem Königsrecht Gebrauch zu
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machen, kraft dessen sie die Zwecke, denen alles Staatsgut zu dienen hatte, jederzeit neu bestimmen und selbst die einst dem Kirchendienst gewidmeten Domänen auf dringendere Zwecke umwidmen konnten. Obwohl sich Karl Martell darum bemühte, aus der Belehnung eine Rangerhöhung und Auszeichnung zu machen, stellte der Lehnsbesitz keine besonders geschätzte Vermögensform dar. Wollte der König verdiente Männer angemessen belohnen, so kam dafür nur die Schenkung von Staatsgut zu erblichem Eigentum in Betracht: Eine Belehnung wäre nur die zweitbeste Form der Anerkennung gewesen, daher wohl alle Lehnsmannen bestrebt waren, ihr Leiherecht in volles, allodiales Eigentum umwandeln zu lassen (S. Reynolds 1994 S. 105 – 107) und damit zugleich die strenge Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Lehnsherrn abzustreifen, die mit der Annahme von Lehnsgut, nicht jedoch mit dem Allodialbesitz verbunden war. An dieser Rechtsauffassung änderte sich auch dadurch nichts, daß sich König Ludwig im Jahre 844 von dem Bischof von Regensburg Güter des Klosters St. Emmeram zu Lehn geben ließ (MGH. DLD. 37 Z. 35 – 36. W. Kienast 1990 S. 242, 558), denn damit verschleierte man lediglich die sonst übliche offene Umwidmung von Reichskirchengut auf weltliche Zwecke. Damals noch ungewöhnlich, hat sich diese Praxis später, im 12. Jahrhundert, der größten Beliebtheit erfreut (A. C. Schlunk 1988 S. 28 A. 50). § 650. Die Treuepflicht, die Karl Martell seinen Lehnsmannen auferlegte, kann keine andere als die der königlichen Untertanen gewesen sein, die einst aus der Verallgemeinerung der Gefolgschaftstreue auf alle freien Einwohner des Reiches hervorgegangen und den fränkischen Königen von allen Untertanen zugeschworen worden war. Sie zu erneuern kann nicht im Interesse des Hausmeiers gelegen haben. Die Formel des Treueides, den die Lehnsmannen leisteten, ist nicht bekannt. Sie muß indessen, solange die Karolinger die Könige aus dem Merowingerhause nicht zu verlassen wagten, zumindest einen Vorbehalt zu deren Gunsten enthalten haben, der den Eid für den Hausmeier entwertete, konnte ein Lehnsmann doch etwaigen Ungehorsam nur zu leicht mit der Treuepflicht gegenüber seinem Könige rechtfertigen. Wohl aus diesem Grunde griff Karl hilfsweise auf eine spätrömische Einrichtung zurück, die die Franken in Gallien kennengelernt hatten, nämlich auf die Ergebung oder Kommendation in Schutzherrschaft, wie sie arme Leute unter Aufgabe eines Teils ihrer Freiheit einem vornehmen Manne zu leisten pflegten. Soweit die Ergebungsleute bäuerlich lebten, war der Schutzherr oder Patron jetzt in der Regel zu ihrem Grundherrn geworden (oben: §§ 352, 353). In uralten Zeiten hatten sich der Kommendation nur Männer unterwerfen müssen, die auf dem Schlachtfelde besiegt und daher der Verknechtung verfallen waren; so war eine Personengruppe entstanden, die man in galloromanischer Sprache als Vassen bezeichnete. Noch jetzt kam daher die Ergebung zustande, indem der angehende Vassus als Bittsteller vor dem Schutzherrn niederkniete und für jedermann sichtbar die gefalteten Hände in dessen offene Hände einlegte, gleichsam als reiche er sie ihm zur Fesselung hin. Diesen Unterwerfungsritus geringgeachte-
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ter Knechte übertrug Karl Martell auf die freien Leute, die er in seinen Dienst nahm, um sie dadurch so eng an sich zu fesseln, wie sonst nur Unfreie an ihren Herrn gekettet waren. Aus dieser Handgebärde, dem Handgang, und ihrer Verknüpfung mit dem Treueide des Untertans bestand die folgenreiche Neuerung, mit der Karl Martell die fränkische und durch sie die mittelalterliche Gesellschaft in West- und Zentraleuropa infizierte. Den Stand der Antrustionen hatten früher nur Männer besserer Herkunft angenommen, und dafür hatte es nur einer einzigen, symbolisch verstandenen Rechtshandlung, nämlich des mit Handschlag bekräftigten Treuversprechens, bedurft. Die karolingische Vasallität dagegen war zunächst eine Sache wenig angesehener Krieger, und sie erforderte zwei derartige Handlungen, da zu dem Treugelübde nun der Handgang hinzukam, den das alte germanische Gefolgschaftswesen nicht gekannt hatte (W. Kienast 1990 S. 65, 75 A. 244, 80, 101, 108, 168). Mit dem Empfang von Treugelöbnis und Handgang nahm allerdings auch der Hausmeier Treuepflichten auf sich. Er bekräftigte die Zweiseitigkeit des Vertrages, indem er dem Manne Schutz, Huld und Milde zusagte. Mit einem und demselben Worte, nämlich ahd. huldî oder lat. gratia, bezeichnete man einerseits die Gunst, die ein gnädiger Herr seinem Manne bewies, und andererseits die Ergebenheit des Mannes, der seinem Herrn in Treue diente (H. Mitteis 1941 S. 480. W. Schlesinger 1956 S. 147. St. Sonderegger 1965 S. 434). Das Rechtsverhältnis der Huld verpflichtete den Herrn dazu, für den Lebensunterhalt des Mannes, eventuell durch eine Belehnung, zu sorgen, die eigene politische und ökonomische Überlegenheit nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen des Mannes zu verwenden und von dem Manne nichts Unrechtes und keinen Dienst, der dessen subjektive Rechte verkürzte, zu verlangen. Verletzte der Herr diese Pflichten, so trat der Fall ein, daß der Vasall sehr wohl das Lehen behalten, die Dienste jedoch verweigern durfte. Denn die Vasallentreue verpflichtete den Mann dazu, den Herrn mit allen Mitteln, selbst denen des bewaffneten Widerstandes, auf den Weg des Rechtes zurückzuführen. Hauptfall herrschaftlicher Treupflichtverletzung blieb das ganze Mittelalter hindurch jedoch die Rechtsverweigerung. Wenn der Herr nicht bereit war, dem Manne ein Darlehen zurückzuzahlen, wenn er eine gütliche Einigung ausschlug, den Vasallen zu Unrecht verhaftete oder ihm den Rechtsweg abschnitt, dann war der Mann sogar befugt, ihm Fehde anzusagen, um sich eigenmächtig zu seinem Rechte zu verhelfen (H. Mitteis 1941 S. 265). Obwohl die Vasallen oder Vassen freie Männer waren und sich früh zu regionalen herrschaftlichen Genossenschaften (oben: § 198) verbunden haben mögen, sorgte doch die Kommendation dafür, daß die Vasallität noch lange vornehmlich unter dienstrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet wurde und daher dem hofrechtlichen Verbandswesen näherstand als dem Recht der Reichsuntertanen. „Von Anfang auf Dienstleistung und Unterordnung ausgerichtet“ (G. von Olberg in LMA 4 Sp. 1171 f.) und damit der Untertanenfreiheit abträglich, zumal da bereits die
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Lehnsnahme zu dauerndem Gehorsam verpflichtete, blieb das Ansehen, das belehnte Vassen genossen, gering und nicht viel besser als das von Söldnern und Brotrittern (oben: § 546). Der Reichsdienst vermochte diesen Makel nicht zu tilgen. Zwar hatte sich bereits Karl Martell die Herrschaft über Burgund gesichert, indem er seinen tüchtigsten Gefolgsleuten, leudibus suis probatissimis, viris industriis ad resistendas gentes rebelles et infideles (Fredegar, Continuatio c. 14 S. 175 Z. 22. H. Bitsch 1971 S. 15), die Verteidigung des Regnums anvertraute, aber noch Jahrzehnte später sah sich Kaiser Karl der Große veranlaßt, den Franken einzuschärfen, daß kein Lehnsherr einen Vasallen verprügeln, dessen Ehefrau beschlafen oder sein Erbgut beschlagnahmen dürfe (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c. 16, 213 n. 104 c. 8. H. Mitteis 1933 S. 88). Ja, selbst im Jahre 1350 waren solche Rechtsauffassungen noch lebendig, bedurfte es doch damals eines von Kaiser Karl IV. sanktionierten Urteils der Reichsfürsten, um festzustellen, daß ein edler, von beiden Eltern freigeborener Mann durch die Annahme von Lehen oder Dienstgütern und den davon dem Herrn geleisteten Dienst nicht im Adel seiner Geburt gemindert werde (RI 8 S. 135 n. 1691. H. Dannenbauer 1941 / 56 S. 71 Anm. 7).
§§ 651 – 653. Vasallität und Reichsuntertanenverband § 651. Was ist von der Lehrmeinung zu halten, das aus der Verbindung von Vasallität und freier Benefizialleihe hervorgegangene Lehnswesen habe den Reichsuntertanenverband gesprengt und die Fortbildung des Ostfränkisch-deutschen Reiches zum Nationalstaat mit souveräner königlicher Regierung verhindert? Begründet worden ist diese bis heute einflußreiche Lehre vor langer Zeit von dem Juristen Paul Roth (P. Roth 1863. O. Brunner 1943 S. 124 A. 3, 169 A. 2 = 1965 S. 111 A. 3, 149. Th. Mayer 1954a S. 8 – 11. E.-W. Böckenförde 1961 S. 150 – 191. A. Holenstein 1991 S. 75 f.). Roth allerdings beabsichtigte nicht, mit Hilfe der philologisch-historischen Methode vergangene Zustände an Hand der Quellen und ihrer zeitgenössischen Rede- und Denkweise beschreibend zu rekonstruieren. Vielmehr folgte er der Methode der damals blühenden Begriffsjurisprudenz, die in der Art des älteren Vernunft- und Naturrechtsdenkens ein zeitlos gelten sollendes System des Staats- und Privatrechts entwarf und von den Quellen lediglich erwartete, daß sie es bestätigten, wenn der Betrachter ihr Zeitalter sollte loben können, oder aber ihm widersprachen und damit ein negatives Urteil über ihre Zeit herausforderten. Roths Interpretationen konnten daher über die alternative Wahl zwischen hoheitlichem allgemeinem Gesetz und freiem kündbarem Vertrag, staatsrechtlicher Untertanen- und privatrechtlich-persönlicher Vasallenbeziehung, staatlicher und patrimonialer Herrschaft, vollem Eigentum und dinglich beschränktem Nießbrauch und ähnlichem nicht hinausgelangen (E.-W. Böckenförde 1961 S. 187). So erklärt es sich, daß Paul Roth für so grundlegende germanisch-volksrechtliche Institutionen wie das Einungsrecht, das Gefolg- und Genossenschaftswesen
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oder die einhellige, auf allgemeinen Konsens gestützte Willensbildung und überhaupt für einen föderalistischen Staatsaufbau von unten her keinerlei Verständnis zeigt. Seine Auffassungen bilden das rechtsgeschichtliche Seitenstück zu Sybels Position im Streit mit Julius Ficker um die Kaiserpolitik des Mittelalters. Fickers Lehre betreffend das Verhältnis des Königtums zu den Teilvölkern des Reichs und seines Untertanenverbandes hat er denn auch entschieden bekämpft (ebd. S. 185. Oben: §§ 383, 442). So kam es auch zu dem vormals berühmten Streit mit Karl Friedrich Eichhorn, dem Begründer der Disziplin der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, über die merowingischen Leudes. Eichhorn hatte bereits 1808 germanisches Gefolgschaftsrecht als Grundlage der fränkischen Staatsbildung erkannt und die Leudes gleich den Antrustionen als königliche Gefolgsleute angesehen. Roth dagegen konnte den Gefolgschaftsstaat nicht vom Lehnsstaat unterscheiden, und da er die Anfänge des letzteren frühestens im 8. Jahrhundert bemerkte, bestritt er den Status der Leudes als Gefolgsleute; er ließ sie einen Reichsuntertanenverband bilden, wie ihn auch der moderne souveräne und zentralisierte, weil von oben her errichtete Staat in Gestalt seines Staatsvolkes besaß, dessen Status nicht auf Gefolgschaftsverträgen, sondern auf gesetzlicher Ordnung beruhte und alle freien Männer in das gleiche direkte Verhältnis zum König als ihrem gemeinsamen Staatsoberhaupte setzte, sie alle denselben allgemeinen Untertanenpflichten und namentlich der mit dem Untertaneneide zu sichernden Treupflicht unterwarf. Dieser, wie er meinte, eigentlich germanischen Staatsverfassung stellte er den seit dem 8. Jahrhundert emporsteigenden Lehnsstaat als die Aufhebung der alten gesetzlichen Ordnung gegenüber: Der Feudalstaat habe keine öffentliche Gewalt mehr gekannt, sondern die Übertragung der Militär- und Gerichtsgewalt von der Obrigkeit auf einzelne Geschlechter oder Grundbesitzer zugelassen; die Reiterkrieger seien nicht mehr Untertanen einer Obrigkeit, sondern Vasallen eines Senior, ihre Abhängigkeit von diesem nicht mehr, wie einst die der Untertanen von der Obrigkeit, durch Gesetz, sondern durch freien Vertrag begründet und daher privatrechtlich bestimmt gewesen. Diese feudalen Institutionen machte Roth für den Niedergang der königlichen Gewalt und für die Ausbreitung gesetzloser Zustände im Deutschen Reiche verantwortlich. Die Auflösung des germanischen Untertanenverbandes glaubte er speziell an Hand des Vordringens der Vasallität seit dem 8. Jahrhundert verfolgen zu können. Zwar sei noch die Begründung eines Standes von Kronvasallen und Inhabern staatlicher Benefizien mit der Existenz eines Untertanenverbandes verträglich gewesen, nicht aber mehr die Zulassung des Seniorates und der Eintritt freier Männer in die lebenslange, ebenfalls mit Treueid bekräftigte Abhängigkeit von anderen Untertanen. § 652. Roths Lehre ist bereits vielfach zurückgewiesen worden, weil die beiden Staatsformen, mit denen sie operiert, nämlich der Untertanen- oder Obrigkeitsstaat und der Feudalstaat, als etwas dem Mittelalter wirklich bekannt Gewesenes empirisch nicht nachzuweisen sind. Denn der Untertan des mittelalterlichen Staates war ein freier Mann, der freiwillig dem Herrschaftsvertrage seiner Genossen beitrat und diesen Vertrag auch wieder kündigen konnte (oben: § 638), ein Mann, in des-
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sen Denken und Sprache das Wort Obrigkeit daher nicht vorkommen konnte. Erst seit dem Spätmittelalter erhoben sich seine Regierungen über ihn zu Obrigkeiten, die den modernen Behörden- und Steuerstaat schufen (oben: §§ 391, 421) und den Status der Untertanen auf die Pflicht zu gehorchen beschränkten. Und die lehnrechtliche Interpretation des Staates und der staatlichen Amtsverhältnisse, die zusammen mit dem gelehrten römisch-kanonischen Recht von Italien aus nach Deutschland vorgedrungen ist (oben: §§ 592, 593), brachte erst in der Neuzeit einen eigenen Staatsbegriff hervor, indem sie dem Staate den öffentlich-rechtlichen Charakter einer res populi absprach und ihn statt dessen zum Patrimonialstaat erklärte (oben: §§ 166, 167a, 331, 550). Den Wortführern des gelehrten Rechts ist es zwar schon im Spätmittelalter gelungen, auf die Reichs- und Territorialverfassung einzelne lehnrechtliche Institutionen aufzupfropfen, insgesamt indessen bewahrte das deutsche Verfassungsrecht die im frühen und hohen Mittelalter geschaffenen Grundlagen und Formen (oben: §§ 262, 436, 596, 641). Mit der Existenz der beiden Staatsformen fällt aber auch der Versuch, die Verfassungsgeschichte des Mittelalters aus ihrer Entgegensetzung zu erklären. Schon der Untertanenverband des Merowingerreiches stand nicht im Gegensatz zu dem Gefolgschaftsverbande, der das Reich errichtet hatte, denn er ging als Friedensverband aus ihm hervor, sobald er sich ein für allemal den Gebietsbezug erworben hatte, der erst die Staatsgründung ausmachte. Gleich der kriegerischen Gefolgschaft war daher der Reichsuntertanenverband von Anfang an, und nicht erst seit dem vermeintlichen Übergange zur Feudalverfassung, in sich partikuliert und gestuft, so wie er es immer geblieben ist, solange der Staat res populi und daher von unter her aufgebaut blieb (oben: § 444). Weder gab es im Reiche der Franken jemals eine höchste, souveräne, in der Hand des Königs konzentrierte Gewalt noch bedurfte es der sogenannten Feudalisierung, damit sich die Souveränität von der Person des Königs löste und auf alle Staatsteile verteilte. Wirklich überwinden, nämlich entbehrlich und überflüssig machen aber läßt sich die Rothsche Lehre nur dadurch, daß wir uns auf das germanische Einungsrecht und die von ihm ermöglichten Verbandsformen der herrschaftlichen und freien Genossenschaft (oben: Sechstes Kapitel) einlassen, nach deren Regeln nicht nur der Aufbau des partikulierten und gestuften Reichsuntertanenverbandes von unten her, sondern auch die die Teilwillen miteinander identifizierende Bildung des gemeinen Staatswillens (oben: Erstes Kapitel) vor sich ging. Hieraus aber ergibt sich, daß die Aufgabe des Fürstentums zunächst nicht darin bestand, Herrschaft auszuüben, sondern den Gemeinwillen zwischen Gaugemeinden, Teilreichsvölkern und dem Reiche zu vermitteln (oben: § 405) und im Reiche nicht nur während der Interregna, sondern beständig mitzuregieren (oben: §§ 508, 599, 607, 608, 635). Den Regeln des germanischen Einungsrechts entsprach insbesondere die Pflicht aller Einzelund Verbandspersonen, durch beständiges Verhandeln und Konsentieren unter sich und mit dem Könige über den Abschluß des Herrschaftsvertrages hinaus (oben: §§ 635, 637, 638) den immer wieder möglichen Widerstreit zwischen Volks- und Königswillen aufzulösen (oben: § 448) und damit die Reichsverfassung dauerhaft
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auf einiges Rechtsbewußtsein, Frieden, Eintracht und Gemeinnützigkeit zu gründen (oben: § 634). Daran, daß er dies nicht leistete, ist auch der jüngste Angriff auf die Rothsche Lehre gescheitert, nämlich der der landesgeschichtlichen Schule (Th. Mayer 1954a), die weiter nichts als einen Staatsaufbau von oben her in Betracht zog und alle hoheitliche Gewalt zum herrschaftlichen Gebilde erklärte, an deren Konstitution das Volk keinerlei Anteil hatte (oben: §§ 331 – 333), obwohl niemand weiß, auf welchem Rechtsgrunde die sogenannte autogene Adelsherrschaft denkbar und möglich gewesen mag. Von diesen Voraussetzungen ausgehend bestritt die neue, heute schon wieder vergessene Lehre, daß es überhaupt aus eigenem Rechte heraus freie Männer gegeben habe, aus denen sich ein allgemeiner Untertanenverband hätte zusammensetzen können: Sie erklärte kurzerhand alle persönliche Freiheit des hohen Mittelalters für Königsfreiheit, d. h. für ein vom König verliehenes Privileg (oben: § 115), und damit den Untertanenverband, wenn es denn einen solchen überhaupt gab, für ein königliches oder staatliches Geschöpf. § 653a. Auch diese mediävistische Lehre steht offensichtlich im Banne der Wahrnehmung alles staatlichen und politischen Lebens unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft, die das deutsche politische Denken herkömmlicherweise bestimmt (oben: §§ 32, 50, 215) und besonders in der Form, die ihr in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Carl Schmitt gegeben hat, auf die deutsche Verfassungsgeschichte einwirkte (oben: § 152b). Bei Max Weber etwa tritt sie in der Definition des Politischen durch den Staat und des Staates durch die Herrschaft über gehorsamspflichtige Menschen auf: „Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ (M. Weber 1919 S. 507, oben: §§ 271, 272, unten: § 833). Das Volk kommt in dieser Definition nur indirekt vor, nämlich nur als logisches Subjekt zu dem Partizip angesehen, denn niemand anders als das Staatsvolk ist es, in dessen Augen jegliche Herrschaft als legitim erscheinen muß: Damit der Staat bestehen kann, „müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum tun sie das?“ Dies ist die entscheidende Frage, die sich jeder so begründeten Verfassungslehre stellt, und um sie beantworten zu können, bedurfte man keiner Begriffe von politischer Freiheit des Einzelnen oder des Volkes, wie sie uns im Denken, Reden und Handeln der Völker des hohen Mittelalters so häufig begegnen: solcher Individuen und Verbandspersonen nämlich, die deswegen frei waren, weil sie, außerhalb aller herrschaftlichen Zwangsgewalt und unter sich als Gleiche miteinander verhandelnd, durch gegenseitiges Sich-überzeugen und Übereinstragen der Meinungen gemäß einem sensus communis zum consensus omnium, den gemeinen Willen des Volkes und seiner Regierung herstellten. Bestimmen wir jedoch den Staat als res populi und politische Freiheit als gleichberechtigtes Teilhaben am öffentlichen Leben und an der Staatsgewalt, so hält uns
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sowohl der moderne Sprachgebrauch als auch das bisher erworbene Wissen vom Staat des hohen Mittelalters dazu an, zwischen Macht und Gewalt sorgfältig und genauer, als es Verfassungsgeschichte und Politikwissenschaft üblicherweise tun, zu unterscheiden (H. Arendt 1970 S. 171 – 176). Erbaut sich nämlich ein Volk seinen Staat von unten her, so beruht die Macht seiner Regierung nicht auf herrschaftlicher Befehlsgewalt, sondern auf den Gesetzen, die sich das Volk einstimmig selber gibt und denen es gemeinsam handelnd Gehorsam verschafft. Denn wer dem Gesetz nicht gehorchen will, dem er selbst zugestimmt hat, der schließt sich aus der Gemeinschaft aus, die sich durch die Gesetzgebung als Staatsvolk konstituiert (oben: §§ 64, 69 – 71). Ein solches Volksgesetz ist kein von einer souveränen Staatsgewalt sanktionierter Befehl, sondern eine von allen Staatsangehörigen angenommene Direktive, deren Gültigkeit auf vereinbartem Gemeinwillen und damit letzten Endes auf der Maxime Pacta sunt servanda beruht (H. Arendt 1970 S. 445 f.). „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat“ und „das Volk über die herrsch(en läßt), die es regieren“, mögen das nun Monarchen, Repräsentanten, Parteien oder andere Partikularitäten sein (ebd. S. 172 f.). Entstehen aber kann solche Staatsmacht nur dort, wo in ihrem politischen Willen freie Männer imstande sind, sich öffentlich, publice, in loco publico, zur res publica zu versammeln und einen gemeinen Willen und Gemeinsinn (ebd. S. 203) auszusprechen. „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, . . . sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ,hat die Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Zahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln, und daß seine Vollmacht erlischt, sobald diese Gruppe oder dieses Volk auseinandergeht“ (ebd. S. 174 f.). Weil solche Staatsmacht folglich allen menschlichen Gemeinschaften innewohnt, erscheint sie uns als ein Selbstzweck, der keiner weiteren Rechtfertigung oder Legitimierung bedarf (ebd. S. 180 f.). Eben das unterscheidet sie von der Gewalt, deren sich ein Heer oder ein Herrenvolk bedient, um Besiegte und Unfreie zu beherrschen, bis schließlich alle Untertanen die Freiheit einbüßen. Wo dagegen Freiheit besteht, da kann eine Gewalt, die persönliche und sachliche Werkzeuge anwendet, um Gehorsam zu erzwingen, niemals Selbstzweck sein; stets ist sie instrumental und bedarf daher eines Zweckes, der sie dirigiert und in ihrem Tun rechtfertigt und der von allen ihr Unterworfenen in Freiheit anerkannt werden muß, wenn er sie legitimieren soll. Niemals kann daher mit tyrannischer Gewalt erzwungener Gehorsam legitime Macht über freie Männer erzeugen, niemals die Macht der Regierung eines freien Volkes auf herrschaftlicher Gewalt und herrschaftlichem Befehl beruhen (ebd. S. 171 f., 176, 180).
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§ 653b. Kann demnach legitime Gewalt nur von einem Haupte ausgeübt werden, das ein Volk unter der Bedingung seiner Freiheit und Mitregierung dazu ermächtigt hat, so ergibt sich, was die Männer betrifft, auf deren Beistand die Macht der Regierung beruht, die Notwendigkeit, „einen jeden einzubeziehen, ihm das berechtigte Gefühl der ,Teilhaberschaft an den Regierungsgeschäften‘ zu geben,“ und zwar so, daß sich ein jeder tagtäglich und beständig ihrer anzunehmen hätte. Dann wird man finden, daß für jedermann nur die räumlich kleinsten politischen Körper bestimmt sein können, daß es darauf ankommt, sie in den Staatsapparat einzuordnen, der alle vertritt, und daß diese Aufgabe nur die föderative Verfassung einer Bundesrepublik lösen kann: „Die Elementarrepubliken der Räte, der Kreisrepubliken, die Länderrepubliken und die Republik der Union sollen sich in eine Stufenfolge von Machtbefugnissen gliedern, deren jede, im Gesetz verankert, die ihr zufallenden Vollmachten besitzt und die alle zusammen in ein System von wirklich ausgewogenen Hemmungen und Kontrollen für die Regierung integriert sind“ (H. Arendt 1963 S. 326: Zitat nach Thomas Jefferson 1816). Also tritt die weitere Frage, wer regieren soll und wessen Regierung das Volk als legitim gelten läßt, hinter der Beobachtung, „daß es nicht leicht ist, eine Regierung zu erhalten, auf deren Güte und Weisheit man sich unbedingt verlassen kann“, und hinter der Forderung an das politische Denken zurück, sich „mit der Möglichkeit schlechter Regierungen vertraut (zu) machen.“ Das Volk wird dann die tatsächlich immer in irgendeiner Form vorhandene Kontrolle der Regierungsmacht dadurch verstärken, daß es die zur Kontrolle Berechtigten und ihre Befugnisse positiv bestimmt und die Mittel der Kontrolle verfassungsmäßig festlegt. Die politische Freiheit des Volkes bedarf nämlich einer Verfassung von der Art, „daß es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten“ (K. Popper 1957 / 1980 Bd. 1 S. 170 f., 357 f.). Es ist bemerkenswert, daß Politik- und Staatswissenschaft, wenn sie sich mit diesen Problemen befassen, zwar immer wieder sowohl des griechischen demokratischen Stadtstaates nebst seiner Zerstörung durch Tyrannei und Platos Theorie der Gerechtigkeit als auch der „constitutio libertatis“ durch die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gedenken (ebd. Bd. 1 S. 27, 29, 126 ff. H. Arendt 1963 S. 35 – 37, 281, 326), daß sie jedoch die ciceronianisch-augustinische Tradition, die zum ersten Male ernsthaft der Möglichkeit einer wirklich bösen Staatsgewalt Rechnung trug, vollständig außer Acht lassen, obwohl doch politische Beobachter der Karolingerzeit in ihr den Staat des Hochmittelalters mühelos wiedererkannten (oben: §§ 603, 604, 620), einen Staat, der nicht nur nach ihren Begriffen keiner Verherrschaftlichung zugänglich war (oben: § 410), sondern auch nach unseren Begriffen zum ersten Male die bundesstaatliche Sicherung der Volksfreiheit verwirklicht und eine bis in die amerikanische Revolution hineinreichende Tradition (oben: §§ 394 – 398) begründet hat. Es gibt daher für die auf dem System der identischen Willensbildung aufgebaute Staats- und Regierungsform noch nicht einmal einen Namen, wenn man von dem selten benutzten und nur das Nichtseiende bestimmenden Adjektiv präparlamentarisch absieht.
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Ist aber nicht die Mediävistik selbst daran schuld, wenn die Politikwissenschaft heute annimmt, „daß der abendländische Freiheitsbegriff entscheidend durch eine lange und schwer zu überblickende Geschichte religiösen und philosophischen Denkens vorgeformt ist, und zwar gerade in jenen langen Jahrhunderten zwischen dem Untergang der antiken und der Geburt der neuzeitlichen Welt, in denen es politische Freiheit nicht gab und Menschen . . . sich für eine solche Freiheit auch nicht interessierten“ (H. Arendt 1963 S. 35) – obwohl doch eben in jenen langen Jahrhunderten die germanisch-romanischen Staaten zum ersten Male in der europäischen Geschichte, mochten Theologen und Philosophen es nun bemerken oder nicht, die Gewaltenteilung mittels föderalen Staatsaufbaus von unten her, die Kontrolle der königlichen Gewalt durch Mitregierung des Volkes und seiner Großen und das Volksrecht, den untauglichen Herrscher zu verlassen, schließlich die Teilung der richterlichen Gewalt zwischen Gerichtshaltern und Urteilsfindern in der politischen Praxis verwirklicht haben? Sowohl die historische Empirie als auch die politikwissenschaftliche Begriffsbildung erlauben es uns, die Vorstellung zu verwerfen, Staaten hätten nur als herrschaftliche und gewaltsame Schöpfungen entstehen können und von oben her erbaut werden müssen. Daher sind wir nicht länger gezwungen, in den Staatsverfassungen des frühen und hohen Mittelalters nach einem vom Herrscher geschaffenen, gegenüber dem Volke selbständigen und einen Untertanenverband weder erfordernden noch duldenden Exekutivapparat zu suchen, wie er vorher den römischen Kaisern in ihren Militär- und Zivilbehörden zur Verfügung gestanden hatte und seit dem späten Mittelalter in den fürstlichen Steuer-, Justiz- und Polizeibehörden von neuem entstehen sollte (oben: §§ 391, 446). Einen solchen, nicht auf vom Volke verliehener Macht, sondern auf (heer-)königlicher Gewalt beruhenden Exekutivapparat aber hatte man stets in der Vasallität erkennen zu können geglaubt, da man die Existenz eines behördenlosen Staates ansonsten nicht für möglich hielt. Dieser Ansicht bin ich selbst noch vor wenigen Jahren gefolgt (E. Pitz 2001a S. 443, 483 f.), solange ich sie noch nicht durch eine bessere Verfassungslehre zu ersetzen vermochte. Im Rahmen einer solchen neuen Lehre jedoch erweist sich, daß der königliche Untertanenverband stärker war als die Vasallität und diese daran hinderte, aus ihm heraus- oder gar ihm gegenüber- und entgegenzutreten.
§§ 654 – 661. Die allgemeine Vereidigung der Untertanen von 789 § 654. Daß die karolingische Verfassung dem Reichsuntertanenverbande wachsende Bedeutung beilegte, läßt sich von der neuen Gestalt ablesen, die die Reichskanzlei der Inscriptio der Königsurkunden aufprägte, jenem Formularbestandteil, in dem der Aussteller die Person oder die Personen nennt, an die er seine Willenserklärung adressierte, damit sie sie beachteten und seinem Willen Geltung verschafften. Den spätrömischen Verwaltungsbrauch beibehaltend, hatten die Merowingerkönige ihre Diplome in der Regel an ihre Amtleute gerichtet, obwohl das
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römische Amtsrecht längst obsolet geworden war. Unter den Hausmeiern nahm als erster der jüngere Pippin diese königliche Gewohnheit auf, indem er omnibus episcopis abbatibus ducibus comitibus vicariis centenariis vel omnibus missis meis discurrentibus bekanntgab, was er zugunsten Dritter verfügt hatte (MGH. DMaiord. 19). Diesen Brauch behielt er bei, nachdem ihn die Franken zum Könige erhoben hatten. Derselbe Personenkreis war zweifellos gemeint, wenn sich der königliche Befehl einfach an die Großen wandte: noverit omnium procerum nostrorum magnitudo praesentium videlicet et successorum (MGH. DKar. 3, ähnlich DKar. 13). Nur erst sehr vereinzelt kündigte sich eine neue Auffassung an, der zufolge die Getreuen, fideles, (Gottes und) des Königs, als nicht näher bestimmte Personenvielheit an die Stelle der Amtleute traten (DKar. 8, 15). Erst unter Pippins Sohne König Karl gewann diese neue Auffassung die Oberhand. Denn während die Kanzlei die herkömmliche Inscriptio noch bis zum Jahre 795 häufig benutzte (DKar. 58, 66, 72, 88 und öfter bis 179), sah sie danach von weiterer Verwendung völlig ab (nur DKar. 195 noch einmal nach älterer Vorlage). Eine daneben verwandte jüngere Adressierung an die Amtleute und (überhaupt) an alle (übrigen) Getreuen blieb darüber hinaus bis zum Jahre 803 in Gebrauch (DKar. 76, 98 u. ö. bis 196, 199). Sie leitete hinüber zu der von Anfang an häufigen, aber im letzten Jahrzehnt der Regierung des nunmehrigen Kaisers allein benutzten Adressierung an alle königlichen Getreuen, sowohl jetzt lebende wie zukünftige (DKar. 55, unten: § 688, DKar. 67, 69, 73, 78, 79, 81 u. ö.). Die Neuerung wird dadurch unterstrichen, daß die Kanzlei zugleich das Formular der Diplome um die Inscriptio kürzte und die Adressaten nur noch im Kontext der Urkunden in der Promulgatio oder Publikationsformel (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 47 f., 2 S. 299) nannte (zuerst DKar. 116, 117, 118). Offenkundig verstand die Kanzlei unter den Getreuen in erster Linie die Amtleute, deren Aufzählung sich nun erübrigte, ja vielleicht sogar den noch engeren Kreis von Männern, die als Ratgeber des Königs, als Königsboten mit richterlicher Gewalt und im Verkehr mit den einzelnen Reichsteilen in einem besonders nahen Verhältnis zum König standen (D. von Gladiß 1937). Als Sondertitel für diese Männer war das Wort fidelis allerdings nicht geeignet, da es auch jeden Untertan schlechthin bezeichnen konnte, der dem Könige den Untertaneneid geleistet hatte (Ch. E. Odegaard 1941 S. 287 f. W. Kienast 1990 S. 48), mithin die Gesamtheit der freien Männer, deren Partikularverbänden der König vor allem die Rechtspflege und die Bekanntmachung seiner Gesetze anvertraute: „Auch wollen wir, was die Kapitelgesetze betrifft, die jetzt oder bei anderer Gelegenheit von uns mit Rat unserer Getreuen verabschiedet werden, daß zuerst die Erzbischöfe und die Grafen in deren eigenen Bischofsstädten sie, sei es in eigener Person oder durch ihre Gewaltboten, von unserem Kanzler in Empfang nehmen, und ein jeder von ihnen soll sie alsdann für die anderen Bischöfe, Äbte, Grafen und sonstigen Getreuen von uns in seiner Kirchenprovinz abschreiben lassen, und die sollen sie in ihren Grafengerichten vor der Allgemeinheit verlesen, damit unser Gebot und Wille jedermann kundwerden kann“ (MGH. Capit. 1, 303 n. 150 c. 26 von 823 / 825. D. von
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Gladiß 1937 S. 450 f. K. Bosl 1952 S. 291 f.). Einen Widerspruch zwischen dem engeren und dem weiteren Sinne, in dem der Begriff fidelis benutzt werden konnte, brauchen wir nicht anzunehmen, da wir mit der synonymen Verwendung der Worte primores, fideles und populus vertraut sind (oben: § 617). § 655. Die Kanzlei Kaiser Ludwigs des Frommen behielt die Gewohnheit bei, den Begriff fideles in doppelter Bedeutung zu verwenden. Nach 840 aber begannen die Kanzleinotare, ihn im engeren Sinne durch Ausdrücke wie königlicher Hausgenosse (familiaris regis, R. His 1928 S. 40) oder Amtmann (ministerialis) zu ersetzen, so daß der Plural fideles nun eindeutiger als früher die Gesamtheit der Untertanen bezeichnete, die der fromme Sinn der Herrscher gerne mit der Christenheit gleichsetzen wollte. Bereits die Regierung König Pippins hatte die Redewendung von der Gemeinde der Christgläubigen und Königstreuen geprägt (unten: § 688), aber auch unter Karl dem Großen war sie nur selten und nur in Diplomen für italienische oder südgallische Empfänger verwandt worden (MGH. DKar. 188, 189, 207). Ihre große Zeit begann erst im 9. Jahrhundert, nachdem „das frühmittelalterliche Kaiserdiplom . . . unter Karl dem Großen und dann vollends von der Kanzlei Ludwigs des Frommen im Gesamtbilde und in den Einzelzügen zu jenem allgemein bekannten Typ entwickelt worden (war), der für die Folgezeit das selbstverständliche Muster bleiben sollte“ (Th. Schieffer in MGH. DLo. I., Einleitung S. 40). In den Diplomen Kaiser Lothars I. (840 – 855) finden sich vereinzelt noch alle Amtleute oder alle Amtleute und sonstigen Getreuen als Adressaten (MGH. DLo. I 1, 18, 42 u. ö.). Die Kanzlei seines Sohnes, König Lothars II. (855 – 869), jedoch hat diese Adressierung gar nicht mehr benutzt. Offenbar war jetzt jede Erinnerung an die Verfassung des spätantiken Anstaltsstaates erloschen, hatte sich der dazugehörige kaiserliche Verwaltungsstab vollständig in die Personenvielheit der Königstreuen verwandelt, auf deren willigem Beistand und Gehorsam alle Königsmacht beruhte. Schon die meisten Urkunden Kaiser Lothars I. wandten sich (jetzt stets in der Publikationsformel) nur noch an diese Personenvielheit (noverit industria omnium fidelium nostrorum tam presentium quam futurorum, DLo. I. 2, 4, 8, 11, 15 u. ö.), und immer häufiger hieß diese Gruppe, mochte sie nun neben den Amtleuten oder allein genannt werden, „Getreue der heiligen Kirche Gottes und des Königs, jetzt lebende oder zukünftige“ (DLo. I. 1, 5, 6, 9, 10, 18 u. ö.). Schließlich wurde diese Wendung zum Regelfall, und als solchen behielt sie die Kanzlei König Lothars II. bei (DLo. II. 6 – 11, 13 u. ö.). Seit 844 / 850, nachdem die Amtleute-Formel bereits ausgestorben war, fügte man in diese Adresse noch einmal einen neuen Begriff ein. Dies war das Wort universitas, das schon in der spätrömischen Rechtssprache eine (privat-)rechtsfähige Personengesamtheit und schon in den frühen Königreichen der Germanen die Reichsgemeinde aller Untertanen bezeichnet hatte. Die Publikationsformel universitas noverit, universitatem convenit observare findet sich jedenfalls bereits in den alten Gesetzen der Burgunder (MGH. Leges nationum Germ. t. II pars I p. 43 lin.
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8, 81 lin. 5). Umschrieben werden konnte die universitas als generale collegium omnium fidelium nostrorum (MGH. DLdK. 20 und 23, S. 126 Z. 12, 129 Z. 20). So werden wir nicht fehlgehen in der Annahme, daß auch die fränkische Reichskanzlei seit der Mitte des 9. Jahrhunderts die Gesamtheit der königlichen Getreuen nicht mehr nur als durch die Königstreue konstituierte Personenvielheit, sondern auch als Verbandseinheit, als herrschaftliche Genossenschaft kenntlich machen wollte, da ja dieser Untertanenverband dem Königtum nicht nur zeitweilig während der Interregna und Königserhebungen, sondern beständig als aus eigenem Rechte handlungsfähige und an der Regierung teilhabende politische Gemeinschaft gegenüberstand. Wohl nur bei einer solchen Sicht der Rechtslage konnten die königlichen Notare üblicherweise zwar von der Gesamtheit der Getreuen der Kirche und des Königs reden (omnium fidelium sanctae dei ecclesiae nostrorumque praesentium et futurorum noverit universitas: DLo. I. 112 für Corvey von 849 / 859, 114 für Prüm von 851, 129, 130, 139. DLo. II. 12, 15, 19, 22, 23, 24), gelegentlich aber auch die Reichsgemeinde vom Kirchenvolk unterscheiden (quocirca totius regni nostri noverit universitas omnisque ecclesiae dei tam presentis quam futurae cognoscat unanimitas: DLo. I. 121 vom Jahre 852). Die Anregung hierzu mag ihnen von dem kaiserlichen Erzkaplan Remigius gegeben worden sein, der zugleich Erzbischof von Lyon (852 – 873) war, denn für die Bischofskirche von Lyon war nicht nur die Kaiserurkunde bestimmt, in der sich dieser Ausdruck findet, sondern auch eine Urkunde König Lothars II. von 863, deren Gebot an „alle Getreuen unseres Reiches und an (alle) unserem Gebotsrecht Unterstehenden“ erging (omnibus fidelibus regni nostri et sub iure et potestate nostra consistentibus: DLo. II. 20, ferner totius regni nostri unanimis cognoscat assensio: DLo. II. 21, ebenfalls für die Kirche zu Lyon). § 656. Die hier erörterten Neuerungen im Sprachgebrauch der karolingischen Königskanzlei können nicht damit erklärt werden, daß sich darin ein Wandel der Reichsverfassung widerspiegelte, denn weder der Reichsuntertanenverband noch dessen Teilhabe an der Reichsregierung sind erst in dieser Zeit in Aufnahme gekommen. Beides ist älter als das Karolingerreich, und so verfügte dessen Amtssprache denn auch bereits lange vor der Mitte des 9. Jahrhunderts mit dem Worte generalitas populi über einen eingebürgerten Begriff für die Reichsgemeinde, der mit dem Substantiv universitas synonym verwandt werden konnte (oben: §§ 153, 183, 607) und von dem wir gerne wüßten, warum die Kanzlei Lothars I. ihn im diplomatischen Gebrauch zugunsten der universitas verworfen hat. Sollte man unter der generalitas populi eher die sichtbare, sich immer wieder um den König versammelnde Reichsgemeinde (Kaiser Ludwig im Jahre 817: Cum nos . . . Aquisgrani palatio nostro more solito sacrum conventum et generalitatem populi nostri . . . congregassemus, MGH. Capit. 1, 270 n. 136 pr.), unter der universitas dagegen die unsichtbare, auch die Abwesenden umfassende, lediglich intelligible Gesamtheit aller Untertanen verstanden haben, so würde im Gebrauch des Begriffs universitas ein höheres Abstraktionsvermögen zutagetreten, als der ältere Ausdruck erfordert hatte!
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Was aus jenen Neuerungen zu uns spricht, das dürfte demnach das Ergebnis eines Nachdenkens über die Frage sein, was Königsmacht und Untertanentreue eigentlich bedeuteten, und dieses Nachdenken kann sich nicht nur in der Reichskanzlei, es muß sich auch in den Beratungen der Reichsregierung und der Reichsversammlungen vollzogen haben, denn angestoßen worden war es von einem bestimmten Ereignis des Jahres 785, das eine bis dahin unangefochtene Rechtsmeinung zum Problem gemacht hatte. Die Notwendigkeit aber, eine Scheidung des Reiches aller Franken in Teilreiche zu planen und schließlich auch durchzuführen, ließ es von da an nicht wieder zur Ruhe kommen (oben: §§ 638, 639). Bei jenem Ereignis handelte es sich (H. Mitteis 1933 S. 50 – 52. W. Kienast 1952 S. 26 f. A. Holenstein 1991 S. 110 – 112, 126) um eine Verschwörung thüringischer Großer, an deren Spitze ein Graf Hardrad stand. Ein Geheimbund kann das schwerlich gewesen sein, da sie, was wohl nur auf einem Landtage möglich war (oben: § 473), das Volk der Thüringer für sich zu gewinnen vermochte (Annales Nazariani, MGH. SS. 1 S. 41 – 43. RI 12 n. 270c. W. Schlesinger 1941 / 1964 S. 50 – 52): Thuringi autem consilium fecerunt, ut Carolum regem Francorum dolo tenerent et occiderent; si ergo hoc scelum . . . perpetrare non praevaluissent, saltim hoc cupiebant constituere, ut non ei oboedissent, neque obtemperassent iussis eius. König Karl erfuhr zwar alsbald davon, ließ aber absichtlich einige Zeit verstreichen, bevor er von einem der Verschworenen, dessen Tochter mit einem Franken nach fränkischem Gesetz verlobt war (oben: § 493), deren Herausgabe zu dem festgesetzten Termin fordern ließ. Dieses sein Verhalten deutet darauf hin, daß er den (von den Quellen nicht erwähnten) Beschwerden, die den Beschluß der Thüringer begründet haben müssen, die Berechtigung nicht absprechen konnte, da sie ihm offenbar keinen Rechtsgrund boten, um sofort gegen die Thüringer vorzugehen. Erst als der Vater der Braut dem königlichen Befehl den Gehorsam verweigerte und außer seiner Verwandtschaft auch fast alle Thüringer, pene universos Thuringos proximosque suos, um sich scharte, entsandte der König Streitkräfte, die die Güter der Empörer verwüsteten. Davon erschreckt, flüchteten sich die Thüringer – die Annalisten identifizieren die Verschwörer mit dem Volke – in das Kloster zu Fulda, dessen Abt für sie bei Karl Fürsprache einlegte, nachdem er sie dazu bewegt hatte, sich dem Könige zu unterwerfen. Karl ließ sie unter freiem Geleit, cum pace, zu sich kommen und blieb auch dann noch höchst sanftmütig, mitissimus, als sie sich weder imstande noch willens erzeigten, ihre Anschläge abzustreiten. Wieder deutet das Verhalten des Königs darauf hin, daß die Rechtslage nicht einfach gewesen sein kann. Es fehlte offenbar an einem eindeutigen Grunde, um den Thüringern die königliche Gnade zu entziehen. Die Beratungen darüber erforderten einige Tage und hatten ein merkwürdiges Ergebnis: Der König sandte die Beschuldigten nach Italien und Rom, nach Neustrien und Aquitanien, damit sie dort auf Reliquien der Heiligen dem Könige und seinen Nachkommen den Treueid leisteten, per corpora sanctorum scilicet ut iurarent fidelitatem regi liberisque eius. Diese Pilgerfahrten und die Vereidigungen fanden im Jahre 786 statt. Auf der Rückreise endlich wurden einige Thüringer verhaftet und geblendet; andere ge-
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langten nach Worms, wo der König im August 786 einen Reichstag abhielt (RI 12 n. 272a); dort wurden sie verhaftet, ins Exil geschickt und geblendet, und alle ihre Güter wurden konfisziert. Wenn dies alles mit rechten Dingen zugegangen ist, woran wir nicht zu zweifeln brauchen, obwohl die Annalisten es nicht für nötig hielten, die urteilenden Gerichte zu erwähnen, so haben erst die im Jahre 786 geschworenen Treueide den König dazu berechtigt, die ein Jahr zuvor gefaßten Beschlüsse der Thüringer nachträglich zum Treubruch zu erklären und die Worthalter des Volkes dafür an Leib und Gut zu bestrafen (zur Strafbarkeit des Treubruchs: G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 307 – 311, Bd. 4 S. 515 f. R. Scheyhing 1960 S. 18 f. A. Holenstein 1991 S. 123 – 127). § 657. Ich nehme an, daß die Rechtmäßigkeit dieser Urteile umstritten blieb und damit nicht nur den König und seine ständigen Berater, eben jene Personen, die Abt Adalhard als den ersten Teil des fränkischen Staates bezeichnet (oben: § 606), sondern auch den zweiten Staatsteil, nämlich die Reichsversammlung, vor die offenbar noch von niemandem durchdachte Frage stellte, was es mit der Untertanentreue von Rechts wegen auf sich hatte. Diese Frage konnte aber nur in Übereinstimmung mit dem Rechtsbewußtsein des Reichsvolkes und der Teilreichsvölker beantwortet, die Antwort also nur im Einvernehmen mit den Großen und im Rhythmus der halbjährlichen ordentlichen Reichsversammlungen (oben: §§ 607, 608) gefunden werden. Über mehr als zwei Jahre zogen sich daher die Beratungen hin, bevor der König im Frühjahr 789 die ersten Ergebnisse bekanntgeben konnte. Auf dem Königshof Herstall veröffentlichte er im März des Jahres das Verbot des Gildeeides (oben: § 174), mit dem die Gesetzgebung über die Schwureinungen beginnt, wobei es nicht die Absicht war, das dem Volksrecht angehörige Einungsrecht der Freien zu beseitigen, wozu die Reichsregierung jeglicher Kompetenz ermangelte, wohl aber, in das Einungsrecht einen Treuvorbehalt zugunsten des Königs einzufügen, damit es nicht länger die Einheit des Untertanenverbandes durchbrechen konnte (oben: §§ 195, 196. A. Holenstein 1991 S. 121). Unmittelbar darauf, am 23. März 789, konnte Karl zu Aachen in dem dem Volke geöffneten Saal des Palastes, in Aquis palatio publico, in einem für die Königsboten bestimmten Edikt den hinfort zu verwendenden Wortlaut der Eidesformel festlegen: De sacramentis fidelitatis causa, quod nobis et filiis nostris iurare debent, quod his verbis contestari debet: Sic promitto ego ille partibus domini mei Caroli regis et filiorum eius, quia fidelis sum et ero diebus vitae meae sine fraude et malo ingenio (MGH. Capit. 1, 62 n. 23 c. 18). Das Edikt besteht aus einer Präambel: „Über die Eide wegen der Treue: daß (die Untertanen sie) uns und unseren Söhnen beschwören müssen (und) daß (sie) mit diesen Worten bekundet werden muß“, sowie aus der Eidesformel: „Dergestalt verspreche ich, der und der, der Hälfte (oder Seite) meines Herrn, König Karls, und seiner Söhne, daß ich (ihr) treu bin und sein werde, solange ich lebe, ohne Täuschung und Hinterlist“. Es besagt demnach nichts über den Rechtsgrund der Treupflicht, gleichsam als ob dem Gesetzgeber weder für den Untertan noch für dessen Untertänigkeit ein Begriff zur Verfügung gestanden hätte. Die Formel deutet aber an, daß sich der Schwörende
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und der König mitsamt seinen Söhnen als Partner eines Vertrages gegenüberstanden. Da der Schwörende den Eid zwar in eigener Person, nicht jedoch allein, sondern gemeinsam mit (allen) anderen Untertanen leistete, kann damit nur auf den Herrschaftsvertrag Bezug genommen worden sein, den die Reichsgemeinde im Jahre 768 mit Karl abgeschlossen hatte, als sie ihn zum Haupte über sich erhoben und zum Könige angenommen hatte. Zweifellos gleichzeitig mit diesem Edikt erließ König Karl eine Instruktion für die Königsboten, die den Untertanen die Eidesformel zu Gehör bringen und den damit zu leistenden Eid abfordern sollten: Quomodo (homines) illa sacramenta debeant audire et facere (MGH. Capit. 1, 66 n. 25). Die Instruktion ist undatiert, es besteht daher kein Grund, sie dem Wormser Reichstag vom August 786 zuzuordnen (RI 12 n. 273. Th. Mayer 1956 S. 178 A. 1. L. Kolmer 1989 S. 80), denn damals hätte Karl über die Eidesangelegenheit nur dann schon entscheiden können, wenn er als Autokrator der Notwendigkeit überhoben gewesen wäre, dazu den Konsens der Großen und des Reichsvolkes zu erwerben. Aber selbst jetzt, nach mehrjähriger Beratung, scheint Karl noch mit Widerstand gegen die Vereidigung gerechnet zu haben, stellte das Schwören doch ein gefährliches, weil den Zorn Gottes und seiner Heiligen herausforderndes und daher im ärgsten Falle die Existenz eines Menschen bedrohendes Geschäft dar (oben: §§ 175 – 178). Dreierlei sollten die Königsboten daher den Gerichtsgemeinden der Reichskirchen und Grafschaften (Capit. 1 S. 67 Z. 25 – 26, oben: § 285, unten: § 671) der Reihe nach gemäß altem volksrechtlichem Herkommen, per ordine ex antiqua consuetudine (Capit. 1 S. 66 Z. 28), erklären: 1. weswegen die Eide notwendig seien, wobei zu dem gewohnten Rechte hinzukam, daß jetzt die bekannten treulosen Männer große Verwirrung im Reiche erregen wollten und dem Könige nach dem Leben getrachtet hätten mit der expressen Begründung, sie hätten ihm keine Treue geschworen, inquisiti dixerunt, quod fidelitatem ei non iurasset: Der Hinweis auf die thüringischen Empörer des Jahres 785 / 86 ist eindeutig (oben: § 184); 2. aus welchem Grunde, quomodo, Bischöfe, Äbte, Grafen und Königsvassen, also die hohen königlichen Amtleute (oben: §§ 557, 558, 587), nebst dem Stifts- und Ordensklerus ebenso den Eid schwören sollten wie die niederen königlichen Amtleute und Weltgeistlichen, alle dingpflichtigen Männer im Alter von zwölf bis siebzig Jahren, seien es Gauleute oder Lehnsmannen eines Herrn, und schließlich auch hochrangige Unfreie, nämlich Inhaber grundherrlicher Ämter und belehnte Reiterkrieger (oben: §§ 153, 285, 557); 3. daß es weder nach dem Willen noch auf Befehl des Königs geschehe, wenn jemandem, wie viele klagten, sein (angeborenes Volks-)Recht nicht gewahrt werde, und daß der König es vollständig bessern wolle, wenn ein Graf oder Königsbote oder anderer Amtmann, comis aut missus vel quislibet homo, jemandem sein Recht verweigere. Die Königsboten sollten daher nicht nur Namen und Zahl der Schwörenden aufzeichnen (oben: § 285), sondern auch jeden
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einzeln befragen, nach welchem Rechte er lebe, per singulos inquirant, quale habeant legem ex nomine (nomine von Georg Waitz emendiert zu natione). § 658. Schwer zu beantworten ist die Frage, was mit der alten Gewohnheit gemeint ist (A. Holenstein 1991 S. 110), die die Königsboten (wie ich meine: gegen etwaigen Widerspruch) geltend machen sollten, um die Pflichtigen zum Schwören zu bewegen. Denn es hatten sich zwar einst die Könige aus dem Merowingerhause Treueide von allen Untertanen leisten lassen, aber da die Quellen später darüber schweigen, ist es möglich, daß die Dinggemeinden seit der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts keine allgemeinen Eide mehr geschworen haben, zumal wenn den karolingischen Hausmeiern daran gelegen war, dies zu verhindern, um das ihnen lästige Schattenkönigtum zu schwächen (H. Mitteis 1933 S. 50 f.). Ich meine jedoch, daß diese Möglichkeit, zumindest von Rechts wegen, gar nicht bestand, weil nicht nur jede rechtmäßige Erhebung eines Königs der Zustimmung der Untertanen bedurfte, die den Erkorenen und von den Großen Ernannten zum Herrn annehmen und ihm Beistand und Gehorsam versprechen mußten, sondern weil auch die rechtmäßige Bestallung eines Hausmeiers die ordentliche Mitwirkung eines rechtmäßigen Königs erforderlich machte. Der Untertaneneid war nicht nur ein Treue-, sondern auch ein Gehorsamsversprechen. Wer ihn leistete, der tat in obsequio alicuius iurare (Nithard, Hist. S. 5 Z. 10, oben: §§ 618, 633), und damit übernahm er die Pflicht, gemeinsam mit allen anderen Getreuen alles das an Arbeitsdiensten und Abgaben aufzubringen, was der König und die Reichsregierung zur Bestreitung der öffentlichen Bedürfnisse für notwendig hielten, daher nicht nur einzelne Dienste und Beisteuern, sondern auch deren Gesamtheit, außer als servitium, auch als obsequium oder oboedientia bezeichnet werden konnte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 11 Anm. 1): Ut liberi homines nullum obsequium comitibus faciant nec vicariis neque in prato neque in messe neque in aratura aut vinea . . . excepto servitio quod ad regem pertinet (MGH. Capit. 1, 143 n. 57 c. 2, ebd. S. 18). Zu dem obsequium gehörte wohl auch ein Beitrag zu den jährlichen Geschenken, die die Großen dem Herrscher auf dem Frühjahrs-Reichstage darbrachten (Hinkmar Z. 591), wobei sie gewiß als Worthalter ihres Volkes oder Landes und als Fürsprecher der Interessen desselben handelten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 106 – 110. St. Esders 1999 S. 60 f., 89). Soweit dieser Beitrag die gewöhnliche Höhe überstieg, mußte dazu gewiß die Zustimmung des Volkes im voraus erbeten werden (oben: § 627). Auch dem Könige werden die freien Männer das obsequium nur unter der Bedingung zugeschworen haben, daß jener ihre Verpflichtungen über das gewöhnliche Maß hinaus nur mit ihrer Einwilligung erhöhen werde, löste doch schon die bloße Anpassung ihrer Pflichten an veränderte Umstände Beschwerden über königliche Willkür aus (MGH. Capit. 1, 300 n. 148 c. 11). Wenn also der König, um die Einwilligung der Völker in die Vereidigung zu erlangen, es für nötig hielt zu betonen, daß er seinerseits gewillt sei, jedem Manne das Recht seines Volkes oder Landes in aller Fülle zu gewähren – „der alte Grundsatz, daß jeder im Reich nach
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seinem eigenen Recht leben und gerichtet werden soll, hat unter Karl und seinen Nachfolgern wiederholte Anerkennung gefunden“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 344, 347 f.) –, so bekannte er sich damit zweifellos zu der vielleicht einzigen, auf jeden Fall aber maßgeblichen Bedingung, unter die die Volksrechte die Treupflicht der Untertanen stellten. Diese Rechte nun waren consuetudines: Sie lebten in der alltäglichen Rechtspraxis der Dingvölker, und jeder, der sich auf sie oder auf eine bestimmte Norm aus ihrem Vorrate berufen wollte, mußte die Auskunft darüber vom Volke erfragen. Völkische Gewohnheit aber regulierte zweifellos auch die Untertanenpflichten und die Bedingungen, unter denen die Völker zur Königstreue verpflichtet waren. Die königliche Verpflichtung, die Volksrechte zu achten, ist gewiß nicht im Jahre 789 zum ersten Male festgestellt worden. So gelangen wir zu dem Schlusse, daß Karl sie bereits beim Antritt seines königlichen Amtes im Jahre 768 übernommen hat. Zweifellos war damals als eines der Kettenglieder, aus denen sich die Erhebung germanischer Könige zusammensetzte, ein Herrschaftsvertrag zustandegekommen (oben: §§ 612b, 626), in dem sich der König dazu bekannt hatte, das Mitregierungs- und Königswahlrecht des Reichsvolkes (oben: §§ 601, 607, 640) ebenso wie die Rechte und Gesetze der Teilvölker zu achten, und der nach Bedarf durch spätere Vereinbarungen des Königs mit dem Volke respective den Großen, die deren Wort hielten, fortgeschrieben werden konnte (oben: §§ 493, 633, 638). Es war offensichtlich nicht so, daß die Gegenseitigkeit von Herrscher- und Untertanenpflicht in dem Treubegriff wurzelte (so F. Kern 1914 S. 261) und daß nur der Mann dem Herrn, nicht aber der Herr dem Mann Gehorsam schuldete (A. Holenstein 1991 S. 13); vielmehr gründete sich die Zweiseitigkeit der Treupflichten auf den Herrschaftsvertrag, der getreuliche Pflichterfüllung und Gehorsam des Königs gegenüber den Rechten und Forderungen des Volkes zur Voraussetzung für den Treugehorsam und Beistand des Volkes gemacht hatte: pacta sunt servanda (unten: § 837). § 659. Ich nehme daher an, daß sich der königliche Auftrag an die Missi, die Vereidigung von 789 aus der alten Gewohnheit heraus zu rechtfertigen, auf die Praxis der Herrschaftsverträge bezieht, die die Franken seit jeher mit ihren Königen abgeschlossen hatten, daß solche Verträge in den Jahren 751 und 768 auch von den ersten Königen aus dem Karolingerhause eingegangen worden sind und daß in den Verhandlungen, die König Karl von 786 bis 789 mit den Großen und der Reichsversammlung geführt haben muß, lediglich noch zu klären war, ob die alte Gewohnheit auch eine Erneuerung der Untertaneneide unabhängig von der Erhebung eines neuen Königs rechtfertige. Ferner dürften die Franken und die anderen zur Königswahl berechtigten Teilreichsvölker, als sie Karl im Jahre 768 zum Könige annahmen, die Treue- und Gehorsamspflicht nach den Regeln des Systems identischer Willensbildung auf sich genommen haben. Die Großen werden sich für sich selbst und im Namen der Partikulargemeinden, deren Wort sie hielten, dem Könige sei es formlos durch
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Handschlag, sei es formgerecht mit Hand und Mund schwörend ergeben und verpflichtet haben, die anwesenden geringeren Leute (minores, oben: §§ 607, 608b) werden dieser Verpflichtung durch gemeinsame Akklamation beigetreten sein, alle abwesenden Reichseinwohner aber galten als durch diese Gemeinschaftshandlung mit verpflichtet, sofern sie an der vorangegangenen öffentlichen Willensbildung ihrer Gemeinden beteiligt gewesen waren und dort der Erhebung Karls nicht öffentlich widersprochen hatten. Wer erst im Nachhinein (MGH. Const. 2, 10 n. 10, hier: S. 12 Z. 31 – 33, unten: § 739) und noch viele Jahre später Widerspruch erhob, der galt demnach als meineidig und treubrüchig, auch wenn er bei der Erhebung des Königs nicht persönlich anwesend gewesen war. Wir wissen nicht, warum die thüringischen Verschwörer von 785 meinten, dem Könige nicht zur Treue verpflichtet zu sein. Vielleicht waren sie im Jahre 768 noch zu jung gewesen, um an der öffentlichen Willensbildung teilzunehmen, vielleicht war die thüringische Landesgemeinde trotz ihrer Zinspflicht (oben: § 474) nicht fest genug in die Reichs- und Grafschaftsverfassung eingebunden, um an der Erhebung des fränkischen Königs teilhaben zu können, vielleicht war es aber auch eine bloße Spitzfindigkeit, wie sie der germanischen Eidespraxis wohl von jeher eigentümlich war (H. Hattenhauer 1988), wenn die Verschwörer von keiner anderen als einer beschworenen Treue zu wissen behaupteten. Man hat aus ihrem Verhalten erschließen wollen, daß die Huldigung der fränkischen Großen freiwillig erfolgte (W. Schlesinger, zitiert von A. Holenstein 1991 S. 98 A. 174), aber frei war der Wille der Franken nur solange, wie die gemeinsame Willensbildung der Reichsgemeinde nicht abgeschlossen war. Ebenso wenig kann ich der Ansicht beitreten, es habe eine „unbeschworene, angeborene Untertanenpflicht“ gegeben, der der ausdrückliche Untertaneneid nichts mehr habe hinzufügen können (F. Kern 1914 S. 258 A. 477), die also unabhängig von der öffentlichen Annehmung eines Königs bestanden hätte, oder es hätten außer den „fideles im engeren Wortsinne“ auch noch „einfache Freie, die als homo bezeichnet werden“ und „keine fideles, sondern bloße Untertanen waren“ (W. Kienast 1990 S. 180), vorhanden gewesen sein können (zur Bedeutung von lat. homo siehe unten: § 672). Wenn die consuetudines der Völker, auf die sich König Karl im Jahre 789 bezog, die Regeln identischer Willensbildung unausgesprochenermaßen in sich enthielten, so kann es zwischen den infideles, als welche Karl die Thüringer bestrafte, und den fideles keine dritte, neutrale Gruppe von Reichseinwohnern gegeben haben (S. Reynolds 1994 S. 88). § 660. Obwohl sich der König und die Reichsversammlung, deren Rechtsauffassung seniores und minores sämtlichen Partikulargemeinden übermittelten (oben: § 608), erst seit 786 aus gegebenem Anlaß darüber klar wurden, daß die dreifache Form, in der sich die Franken bei der Königserhebung ihrem Oberhaupte verpflichteten, zu unterschiedlichen Rechtsansichten über die Wirksamkeit und Gültigkeit dieser Verpflichtung Anlaß gab, kann nicht bezweifelt werden, daß auch die allgemeine Vereidigung der Untertanen aller Ränge vom Jahre 789 mit dem Herr-
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schaftsvertrag von 768 zusammenhing, den sie präzisieren und fortschreiben sollte. Die Huldigung von 789 erneuerte und verbesserte die von 768, sie ist daher gleich dieser als ein Glied jener Kettenhandlung anzusehen, deren vollständiger Ablauf erst einen Mann, der sich um das königliche Amt bewarb, wirklich zum Könige machte, indem sie ihn mit der Amtsvollmacht ausstattete, dem Reichsvolke aber die Mitregierung sicherte. Zug um Zug wies die Kettenhandlung beiden Seiten, dem Untertanenverbande und seinem erkorenen Haupte, Rechte und Pflichten zu, aus denen sich der Herrschaftsvertrag zusammensetzte. So war die Huld, ahd. hûldi = Gunst, Ergebenheit, Treue (dazu das Adjektiv hold = geneigt, gnädig, ergeben, treu), nach der wir, mit einem erst seit der Mitte des 14. Jahrhunderts belegten Verbalsubstantiv, vom Vorgang der Huldigung sprechen (H. Mitteis 1933 S. 481 A. 76. A. Holenstein 1991 S. 9), durchaus ein zweiseitiges Geschäft, denn sie wurde nicht nur mit lat. fidelitas = Treuepflicht, Treueid, sondern auch mit gratia und pax glossiert, der Gnade, Versöhnung, dem Erbarmen und Frieden, womit der König die Treue der Untertanen zu belohnen verpflichtet war. Zwar hat, soweit wir wissen, ein karolingischer König zum ersten Male im Jahre 858 seine Amtspflicht, jedem einzelnen Manne die königliche Gnade und das angestammte Volksrecht zu gewähren, beschworen: Sicut fidelis rex suos fideles per rectum honorare et salvare et unicuique competentem legem et iustitiam in unoquoque ordine conservare et indigentibus . . . rationabilem misericordiam debet impendere – übrigens wiederum innerhalb einer Erneuerung des ersten, damals bereits achtzehn Jahre zurückliegenden Herrschaftsvertrages – (MGH. Capit. 2, 295 n. 269. A. Holenstein 1991 S. 139), aber damit ist damals im Westfränkischen Reiche schwerlich neues Recht geschaffen worden. Eher stellt die positive Formulierung der königlichen Treupflicht einen weiteren Schritt auf dem Wege dar, den König Karl und die rechtskundigen Großen des Reiches im Jahre 786 in der Absicht betreten hatten, die bis dahin unproblematisch gewesene Huldigung mitsamt dem Herrschaftsvertrage, davon sie ein Teil war, gedanklich zu durchdringen und sich ihren rechtlichen Gehalt in allen Einzelheiten bewußt zu machen. Daß die im Jahre 789 von der Reichsregierung angeordnete allgemeine Vereidigung wirklich durchgeführt worden ist, kann nach allen aktenkundigen Folgewirkungen, die ihr zukamen, nicht bezweifelt werden (A. Holenstein 1991 S. 114 A. 53). Wieviele Getreue mögen die Missi in ihre Listen eingetragen haben? Bedenkt man, daß am 3. Juli 854 am Dingstuhl zu Reims vierundsechzig Männer verzeichnet worden sind (MGH. Capit. 2, 277 n. 261), unter denen indessen mindestens acht als Dekane bezeichnete Worthalter engerer Ortsgemeinden, also weiterer ungenannter Männer gewesen sein dürften, und daß im Inquisitionsverfahren gelegentlich bis zu zweihundert Gauleute als Zeugen aufgeboten wurden (H. Brunner 1872 S. 110 f. E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 4. St. Esders 1999 S. 50), so mag man mit durchschnittlich hundert freien Grundeigentümern in einer Grafschaft, folglich bei etwa fünfhundert Grafschaften im ganzen Reiche (oben: § 557), mit fünfzigtausend Getreuen rechnen. Da in dieser Summe die königlichen und adligen Vasallen mit enthalten waren, deren Gesamtzahl Kenner auf dreißigtausend geschätzt haben
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(W. Kienast 1990 S. 208, nach K. F. Werner), wird jene Rechnung wohl eher eine untere Grenze als den Durchschnitt markieren, dürfte doch namentlich in den östlichen Reichsteilen die Zahl der freien Grundbesitzer in einer Grafschaft erheblich über hundert gelegen haben (oben: § 279). § 661. Was immer man von derartigen Schätzungen halten mag: Sie ergeben immerhin eines, daß nämlich so allgemein, und auch von Freien, die kaum jemals persönlich an einer Reichsversammlung teilnehmen konnten, geforderte Treueide schwerlich ein persönliches Band zwischen Untertan und König geknüpft haben können. Das karolingische Reich kann nicht bloß von direkten persönlichen Bindungen zusammengehalten worden sein (S. Reynolds 1994 S. 88 f.), wie sie Nithard und andere regelmäßig den königlichen Palast besuchende und den König beratende Große zu empfinden vermochten; was die kleinen Grundeigentümer und Gauleute an den König band, dürfte eher das Volksrecht gewesen sein, kraft dessen sie sich nach den Regeln identischer Willensbildung an seiner Erhebung und damit an der Bewahrung der Reichseinheit beteiligten. Für sie war zweifellos der Inhalt des Herrschaftsvertrages, der ihnen den Schutz ihrer Volksrechte gegenüber Machtworten und unrechter Gewalt ihrer Könige sicherte, wichtiger als die Person des Königs, die sie vielleicht niemals zu Gesicht bekamen. Denn für alle Untertanen gehörten die subditio, das Sich-Unterwerfen unter die königliche Gewalt, und der dem Könige geleistete Treueid zusammen (Nithard, Hist. S. 36 Z. 2 – 3, oben: § 638). Was diese Männer wirklich erlebten, wenn sie am Dingstuhl ihrer Grafschaft und im Beisein ihres Grafen den Königsboten öffentlich (publice, oben: § 297) den Treueid leisteten, das war vielmehr die Konstitution ihrer Grafschaftsgemeinde als einer Teilgemeinde innerhalb des Reichsuntertanenverbandes und als einer gebietsbezogenen herrschaftlichen Einung oder Genossenschaft (oben: §§ 275a, 279), denn es schwor zwar jeder einzeln für seine Person: sic promitto ego ille, aber doch auch mit allen anderen Dinggenossen gemeinsam, und der Eid machte ihn nicht zum Untertan seines Grafen, sondern zu dem des Königs und damit der Reichsgemeinde, die dem Könige sein Amt übertrug. Über alle im übrigen bestehenden Rang- und Standesunterschiede innerhalb eines Volkes und über alle Unterschiede zwischen den Standesrechten der Teilreichsvölker hinweg begründete der allgemeine Untertaneneid einen einheitlichen Begriff, ja einen Einheitsstand der Freien, auf dessen Stärkung wohl auch Karls Bestreben zielte, ein einheitliches Wergeld für alle Freien zu etablieren (G. Dilcher in HRG 1 Sp. 1575, oben: § 115). Ich sehe demnach die verfassungspolitische Bedeutung der allgemeinen Vereidigung aller Freien und der vornehmen Unfreien, die Karl zum ersten Male im Jahre 789 ins Werk setzte, darin, daß sie die pagenses, also die kleineren, in lokalen Verhältnissen lebenden Grundbesitzer, enger an das Reich heranzog, als es die Huldigung getan hatte, die er im Jahre 768 bei seiner Erhebung zum Könige empfing, und damit erst eigentlich den vollkommenen Reichsuntertanenverband konstituierte, der als res publica und transpersonale Rechtstatsache – galt doch die Treue-
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pflicht nicht nur Karl, sondern über dessen Tod hinaus auch seinen Söhnen – der Reichsregierung objektiv, d. h. als rechts- und handlungsfähige Gesamtperson und als Vertragspartner, gegenüberstand (oben: §§ 621, 623). Wenn Karl aber, wie ich annehme, die Vereidigung im Einvernehmen mit der Reichsversammlung beschlossen hat, so kann sie nicht als Ausdruck seines persönlichen Machtstrebens oder einer sei es ererbten, sei es aus göttlicher Gnade ableitbaren Herrschergewalt, sondern nur als Erfüllung des Auftrages verstanden werden, den ihm das Reichsvolk bei seiner Erhebung erteilt hatte, die Einheit jener res publica zu bewahren.
§§ 662 – 665. Zum Stande der Forschung § 662. Dieses Ergebnis liegt außerhalb der Grenzen dessen, was die verfassungsgeschichtliche Forschung bisher gedacht und für möglich gehalten hat. Dafür gibt es zwei Gründe. Einmal nämlich setzt uns erst die Kenntnis des Verfahrens einer gemeinen politischen Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems dazu in den Stand, die Untertaneneide der Partikulargemeinden mit der Konstitution des Reichsuntertanenverbandes und diese mit dem Herrschaftsvertrag und den übrigen Gliedern der Kettenhandlung zu verbinden, als die sich uns die Königserhebung und damit eine von unten her erbaute Staats- und Verfassungsordnung darstellen (oben: § 448). Aus dieser Ordnung herausgelöst, müssen die karolingischen Untertaneneide letztlich sinnlose Institutionen bleiben, auch wenn sie seit jeher die Aufmerksamkeit der Forschung, und dies in den Einzelheiten durchaus mit Erfolg, erregten. Andererseits aber war die Staatslehre so sehr auf den scheinbar katatektonischen Staatsbau ihrer eigenen Zeit fixiert, daß es ihr (nahezu) unmöglich war, sich einen Reichsuntertanenverband als Grundlage der Verfassung und vertragsfähigen politischen Partner der alten Reichsregierung vorzustellen. Selbst Otto Gierke, dessen Blick in dieser Hinsicht noch am wenigsten beschränkt war (oben: §§ 36 – 38), stellt doch der „von unten auf organisierenden Volksbewegung“ eine davon unabhängige staatlich-monarchische Gewalt gegenüber (oben: § 271) und deutet die Verfassungsgeschichte als Antagonismus zweier selbständiger Prinzipien, von denen er jener die Freiheit des Einzelnen und dieser die staatliche Einheit als transzendenten Daseinszweck, jener die Genossenschaft der Staatsbürger und dieser die obrigkeitliche Spitze als Rechtsformen zuordnete. In dem Ringen der Prinzipien habe sich durch zwei Jahrtausende hin und solange kein harmonischer Ausgleich einstellen können, wie die „moderne deutsche Staatsidee“ noch nicht erkannt war, die erst „die Versöhnung der uralten Genossenschaftsidee mit der uralten Herrschaftsidee“ ermöglicht habe (E.-W. Böckenförde 1961 S. 150). Bereits bei Georg Waitz kündigt sich an, daß die deutsche Mediävistik selbst dieser gemäßigten Denkweise nicht würde folgen können, sondern sich auf die obrigkeitlich-monarchische Gewalt konzentrieren und damit jeder Versuchung entziehen würde, einen anatektonischen Staatsbau überhaupt in Betracht zu ziehen.
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Ohne das Volksrecht in den Einzelheiten auch nur im geringsten zu verdunkeln, meint Waitz doch im Hinblick auf die alsbald zu erörternde Eidessatzung von 802, sie nenne die Pflichten einerseits des Kaisers und andererseits der Reichsangehörigen „in umgekehrter Ordnung, indem sie ausgeht von dem Persönlichen und zuletzt zu dem allgemein Staatlichen gelangt, und sie schließt sich so einer Auffassung an, die immer in den germanischen Reichen hervortritt und nach der alles zunächst an die Person des Herrschers angeknüpft wird“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 224). Seit jeher, so heißt es an anderer Stelle, habe die königliche Gewalt wegen dieses persönlichen Elements etwas Privatrechtliches an sich gehabt, das wir als ein von dem Volke und seiner res publica Unabhängiges verstehen müssen, denn die Quelle dieses Herrscherrechtes waren „Macht und Majestät“ (zitiert nach G. von Below 1925 S. 217, 219). Waitz verwendet hier, was bei ihm selten genug vorkommt, eine lat. Vokabel in einer Bedeutung, die dem hohen Mittelalter fremd war (oben: § 513), im Sinne nämlich der Majestät und Allmacht eines Gott auf Erden vertretenden Herrschers, von der die Volksrechte der Karolingerzeit freilich noch nichts wußten. § 663. In dieser Richtung schritten die Nachfolger weiter fort, zumal sie sich dem Problem nicht mehr, wie Waitz es getan, von der Frühzeit der germanischen Heerkönige und Reichsgründungen herkommend, sondern vom Spätmittelalter zurückgehend näherten, einer Zeit, in der der Territorial-, Behörden- und Steuerstaat begann, die karolingischen Grundlagen der Reichs- und Landesverfassung zu zersetzen. So erklärte Ernst Mayer die karolingischen Eidessatzungen, indem er sie mit den Angaben der Stadtrechte, Landrechte und Urkunden jener späten Zeit verglich. Offensichtlich legte er dem Untertaneneid eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung bei, da er mit ihm seine Verfassungsgeschichte eröffnete. Aber dies geschieht unter der Überschrift „Die Machtmittel des Staates“, unter der Mayer den Treueid mit den Abgaben und Regalien und mit der Militärhoheit des Landrechtes zusammenstellt (E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 1 – 138). In welchem Sinne der Untertaneneid ein Machtmittel des Staates sein und mit welchem Recht der Inhaber der Staatsmacht ihn den Untertanen abverlangen konnte, darüber verliert Mayer merkwürdigerweise kein einziges Wort. Zwar erklärt er: „Die Untertänigkeit unter das Königtum ist nichts Ursprüngliches gewesen; eine Zugehörigkeit zu den Verbänden der vorköniglichen Zeit geht ihr voraus. Und wie nun diese ältere Form öffentlicher Gebundenheit da, wo sie in der nachfränkischen Zeit noch hervortritt, auf den Eid begründet erscheinen wird, so beruht auch der Gehorsam gegen das Königtum auf dem Schwur. Den Eidgenossenschaften der volksrechtlichen Verbände steht der allgemeine Untertaneneid gegenüber, den die fränkischen Könige und die Nachfolger in ihrer Macht, die Grafen und sonstigen Hochgerichtsherren, empfangen“ (ebd. Bd. 1 S. 1). Aber als derartige volksrechtliche oder öffentliche Verbände behandelt Mayer später (ebd. S. 284 – 554) lediglich Stadt- und Gerichtsgemeinden (Grafschaften, Hundertschaften), Völkerschaftsverbände (in Friesland, Drenthe, Nordalbingien, Bayern), sowie Ortsgemeinden und Bruderschaften. Ein Reichsuntertanenverband, den der König
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daraus zusammengesetzt haben könnte, kommt bei ihm nicht vor, obwohl er (mit Berufung auf Wipo, Gesta Ch. c. 6, unten: § 734b) erwähnt, daß der König den Untertaneneid von den bei seiner Wahl Anwesenden sofort empfing, hernach aber persönlich durch das Land reiste, um den Treueid der Abwesenden zu gewinnen (ebd. S. 4). Sollte der Eid etwa nur Hunderte (und Tausende?) von erzwungenen persönlichen Beziehungen zwischen je einem Untertan und dem König hergestellt und so als „Machtmittel des Staates“ gedient haben, ohne weitere verfassungsmäßige Wirkungen auszulösen? In diesem Falle hätten wir es mit einem Staat zu tun, wie ihn sich später Thomas Hobbes vorgestellt hat, entstehend nämlich dadurch, daß jeder einzelne ein Abkommen mit der (ausschließlich weltlichen) Obrigkeit zur Gewährleistung seiner Sicherheit schließt und dafür seinerseits auf alle Rechte und alle Macht verzichtet. Denn nur dann kann die Regierung unter Berufung auf das Gemeinwohl ein Machtmonopol beanspruchen, vor dem der einzelne rechtlos ist, solange sie nur seine körperliche Unversehrtheit schützt (H. Arendt 1970a S. 308). Der Regierung wächst aus dieser Konstruktion ein Willens- und Machtmonopol allerdings nur deswegen zu, weil die Untertanen, trotz gleicher Interessenlage, darauf verzichten, sich zu einer Gemeinde zusammenzuschließen und ihr mit einem Gemeinwillen gebietend entgegenzutreten. Mayer läßt es freilich offen, ob wir dies von dem Staat des Mittelalters annehmen sollen, denn er führt ferner aus: „Dem Untertaneneid entspricht umgekehrt ein Eid auch des Schwurherrn, den derselbe bei Erwerbung seiner Würde leistet;“ zwar wechsle das zeitliche Verhältnis zwischen diesen Eiden, „aber immer führen die beiden zusammen auf die Vorstellung, daß die Herrschaft auf einem eidlich beschworenen Vertrag beruht,“ in der Art, daß der Eidbruch des Herrschers die Untertanen von ihrer beschworenen Verpflichtung entbindet (ebd. S. 7 f.). Allerdings fragt sich der Leser, welches wohl der Vertragspartner war, der mit dem Herrscher paktierte; den Begriff eines Herrschaftsvertrages hat Mayer aus seinen Beobachtungen ebensowenig hergeleitet wie den einer Untertanengemeinde. Zwar stellt er richtig fest: „Der Untertaneneid verpflichtet zur Unterstützung des Schwurherrn gegen alle und daraus folgt, daß andere eidliche Verbindungen ohne Genehmigung des Schwurherrn nicht eingegangen werden konnten“ (ebd. S. 9). Aber auch hieraus zieht er keine Konsequenzen, obwohl damit das Problem des Treuvorbehalts auch zugunsten des Königs und die Einfügung der volksrechtlichen Eidgenossenschaften in einen alle Reichsbewohner einenden königlichen Untertanenverband (oben: § 240) berührt wird. Es lassen sich offensichtlich alle an sich richtigen einzelnen Beobachtungen nicht zu einer bestimmten verfassungsrechtlichen Institution zusammenfassen, wenn man sich weigert, die Existenz des Reichsuntertanenverbandes und seine Rechtsfähigkeit als Partner eines Herrschaftsvertrages anzuerkennen. Erst diese Weigerung erlaubte es dem Verfasser, den Untertaneneid als Machtmittel eines keiner Definition bedürftigen Staates aufzufassen. Es war das ein Staat, dessen Vor-
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steher nicht nur Beamter des Volkes sein, sondern auch „ein Mandat ,von außen und oben‘“ zu verwalten haben sollte (F. Kern 1914, oben: § 41), kurzum: ein Staat, wie ihn das zweite deutsche Kaiserreich darstellte. § 664. Eben dem Zwecke, die Verfassung dieses zeitgenössischen Deutschen Reiches zu rechtfertigen, diente die Verfassungslehre, die damals Georg von Below vorlegte. Schon der deutsche Staat des Mittelalters sollte danach das Geschöpf eines als zeitlos-natürlich vorausgesetzten Königtums sein, an dessen höherem Recht alle Versuche, vergleichbare souveräne Rechte des Volkes nachzuweisen, zerschellen würden (oben: § 49). Da von Below aber das souveräne Königtum nicht nur gegen die Konkurrenz des Volkes, sondern auch gegen den Vorwurf verteidigen wollte, patrimonialen Ursprungs gewesen, also letzten Endes dem Volke durch unrechte Gewalt aufgezwungen worden zu sein, legte er doch den größten Wert darauf, die Existenz eines Reichsuntertanenverbandes zu erweisen, da er nur so glaubte, der, in den Begriffen der Staats- und Rechtslehre des 19. Jahrhunderts als privatrechtlich bestimmten, Theorie vom Patrimonialstaate (oben: § 550) eine öffentlich-rechtliche Auffassung des deutschen Staates und seines unabhängig vom Volkswillen vererbten Königtums entgegensetzen zu können. Was zu erklären war, das waren also „der Untertanenverband und die Natur der staatlichen Herrschaft“ (G. von Below 1925 § 5, S. 207 – 231). Die Gewißheit, daß es nicht nur im Karolingerreiche, sondern auch später im Ostfränkisch-deutschen Reiche einen Untertanenverband gegeben habe, schöpfte von Below vor allem und ebenso, wie es jeder andere gründliche Leser der amtlichen Dokumente dieser Reiche tun muß (oben: §§ 654, 655), daraus, daß sich die Könige mit ihrem Regierungshandeln stets an ihre leudes, homines und, so später ausschließlich, an ihre fideles wandten, daneben aber von den subditi oder subiecti nur selten zu sprechen pflegten. Erst im Territorialstaat des Spätmittelalters nämlich habe der Begriff der Untertanen seine klassische Anwendung gefunden (ebd. S. 210 – 212, 242). Ob aber diese Getreuen lediglich, gemäß der Hobbesschen Staatsvorstellung, eine Vielzahl von isoliert nebeneinanderstehenden Einzelpersonen bildeten, oder welches politische oder Rechtsgeschäft es gewesen sein könne, das sie zu einer Verbandseinheit zusammenschloß und zur Verbandsperson erhob: dieser Frage geht von Below in so auffälliger Weise aus dem Wege, daß die Absicht nicht zu verkennen ist, denn jede Antwort hätte ihn in unerwünschter Weise in die Bahnen der John Lockeschen Vertragstheorie und des Gierkeschen Genossenschaftsrechtes gelenkt und damit das Dogma von der natürlichen Souveränität der Könige den gefährlichsten Zweifeln ausgesetzt. Statt dessen gründete von Below seine Beweisführung auf die Existenz staatlicher Gemeinschaftszwecke: Aus ihnen ergebe sich, daß die innerstaatlichen „Gemeinschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse“ nicht auf privatrechtliche Beziehungen zu reduzieren, sondern öffentlich-rechtlicher Natur gewesen seien, war doch jeder freie Einwohner als Untertan oder fidelis von dem gemeinsamen Staatsoberhaupt abhängig (S. 207 – 210). Gemeinsam wäre danach den Untertanen lediglich
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das Oberhaupt, nicht aber die Zugehörigkeit zu einem Verbande, einer Genossenschaft aller Getreuen gewesen. Dann aber ist der Verband überraschenderweise doch mit einem Male da: das (offenbar individuelle) Abhängigkeitsverhältnis, so nämlich fährt von Below fort, sei durch einen Treueid bekräftigt worden, habe aber auch unabhängig von dessen Leistung bestanden und folglich den Untertanenverband lediglich bekräftigt: „Die Eidesleistung, Huldigung dient nicht etwa dazu, in vertragsmäßiger Weise eine Untertanenpflicht zu begründen“ (ebd. S. 214). Ratlos fragt sich der Leser, ob von Below hier den Untertanenverband einführen mußte, um jegliche Vertragstheorie abweisen zu können, da doch jeder einzelne fidelis, in seiner Ohnmacht für sich genommen, als Vertragspartner (des Königs oder Staates?) ohnehin nicht in Betracht kommt? Was von Below als erfahrener empirischer Historiker aber viel mehr zu fürchten hatte, das war die Gefahr, einen Untertanenverband anerkennen zu müssen, der als Königswähler von dem Oberhaupte unabhängig und schon vor diesem, nämlich während des Interregnums, dagewesen wäre. Um ihr zu entgehen, akzeptierte er sogar das Dogma von der Erblichkeit des Königtums oder, wie er mit einem spätmittelalterlichen fremdrechtlichen Ausdruck (oben: § 628) sagt, der Krone, obwohl sich doch vor allem darauf die ihm verhaßte Theorie vom Patrimonialstaat (oben: §§ 165, 544) stützte. Es sei unwahrscheinlich, erklärte er, daß die Merowinger die Huldigung eingeführt hätten, „um nach voller Ausbildung der Erblichkeit der Krone die in der Huldigung ausgesprochene Anerkennung durch das Volk als Ersatz für die Königswahl eintreten zu lassen. Die Huldigung würde also ein Rest des Wahlrechts sein“ (S. 215). Diese durchaus zutreffende Verknüpfung von Wahl (Auslese der für das Königsamt geeigneten Person) und Huldigung (Übertragung der Amtsgewalt vom Volke auf den Gewählten) weist von Below mit dem doppelten, mir jedoch unverständlichen Argument zurück, daß der Untertaneneid bei anderen germanischen Völkern noch neben der Wahl vorkomme und daß die Huldigung „nicht sowohl als ein Recht der Untertanen als vielmehr als eine Pflicht angesehen wurde“. Die Beweisführung endet bei dem erwünschten, weil dogmatisch unentbehrlichen „allgemeinen Untertanenverhältnis oder Staatsbürgertum, das wir so überall die Grundlage der Verfassung bilden sehen“ (S. 220). § 665. Deutlicher kann sich ein Historiker schwerlich weigern, einen auf der Hand liegenden Zusammenhang zwischen ihm empirisch genau bekannten Einzelheiten zur Kenntnis zu nehmen. Obwohl ihn seine eigenen Beobachtungen auf die Verknüpfung des Treueides mit der Königserhebung und dem Herrschaftsvertrag und damit auf die Willens- und Rechtsfähigkeit des Reichsuntertanenverbandes hinwiesen, versagte sich von Below jede Frage danach, ob es nicht der Einung und damit eines Willensaktes der Untertanen bedurfte, um die Macht des Herrschers oder Staates überhaupt erst zu begründen und die Unterwerfung des Volkes unter sie herbeizuführen. Statt dessen übernahm er von der Begriffsjurisprudenz seiner Zeit die Bestimmung des Staates als „das staatsrechtliche Verhältnis, die Herrschaft über Untertanen, die Unterwerfung unter die obrigkeitliche Herrschermacht“ (S. 230), und von Georg Waitz die Behauptung, bereits im frühen und ho-
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hen Mittelalter seien „Macht und Majestät“ die Quelle des Herrscherrechts gewesen – obwohl ihm bewußt war, daß dies nicht die Auffassung der volklich-weltlichen Rechte, sondern lediglich die der christlichen Kirche war (S. 219). Unter keinen Umständen konnte er das von den Quellen nur zu gut bezeugte Paktieren des Königs mit der Reichsgemeinde (oben: §§ 621, 626, 638, 640) anerkennen, und mit der Erfindung von Reflexrechten hoffte er, dieser Not zu genügen: „Herrschaft über Untertanen wird ausgeübt und ist notwendig, damit bestimmte Gemeinschaftszwecke verwirklicht werden können: Jedem Gemeinschaftszweck des Staats entspricht eine Pflicht der Untertanen. Diese stehen in einem Rechtsverhältnis zum Staate, die Untertanen erhalten, gewissermaßen als Gegengabe, politische Rechte. Es empfiehlt sich jedoch, statt von ,Befugnissen‘ der Staatsbürger, von ,Reflexrechten‘, lediglich davon zu sprechen, daß mit jedem staatlichen Herrschaftsrecht eine Pflicht des Inhabers zur Wahrnehmung eines Gemeinschaftszwecks, eine Reflexpflicht korrespondiert. Diese Pflicht kann ja konstituiert sein, ohne daß sie mit einer Befugnis, einem Anspruch des Staatsbürgers verbunden ist“ (S. 230 f.). Wer aber die Gemeinschaftszwecke bestimmt und die Reflexrechte konstituiert, darüber erhalten wir keine Auskunft: Es sollte ein Geheimnis sein. Verständlicherweise wollte sich niemand auf den Versuch einlassen, mit derartigen rhetorischen Kunstgriffen der verfassungsgeschichtlichen Probleme Herr zu werden. Tauglicher allerdings war das, was andere statt dessen erprobten, keineswegs. Wir sahen bereits, daß die landesgeschichtliche Schule, die sich jetzt des Themas bemächtigte, dem Juristenstreit um die privat- oder öffentlichrechtliche Qualität des mittelalterlichen Staates durch die Erfindung der Begriffe Adels- oder Allodialherrschaft und Allodialgrafschaft und deren analoge Übertragung auf die Königsherrschaft zu entkommen suchte, obwohl sich weder der Rechtsinhalt dieser Begriffe erfassen noch die Rechtmäßigkeit derartiger Institutionen gegen den Verdacht, auf eigenmächtiger Gewaltsamkeit zu beruhen, verteidigen ließ (oben: §§ 142 – 144, 331 – 333, 337, 341). Aber die neue Lehre machte es möglich, zwar den Begriff des Patrimonialstaats als überholt zu verwerfen, an dessen wesentlichem Inhalt jedoch festzuhalten. Weiterhin konnte man von einem Gegensatz zwischen Volksrecht und Herrschaftsrecht, von einer nicht vom Volke erteilten Herrschaft des Königs und der Grafen, von einem aus eigenem Rechte der Dynastien erwachsenen Herrschaftsrecht reden und damit an dem patrimonialen Dogma festhalten, daß die Herren eine ihnen gehörige Herrschaft über andere freie Männer wie einen Privatbesitz hätten vererben können. Noch einmal verstärkte sich damit, nach dem Untergang der Weimarer Republik und während der Hitler-Diktatur, der Glaube an die katatektonische Verfassung des karolingisch-frühdeutschen Staates. Julius Fickers Erkenntnis, daß dieser Staat von unten her erbaut war (oben: §§ 383, 384, 442), geriet völlig in Vergessenheit. Aber nur im Rahmen einer anatektonischen Verfassung läßt sich der karolingische Untertaneneid als mit anderen in Zusammenhang stehende, sie erklärende und von ihnen erklärte Institution richtig deuten; nur dann kann man erkennen, daß die Hul-
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digung mehr war als „eine rechtsförmliche, durch Gelübde oder Eid vollzogene Anerkennungshandlung seitens eines Untergebenen an die Adresse des Herrn,“ die „als Recht vom Herrn gefordert und als Pflicht vom Beherrschten geleistet“ wurde (A. Holenstein 1991 S. 9. B. Kasten 1997 S. 299 f.).
§§ 666 – 673. Die zweite allgemeine Vereidigung von 802 § 666. Mit der Entscheidung von 789 war das Problem der Untertanentreue nicht zur Ruhe gekommen. Spätestens die Erhöhung König Karls zur kaiserlichen Würde vom 25. Dezember 800 setzte sie wieder auf die Tagesordnung der Reichsversammlung. Wie üblich, sind uns freilich weder deren Beratungen noch die Beschlüsse überliefert. Das einzige, was wir besitzen, sind die Instruktionen, die Kaiser Karl im Frühjahr 802, also während der oder im Anschluß an die große Reichsversammlung dieses Jahres, den Königsboten erteilte (MGH. Capit. 1, 91 n. 33, 99 n. 34). Aus ihnen und namentlich daraus, daß die Eidesformel in zwei Fassungen beschlossen worden ist, läßt sich erschließen, daß mindestens folgende Punkte strittig waren und eine neue, die von 789 erweiternde und verbessernde Entscheidung nötig machten. Erstens scheint es fraglich gewesen zu sein, ob alle Untertanen geistlichen und weltlichen Standes, also auch diejenigen, die im Jahre 789 bereits geschworen hatten, oder nur die nachgeborenen und damals noch nicht vereidigten Männer bis herab auf die jetzt Zwölfjährigen zum Schwören verpflichtet sein sollten. Offenbar war der Widerstand derjenigen, die die erste Gruppe freigestellt wissen wollten, nur mit dem Argument zu überwinden, daß sie das damals dem Könige geleistete Treueversprechen jetzt der kaiserlichen Würde geben sollten, nunc ipsum promissum nominis Caesaris faciant (Capit. 1, 91 n. 33 c. 2. A. Holenstein 1991 S. 112). Zweitens mag strittig gewesen sein, ob die Treupflicht nur Karl persönlich oder auch seinem Sohne Ludwig gelten sollte. Denn während sich der Treueid von 789 auf Karl und seine Söhne bezogen hatte, galt der jetzige nur noch domno Karolo piissimo imperatori, filio Pippini regis et Berthanae reginae (so in beiden Fassungen, jedoch mit dem je eigenen Zusatz:) de mea parte ad suam partem et ad honorem regni sui oder ad suum regnum et ad suum rectum (Capit. 1, 99 n. 34, hier: S. 101 Z. 32 – 34 und 102 Z. 1 – 3). Da des Kaisersohnes Ludwig nicht gedacht wird, dürften diejenigen sich durchgesetzt haben, die fürchteten, eine Erweiterung der Treupflicht auf ihn könne das Recht des Volkes und der Großen schmälern, jeden König zu kiesen und unter den Bedingungen des Herrschaftsvertrages zum Oberhaupte, dominus, anzunehmen. Der auffällige Hinweis auf Karls Abstammung ist vielleicht das einzige Zugeständnis, das diese Partei dem Kaiser zu machen bereit war: wenn damit denn gesagt sein soll, daß der Sohn des Herrschers als am besten für das Königsamt geeignete Person zu gelten habe. Fraglich ist, ob sich auf dieses Problem auch der Auftrag des Kaisers an die Königsboten bezieht, die Eidespflichtigen öffentlich, publice, auf die Konsequen-
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zen des Schwörens hinzuweisen, darunter vor allem darauf, daß sie nicht nur, wie viele bis jetzt glaubten, dem Herrn Kaiser für seine Lebenszeit die Treue (versprächen), non, ut multi usque nunc extimaverunt, tantum fidelitate domno imperatori usque in vita ipsius (Capit. 1, 91 n. 33 c. 2, hier: Z. 27, 29 – 30. L. Kolmer 1991 S. 84 f. A. Holenstein 1991 S. 118 Anm. 73). Der Sinn dieser Bestimmung bleibt insofern unklar, als der Diktator weder diesem Gliedsatz ein Prädikat erteilt noch im folgenden das Demonstrativpronomen tantum durch ein entsprechendes Relativum wieder aufgenommen hat. Wir wissen daher nicht, ob hierzu eine Norm bezüglich der Zeit nach des Kaisers Tode zu ergänzen oder ob das Relativum zu den beiden folgenden Gliedsätzern hinzuzudenken ist. Der Sinn könnte daher lauten entweder: nicht nur für die Lebenszeit des Kaisers (sondern auch für das nachfolgende Interregnum und die Pflicht, einen Nachfolger zu erheben), oder: „daß die dem Kaiser für die Zeit seines Lebens geschuldete Treue nicht den einzigen Inhalt des Eides bilde“ (H. Mitteis 1933 S. 55 Anm. 138). Drittens schließlich könnten die Großen darüber uneinig gewesen sein, ob der Bezug auf den Herrschaftsvertrag von 768 und seine Fortschreibungen in die Eidesformel aufgenommen werden sollte oder nicht. Es bedarf nämlich der Erklärung, daß nur eine der beiden Formeln den Schwörenden de mea parte ad suam (sc. domni Karoli) partem et ad honorem regni sui verpflichtet, während die andere nur ihn und ihn einseitig ad suum regnum et ad suum rectum verbindlich macht (Capit. 1, 99 n. 34, hier: S. 101 Z. 34, 102 Z. 3). Die erstere Fassung „sieht so aus, als sollten der Kaiser und der Schwörende als Partner eines Vertrages angesprochen werden“ (H. Mitteis 1933 S. 54 Anm. 137). Das aber kann nur ein volks- oder landrechtlicher Vertrag gewesen sein, wie es eben der von allen gemeinsam unter sich und mit dem König ausgemachte Herrschaftsvertrag war, weil dabei ausdrücklich „der honor regni erwähnt wird und außerdem noch zwei Handschriften, und zwar gute, hinzufügen: atque iustitiam oboediens atque consenciens“ (ebd.; Capit. 1 S. 101 Z. 44). Heinrich Mitteis vermutet, daß diese Fassung des Eides lediglich als Entwurf zu werten (also nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen) sei, da die andere Formel „besser, konziser und verständlicher gefaßt“ sei und man schwerlich werde „annehmen wollen, daß sie einfach zur Wahl standen“. Ich halte dieses letztere jedoch für möglich. War nämlich der Bezug auf den Herrschaftsvertrag in der Reichsversammlung strittig, so kann er es auch in den Grafschaften gewesen sein, und dies könnte den Kaiser dazu bewogen oder gar gezwungen haben, es den Königsboten zu überlassen, zu welcher der beiden Formeln sie die Zustimmung der einzelnen Grafschaftsvölker würden gewinnen können. Denn der Vertragscharakter des Eides bzw. der Bedingungen, unter denen sie bereit waren, sich zu verpflichten, war im volklichen Rechtsbewußtsein so fest verankert, daß nur für den König etwas darauf ankam, ob die Eidesformel auf ihn Bezug nahm oder nicht. § 667. Übrigens würden sich beide Eidesformeln auf den Herrschaftsvertrag beziehen, wenn es etwas zu bedeuten hätte, daß der Schwörende, der im Jahre 789
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hatte sagen sollen: promitto ego (Capit. 1 S. 63 Z. 28), jetzt nur noch erklärte: repromitto ego (ebd. S. 101 Z. 32, 102 Z. 1), ich verspreche dawider, dagegen, im Gegenzuge zu oder in Antwort auf etwas. Dieses Etwas könnte dann wohl nur das zuvor gegebene Pflichtversprechen des Königs gewesen sein, über das die Königsboten die Eidespflichtigen so ausführlich unterrichten sollten, damit sie die Notwendigkeit einsähen, dem Könige auch ihrerseits etwas zu versprechen. Nahm nicht der Kaiser selbst auf den Herrschaftsvertrag und die Pflichten, die er ihm auferlegte, Bezug, indem er abermals und vorweg erklärte, durch seine Königsboten gestehe er allen, die (seinem Willen) Folge leisteten, (seinerseits) zu, gemäß dem Volksrecht zu leben, per eos cunctis subsequentibus secundum rectam legem vivere concessit? Was immer im Widerspruch zu den Volksrechten angeordnet worden sei – man beachte die passivische, den König und seine Amtleute als Urheber des Unrechts schonende Ausdrucksweise (oben:§ 607) –, das wünsche der König zu bessern; überhaupt solle niemand, wie viele es zu tun pflegten, durch arglistige Spitzfindigkeit das Volksrecht zum Schaden der Kirchen, Armen, Witwen und Waisen auslegen, und wenn die Königsboten deren Klagen nicht abhelfen könnten, so sollten sie die Sache dem Königsgericht vorlegen, damit niemals die Gerechtigkeit von der Willkür der Mächtigen aufgehalten werde (Capit. 1, 91 n. 33 c. 1). Diese Zusage, die Königspflichten zu erfüllen und allen berechtigten Beschwerden abzuhelfen, war offenbar die Voraussetzung dafür, daß der Kaiser von allen Untertanen den Treueid einfordern und seinen Missi den Auftrag geben durfte, die Schwörenden über den weitreichenden Inhalt der Treupflicht zu belehren, darüber nämlich, daß sich dieser nicht, wie bisher viele meinten, darauf beschränkte, das Leben des Königs zu schützen und weder Feinde in dessen Reich zu holen noch treubrüchigen Untertanen heimlich beizustehen (ebd. c. 2). Ein solcher im wesentlichen negativer, die bloße Unterlassung des Bösen verlangender Treuebegriff fiel sicherlich unter die arglistigen Auslegungen des Volksrechtes, denen der Kaiser von Amts wegen entgegenzutreten verpflichtet war. Es geht nicht an, in dieser rechtswidrigen Parteimeinung die allgemeine volkliche Rechtsüberzeugung zu suchen und dem Kaiser zu unterstellen, er habe, wenn er jene Praxis tadelte, die Treupflichten über das bisher übliche Maß hinaus steigern und sie um Verhaltensweisen erweitern wollen, deren Verweigerung bis dahin nicht als Treubruch gegolten hatte, gleichsam als habe er die herrschaftsvertragliche Bindung an das volkliche Strafrecht dadurch umgehen können, daß er das Delikt der Infidelität durch willkürlich neugeschaffene Straftatbestände erweiterte (R. Scheyhing 1960 S. 19 – 21. L. Kolmer 1989 S. 84 f.). In Wirklichkeit enthielt bereits die unbeschworene Treuepflicht, die die Untertanen bei der Erhebung ihres Königs übernahmen, ein positives Rechtsgebot, das jedermann „zur Unterstützung des Schwurherrn gegen alle“ verpflichtete (E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 9, oben: §§ 663, 658), beruhte doch einzig und allein auf ihrem Beistand die Exekutivgewalt des Königs. Die im folgenden aufgeführten positiven Treuepflichten, die jeden Mann zu aktiver Mithilfe bei der Verwirklichung der
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Staatsziele verbindlich machten, können daher keine volksrechtswidrigen, aus kaiserlicher Macht und Majestät erfließenden Neuerungen, sondern lediglich Auslegungen oder Entfaltungen der volksrechtlichen Treuepflicht dargestellt haben, die die Reichsversammlung auf Verlangen des Königs hin gefunden und gewiesen hatte. Denn die Reichsversammlung war der Depositar der (in der Frage der Treupflicht zweifellos übereinstimmenden) Volksrechte, und wenn Karl ihr sein Rechtsbegehren auf der Tagfahrt des Frühjahrs 801 vorgetragen hat, so waren die Großen sehr wohl imstande, die Rechtsmeinung der Gerichtsgemeinden und Regionen, deren Wort sie hielten, einzuholen und im Frühjahr 802 einen einhelligen und somit für alle verbindlichen Reichsbeschluß darüber zu fassen. § 668. Als erste und vornehmste der auf diese Weise festgestellten Pflichten sollten die Königsboten den Getreuen vorstellen, daß sich ein jeder nach bestem Wissen und Können in den Dienst des allmächtigen Gottes stellte, „weil der Herr Kaiser die notwendige Fürsorge und Zucht nicht jedermann in besonderer Weise angedeihen lassen kann;“ die Untertanen sollten also nicht nur Gottesdienst und Reichsdienst in eins setzen, sondern dem Kaiser auch dabei helfen, vor Gott jene Verantwortung für den rechtschaffenen Lebenswandel des ihm anvertrauten Volkes zu tragen, die ihm die theologische Interpretation seines Herrscheramtes (unten: Zwanzigstes Kapitel) auferlegte (MGH. Capit. 1, 91 nr. 33 c. 3. A. Holenstein 1991 S. 119). Zweitens sollte der Untertan weder durch offenen Bruch noch durch spitzfindige, betrügerische Auslegung des Eides dazu beitragen, daß Dritte hörige Leute des Kaisers oder zum Reichsgut gehöriges Land oder sonst irgendein Reichsrecht in ihre Gewalt brächten; namentlich durfte er flüchtigen Fiskalinen, die zu Unrecht die persönliche Freiheit beanspruchten, nicht mit falschem oder vergiftetem Beweiseid in ihrer Pflichtvergessenheit zu Hilfe kommen (ebd. c. 4, oben: §§ 278, 279, 624. A. Holenstein 1991 S. 130 f.). Drittens gehörte es zur Untertanentreue, unrechte Gewalt gegen Kirchen, Witwen, Waisen und Pilger zu verhüten, da der Kaiser nach Gott und dessen Heiligen zum Beschützer dieser für sich selbst wehrlosen Personen bestellt war (ebd. c. 5. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 284 f.). Es waren die Wehr- und Waffenlosen, die unter dem besonderen Schutz des Königs standen und im Bedarfsfalle auf Antrag einen Schutzbrief erhalten konnten, der sie auf Reisen in die Fremde gegenüber Dritten als Schützlinge des Königs auswies (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 56 f., 68, Bd. 2 S. 62 f. R. His 1928 S. 40). Aus dieser Königspflicht entfaltete sich das später hochbedeutsam gewordene Nahverhältnis des Königs zu den Gewerbetreibenden unter seinen neufreien Untertanen (oben: §§ 151, 162a, 237, 243). Denn zu den Pilgern und Reisenden gehörten anfangs ununterscheidbar die Kaufleute, da sich sowohl der Fromme wie der Händler in der Fremde allein durch Verkauf (von Geld oder Gütern) und Einkauf (von Herberge und Lebensmitteln) zu erhalten vermochte und die Reisenden in der Fremde, wie so oft auch die Witwen und Waisen in ihrer Heimat, des natürlichen Rechtsschutzes durch ihre Blutsverwandten ent-
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behrten. Im Jahre 796 vereinbarte König Karl mit König Offa von Mercien, daß die englischen Kaufleute „auf Grund unseres Gebotes in unserem Reiche Schutz und Schirm in gesetzlicher Weise gemäß alter Handelsgewohnheit haben sollten, und wenn sie an irgendeinem Orte mit unrechter Bedrückung angefallen werden, mögen sie uns oder unsere Grafen anrufen, und alsdann werden wir befehlen, daß fromme Gerechtigkeit ergehe. In gleicher Weise auch den Unseren; wenn sie unter eurer Gewalt irgendein Unrecht erleiden, mögen sie das Gericht eurer Billigkeit anrufen, damit nicht zwischen den Unseren irgendwo eine Bekümmerung emporkommen könne“ (Alcuin, Brief 100: MGH. Epp. Bd. 2 S 145 Z. 22 ff.). So traten die Marktleute: Fernhändler und für den Marktverkauf arbeitende Handwerker, in eine unmittelbare, ihre Freiheit schützende Beziehung zum Königtum, die sie ihm und dem Reiche als getreue Untertanen bis ins späte Mittelalter hinein vergolten haben (E. Pitz 2001 S. 246 – 288). Viertens war es ein Teil der Treuepflicht, dem Kaiser sein Herren- und Eigentümerrecht an Gütern zu wahren, die ein Untertan von ihm zu Lehen empfangen hatte (oben: §§ 96, 124). Wer Lehnsgut arglistig als Eigentum an sich brachte, non bene custodiunt fidem quam nobis promissam habent (Capit. 1, 130 n. 46 c. 7). Fünftens durfte sich der Getreue nicht der Einberufung zum Kriegsdienst entziehen, vielmehr mußte er selbst dann widersprechen, wenn der zuständige Graf einen Wehrpflichtigen aus Rücksicht auf dessen Verwandtschaft oder um eines Geschenkes willen, also aus Bestechlichkeit, davon befreite (Capit. 1, 91 n. 33 c. 7. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 538, 575 Anm. 5). Sechstens war (überhaupt) jedem Gebote des Kaisers Gehorsam zu erweisen, insbesondere dann, wenn es darum ging, Arbeitsdienste zu leisten (ebd. c. 8. G. Waitz Bd. 3 S. 316). Und siebtens gehörte es zu den Pflichten der Getreuen, die Rechtsfindung im Landgericht zu befördern. Sie durften daher vor Gericht nicht als Fürsprecher für einen ungerechten Kläger auftreten, vielmehr sollte jeder Untertan seine Sache selbst vor Gericht vertreten und nur mit Erlaubnis des Richters gemäß Weistum der Gerichtsversammlung einen Worthalter annehmen. Überhaupt hielt der Treueid die Untertanen dazu an, stets nach Recht und Gesetz zu handeln und weder um baren Lohnes willen noch aus böser Willfährigkeit oder persönlicher Verwandtschaft halber die Gerechtigkeit direkt oder indirekt zu behindern (ebd. c. 9). Im Grunde genommen, verpflichtete der Treueid jedermann dazu, die Friedensordnung zu respektieren und zu stärken (A. Holenstein 1991 S. 24), deren Wahrung der Kaiser zu den ihm von Gott auferlegten Amtspflichten zählte (ebd. c. 1). Als Karl später jegliche Beihilfe zur Räuberei für strafbar erklärte, geschah dies mit der Begründung, der Helfer sei so zu verurteilen, als ob er selbst Räuber und Treuloser, infidelis, wäre, „denn wer Räuber ist, der ist auch treulos gegenüber uns und den Franken“, infidelis est noster et Francorum (Capit. 1, 155 n. 67 c. 2. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 303 f.). Noster et Francorum: Der Treueid war nicht nur Herren-, sondern zugleich auch ein Genosseneid!
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§ 669. Die beiden Eidesformeln von 802 gehen auch darin über die von 789 (oben: § 657) hinaus, daß sie es unternehmen, den Eid dem Rechtsgrunde nach zu bestimmen und damit den Begriff des Untertans in ihn einzuführen: repromitto ego, quod . . . fidelis sum domno Karolo . . . , sicut per drictum debet esse homo domino suo. Das Substantiv drictum gibt das lat. Verbaladjektiv directus = geradeaus, gerade aufgerichtet (H. Götz, Wb. 1999 S. 200), in romanischer Lautung wieder, in der es soviel wie Recht bedeutete; so verwenden es die Straßburger Eide (oben: §§ 612b, 632a), und zwar in einem dem vorliegenden genau entsprechenden Kolon der Eidesformel: Der Schwörende verpflichtet sich gegenüber seinem Bruder und Vertragspartner si cum om per dreit son fradra salvar dist, bzw. soso man mit rehtu sinan bruodher scal (Nithard, Hist. III 5 S. 36 Z. 10 – 11, 19), d. h. so, wie man (oder: ein Mann, jedermann überhaupt) von Rechts wegen seinen Bruder erhalten soll. Das altfranzösische Wort om ist aus lat. homo entstanden und kann daher auch als indefinites Pronomen sowohl mit wie ohne Artikel gesetzt werden (Tobler-L. Bd. 6 Sp. 1101 Z. 38 – 41): si comme l’on par droit doit sauver son frère. Daraus, daß der mitschreibende Übersetzer (oben: § 53) im Jahre 802 die volkssprachliche Eidesformel so genau wie möglich wiedergeben wollte, wird es sich erklären, daß er statt des Wortes leges, mit dem die Notare ohnehin nur die schriftlich fixierten Volksrechte zu bezeichnen pflegen, hier den Ausdruck per drictum wählte. In der westfränkischen Eidesformel von 854 lautet das Kolon: Ego . . . fidelis ero . . . , sicut Francus homo per rectum esse debet suo regi (Capit. 2, 277 n. 261 c. 13). Die Eidesformel von 802 bedeutet demnach: Ich verspreche, dem Herrn (oder: König) Karl so treu zu sein, wie es ein freier Mann (oder: jeder freie Mann, freie Männer überhaupt) nach Volksrecht seinem Herrn und König sein muß. Freier Mann: das ist der Getreue, der sich seinem Könige zusammen mit allen anderen ergeben oder untertänig gemacht hat, und das Recht, welches seine Pflichten regelt, ist das der (in diesem Punkte übereinstimmenden) Volksrechte. Die herrschende Lehre sieht dieses anders. Sie faßt den homo nicht als jedermann, sondern als Vasallen und seinen dominus nicht als König, sondern als Lehnsherrn oder senior auf. Die klarste Einsicht in das damit aufgeworfene Problem und folglich die größte Vorsicht in der Formulierung findet sich hier, wie so oft, bei Georg Waitz. Nach ihm bedeutet das Kolon sicut . . . homo domino suo, „daß die Treue gegen den Kaiser dieselbe sein soll wie die, welche der Vasall seinem Herrn gelobt; das allgemeine Untertanenverhältnis wird so der besonderen und engen Verbindung, welche die Commendation begründet, gleichgestellt; es werden nicht alle wirklich Mannen oder Vasallen des Kaisers, sie leisten auch nicht die eigentümliche persönliche Huldigung wie diese, und werden deshalb auch nicht alles dessen teilhaftig, was mit der Vasallität verbunden ist; aber ihre Treue und Ergebenheit soll keine geringere sein, dieselbe Kraft und Bedeutung haben. Und dieser ist . . . die weiteste Auslegung gegeben: die verschiedensten Pflichten werden hieraus abgeleitet“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 298).
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Die Vergleichbarkeit der Untertanentreue mit der Vasallentreue wäre demnach doch so sehr eingeschränkt gewesen, daß man sich fragt, wie der Vergleich das Wesen der ersteren überhaupt noch sollte erhellt haben können, zumal Karl Martell der Treue seiner Vasallen so wenig vertraut hatte, daß er sie durch die demütigende, weil an eine Verknechtung gemahnende Kommendation in seine Schutzherrschaft mittels Handgangs ergänzt hatte (oben: § 650). Waitz sah deutlich, wie problematisch es ist, die volksrechtliche Untertanentreue mit der lehnrechtlichen Mannschaft zu vergleichen. Einerseits nötigte ihn die Aufnahme jenes Kolons in den Untertaneneid zu der Annahme, Eid und Huldigung an den König seien wohl überhaupt als Kommendation aufgefaßt worden, andererseits jedoch mußte er es dahingestellt sein lassen, ob auch bei Vereidigung der Gesamtheit aller Untertanen die förmliche Ergebung mittels Handgangs in den Königsschutz statthatte. Über die Schwierigkeit half er sich mit der weiteren Annahme hinweg, daß die (Amts-)Pflicht des Königs, die Untertanen zu beschützen, seit alters eine als Vormundschaft, mundium, verstandene Schutzgewalt des Königs über alle Angehörigen des Staates begründet habe, so daß „der allgemeine Untertaneneid . . . gewissermaßen ein Begründen und Anerkennen derselben“ gewesen wäre (ebd. Bd. 4 S. 284 f.). Gleichwohl blieb auf die Dauer als „Hauptunterschied“ zwischen Untertanen- und Vasalleneid „das Hinzukommen der Handreichung, der Mannschaft“ zu dem letzteren bestehen (ebd. Bd. 6 S. 479). § 670. Von der quälenden Frage, ob über diesen Hauptunterschied hinweg ein Vergleich beider Eide überhaupt irgendeinen Sinn ergibt, ist bei den Späteren kaum noch die Rede. Fritz Kern war der Gedanke unangenehm, „das eigene, subjektive Herrschaftsrecht des Herrschers“ könne durch „das souveräne Belieben des Volkes“ und durch eine „Vertragsidee“ untergraben worden sein, die er nicht „einseitig auf Kosten“ des Herrscherrechts „in den Vordergrund gestellt“ sehen wollte (F. Kern 1914 S. 258 f., oben: §§ 41, 663). Dieser Einseitigkeit habe indessen schon damals das Lehnrecht Vorschub geleistet (ebd. S. 260 f.), seit nämlich Kaiser Karl „de(n) stillschweigende(n) Herrschaftsvertrag, den der Herrscher beim Regierungsantritt mit seinem Volke schloß, indem er und das Volk sich gegenseitig Schutz bzw. Unterwerfung gelobten,“ dadurch unterstrich, daß er „die Untertanenhuldigung mit der vasallitischen verglich und gleichsetzte“ (ebd. S. 259). Wie weit die Gleichsetzung wirklich gegangen sei, wußte Kern allerdings nicht zu sagen, denn eigentlich sah er nur eine „Analogie“ beider Eide, eine „Identität zwischen ihnen“ sei nicht hergestellt worden (ebd. S. 259 Anm. 477). Selbst Heinrich Mitteis ist der dornigen Frage nach der Vergleichbarkeit der beiden Eide aus dem Wege gegangen; vermutlich hinderte sie ihn bei dem Bestreben, das Lehnrecht als seit der Karolingerzeit wirksames funktionell öffentliches Recht zu erweisen (oben: §§ 550 – 552, 556a). Zwar habe, so führt er aus, die Aufnahme der Klausel sicut homo domino suo in den Untertaneneid keineswegs den gesamten Untertanenverband in die Vasallität überführt, wohl aber sei jener dem Vasalleneide nachgebildet worden, weil Kaiser Karl nur auf diese Weise die negativ bestimmte, aufs bloße Unterlassen gerichtete Untertanentreue zu einer positiven
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Treupflicht habe steigern können. Im Prinzip, wenn auch nicht in der Intensität, verlangte der König von den Untertanen das gleiche wie von seinen Vasallen; deren Eid habe den Treuepflichten eine speziellere, engere Fassung gegeben und eine wesentlich stärkere persönliche Bindung bewirkt, als es der Untertaneneid tat (H. Mitteis 1933 S. 50 – 57, 83. A. Holenstein 1991 S. 119). Seither bezeichnete das Wort fideles sowohl die Lehnsleute des Königs als auch dessen Getreue überhaupt. Aber schon im 9. Jahrhundert sei diese karolingische „Überlagerung“ der rein lehnrechtlichen Form der Treue durch die Untertanentreue wieder verschwunden, so daß allein die Lehnstreue an die folgenden Jahrhunderte weitergegeben worden sei (H. Mitteis 1933 S. 83, 97 f.). Immerhin habe sich in der Phase der „Überlagerung“ das von Hause aus privatrechtliche Lehnsverhältnis in ein öffentlichrechtliches umwandeln können; der öffentlich gewordene Vasallenverband konnte daher im Ostfränkisch-deutschen Reiche den volksrechtlichen Untertanenverband restlos ersetzen. Damit hatte Mitteis den Weg freigemacht für die Gleichsetzung des Untertaneneides mit dem Lehnseide oder für die Vermengung beider, die in der neueren Literatur weit verbreitet ist (oben: §§ 618, 619). Bereits François Louis Ganshof (1961 S. 30) meinte, in der Eidesformel von 802 sei uns der „Text eines Treueides . . . , den ein Kronvasall zur Karolingerzeit geleistet hat, . . . erhalten“ geblieben. Seither gehört die feudalistische Deutung der Worte dominus und homo zum Handbuchwissen (K. Bosl 1970 S. 736). Dabei ergibt sich aus der annalistischen Nachricht zu 757, die Ganshof vorher anführt, eher folgende Formel des vasallitischen Treueides: fidelitatem promitto ego regi . . . sicut vassus . . . per iustitiam domino suo esse debet, ich verspreche dem Könige in der Weise treu zu sein, wie es ein (jeder) Vasse (oder: Vassen überhaupt) seinem (ihrem) Herrn schuldet (schulden). Eine vergleichbare Klausel enthielt später der Amtseid des Königs: . . . sicut fidelis rex suos fideles per rectum honorare . . . debet (oben: § 660). Entsprechendes muß für den Treueid der hohen Amtleute gegolten, stets wird das vergleichende Kolon auf die allgemeine Treupflicht der jeweiligen Rechtsgenossen verwiesen haben (oben: § 541), so daß jede Vermengung der unterschiedlichen Treupflichten des Untertanen, des Vasallen und des Amtmanns vermieden wurde. Es war also sinnvoll und zweckmäßig, daß Karl den Untertaneneid auch den hohen Vasallen und niederen Amtleuten sowie den Vasallen aller Herren abforderte (Capit. 1, 66 n. 25 c. 2, 91 n. 33 c. 2, 99 n. 34 c. 1), denn er begründete andere Treupflichten als die der Amtleute und Vassen. Ich muß daher der Ansicht widersprechen, der Untertaneneid sei „nicht Ausdruck eines für alle Volksangehörigen gleichartigen Untertanenverhältnisses, sondern eine Bestärkung der jeweils bestehenden besonderen Bindung zum König“ gewesen, nämlich „bei den Vasallen Bestärkung ihres Lehnsverhältnisses, bei den hohen geistlichen und weltlichen Beamten Bestärkung ihres amtsrechtlichen Treueverhältnisses und nur bei den Gruppen, die diese Beziehungen nicht aufweisen, ein echter Untertaneneid, der am Beispiel des lehnsrechtlichen Treueides verdeutlicht wird. Der Gedanke der standesrechtlichen Sonde-
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rung, nicht der eines einheitlichen Untertanenverhältnisses beherrscht den fränkischen Staatsaufbau“ (R. Scheyhing 1960 S. 304). § 671. Nun hatte schon im Jahre 1927 Pierre Petot den Unterschied zwischen Vasallen- und Untertaneneid hervorgehoben und betont, daß das Vergleichskolon in der Eidesformel von 802 keinerlei Anspielung auf vasallitische Verhältnisse enthalte; weil die Worte homo und dominus, die hier den Untertan und seinen Souverän bezeichnen sollten und konnten, zweideutig waren, habe man sie in der westfränkischen Formel von 854 durch die eindeutiger bestimmten Ausdrücke Francus und rex ersetzt (ich zitiere die mir zur Zeit nicht zugängliche Abhandlung nach H. Mitteis 1933 S. 53 Anm. 131, L. Kolmer 1989 S. 81, 83 Anm. 73, 84, 269 f., A. Holenstein 1991 S. 116 f.). Dieser Auffassung schloß sich Charles E. Odegaard zwar insofern an, als auch er die beiden Eide für verschieden erkannte, aber in der entscheidenden Frage blieb er doch hinter Petot zurück: Zwar ließ er offen, was das Wort homo in dem Vergleichskolon bedeuten sollte, aber er war nicht bereit, es als Bezeichnung für den Untertan anzuerkennen. Sowohl von den Vasallen als auch von den Untertanen, meinte er, seien die homines verschieden gewesen (Ch. E. Odegaard 1941 S. 284 f., 289). Von der Doppeldeutigkeit des Titels dominus ausgehend, hielt schließlich Susan Reynolds die feudalistische Auslegung der Vergleichsklausel zwar für möglich, nicht jedoch für zwingend geboten (S. Reynolds 1994 S. 88 f.). Zu lat. dominus erhalten wir als ahd. Äquivalente unter anderem die Substantive hêrro = der Ältere, Hehre, Vornehme, und kuning = König, dazu in der Anrede für domine: thîn hêròti = Deine Herrlichkeit (H. Götz, Wb. 1999 S. 211, oben: § 410). Wir wissen bereits, daß die Franken so ihren König anredeten, denn wenn dieser auch im Verhältnis zu ihrer Gesamtheit, zum Reichsuntertanenverbande, bloß Genosse und Vertragspartner war, so machte ihn doch die Befehlsgewalt seines Amtes gegenüber jedem Einzelnen, der ihm Beistand und Treue gelobte, zu dessen Herrn (oben: § 639). In der Ansprache, die Kaiser Karl am 6. Februar 806 an die zur Frühjahrstagung versammelten Großen richtete und deren Thema die Teilung des Reiches unter seine Söhne und Nachfolger nach seinem Ableben war, verfügte er nicht nur über die Reichslehen, sondern über totum regni corpus (MGH. Capit. 1, 126 n. 145, hier: S. 127 Z. 9) und über den dominatus regalis atque imperialis, kraft dessen ihm Gehorsam und Untertänigkeit des Volkes zustanden, ut obedientes habeamus . . . populum nostrum cum omni subiectione quae . . . regi a suis populis exhibetur (ebd. S. 130 Z. 13 – 15). Es geht also eindeutig um die königliche, auf das Volksrecht und den Beistand des Volkes gegründete Amtsgewalt über alle Untertanen, um die liberi homines und deren dominus, um ihre Eigen- und Lehnsgüter in regno domini sui und um die Treue eines jeden homo, deren Verletzung apud dominum suum angeklagt werden kann (ebd. S. 128 Z. 33, 38, S. 129 Z. 23, 24). Nichts anderes kann gemeint sein, wenn jeder Einzelne partibus domini mei Caroli regis et filiorum eius (J. 789, oben: § 657) oder domno Karolo piissimo imperatori (J. 802, oben: § 666) die
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Treue versprach. Wir haben um so weniger Grund, unter dem dominus des Vergleichskolons etwas anderes zu verstehen, als dieses Kolon (sicut homo debet esse fidelis domino suo) im Jahre 940 auch in die englische Eidesformel Aufnahme gefunden hat, denn es ist kaum möglich, darin den Einfluß französischen Lehnrechts auf England wirksam zu sehen (F. Kern 1914 S. 259 Anm. 477. S. Reynolds 1994 S. 332). § 672. Was das Substantiv homo anlangt, so ist bereits gezeigt worden, daß sich seiner ebenso wie der Worte senior, homagium und commendare nicht nur das Lehnrecht, sondern auch die Volks- oder Landrechte bedienten (oben: §§ 543, 619). In der Sprache der Kapitularien tritt die Fülle der möglichen Bedeutungen klar hervor. Gewiß ist eine davon die des Vasallen (homines vassi Capit. 1 S. 168 Z. 30) und Lehnsmannes (homines de beneficio senioribus officium exhibeant ebd. S. 282 Z. 30, homo seniorem sine iusta ratione non dimittat S. 128 Z. 30, cum seniore in hostem perget S. 137 Z. 5 – 15). Homo heißt aber auch der auf freiem Eigen oder Erbe sitzende Grundeigentümer (S. 129 Z. 1 – 6, MGH. DKar. 216, oben: § 659), der pagensis oder Freie, der vor dem Grafen seinen Gerichtsstand hatte und dort von anderen liberi oder boni oder nobiliores homines sein Urteil empfing (Capit. 1 S. 113 Z. 25, 139 Z. 27, 180 Z. 32, 33, 186 Z. 1, oben: Achtes Kapitel), oder der königliche Amtmann (comis aut missus vel quislibet homo S. 67 Z. 23 – 24, de missis nostris vel caeteris hominibus propter utilitatem nostram iter agentibus S. 116 Z. 10 – 11). Homo hat aber nicht nur diese speziellen Bedeutungen (J. F. Niermeyer, Lexicon 1976 S. 493 f., homo 3 – 7), sondern erscheint auch als Oberbegriff, unter dem sich das Besondere zusammenfassen ließ, etwa der Grundeigentümer und der Lehnsmann (de benefitio hominis, si forte res proprias non habuerit S. 118 Z. 10, homines . . . accipiant beneficia . . . Hereditatem autem habeat unusquisque illorum hominum S. 128 Z. 38 – 40, ähnlich S. 131 Z. 35, 137 Z. 7, 36 – 37). So sollte denn auch im Jahre 802 omni(s) homo in toto regno suo, sive ecclesiasticus sive laicus (S. 92 Z. 23 – 24), dem Kaiser die Treue beschwören, und ebenso, als zur Treue verpflichteter Mann, mochte er nun auf Eigen oder auf Lehen sitzen, erscheint der homo seines königlichen Herrn in der Divisio regnorum von 806. Wenn es hier heißt, jeder liber homo sei befugt, sich nach dem Tode seines dominus einem anderen König zu kommendieren (S. 128 Z. 42 – 43), so war dies eine Befugnis, die das Lehnrecht niemandem erteilen konnte. Das Verbum se commendare kann an dieser Stelle nur im volksrechtlichen Sinne verwandt worden sein, als Sich in die Untertänigkeit eines Königs Ergeben (oben: § 638). Als Oberbegriff für den erbgesessenen Hausherrn, den Lehnsmann, den Vasallen und den königlichen Amtmann hatte lat. homo also dieselbe Bedeutung wie das Adjektiv fidelis: Die Leistung des Treueides machte alle Arten von homines zu fideles (oben: § 542), und jeder Vereidigte war ein homo fidelis des Königs. Noch waren ja Lehnsleute und Vasallen zugleich pagenses, denn die jeweiligen Grafen waren sowohl für die Rechtsstreitigkeiten, die ihnen aus ihrer Abhängigkeit er-
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wuchsen (oben: § 126), als auch für ihre Vereidigung zuständig (Capit. 1, 66 n. 25 c. 4, hier: S. 67 Z. 9 – 11, 26), und noch lange ordnete man die Lehnsbeziehungen der öffentlichen Treuebindung unter (oben: § 204). Wenn unter den Treuepflichten, die Kaiser Karl im Jahre 802 beschreiben ließ, das Gebot erscheint, des Kaisers Lehen nicht zu verwüsten, so ist folglich dieses Gebot genauso als eine auf das Volksrecht begründete Pflicht zu betrachten, wie das von allen übrigen damals festgestellten Treuepflichten in eindeutiger Weise ausgesagt werden kann. Wären Lehnrecht und Vasallität bereits zu jener Zeit als besonderer Rechtskreis von den Volksrechten und ihrer Fidelität abgeschieden gewesen, so wäre schwer zu verstehen, daß das Problem des Treuvorbehalts der Aftervasallen zugunsten des Königs noch niemanden beschäftigte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 304. H. Mitteis 1933 S. 56 f. W. Kienast 1952 S. 5, 15. S. Reynolds 1994 S. 99 f. A. Holenstein 1991 S. 122). Nach all dem ist es äußerst unwahrscheinlich, daß irgendein Lehnrecht bereits im Jahre 802 als Muster für die volksrechtliche Treuepflicht aller Untertanen hätte dienen können, geschweige denn daß Karl unter Berufung auf das homagium des Vasallen eine bis dahin lediglich negativ bestimmte Treupflicht zu einer dem Volksrecht fremden positiven Pflicht hätte steigern wollen. Gewiß hätte ein jeder derartiger Versuch den Widerstand der erbgesessenen Grundherren hervorgerufen, solange noch jedermann die Vermögensform des freien Eigentums derjenigen des Lehnsbesitzes vorzog und die Vasallen verachtete, weil sie sich durch den Handgang in knechtische Abhängigkeit hatten begeben müssen (oben: §§ 546, 649). § 673. Es trifft auch nicht zu, daß die volksrechtliche Treupflicht jemals eine negative, lediglich zum Unterlassen treuloser Taten aufrufende Pflicht gewesen wäre, denn da sie aus der Annehmung des Königs entstand, hatte sie dessen fideles homines immer zu aktivem Tun, nämlich dazu angehalten, ihrem Könige beizustehen und ihm dadurch die Macht zu verleihen, deren er bedurfte, um seine Amtspflichten erfüllen zu können (oben: §§ 658, 663, 667). Kann aber die Annahme von Heinrich Mitteis (1933 S. 488 f. und oben: § 670) nicht richtig sein, daß sich die allgemeine Treupflicht erst nach dem Vorbilde des vasallitischen Homagiums mit positivem Inhalt erfüllt habe, so wird das Gegenteil um so wahrscheinlicher, daß nämlich alle später verfassungsrechtlich wirksam gewordenen Pflichten und Befugnisse der Vasallen ursprünglich volksrechtliche gewesen waren, die den Vasallen deswegen zukamen, weil sie zugleich fideles homines oder königliche Untertanen waren. Wenn sich seit dem späten Mittelalter allein noch die Vasallen des Reiches und der Landesherren im Besitz dieser Rechte befanden, so stellt dies nicht den Urzustand dar, sondern ist die Folge davon, daß sich die nicht in Lehnspflichten stehenden Untertanen in den Kommunalismus (oben: §§ 235, 236) zurückzogen, weil ihnen jene Rechte lästig waren und sie daher darauf verzichteten, sie auszuüben. Gerade das verfassungsgeschichtlich so bedeutsame Recht, den Fürsten verbindlich zu beraten, gegebenenfalls aber ihn zu verlassen (oben: § 599) und ihm einen
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Nachfolger zu geben, kann nicht gut aus dem Recht der fränkischen Vasallität hergeleitet werden, hatte sich doch der Vasall durch die symbolhaft im Handgang dargestellte Selbstübergabe mit seiner gesamten Person der Herrengewalt unterworfen und sich zu unbedingtem Gehorsam und im Prinzip ungemessenen Diensten bereit erklärt. Eine solche Gehorsamspflicht ist aber unvereinbar mit der Zweiseitigkeit der Pflichten und Rechte, die das Verhältnis des Königs zu seinen Untertanen bestimmt. Dagegen prägte diese Zweiseitigkeit die volksrechtliche Treupflicht, die den König und die freien Untertanen miteinander verband, und da die Vasallen zugleich auch freie Männer und Getreue des Königs waren, ist in ihrer volksrechtlichen Treupflicht die Wurzel der späteren vasallitischen zu erblicken, deren Merkmal es ist, daß sie die ursprüngliche knechtische Gehorsamspflicht zu einer fast freiwilligen Leistungsbereitschaft abzumildern vermocht hat (K.-F. Krieger 1979 S. 391 f.). Insbesondere dürfte dies auf die Pflicht der Getreuen zutreffen, ihrem Könige mit Rat und Hilfe, consilio et auxilio, beizustehen. Sie begegnet uns zuerst im Jahre 843 in dem Vertrag von Coulaines (MGH. Capit. 2, 253 n. 254 c. 2, hier: S. 255 Z. 16 – 18. J. Devisse 1968 S. 180 – 186). also in einem eindeutig öffentlichen, volksrechtlichen, auf den Herrschaftsvertrag bezüglichen Zusammenhang (oben: § 640). Dasselbe gilt von ihrer Aufnahme in die westfränkische Eidesformel (Capit. 2, 295 n. 269. H. Mitteis 1933 S. 59 – 61. Ch. E. Odegaard 1941 S. 293 – 295. J. Devisse 1968 S. 185. A. Holenstein 1991 S. 140. S. Reynolds 1994 S. 101). Dem gegenüber ist die Einschränkung auf die Vasallenpflicht eine sekundäre und jüngere Erscheinung (J. Devisse 1968 S. 203 – 205). Tatsächlich haben die fränkischen Großen, sowohl seniores als auch minores, das Recht und die Pflicht, ihrem Könige mit Rat und Tat beizustehen, seit jeher, sodann zur Zeit Karls des Großen regelmäßig auf den beiden alljährlichen Reichsversammlungen und dazwischen mit ordentlichem Königsdienst in Krieg und Frieden erfüllt (oben: §§ 607 – 610, 658). Es dürfte also im Jahre 843 keine neue Untertanenpflicht eingeführt worden sein, sondern lediglich das Nachdenken und Beraten über das Wesen der Treupflicht, das König Karl im Jahre 785 / 786 in Gang gesetzt hatte, zu einem weiteren Ergebnis geführt haben (oben: § 660). Die Jahrhunderte später für das Lehnrecht typisch gewordene Verpflichtung des Mannes zu Rat und Hilfe mag also ursprünglich durchaus eine volksrechtliche Untertanenpflicht gewesen sein, wenn sich auch später nur noch diejenigen Untertanen zu ihr bekannten, die zugleich Vasallen des Königs oder eines Fürsten geworden waren. Es ist also weder aus sprachlichen Gründen notwendig noch aus sachlichen Gründen geboten, dem Kolon sicut homo per drictum debet esse domino suo eine lehnrechtliche Herkunft beizulegen: aus sprachlichen Gründen deswegen nicht, weil die Worte homo und dominus auch im Volksrecht zu Haus waren, und aus sachlichen nicht, weil die lehnrechtliche Deutung die Frage aufwirft, ob die mit dem Handgang verbundene Vasallentreue wirklich mit der davon unabhängigen
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Treue des Untertans vergleichbar war. Man kann daher die feudalistische Interpretation der Klausel und der Untertanentreue nur als Notlösung des Problems betrachten und wird sie verwerfen müssen, sobald sich eine bessere Lösung anbietet. Das aber ist der Fall, wenn die Treupflicht in Beziehung zu dem Verfahren der politischen Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems und zu der Öffentlichkeit des partikulierten und gestuften Reichsuntertanenverbandes gesetzt werden kann. Dann nämlich erübrigt sich die Annahme, die Untertanen seien vom König so weit entfernt gewesen und hätten so wenig mit ihm zu tun gehabt, daß er keinen Anlaß hatte, sie ebenso in Pflicht zu nehmen wie die Magnaten seiner Umgebung (Ch. E. Odegaard 1941 S. 292). Aus dieser Annahme aber erst folgt die weitere, die von der Reichskanzlei niemals aufgegebene Adressierung der königlichen Gebote an alle Getreuen sei seit dem 9. Jahrhundert zu einer ihres karolingischen Sinnes entleerten und lediglich von stumpfsinnigen Diktatoren mechanisch fortgeschleppten Form verkommen. In Wahrheit konnten die ostfränkisch-deutschen Könige niemals auf sie verzichten, denn ihre Macht beruhte auf dem Dasein des von den Getreuen gebildeten Untertanenverbandes, der sie erkor und ihnen ihr königliches Amt verlieh. Mochte dieser Verband auch seit dem 13. Jahrhundert an politischer Bedeutung verlieren: verfassungsrechtlich blieb er unentbehrlich, um die Existenz des König- und Kaisertums zu begründen und es mit einem bestimmten Inhalt zu erfüllen.
§§ 674 – 680. Der Reichsuntertanenverband im hohen und späten Mittelalter § 674. Eine neue, modernen Ansprüchen genügende Verfassungsgeschichte kommt nicht umhin, sich ständig der Eigenart der mittelalterlichen volklichen Rechtssprache bewußt zu sein. Denn diese hatte sich noch nicht von der alltäglichen Umgangssprache abgesondert und liebte es daher, verschiedene Rechtswörter in synonymem, analogem oder metaphorischem Sinne auf eine und dieselbe Rechtstatsache anzuwenden (oben: § 555), waren es doch juristische Laien, die sowohl diese Sprache sprachen als auch die Volksrechte abfaßten, indem sie zuerst als Sühnemittler oder Urteilsweiser deren einzelne Sätze von Fall zu Fall erkannten und hernach als Depositare des Volksrechts ihre Erkenntnisse im Gedächtnis behielten und von Kindern und Kindeskindern auswendig lernen ließen (oben: § 411). Solcher laikalen, vorwissenschaftlichen Pflege des Rechts entsprach ein laikaler, laienhafter Gebrauch der Rechtswörter. Wir haben es mit dem Gegenteil einer wissenschaftlichen, von Fachleuten durchdachten und begrifflich geklärten Fachsprache zu tun, deren Merkmal es ist, daß jedes der Wörter, die sie benutzt, definiert und auf einen speziellen Wortsinn festgelegt ist. Kein in der Rechtssprache des Volkes abgefaßter und zudem in lat. Sprache aufgezeichneter Rechtssatz kann daher richtig verstanden werden, wenn man es versäumt, ihn zuerst nach den Regeln der Übersetzungslehre (oben: §§ 52 – 54) zu bearbeiten.
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Tut man dies jedoch, so stellt sich heraus, daß es weder im Karolingerreich noch, vor dem 12. Jahrhundert (oben: §§ 590 – 598), im Ostfränkisch-deutschen Reiche einen von den Volksrechten abgeschiedenen feudalen Sonderrechtskreis und folglich auch keine vom Reichsuntertanenverbande abgesonderten Vasallenverbände gab, die die Reichsverfassung und die Reichsgemeinde hätten durchbrechen und schließlich zersetzen können. Das Recht der Verträge über Schutzherrschaft (Kommendation) und Bodenleihe blieb ein Teil des Volksrechtes, über Rechtsstreitigkeiten, die daraus entstanden, urteilten daher die Grafengerichte oder das Königsgericht (Leges Baiwar. Tit. II c. 14: Et nemo sit ausus contemnere venire ad placitum qui infra illum comitatum manent, sive regis vassus sive ducis, omnes ad placitum veniant et qui neglexerit venire, damnetur XV solidos. Auch MGH. Capit. 2, 371 n. 287 c. 11. Oben: §§ 126, 134b), und wenn sich Vasallen darüber Entscheidungen des Lehnsherrn gefallen ließen, so waren das Äußerungen haus- und grundherrlicher Gewalt, die nicht als Rechtsprechung angesehen wurden (K. Kroeschell 1968 S. 45) und daher die Freiheit des Vasallen gefährdeten. Niemand vollends konnte auf den Gedanken kommen, haus- und lehnrechtliche Grundsätze auf das Recht der hohen Reichsämter anzuwenden, gleichsam als ob die Volksrechte kein Amtsauftragsrecht hätten hervorbringen können und deshalb der König darauf angewiesen gewesen wäre, die persönliche Bindung der Amtleute an sich durch die im Lehnsverhältnis ausgeprägte Gehorsamspflicht zu bestärken (R. Scheyhing 1960 S. 63, 304. S. Reynolds 1994 S. 111 f.). Bischöfe, Reichsäbte, Grafen, Großgrafen und Herzöge waren nicht nur Amtleute des Königs, sondern auch Worthalter der Gemeinden, von denen sie öffentlich zu Häuptern angenommen wurden, die ihrerseits aber gemeinsam den Reichsuntertanenverband bildeten und durch Annehmung des Königs ihre Reichstreue bewiesen. Die Erhebung der Amtleute war daher eine Kettenhandlung, die man als ganzes ins Auge fassen muß, wenn zu beurteilen ist, welche Rolle die königliche Bestallung und später sogenannte Belehnung spielte (oben: §§ 414 – 416, 429, 537, Sechzehntes und Siebzehntes Kapitel). Die freien Teilvölker der Reichsgemeinde konnten niemals das dingliche Objekt eines Lehnsvertrages bilden (oben: §§ 575b, 581), ihre Häupter niemals mit nach Hausrecht bestellten Verwaltern und Besitzdienern verglichen werden, die keiner Annehmung von Seiten der ihnen Untergebenen bedurften (oben: §§ 419 – 421). Warum aber hat sich die Forschung bisher im allgemeinen so hartnäckig geweigert, diesen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen? Der wichtigste Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, daß man sich einen Staatsaufbau von unten her nicht vorstellen, sondern Staat und Verfassung nur als Schöpfungen mächtiger Herrscher verstehen konnte und deshalb die öffentliche Ordnung des neuzeitlichen absolutistischen Patrimonialstaates zur Norm erhob, deren unentwickelte Frühform bereits in der Verfassung des karolingischen und ostfränkisch-deutschen Reiches aufzufinden sein mußte. Weil man sich keinen Staat ohne vom Volkswillen unabhängige Fürsten und Fürstendiener, keinen König ohne Rückhalt an dem Gehorsam von Beamten und Behörden vorstellen konnte oder wollte, bedurfte man der Fiktion
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einer aus dem Untertanenverbande herausgehobenen, sowohl hohe Reichsamtleute als auch Reiterkrieger und Dienstmannen umfassenden Vasallität, um in ihr einen Ersatz für den Etat des späteren Behörden- und Steuerstaates zu erhalten. „Karl (der Große) und seine Nachfolger bauten die Vasallität zum Werkzeug der Staatsführung, aber auch zur Form des Untertanenverbandes auf höchster Ebene aus. Eine Körperschaft geübter Krieger, Königs-, Kirchen-, Beamtenvasallen, sogar der Untervasallen sollte ein neues Kräftepotential der Herrschaft werden und die Durchdringung des Reiches mit königlicher Autorität, vor allem im Gericht, sichern“ (K. Bosl 1970 S. 739). § 675. Damit die Vasallität die ihr zugemutete Funktion übernehmen konnte, war es nötig, sie in Verbindung mit dem Lehnswesen zu bringen, denn nur dann, wenn die Vasallen auf Königs- oder Reichskirchengut saßen und von dem Ertrage eines Lehnsgutes lebten, konnten sie sich den Grafschafts- und Dingverbänden entziehen und in die geforderte einseitige Abhängigkeit vom König übertreten. Bereits Georg Waitz begründete die Lehre, zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen sei die Kommendation, der Eintritt in die Vasallität, in die engste Verbindung zu den Benefizien getreten und zu deren charakteristischem Merkmal geworden (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 234): Die Empfänger von Benefizien hätten sich offensichtlich dem Geber kommendieren müssen, auch wenn es immer noch Vasallen ohne Benefizien gab (ebd. S. 256). Heinrich Mitteis (1933 S. 15, 129 f.) bestimmte die Verbindung des schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäftes der Kommendation mit der sachenrechtlichen Bodenleihe des näheren als eine kausale: Weil das eine als Rechtsgrund des anderen, das Dienstversprechen als Grund der Belehnung oder diese als Grund der Treu- und Dienstpflicht angesehen wurde, seien beide Akte zu einem einheitlichen, Zug um Zug vollzogenen Rechtsgeschäft verschmolzen. Nachweisbar ist davon in den Quellen des hohen Mittelalters nichts. Selbst Georg Waitz (1876 – 96 Bd. 4 S. 362) mußte daher schließlich feststellen: „Fast kein Satz der Verfassungsgeschichte ist mehr angegriffen worden als der von der Verbindung der Vasallität mit dem Empfang von Benefizien.“ Wie schwierig in der Tat die quellenkritischen und begrifflichen Probleme sind, die sein Lehrsatz aufwirft, das kann man daran erkennen, daß sich nach seinem Tode Gerhard Seeliger, der Bearbeiter der zweiten Auflage seines sechsten Bandes, darauf beschränkte, die Waitzsche und seine eigene, derselben entgegengesetzte Auffassung einfach nebeneinanderzustellen (ebd. Bd. 6 S. 10 Anm. 4, S. 48 Anm. 1). Während nach Waitz die Verbindung von Vasallität und Benefizium bereits für die Karolingerzeit als Regel erweisbar (ebd. Bd. 4 S. 258 f., 262 A. 1, 267 A. 1) und von da an als tradiert anzunehmen ist, weil eine spätere Einführung, etwa durch ein verlorengegangenes und nirgendwo erwähntes Gesetz, undenkbar sei, leugnet Seeliger rundweg die Richtigkeit des Lehrsatzes, weil bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts niemals nur solche Übertragungen zu Nießbrauch beneficia genannt worden seien, bei denen zugleich eine Kommendation stattfand, vielmehr die Mehrzahl der Benefizien ohne Kommendation verliehen wurde; erst dann, im Verlaufe des 12. Jahr-
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hunderts, sei die Verbindung eingetreten, und zwar dadurch, daß man jetzt den Kausalnexus zwischen Amt (!) und Gut herstellte, in den später auch Heinrich Mitteis deren juristisches Wesen setzte. Der Gegensatz zwischen Waitz’ empirischer und Seeligers juristischer Begrifflichkeit tritt hierbei klar hervor, und es ist kein Zweifel, daß die Verfassungsgeschichte der letzteren den Vorzug zu geben hat. Nicht mehr können Waitz und Mitteis für die Karolingerzeit nachweisen, als daß die Verbindung von beidem damals bereits vorkam, nicht jedoch, daß sie dem Rechtsdenken der Zeit schon als so zwingend notwendig erschien, wie es die Waitzsche Verallgemeinerung voraussetzt (F. L. Ganshof 1961 S. 41). Mit dem Zeugnis der Quellen dürfte am besten die Annahme vereinbar sein, daß das Lehnrecht des hohen Mittelalters den Parteien Vertragsfreiheit gewährte und daß sich die Verbindung der beiden Institutionen nur sehr allmählich (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 231 – 233. H. Mitteis 1933 S. 518 f. S. Reynolds 1994 S. 18, 50, 92 – 98, 118 f.) zu der Regel entwikkelte, nach der man Bauern- und Ritterlehen voneinander unterschied. Diese Regel veranlaßte dann im 12. Jahrhundert (H. Mitteis 1933 S. 522 ff.) die Urteiler der ersten Lehnsgerichtshöfe dazu, sich die beides miteinander verknüpfende Kausalität bewußt zu machen – wenn es sich nicht abermals (oben: § 592a) um eine frühe Schöpfung gelehrter italienischer Juristen handelte (S. Reynolds 1994 S. 225). Heute ist die Kontroverse zwischen Waitz und Seeliger vergessen und der Waitzsche Lehrsatz zur herrschenden Lehre avanciert, obwohl ihm vereinzelt immer wieder, als einem der grundlegenden Fehlgriffe der Rechtsgeschichte (H. C. Faußner 1973 S. 404 mit Anm. 21) oder at best little more than a neat but rather meaningless phrase (S. Reynolds 1994 S. 33, 104, 178, 225) widersprochen wird. Ihn zu entthronen wird der Verfassungsgeschichte erst dann gelingen, wenn sie seiner nicht mehr bedarf, um das Dogma von der katatektonischen als einzig möglicher Verfassungsordnung zu sichern. § 676. Innerhalb des von unten her erbauten Staates des hohen Mittelalters, als dessen höchstes Amt der Reichsuntertanenverband öffentlich das Königtum über sich setzte (F. Keutgen 1918 S. 39 – 41, 115), hatte das Lehnswesen keinen anderen Zweck, als König und Reich mit Reiterkriegern zu versehen, und dienten Lehnrecht und Vasallität zu nichts anderem als dazu, das Heerwesen zu befördern. „Immer ist die Heergewalt neben der Gerichtsgewalt als Grundlage der Herrschergewalt überhaupt bei den germanischen Völkern betrachtet worden“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 530). Allein der König war berechtigt, das Heer aufzubieten. Als Teil der ihm vom Volke übertragenen Amtsgewalt aber war sein Heerbannrecht öffentliches oder Volksrecht; daher unterlagen seiner Banngewalt alle Freien, gleich ob sie seine Vasallen und Lehnsleute waren oder nicht (ebd. S. 547 f. H. Mitteis 1933 S. 178 f.). Umgekehrt galt die Heerfolgepflicht der Freien nicht nur dem Könige, sondern auch dem Reiche, und wenn sie auf den Reichstagen als öffentliche Pflicht gegen das Reich beschlossen und beschworen wurde, so kann
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sie nicht als bloße Mannenschuld gegen den König und dieser nicht als oberster Lehnsherr des Heeres aufgefaßt werden (F. Keutgen 1918 S. 16). Die verfassungsrechtlichen Wirkungen des Lehnswesens können unter diesen Umständen nicht erheblich gewesen sein. Alle Erwägungen dieses Problems werden von der ungelösten Frage (W. Hartmann 2002 S. 167 – 169) behindert, wie lange das fränkische Heer noch ein Volksheer der freien Bauern war, ob und seit wann daneben ein Heer berittener Vasallen getreten ist und wann dieses Panzerreiterheer das Volksheer zur Gänze ersetzt hat. Noch freilich identifizierte man das Heer mit dem Volke (oben: § 614) und dem Aufgebot der Grafschaften (oben: §§ 301, 302). Denn es war der Grundbesitz als solcher, gleich ob zu erblichem Eigentum oder zu Lehnsrecht besessen, was einen Mann wehrpflichtig machte; nicht nach der Rechtsqualität, sondern nach dem Umfang des Besitzes, sofern er nämlich mindestens zwölf Hufen ausmachte, richtete sich die Pflicht eines Mannes, als Reiterkrieger ausgerüstet und geübt dem Heerbann Folge zu leisten (oben: §§ 122, 124 – 128, 649). Nichts läßt sich darüber sagen, wie groß die Zahl unbelehnter Reiterkrieger war, deren Hausgut den erwähnten Umfang erreichte oder übertraf. Daß es ihrer noch im 11. und 12. Jahrhundert nicht wenige gab, läßt sich aus der Entwicklung der Allodialherrschaft und des Dynastenstandes erschließen (oben: §§ 136, 140, 161). Außer dem König kamen als Lehnsherren von Reiterkriegern (und Empfänger von königlichen Großlehen bis zu zweihundert Hufen, F. L. Ganshof 1961 S. 38. J. Durliat 1990 S. 225 f., 260 f.) wohl nur Bischöfe, Reichsäbte und Grafen (MGH. Capit. 1, 170 n. 77 c. 9. oben: § 557) sowie seit dem 9. Jahrhundert Großgrafen und Herzöge (oben: §§ 449, 450, 463, 474) in Betracht. Als Amtleute konnten sie auf Anweisung des Königs einen Teil des ihnen anvertrauten Reichsguts in Form von Zwölfhufengütern an Männer ausgeben, die davon die ausbedingten Friedensund Kriegsdienste zu leisten bereit waren (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 128 f. S. Reynolds 1994 S. 97, 99, 102). Wiewohl formal Untervasallen des Reiches, unterlagen aber auch diese Männer, sofern sie dem Stande nach frei waren, dem königlichen Heerbann, denn selbst dann, wenn der König sie durch ihre Lehnsherren aufbieten ließ und ihnen erlaubte, sich statt mit dem Grafen mit ihrem Senior zum Heere zu versammeln, schieden sie dadurch nicht aus dem Verbande ihrer Grafschaft aus, denn den Grafen oblag es, das Aufgebot durch den Senior zu überwachen und im Falle der Säumigkeit desselben die Untervasallen selbst aufzubieten (MGH. Capit. 1, 136 n. 50 c. 1, hier: S. 137 Z. 7 – 9. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 547 – 551, 570, 605 – 607. H. Mitteis 1933 S. 182 – 186). Der Grafschaftsverband wurde dadurch selbst dann nicht gesprengt, wenn es, wie häufig der Fall, einem Reichskloster gelang, seine Immunität so zu erweitern, daß sie das Klostergut von der Heerfahrtpflicht befreite, denn diese Freiheit beschränkte sich auf die von Abt und Konvent selbst genutzten Güter. Die auf Befehl des Königs daraus ausgeschiedenen Benefizien blieben davon ausgenommen, blieben weiterhin heerbannpflichtig (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 599 – 604).
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Das Lehns- und Vasallitätsverhältnis bewirkte also weiter nichts als eine Reform der militärischen Befehlswege und damit der Machtverteilung im bewaffneten Volke. Auf die Friedensverfassung, auf die Geschlossenheit der grafschaftlichen Dinggenossenschaften übte es keinerlei Einfluß aus, und daher konnte es auch den Untertanenverband des Reiches nicht durchbrechen oder zersetzen. Selbst dann, wenn sich die Vasallen eines und desselben Seniors zur herrschaftlichen Genossenschaft vereinigten und damit die Voraussetzung für die Ausbildung eines Lehnsgerichts schufen, hatte dies weiter keine verfassungsmäßigen Folgen, da ihre Verbände unfähig waren, einen Gebietsbezug zu erlangen (oben: §§ 198, 204), und politischen Einfluß daher nur im Rahmen der Landesgemeinden gewinnen konnten, denen sie, als freie Männer, nach Volksrecht weiterhin angehörten. Solange nur Bischöfe, Reichsäbte, Grafen und Herzöge, die als Häupter lokaler und regionaler Untertanenverbände ohnehin an der Spitze solcher Landesgemeinden standen, Senioren ritterlicher Vasallen waren, ergab sich diese Personalunion von selbst; allenfalls hätten Vasallen aus ihrem Partikularverbande in einen anderen übertreten können. Die Existenz der Teilverbände und die von ihnen ausgehende allgemeine Willensbildung der Reichsgemeinde wurden dadurch nicht beeinträchtigt. § 677. Demnach kann weder der Zerfall des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert noch die Entmachtung des Kaisertums seit dem Ende des 12. Jahrhunderts als feudale Zersetzung, das heißt: als Folge des Aufkommens neuer Formen von Adelsherrschaft, erklärt werden, deren Kennzeichen die Okkupation königlicher Rechte und Güter mit Hilfe des Lehnrechtes gewesen wäre. Die Ursachen sowohl für den Aufstieg als auch für den Niedergang der Reichsgewalt und Königsmacht müssen vielmehr in der Wandelbarkeit des Politischen gesucht werden (oben: §§ 381, 382, 386, 390). Denn der Reichsuntertanenverband war von Anfang an partikuliert und gestuft und deswegen ebensosehr zur Zentralisierung der Macht zu Handen seiner Könige und der Reichsregierung wie zur Verteilung derselben auf die Teilverbände fähig, sei es auf der oberen Ebene der Regna, auf der regionalen Ebene der Länder oder auf der lokalen Ebene der Gerichts- und Ortsgemeinden. Zu Zeiten, in denen starke gemeinsame Interessen die Teilverbände zusammenführten, waren deren Große fähig und willens, sich über den gemeinen Nutzen aller zu verständigen und ihre Eintracht in der Reichsregierung geltend zu machen (oben: Fünfzehntes Kapitel); da war es ein leichtes für politisch begabte Könige, die Bildung des Gemeinwillens so zu lenken, daß die Geschichte von Aufstieg und Blüte des Reiches und der Königsmacht zu berichten weiß. Fehlte es dagegen an gemeinsamen Interessen und an Großen und Königen, die imstande gewesen wären, die Untertanen zu einhelliger Willensbildung anzuleiten, so trat die entgegengesetzte Entwicklung ein: Die Macht wanderte von der Reichsregierung ab und verteilte sich auf die Häupter der Partikulargemeinden, wo sich in einem von unten her aufgebauten Staate ohnehin ihr ursprünglicher und natürlicher Ort befand, weil menschliches Leben ohne den Rückhalt an Ortsgemeinden unmöglich ist, der Vereinigung von Gemeinden in einem Flächen- oder Bundesstaate aber nicht unbedingt bedarf. Nach der Vielzahl der Dinggemeinden und der immer noch großen
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Zahl seiner Länder und Völker war das Reich ein junges und spätgeborenes Gebilde. Man sieht das daran, daß das Reichsvolk bis ins 12. Jahrhundert hinein namenlos war und lange Zeit nur als Summe der Sachsen, Franken, Lothringer, Schwaben und Bayern benannt werden konnte, bevor man endlich lernte, es deutsch zu nennen (C. Brühl 2001 S. 226 – 228). Insgesamt viermal, nämlich nach 789 und 802 noch in den Jahren 806 und 812, hat Karl der Große alle Einwohner des Reiches die Treupflicht bechwören lassen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 299. E. Mühlbacher 1901. A. Holenstein 1991 S. 112). Er verfolgte damit das verfassungspolitische Ziel, die vorrangige Treuebindung der Untertanen an ihre jeweilige Ding-, Gau-, Landes- und Bistumsgemeinde zu schwächen und derjenigen an die Reichsgemeinde unterzuordnen. Es war Karls Ziel, den partikulierten und gestuften Untertanenverband, dessen Haupt er im Jahre 768 geworden war, umzuwandeln in eine einzige herrschaftliche Genossenschaft, als deren Genosse sich jeder einzelne Einwohner und Untertan betrachten sollte. Nun stellte sich zwar schon in der Regierungszeit seines Sohnes Kaiser Ludwig dieses Ziel als unerreichbar heraus (MGH. Capit. 2, 51 n. 197 c. 5), aber damit ging nur eine bestimmte Verfassung der Reichsgemeinde, nicht jedoch diese selbst unter. In der hergekommenen, von unten her zusammengesetzten und aufgebauten Verfassung blieb der Reichsuntertanenverband bestehen. Das hat, gegen Paul Roth (oben: § 651), bereits Georg von Below (1925 S. 231 – 242) erwiesen und dazu den Beifall von Friedrich Keutgen (1918 S. 117) erhalten. Der Nachweis kann jetzt, nämlich in Kenntnis der Regeln der identischen Willensbildung, die den Verband zusammenhielt, zweifellos verbessert und bestärkt werden. Denn bereits von Below sah, daß später zwar nur noch die Großen dem König je persönlich den Treueid leisteten, daß ihre Eide den König aber auch der Treue des Reiches oder Reichsteils versicherten, dem sie angehörten: „Insofern sind ihm die Großen mit ihrem Eid die Repräsentanten der ganzen Einwohnerschaft des Reichs, und in diesem Sinne leisten sie an Stelle der Reichsuntertanen den Eid“ (ebd. S. 234). Auf anderem Wege ist neuerdings Susan Reynolds (1994 S. 414) zu demselben Ergebnis gelangt: „The oaths sworn to a new king at his coronation look as though they were thought of as taken by great men and others present as representatives of the people at large.“ Repräsentanten ihrer Völker aber können die Großen damals nur erst kraft Vollmacht aus identischem Willen (oben: §§ 22, 390) gewesen sein. Der Eid mußte deshalb öffentlich abgelegt werden, d. h.: der Schwörende mußte mit so großem und beifälligem Gefolge vor dem König erscheinen, daß sich dieser der Identität seines persönlichen Willens mit dem Gemeinwillen seines Landes und Volkes gewiß sein konnte. § 678. Existenz und Verfassung des nachkarolingischen Reichsuntertanenverbandes ergeben sich aus zwei Klassen von Zeugnissen, nämlich aus der Adressierung der Königsurkunden an alle Getreuen und aus den Nachrichten, die den Sinn der Rechtsworte fidelis und fidelitas erhellen.
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Die Königsurkunden, welche bestimmten Empfängern ein Benefizium oder Privileg zuwandten, bedurften weiterhin (oben: § 655) der Adressierung an diejenigen, die der König damit beauftragte, seinen Willen zu vollstrecken, indem sie den Begünstigten in den Besitz des verliehenen Rechtes einsetzten und ihn darin beschützten. Die proceres, optimates, primores, nur selten auch principes, die das tun sollten, bildeten so wenig eine aus dem Volke herausgehobene Gruppe, daß die Reichskanzlei sie im 10. Jahrhundert meistens ohne Kennzeichnung einfach unter den fideles des Königs mitbegriff (F. Keutgen 1918 S. 68 – 71). Den Brauch, den oder die Adressaten bereits in der Inskription zu nennen, hatte die Reichskanzlei allerdings aufgegeben (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 48, 2 S. 299, 360); der Empfänger sollte jetzt im Vordergrunde stehen, der Adressat erschien nur noch beiläufig in der Promulgationsformel inmitten des Kontextes (H. Appelt 1990 S. 111 f.), obwohl die Begünstigten seiner weiterhin dringend bedurften, um das dem Könige abgewonnene Recht in Frieden genießen zu können. Da lag es nahe, den Vollstreckungsbefehl in einem besonderen Schriftstück auszufertigen, welches der König unmittelbar an den oder diejenigen seiner Getreuen adressierte, die seinen Befehl ausführen sollten. In derartigen Mandaten erschien nun der Begünstigte nur noch beiläufig im Kontext, aber das schadete seinem Glanze nicht, da er es, war er erst mit Hilfe des Adressaten in den Besitz gelangt, nicht länger aufzubewahren brauchte. Wir sahen bereits, daß, hätten die Privilegierten es vorgezogen, statt der Mandate die Privilegien zu vernichten, und uns nur die ersteren überliefert, wir ein ganz anderes Bild von der Reichsregierung erhalten würden als das herkömmliche (oben: §§ 429, 465), ein Bild nämlich, in dem (neben einzelnen, mit Reichsämtern betrauten Untertanen) die nach der geographischen Lage der begebenen Rechte für die Vollstreckung des königlichen Willens zuständigen Partikularverbände anstatt der Begünstigten den Vordergrund ausfüllen würden. Es mag sein, daß das Reich seinen neufreien Stadtgemeinden aus standesrechtlichen Gründen Privilegien anfangs nur in Form von Mandaten gewährte (MGH. DF. I. 572), um auf diese Weise das feierliche Diplom seinen Fürsten zu reservieren. Die verfassungspolitische Bedeutung derartiger Formalitäten erhellt aus einem zwar späten, aber zweifellos alte volkliche Rechtsauffassungen widerspiegelnden Vorgang. Graf Wilhelm IV. von Henneberg hatte im Jahre 1495 aus der Hand Kaiser Maximilians I. die Reichslehen seiner Herrschaft empfangen. Als er sich später genötigt sah, den Bischof von Würzburg durch allerhand Schmeicheleien bei guter Gesinnung zu erhalten, begann er Schreiben, die er an den Bischof richtete, mit dem Submissionsausdruck „untertänig“ zu unterzeichnen. Hiervon machte der auf seine herzogliche Gewalt in Franken (oben: §§ 450, 570, 576, 578) pochende Bischof nachher üblen Gebrauch, indem er den Grafen als einen seiner Untertanen behandelte und demgemäß seine offenen (d. h.: an alle gerichteten) Missiven auch an ihn versandte. Den Grafen verdroß dieses, er sandte die Missiven also ungelesen wieder zurück und unterließ es, in Schreiben an den Bischof den Submissionsausdruck zu benutzen. Nun aber wollte der Bischof die so abgefaßten gräflichen
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Schreiben nicht mehr annehmen: „Do aber S. L. uns mit solchen Schreiben und Titel uns ganz zu einem Unterthan und Landtsaßen wollt machen . . . , so haben wir uns derhalben ,unterthänig‘ zu schreiben enthalten“ (Begebenheiten 1776 S. 80, 172. E. Henning 1981 S. 56, 85, 98, 139). Sowohl der Bischof wie der Graf: beide Teile waren davon überzeugt, daß sich, wer Befehlsschreiben in Empfang nahm, dadurch als Untertan des Ausstellers bekannte, gleichsam als ob er ihm habe huldigen wollen, und daß, wer den Befehl ausführte, damit die Treupflicht eines Untertans erfüllte. § 679. Was den Inhalt des Treueides und der fidelitas anlangt, so versprach man auch dem deutschen König fidem cum subiectione, fidem subiectionemque, fidem auxilium et subiectionis debitum oder tota fidelitate et subiectione, ut regi oportet, servire (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 483 mit A. 4, 507. G. von Below 1925 S. 212). Es geht nicht an, lat. subiectio an dieser Stelle mit Unterwürfigkeit zu übersetzen. Gemeint war das freiwillige Sich-selbst-Unterwerfen des freien Mannes, der wußte, daß auf seinem und seinesgleichen Gehorsam die Macht seines Königs beruhte und daß er niemanden zum Könige über sich zu erheben brauchte, wenn er sich ihm nicht unterwerfen noch ihm gehorchen wollte. Der Treue der Untertanen stand weiterhin die des Königs, nostra fidelitas (MGH. DO. I 120 S. 203 Z. 1) gegenüber. Da die Grafschaften als geschlossene Territorien ihrer Dinggemeinden bis ins 11. Jahrhundert fortbestanden und von da an wenigstens in großen Teilen des Reiches Länder und Landesgemeinden an ihre Stelle traten (oben: §§ 292, 326, 465), brauchen wir nicht daran zu zweifeln, daß sich noch immer das ganze Reichsvolk durch die Großen, die den Willen der Partikularverbände bei der Königserhebung geltend machten, zur Treue gegenüber dem Erkorenen verpflichtet fühlte, zumal das Gebot der Einhelligkeit alle diejenigen, die sich ihr entziehen wollten, zu öffentlicher Kundmachung dieses ihres Willens, zur Protestation (oben: § 641), verpflichtete. Die Bauern, die sich im Jahre 1078 von den süddeutschen Fürsten (im Namen des Gegenkönigs?) grafschafts- und zentenenweise unter Eid nehmen und gegen König Heinrich IV. ins Feld führen ließen (oben: § 302), verletzten damit gewiß die Treupflicht, durch die sie zuvor dem letzteren verbunden gewesen waren (E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 4); dies mag die Grausamkeit erklären, mit der sich die Königlichen an ihnen rächten. Auch in Österreich waren im Jahre 1081 Verlassung Heinrichs IV. und Annehmung des Gegenkönigs nicht nur Sache des Landesherrn, sondern des ganzen Landes (oben: § 210). Das kontinuierliche Fortbestehen der Grafschaftsgemeinden als partikularer Untertanenverbände muß man namentlich dann annehmen, wenn man von der karolingischen Praxis der treueidlichen Zeugenpflicht der pagenses, auf der das Inquisitionsverfahren beruht hatte (oben: §§ 278, 624, 668), eine Brücke schlagen will zu der gerichtlichen Ermittlung örtlich gültiger Hoheits- und Herrenrechte, die seit dem 13. Jahrhundert in der Praxis der Weistümer aufscheint und auf demselben Zusammenspiel von Treueid und Wahrheitszeugnis beruhte, das bereits die Inquisition gekennzeichnet hatte (A. Holenstein 1991 S. 136, 145).
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Wie wenig gegenüber den territorial geschlossenen Untertanenverbänden und der Treupflicht jedes einzelnen freien Mannes Vasallität und Lehnstreue vermochten, das zeigt die berühmte Episode aus dem Jahre 1027, als sich die Vasallen Herzog Ernsts von Schwaben gegen die Lehnspflicht und für die Untertanen- und Königstreue entschieden (H. Mitteis 1933 S. 550 A. 57. Oben: § 482). Wenn also nur in Frankreich, nicht aber in Deutschland zu dieser Zeit die Ligesse (Treupflicht des Aftervasallen gegenüber jedermann, ausgenommen den König) entstand und darin eine notwendige Reaktion gegen die Zersetzung des Untertanenverbandes durch das Lehnswesen zu erkennen ist (H. Mitteis 1933 S. 549 – 552, 562, 564), so bestätigt dies ebenfalls, daß eine solche Zersetzung im Deutschen Reiche (so früh) nicht stattgefunden hat. Die Rechtsauffassungen des Volkes und der Rechtskundigen, die den Fürsten im Gericht und auf den Land- und Reichstagen das Recht wiesen, wurden von lehnsrechtlichen Vorstellungen ebensowenig beeinflußt wie von denen der Kirchenreformer, die seit 1075 dem Papste die Vollmacht beilegten, die Untertanen von ihrer beschworenen Treupflicht gegenüber einem König zu entbinden, der das von ihnen definierte Kirchenrecht verletzte. Solches Papstrecht blieb dem Volke ebenfalls immer fremd (Burchard von Ursberg S. 7: E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 8 Anm. 28. E. Pitz 2001 S. 286). Und nur auf das Recht des Volkes und des Reichsuntertanenverbandes können sich die Fürsten berufen haben, die im Herbst 1121 einen gemeinsamen Ratschlag im Streit zwischen Kaiser und Reich, de controversia inter domnum imperatorem et regnum, übereinstrugen und sich gegenseitig gelobten, den Kaiser zu dessen Beachtung zu nötigen (MGH. Const. 1, 158 n. 106. F. Keutgen 1918 S. 12). § 680. So gab denn Kaiser Friedrich I. keineswegs nur seinen Vasallen, sondern cunctis populis, quos clemencie nostre regit imperium, die Beschlüsse des Reichstags zu Würzburg betreffend die Anerkennung Papst Paschals III. bekannt (MGH. DF. I. 480, 481, hier: S. 396 Z. 11, 398 Z. 23), und wenn er dem Erzbischof Eberhard von Salzburg sub debito fidelitatis gebot, mit seiner Ritterschaft dem kaiserlichen Heere nach Italien zu folgen (DF. I. 318), so ist es „keineswegs nötig, da den bestimmten Begriff der Lehnstreue unterzulegen; die Fidelitas, zu der insbesondere auch die Bischöfe von jeher dem Kaiser verpflichtet sind, ist nicht notwendig durch die Lehnsverbindung bedingt; sub debito fidelitatis befiehlt der Kaiser überhaupt den Untertanen, auch wenn sie gar nicht im Lehnsverbande stehen“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 353), wie denn der Kaiser in der Tat die bischöfliche Militia ebensogut zur Erfüllung des fidelitatis et subiectionis debitum ihres Oberhauptes (DLo. III. 94. RI 4, 1, 1 n. 484) hätte aufbieten können. Der Konstanzer Friede von 1183, der die Reichsgewalt über die lombardischen Städte de facto von deren Duldung abhängig machte, und die 1189 verwirklichte Verbindung des Königreichs Sizilien mit dem staufischen Kaisertum lösten im Deutschen Reiche eine Verschiebung der politischen Zielsetzungen aus, in deren Verlauf das Interesse des Reichsvolkes an der Herrschaft über Italien erlosch und dem Königtum diejenige politische Aufgabe verlorenging, durch deren Erfüllung vor allem es bisher den Untertanenverband des Reiches in einem umfassenden Ge-
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meinwillen zusammengehalten hatte (oben: § 390). Damit war die politische Einheit des Reiches dahin. Nur in einem Teil des Reiches blieb der königliche Untertanenverband unangefochten bestehen; in anderen Teilen begannen landesherrliche Verbände ihm Konkurrenz zu machen, sobald deren Herren von ihren Untertanen ebenfalls Treueide forderten (G. von Below 1925 S. 238 – 242). Anders stand es um die Fortdauer des Reichsuntertanenverbandes sowohl im volklichen als auch im gelehrten Rechtsdenken. Hier nämlich wurde „die Idee eines solchen Verbandes“ weiterhin aufrechterhalten (ebd. S. 236). Muß man nicht annehmen, daß die landesherrlichen Treueide, gleich denen der reichsunmittelbaren Eidgenossenschaften (oben: §§ 173, 195, 196, 243, 245), einen, sei es auch unausgesprochenen, Treuvorbehalt zugunsten des Königs enthielten? Namentlich die Markt- und Kaufleute, die ihre Freiheit dem Königsschutz verdankten und daher dem Könige seit jeher in Treue verbunden waren (oben: § 668), bewährten sich in ihren Stadtgemeinden als partikulare Untertanenverbände. Während des großen Interregnums, in dem das Reich nach dem Untergang des staufischen Königshauses versank, errichteten sie den Rheinischen Städtebund nicht zuletzt in der Absicht, den königlichen Untertanenverband zu kräftigen: Die Bundesgenossen bekannten sich nicht nur zu der Untertanenpflicht, die Güter des Reiches während der Thronvakanz wie ihre eigenen zu verteidigen (unten: § 712), sondern auch zu der Pflicht, an der Königswahl mitzuwirken: Sollten die Kurfürsten mehr als einen König kiesen, so wollten sie nämlich gemeinsam allen Prätendenten den Treueid verweigern und die Stadttore versperren, bei einmütiger Wahl dagegen die Untertanenpflichten, fidelitatem et servicia debita, gegenüber dem neuen Herrscher sofort erfüllen (unten: § 727). Der genossenschaftliche Bundeseid sollte in diesem Falle in den herrschaftlichen Huldigungseid übergeleitet werden, den die Reichsstädte jetzt dem neugewählten König zu leisten begannen und in dem offenkundig ferne Traditionen des karolingischen Untertaneneides fortlebten. Bedenkt man, wie gering die politische Macht des 1273 wiederhergestellten Königtums war, so muß man um so mehr die Kraft bewundern, mit der sich die Rechtsidee eines aus allen Freien, gleich welchen Standes, bestehenden Reichsuntertanenverbandes über das große Interregnum hinweg behauptet hat. Sie ist nicht nur von der hohen Zahl der Rechtsuchenden abzulesen, die sich an das erneuerte Königsgericht wandten, sondern auch davon, daß dieses Gericht nicht etwa ein Standesgericht bloß der Fürsten oder eines weiteren Kreises hoher Adliger war, sondern auch die causae maiores von Grafen, Bürgergemeinden und anderen Freien zur Entscheidung annahm und daß sich der König das Recht nicht nur von Fürsten, sondern von allen Freien weisen ließ (U. Rödel 1979 S. 121, 125 f.). Glanzvoll wird uns diese Rechtsidee alsbald in dem Wahlgesetz des Reiches von 1356 (unten: § 729) entgegentreten. Das Lehnrecht blieb weiterhin ihr und dem Volksrecht gegenüber machtlos. Selbst solche Juristen, die vor paradoxen Konstruktionen nicht zurückscheuten, vermochten nicht alle Hindernisse zu überwinden, die das Volksrecht dem Versuch entgegenstellte, die Reichsverfassung in eine Reichslehnsverfassung überzuführen (oben: § 596a). Obwohl es ihnen bis zur Mitte des
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15. Jahrhunderts mittels eines Kunstgriffs gelang, „weite Bereiche autogener, bisher weitgehend im verfassungspolitischen Abseits stehender Herrschaftsgewalt in den Reichslehnverband“ einzubeziehen und damit „organisch in den Herrschaftsaufbau des Reiches“ zu integrieren, verblieben doch nach wie vor ebenso weite Bereiche sowohl der Adels- wie der Königsherrschaft (so die Herrschaft des Königs über das nichtfürstliche Kirchengut und die Reichsstädte) außerhalb desselben (K.-F. Krieger 1979 S. 578).
Zwanzigstes Kapitel
Mystisches Königtum §§ 681 – 685. Volksrechtliches und theokratisches Amtskönigtum § 681. Die Auffassung des Königtums als des höchsten Amtes, welches ein Volk zu vergeben hatte, setzte nicht nur im Rechtsdenken, sondern auch in der politischen Wirklichkeit das Dasein eines Untertanenverbandes voraus, denn wer anders als dieser Verband hätte einem Manne das Königtum oder die königliche Amtsvollmacht übertragen, wen oder was sonst hätte der so erhobene König beherrschen können als ihn? Dies war die gemeine Auffassung aller germanischen Völker und aller derer, die keine anderen als die germanischen Begriffe vom Volke, vom Volksrecht und vom Königtum kannten. So oft sie sich aber diese Begriffe in der Volksversammlung bewußt machten, wo sie ihrer aller einhellige Meinung im consensus omnium übereinstrugen, ließ sich jeder Mann von dem ihm eingeborenen Gemeinsinn oder sensus communis leiten, den schon die Weisen des griechischrömischen Altertums beobachtet hatten, als einen Sinn, der namentlich alle, die ihre Aufmerksamkeit auf die tägliche Arbeit verwenden müssen, um leben zu können, zu einem skeptischen Naturalismus erzieht und gegenüber jeglichem dogmatischen Überschwang mißtrauisch macht. So dachte wohl immer eine an die Gesamtheit heranreichende Mehrheit innerhalb der germanisch-romanischen Völker. Nur eine der Zahl nach verschwindende, jedoch von der Handarbeit freigestellte und sowohl durch Staatsnähe als auch durch den Genuß höherer Schulbildung ausgezeichnete Minderheit kannte daneben eine zweite Auffassung. Sie hielt nämlich nicht nur das für wahr und wirklich, was mittels des sensus communis wahrzunehmen alle imstande sind, sondern auch das, worüber sich Menschen nur im Glauben verständigen können. Ihrem Glauben zufolge war es aber nicht das im Versammeltsein sinnlich wahrnehmbare Volk, sondern der nur im Glauben als Lenker allen irdischen Geschehens wahrnehmbare Gott der Christenheit, von dem die Könige ihre Amtsvollmacht empfingen und vor dem sie sich wegen ihrer Amtsführung zu verantworten hatten. Ein solches theokratisches Weltregiment war den Germanen von Hause aus unbekannt. Sie lernten es erst durch die christliche Glaubenslehre kennen, mit der eben jene kleine Gruppe der Bibelkundigen sie bekanntmachte. So gelangte der hohe christliche Klerus – dem niederen fehlte noch lange jede wirkliche Kenntnis der Glaubenslehre (E. Schubert 1998 S. 270 f.) – in eine Stellung, die das Volk als Bevormundung Gottes wahrnehmen mußte. Denn seit sein Sohn am Kreuze gestorben war, offenbarte sich Gott den Menschen nicht mehr persönlich. Nur aus dem Munde der Bischöfe ließ er sein Wort noch vernehmen.
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2. Teil: Der Staat
Es ist wahr, daß nicht nur die lat. und ein Gutteil der volkssprachlichen Literatur, sondern auch die bildende Kunst des Mittelalters und somit die Hochkultur dieses Zeitalters christlich war und daß wir über Volkskultur und profane laikale Weltbetrachtung wenig erfahren, solange diese nicht als Ketzerei, als Minnesang und als städtisch-bürgerliche (in Italien: protohumanistische) Kultur mit eigenen Sprach- und Kunstdenkmälern hervortritt. Gleichwohl ist sicher, daß der Einfluß der Bischöfe und der von ihnen angeleiteten Könige und Fürsten nie hingereicht hat, um alle Volkskultur in einer kirchlich beherrschten Hochkultur ersticken zu lassen. Was das frühe und hohe Mittelalter anlangt, so bilden – neben berühmten Dichtungen wie dem Hildebrandslied, dem Beowulf- und dem Nibelungenepos – die Volksrechte die wichtigsten auf uns gekommenen Denkmäler dieser allen Glaubenslehren gegenüber wenn nicht skeptischen, so doch gleichgültigen Kultur der Laienwelt, gilt doch sogar von der späteren, kirchlich geförderten Rechtslehre der Satz: Mysticism seldom flourishes in the dry world of constitutional law (R. Benson 1968 S. 121). § 682. Seit dem vierten Jahrhundert hatten die Völker zu lernen, daß sich ihnen Gott durch den Mund von Männern offenbarte, die sich seinem Geiste eröffneten und, sofern sie sich nur über seinen Willen einig waren, in einmütigen Beschlüssen feststellten, welches Denken und Tun vor ihm gerecht oder verwerflich wäre. Das Schweigen Gottes, von dem der Prophet Jeremias spricht, der einst zu Jahwe gerufen und keine Antwort erhalten hatte, war denen unbekannt, die nicht nur an Gott Vater und Sohn, sondern auch an Gottes heiligen Geist und die von ihm gegründete Kirche als seinen Vormund glaubten. Die Kirche: das war, seit sich der Klerus vom Volke abgesondert hatte und die Bischöfe zu monokratischen Oberhäuptern der Gemeinden aufgestiegen waren, die Versammlung der Bischöfe. Nicht mehr das christliche Volk, sondern sie, in letzter Instanz aber auch sie nur dann, wenn sie sich einmütig im ökumenischen Konzil zusammenfanden, konnten in Glaubensfragen die Wahrheit erkennen. Durch das Konzil willens- und handlungsfähig geworden, hatte die Universalkirche alsbald ein Aufsichts- und Bestätigungsrecht gegenüber den Gemeinden und deren bischöflichen Häuptern erlangt. Im spätrömischen Reiche hatte sich die Kirche in eine von oben her erbaute Anstalt verwandelt, der sich die Germanen nur noch bedingungslos hatten unterwerfen können. Noch während die Bevormundung Gottes durch die Kirche und ihre Theokratie über die Völker zum Glaubensgebot heranreifte, hatte sich plötzlich als weiterer Vorteil, den sie den Bischöfen bot, die politische Verwertbarkeit jener Vormundschaft herausgestellt: als nämlich Kaiser Konstantin der Große die Kirche von der Verfolgung durch die heidnische Staatsgewalt erlöste und ihren Synodalapparat der Erneuerung des Römischen Reiches dienstbar gemacht hatte. In überschwänglicher Dankbarkeit für diese Wende in der staatlichen Kirchenpolitik unterwarfen damals die Bischöfe sich selbst und ihre Synoden so hemmungslos dem kaiserlichen Willen, daß sie Konstantin und seinen Nachfolgern sogar das Recht überließen, das universale oder ökumenische Konzil einzuberufen. Dafür empfingen sie den reichsten Lohn, über den die Welt verfügte. Die Kaiser gewährten ihnen näm-
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lich Einfluß auf die Politik und statteten ihre Kirchen mit den irdischen Gütern aus, die der Staat zuvor den heidnischen Tempeln zur Verfügung gestellt hatte. Der Sündenfall allerdings war nicht zu leugnen, und er verlangte eine Rechtfertigung. Mit der Dankbarkeit für den Kaiser, den sie als dreizehnten Apostel verehrten, verschmolzen die Bischöfe daher altjüdische, hellenistische und neutestamentliche Traditionen von dem priesterlichen König als Hirten der ihm von Gott anvertrauten Herde mit der evangelischen Lehre, daß alle Staatsgewalt von Gott stamme (Röm 13. 1 Petr 2, 13 – 17), zu der Überzeugung, daß der Kaiser als Vicarius Gottes und Bischof der Bischöfe handelte, wenn er das Reichskonzil versammelte und dessen Willen durch sein Gesetz bestätigte. Nachdem im lat. Westen des Reiches das Kaisertum untergegangen war und germanische Könige in den Reichsteilen die Regierung übernommen hatten, bedurfte es lediglich der Unterwerfung der Heervölker unter die römisch-katholische Kirche, damit deren Bischöfe bereit waren, den Königen hinfort ebenso zu dienen und ihnen dasselbe göttliche Amt beizulegen, wie zuvor dem Kaiser. So traten germanische Reichs- und Landeskirchen an die Stelle der römischen Staatskirche. Der Bischof von Rom, wiewohl vom Kaiser zum einzigen Patriarchen der lat. Kirche erhoben, konnte dem nicht wehren, obwohl er längst begonnen hatte, seine Primatsrechte zu einer kirchlichen Legislative und Gerichtsbarkeit zu steigern, der sich nach römischer Ansicht sogar die Konzile zu beugen hatten. Eine spezifisch römische Form des Kirchenglaubens, die den Griechen niemals und den Germanen noch lange nicht einleuchtete, wollte nämlich, daß der von Jesus Christus (Mt 16, 16 – 18) bezeugte geistliche Vorrang des Bischofs von Rom als Primat, d. h. als rechtlich faßbare Überordnung der römischen über alle anderen Bischofskirchen zu verstehen und ihr Bischof zu monarchischer Führung der Universalkirche berufen sei, auch wenn es noch Jahrhunderte lang kein Papst vermochte, den Primat gegen die Kirchherrschaft des römischen Kaisers wirklich durchzusetzen. Immerhin konnten Kenner schon früh damit beginnen, aus Synodalbeschlüssen und päpstlichen Urteilen (Dekretalen) ein Kirchenrecht zusammenzusetzen, in dem sich, wie die Völker glauben sollten, der Wille Gottes ebenso unmittelbar enthüllte wie in den Schriften der Evangelisten, Apostel und Kirchenväter. § 683. Vom Standpunkt der germanischen Volksrechte aus betrachtet, den unsere Verfassungslehre einzunehmen hat, war das theokratische Amtskönigtum eine von außen her den Völkern oktroyierte Mystifikation (oben: § 407). Einst von den Bischöfen fremder Völker erfunden, um den Sündenfall zu verbergen, zu dem sie sich von Kaiser Konstantin hatten verführen lassen, erforderte der aller Erfahrung entzogene Begriff eines solchen Königtums eine Denkweise, mit der sich die abendländischen Völker nicht ohne weiteres befreunden konnten und niemals vollzählig befreundet haben. In dem ihnen angestammten Rechtsempfinden war Platz für Gott und dessen verstorbene Heilige allenfalls dann, wenn Bischöfe und Äbte als deren Vormünder und Vertreter am irdischen Güterverkehr und Rechtsleben teilnehmen wollten (oben: §§ 100. 575a). Es war da aber kein Platz für ein von Gott durch seine Vormünder gesetztes Kirchenrecht, sofern dieses in staatlichen Ge-
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schäften Geltung beanspruchte. Als solche betrachteten die Volksrechte insbesondere die Vergabe öffentlicher Ämter (oben: § 433), deren Inhaber Macht in dieser Welt ausüben sollten und wollten und sich in der Regel auf Grund höchst irdischer und nicht immer tugendhafter Interessen, Eigenschaften und Hilfsmittel in deren Besitz setzen. Gewiß hatte auch das Volk mancherlei Anlaß, die königliche Gewalt mit Geheimnissen zu umgeben, da es niemals ein Vorrecht der Gebildeten gewesen sein kann, nach dem Grunde zu fragen, aus dem Menschen Macht über Menschen haben. Namentlich aber in Großgemeinden, wie der Reichsuntertanenverband eine war, konnte leicht der Eindruck entstehen, die Regierung besäße mehr Machtbefugnisse, als sich aus der Summierung der Einzelwillen aller Untertanen herleiten ließe (oben: § 167b, 611). Solange jedoch deren gemeine öffentliche Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems funktionierte und die Völker sei es kiesend, sei es annehmend an der Erhebung ihrer Amtleute bis hinauf zum König mitwirkten, solange sie daher willens waren, die königliche Gewalt durch Herrschaftsverträge zu binden und durch das Mitregieren ihrer Worthalter und Großen zu kontrollieren: solange kann der Antrieb, die königliche Herrschaft zu mystifizieren, kaum größere Wirkungen gezeitigt haben. Wie die Verfassungsgeschichte der deutschen Städte zeigt, ergab sich in freien Gemeinden, wo das Einungsrecht und die gemeine Willensbildung des Volkes bis über das Ende des Mittelalters hinaus lebendig blieben, keinerlei Bedürfnis, nach übersinnlicher Beglaubigung der Regierungsgewalt und nach deren Erhöhung zur Obrigkeit zu streben (oben: §§ 270, 391). Sogar die theologische Spekulation, deren Sprachgebrauch für gewöhnlich, um den göttlichen Ursprung der Staatsgewalt ins Licht zu stellen, den Anteil des Volkes an ihr mit Stillschweigen überging (oben: § 602b), verfiel gelegentlich darauf, das eigentliche Geheimnis der Macht von Menschen über Menschen in dem Willen des Volkes zu suchen und alsdann die Stimme Gottes, statt aus dem Munde der Bischöfe, aus den Beschlüssen des Volkes zu vernehmen (oben: §§ 487, 601). Namentlich dann, wenn das Volk seinem Könige vorwarf, den Herrschaftsvertrag gebrochen zu haben, und ihn deswegen verließ, mußten sogar die Bischöfe amtlich anerkennen, daß Gott seinen Willen in diesem Falle weder durch den Mund des Herrschers noch durch den ihren, sondern allein durch den des Volkes kundgetan habe (oben: § 636): Verließ das Volk den König, so tat dies auch Gott. Bischöfe und gelehrte Hoftheologen waren daher imstande, je nach zeitlichem politischem Bedürfnis entweder für den König und gegen das Volk, und somit für den Staataufbau von oben her, oder aber für das Volk und gegen den König, und damit für den anatektonischen Staatsbau, Stellung zu nehmen. Denn sie lebten in beiden Rechtskreisen, waren durch Herkunft und Verwandtschaft ebenso gut mit dem Volksrecht wie durch geistliche Schulung und Amtspflicht mit der Kirchenlehre vertraut und konnten daher sowohl als Worthalter des Volksrechts ihres Untertanenverbandes als auch als Vormünder Gottes und des Kirchenrechts auftreten,
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je nachdem, ob sie als geistliche Große mit den laikalen Häuptern des Volkes zur Reichsversammlung zusammentraten oder ob sie sich als Erste des Klerus ihrer Landeskirche oder der Reichskirche zur Synode versammelten. Obwohl es Überschneidungen zwischen Reichstagen und Konzilien gab, solange der König sowohl jene wie diese einberief, war man sich doch des Unterschiedes zwischen beiden Institutionen und der Rechtsqualität ihrer Beschlüsse wohl bewußt (H. Mitteis 1944 S. 56 – 60). § 684. Als Vormünder Gottes konnten die Bischöfe im Konzil den Glauben an das theokratische Amtskönigtum bestärken, der ihnen einerseits eine Rechtsaufsicht über die königliche Regierung gewährte (oben: § 636), andererseits aber auch gestattete, sich guten Gewissens der königlichen Kirchherrschaft, insbesondere der Lenkung der Bischofs- und Abtswahlen durch das Haupt der civitas terrena, zu unterwerfen (oben: § 427). Ließen sich Könige, Große und Völker vom göttlichen Ursprung der Königsgewalt überzeugen, so übernahmen sie damit zugleich die Pflicht, das Christentum auszubreiten und Gottes Kirchen zu fördern und zu privilegieren, obwohl sie damit durchaus auf den Widerstand der Welt stoßen konnten, so etwa bei der Gewährung des Inquisitionsrechtes (oben: § 279) und anderer Prozeßvorrechte, die den Gaugenossen so schwere Lasten auferlegten, daß sie sich gelegentlich dazu hinreißen ließen, diejenigen ihrer Geschworenen zu verfolgen, die solche Rechte im Gericht bezeugten (H. Brunner 1872 S. 90, 113 f., 1894 S. 188). An solchem Widerstande der weltlichen Rechtsgewohnheiten scheiterte die Forderung der Hoftheologen, daß alle Herrschaft Friedensherrschaft zu sein habe, daher der König im Namen eines allgemeinen Rechtsfriedens die volksrechtlich geschützte Selbsthilfe und Fehde zu bekämpfen verpflichtet sei (E. Kaufmann in HRG 1 Sp. 1282 – 1284). Ebensowenig ließ sich die fromme Forderung durchsetzen, daß gottesfürchtige Gerichtshalter, wie es außer Grafen und Herzögen auch Bischöfe und Reichsäbte und der König selber sein sollten, unbestechlich zu sein und deswegen jene Gaben zurückzuweisen hätten, mit denen die Schenkenden nach germanischer Sitte das eigene Prestige mehrten und zugleich zum Vorteil ihrer Einflußmöglichkeiten den Vorrang (oben: § 424) der Beschenkten anerkannten. Der Volksbrauch, der den Bischöfen selber nützte, war stärker als die dem Alten Testament entnommene Forderung, obwohl König Karl sie seit etwa 780 in das Kapitularienrecht aufnahm und seine Nachfolger sie bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts beständig wiederholten (J. Hannig 1983 S. 368 – 372). Der Auftrag der Bischöfe, vor dem Könige das Wort ihrer Bistumsgemeinden zu halten, war dagegen germanisch-volksrechtlichen Ursprungs. Das spätrömisch-byzantinische Reichs- und Reichskirchenrecht hatte davon nichts gewußt, zumal das Kaiserreich auch keine mit dem Kaiser regierenden Reichsversammlungen kannte. Die Bischöfe waren daher nichts anderes als Untertanen des Kaisers gewesen, und wenn sie ihn auch als Seelsorger an seine Christenpflichten erinnern durften und mußten, so gestand ihnen das Staatsrecht doch keinerlei Befugnis zu, den Autokra-
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tor zur Annahme ihres Rates anzuhalten. Selbst die römischen Päpste hatten sich, seit Kaiser Justinian I. Rom und Italien wieder fest in das Römische Reich eingefügt hatte, die Herabdrückung ihrer Kirche zu einem fünften neben den vier östlichen Patriarchaten der Reichskirche gefallen lassen und zwar nicht den Lehrprimat, wohl aber den Jurisdiktionsprimat des Kaisers über die Universalkirche anerkennen müssen. In Erfüllung ihrer Untertanenpflicht pflegten sie seither selbst solche Kaisergesetze, die sie für unrecht hielten, an die Bischöfe zur Beachtung weiterzuleiten (E. Pitz 1990 S. 311). So hatten sich die Bischöfe erst einmal germanischen Königen unterwerfen müssen, um danach in germanischen Königreichen Mitglieder von Reichsversammlungen zu werden und als geistliche Große in die Rechte einzutreten, die dort die weltlichen, mit dem Herrscher regierenden Fürsten ausübten, bevor sie hatten zu Worthaltern eben der Gemeinden werden können, von denen sie nach Volksund ältestem, vorstaatlichem Kirchenrecht (oben: §§ 426, 427) zu Häuptern über sich erhoben wurden und die durch sie an der gemeinen Willensbildung des Reiches sowie an der Reichsregierung teilhaben wollten. So nahm die Kirchenverfassung germanische Formen an, und diese Tendenz mußte sich verstärken, seit vom 8. Jahrhundert an auch Söhne germanischer vornehmer Geschlechter begannen, Bischofsämter zu übernehmen. Seither kann eine bestimmte Rechtsauffassung nicht schon und nicht allein deswegen als christlich oder kirchlich bezeichnet werden, weil sie von Bischöfen gefunden und ausgesprochen wurde. Denn selbst in den von ihren Königen einberufenen Synoden machten die Bischöfe das Recht germanischer Großer auf Mitbestimmung und Rechtsfindung geltend, selbst dort folgten sie in Fragen, auf die die angelernte kanonische Tradition der Schulen keine Antwort gab, und namentlich in solchen, welche die äußere, irdische Existenz der Kirchen betrafen, der ihnen und ihren weltlichen Rechtsgenossen angestammten volksrechtlichen Überzeugung. § 685. Die germanische Überformung der Kirchenverfassung hatte eine Germanisierung des gesamten Kirchenrechts zur Folge, die in den Tagen Karl Martells einsetzte und bis ins 11. Jahrhundert hinein anhielt. Diese „Herrschaft des Germanismus . . . erzeugt, den vorhandenen altkirchlichen Rechtsstoff sich angleichend, nicht ohne original-kirchliche Neubildungen, neben der altchristlich-römischen eine zweite germanische Schicht kirchlichen Rechtes“ (H. E. Feine 1955 S. 135). Für die Verfassungslehre maßgeblich ist aber erst die Tatsache, daß sich dieser „Einbruch des Germanismus ins Kirchenrecht von unten her, im Niederkirchenwesen“ (ebd.) vollzog, nämlich durch das im heidnischen volklichen Rechtsdenken verwurzelte Eigenkirchenrecht (oben: § 356), durch das zwar reichsgesetzlich gebotene, aber nach völkischen Rechtsanschauungen konzipierte und alsbald von den Volksrechten rezipierte Zehntrecht (oben: § 130), durch die Übertragung der volksrechtlichen Bodenleihe (oben: § 128a) auf die Bestallung der Pfarrer und Stiftskleriker, woraus das kirchliche Benefizial- oder Pfründenwesen hervorging, schließ-
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lich durch die Anwendung des germanischen Einungs- und Genossenschaftsrechts (oben: § 168) auf weltkirchliche und monastische Klerikergemeinden, die nun ihren Häuptern als Stiftskapitel und Klosterkonvente mit eigener Rechtspersönlichkeit gegenübertraten (oben: §§ 430, 434, 437, 438). Dies alles waren Einrichtungen, die die Bischöfe als Kirchenmänner nach den Maßstäben des altchristlich-römischen Kirchenrechts hätten bekämpfen müssen, die sie als Große des Fränkischen Reiches und Worthalter seiner Reichsvölker jedoch kräftig förderten. So konnte „das germanische Kirchenrecht . . . den Bau der römischen Kirche“ völlig überwuchern. „Es verleugnet seine Herkunft von unten und außen nicht, trägt vielmehr ein auffallend unkirchliches, ja unchristliches Gepräge an sich. Die Einzelnen stehen für dies Recht durchaus im Vordergrund, und es eignet ihm ein stark agrarisch-wirtschaftlicher Zug, was ihm einen ausgesprochen subjektiven und privatrechtlichen, sachenrechtlichen Charakter verleiht“ (H. E. Feine 1955 S. 136). Diesem germanischen Kirchenrecht gehörten auch die Formen an, in denen die Bischöfe und Hoftheologen des Fränkischen Reiches seit der Mitte des 8. Jahrhunderts dessen karolingisches Königtum als theokratisches Amtskönigtum darzustellen suchten. Es waren dies Formen, die dem konstantinisch-byzantinischen Kaisertum völlig fremd und im Rahmen der griechisch-orthodoxen politischen Theologie ganz undenkbar waren. Sie setzten nämlich die allein den germanischen Völkern geläufige politische Praxis voraus, ihre Könige selbst zu wählen und zu bevollmächtigen, die Amtsvollmacht aber so zu beschränken, daß die Könige ihre von einer Reichsversammlung ausgeübte Mitherrschaft zu respektieren hatten. Diese von den germanischen Volksrechten sanktionierte und von den Bischöfen als Großen des Fränkischen Reiches zu ihrem eigenen Vorteil mitgetragene Auffassung eines irdischen, rein weltlichen Amtskönigtums war den Hoftheologen vorgegeben, und niemals haben sie daran gedacht oder auch nur daran denken können, sie zu ändern oder gar abzuschaffen und durch etwas den Reichsvölkern Fremdes zu ersetzen. Sie konnten nicht mehr tun, als dem weltlichen Amtskönigtum auch eine von Gott erteilte Vollmacht beizulegen und ein Zeremoniell zu erfinden, das dem skeptischen Volke diese Bevollmächtigung sichtbar machte. Dieses Zeremoniell lief darauf hinaus, daß sich die Bischöfe an die Stelle des Volkes als Stimme und Vormund Gottes setzten, und es beruhte darauf, daß die Bischöfe einerseits dieselben Rechte als geistliche Große und Worthalter des Volkes besaßen wie dessen weltliche Häupter, andererseits aber die durch die Bischofsweihe empfangene spirituelle oder kirchliche Amtsvollmacht (oben: §§ 428 – 430) ihnen voraus hatten. Diese Rechtstatsache bedeutet aber auch, daß die Bischöfe, sobald sie aus der theokratischen Theorie überschwängliche Folgerungen zu ziehen begannen, wie es seit dem 11. Jahrhundert die Kirchenreformer taten, die Grundlage verließen, auf der ihre Stellung als vom Volke anerkannte Vormünder Gottes beruhte, und daher in einen Konflikt mit der volksrechtlichen Praxis des Amtskönigtums gerieten, in
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dem sie nicht gewinnen konnten (oben: § 323b, 435). Und dessen dürften sie sich bewußt gewesen sein. Denn wie die Bischofsweihe der Erhebung des Erkorenen zum weltlichen Fürsten nachfolgte und zu dessen volks- und amtsrechtlicher Vollmacht als Regenten seiner Kirche nichts mehr hinzufügen konnte (oben: §§ 429, 434), so ließ man das Zeremoniell der theokratischen Ermächtigung des Königs auf dessen Erhebung und Ermächtigung durch das Volk nachfolgen. Die weltliche Erhebung des Königs präjudizierte, gleich der der Kirchenfürsten, die geistliche, die man zu Recht heutzutage gerne als Inszenierung bezeichnet. Denn wie ein Theaterstück wurde sie vor einem Volke aufgeführt, das an ihr nicht aktiv, sondern nur applaudierend teilnehmen konnte, und auch weiter nicht mehr teilzunehmen brauchte, weil es seine auch für den Hofklerus maßgebliche Entscheidung bereits vorher getroffen hatte.
§§ 686 – 689. Die Königssalbung oder Herrscherweihe § 686. Von einer um ein theokratisches Zeremoniell erweiterten fränkischen Königserhebung hören wir zum ersten Male zum Jahre 751 (RI 12 n. 64a). Gleich seinem Vater hatte Pippin bereits als vom Volke erhobener Hausmeier (Einhard c. 2 S. 4 Z. 12 – 14) die vollen königlichen Rechte ausgeübt, auch wenn er dem König Childerich noch den Vorsitz in der Reichsversammlung einräumen und seine Diplome und Mandate in dessen Namen ausfertigen lassen mußte. Schon nach achtjähriger Amtswaltung hatte er das Reich so weit befriedet und die Reichskirche wenn wohl auch nicht einhellig (K.-U. Jäschke 1977 S. 38 – 44, 53), so doch so weit für seine Reformpolitik gewonnen, daß er daran denken konnte, selbst den Platz des merowingischen Königs einzunehmen. Die Reichsversammlung scheint aber nicht imstande gewesen zu sein, sich hierzu einen einhelligen Gemeinwillen zu bilden. So mag sie die Frage, ob das Volk seinen König auch dann verlassen dürfe, wenn sich dieser keines Bruchs des Herrschaftsvertrags und der Volksrechte schuldig gemacht habe, an die ihr angehörigen Bischöfe deferiert haben (oben: § 636) und von diesen an den römischen Papst verwiesen worden sein, dessen Mandant, der Heilige und Apostelfürst Petrus, sich bei Angelsachsen und Franken hoher Verehrung erfreute. Durch Gesandte ließ Pippin Papst Zacharias die Frage vorlegen, wer von beiden von Rechts wegen König heißen solle, der untätig daheim Sitzende oder der mit der Mühsal der Staatsgeschäfte Beladene. Wie erwartet, entschied Zacharias zugunsten desjenigen, der die Macht wirklich ausübte: Dies sei gemäß dem ordo (Ann. regni Franc. a. 749) oder göttlichen Rechte, nach dem sich alle vergängliche Menschensatzung zu richten hatte (F. Kern 1914 S. 298). Damit waren die Bedenken ausgeräumt, die die Reichsversammlung bisher daran gehindert hatten, den merowingischen König einhellig zu verlassen. Die Franken erkannten, daß sie Childerich auf Grund eines Irrtums König genannt hatten
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(qui falso rex vocabatur), und wählten Pippin nach Volksrecht zum König (secundum morem Francorum electus est ad regem, Ann. regni Franc. a. 750). Zweifellos war damit die Ermächtigung zu regieren verbunden, einschließlich der Befugnis, der Reichsversammlung vorzusitzen und im eigenen Namen zu urkunden. Der Ort, an dem dies geschah, ist nicht überliefert. Anschließend empfing Pippin zu Soissons, wir wissen nicht, von wessen Hand (K.-U. Jäschke 1977. J. Jarnut 1982), vermutlich von der des Ortsbischofs, die heilige, zum König machende Salbung, und ebenda setzten ihn die Franken nach Volksrecht auf den königlichen Thron (elevatus a Francis in regno, more Francorum elevatus in solium regni, Ann. regni Franc. a. 750). Es ist bemerkenswert, daß Einhard später im überschwenglichen Stil der Hoftheologie den Anteil der Franken an der Erhebung Pippins verschwieg und dem Volke allenfalls noch, indem er die Prädikate seiner Aussage ins grammatische Passiv setzte, einen Platz als deren logisches Subjekt freihielt: Pippinus . . . in regem unctus regni honore sublimatus est (Ann. Fuld. a. 752), per auctoritatem Romani pontificis ex praefecto palatii rex constitutus (Einhard c. 3). Die vielerörterte Frage nach dem Sinn, den die Hoftheologen der Salbung unterlegten, und danach, ob die Franken, insofern noch Heiden, an die Geblütsheiligkeit ihrer Könige glaubten (K. Kroeschell 1968 S. 27, F. Graus 1986 S. 562) und ob diese im christlichen Gewande der Salbung erhalten bleiben sollte, braucht uns nicht zu beschäftigen, da die fränkischen Reichsvölker das Gemeinte, was immer es sein mochte, nicht verstehen konnten und folglich auch keinen Grund hatten, ihre Auffassungen vom Ursprung der königlichen Amtsgewalt ihm anzupassen. Worüber die Reichsversammlung und der Hausmeier zu entscheiden hatten, das war keine religiöse, sondern eine verfassungspolitische Frage, und für die Bischöfe kam die Frage hinzu, ob sie um des Vorteils willen, den Pippin ihnen verhieß, nämlich den Kirchen entzogene Güter ihnen zurückzugeben, nicht nur so, wie sie es seit langem taten, ihre geistlichen Vollmachten, sondern nun auch das ihrer Obhut anvertraute Wort Gottes in den Dienst der civitas terrena stellen sollten. Für die Verfassungsgeschichte dieses irdischen Staates sind zwei andere Fragen wichtig: Warum konnten die Hoftheologen in der biblischen Geschichte von der Salbung der beiden ersten altjüdischen Könige ihre eigene, selbsterlebte Geschichte so deutlich wiedererkennen, daß sie sich dazu berechtigt fühlten, die Salbung aus dem vorchristlichen Altertum in ihre Gegenwart zu übertragen? und: wer hat sie und den die Salbung ausführenden Bischof dazu ermächtigt, sie an König Pippin zu vollziehen? § 687. Was die erste Frage anlangt, so lasen sie in den Büchern Samuel des Alten Testaments, das Volk habe durch seine Ältesten den Richter und Seher Samuel aufgefordert, einen König über es zu setzen. Samuel warnte es jedoch davor, da es Jahwe bereits zu seinem wahren König angenommen habe, und wies es auf die tyrannischen Rechte hin, denen ein König es unterwerfen würde. Da aber das Volk darauf nicht hörte, machte sich Samuel auf die Suche nach einem zum
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König geeigneten Manne, und nachdem er ihn in Saul erkannt hatte, goß er diesem die Ölflasche aufs Haupt und sagte: „Hiermit hat der Herr dich zum Fürsten über sein Eigentumsvolk Israel gesalbt.“ Alsdann versammelte er das Volk und ließ den künftigen König durch das Los bestimmen, das erwartungsgemäß auf Saul fiel und ihn als von Jahwe Erwählten auswies. Da erhob das ganze Volk ein Jubelgeschrei und rief: „Es lebe der König!“ (1 Sam 8 – 10). Später wurde Saul, was allerdings außer Samuel niemand erkannte, vom Herrn wegen Ungehorsams verworfen, so daß der Seher einen Nachfolger zu finden hatte. Den vom Herrn Erwählten erkannte er in David, und so nahm er das Ölhorn und salbte ihn, und da kam der Geist des Herrn über David (1 Sam 15 – 16). Aber erst nach Sauls Tode nahm das Volk den Gesalbten zum Könige an: Zuerst salbten die Männer von Juda ihn zum Könige über ihren Stamm, später aber kamen auch die Ältesten der Israeliten zu David und salbten ihn zum König über Israel, nachdem David zuvor einen Vertrag mit ihnen geschlossen hatte (2 Sam 2 und 5), dessen Inhalt uns der Chronist allerdings nicht überliefert hat. David selber setzte später Salomo zum Nachfolger ein. Er ließ ihn auf Befehl des Herrn durch den Priester Zadok und den Propheten Nathan zum Könige salben und vom Volke mit dem Zuruf: „Es lebe der König Salomo!“ annehmen (1 Kön 1). Nach Salomos Tode erhoben das Volk Juda und die zehn Stämme Israel je eigene Könige. Von deren Salbung und vom Willen Jahwes ist dabei (1 Kön 12) und hinfort nicht mehr die Rede. Dies alles berichten uns verschiedene zeitgenössische Erzähler, die weder Saul noch David besonders günstig beurteilen. Überliefert sind uns ihre Berichte jedoch als Teile eines großen Geschichtswerks, das ein anonymer Bearbeiter, der heute sogenannte Deuteronomist, zu einer Zeit zusammenstellte, als die beiden Königreiche Juda und Israel bereits untergegangen waren. Dieser Bearbeiter hat zwar die Texte, die ihm vorlagen, möglichst unversehrt und ausführlich übernommen, aber er hat sie doch unter einem einheitlichen Gesichtspunkt geordnet und zusammengefügt: Er setzte sich mit der politischen Katastrophe seines Volkes auseinander und betrachtete von seiner religiösen Grundhaltung her die Geschichte Israels als fortgesetzten Abfall von Jahwes Willen; so erschien ihm der endliche Untergang des Volkes als Folge der Untreue Israels gegen Jahwe und dessen endgültigen Gerichts. Entgegen der Auffassung seiner Vorlagen deutet er schon die Entstehung des Königtums als Abfall des Volkes von seinem Gotte; dagegen erhebt er David zum Ideal eines gottesfürchtigen und Gott gehorsamen Königs, und an diesem Maße mißt er die Nachfolger Salomos (C. Kuhl 1953 S. 95 – 98, 146 f., 158, 165 – 167). Um also das fränkische mit dem jüdischen Königtum überhaupt vergleichen zu können, mußten Pippins Hoftheologen vorab davon überzeugt sein, daß die Franken keineswegs von Gott abfielen, wenn sie statt des machtlosen Merowingers einen zwar mächtigen, aber keineswegs autokratischen König über sich setzten. Daß sie in dieser Überzeugung lebten und wie sie sie begründeten, das erfahren wir aus dem zu Pippins Zeit redigierten längeren Prolog des salfränkischen Volksrechtes, der das Frankenvolk durch Gott selbst begründet sein läßt und es nicht zuletzt des-
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halb rühmt, weil es frei sei von Ketzerei, tapfer das Joch der Römer abgeschüttelt und die Reliquien der von den Römern gemarterten Heiligen voller Ehrfurcht bei sich aufgenommen habe (Lex Sal. S. 3 f. Gebhardt, Hdb. 1970 S. 162). Durch die genannten Tugenden habe das neue fränkische Gottesvolk bewiesen, daß es sich der Sünden des ersten Gottesvolkes zu enthalten wisse. Daher konnten die Gelehrten gewiß sein, daß die von den Franken erhobenen Könige nicht Saul und den Nachfolgern Salomos gleichen, sondern Ebenbilder Davids sein würden. Ihre Königs- und Reichsidee war die eines regnum Davidicum, eines nicht christo-, sondern theozentrischen Reiches, dessen König von Gottvater selbst erhöht worden sei und als Stellvertreter Gottes den Vorrang vor dem Bischof als Stellvertreter Christi genieße (E. H. Kantorowicz 1966 / 1990 S. 96, 100, 175. R. Schmidt 1968 S. 57 – 66). Erst unter diesen Voraussetzungen, die sie freilich Laien schwerlich begreiflich machen konnten, waren die Hoftheologen imstande, das neue Fränkische Reich in dem alten jüdischen wiederzuerkennen. Denn hier wie dort war es das Volk, das den König über sich erhob, das die dafür geeignete Person durch seine Beauftragten, seien es sein Richter oder König oder seine Großen, kiesen ließ und das ihn zum König annahm und ermächtigte, indem es die Kur durch den Zuruf „Es lebe der König!“ bestätigte. Auch war es das Volk, das mit seinem König einen Vertrag schloß und ihn durch seine Beauftragten, entweder den Richter oder die Ältesten, zum Könige salben ließ, denn das vom Baume des Lebens geerntete Salböl bestärkte die Lebenskraft des Erkorenen und damit den Zuruf „Es lebe der König“. Dies alles stimmte mit der fränkischen Königserhebung so weitgehend überein, daß die des Sinnes allen Geschehens durch den Glauben kundigen Gelehrten Übereinstimmung auch in dem annehmen konnten, was dem Volke verborgen blieb: daß nämlich die scheinbar vom Volke Beauftragten in Wahrheit Gottes Werkzeuge waren, daß das Salböl in den Empfänger nicht Lebenskraft, sondern den Geist Gottes einpflanzte und daß sich in der Verlassung Childerichs und Erhebung Pippins die göttliche Verwerfung Sauls und Vorherbestimmung Davids wiederholte. Damit ist auch die Frage beantwortet, wer die Bischöfe dazu ermächtigt hat, Pippin zu salben. Es war dies das fränkische Reichsvolk, das dazu entweder unausgesprochen durch die Erhebung Pippins zum Könige oder aber ausdrücklich durch einen Beschluß, den die Uneinigkeit der Bischöfe über das kirchenpolitisch Gebotene (K.-U. Jäschke 1977 S. 38 – 44, 53) erforderlich gemacht haben könnte, selbst die Erlaubnis gegeben, das aber auch die Entscheidung darüber dem von ihm erhobenen und mit seinem Rate, in seinem Namen handelnden König überlassen haben mag. Viel kam ja auf die Erlaubnis nicht an, da die Hoftheologen, weit davon entfernt, in das Volksrecht der Königserhebung verändernd einzugreifen, nichts anderes im Sinne hatten, als die Königserhebung theologisch zu interpretieren. Daraus, daß sie keine neuen Regeln setzen, sondern nur das bereits Geschehene deuten wollten, mag es sich erklären, daß sie uns den Namen des Liturgen, der an Pippin die Salbung vollzog, nicht überliefert haben. Auf den Liturgen kam nichts an, da er
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nichts zu gebieten oder zu entscheiden, sondern nur bereits Entschiedenes zu erklären hatte. § 688. Im Jahre 754 suchte Papst Stephan II. König Pippin in Neustrien auf, um das Eingreifen der Franken gegen die Langobarden in Italien zu erwirken. Es kam zum Abschluß eines Vertrages, durch den ihm Pippin die Restitution des Exarchats von Ravenna und des Dukats von Rom an die Römer zusagte, während er die Pippin zuteilgewordene Salbung durch eine zweite Salbung bestätigte und zugleich Pippins Söhne Karl und Karlmann zum ersten Male salbte (RI 12 n. 76a. C. Brühl 1962 S. 305, 318, 321). Er vollzog die geistliche Handlung also nicht aus eigenem Rechte, sondern im Auftrage des Königs, der den zugrundeliegenden Vertrag nur mit Zustimmung des Volkes und der Reichsversammlung abgeschlossen haben kann. Nur Spekulationen sind uns darüber möglich, ob Pippin gleichzeitig seine Söhne von den Franken zu Königen erheben ließ und ihnen eine Krone aufsetzte (C. Brühl 1962 S. 313. R. Schmidt 1968 S. 58). Zweimal bot Pippin hernach gemäß jenem Vertrage das fränkische Heer gegen die Langobarden auf, und nach dem zweiten Feldzuge überwies er die Gebiete, die den Römern zu restituieren er sich verpflichtet hatte, durch Königsurkunde dem Papste, den er offensichtlich nach fränkischer Gewohnheit als gewähltes Haupt und Worthalter der Römer betrachtete. Gewiß war es diese, vom Stellvertreter des Apostelfürsten vollzogene Bestätigungssalbung, die Pippins geistliche Berater auf einen Gedanken brachte, den wir zuerst in einer Königsurkunde von 755 ausgesprochen und später, als die fränkische Gemeinschaft mit der römischen Kirche noch enger geworden war, in dieser Form allgemein in Gebrauch genommen finden. Die Kanzlei adressierte nämlich jene Urkunde an den „Scharfsinn aller Getreuen Gottes und des Königs“, fidelium Dei et nostrorum (MGH. DKar. 55, oben: § 655). Sie setzte also christliche Glaubensfestigkeit oder Vertragstreue gegenüber Gott mit derjenigen Treue gleich, die den König mit seinen Untertanen verband, zwei Treueverhältnisse, die sowohl im Lat. als auch im Ahd., als fides und triuwa, mit demselben Worte bezeichnet wurden (St. Sonderegger 1965 S. 433). In der politischen Theologie des karolingischen Weihekönigtums verschmolz die gesamte Christenheit mit dem königlichen Untertanenverbande. Dabei mag die Hoffnung mitgespielt haben, daß die göttliche Weltregierung eines Tages die beiden Einheiten, den das irdische Jammertal durchwandernden Gottesstaat und den zu dessen Schirm auserwählten irdischen Staat, miteinander zur Deckung bringen würde. In die Königsurkunden konnten solche Gedanken der Hoftheologen um so leichter Eingang finden, als es jetzt im Fränkischen Reiche keine Laien mehr gab, die schreiben und lesen konnten, und daher just in Pippins Regierungszeit als zentrale Institution des königlichen Hofes die Hofkapelle hervortritt. Unter diesem Namen verstand man hinfort nicht mehr nur den Reliquienschatz der Herrscher und den Raum im Palaste, worin er verwahrt wurde, sondern auch die Genossenschaft der Hofgeistlichen oder Kapellane, die die Reliquien hüteten und in dem Verwahrrau-
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me die zum Hofzeremoniell gehörigen Gottesdienste feierten. Ihnen vertraute bereits König Pippin neben anderen Aufgaben auch das Diktat und die Ausfertigung seiner Urkunden an (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 372 – 374, 409 f.). Es ist dieses innerhalb der Hofkapelle tätige Schreiberkollegium, das man heute mit dem nicht zeitgenössischen Worte Kanzlei zu bezeichnen pflegt. Als sein Oberhaupt ist der sogenannte Rekognoszent anzusehen, der dem illiteraten Herrscher dafür bürgte, daß die Urkunden, die er unterfertigte, seinem Willen entsprachen. Für ihn kam seit 854 im Ostfränkischen Reiche am Hofe König Ludwigs der Titel Kanzler in Gebrauch. Seit Hitherius, der von 766 bis 775 die Vertrauensstellung des Rekognoszenten bekleidete, ist auf Jahrhunderte hinaus kein Laie mehr als königlicher Bediensteter in der fränkischen und hernach der deutschen Reichskanzlei nachzuweisen; vielmehr waren alle Kanzlisten, deren Stand sich bestimmt ermitteln läßt, Kleriker. „Für die fernere Entwicklung der fränkischen und deutschen Verfassung aber war . . . diese Veränderung von der größten Tragweite: Wer den gewaltigen Einfluß, den der Klerus im mittelalterlichen Staate ausgeübt hat, richtig würdigen will, darf die Tatsache, daß die wichtigste, man kann fast sagen einzige permanente Zentralbehörde dieses Staates ausschließlich mit Geistlichen besetzt war, nicht außer Acht lassen“ (H. Bresslau). § 689. Nachdem König Pippin im Jahre 768 verstorben war, empfingen seine Söhne Karl in Noyon und Karlmann in Soissons abermals die Salbung, und nach Karlmanns Tode 771 wurde Karl in dessen Reichsteil zum dritten Male gesalbt (RI 12 n. 115d, 130d, 142a). Obwohl die Quellen nur von der geistlichen Weihe berichten, ist anzunehmen, daß ihr jedesmal die weltliche Erhebung zum Könige vorangegangen ist (C. Brühl 1962 S. 313 – 320), zumal die Prinzen jetzt auch den Herrschaftsvertrag im eigenen Namen eingehen mußten. Um ihn zu besiegeln, mag der Sprecher der Reichsversammlung Karl auch zum zweiten oder dritten Male gekrönt haben. Das Hinzutreten der Salbung oder geistlichen Weihe zur Erhebung des Königs bedeutete also, daß man den Staatsakt der äußeren Form nach verchristlichte, ohne seinen volksrechtlichen Inhalt zu verändern. Dieser Vorgang betraf namentlich auch die Königsurkunden. Zur Zeit Karlmanns und Karls des Großen begannen deren Verfasser, der Intitulation regelmäßig die Devotionsformel dei gratia beizufügen und damit den frommen Gedanken auszudrücken, daß der Aussteller seine irdische Stellung als König der Franken der Gnade Gottes verdanke. Die vielerörterte Frage, ob die Hoftheologen mit der Devotionsformel ferner bezeugen wollten, daß Gott dem Könige die Regierungsgewalt übertragen habe, so daß die Franken einer theokratischen Amtsgewalt unterworfen worden wären und der König über ein Mandat verfügte, das nicht vom Volke herrührte (F. Kern 1914 S. 92, 109 f., 304 – 307, Th. Mayer 1956 S. 170 f.), können wir auf sich beruhen lassen, da sie sich dem fränkischen Volke und den Bewahrern der Volksrechte niemals gestellt hat. Wichtig ist lediglich, daß die Theorie vom davidischen Königtum mit der völkischen Rechtsauffassung darin übereinstimmte, daß das Volk den König
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über sich erhob und ermächtigte, daß Gott also seinen Willen durch das Volk und dessen Beauftragte zum Ausdruck brachte und sich in dieser Sache von niemand anders bevormunden ließ. König Karls geistliche Berater konnten und wollten nichts daran ändern, daß sich Gottes Wille in der Wahl betätigte, daß folglich der König Gottes Gnade weder ererben noch gegen den Willen des Volkes, wenn dieses ihn verlassen wollte, behaupten konnte, und daß sich dem Volke „kein nur auf Gottes Gnade gestelltes Thronrecht“ plausibel machen ließ (F. Kern 1914 S. 110, 306. Oben: §§ 487, 513). Die Christianisierung des Urkundenformulars kam zum Abschluß, als Karl der Große nach Empfang der Kaiserwürde begann, seine Diplome mit der Invocatio oder Anrufung Gottes: in nomine patris et filii et spiritus sancti amen, eröffnen zu lassen (MGH. DKar. 201, 202), worauf nun regelmäßig die Intitulatio mit der Devotionsformel folgte. Die Kanzlisten seines Nachfolgers schickten der verbalen Invocatio gelegentlich noch das Chrismon als symbolische Anrufung Gottes voraus. Die Diplome Kaiser Lothars I. (840 – 855) verwandten regelmäßig diese doppelte Invocatio, und nach einigem Schwanken setzte sich dieser Brauch auch in Ost- und Westfranken durch (Th. Schieffer in MGH. DLo. I., Einleitung S. 41). Die Stellung der Bischöfe und Reichsäbte als weltlicher königlicher Amtleute hatte übrigens hiermit nichts zu tun. Sie ist eher als Teil der Germanisierung des kirchlichen Lebens zu betrachten, zumal sie bereits unter der merowingischen Reichsregierung eingetreten ist, in deren Endzeit etwa die Bischofsdynastie des Basin, Liutwin und Milo den autonomen Bischofsstaat von Trier beherrschte (Ch. Schieffer in LMA 8 Sp. 997 f. W. Kienast 1990 S. 163 f., 169, 170). Die Einrichtung von Kriegerlehen auf Kirchengut fügte ihren Aufgaben jetzt auch den Kriegsdienst bei; in dreifacher Form war dieser dem Reiche zu leisten, wie der Gesetzgeber im Jahre 817 erklärte: als bewaffnete Heerfolge, als Zulieferung von Rüstungsgütern und als Gebet für den Herrscher und seine Söhne (MGH. Capit. 1, 349 n. 171, hier: S. 350 Z. 9 – 12). Erstmals unter Ludwig, dem ersten Könige der Ostfranken, sind Bischöfe und Äbte als Heerführer und ist ihr Tod auf dem Schlachtfelde bezeugt (W. Hartmann 2002 S. 171 f. Ann. Fuld. a. 844 S. 34 f.). Die Kirche begann, sich mit dem Kriegshandwerk auszusöhnen, die Waffen zu segnen, die wider ihre Feinde gebraucht werden sollten, und jeden ihr nützlichen, namentlich den Heidenkrieg zum heiligen Krieg zu erklären (J. Riley-Smith in LMA 5 Sp. 1508), und damit mehrte sie zugleich die Heiligkeit des Königs, zu dessen Herrschaftszeichen das Schwert gehörte. Als Teil der reichsgesetzlich angeordneten Gebetspflicht der Bischöfe kann auch ihr Amt gelten, den König und die Königin zu salben, sobald der König dies anordnete. Denn auch wenn der Herrscher seinen Willen in die Form einer Bitte kleidete (MGH. Capit. 2, 453 n. 301: S. 453 Z. 26, 31, 454 Z. 3, 26), konnten die Bischöfe ihn schwerlich abweisen. In der Bitte des Königs war zugleich die Ermächtigung für den Liturgen enthalten, die Amtshandlung vorzunehmen. Kein Bischof konnte einem unwilligen König die Salbung ungebeten aufnötigen.
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§§ 690 – 695. Kaiserkrönung und kaiserliche Würde § 690. Am 25. Dezember 800 ließ sich König Karl in der Peterskirche zu Rom von Papst Leo III. eine Krone aufsetzen und von den Römern zum Kaiser ausrufen (RI 12 n. 370c). An die Verfassungslehre richtet dieser Vorgang abermals die Frage, wer den Papst damit beauftragt und dazu ermächtigt habe, den König der Franken zu krönen. Der Glaube, Leo III. habe das Amt des Koronators von Gott empfangen, beantwortet die Frage nicht, sondern verwandelt sie lediglich in die weitere nach den Personen, deren sich Gott bedient habe, um seinen Willen auf Erden kundzumachen. Auf diese Frage aber hatten damals weder das kanonische Recht noch die im Abendlande geltenden weltlichen Rechte irgendeine Antwort zu geben. Namentlich das Recht der Stadt und des Herzogtums Rom wußte nichts von einem solchen päpstlichen Amte, denn solange es weströmische Kaiser gegeben hatte, war von einer Beteiligung der Bischöfe an deren Erhebung noch keine Rede gewesen. Das Amt des Koronators muß daher vor dem 25. Dezember 800 neu geschaffen worden sein. Seit langem empfing der Bischof von Rom und Patriarch der lateinischen Kirche seine Amtsgewalt einerseits von Klerus, Optimaten, Heer und Volk des Herzogtums Rom, denen sich seit Beginn des 8. Jahrhunderts noch das Heer des Exarchats von Ravenna angeschlossen hatte, andererseits aber von dem Kaiser in Konstantinopel, den die Römer unter Vorlage des Wahlprotokolls um die Bestätigung ihrer Wahl und um die Erlaubnis ersuchen mußten, den Erwählten zu weihen und ihm den Amtseid abzunehmen (E. Pitz 1990 S. 273, 2001a S. 408 – 411, 509, nach E. Caspar 1933 Bd. 2 S. 629 – 661 und P. Speck 1978 S. 57, 1990 S. 637 – 695). Der Kaiser hatte seine Befugnisse zwar im Jahre 684 dem in Ravenna residierenden Exarchen übertragen, als aber die Langobarden 751 Ravenna eroberten und dem kaiserlichen Amte daselbst ein Ende machten, nahm er sie selbstverständlich wieder an sich, da er auch weiterhin den römischen Bischof als seinen Untertan betrachtete. Weder Papst Stephan II. noch seine Nachfolger werden es für klug gehalten haben, dem Kaiser ihre Untertänigkeit ausdrücklich aufzukündigen, da dessen Macht in Italien durch den Strategen von Sizilien immer noch wirksam vertreten wurde. Aber da sie sich seit 754 dem fränkischen Könige als Schutzherrn untertänig gemacht und diesen als Patricius Romanorum und Rechtsnachfolger des kaiserlichen Exarchen anerkannt hatten, mußten sie ihm nun auch ihre Wahlanzeigen zur Bestätigung einreichen und damit ihrer Eingliederung in die fränkische Reichskirche zustimmen. Von dem fränkischen König, der die Rechte des Patricius seit 800 als Kaiser ausübte, ist die Herrschaft über die römische Kirche im Jahre 962 auf den ostfränkisch-deutschen König übergegangen, und bis zum Schisma von 1061 haben Päpste und Römer sie anerkannt. Wie erst neuerdings von dem Byzantinisten Paul Speck (1929 – 2003) nachgewiesen worden ist, bewog die schwierige außenpolitische Situation des Byzantinischen Reiches im Jahre 798 die Kaiserin Irene dazu, Verhandlungen mit König Karl über die Staatsangehörigkeit Roms und des Exarchats und über die gemein-
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same Grenze in Unteritalien aufzunehmen. Darüber hinaus war Irene, um alle Konflikte mit dem mächtigen Frankenreiche aus der Welt zu schaffen, dazu bereit, dessen Oberhaupt als mit Ostrom gleichberechtigten Beherrscher des Abendlandes anzuerkennen. Zu diesem Zwecke schlug sie Karl vor, das Doppelkaisertum zu erneuern, das bereits von 395 bis 476 Abend- und Morgenland in friedlicher Gemeinschaft erhalten hatte (P. Speck 1978 S. 323 – 350, 360, 733 – 774, und in LMA 5 Sp. 644 f. E. Pitz 2001a S. 474 – 480, 511). Nach diesem Vorbilde war sie als regierende Kaiserin berechtigt, den Römern einen Kandidaten für die westliche Kaiserwürde zu präsentieren, den Senat, Heer und Volk von Rom durch Akklamation mit der kaiserlichen Amtsgewalt bekleiden sollten. Sie war aber auch berechtigt, denjenigen ihrer Untertanen und Amtleute zu bestimmen, der den Römern ihren Kandidaten benennen und das Verfahren seiner Erhebung leiten sollte. Für dieses Amt kam nach Lage der Dinge niemand anders in Betracht als der Bischof und Herzog von Rom. Hierüber hatten Gesandte, die Irene im Jahre 798 oder 799 über Rom nach Aachen schickte, sowohl mit Papst Leo III. als auch mit König Karl zu verhandeln. Den Papst muß es verlockt haben, aus der Untertänigkeit unter den östlichen Kaiser entlassen zu werden, dessen Kirchherrschaft ihn bisher daran gehindert hatte, staatliche Anerkennung für seine Zweigewaltenlehre zu erreichen, der zufolge die von den Nachfolgern des Apostelfürsten Petrus ausgeübte höchste geistliche Gewalt mit dem Kaisertum derart gleichberechtigt sein sollte, daß dieses sich auf seine weltlichen Befugnisse hätte beschränken müssen. Außerdem dürfte er darauf beharrt haben, den erhobenen Kaiser im Rahmen einer liturgischen Feier ebenso krönen zu dürfen, wie es in Konstantinopel der dortige Patriarch tat. Das Amt eines Koronators gab es bis dahin nur dort, und seine Nachahmung in Rom bedeutete, daß der Papst es nicht im eigenen Namen, sondern nur auf Befehl und im Auftrage des Kaisers und derart wahrnehmen konnte, daß der Krönung keine konstitutive, sondern nach der Akklamation der Römer nur noch akzessorische oder deklarative Bedeutung (C. Brühl 1962 S. 311) zukommen konnte. § 691. Schließlich muß dem König der Franken Irenes Angebot, den kaiserlichen Namen anzunehmen, höchst angenehm gewesen sein, da es nicht nur seine Hoheitsrechte über den Exarchat von Ravenna und den römischen Dukat gesichert, sondern ihm auch gestattet haben würde, ebenso, wie es einst sein Vater getan, die göttliche Weltordnung dadurch wieder ins Lot zu bringen, daß er, der tatsächlich die kaiserliche Gewalt im Abendlande handhabte, auch den seiner Macht gebührenden Titel empfing. Dagegen kann er schwerlich daran gedacht haben, seine Herrscherrechte durch Übertragung römischer Staatseinrichtungen auf das Frankenreich zu stärken oder zu mehren; „die Meinung . . . , daß Karl für seine Herrschaft, für das Kaisertum, das er aufgerichtet, die Grundlagen des Zusammenhalts und der Ordnung in römischen Einrichtungen gefunden, entbehrt aller Wahrheit“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 238 f., Bd. 4 S. 638). Was seinen Rang als christlicher König anlangt, so scheint sich Karl von dem neuen Namen keine Erhöhung versprochen zu haben, da er zuerst im Jahre 796 und dann während der Verhandlungen
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mit Irene und Leo 799 den Kanzleigebrauch wieder aufnahm, seine Untertanen als fideles dei et regis anzureden, denn dieser, in einem Diplom seines Vaters von 755 zuerst belegte, Brauch stellte Irenes Angebot sein bereits existierendes christliches Großkönigtum entgegen. Seine Hoftheologen jedenfalls waren nicht damit einverstanden, daß er den Kaisertitel annehmen wollte. Sie sahen darin eine Verfälschung des davidischen Königtums der Franken, das seine Inhaber bereits seit einem halben Jahrhundert über alle anderen irdischen Machthaber erhöhte (P. Classen 1968 S. 572, 592 f. P. Speck 1978 S. 354 f.). Es müssen also die Gesandten der Kaiserin mit König Karl einen Staatsvertrag über die Errichtung des westlichen Kaisertums eingegangen sein, auf Grund dessen Karl Papst Leo III. den Befehl gab, in seiner Eigenschaft als Herzog von Rom ihn zum Kaiser erheben zu lassen und in seiner Eigenschaft als Patriarch der lateinischen Kirche ihm die Krone aufzusetzen. Daß der Papst ihn aus diesem Anlaß zum vierten Male gesalbt hätte, ist nicht bezeugt und nicht wahrscheinlich, da Leo das Verfahren nach byzantinischem Recht und Ritus einrichten mußte (P. Classen 1968 S. 585, P. Speck 1978 S. 786 f. C. Brühl 1995 S. 503). Aber Leo hielt sich nicht in allen Punkten an seine Instruktion. Als sich der König am Weihnachtstage „vom Gebet vor dem Grabe des seligen Apostels Petrus erhob,“ setzte er ihm zwar „die Krone aufs Haupt, und vom ganzen Volke der Römer wurde ausgerufen: Leben und Sieg dem Augustus Karl, dem von Gott gekrönten großen und friedebringenden Kaiser der Römer! Und nach den Lobgesängen wurde er vom Papste nach dem Brauch der alten Kaiser durch Kniefall geehrt und . . . zum Kaiser und Augustus ausgerufen“ (Ann. regni Franc.). Offenkundig und in richtiger Beurteilung der italienischen Machtverhältnisse wagte Leo es, entgegen seinem Auftrage und zugunsten des theokratischen Rechtsanspruchs, den er für sein geistliches Amt aus der Zweigewaltenlehre ableitete, eigenmächtig den öffentlichen Hinweis darauf zu unterlassen, daß er im Namen und auf Befehl der beiden Weltherrscher handelte und daß die Akklamation nicht bloß dem anwesenden Imperator, sondern auch dem fernen oströmischen Kaiser gelten sollte. Vielmehr gab er sich den Anschein, als handle er aus eigener Machtfülle, gleichsam als ob ihn das römische Volk zum Präsentator und Gott zum Koronator bestellt hätte. Gegenüber dieser kecken, an heiliger Stätte begangenen Usurpation war Karl machtlos. Darauf ist die Nachricht zu beziehen, daß er an jenem Tage die Kirche nicht betreten hätte, wenn ihm Leos Absicht bekannt gewesen wäre (Einhard c. 28 S. 32 Z. 22 – 26. P. Speck 1978 S. 362 – 364, 369, 374. E. Pitz 2001a S. 481). Der Kaiserin Irene gegenüber freilich stand Karl nun als vertragsbrüchig da, und daraus folgten ärgerliche und bis zum Gebrauch der Waffen anschwellende Streitigkeiten, die er erst im Jahre 812 durch einen Friedensvertrag mit Konstantinopel beizulegen vermochte. Hieraus erklärt es sich, daß er für seine Titulatur eine Form wählte, die keiner seiner Nachfolger je übernommen hat und die sich, um jede unnötige Verletzung oströmischer Empfindlichkeiten zu vermeiden, streng an die tatsächlichen Machtverhältnisse hielt: „Erlauchtester Augustus, von Gott gekrönter großer und friedebringender Kaiser, Lenker des Römischen Reiches (imperator
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Romanum gubernans imperium), zugleich nach Gottes Barmherzigkeit König der Franken und Langobarden“ (Th. Mayer 1956 S. 171. P. Classen 1968 S. 587 f., 604. C. Brühl 1995 S. 505 ff.). Sie bringt nicht nur zum Ausdruck, daß seinem Kaisertum kein Staatsvolk oder Untertanenverband von der Art der Franken und Langobarden zugeordnet war, auf die sich sein Doppelkönigtum stützte, was dem römischen Volke, das ihm akklamiert hatte, schwerlich gefallen haben kann, sondern auch und damit übereinstimmend, daß er zwar durch Gott zum Kaiser gekrönt worden war, seine Königreiche aber nur durch Gottes Zulassung oder Gnade, nämlich in Wirklichkeit aus der Hand seiner Untertanengemeinden empfangen hatte. § 692. Die fränkischen Reichsvölker und der fränkische Reichsuntertanenverband standen in der Tat in keinerlei rechtlichen Beziehungen zum Kaisertum. Die Franken hatten weder die Römer damit beauftragt, in ihrem Namen Karl zum Kaiser anzunehmen, noch den Papst damit, Karl zum Kaiser zu erwählen und zu krönen, noch alle beide damit, von ihretwegen mit Karl einen Herrschaftsvertrag abzuschließen. Es kann allerdings nicht zweifelhaft sein, daß Karl der Zustimmung des Volkes und der Reichsversammlung bedurfte, um in Italien Krieg führen und Politik machen zu können, und daß er mit ihrem Willen handelte, als er den Staatsvertrag mit Kaiserin Irene abschloß und auf Grund desselben in Rom und nach römisch-byzantinischem Recht den Kaisertitel annahm: denn nur nach diesem Rechte konnten die Vertragspartner als Autokratoren dem Volke von Rom ihren Erwählten zur Akklamation präsentieren und den Bischof von Rom zum Koronator bestellen. Aber das alles ging Franken und Langobarden nur insofern etwas an, als sie verfassungsmäßig daran beteiligt waren, die Ziele der Außenpolitik zu bestimmen, die die königliche Regierung verfolgen wollte. Niemals haben sie aus dem Kaisertum ein Amt ihres eigenen Reiches gemacht, über dessen Besetzung und Aufgaben sie rechtmäßigerweise hätten mitbestimmen müssen. Weder das fränkische noch irgendein anderes der germanischen Volksrechte hatte jemals Anlaß, sich mit dem Kaisertum zu beschäftigen, denn zu den Rechten des Königs, den sie über sich erhoben hatten, kam nichts mehr hinzu, wenn es ihm und seinem Volke gelang, die kaiserliche Würde zu erwerben. Es gibt einige Hinweise darauf, was sich die Franken im Rahmen des angestammten Rechtsdenkens ihrer Völker unter dem ihnen fremden und neuen Namen eines Kaisers vorstellten. Als Kaiser Karl im Jahre 813 zu Aachen seinen Sohn Ludwig zum Mitkaiser erhob und ihn dadurch dem Volke als seinen Nachfolger präsentierte oder designierte, führte er dies aus, indem er ihm in einem öffentlichen und rein weltlichen Staatsakt, ohne daran Geistliche als Liturgen oder Koronatoren zu beteiligen, eine Krone aufs Haupt setzte. Zwar erforderten auch weltliche Krönungen einen Koronator, da sich, wer sich beim Antritt der Herrschaft hätte selbst krönen wollen, dadurch als Tyrann oder Usurpator erwiesen hätte, weil unwillig, die Vollmacht des Regenten von seinem Volke zu empfangen. Aber um das Amt des Koronators dem politischen Streit während des Interregnums und aller partei-
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lichen Eigenmächtigkeit zu entziehen, war es am sichersten, wenn der alte Kaiser selbst als Koronator fungierte und noch zu seinen Lebzeiten den Nachfolger bestimmte. Wie sein Vater im Jahre 813, so verfuhr Kaiser Ludwig vier Jahre später, als er seinen Sohn Lothar zum Mitkaiser erheben ließ. Sowohl er wie sein Sohn haben sich jeweils erst einige Jahre nach der weltlichen Krönung zusätzlich noch die kirchliche Salbung und Krönung erteilen lassen (C. Brühl 1962 S. 276, 1995 S. 503 f.). Da weder Karl noch Ludwig jemals das Kaisertum in die Reichsteilungspolitik einbezogen haben, ist klar, daß sie darunter nichts weiter als die Stellung eines Großkönigs oder Herrschers verstanden, der gleichzeitig in mehreren Regna zum König erhoben worden war (ebd. S. 523 – 527). Mit Rom und dem römischen Volke hatte dieses Kaisertum nichts zu tun. Der Kaiser nannte sich nicht nach ihnen, und er residierte auch nicht dort, sondern in der Regel nördlich der Alpen (ebd. S. 360, 508). Umgekehrt hatte auch das in Rom erworbene Kaisertum mit dem Fränkischen Reiche nichts zu tun. Dies ergibt sich aus den Vorgängen, die sich an die Kaiserkrönung Karls II. des Kahlen, Königs der Westfranken, im Jahre 876 anschlossen (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 2 S. 387 – 411. P. E. Schramm 1960 Bd. 1 S. 33 – 42. C. Brühl 1995 S. 362 – 366, 511 f.). § 693. Unmittelbar nach dem Tode Kaiser Ludwigs II. (12. August 875) beriet sich Papst Johannes VIII. mit seinem Klerus und den römischen Großen, um Karls Wahl zum Kaiser zu betreiben. Dabei hatte er starken Widerstand zu überwinden, denn viele Römer hätten es vorgezogen, sich an Karls Stiefbruder Ludwig, den König der Ostfranken, anzuschließen. Es muß ihm jedoch gelungen sein, die Mehrheit für seinen Plan zu gewinnen. Jedenfalls forderte er Karl auf, nach Rom zu eilen und von seiner Hand die Kaiserkrone zu empfangen, wozu er sich des Beifalls von Klerus und Volk gewiß sein mußte. König Karl hatte sich derweilen in Ponthion mit seinen Großen beraten und brach sofort, zweifellos mit deren Zustimmung, nach Italien auf. In Pavia eingetroffen, mußte er allerdings feststellen, daß sich die Großen des langobardischen Königreichs nicht darüber einig waren, ob sie ihn oder seinen Stiefbruder zu ihrem Haupte erheben sollten. Er verzichtete darauf, sich von seinen Anhängern unter ihnen in schismatischer Wahl zum König erheben zu lassen, und begnügte sich mit der Huldigung derer, die er gewinnen konnte. Eilig reiste er weiter nach Rom, um auch dort dem Könige der Ostfranken zuvorzukommen. Papst Johannes war in der glücklichen Lage, die Uneinigkeit der Franken und ihrer Könige ausnutzen zu können, um sich zum Herrn der Kaiserwahl zu machen und seinen Status als von ihnen ernannter Koronator zu verdunkeln. Niemand fragte ihn nach der Vollmacht, die ihn zur Krönung berechtigte, und da Papst Leo III. im Jahre 800 seine Mandanten vor der Öffentlichkeit verschwiegen hatte, glaubte er wohl selbst daran, keiner anderen Vollmacht als seiner apostolischen Autorität zu bedürfen. Aber wenn dem so war, wenn folglich die Erhebung des Kaisers eine Angelegenheit der Kirche und des Kirchenrechts war: welche weltlichen Befugnis-
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se konnte dann wohl noch das kaiserliche Amt, das imperium Romanum, enthalten, das der Papst und die Römer zu vergeben hatten? Karl selbst hat später, als er seine Kaiserwürde in Pavia von den italienischen Großen und in Ponthion von den Franken bestätigen ließ, öffentlich bekannt, daß er die Kaiserkrone nichts anderem als der Wahl durch den Papst zu verdanken hatte (MGH. Capit. 2, 98 n. 220, hier: S. 99 Z. 16 – 20; 347 n. 279, hier: S. 348 Z. 17 – 20, 24 – 25). Damit aber nicht genug: Karl nahm es auch hin, daß Johannes ihm Bedingungen stellte, wie es einst Papst Leo gegenüber Karl dem Großen nicht hatte wagen dürfen, Bedingungen, die Karl erfüllen mußte, um von Johannes als geeignet anerkannt und gewählt zu werden. Er mußte also in einen Herrschaftsvertrag einwilligen, wie ihn nur das germanische Staatsrecht kannte, nicht jedoch das römischbyzantinische, nach dem vor fünfundsiebzig Jahren Papst Leo das Amt des Koronators versehen und Karl der Große die Kaiserwürde empfangen hatte. Johann nämlich hatte das Versprechen wieder ans Licht gezogen, das Karl der Große bei seinem ersten Besuch in der Stadt des Apostelfürsten im Jahre 774 abgelegt hatte, als er gelobte, die römische Kirche im Besitz ihrer irdischen Güter und Rechte schützen zu wollen. So mußte sein Enkel jetzt versprechen, fortan Defensor und Protektor der römischen Kirche zu sein, und zwar im Bezirke jener Grenzen, die zuerst von König Pippin vertraglich festgelegt worden waren und deren Garantie seither jeder Karolinger, der die Kaiserkrone getragen, gemäß urkundlicher Erneuerung des Vertrages fortgeführt hatte. Nachdem dies abgemacht war, empfing Karl am Weihnachtstage 875 in der Peterskirche, wo auch sein Großvater gekrönt worden war, vom Papste die Salbung und Krönung und vom römischen Volke die Akklamation oder Annehmung zum Kaiser der Römer. Betont stellten König und Papst den zweiten Karl an die Seite des ersten, hatten doch beide das Kaisertum nicht, wie die beiden Ludwige und Lothar, nach weltlichem fränkischem Rechte erlangt, sondern durch die Wahl des römischen Bischofs – eine Parallele, die die Kontrahenten für alle Unterschiede in den Rechtsgrundlagen beider Krönungen blind machte. Denn während die des Jahres 800 nach römisch-byzantinischem Kaiserrecht vor sich gegangen war, beruhte die jetzige auf christlich-kirchlichen und germanischen Rechtsvorstellungen, die im Begriffe waren, zu einem neuen Institut des germanisch geprägten Kirchenrechts zu verschmelzen. Germanisch war daran die herrschaftsvertragliche Definition des kaiserlichen Amtes und dessen inhaltliche Reduktion auf die Aufgaben eines Kirchenvogtes, kirchlich dagegen die theokratische Herleitung der päpstlichen Vollmacht zu krönen aus der politischen Theologie der lateinischen Kirche. Ihr verlieh Papst Johannes VIII. am 17. Februar 876 in zwei Schreiben an die Erzbischöfe und Bischöfe sowie an die Großen des Ostfränkischen Reiches (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 2 S. 397, 406) überschwenglichen Ausdruck: Gott selbst habe Karl erwählt, habe die Anschläge seiner Widersacher vereitelt und ihn nach Rom geleitet, damit er durch die Wahl des römischen Bischofs Salbung und Krönung empfinge, ja habe ihn vor Erschaffung der Welt dazu vorherbestimmt, der Kirche zum Heile des christlichen Volkes als Retter und Beschützer zu dienen.
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§ 694. Auf der Rückreise nach Norden versammelte Karl in Pavia noch einmal seine lombardischen Anhänger um sich. Abermals zeigte sich, daß er die Wahl und Annehmung zum Haupte des Regnum Italicum von ihnen nicht zu erlangen vermochte. Lediglich dazu waren sie bereit, da ja Karl aus göttlicher Gnade zum Kaisertum erhöht worden war, ihn ebenfalls zum Kaiser anzunehmen: Nos unanimiter vos protectorem dominum ac defensorem omnium nostrum eligimus . . . et omnia, quae nobiscum ad profectum totius sanctae dei ecclesiae nostrorumque omnium salutem decernitis et sancitis, . . . observare promittimus (MGH. Capit. 2, 98 n. 220: S. 99 Z. 20 – 24). Dazu versprachen die Anwesenden eidlich, jeder für seine Person, Karl als ihrem Senior treu, gehorsam und beiständig zu sein und nichts gegen seine Ehre und seinen, seines Reiches und der ihm anvertrauten Kirche Frieden zu unternehmen, wogegen Karl ihnen gelobte, jeden einzelnen von ihnen zu ehren, ihnen ihre Befugnisse und den Genuß ihres Volksrechtes zu gewähren und ihnen gnädig zu sein, sicut fidelis rex suos fideles per rectum honorare et salvare . . . debet (ebd. S. 100). Die beiden Eide zeigen, daß die Versammelten Karls Wahl, wie es in Rom geschehen war, vom Abschluß eines Herrschaftsvertrages nach germanischem Recht abhängig machten; annehmen aber taten sie ihn lediglich zum Vogte ihrer Kirchen und Beförderer ihres Seelenheils, und auch das nur, sofern er seine Gebote mit ihrem Willen ergehen ließ. Die Worte protector und defensor entnahmen sie zweifellos dem Versprechen, das Karl soeben in Rom abgelegt hatte; den Ausdruck dominus, auf den sich der Papst nicht hatte einlassen können, fügten sie hinzu, weil nach germanischer Rechtsauffassung der Vogt auch das Königsrecht haben mußte, die Beschützten zu ihrer eigenen Verteidigung aufzubieten. Noch deutlicher, als es dem Papste als Worthalter der Römer lieb sein konnte, reduzierten sie damit das Kaisertum auf eine bloße weltliche Kirchenvogtei. Konflikten derselben mit der königlichen Kirchherrschaft glaubten sie gewiß mit dem Vorbehalt ihres Konsenses zu den Entscheidungen des Vogtes vorgebeugt zu haben. Trotz seiner volksstaatsrechtlichen Fragwürdigkeit gefiel Karl das in Pavia erzielte Ergebnis so gut, daß er danach die kaiserliche Würde auch in seinem, dem westfränkischen, Königreich anerkannt sehen wollte. Zwar ist es gefährlich, aus dem Schweigen der Quellen Schlüsse zu ziehen, doch scheint er dazu die Reichsversammlung nicht haben bewegen zu können. Der Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, daß für das Kaisertum als überirdisches, kirchenrechtlich definiertes Amt in der weltlichen, vom fränkischen Volksrecht definierten Reichsverfassung kein Platz war. Denn soweit wir wissen, brachte Karl sein Anliegen nicht bei der Reichsversammlung an, sondern bei der Kirchenversammlung oder Synode seines Königreiches, die er sowohl mit apostolischer Autorität, nämlich mit dem Rate zweier anwesender päpstlicher Legaten, als auch unter seinem eigenen königlichen Banne für Mitte Juni nach Ponthion einberief (Ann. Bert. a. 876 S. 128 Z. 15 – 17), wie er ihr denn auch in Anwesenheit der päpstlichen Vikare vorsaß. An einer Stelle sagen die Akten sogar, die Synode habe sich auf Einladung Papst Johanns und Befehl König Karls hin versammelt (MGH. Capit. 2, 347 n. 279: S. 350 Z. 11 – 12,
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351 Z. 4 – 5). Um eine Reichsversammlung kann es sich demnach nicht gehandelt haben, obwohl ihre Teilnehmer gewiß alle auch eine solche zu besuchen berechtigt waren. Diese Synode nahm den Beschluß der Versammlung zu Pavia zur Kenntnis, um ihn sich zu eigen zu machen: Wie zuerst Papst Johannes Karl in Rom erwählt und durch Salbung bestallt (unctione constituit) und danach Karls italienische Anhänger ihn sich zum Beschützer und Verteidiger erwählt hätten, ita et nos . . . pari consensu ac concordi devotione eligimus et confirmamus (ebd. S. 348 Z. 24 – 31). Wie die italienische Versammlung, so beschränkte also die westfränkische Synode Karls Kaisertum auf eine Kirchenvogtei, von der nicht ersichtlich ist, daß sie den Rechten und Pflichten, die Karl bereits als König gegenüber den Reichskirchen zustanden und oblagen, irgendetwas hätte hinzufügen können. Reichsregierung und Reichsversammlung, ohne deren Einwilligung Karl die Kaiserwürde nicht hätte annehmen dürfen, brauchten daher zu dem Synodalbeschluß nicht weiter Stellung zu nehmen. Sie werden darin nicht mehr als ein kirchliches Rechtsgutachten (oben: § 636) erblickt haben, welches ihnen bestätigte, daß das fränkische Staatskirchenrecht weder göttlichem noch kanonischem Rechte widerspreche. § 695a. So ist es also trotz der Germanisierung sowohl der Forman, in denen sich jetzt die Erhebung des Kaisers in Rom vollzog, als auch der Rechte, die jetzt das Romanum Imperium (ebd. S. 351 Z. 13 – 14) ausmachten, nicht zur Rezeption des Kaisertums durch das fränkische Reichs- und Volksrecht gekommen. In der nüchternen Gedankenwelt der Schöffen und Fürsten, die dieses Recht bewahrten und entfalteten, blieb das Kaisertum angesichts der althergebrachten königlichen Kirchherrschaft vollkommen inhaltsleer; warum hätten sie sich daher mit der Herkunft des päpstlichen Krönungsrechts, mit der Geltung der römischen volklichen Akklamation oder mit der Definition der kaiserlichen Würde befassen sollen? König Karl II. hatte den Franken mit seinem Unternehmen keine Mehrung ihrer gemeinen und öffentlichen Rechte und Pflichten gebracht, sondern lediglich ein hehres, weil ihr Prestige als Reichsvolk erhöhendes und daher unendlich verführerisches politisches Ziel gesetzt. Nicht anders erging es den Ostfranken, als ihre Könige Karl im Jahre 881 und Arnulf 896 vom Papste und von den Römern die Kaiserkrönung empfingen. Und dabei ist es auch später geblieben, als und nachdem der nunmehr sächsische König des Ostfränkischen Reiches Otto I. die römische Kirche erneut in die Reichskirche einbezogen und im Jahre 962 von Papst Johannes XII. Salbung und Kaiserkrönung, von den Römern die Akklamation und schließlich von beiden den Treueid empfangen hatte, bevor er seinerseits die karolingischen Verpflichtungen gegenüber der römischen Kirche als ihr und ihrer weltlichen Herrschaft Beschützer übernahm. Der Abstand allerdings zwischen den Rechtsauffassungen des ungebildeten Volkes und denen, welche gelehrte Berater nun für Könige und Päpste ersannen, der Abstand, welcher das Kaiser- und Kirchenrecht vom Volksrecht trennte, trat jetzt, infolge eines stetigen Aufschwungs des kirchlichen Schulwesens, stärker hervor als in früherer Zeit.
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Zwar trat im 11. Jahrhundert jener grundstürzende Wandel in der Frömmigkeit und den Kultformen ein, der die Politik der Kirchenreformer ihre durchschlagende Kraft verdankte und der uns sichtbar in den Werken der Maler und Bildhauer begegnet, denn diese hörten jetzt auf, den gekreuzigten Gottessohn als Christus, den auferstandenen und segenspendenden Herrn der Gläubigen, in der byzantinischen Hoheit des göttlichen Logos und im Königspurpur seines für sie vergossenen Blutes darzustellen; statt dessen zeigten sie jetzt die Menschheit Jesu und die Leiden, die er hatte ertragen müssen und die ihn dem ständig von natürlichen und anthropogenen Katastrophen heimgesuchten Volke näher brachten denn je. Erst jetzt begannen die Neufreien so recht in der alten Adelskirche heimisch zu werden und ebenso sehr die frommen Werke der Seelgeräte, der Armenpflege und Wallfahrt wie die Ketzerei in den Städten und auf dem Lande zu verbreiten. Aber dieser Wandel ist an den Rechtsanschauungen der Völker und namentlich an der Reichsverfassung spurlos vorübergegangen (oben: §§ 435, 547 – 549), wenn er auch den Konflikten zwischen ihnen und dem Rechtsdenken der Kirche und der Gelehrten eine zuvor unbekannte Schärfe verlieh. Denn weit mehr als das karolingische hatte das Kaisertum Ottos des Großen Hoftheologen und Geschichtsschreiber vor die Frage gestellt, was es mit dem erneuerten Imperium Romanum auf sich habe. Die Antwort darauf ließ sich auffinden mit Hilfe einer religiösen Deutung der Weltgeschichte, die bereits von den Schriftstellern der alten Kirche entwickelt worden war. Sie hatte die Ansicht, daß Gott die Weltherrschaft nach seiner Gerechtigkeit von einem der Sünde verfallenden Reichsvolk auf ein noch tugendhaftes zu übertragen pflege, verknüpft mit der Abfolge der vier Weltreiche, von denen der Prophet Daniel spricht und von denen man das römische für das letzte vor dem gottgewollten Weltende hielt (H. Thomas in LMA 8 Sp. 944 – 946). Daraus ergab sich einerseits eine weltliche und andererseits eine kirchliche Translationstheorie. Nach jener hatte das römische Volk durch seine Wahl das Imperium Romanum zuerst auf Karl den Großen und die Franken, dann aber auf deren Nachfahren, als Otto den Großen und die Deutschen, übertragen. Jedoch erst im 12. Jahrhundert finden sich Hinweise darauf, daß auch die Reichsregierung die kaiserliche Würde mit dem deutschen Königtum und der deutschen Königswahl verknüpfte und beider Wurzeln in eins setzte. Nachdem König Konrad III. seit 1139 den Titel Kaiser der Römer angenommen hatte, ohne vom Papste gekrönt worden zu sein, kam seit 1157 in der Sprache der Reichskanzlei der Begriff Sacrum imperium auf, woraus sich später die seit 1474 nachweisbare Bezeichnung Sacrum Romanum imperium nationis Germanicae entwickelte (Gebhardt, Handb. 1970 S. 378, 391 f. H. Appelt 1990 S. 97 f., 108 f. C. Brühl 1995 S. 259 f.). Und schon seit 1139 (U. Schmidt 1987 S. 92 – 108) scheinen die Fürsten des Reiches zur Kenntnis genommen zu haben, daß ihr König mehr war als bloß ein Oberhaupt der Deutschen, daß er über die Grenzen des Reiches, dessen König er war, hinaus eine weltliche Staatsgewalt ausübte, für die sie 1198 einmal – und nur ein einziges Mal – die nie vorher und nachher nie wieder verwandte Vokabel imperatura prägten (H. Mitteis 1944 S. 120 – 132, 221).
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Nach Ansicht der Kirche und ihrer Gelehrten dagegen wäre es der apostolische Stuhl gewesen, der, weil ihm einst Kaiser Konstantin das westliche Imperium überlassen habe, dazu befugt war, das Imperium auf die Könige der Franken und Deutschen zu übertragen. Wesentlich auf diese in das neue römisch-kanonische Recht übernommene Lehre stützten die Päpste seit Innozenz III. ihren überschwenglichen theokratischen Anspruch auf Approbation der Person und der Wahl des von den Deutschen erhobenen Römischen Königs und auf das Recht, beim Fehlen eines approbierten Königs als Vikare über das Reich verfügen zu können (H. E. Feine 1955 S. 265 – 269. Gebhard, Handb. 1970 S. 432, 500, 550). § 695b. Von all diesen, den Machtkampf zwischen den Kaisern aus salischem und staufischem Hause und der römischen Kurie begleitenden, Erörterungen, in denen der Rechtsgrund für die Vollmacht des päpstlichen Koronators einen zentralen Streitgegenstand ausmachte, blieb das ungebildete, mit der Kenntnis des Lat. auch des Sachverstandes entbehrende Volk (oben: §§ 527, 597a) völlig unberührt. Es verstand sie nicht, und es brauchte sie nicht zu verstehen. Was es von dem juristischen und politischen Streit hielt, der den Krieg zwischen den Mächtigen begleitete, das zeigt eine Geschichte, die uns der englische Chronist Matthaeus Paris überliefert. Sie trug sich zu der Zeit zu, als Papst Innozenz IV. (am 17. Juli 1245) den seit sechs Jahren aus der kirchlichen Gemeinschaft verstoßenen Kaiser Friedrich II. vor dem Konzil von Lyon für abgesetzt erklärte und die deutschen Fürsten aufforderte, einen anderen Herrscher zu wählen, als der Papst also in Aufsehen erregender Weise in das Recht des Volkes eingreifen wollte, durch seine Großen seinen König nach eigenem Ermessen zu erheben und zu verlassen. Als der Befehl, die Exkommunikation des Kaisers in ganz Frankreich zu publizieren, „an einen Priester in Paris durch seine Vorgesetzten kam, da schmerzte es diesen, daß er den Kaiser verfluchen mußte, den er, ich weiß nicht warum, ebenso liebte, wie er die römische Kurie haßte, die er einst kennengelernt hatte. So sagte er seiner ganzen Pfarrgemeinde in aller Öffentlichkeit an einem volkreichen Feiertage: ,Höret ihr alle! Ich habe den Befehl erhalten, bei brennenden Kerzen und klingenden Glocken das feierliche Urteil der Exkommunikation gegen Kaiser Friedrich zu verkünden. Ich kenne zwar den Grund nicht, sehr wohl aber den schweren Streit und unerbittlichen Haß, der sich zwischen ihnen erregt hat. Auch weiß ich, daß einer von beiden dem anderen Unrecht tut, aber wer es ist, das weiß ich nicht. Aber den exkommuniziere ich, soweit meine Amtsgewalt reicht, und mache ihn als Ausgeschlossenen bekannt, einen von beiden, nämlich den, der dem anderen Unrecht tut, und ich absolviere den, der jenes Unrecht erleidet, das der ganzen Christenheit so schädlich ist.‘ Obwohl das ein leichtsinniges und nach Art der Franzosen scherzhaft vorgebrachtes Wort war, wurde es doch von vielen weitergesagt und des langen und breiten erörtert“ (Matth. Par. zu 1245, S. 406 f.). Ebenso müssen die Kölner Bürger von der Gemeinde Klein St. Martin gedacht haben, die damals auf Weisung der Stadtoberen ihren Pfarrer daran hinderten, den Bann gegen den Kaiser in der Pfarrkirche bekanntzumachen (H. Stehkämper 1995
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S. 383. M. Groten 1995 S. 117). Die in der Hand der italienischen Kanonisten zum Gesetz geronnene, überschwengliche Folgerungen aus dem usurpierten Krönungsrecht ziehende politische Theologie der römischen Kurie vermochte gegenüber der Rechtsüberzeugung des Volkes ebenso wenig auszurichten wie die von den Legisten mit Sätzen des römisch-byzantinischen Kaiserrechts untermauerte, ebenso überschwengliche Staatslehre des staufischen Weltkaisertums (oben: §§ 254, 256). Weniger denn je hatten die Deutschen nach dem Sturze dieses Kaisertums Anlaß, ihre althergebrachte Auffassung vom kaiserlichen Amte zu ändern. Als es im Jahre 1252 einer Nachwahl des vor fünf Jahren erhobenen Königs Wilhelm durch die sächsischen Fürsten bedurfte (unten: § 727), stellten die in Braunschweig versammelten Fürsten, wie der dabei anwesende Kardinallegat Hugo von Ostia berichtet, folgendes fest: Rex autem Romanorum ex quo electus est in concordia, eandem potestatem habet quam et imperator nec dat ei inunctio imperialis nisi nomen, sicut vidi in Alemania per principes iudicari (H. Mitteis 1944 S. 187, 191 A. 629). Es war demnach Reichsrecht, daß Wilhelm vom Tage seiner einhelligen, die Abwesenden zur Folge verpflichtenden (unten: § 720a) Kur an von Rechts wegen alle weltlichen Rechte eines Königs und Kaisers ausübte, die man im Jahre 1198 einmal in dem Begriff imperatura zusammengefaßt hatte, und daß dem die päpstliche Weihe lediglich noch „die spirituell-geistige Stellung des defensor ecclesiae“ hinzufügte (ebd. S. 190), wie es seit jeher die volksrechtliche Auffassung der Franken und Deutschen gewesen war. Aus apostolischer Autorität konnte der Papst eben keinerlei weltliche Rechte vergeben. Es war keine erst neuerdings geschmiedete antikuriale Spitze, sondern altes Herkommen, daß „ein deutscher Reichstag das Weltkaisertum wirklich nur noch als ,Schall und Rauch‘ empfand“, und darin war sehr wohl „eine Abkehr von den stolzesten Traditionen der deutschen Geschichte“ (ebd. S. 191) enthalten, aber diese betraf lediglich eine dreihundertjährige politische Zielsetzung (oben: §§ 383, 384, 386), nicht jedoch das fränkisch-deutsche Volks- und Verfassungsrecht. Denn das Volk hatte von dem Kaisertum, mit dem sich seine Könige schmückten, in seinem Rechtsdenken noch niemals Notiz genommen. Es kannte ebenso wenig eine Amtspflicht seines Königs, die im Jahre 962 erstmals erlangte Kaiserkrönung anzustreben, wie eine Pflicht, die zuerst 952 und 1033 gewonnenen Kronen der Königreiche Italien und Burgund zu erwerben. Wie hätte es auch eine solche Pflicht festsetzen können, da ja nach Volksrecht die Kronen den Völkern gehörten, die sie nach ihrer Wahl zu vergeben hatten? „Tatsächlich hat es von 962 – 1443 insgesamt 266 Jahre lang keinen Kaiser gegeben“ (H.-W. Goetz in LMA 5 Sp. 852). Nach den drei Kronen zu streben, war dem ostfränkisch-deutschen Reichsvolke nicht von Rechts wegen, sondern lediglich aus politischer Klugheit geboten. Drei Jahrhunderte lang stellte dieses Streben ein hohes, in der Staatsräson des Reiches begründetes Ziel dar, und nach Ablauf seiner Zeit konnten Könige, Fürsten und Volk von ihm ablassen, ohne daß es dazu einer Verfassungsänderung bedurfte oder daß der Verzicht eine solche hervorgerufen hätte (oben: §§ 677, 680). Das deutsche Recht setzte dazu nicht mehr fest, als daß das Volk seinem
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Könige zum Beistand verpflichtet war, wenn die Reichsregierung es für notwendig hielt, den Herrscher nach Rom zu entsenden, damit er dort die Kaiserwürde erlangte (H. Mitteis 1933 S. 597).
§§ 696 – 701. Weihe und Wahl: Nachahmung und Verdunklung § 696. Da der König keine höhere Instanz über sich hatte, konnte er seine Vollmacht nur von denen empfangen, die ihn über sich erhoben und sich damit zu seinen Untertanen machten. Denn seine Erhebung war sofort rechtswirksam: Von diesem Tage an und unabhängig von der noch ausstehenden Weihe führte er die Regierungsgeschäfte, und noch zu Beginn des 10. Jahrhunderts konnte er der Salbung und Weihe auch gänzlich entraten (F. Kern 1914 S. 98. Unten: §§ 749 – 751). Überhaupt war unklar, was die Salbung bewirkte, außer daß sie dem Könige den Geist Gottes einflößte. Erst die westfränkischen Thronwirren des mittleren und späteren 9. Jahrhunderts haben das Nachdenken darüber wieder in Gang gesetzt. Auf einer Synode verkündete König Karl II. der Kahle im Jahre 859 „eine staatsrechtliche Salbungstheorie, wonach der Empfang der Weihe einen angefochtenen Thronbesitz sichert und alle gegnerischen Ansprüche niederschlägt; sie macht ein zweifelhaftes Thronrecht vollkommen . . . Wer nach kirchlichem Herkommen zum König geweiht, gesalbt und auf den Thron erhoben sei, könne durch niemandes Eingreifen mehr der Weihe und des Thrones verlustig gehen, wenigstens nicht ohne rechtsförmliches Urteil der Bischöfe, durch deren Amtsfunktion die Weihe stattgefunden habe, welche als ,Thron Gottes‘ göttliche Urteile verkündigten und deren väterlichen Rügen und Zuchturteilen auch der König sich unterwerfe“ (MGH. Capit. 2, 450 n. 300 c. 3 = Concil. 3, 464 n. 47B c. III. F. Kern 1914 S. 93, 231, 306. K. Jordan 1980 S. 41). Danach lag es nicht mehr allzu fern, die Herrscherweihe zu einem kirchlichen Sakrament zu steigern, dessen Empfang den König in gewisser Weise den Bischöfen und Priestern gleichstellte, wenn seine geistliche Vollmacht auch nie soweit gereicht hat, daß er, der den Bischöfen die Regierung ihrer Kirchen übertrug (oben: § 429), fähig gewesen wäre, ihnen auch ihre sakramentalen Vollmachten zu verleihen (P. E. Schramm 1960 Bd. 1 S. 63. C. Brühl 1962 S. 305 f. R. Benson 1968 S. 206). Erst die überschwenglichen Folgerungen, die die Kaiser Heinrich II. (oben: § 433) und III. und im Investiturstreit die Parteigänger des Königtums aus der Königsweihe zogen (F. Kern 1914 S. 85 – 88), führten dazu, daß die Kirchenreformer und Kanonisten, die im 12. Jahrhundert die Siebenzahl der Sakramente festsetzten, die Königsweihe daraus ausschieden, um sie nur noch als Sakramentalie gelten zu lassen. Dem staunenden Volke, das sich erzählte, bei König Chlodwigs Taufe habe eine Taube die Ampulle mit dem Salböl vom Himmel herab in die Krönungskirche zu Reims getragen (M. Bloch 1924 / 1961 S. 225 – 227), blieben diese gelehrten Spe-
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kulationen jedoch völlig fremd (ebd. S. 72). Niemals war es dazu bereit, den politischen Preis zu entrichten, den die Bischöfe dafür verlangten, daß sie den König durch die Salbung über alle Welt erhöhten und sich selber gleichstellten: die Unterordnung nämlich des Königs unter das Gericht derer, die die Salbung spendeten, wie Karl II. schon 859 anzuerkennen bereit war, und die Beteiligung des Papstes an der Königswahl, die Johannes VIII. bereits im Jahre 879 deswegen forderte, weil der Erwählte Anspruch darauf habe, von ihm zum Kaiser gekrönt zu werden (F. Kern 1914 S. 71 f. mit A. 124. M. Bloch 1924 / 1961 S. 71). Und niemals nahm es davon Notiz, daß es den Bischöfen zufolge zwar weiterhin berechtigt sei, den König zu kiesen, nicht aber auch dazu, ihn wieder abzusetzen, sobald er die Weihe empfangen hatte. Denn selbst im 11. und 12. Jahrhundert, als es keine ungeweihten regierenden Könige mehr gab, kam nie ein Fürst zur Regierung, ohne daß der Weihe seine Wahl durch das Volk vorausgegangen wäre: „Hier zeigte sich das alte germanische Staatsrecht gegenüber dem Vordringen der kirchlichen Weihe und Investitur unangreifbar“ (F. Kern 1914 S. 95, 99). § 697. Wie im Jahre 751, als die Franken zum ersten Male die Ergänzung der nach ihrer Rechtsgewohnheit erfolgten Königserhebung durch die geistliche Salbung oder Herrscherweihe zugelassen hatten, so dürfte seither regelmäßig die geistliche Zeremonie dem weltlichen Staatsakt sachlich und zeitlich nachgefolgt sein (oben: §§ 688, 689), bestand doch ihr Zweck darin, dem Volke, das den König erkor und ermächtigte, den verborgenen geistlichen Sinn seines Tuns zu offenbaren (Wipo, Gesta Ch. c. III). Wenn heutzutage an diesem Sachverhalt immer wieder Zweifel aufkommen, so liegt das vor allem daran, daß das geistliche Zeremoniell bereits seit der Mitte des 9. Jahrhunderts in sogenannten Ordines schriftlich festgehalten worden und daher dem Historiker gut bekannt ist, während die weltliche Erhebung in den Quellen wegen ihrer Selbstverständlichkeit selten einmal erwähnt und kaum jemals beschrieben worden ist. Der Klerus, der die schriftliche Überlieferung des frühen und hohen Mittelalters fast allein erzeugt hat, richtete sein Augenmerk nicht gerne (ebd. c. V S. 26 Z. 4 – 11) auf das allgemein Bekannte und leicht zu Verstehende, sondern mehr auf das neu zu Schaffende und zudem wegen seines mystischen Zwecks von Hause aus Unverständliche und Formlose, und allein seine Aufgabe war es, dessen Formen zu bestimmen. Ihrem Wesen nach gehören die Krönungsordines dem germanisierten Kirchenrecht des hohen Mittelalters (oben: § 685) an. Sie erhöhten das volkliche zum göttlichen oder theokratischen Amtskönigtum, indem sie aus der einhelligen Willensäußerung des Volkes die Stimme Gottes machten (oben: §§ 683, 686, 687). Als älteste Krönungsordines des Fränkischen Reiches gelten zwei vermutlich auf Erzbischof Hinkmar von Reims zurückgehende Texte, von denen einer anläßlich der Erhebung Karls zum König von Lothringen im Jahre 869 und der andere anläßlich der Erhebung Ludwigs des Stammlers zum König der Westfranken 877 entstanden ist (MGH. Capit. 2, 456 n. 302, 461 n. 304), nachdem Hinkmar schon
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856 und 866 (Trau- und) Krönungsordines für weibliche Angehörige König Karls (ebd. 425 n. 296, 453 n. 301) verfaßt hatte. Der von hier ausgehenden Tradition gehört der im Westfränkischen Reich um 910 entstandene sogenannte ErdmannOrdo (Ordo) an, unter dessen Einfluß wiederum die von da an erhalten gebliebenen Ordines des Ostfränkisch-deutschen Reiches verfaßt worden sind (H. H. Anton in LMA 6 Sp. 1439 f.). Der sogenannte Erdmann-Ordo beginnt mit der Nachbildung des Herrschaftsvertrages (oben: §§ 658, 660): Die Liturgen baten den König, er möge ihnen und ihren bischöflichen Kirchen das kanonische Privileg und hergebrachte Gesetz bewahren und sie so beschützen, wie es (jeder) König in seinem Reiche jedem Bischof und jeder Kirche von Rechts wegen tun müsse, und der König antwortete darauf mit einem gleichlautenden, die Bitte also von Wort zu Wort erfüllenden Versprechen, das als sein Amtseid anzusehen ist (zur Vergleichsklausel siehe oben: § 670). Mit dem königlichen Schwur auf Herrschaftsvertrag und Amtspflicht war die Voraussetzung dafür gegeben, daß nun die Annehmung des Königs durch das Volk nachgeahmt werden konnte, in der die königliche Ermächtigung enthalten war. So forderten nun die Liturgen das in der Kirche versammelte Volk, populum in ecclesia, dazu auf, seinen Willen zu bekunden: inquirentes eorum voluntatem, und falls alle einträchtig und eines Willens waren, dies zu bezeugen, indem sie in das Te Deum einstimmten: et si concordes fuerint, agant Deo gratias, decantantes Te Deum laudamus. Die mit der Eignungsprüfung des (oder der) Kandidaten verbundene Willensbildung der Wähler, die mit dem Kurruf endete und der Vereidigung des Erkorenen vorausgehen mußte, wagte oder brauchte die Kirchenversammlung nicht zu wiederholen, da es ihr lediglich auf die Einhelligkeit ankam, die ihr die Anwesenheit des Heiligen Geistes in ihrer Mitte verbürgte. Daß sich diese Eintracht einstellen und nicht etwa in der Kirche Widerspruch laut werden würde, darauf konnten sie bauen: Solcher Widerspruch hätte bereits in der weltlichen Wahlversammlung erhoben werden müssen, denn deren Aufgabe und nicht erst die der Synode war es, den einmütigen Willen aller einzelnen über die geeignete Person und den Herrschaftsvertrag herzustellen. Dies alles bildete aber nur die kurz und knapp gehaltene Einleitung zu dem, worauf es den Liturgen ankam, nämlich zur Einfügung der Königswahl in den göttlichen Heilsplan, den der Welt zu verkünden die eigentliche Aufgabe der Reichskirche war. Wiewohl nämlich der Welt bereits durch Jesus Christus geoffenbart, blieb dieser Plan doch der gegenwärtigen Weltzeit noch verborgen als Geheimnis, griechisch mysterium, lat. sacramentum, des christlichen Glaubens, das allerdings bereits, bevor es am Ende der Zeiten enthüllt werden würde, Erscheinungen bewirkte, um sich den Menschen zugänglich zu erhalten. Dies waren vor allem die von den Liturgen im Gottesdienst verrichteten heiligen Handlungen. Um die künftige Regierung des weltlich erkorenen und ermächtigten Herrschers als Glied des göttlichen Heilsplanes aufscheinen zu lassen, hatte daher der Liturg auf dem Altar als sichtbare Zeichen des königlichen Amtes Fingerring, Schwert,
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Krone, Szepter und Stab bereitgelegt, und nachdem er dem Könige die Salbung erteilt hatte, bekleidete er ihn mit diesen Zeichen, indem er sie vom Altar auf seine Person übertrug. Jede dieser sichtbaren Handlungen begleitete er mit für alle hörbaren, aber an Gott gerichteten Gebeten und Segenssprüchen, durch die er den Adressaten dazu zu bewegen hoffte, dem Gesalbten den Geist göttlicher Weisheit und Selbstzucht sowie die von den Zeichen dargestellten Herrschertugenden als Richtmaß des Regierens einzuflößen. Der Wortlaut dieser Benediktionen und Gebete machte nach Umfang und Sinn den eigentlichen Gegenstand des Ordo aus. § 698. Wie übermächtig der Umfang dieses Textteils und der dunkle, in ihm beschlossene Sinn des Ordo noch heute den an die Quellen gebundenen Historiker in ihren Bann schlagen, ist deutlich dem Urteil des Gelehrten zu entnehmen, der die herrschende Lehre über diesen Gegenstand begründet hat: Percy Ernst Schramm (1894 – 1970). Zwar unterschied auch er grundsätzlich zwischen weltlicher Erhebung und geistlicher Weihe des Königs: „Ganz anders als die Entwicklung der kirchlichen Handlung war das Schicksal der der Krönung vorausgehenden Akte, also der ,Wahl‘ und der Eide, sowie der weiteren Handlungen, die bestimmt waren, die Herrschaft des neuen Königs rechtlich zu stützen“ (P. E. Schramm 1960 Bd. 1 S. 62), aber bereits die Anführungsstriche, mit denen Schramm die Wahl auszeichnete, deuten an, was er von ihr hielt: In dem Zeitraum mehrerer Jahrhunderte, der von der Erhebung König Karls II. in Westfranken bis zum Erlöschen des Wahlrechts in Frankreich reicht, kennt Schramm nur eine einzige wirkliche, keinem Hintersinn ausgesetzte und folglich keiner Anführungszeichen bedürftige Wahl, nämlich die des Grafen Odo im Jahre 888 (ebd. S. 68). Alle anderen, auch die in den Quellen bezeugten, Wahlen erschienen ihm als unwirkliche, scheinbare Veranstaltungen. So sagt er zum Jahre 848: „Die Unsicherheit der Rechtslage führt hier also zu einem Wiedererstarken des alten Wahlprinzips, das zwar nie ganz verschwunden, aber praktisch doch durch die beiden voraufgehenden Generationen in den Hintergrund gedrängt worden war. Dabei sind . . . die Teilnehmer nun deutlich in solche geschieden, die ,wählen‘, und solche, die nur ihren ,consensus‘, d. h. ihre Vollbort erteilen . . .. Daß die hohe Geistlichkeit zu den ,Wählern‘ rechnet, verdient besonders hervorgehoben zu werden“ (ebd. S. 16). Seit 869 hätte sodann die Wahl „die Formen einer Synodalverhandlung mit Leiter, Rednern und geregeltem Geschäftsgang angenommen“, offenbar weil es „für eine Herrscherwahl keine festen Formen mehr gab, weil das Herkommen für längere Zeit in den Schatten gedrängt worden war“ (ebd. S. 27, 28). Für diese Verdrängung waren jedoch nicht bestimmte Interessenten verantwortlich, sondern „die Auflösung des alten Untertanenverbandes . . . Die Prinzipien des Lehnswesens beginnen die staatlichen Formen zu durchsetzen, ja zu ersetzen“ (ebd. S. 39). Gegen diese Prinzipien verschlägt es auch nichts, daß sich König Ludwig der Stammler im Jahre 877 in seinem vor der Synode abgegebenen Amtspflichtversprechen „durch Gottes Barmherzigkeit und Wahl des Volkes König“ nennt, mise-
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ricordia domini Dei nostri et electione populi rex (MGH. Capit. 2, 363 n. 283, hier: S. 364 Z. 19): „König nicht nur wie bisher von Gottes Gnaden, sondern auch durch die Wahl des Volkes! Das ist um so auffallender, als gar keine Wahlhandlung stattgefunden hatte. Die Tatsache, daß einige Große sich für Ludwig erklärten und das Volk ihn hinnahm, wird als ,Wahl‘ stilisiert, um für die brüchige Königsgewalt eine neue Stütze zu finden“ (ebd. S. 55 f.). So wenig konnte sich Schramm einen Staatsaufbau von unten her vorstellen, daß er selbst eine ausdrücklich bezeugte Wahl zwar nicht unter Fälschungsverdacht stellte (oben: §§ 511 – 515), aber doch für derjenigen Aufmerksamkeit unwürdig erachtete, die notwendig ist, um die vermeintliche Stilisierung zu durchschauen (G. Tellenbach 1979 S. 220). Quod non est in actis non est in mundo – obwohl doch der Grund, aus dem uns die Quellen so wenig über die weltliche Wahl und so viel über die geistliche Weihe berichten, leicht zu erkennen ist. § 699. Als König Karl II. im Jahre 866 von der Synode des Westfränkischen Reiches verlangte, sie solle seine Gattin zur Königin weihen und salben, gab der Liturg gegenüber den versammelten Bischöfen und Priestern als Grund für die königliche Bitte bekannt: Weil Gott dieses Regnum zu Handen seiner Vorgänger, antecessores, vereinigt habe, hätten sie einander nachfolgend und somit ihre leiblichen Nachkommen es bis heute regiert, ipsi decessores . . . et per successiones sua progenies usque ad haec tempora rexit; so habe Gott auch Karl Söhne geschenkt, in deren Tugenden seine Getreuen alle Hoffnung gesetzt hätten, doch habe er zugelassen, daß sie von ihm abfielen, wie die Getreuen schmerzlich empfänden. Daher erbitte Karl nun die bischöfliche Segnung seiner Gemahlin, damit ihm Gott durch sie derartige Nachkommen, sobolem, schenke, daß davon der Kirche Trost, dem Reiche Schutz, seinen Getreuen Beistand und der Christenheit Friede und Recht erwüchsen (MGH. Capit. 2, 453 n. 301: S. 453 Z. 31 bis 454 Z. 7 = Concil. 4, 223 n. 23F: S. 223 Z. 12 – 26). Zu dem Ordo für die Krönung der Königin, die im 10. bis 12. Jahrhundert von der Weihe des Königs getrennt stattfand, gehörte daher regelmäßig ein Gebet um eine regierungsfähige Leibesfrucht der zur Königin erwählten Frau ad decorem totius regni statumque sanctae Dei ecclesiae regendum, da sie bereits durch die Ehe mit dem König das regni sui consortium erlangt hatte oder, wie es zuerst 962 heißt, zur regni consors aufgestiegen war (A. Fößel 2000 S. 46 – 48). Es ist fraglich (ebd. S. 66), ob diesem Titel eine über den Rang der Mutter künftiger Könige hinausgehende Bedeutung zukam, etwa als Name für eine amtliche Stellung der Königin, deren Inhalt freilich die Gewohnheit nicht näher bestimmt hätte: Mit Sicherheit ergibt sich etwas anderes auch nicht aus der Rolle, die die Königin als Witwe während des Interregnums spielen konnte (unten: §§ 731 – 733). Bemerkenswerterweise haben die Bischöfe es vermieden, die Nachfolger und leiblichen Nachkommen des Königs als seine Erben zu bezeichnen. Denn seit Papst Zacharias im Jahre 751 den Franken geraten und es für nach der Weltordnung zulässig erklärt hatte, statt des leiblichen, aber untauglichen Nachkommen
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eines Königs einen tauglichen Mann anderer Abstammung zum Nachfolger zu erheben (oben: § 686), stand fest, daß die Wähler im Interesse der Kirchen weniger auf die Abstammung als auf die Idoneität des Nachfolgers zu achten hatten und daß es nicht zu den Aufgaben der mit den Laien wählenden Bischöfe gehörte, das Recht der Abstammung zu verteidigen (F. Kern 1914 S. 55 – 58), das erst in der Neuzeit den Namen Geblüts- oder Erbrecht erhielt und zum Rechtsgrunde der Legitimität absolutistischer monarchischer Herrschaft erhoben worden ist (nicht einmal das Substantiv Geblüt, im Sinne von Blutsverwandtschaft, ist vorher belegt: J. und W. Grimm, Wb. 4 Sp. 1799, RWB 3 Sp. 1250). Schon das Konzil zu Paris vom Jahre 829 hat das auf die Geburt begründete Nachfolgerecht ausdrücklich als unerheblich und das Königtum als Amt und Pflicht, nicht jedoch als Erbe und Besitz bezeichnet (F. Kern 1914 S. 63 A. 110). Denn auch der gesalbte Könige hörte vor Gott auf, zum Herrscher zu taugen, wenn er das Recht und den Amtseid brach und sich dadurch zum Tyrannen stempelte; er entthronte sich damit selbst, noch bevor das Volk ihm die Treue aufsagte und ihn verließ (ebd. S. 218 f.). So betete denn auch der Liturg im Jahre 869 zu Gott, er möge König Karl den Geist seiner Weisheit verleihen, damit er ihm von ganzem Herzen ergeben et in regni regimine maneat semper idoneus (MGH. Capit. 2, 456 n. 302 Z. 12, auch 461 n. 304 Z. 10). Weil die Eignung der Abstammung vorging, weil sie nur eines, und nicht einmal das erste, unter vielen Merkmalen der Eignung eines Mannes für das Königsamt war, rechnete König Otto I. im Jahre 936 mit einer doppelten Regelung seiner Nachfolge, je nachdem, ob aliquis generationis nostrae den Thron besteige oder alter e populo eligatur rex (MGH. DO. I. 1 S. 90 Z. 11 und 13 – 14). Das königliche Amt ist demnach im hohen Mittelalter ebensowenig erblich gewesen, wie es die hohen Reichsämter (oben: § 544) und später in den Städten der Sitz im Ratsstuhle (E. Pitz 2001 S. 83, 222) waren. Zwar strebten die Wähler regelmäßig die Nachfolge des Sohnes nach dem verstorbenen Könige an, weil in diesem Falle unter den Bedingungen der sehr schwerfälligen identischen Willensbildung die erforderliche Einhelligkeit der Kur wesentlich einfacher herbeizuführen war als bei freier Auslese des am besten Geeigneten aus mehreren Bewerbern, aber ein Erbrecht des königlichen Hauses war damit noch nicht gegeben, sondern allenfalls eine Vergleichbarkeit mit der Erbfolge innerhalb einer Hausgemeinschaft an deren privatem Eigentum (oben: §§ 91, 92). So sagt Einhard von dem Hausmeier Pippin, den die Franken 751 zum König erhoben, er habe das Hausmeieramt gleichsam wie etwas Erbliches verwaltet, quo officio . . . iam velut hereditario fungebatur, weil sein Vater Karl es als ihm vom Großvater hinterlassenes Amt verwaltet habe, eundem magistratum a patre Pippino sibi dimissum egregie administravit. Dieser Anschein des Erbgangs bedurfte aber einer Erklärung; daher fügte Einhard hinzu: Qui honor non aliis a populo dari consueverat quam his qui et claritate generis et opum amplitudine ceteris eminebant (Einhard c. 2 S. 4 Z. 3 – 14). Das Volk also vergab das anscheinend erbliche Amt, das Volk entschied, wie Kaiser Karl 806 bestätigte, durch seine Wahl darüber, ob der Sohn eines Königs dem Vater in die
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Erbschaft des Reiches nachfolgen sollte (oben: § 204), und nur durch vornehme Vorfahren und ausgebreiteten Reichtum ausgezeichnete Männer konnten sich bei ihm mit Aussicht auf Erfolg darum bewerben. § 700. Es ist also allein aus der verengten Sicht von Königen und Königssöhnen auf die Kur gesprochen, wenn Karl und Ludwig im Jahre 842 ihrem Bruder Lothar seinen Reichsteil entziehen wollten, weil er versucht habe, sie zu enterben und zu vernichten, exhereditare atque delere (Nithard, Hist. IV c. 1, S. 40 Z. 15), oder wenn später von einem Geblütsrecht, ius consanguinitatis, ius propinquitatis, die Rede ist (oben: § 165). Wir haben es hier ebenso wie bei der synonymen Verwendung der Worte decessores, antecessores, progenies, suboles mit dem uns bereits sattsam bekannten vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch der Volksrechte zu tun, deren Normen aufzufinden und zu überliefern eine Aufgabe war, die ungeschulten Laien oblag (oben: § 555). Erst im Spätmittelalter begann der Erbgedanke in den geistlichen Krönungszeremonien, aber auch nur hier, beherrschend hervorzutreten und die Wahlriten daraus zu verdrängen. Die vorangehende weltliche Königswahl wurde davon jedoch nicht berührt. „Die Weihe durfte vielmehr nur solchen Herrschern erteilt werden, die bereits vorher die Anerkennung durch das Volk gefunden hatten; ja, die Weihe galt geradezu nur dann als rechtskräftig, wenn sie ausdrücklich oder stillschweigend im Auftrag der Volksgesamtheit vorgenommen wurde“ (F. Kern 1914 S. 101 f.). Von den Spekulationen der Hoftheologen, die nicht nur die Krönungsordines verfaßten, sondern ihre politische Theologie in den Illustrationen, mit denen sie ihre Sakramentare schmückten, auch optisch sichtbar entfalteten (z. B. in dem Krönungsbilde des Regensburger Sakramentars von 1002: St. Weinfurter 2000 S. 43 – 46), ist offensichtlich dem Volke nichts bekanntgeworden. Noch lange blieb das Netz der Pfarrkirchen so weitmaschig und die Bildung der Pfarrer so dürftig, daß nur einfachste Kenntnisse von der Glaubenslehre, vom Sinn der lat. Meßliturgie und von der kirchlichen Bußdisziplin die Laienwelt erreicht haben können. Das Wissen der Sühnemittler, Urteilsfinder und Schöffen in den Grafen- und Hofgerichten blieb daher ein heidnisch-profanes Wissen und wurde in den aus alter Zeit hergekommenen Formen (oben: §§ 52, 53, 312, 411) von Generation zu Generation weitergegeben. Notker der Deutsche unterscheidet es als quaestiones civiles = purgliche alde gebûrliche von den quaestiones philosophicae, für deren Namen er kein ahd. Äquivalent einzusetzen wußte (W. Braune, Lesebuch 1928 S. 60 Z. 50 – 54, oben: § 227). Keine sakrale Überhöhung der Ottonen konnte verhindern, daß der König in den Auseinandersetzungen des Adels Partei blieb: „Das theokratische Herrschaftsmodell kollidierte also mit der politischen Realität“ (A. Kränzle 1997 S. 156), die es nicht zu beeinflussen vermochte (oben: § 433). Nicht einmal aus der Erhebung des Papstes, der über sich ebensowenig einen Superior anerkannte wie der König, ließ sich die volksrechtliche Auffassung verbannen, daß der Erwählte die weltliche Amtsvollmacht von seinen Wählern empfinge. In dieser Frage mußte die Spekulation selbst dann noch Zugeständnisse an
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den sensus communis machen, als die Entstehung der Kirchenrechtswissenschaft der Herrschaft des Germanismus über die Kanones ein Ende setzte. Denn selbst das gelehrte kanonische Recht mußte anerkennen, daß der Papst bereits durch die Wahl und folglich von den Wählern die Vollmacht empfing, die Kirche in allen nicht rein priesterlichen Angelegenheiten zu regieren, d. h. vor allem die apostolische Jurisdiktion auszuüben und den Kirchenstaat, das irdische Gut der römischen Kirche, zu verwalten, bevor er noch die geistliche Weihe und Krönung erlangt hatte. Daher bedurfte es der Erklärung, daß die Kardinäle trotz ihres Wahlrechts und entgegen dem laikalen Weltverständnis nicht Obere des Papstes seien und namentlich nicht über ihn richten konnten (R. Benson 1968 S. 42 f., 118 mit A. 5, 159 – 167), wie es die germanischen Volksrechte den Königswählern überall zugestanden, sobald der König Amtseid und Herrschaftsvertrag verletzte. Nur die sakralen Befugnisse seines Amtes empfing der bereits regierende Papst noch von der Hand seiner Mitbischöfe durch die consecratio oder Weihe, die, gleich der Königsweihe, zu den Regierungsrechten des Erwählten nichts mehr hinzufügte. Die wirkliche Gewalt über den Kirchenstaat aber erlangte auch der Papst noch nicht durch die Kardinäle, sondern erst dann, wenn ihm dessen Große den Abschluß des Herrschaftsvertrages und die Huldigung zugestanden (G. Post 1943 S. 369. F. X. Seppelt 1956 S. 321 – 326). § 701. Trotzdem hat nicht der laikale sensus communis, sondern die gelehrte politisch-theologische Mystifikation seither die wissenschaftliche Beurteilung sowohl des mittelalterlichen Königtums als auch der Reichsverfassung bestimmt, und damit war zugleich entschieden, daß sich die Wissenschaft den Staat des hohen Mittelalters nicht mehr als von unten her aufgebaut, sondern nur noch als von oben dem Volke oktroyiert vorstellen konnte. Besonders erfolgreich entfaltete sich die mystische Spekulation in Westeuropa (oben: §§ 628, 630). In Frankreich hatte die Schwäche des Königtums während des 10. Jahrhunderts dazu geführt, daß niemand mehr die Reichsversammlung einberief oder besuchte, und da seit 987 kein König mehr verschied, ohne einen für sein Amt tauglichen Sohn zu hinterlassen, vermißte bald auch niemand mehr eine Versammlung des wählenden Volkes, die den Sohn zum Haupte und Nachfolger erhoben hätte. So erfanden französische Juristen am Ende des 12. Jahrhunderts die Fiktion der Erbmonarchie. Von Natur aus seien Vater und Sohn fast dieselbe Person, so meinten sie und die Theologen, um den Übergang der königlichen Dignität von jenem auf den Primogenitus zu rechtfertigen (E. H. Kantorowicz 1966 / 1990 S. 390). König Philipp II. August (1180 – 1223) war der erste, der es nicht mehr für nötig hielt, noch zu Lebzeiten den ältesten Sohn nach weltlichem Rechte zum König erheben zu lassen. Wiewohl niemals gesetzlich festgelegt, war damit nicht nur die Erblichkeit der Krone anerkannt, sondern auch die Bevollmächtigung des Königs vom Volke und seiner Reichsversammlung auf die Synode übergegangen, die der Königsweihe beiwohnte. Wenn hier der Liturg den Anwesenden den Gekrönten
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feierlich mit der Frage präsentierte, ob sie ihn zu ihrem Könige annähmen, und die Gefragten darauf mit der Akklamation antworteten, so ging nun auch die Amtsvollmacht offensichtlich von Gott, dessen Geist das Volk erfüllte, auf den König über: Die theokratische Illusion war vollkommen. Mit der Krone war die Amtsvollmacht, die sie sichtbar machte, zum Erbgut oder Patrimonium des königlichen Hauses geworden. Das Deutsche Reich nahm an dieser Entwicklung nicht teil. Just zur Zeit König Philipp Augusts ist Kaiser Heinrichs VI. Plan, hier die Erbmonarchie einzuführen, am Widerspruch der Reichsfürsten gescheitert (Gebhardt, Handb. 1970 S. 420 f. H. Mitteis 1944 S. 105 f.). Das deutsche Königtum ist stets ein Wahlamt geblieben. Nach der im Jahre 1356 gesetzlich festgelegten Ordnung „fand die Wahl in Frankfurt statt, wohin seit Ferdinand I. in der Regel auch die Königskrönung von Aachen verlegt wurde.“ Die Wahl des Nachfolgers fand jeweils noch zu Lebzeiten des Königs statt; „dies war dadurch noch einfacher als im Mittelalter, daß die Krone tatsächlich (nicht rechtlich) erblich geworden war“ (C. von Schwerin 21941 S. 298). Vor der Wahl vereinbarten die Kurfürsten mit dem König die Wahlkapitulation. Seit 1519 war dies ein schriftlicher Vertrag, den der König vor der Wahl zu beschwören hatte und mit dem er „den Reichsständen gegenüber bestimmte Verpflichtungen hinsichtlich der Reichsverwaltung und Bindungen der königlichen Gewalt einging“ (ebd. S. 272 f. E. Pitz 1987 S. 543 – 550). Den gleichen Grundsätzen gehorchten bis ins 17. Jahrhundert hinein die Verfassungen der Territorien, solange man damit beschäftigt war, die mittelalterliche Landesherrschaft zur Obrigkeit und weiter zur monarchischen Staatsgewalt fortzubilden (C. von Schwerin 2 1941 S. 315 f., 330 – 332; oben: §§ 329, 330, 390 – 393, 436, 598, 678). Unterdessen hatte zwar die Entdeckung des antiken Humanismus und seiner heidnisch-profanen republikanischen Staatslehre die geistige Welt der Europäer grundlegend verändert, aber die übermächtige Geltung der biblischen Schriften und des Corpus Iuris Romani unter den Gelehrten war dadurch nicht erschüttert worden. Die Verfechter einer neuen, aus den antiken Quellen gespeisten Naturrechtslehre vermochten zwar den Zusammenhang verfassungsrechtlicher Institutionen zu zerstören, in den bis dahin die Lehre und Praxis der Erbmonarchie eingebettet gewesen war, aber die politische Philosophie, die sie auf die zum Selbstzweck erhobene monarchische Erbfolge gründeten, machte keinen ernsthaften Versuch, sich aus der Abhängigkeit von der politischen Theologie zu befreien. Im Jahre 1583 erklärte Jean Bodin die politische Rechtlosigkeit des Volkes und die bedingungslose Erblichkeit der Krone zur Voraussetzung und zum Kennzeichen jeder von Gott gewollten souveränen Staatsgewalt, und 1625 gelangte Hugo Grotius von hier aus zu der Überzeugung, das fürstliche Erbrecht an der Krone begründe ein wahres Eigentumsrecht des Fürstenhauses am Staate. Damit war der Begriff des Patrimonialstaates geprägt (oben: § 166), von dem vorher und namentlich im Mittelalter noch niemand etwas gewußt hatte. Alsbald bemächtigten sich die im Fürstendienst stehenden Juristen seiner, um die Abhängigkeit ihrer Mandan-
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ten von den Reichs- und Landständen und ihre Bindung durch Herrschaftsvertrag und Wahlkapitulation abzustreiten (E. Pitz 1987 S. 314 – 316). So schwer es auch war, in Hausherrschaft und Lehnshoheit einen Rechtsgrund für die neue Lehre aufzufinden, so bot sich doch nichts besseres an, um die Zerstörung des mittelalterlichen Verfassungsdualismus und anatektonischen Staatsaufbaus durch den fürstlichen Absolutismus mit dem Schein Rechtens zu umgeben (oben: §§ 47 – 49, 165, 167a, 555, 590).
§§ 702 – 710. Weitere Verdunklung des Volksrechts durch den romantischen Historismus § 702a. Es ist schwer zu sagen, ob und wie tief diese gelehrten Theorien in das Rechtsbewußtsein des Volkes eingedrungen sind und in welchem Sinne sie es verändert haben. Zwar hatte sich die katholische Kirche schon im 15. Jahrhundert bemüht, die Ausbildung der Pfarrer und damit die Unterrichtung der Laien zu verbessern, aber der Erfolg war gering: „Die Geistlichen waren . . . zu dumm, um die Menschen in ihren Meinungen zu beeinflussen,“ und man muß sagen, daß „die so oft behauptete Macht der mittelalterlichen Kirche über die Seelen der Menschen, ihre übergroße Autorität über die Laien noch nicht einmal eine Karikatur der bestehenden Verhältnisse, sondern ein Konstrukt darstellen, . . . das letztlich erst in der Aufklärungszeit entstand“ (E. Schubert 1998 S. 271). Wieviel sich daran im 16. Jahrhundert und später geändert hat, steht dahin (E. Pitz 1987 S. 123, 150 – 162, 356 – 374). Die Bürgerschaft von Lübeck jedenfalls setzte sich im Jahre 1600 erbittert zur Wehr, als der Rat unter Berufung auf die naturrechtliche Staatslehre der Zeit den Bürgereid in einen Untertaneneid umdeuten, sich selbst zum Leibherrn der Bürger aufschwingen und damit die deutschrechtlichen Grundlagen der Stadtverfassung vernichten wollte (J. Asch 1961 S. 78 – 91. E. Pitz 1987 S. 316 f., 333). Das von der Niederlage im deutschen Bauernkrieg und von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges betroffene Volk wird, je mehr die Territorialstaaten ihre bürokratische Macht befestigten, die Dinge anders angesehen haben. Denn sobald eine voll entwickelte und in volksfremdem Rechtsdenken befangene Bürokratie das Volk beherrschte und bevormundete, konnten die Untertanen kaum noch verstehen, was die Politik über sie verfügte. Schon den Alten war bewußt gewesen, daß Menschen alles das, wovon ihnen die menschlichen Verursacher verborgen bleiben, dem Willen der Götter zuzuschreiben pflegen (Polybius 36, 17, 1 – 5 Büttner-Wobst). So stellten sich die Launen der Beamten dem Volke als eine Art göttlicher Vorsehung dar, und nur durch Spekulationen über das Geheimnisvolle des Geschehens konnten die Untertanen ihrem Leiden einen Sinn geben und das vernünftig nicht Begreifbare ertragen (H. Arendt 1955 S. 520 – 523, 527). So verschwieg sich denn Jahrhunderte lang der volkliche sensus communis, und Gelehrte. Monarchen und Staatsmänner konnten sich leicht über die Irrealität einer
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Staatslehre hinwegtäuschen (lassen), die glaubte, auch ohne das Volk sei ein Staat zu machen. Die Utrechter Union von 1579, mit der das Volk der sieben nördlichen Provinzen der Spanischen Niederlande den Grund für eine von unten her erbaute Staatsverfassung legte, der Herrschaftsvertrag, durch den es kraft Volkssouveränität zwar wiederum einen Landesherrn über sich erhob, dessen Befugnisse aber sorgfältig begrenzte, und die Selbständigkeitserklärung von 1581, mit der es seinem Könige, weil er sich gegen Landesrechte und Gewohnheiten verfehlt hatte, kraft Widerstandsrechtes, das ihm gegen einen ungerechten Herrscher zustehe, die königlichen Rechte aufsagte (oben: § 393), – diese Union und ihre Erfolge ließen sich noch als von Gott zugunsten einer Seefahrer- und Händlernation zugelassener Sonderfall ebenso leicht in die neue Staatslehre einordnen wie die englischen Revolutionen von 1649 und 1689 (E. Pitz 1987 S. 337 – 349, 514 f.), die nichts weiter bezweckten, als das von der absolutistischen Verfassungspolitik der Stuart-Könige verletzte mittelalterliche Gleichgewicht zwischen Krone und Reichsversammlung mitsamt der beiden gemeinsam obliegenden Reichsregierung wieder ins Lot zu bringen. Immerhin gerieten darüber die Gelehrten, sowohl Theologen und Juristen als auch die neue Spezies der Physikomathematiker, ins Grübeln. Sie legten den Grund für eine neue, ihrer dreitausendjährigen historischen Erfahrung besser gerecht werdende Staatslehre. Mit ihrer Hilfe konnten endlich die amerikanische Revolution von 1776 und die französische von 1789 der Naturrechts- und Patrimonialstaatslehre den Boden entziehen und den Weg zu neuen, von unten her und auf den Grundsatz der Volkssouveränität aufbauenden Verfassungen freimachen. § 702b. Wenn dem auch in Europa zunächst kein dauernder Erfolg beschieden war, so forderte doch die Restauration der absoluten Monarchie den Gelehrten die größten geistigen Anstrengungen ab, um einen tieferen Sinn in diesem augenfälligen Rückschritt zu entdecken und die Legitimität (oben: § 271) der Erbmonarchie und des Patrimonialstaats gegenüber dem Gedanken der Volkssouveränität nachzuweisen. Da dieser den Augenschein, den gemeinen Sinn des Volkes und die praktische Vernunft auf seiner Seite hatte, gelang ihr das nur mit Unterstützung jener transzendenten Spekulation, die sich seit jeher auf den Urheber der Geschichte gerichtet und auch gegenüber der Aufklärung behauptet hatte, weil die Geschichte zwar ein Resultat menschlichen Handelns ist, aber doch keinerlei Auskunft darüber gibt, wer sie ersinnt und ihren Verlauf bestimmt. Daher die ewige Suche nach einem hinter dem Rücken der Menschen handelnden Unbekannten, der oder das nicht nur in dem jüdischen Schöpfer- und christlichen Erlösergott. sondern auch in Platos Drahtzieher, in Polybius’ Tyche, in Adam Smiths unsichtbarer Hand oder in Hegels Dialektik hatte gefunden werden können. Der romantische Historismus fand da etwas vor, was sowohl empirischer religions- und geistesgeschichtlicher Erforschung zugänglich als auch von höchstem Nutzen war, um den verborgenen Sinn der politischen Retauration zu enthüllen. So gelang es der deutschen historischen Schule, das Patrimonialstaatsdogma bis ins 20. Jahrhundert am Leben zu erhalten (oben: §§ 270, 662 – 665).
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Unter den zahlreichen Namen, die die historische Spekulation für den Patrimonialstaat erfand, verdient der Anstaltsstaat besondere Beachtung. Heutiges Verwaltungsrecht versteht unter Anstalten staatliche Einrichtungen, die gleich den Körperschaften des öffentlichen Rechts vom Hoheitsträger zur Erfüllung eines besonderen öffentlichen Interesses geschaffen, mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet und beaufsichtigt werden, im Gegensatz zu den Körperschaften aber solche, deren Rechtssubjektivität nicht auf einem Personenverband lebendiger Mitglieder beruht, sondern auf der Verfügung über einen Bestand an Sachmitteln, die der Hoheitsträger ihnen gleichsam als Ertrag eines Vermögens zur Verfügung stellt. Die Benutzer der Anstalt bleiben ihr gegenüber fremde, außenstehende Dritte, ihre Zulassung zur Nutzung der Anstaltsmittel ein reiner Verwaltungsakt, aus dem sie keinerlei Interesse oder Mitbestimmungsrecht ableiten können (Meyers enzyklopäd. Lexikon Bd. 2, 1973, S. 277. F.-L. Knemeyer 1985). Der Begriff Anstaltsstaat war daher trefflich dazu geeignet, nicht nur der rationalistischen Lehre von der Volkssouveränität und dem Staatsvertrag, sondern auch der aus dem Mittelalter überkommenen altständisch-liberalen Ansicht das Wasser abzugraben, nach der die Behörden, das in Stände gegliederte Volk und sogar der Monarch nichts anderes als Organe eines größeren Ganzen und durch ein System von Wechselwirkungen in eine lebendige, gesetzlich verfaßte Staatseinheit eingegliederte Teile wären. Diesen beiden Anschauungen setzte Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861) die Idee der von Gott um der Sünde der Welt willen erschaffenen Staatsanstalt entgegen, die von den Bürgern keinerlei Mitwirkung, sondern lediglich unbedingten Gehorsam erwartete. Die Könige als Werkzeuge Gottes, ihr Dasein Erfüllung des Willens des Weltschöpfers, der Staat Oktroy und Mittel Gottes zur Zähmung einer selbstsüchtigen, gewalttätigen, sündigen Menschheit, das positive Recht die zeitliche Ausformung des göttlichen Gesetzes und einzige Schranke sowohl für den herrscherlichen als auch für den Gemeinwillen, „Autorität, nicht Majorität“, das machte nach Stahls politischer Theologie das Wesen des Anstaltsstaates und der absoluten Monarchie als seiner Staatsform aus (V. Valentin 1930 – 1931 Bd. 1 S. 276 f.). Ersichtlich hat dieser Staatsbegriff vieles dem römischen Staatsrecht, das seit der konstantinischen Wende sowohl die einzelnen Bischofskirchen als auch die Universalkirche in Staatsanstalten verwandelt hatte, aber auch der Staatslehre des Kirchenvaters Augustinus zu verdanken, dem zufolge erst der Sündenfall die göttliche Zulassung des Staates und der Herrschaft von Menschen über Menschen notwendig gemacht hatte, wogegen in einer christlich gewordenen Welt der Staat unter Leitung des von Gott auserwählten Monarchen Diener der Kirche sein sollte. Es ist allerdings zweifelhaft, ob das römische Kaiserreich wirklich eine von wem auch immer und von oben her seinen Bewohnern oktroyierte Anstalt war, ob Diokletian und Konstantin es wirklich in einen rein bürokratisch regierten Zentraloder Zwangsstaat, wie neuerdings gesagt worden ist, haben verwandeln können (E. Pitz 2001a S. 93, 96, 500), und daher scheint mir auch äußerste Vorsicht bei dem Versuch geboten zu sein, „das spätantike Beamtentum . . . im Lichte der Erkennt-
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nisse der modernen Verwaltungswissenschaft zu deuten“ (K. L. Noethlichs 1981 S. 2, 213). § 703a. Den hochspekulativen Begriff des Anstaltsstaates in die empirische Wissenschaft einzuführen war nicht einfach. Bereits der Rechtshistoriker Otto Gierke setzte ihn herab zu einem Begriff, der sich der Erfahrung des mittelalterlichen und altständisch-liberalen Verfassungsdualismus unterordnen mußte. Gierke stellte sich die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte als von dem Ringen zweier Prinzipien um die Vorherrschaft bestimmt vor, die allerdings nicht unmittelbar empirisch nachzuweisen, sondern lediglich aus den rekonstruierbaren oder auch ausgesprochenen Rechtsgedanken eines jeden Zeitalters zu deduzieren waren. Der deutsche Rechtsgeist, den er als Denker dieser Gedanken voraussetzte (O. Gierke 1881 S. 1 f.), ist zweifellos als Ingredienz des Hegelschen universalen Geistes zu verstehen, denn gleich diesem brachte er aus ihm immanenter Logik heraus das Ringen der beiden Prinzipien um die Gestaltung der Wirklichkeit hervor (E.-W. Böckenförde 1961 S. 155 f.). Die beiden als uralt eingeführten Prinzipien waren einerseits das genossenschaftliche, das in die Staatsverfassung die Ideen und Institutionen der Volksfreiheit, des Einungsrechts, der gemeindlichen Vielfalt und des Aufbaus von unten her einpflanzte, und andererseits das herrschaftliche, das von der Spitze, von außen und von oben her in die Geschichte eintrat (O. Gierke 1873 S. 534) und den Zusammenschluß der Gemeinden, die Rechtspersönlichkeit des Reichsuntertanenverbandes und die Staatseinheit stiftete (oben: § 36). Und es ist dieses herrschaftliche Prinzip, das zu gegebener Zeit den Anstaltsstaat aus sich hervorbrachte. In der römischen Kaiserzeit hatte sich nach Gierke diese Staatsform rein herausbilden können, weil dem altrömischen Rechtsgeiste die Prinzipien und die Dialektik des späteren christlich-germanischen oder deutschen noch fremd gewesen waren. Das römische Recht hatte es bei stetiger Opposition der Freiheit des Einzelnen im Privatrecht und der Einheit der Gesamtheit im öffentlichen Recht bewenden lassen. Gemeinden, Verbandspersonen, Korporationen der Bürger aber hatte es nur im öffentlichen Recht zugelassen, hier aber so, daß sie eine rechtliche Existenz nur durch Staatsgesetz erlangen oder verlieren konnten: Die Genossen waren unfähig, ihre Verbandseinheit selbst zu begründen, sie mußten sie sich von oben her oktroyieren lassen, und daher trugen diese Korporationen bereits den Charakter von staatlichen Anstalten (O. Gierke 1881 S. 141 – 146). Die christlichen Kirchen hatten sich zwar als Gemeinden der Gläubigen selbst gegründet, leiteten aber im Glauben ihre Existenz aus göttlicher Stiftung her, und seit sich in ihnen der Klerus von den Laien geschieden hatte, begann der transzendent-anstaltliche Charakter den genossenschaftlichen zu verdunkeln, bevor noch die christlichen Kaiser sie dem staatlichen Verbandsrecht unterwarfen und begannen, sie als Staatsanstalten zu behandeln. Sie selbst nahmen diesen Status an, da es ihren Häuptern gefiel, vom Staate mit öffentlichrechtlichen Befugnissen ausgestattet zu werden (ebd. S. 106 – 122. M. Weber 1921 / 72 S. 429. Oben: § 682). Aber
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auch diesen Staat selbst, das Römische Imperium, betrachtete Gierke als anstaltliches Gebilde, freilich eines sui generis, da es weder vom Kaiser noch von den Juristen jemals als Korporation bezeichnet worden ist. Es entbehrte also eines Reichsuntertanenverbandes. Wohl aber leiteten die Kaiser ihre Herrschaft ebenfalls von Gott her (O. Gierke 1881 S. 143). Ganz anders verhielt es sich mit dem neuen Recht, das sich seit der Mischung der germanisch-romanischen Nationalitäten im lateinischen Abendlande bildete, nach Gierke einer Schöpfung des vom Christentum durchwalteten germanischen Geistes (oben: § 505), denn auch das ursprüngliche Rechtsbewußtsein der romanischen Völker dachte er sich (richtig) als im Kern durch die jugendlichen gemeingermanischen Rechtsgedanken konstituiert. Insbesondere betreffe dies die volkstümlichen Grundanschauungen vom Wesen der menschlichen Verbände. Daher habe sich das volkstümliche Rechtsbewußtsein sehr wohl zuerst in Italien, in einem romanischen Lande also, zu abstrakteren Begriffen erheben und wie bei Betrachtung der kirchlichen Institutionen zum Anstaltsbegriff (O. Gierke 1873 S. 534, 546, 1881 S. 238, 247 ff.), so im emporblühenden städtischen Leben zum Körperschaftsbegriff vorarbeiten können (ebd. 1873 S. 829, 1881 S. 3 f.). Aber selbst in den vier Jahrhunderten des Mittelalters (von 800 bis 1200), als das Prinzip der Herrschaft und Staatseinheit in Gestalt der patrimonialen und feudalen Verfassung das entgegengesetzte freiheitliche Prinzip unterdrückte, sei es nicht zur Umwandlung der (partikularen) weltlichen Verbände nach dem Vorbilde der Kirchen in von Gott gestiftete Anstalten gekommen, sondern bei der hergebrachten Verfassung von den Mitgliedern gestifteter Körperschaften geblieben (ebd. 1873 S. 553 – 557). Das Verhältnis der Genossenschaften zu ihren Herren sei zwar als Vertrag aufgefaßt worden (ebd. S. 433, 436), doch habe der Vertrag keine stabile Gesamtverfassung geschaffen, der Willens- und Handlungsfähigkeit der Verbände keine unbestreitbare Existenz verschafft, da die Herren nicht im Namen der Gesamtheit handelten, sondern auf Grund eines selbständigen politischen Herrenrechts, und daher nur einen persönlichen Willen auszusprechen vermochten, dem der Wille der Genossenschaft selbständig gegenüberstand (ebd. 1873 S. 429, 436, 475 – 477). Eben deswegen eigne dem Herrenrecht der patrimoniale und dem Gemeinderecht der Charakter eines Widerstandsrechts (ebd. S. 417, 437 f.). Zu solcher Einsicht seien bereits die gelehrten Juristen im späteren Mittelalter gelangt: Ihre gesamte Staatsrechtslehre trage einen eigentümlich gewandten monarchischen Zug an sich, der sie in scharfen Gegensatz zur antiken Publizistik bringe: Die Wähler der Herrscher gälten ihr als Werkzeuge Gottes, der eigentlich diese einsetze; alle Herrschaft sei daher in erster Linie Pflicht oder Amt, entarte sie aber in Tyrannei, so ende die Gehorsamspflicht der Untertanen, und das selbständige Recht der Gesamtheit erweise sich als Widerstandsrecht (ebd. 1881 S. 557 – 565). § 703b. In der Periode von 1200 bis 1525 habe wiederum das uralte genossenschaftliche Prinzip der Volksfreiheit das herrschaftliche überwogen und unterdrückt. In dieser Zeit sei dem deutschen Rechtsbewußtsein in den städtischen Ge-
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meinwesen der Körperschaftsbegriff aufgegangen, und von da aus habe er die Auffassung aller anderen dafür geeigneten Genossenschaften des deutschen Rechts durchdrungen und mit ihnen auch den Staatsbegriff (ebd. 1873 S. 829). Seither enthielt dieser, in der Mischform des Ständestaates, sowohl körperschaftliche als auch anstaltliche Elemente. Aber in der Periode von 1525 bis 1806 kam es wegen politischen Versagens der Landstände dazu, daß abermals das Prinzip der Herrschaft das der Volksfreiheit unterdrückte (oben: §§ 36 – 39), und zwar jetzt in Gestalt der obrigkeitsstaatlichen Verfassung: Der Obrigkeitsstaat sei nur Anstalt, sei reine, dem Volke transzendente Anstaltsperson gewesen (ebd. S. 860). Im gegenbildlichen Verhältnis habe sich der Anstaltsbegriff zu dem der Körperschaft entwickelt, und zwar sei er dadurch aus dem uralten Dualismus von Genossenschaft und Herrschaft entstanden, daß man den sichtbaren Herrn durch eine unsichtbare Einpersönlichkeit ersetzte. Nachdem zuerst nur das kanonische Recht diesen Begriff rein ausgebildet habe, bemächtigte sich nun die Idee, der Herr sei bloß Repräsentant von Obrigkeit, auch der weltlichen Verbände. Ebenso, wie der Staat in der vorigen Periode hatte Körperschaft sein, so habe er, als Obrigkeitsstaat, auch die Verfassung einer Anstalt mit dem Herrn als amtlichem Vorsteher annehmen können (ebd. 1873 S. 958 – 976, besonders 969, 971). Unweigerlich hält ein Werk wie das Gierkesche den Leser dazu an, sich über die Gründe klarzuwerden, aus denen er ihm vielfach noch immer nachfolgen darf und muß, im ganzen aber doch ihm zu widersprechen hat. Noch immer kann, jedenfalls in Deutschland, keine moderne Verfassungslehre bestehen, wenn sie nicht anzugeben weiß, warum sie den älteren Lehren und speziell der Gierkeschen nicht mehr beizupflichten vermag. Was die vorliegende Verfassungslehre anlangt, so verwirft sie die Annahme, die allen europäischen Rechten gemeinsame Abstammung von dem christlich-germanischen Rechtsgeiste nivelliere deren irdische Eigenarten und Antagonismen zugunsten einer auf einen einzigen Zweck gerichteten Entwicklung, denn dieser Zweck entstammt einer transzendenten Setzung: Durch die ihm eingeborene Dialektik soll jener Rechtsgeist zu sich selbst kommen. Seine Existenz ist nun auch die Voraussetzung für die Brauchbarkeit des Begriffs Anstaltsstaat. Der erwähnte Zweck ist nämlich nicht nur empirische Ursache der Verfassungsgeschichte, sondern kann und soll auch erst aus ihr spekulativ erkannt werden. Für den empirischen Beobachter sind dagegen Ursprung und Ziel der Geschichte unerkennbar. Für ihn löst sich die transzendente Dialektik in politische Konflikte zwischen bestimmbaren Interessenten auf, deren Rechtsüberzeugungen sich in den germanischen Volksrechten, im kanonischen Recht, in den Land- und Stadtrechten und im gelehrten römischen Recht niederschlagen und aus bestimmbaren irdischen Interessenlagen heraus miteinander entweder harmonieren oder kollidieren. Rechts- und Verfassungsgeschichte ist die Geschichte rein irdischer, menschlicher Überzeugungen und Hoffnungen. Die transzendenten Voraussetzungen der Gierkeschen Lehre entstammen der protestantischen Theologie und der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Sie hinderten Gierke daran, das volksrechtliche Wesen des Herrschaftsvertrages und einer
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Regierungsweise, die sich (in einer nur empirisch bestimmbaren Dialektik) als ständiges Paktieren des Fürsten mit dem Volke herausstellt, ins Auge zu fassen und sich auf die Suche nach den Bedingungen und Regeln zu machen, die eine solche Regierung sowohl von Rechts wegen als auch in der Praxis ermöglichten. Gierke konnte der identischen Willensbildung nicht auf die Spur kommen, weil er sich weigerte, das Herrenrecht aus dem Volkswillen abzuleiten und damit den (zu seiner Zeit revolutionären) Grundsatz der Volkssouveränität anzuerkennen. Statt dessen setzte er es als absolutes Prinzip, wenn er es auch nicht offen auf Gott, sondern nur auf einen ebenso mystischen Rechtsgeist zurückführte. Nicht als vom Volke verliehenes Amt, als Auftrag, das Wort des Volkes zu halten, stellte er sich das Recht der Herrschaft vor, sondern, unter Verwendung von Begriffen der protestantischen politischen Theologie, als gottgewolltes patrimoniales Erbrecht, gegenüber dessen Positivität das Volksrecht auf ein bloßes negatives Widerstandsrecht zusammenschrumpfte. Als Anstaltsstaat bezeichnete Gierke den Obrigkeitsstaat der europäischen Neuzeit, in dem er dieses Herrschaftsrecht rein verwirklicht fand, aber auch das antike römische Kaiserreich, dessen Bewohnern allerdings mit dem Status eines Reichsvolks auch das Widerstandsrecht vorenthalten worden war. Ob freilich der moderne Obrigkeitsstaat allein durch die Unterdrückung des Volksrechts entstanden sei, wird man bezweifeln können. Denn der Kampf ums Recht mit den Mitteln der Fehde und die Volksgerichte, deren Schöffen und Urteiler das Volksrecht erkannten und bewahrten, erloschen auch deswegen, weil immer weniger Untertanen sie in Anspruch nahmen. Sie erlagen der Konkurrenz der fürstlichen Amtsgerichte, der überlegenen Rechtstechnik ihrer studierten Einzelrichter und der zuverlässigen Vollstreckung der Urteile, die sie den Interessenten gewährten (E. Pitz 1987 S. 580 – 582. Oben: §§ 283, 392). § 704. Gierkes Lehre hat die verfassungsgeschichtliche Forschung nicht sonderlich stark beeinflußt – es sei denn, man könnte den Glauben an ein autogenes oder autochthones Herrschaftsrecht des Adels, auf den die landesgeschichtliche Schule ihre Verfassungslehre begründet (oben: §§ 331 – 333, 406, 566a), als Derivat des von Gierke postulierten selbständigen politischen Herrenrechtes betrachten. Der Grund dafür ist nicht so sehr in ihren spekulativen Voraussetzungen zu suchen als vielmehr darin, daß es im Bismarckreich und im Zeitalter des Imperialismus schwer war, dem Prinzip der Volksfreiheit die Geschichtsmächtigkeit zuzusprechen, die Gierke ihm beilegte. Bis heute einflußreich ist die Gierkesche Lehre daher vor allem in der Fassung geworden, die ihr im Jahre 1914 Fritz Kern verlieh, indem er Gierkes beide Prinzipien durch die Begriffe Gottesgnadentum und Widerstandsrecht ersetzte (F. Kern 1914 S. 3 A. 2, 5 A. 7, 7 A. 14). So gelang es ihm nicht nur, das Prinzip der staatlichen Einheit auf Kosten der ihr entgegengesetzten Volksfreiheit zu überhöhen, ohne sich des Begriffs Anstaltsstaat bedienen zu müssen, sondern auch unter dem Anschein historischer Empirie den hochspekulativen Charakter seiner Begriffsbildung zu verbergen.
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Denn empirisch ging er insofern vor, als er die „Ideengeschichte der Monarchie“, die „Zusammenhänge zwischen Recht und Weltanschauung“, den „Grenzstreifen zwischen Verfassungs- und Geistesgeschichte“ erforschen, spekulativ aber insofern, als er die beiden leitenden Begriffe in den Quellen des frühen Mittelalters aufsuchen wollte, obwohl er wußte, daß zumindest das Gottesgnadentum erst dem absoluten Staate der Neuzeit angehört und auch dem Widerstandsrecht im Mittelalter nur eine „zweifelhafte“, wenn auch „hartnäckige Existenz“ zugekommen ist (ebd. S. V, VI). „Die Streitfrage, ob der Herrscher oder das Volk das höhere Recht besitze, gehört zu den ungelösten Spannungen im Unterbau der konstitutionellen Monarchie . . . Gottesgnadentum und Widerstandsrecht – ihre Kämpfe um den Staat des 17. bis 19. Jahrhunderts leben noch im Bewußtsein der Gegenwart“ (ebd. S. 1. Oben: § 670). Als empirischer Forscher wußte Kern sehr wohl, daß sich die moderne Gottesgnadentheorie erst allmählich aus der Verschmelzung eines vermeintlich germanischen Geblütsrechts mit den theokratischen Anschauungen der christlichen Kirche, mit dem im 13. Jahrhundert entstandenen Begriff der Erbmonarchie, als Grundlage des Legitimitätsprinzips, und mit der grundsätzlichen Verneinung aller Volksrechte zugunsten der monarchischen Regierungsform entwickelt hat (S. 38, 48 f., 289). Auch war ihm bekannt, daß das Mittelalter über allen derartigen Spekulationen „niemals die real-irdischen Grundlagen der Herrscherbefugnis vergaß“ (S. 50) und daß auf die in den Krönungsordines verwandten spekulativen „Ausdrücke nicht viel zu geben“ ist, da sie „im allgemeinen der rechtlichen Stringenz“ ermangeln und weit davon entfernt sind, „die weltlichen Grundlagen der Herrschaft, Wahl und Geblütsrecht, zu leugnen“ (S. 97 f., 102). Wenn er trotzdem die Zusammenhänge zwischen Verfassungs- und Geistesgeschichte nicht von der realirdischen, und das heißt: von der volklichen Rechtsordnung, sondern von der gelehrten Spekulation her erfassen wollte, so kann ich mir dies nur damit erklären, daß sein Staatsbegriff derjenige einer bestimmten politischen Theologie war, die er a priori für richtig und daher für zeitlos gültig hielt. Unleugbar entstammt der Begriff des Widerstandsrechts der politischen Theologie der Neuzeit, speziell der Freiheits- und Widerstandslehre der Reformatoren, die sich dafür ihrerseits auf die altchristliche Märtyrertradition bezogen (E. Pitz 1987 S. 125 – 143, 185 – 191). Diese Lehre suchte den Widerspruch zu schlichten, der zwischen der evangelischen Satzung: „Jedermann sei der Obrigkeit untertan, denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott bestellt wäre“ (Röm 13, 1), und dem Gebot besteht: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29), und den sie zusammengefaßt fanden in dem Herrenwort: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12, 17). § 705. Die Auflösung dieses Widerspruchs leiteten Dr. Martin Luther und Johannes Calvin aus der doppelten Natur des Christenmenschen ab, aus der Unterscheidung nämlich zwischen dem leiblichen oder äußeren Menschen auf der einen Seite, den Gott unfrei gemacht und derart bedingungslos der Obrigkeit unterworfen
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habe, daß auch Tyrannen nach seinem Willen herrschten, und andererseits dem geistlichen oder inneren Menschen, den derselbe Gott in Freiheit für sein Seelenheil durch den rechten Glauben verantwortlich mache. Dem leiblichen Menschen stand demnach unter keinen Umständen ein Recht zu, der Obrigkeit zu widersprechen und nach äußerlicher Freiheit zu verlangen. Namentlich Luther erkannte keinerlei Verantwortung des Einzelnen für die irdische Rechts- und Staatsordnung an, da Gott selbst durch seine Obrigkeiten diese Ordnung von oben her, d. h. als anstaltliche, erbauen lasse. Allein der geistliche Mensch durfte und mußte da, wo eine tyrannische Obrigkeit ihn nicht nur leiblich, sondern auch in seinem Gewissen und wider den rechten Glauben zwingen wollte, deren Geboten den Gehorsam versagen. Allein auch er durfte nicht gegen seine politische Unfreiheit aufbegehren, sondern mußte die Strafe erdulden, mit der die Obrigkeit jeden Ungehorsam verfolgte. Johannes Calvin allerdings setzte wegen seines Glaubens an die göttliche Gnadenwahl der lutherischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Welt eine Grenze. Weil der Christ deren Laufe nicht träge zuschauen, sondern an ihrer Besserung gemäß den evangelischen Vorschriften arbeiten sollte, legte Calvin der äußeren Freiheit des Menschen eine höhere Bedeutung bei als Luther. Denn Gott habe nicht nur Könige und Fürsten zu Obrigkeiten, sondern auch Stadträte, Landstände und Parlamente als Volksbehörden eingesetzt, damit sein Volk bei der Bewahrung des rechten Glaubens gegenüber der Tyrannei der Obrigkeit nicht schutzlos sei. Derselbe Gott, der den Einzelnen zu passivem Widerstande und duldendem Gehorsam gegenüber staatlichem Unrecht verpflichtete, habe den Volksbehörden ein aktives Widerstandsrecht verliehen, indem er ihre Amtsgewalt nicht von der Obrigkeit, sondern, gleich dieser, unmittelbar von sich selbst abhängig machte (oben: § 391). Sowohl der altchristliche als auch der reformatorische Begriff des Widerstandsrechtes setzt also den Glauben an die göttliche Bevollmächtigung derer voraus, die als Inhaber dieses Rechtes miteinander konkurrieren und streiten: des Einzelnen, der sich vor Gott wegen seines Seelenheils, der Obrigkeit, die sich vor ihm als Bewahrer seiner Weltordnung, und der Volksbehörden, die sich vor ihm als Beschützer des Gottesvolks zu verantworten haben. Wo es solche im christlichen Glauben begründeten Pflichtbegriffe nicht gab oder gibt, da war oder ist auch für ein Widerstandsrecht kein Platz, sondern bleiben nur Pflichtenkonflikte und Normenkollisionen übrig, die die Gläubigen mit den Mitteln der jeweiligen Rechtskultur auf dieselbe Weise auszutragen haben wie die Genossen weltlicher Rechtsgemeinschaften die Kollision zwischen Normen verschiedener menschlicher Rechte. So war denn auch in der Gedankenwelt der germanischen Volksrechte und in dem von unten her erbauten Staate des Frühmittelalters, dessen königlichem Oberhaupte noch keine Obrigkeit zukam (oben: §§ 391, 405, 424), kein Raum für ein Widerstandsrecht. Wenn das Volk den König zu seinem höchsten Amtmann über
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sich erhebt, wenn der König es also aus völkischer statt aus göttlicher Vollmacht regiert, dann übt das Volk keinen Widerstand, sondern das Recht des Mandanten, so oft es den treubrüchigen oder auf andere Weise der Eignung für das Königsamt verlustig gehenden König verläßt. Noch weniger kam dem Herrscher ein Recht zu, dem einhelligen Willen des Volkes zu widerstehen, da seine Vollmacht einzig und allein auf dem Beistand beruhte, den es ihm nach Maßgabe des Volksrechts und des Herrschaftsvertrages gewährte (oben: § 638, unten: § 748b). Man mißt also das öffentliche Leben der fränkischen und ostfränkisch-deutschen Reichsvölker am Maßstabe der christlichen Kirchen und ihrer politischen Theologien, wenn man der Verfassungsgeschichte des frühen und hohen Mittelalters die Institution eines Widerstandsrechtes imputiert. Dessen war sich auf Grund seiner Quellenkenntnis auch Fritz Kern bewußt. So konnte er von dem Volke des 9. und 11. Jahrhunderts sagen: „Auch einem kirchlich beglaubigten Widerstandsrecht brachte man, ohne seine Zulässigkeit an sich zu bestreiten, im einzelnen Falle tiefe Zweifel entgegen . . . Das germanische Widerstandsrecht nun, dessen ganze theoretische Grundlage . . . die . . . Selbstbindung der Könige an Recht und Rat war, ließ sich . . . vom rein germanischen Standpunkte aus nicht grundsätzlich verwerfen. Dagegen ruhte das kirchliche Widerstandsrecht auf einer literarischen, halb theologischen, halb juristischen Theorie . . .“ (F. Kern 1914 S. 237 f.). Kern benutzte das Wort Widerstandsrecht offensichtlich für zweierlei an sich unterscheidbare Institutionen. Es geht eben immer auf kirchlichen Einfluß zurück, wenn in weltlichen Rechtsdenkmälern, die ja bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nur von Klerikern diktiert und geschrieben werden konnten, das Volk und die Großen ihr Handeln mit einem Recht auf Widerstand begründen. Dies war auch noch in der Unabhängigkeitserklärung der Niederlande von 1581 (oben: §§ 393, 702), nicht mehr jedoch in der der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 der Fall. § 706. Anstatt die beiden Rechtssysteme und die Interessen ihrer Worthalter voneinander zu scheiden, fügte Kern sie, wie im 19. Jahrhundert allgemein üblich, mit Hilfe ihrer Antagonismen oder, wie er sagt, ihres Zusammenwirkens zu einer einheitlichen Weltanschauung ineinander. Diese nennt er zwar nicht ausdrücklich christlich-germanisch (oben: § 505), dem Christlichen mißt er jedoch das Übergewicht bei, unter Berufung auf die Quellen, in denen der gedanklich durchgearbeitete und schriftlich überlieferte christliche Anteil eben deutlicher hervortritt als der germanische, der einer mündlichen Rechtskultur angehörte. Die Antagonismen beider Rechtswelten deutet Kern, freilich im Gegensatz zu Gierke den Namen nicht nennend, als Dialektik, und zwar als eine solche, die die Einheit der mittelalterlichen Weltanschauung nicht sprengte, sondern sie mit Leben erfüllte und dadurch konstituierte: „Jede ausgebildete Thesis fordert ihre Antithesis heraus; so entstand eben durch die einseitige Widerstandstheorie und ihre Mißbräuche die neue Theorie von der Unverantwortlichkeit des Herrschers“ (S. 238). Gemeint ist die Ablösung der germanistisch überformten Staatsauffassung der fränkischen Reichskirche durch die kanonistisch bestimmte der Kirchenreformer und durch die romanistisch geprägte der Stauferzeit.
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Es ist für Fritz Kern keine Frage, daß auch die Rechtsauffassungen des Volkes im Frühmittelalter von der zeitlosen politischen Theologie der Christenheit beherrscht worden seien. „Beide, das germanische Staatsgefühl und die kirchliche Weltanschauung, verbanden sich zur Vorstellung von der gottgewollten, apriorischen Notwendigkeit der Monarchie“ (S. 3). „Der freigewählte Vorsteher der Genossenschaft war mit dem . . . ebenfalls gewählten Herrscher eines Königreichs usf. für die mittelalterliche Auffassung durch weit mehr entscheidende Ähnlichkeiten in Recht und Pflicht verbunden, als durch Gegensätze getrennt,“ auch der Vorsteher war „keineswegs nur Beamter der Gesamtheit: er verwaltete zugleich ein Mandat ,von außen und oben‘, das sich am besten vielleicht als Vormundschaft über die Gemeinschaft umschreiben läßt“ (S. 4 f.). Das Mittelalter sah „vor allem die Verwandtschaft der geistlichen und weltlichen Obrigkeit: beide sind den Untertanen schlechthin übergeordnet und enthalten ein überempirisches, transzendentales Moment“ (S. 9). Daher „das frühmittelalterliche Ideal eines zwar gesetzlich beschränkten, aber doch in seinem Herrscherrecht unabhängigen, sowohl von Gottes Gnaden, wie mit dem Consensus der Gesamtheit regierenden Monarchen“ (S. 142). Dieses Gottesgnadentum war eben die notwendige Voraussetzung für die Konstruktion eines ebensolchen einheitlich kirchlich-germanischen Widerstandsrechtes, das man doch, wenn man es überhaupt anerkennen will, als Institution jenes germanisch geprägten Kirchenrechts (oben: § 685) zu verstehen hätte, das später von Dr. Martin Luther radikal verworfen worden ist, weil sein Gebot, dem göttlichen und kirchlichen Recht aktiv und gegebenenfalls auch mit Gewalt zum Siege über ein tyrannisches Regiment zu verhelfen, mit der altchristlichen Widerstandslehre nicht zu vereinbaren, kurzum: weil es germanisch und nicht christlich war: „Im Ganzen aber entschied die Kirche nach der Logik ihrer eigenen Entwicklung zur Weltbeherrschung mehr und mehr zugunsten der aktiven Widerstandspflicht. Ohne Mühe konnte sich diese Auffassung mit dem germanischen Widerstandsrecht verbinden“ (S. 218), worunter Kern hier die Möglichkeit, den Herrscher zu entthronen, versteht. Keineswegs verschloß Kern die Augen vor der Tatsache, daß geistliches und weltliches Recht, theokratisches monarchisches Prinzip und irdisches Herrschaftsrecht, göttliches Recht und Gewohnheitsrecht der Völker, volkstümliche und kirchliche Anschauungen, theologische und volksrechtliche Redeweise (S. 52, 145, 203, 368) und folglich auch kirchliche und germanische Anschauung des Widerstandsrechtes (S. 392) sich gegenseitig fremd waren und danach verlangten, einander entgegengesetzt zu werden. Beiläufig konnte er auch erwähnen, daß die „Gleichgültigkeit der Kirche gegen das germanische Staatsrecht . . . sogar auf die Vorstellungsweise der mittelalterlichen Historiker ab(färbt), die häufig mehr in antik-patristischer Redeweise, als in der Denkweise ihres eigenen Volks Staatsvorgänge darstellen“ (S. 144 A. 269), und daß die Kirche ihre hierokratischen Grundsätze niemals gegen den König durchsetzen konnte, wenn dessen Volk einmütig zu ihm stand, sondern nur dann, wenn ihr ein weltliches Parteiinteresse zu Hilfe kam (S. 232 mit A. 427).
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§ 707. Von der politisch-theologisch begründeten dialektischen Einheit der Rechtsgeschichte war Kern so fest überzeugt, daß er zwar nicht blind war für dem entgegenstehende Zeugnisse der Quellen, aber doch keine Neigung verspürte, ihnen und namentlich den darin nur dürftig beleuchteten Rechtsanschauungen der Völker nachzugehen. Er gedenkt ihrer daher lediglich in der Form eines Zugeständnisses, das ihn von der Hauptsache nicht ablenken sollte: „Zwar entbehrte sie (die christliche Obrigkeit) . . . eines solchen Volksmandates nicht; aber daneben oder darüber war sie mit einer keineswegs aus dem Willen der Gesamtheit stammenden, theokratischen Amtsbefugnis begabt“ (F. Kern 1914 S. 6 f.). Aus solcher Nebensächlichkeit des Volksmandates ergab sich kein Anreiz, danach zu fragen, wie oft die Quellen von der Königswahl reden und was sie mit dem Verbum eligere meinen. Kern kennt den Vorgang fast nur aus den Krönungsordines, und da diagnostiziert er „eine bloß rituelle Wahl“ oder „Volksabstimmung“ (S. 154, 356. H. Mitteis 1944 S. 55, 62 f.). Denn das Volk wählte zwar nach seiner Meinung den König, verlieh ihm aber nicht die königliche Gewalt: der König war nicht Beamter oder Diener, sondern Herr des Volkes (ebd. S. 271 mit A. 491). Offensichtlich war Kern der Ansicht, daß die Einsetzung und Bevollmächtigung des Königs durch Gott aus den Quellen des frühen Mittelalters nicht bloß als geistliche Interpretation weltlicher Staatsakte, sondern als allgemein anerkannte und von allen Christenmenschen geteilte Rechtsüberzeugung, mithin als Rechtstatsache zu erweisen sei. Wie wenig dies aber wirklich zutrifft, sieht man daran, daß Kern zahlreiche, seiner Meinung widersprechende Befunde einseitig beleuchten und die daraus zugunsten des Volksrechts und der Volksfreiheit zu ziehenden Schlüsse abwehren mußte, auch wenn dies nur um den Preis von Inkonsequenzen zu leisten war. So war die Behauptung, im Wahlrecht sei keine Befugnis der Wähler enthalten, über den König zu richten, da das Volk nicht die königliche Gewalt verliehen habe (S. 271 f.), nur auf die spitzfindige Erklärung zu stützen, daß es keine förmliche Verurteilung eines Königs, der das Recht brach oder den Ratschlag des Volkes verachtete, durch ein Gerichtsverfahren gegeben habe; da sich die Untertanen in diesem Falle zum Widerstand berechtigt fühlten, auch ohne zuvor das Hofgericht anzurufen, kennzeichneten diesen Widerstand seine Formlosigkeit, die Unsicherheit der Abgrenzung von Recht und Gewalt, die Nähe zu anarchischer Empörung (S. 171, 204, 272 f.). Indessen nennt Kern selber zwei Bedingungen, unter denen solcher Widerstand rechtmäßig war, sobald er nämlich vom consensus omnium getragen war und mit der Wahl eines neuen Königs endete (S. 172 f., 324 f.). Da er außerdem weiß, daß König Karl in den Jahren 842 und 856 den Widerstand der Großen als rechtmäßig anerkannt hat (S. 444), ist klar, daß er den Vorwurf der Formlosigkeit nur vom Standpunkt einer anderen Rechtsordnung, und zwar von dem des kanonischen und römischen Rechtes, aus erheben konnte, beziehungsweise vom Standpunkte jenes einheitlichen christlich-germanischen oder europäischen Rechtes aus, innerhalb dessen der Gegensatz zwischen jenem und dem germanischen Volksrecht lediglich auf eine interne, die Einheit bestärkende Dialektik hinausläuft. Der Leser versteht,
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daß eine solche Denkweise nicht dazu einlädt, der scheinbaren Formlosigkeit des Volksrechtes auf den Grund zu gehen und sich zu fragen, wie die Schöffen, Urteilsfinder und Richter der germanischen Reichsvölker über ihr Wahl-, Mitregierungs-, Widerstands- und Absetzungsrecht gedacht haben mochten. Zwar konzediert Kern dem Volksrecht, daß der Herrscher dem verantwortlich geblieben sei, von dem er die Herrschaft empfing, sei dies nun Gott oder das Volk, aber er meint, die Kurfürsten des Spätmittelalters hätten „viel eher eine rechtsförmliche Kontrolle über die Regierung des von ihnen Gewählten ausüben (können) als die frühere formlose Menge der Königswähler“ (S. 271 A. 491), zumal „ein Absetzungsrecht des Volkes als einfaches Korrelat des Wahlrechts in christlicher Zeit schon darum nicht möglich (war), weil der Herrscher ja selbständige Rechtstitel außer der Wahl besitzt“ (S. 379). Warum dann noch nach dem Recht der Großen fragen, namens des Volkes zu wählen und mitzuregieren? Zwar hören wir von „der organisierten Gesamtuntertanenschaft“ und ihrem Recht, den König „mit Gewalt zur Innehaltung des Rechts zu zwingen“ (S. 168), wir hören, daß Recht nur sein konnte, was die einhellige Gesamtheit anerkannte und der Herrscher gebot (S. 151), daß sich die Vertretung der Gesamtheit durch die Großen von selbst verstand, „ohne daß für diese Repräsentation ein konstitutiver Akt oder eine feste Regel angenommen worden wäre“ (S. 325), aber dies alles hat kein näheres Nachforschen zur Folge, sondern die um des Gottesgnadentums willen notwendige Entwertung zur bloßen Fiktion: „Wie wenig juristisch faßbar aber auch das Auswahlprinzip für die Volksvertretung ist, so klar wird in den Akten der Herrscher die Fiktion festgehalten, daß die Zustimmung der ,magnates, proceres, barones‘ usf. die Zustimmung der Volksgesamtheit vorstelle und darum gültiges Recht schaffen könne. Es wird fernerhin, obwohl Widerspruch Einzelner im Rat nicht selten ist . . . , die Fiktion der Einstimmigkeit der Volksgesamtheit bei dem Konsens festgehalten“ (S. 325). § 708. Außer im Interregnum, wo das selbständige Handeln der Gesamtheit durch die Großen unbestreitbar ist, kann es Reichs- oder Volksversammlungen als „regelmäßige Vertretungen der Gesamtheit“ nur mit königlicher Genehmigung geben (F. Kern 1914 S. 316 f.). Daher gilt zwar einerseits der Satz: „Auf dem Dualismus von Herrscher und Volk beruhte das mittelalterliche Widerstandsrecht in allen seinen Formen“ (S. 442 f.), weshalb in die beiderseitigen Verpflichtungen „das Vertragsmoment stets hineingedeutet werden konnte“, aber andererseits: „Worauf es hier ankommt, ist, daß das Vertragsmäßige weder in den Rechtsformen noch in der Auffassung der Zeitgenossen im Vordergrund des Herrschaftsverhältnisses steht: geschweige denn, daß das ganze Herrschaftsverhältnis darin aufzulösen wäre“ (S. 369, 157 f., 258 f.), da es sich ja wesentlich auf die göttliche Bestallung des Königs gründete. So ist denn auch die Annahme einer rechtmäßigen Mitregierung des Volkes im Reiche unzulässig. „Der König als das alleinige Zentrum aller Reichsgeschäfte, dem gegenüber weder einer Einzelperson noch einer Versammlung von Untertanen eine formelle Initiative oder ein formelles Veto zustand, hatte es in seinem Belieben, nicht nur ob, sondern auch von wem er Rat und Zustim-
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mung einfordern wollte“ (S. 328). Zwar habe sich dawider im 9. Jahrhundert ein förmliches Mahnverfahren ausgebildet, und hörte der König nicht auf den Rat der „unbestimmten Massen der proceres, optimates oder fideles nostri, welche als Vertreter der Gesamtheit den König mahnen,“ so berechtigte er sie damit zwar zu gewaltsamem Widerstande, aber die monitio blieb eine „ungewöhnliche Maßregel . . . , die immer hart an die Revolte streift“ (S. 331 – 334). Die Umdeutung des Volksrechts und seiner von unten her aufgeführten Verfassung in ein Widerstandsrecht theokratischer Herkunft läßt sich offenkundig nur dann durchführen, wenn man davon absieht, die Institutionen des Volksrechtes näher zu bestimmen und zu einem Ganzen zu verknüpfen, und wenn man statt dessen den Staat des Mittelalters dem Vorbilde des späteren Anstaltsstaates möglichst weit annähert: „In der Tat haben mächtige und energische Könige des Mittelalters mehr oder weniger absolut regiert . . . Schon im frühen Mittelalter ist darum eine tätige Politik immer mit einer mehr oder minder ausgeprägten absolutistischen Rücksichtslosigkeit des Herrschers verbunden gewesen. An seinem Willen zur Eigenmächtigkeit hing die alleinige Möglichkeit einer Steigerung der Befugnisse und Machtquellen des Staates“ (S. 162 f.). Scharf tritt der Anachronismus dieser Auffassung in der Behauptung hervor, auch im Königsgericht hätten die Urteilsweiser nur eine beratende Stimme gehabt, denn wie gegenüber den Ermahnungen der Großen, so hatte auch gegenüber dem Weistum der Fürsten allein der König die Entscheidung: „Wäre es anders, so würde der König nicht mehr König, sein Gericht irgendwie Volksgericht, aber kein Königsgericht mehr sein“ (S. 336). Nach germanischem Rechte indessen war es anders, war die königliche Verfügung oder Sanktion für sich allein kein gerichtliches Urteil, gab es, bevor im Spätmittelalter gelehrte Juristen die Königsrechte im romanistischen Sinne deuteten, keine persönliche Jurisdiktion des Königs. Anstatt sich damit bekanntzumachen, was eigentlich im früheren Mittelalter ein Urteil gewesen ist, hat Kern die für dinggenossenschaftliche Rechtsfindung typische Trennung der Aufgaben des Richters von denen der Urteiler verdunkelt und damit eine Lehre begründet, die zwar von Rechtshistorikern längst widerlegt worden ist (G. Köbler 1971 S. 16 – 18, 221 – 223. J. Weitzel 1985 S. 1272 – 1281), aber ihren Einfluß auf die Erforschung des Mittelalters immer noch nicht verloren hat. Was Fritz Kern, ohne es ausdrücklich festzustellen, wirklich unternommen hat, wäre demnach der Versuch, den Staat des hohen Mittelalters als von Gott installierten Anstaltsstaat zu erweisen, dessen Insassen auf die Anstaltsordnung, der sie sich unterworfen fanden, eigentlich nur im Wege der gewalttätigen Rebellion Einfluß nehmen konnten, da sich das Recht auf Königswahl, Mitregierung und Verlassung des Herrschers wegen seiner Formlosigkeit doch im wesentlichen als Nicht-Recht herausstellt. Kern konnte mühelos zugeben, daß die Ingredienzien, die in die absolutistische Staatsrechtslehre der Neuzeit eingingen, als Erbmonarchie, Souveränität, Unverantwortlichkeit des Herrschers vor dem Volke und Legitimität, je einzeln dem frühen und hohen Mittelalter durchaus unbekannt waren, denn aus der Entwertung aller wohlbezeugten Volksrechte am und im Staate und aus der Verdunk-
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lung des Zusammenhangs, der sie im Rechtsdenken der germanischen Völker miteinander verknüpfte, ergibt sich von selbst die Erkenntnis: Recht hatte in dem Gemeinwesen im Grunde genommen nur der von Gott eingesetzte König, und soweit von Volksrechten die Rede sein konnte, beruhte deren Geltung auf königlicher Konzession. Kein Historiker hat Kern seither in der Kunst übertroffen, diese Staatsvorstellung mit den Zeugnissen der Quellen in Einklang zu bringen. Gerade deswegen aber scheint mir die Fülle der Inkonsequenzen, die Kern nicht beseitigen konnte, zu beweisen, daß seine Auffassungen falsch sein müssen. § 709. Vermutlich wegen seiner politisch-theologischen Herkunft war das Wort Anstaltsstaat auch sonst unter Historikern unbeliebt. Sie überließen es den Juristen, Nationalökonomen und Soziologen, und nur soweit sie deren universalhistorisch vergleichende Begriffsbildung (M. Weber 1921 / 72 S. 29, 361, 416 – 419, 425 f., 429) zur Kenntnis nahmen, konnte es auf sie noch Einfluß ausüben. Maßgeblicher Vermittler war der Berliner Historiker Otto Hintze (1861 – 1940). Er bestimmte, den Begriff „in einer weiteren soziologischen Bedeutung“ verwendend (O. Hintze 1931a S. 472), den Anstaltsstaat als zweckgerichteten bürokratischen Betrieb mit Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol und vermutete, „letzten Endes führt(e) auch die heutige demokratische und parlamentarische Staatsordnung überall auf eine herrschaftliche Zwangsanstalt zurück, die in ihrem Kern auf Waffengewalt beruht. Der moderne Staat ist . . . durch den Geist und Willen von starken, klugen und gewalttätigen Menschen gemacht worden“ (1931b S. 206 f.) und folglich im Wesen katatektonisch. Diesem neuzeitlichen Behörden-, Steuer- und Ständestaat (oben: §§ 390 – 392) und seinem intensiven, rationalen Betrieb stellt Hintze den älteren, extensiv und unrationell tätigen Staat gegenüber, dessen Idealtypus er für Europa auf Grund der feudalen Verfassung des Fränkischen Reiches und seiner Nachfolgeund Nachbarstaaten meint ermitteln zu können (1929a S. 85). Georg von Belows Deutung verwerfend, spricht Hintze dem Feudalstaat das Wesen eines wirklichen Staates mit Untertanenverband, Anstaltscharakter und Rechtspersönlichkeit ab; statt dessen eigne ihm erstens ein partikularistischer Zug infolge unvollkommener Integration älterer Bestandteile zu einem staatlichen Ganzen, zweitens ein patrimonialer Zug infolge Überwiegens des persönlichen über das anstaltliche Moment in der Ausübung von Herrschaft, die der König am wirksamsten in Verbindung mit seiner haus- und grundherrlichen Machtstellung wahrnehme, und drittens ein hierarchischer Zug infolge mangelnder Abgrenzung der weltlichen von der geistlichen Gewalt und einer Staatsordnung, die alle Herrschergewalt als von Gott herrührend begründete (ebd. S. 86). Man sieht, wie weit die soziologische Begriffsbildung an Präzision hinter der rechtsgeschichtlichen zurückbleibt. Hatten wir zunächst verstanden, daß der Anstaltsstaat begrifflich dem Feudalstaat, den er abgelöst habe, entgegenzusetzen sei, so hören wir nun, daß man dem Feudalstaat wegen seines patrimonialen Grundzugs auch den anstaltlichen Zug nicht absprechen könne, der im Ständestaat hervorzutreten beginne und den Übergang zum modernen Anstaltsstaat vorbereite (ebd. S. 118 f.). Je gründlicher seither die Geschichtsforschung die Zusammen-
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2. Teil: Der Staat
arbeit mit der Rechtsgeschichte einstellte und sich für soziologische und sozialökonomische Auffassungen öffnete, desto bunter färbte sich, wie bereits in der Frage der Ämterverfassung festzustellen war (oben: §§ 555, 556), die Vielfalt zulässiger Meinungen, um nicht zu sagen: der Meinungswirrwarr, der daraus resultierte. So ersetzte Theodor Mayer (1939 S. 466, 486 f.) das Begriffspaar Feudalstaat – Anstaltsstaat durch eine Dreiheit, von der allerdings nur die Opposition Personenverbandsstaat – institutioneller Flächenstaat wirksam geworden ist. Als Kennzeichen des ersteren stellte Mayer den scharf ausgeprägten Dualismus von Königtum und Volk bzw. Adel, die geringe anstaltliche Ausgestaltung und die Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Führers heraus, infolgederen jeder Herrscherwechsel eine schwere Krise ausgelöst habe. Der moderne Staat, als monistischer Flächenherrschaftsstaat mit stark ausgebildetem anstaltlichem Charakter, liege dagegen „auf einer ganz anderen Ebene und (habe) sich nicht einfach aus dem Staat des frühen Mittelalters heraus entwickeln können. Der Übergang vom aristokratischen, dezentralistischen . . . Personenverbandsstaat . . . zum institutionellen Flächenstaat“ habe sich vielmehr durch Vermittlung eines „zentralistischen feudalen Personenverbandsstaat(es)“ vollzogen, dessen Entwicklung das Ziel der Verfassungspolitik Kaiser Friedrichs I. gewesen sei: „Das Lehnrecht sollte die monistische Grundlage für ein umfassendes Reichsrecht abgeben. Auf dem Wege über das Lehnsfürstentum sollte an die Stelle des aristokratischen Reiches, dessen Verfassung einen zweipoligen, dualistischen Ausgangspunkt hatte, ein feudaler Staat, bei dem alle Funktion von einem Pol hergeleitet wurde, der also monistisch war, treten . . . Das Lehnrecht ist seiner Natur nach monistisch und zentralistisch, bei ihm sind alle Rechte des Einzelnen von der obersten Zentralgewalt abgeleitet. Dieser lehnrechtlichen Form des Staatsrechtes steht die aristokratische scharf gegenüber, die auf dem Gedanken der Eigenständigkeit der Rechte des Adels ruht“ (ebd. S. 483 f.). So richtig an dieser Lehre die Spätdatierung des Feudalstaates ist (oben: §§ 590 – 598), so problematisch bleibt der Begriff des Personenverbandsstaates. Denn mindestens seit dem Ende der Völkerwanderungen war auch er insofern Flächenstaat, als sich seine Herrschaft oder Staatsgewalt auf ein bestimmtes Gebiet bezog und innerhalb desselben unmittelbar allen Grund und Boden nebst den darauf befindlichen verbandsfremden Leuten ergriff (K. G. Hugelmann 1955 S. 81. S. Reynolds 1994 S. 26 f., 476 f. Oben: §§ 202, 203). An ein von unten her erbautes Staatsgebilde hat Mayer dabei gewiß nicht gedacht (oben: § 332). § 710. Die Beliebigkeit, mit der die von F. Kern, O. Hintze und Th. Mayer geprägten Begriffe seither verwendet werden, macht es mir zur Gewißheit, daß sie nicht zutreffen können. Wie bereits die Soziologen den Anstaltsstaat von seiner theologischen Herkunft emanzipiert hatten, so machten jetzt Historiker das Widerstandsrecht zu einem frei verfügbaren Begriff, kann man doch sogar von den Bürgergemeinden, wenn sie ihre Ratmannen verließen und verjagten, sagen, sie hätten sich eines Widerstandsrechtes bedient, allerdings eines im genossenschaftlichen Verständnis begründeten (W. Ehbrecht in LMA 1 Sp. 1206 f.), da ja den Stadträten
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keine Obrigkeit zukam, geschweige denn, daß sie sich selbst oder andere ihnen ein Herrenrecht von Gottes Gnaden beigelegt hätten (E. Pitz 2001 S. 242 – 244). Man kann aber auch von Kaiser Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen sagen: „Der Unterschied zwischen Gesamt- und Unterherrschern ist im Frühmittelalter nur durch patrimoniale Vorstellungen zu erklären“ (B. Kasten 1997 S. 214). Anderswo ist zu lesen: „Königsherrschaft meint ein hierarchisch strukturiertes Ordnungssystem“, darin „Strukturen und Machtmittel des Königtums im Dialog mit dem adligen Personenverband – je einzeln zum König – und den hierarchisch organisierten, vasallitischen Gefolgschaftsordnungen“ erkennbar seien (A. Krah 2000 S. 11, 14), wenn nicht durch die während des Herrscherwechsels „für kurze Zeit eintretende Autarkie emanzipierter, politisch eigenständig agierender Gefolgschaftsverbände . . . das hierarchische Prinzip von Über- und Unterordnung vorübergehend außer Kraft gesetzt“ und das von O. Gierke „erkannte Axiom“ wirksam wird, „das alle Interaktion zwischen Herrscher und Magnaten bündelt: ,Der Gesamtheit gebührt die Feststellung der Rechtsordnung, der Obrigkeit ihre Verwirklichung‘. Die ,Gesamtheit‘ intendiert das ,Staatsvolk‘ und ist . . . als Begriff zu differenzieren, indem besser von einem Zusammenschluß divergierender Kräfte ausgegangen wird und einem ,Herrschaftsvertrag‘ der geistlichen und weltlichen Magnaten mit dem König“ (ebd. S. 22). Wie kann dies alles unter sich und mit den „tradierten dynastischen Hausrechtsvorstellungen“ oder „tradierten erbrechtlichen Gewohnheiten“ übereinstimmen, nach denen „Ludwig der Fromme das Reich wie Privatbesitz unter seine Söhne aufteilen“ durfte (ebd. S. 21, 49, 162)? Als letztes Wort der verfassungsgeschichtlichen Arbeit vieler Generationen von Forschern ist dies alles nicht hinnehmbar. Solange wir nicht ohne die in diesem Kapitel vorgestellten Begriffe und Denkweisen auskommen, um ihn zu beschreiben, können wir den Staat des hohen Mittelalters noch nicht richtig verstanden haben.
Einundzwanzigstes Kapitel
Das Interregnum §§ 711 – 720. Reichsregierung im Interregnum § 711. Zwölf Jahrhunderte lang hat die Mystifikation des Königtums, auch wenn sie sich im Mittelalter nur erst langsam entfaltete, die Auffassung und das Wissen der Gebildeten vom Staate beherrscht. Gleichwohl besteht für die Verfassungsgeschichte, da sie weder Geistes- noch Religionsgeschichte ist, kein Anlaß, die Gedankenwelt der Krönungsordines in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Es genügt ihr, die Mystifikation zu durchschauen, um aus ihr auf die weltliche Verfassung des Königtums zurückzuschließen, die zu interpretieren ihr obliegt. Die Vorstellung, daß alle Herrschergewalt von Gott stamme, war den nur erst äußerlich christianisierten Völkern des frühen und hohen Mittelalters fremd. Allein der gebildete Teil der Geistlichkeit und einige wenige Laien wie der Karolinger Nithard (oben: § 611) oder später Kaiser Heinrich II. (St. Weinfurter 2000 S. 25 f.) waren mit ihr vertraut und bedienten sich ihrer, um der Welt den geistlichen Sinn der Königserhebung und Königsmacht zu verkünden. Die Rechtsauffassung des Volkes jedoch ist davon bis zum Ende des Mittelalters unberührt geblieben. Die Männer, die in den Dingversammlungen und Landtagen und in der Reichsversammlung öffentlich tätig waren, bedurften keiner solchen Hilfsmittel, um zu verstehen, was Macht bedeutet und wie sie in die Hände ihrer Häupter und Fürsten gelangte. So gut wie die Weltkinder aller Zeiten wußten sie, daß sich Macht im Miteinander Vieler bildet und auf der „niemals ganz zuverlässigen und immer nur zeitweiligen Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen“ beruht (H. Arendt 1958 S. 254). Wie Königsmacht im hohen Mittelalter entstand, läßt sich am besten von der Geschichte der sogenannten Interregna ablesen, jener Zeiträume, die regelmäßig mit dem Tode eines Königs eintraten und erst mit dem vollgültigen Regierungsantritt des Nachfolgers endeten. Es waren das Zwischenzeiten, in denen es keine vollmächtige Reichsregierung gab (denn daraus, daß die Fürsten während des Interregnums von 1125 die Brixener Bischofswahl bestätigten, RI 4, 1, 1 n. 92, S. 52 Z. 15 – 18, 61 Z. 38 – 42, wage ich keine entgegengesetzten Schlüsse zu ziehen) und der Reichsuntertanenverband ohne die Leitung einer solchen versuchen mußte, die an ihn zurückgefallene königliche Gewalt möglichst rasch neu zu konstituieren, da ihm sonst die Gefahr der Anarchie und Selbstauflösung drohte. Eine Möglichkeit, dieser Gefahr vorzubeugen, bot sich der Reichsregierung nur dann, wenn aus der Ehe des Königs ein regierungsfähiger Sohn hervorgegangen war und der Vater
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2. Teil: Der Staat
noch zu Lebzeiten die Reichsversammlung dazu bewegen konnte, diesen als seinen Nachfolger anzuerkennen. Für den Fall jedoch, daß ein König ohne leiblichen Nachkommen starb, mußte die Reichsverfassung auf andere Weise Vorsorge treffen. Denn dann fiel das Reichsvolk gewissermaßen in seinen Urzustand zurück, ja es mochte versucht sein, sich aufzulösen, wenn die Teilverbände nicht willens waren, reichstreu zu bleiben und das Reich aus ihrem freien politischen Willen heraus neu zu begründen. So verstrichen vom Juni 887, als die ostfränkischen Großen begannen, Kaiser Karl III. zu verlassen, bis zum Beginn der Regierung seines illegitimen Neffen Arnulf mindestens fünf Monate, und dieser Beginn trat so wenig klar hervor, daß nicht einmal Arnulfs Kanzlei Wert darauf legte, sein Datum festzuhalten. Nach dem Tode Ludwigs des Kindes, des letzten ostfränkischen Karolingers, vergingen im Jahre 911 anderthalb Monate, nach dem Konrads I., des einzigen Konradiners auf dem Throne, 918 fünf, nach dem des letzten Ottonen im Jahre 1002 viereinhalb, des letzten Liudolfingers 1024 zwei, des letzten Saliers 1125 gut dreieinhalb, des einzigen Süpplingenburgers 1137 drei Monate, bevor die Großen des Reiches einen Nachfolger erkoren und zu seinem Amte erhoben hatten (J. W. Busch 1995 S. 7). Den Interregna sind die Zeiträume vergleichbar, in denen ein legitimer Sohn des verstorbenen Königs zwar vorhanden und als Nachfolger anerkannt, aber wegen mangelnden Lebensalters nicht regierungsfähig war, so daß er und das Reich einer vormundschaftlichen Regierung bedurften (ebd. S. 13). Dies war in der Regierungszeit Ludwigs des Kindes von 900 bis 909 (E. Dümmler 1887 – 1888 Bd. 3 S. 553), Ottos III. von 983 bis 994 und Heinrichs IV. von 1056 bis 1065 (Gebhardt Hdb. 1970 S. 268, 328) der Fall. Die Verfassungsgeschichte hat den Interregna bisher wenig Aufmerksamkeit zugewendet. Erst vor wenigen Jahren sind sie einmal zum Thema einer vergleichenden Betrachtung gemacht worden (J. W. Busch 1995). Fritz Kern (1914 S. 315 f.) hatte einst konstatiert, daß während des Interregnums die Gesamtheit die Initiative erlangte, ihr einziges Geschäft jedoch die Herrscherwahl war; vor dem 14. Jahrhundert habe kein Zeitgenosse es jemals ausgesprochen, „daß das Volk im Interregnum Träger der Staatsgewalt sei . . . Vorher behalf man sich formell damit, Gott als den eigentlichen Regenten im Interregnum zu bezeichnen, bzw. den Heimfall der monarchischen Gewalt an ihn zu konstatieren.“ Dabei ist es bis heute geblieben (St. Weinfurter 2000 S. 261). Eine sich selbst eng an die Quellen bindende Forschung versagte es sich, danach zu fragen, welche Vorstellung von dem Rechte, selbst die Staatsgewalt auszuüben, der Gesamtheit oder dem Volke vertraut gewesen sein, und welche Einrichtungen ihnen zur Verfügung gestanden haben könnten, um dies zu tun. § 712a. Die Quellen haben für die königslose Zeit keinen besonderen Namen (J. W. Busch 1995 S. 5). Dies scheint mir nicht dafür zu sprechen, daß Volk und Fürsten in ihr einen verfassungslosen, anarchischen Ausnahmezustand erblickt hätten. Gewiß ist es richtig, daß in ihr Raub, Brand und Mord überhandzunehmen
21. Kap.: Das Interregnum
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drohten (ebd. S. 5 f., 14), da die Bewerber um das höchste Amt versucht waren, ihren eigenen Anhängern Nachsicht zu erweisen und die der Rivalen mit Gewalt auf ihre Seite zu zwingen. Allein wie von den Ländern (oben: §§ 331, 590), so gilt vom Reiche der Satz: Es konnte, es mußte aber nicht einen Herrn haben, denn es bestand, als vergleichsweise unsterbliche Verbandsperson (oben: § 601), auch in den herrenlosen Zwischenzeiten fort, galt doch das Treugelübde jedes einzelnen Untertans nicht nur dem sterblichen Könige, sondern auch dem Reichsuntertanenverbande, zu dessen Genossen sich jeder Schwörende machte (oben: §§ 661, 673). Und mit der Reichsgemeinde blieben die hohen Reichsämter bestehen, denn nur insoweit hingen sie vom Könige ab, als dieser selbst Reichsamtmann und mit der Aufgabe betraut war, sie zu bestallen. Darüber hinaus aber gehörten sie wesentlich zur res publica, die sie sich durch den König bestellen ließ und die nicht mit dessen Tode unterging (oben: §§ 624 – 631). Hätten die Amtsinhaber ihre Autorität und Vollmacht allein von dem Willen des Königs ableiten können, der sie bestallte, so wären sie keine öffentlichen Amtleute, sondern bloß Haus- und Hofbeamte und als solche lediglich Königsdiener gewesen (oben: §§ 419 – 421), und ihre Vollmacht hätte ebenso mit dem Tode des Königs erlöschen müssen, wie es später die der kaiserlichen Reichshofräte und analog in den Territorien die der Geheimen Räte tat, die mit dem Tode ihres Herrn abtreten mußten. In Wahrheit aber gehörten die Reichsamtleute zu dem unsterblichen Ganzen des Reiches und seiner Länder, und daher blieb ihre Vollmacht auch während des Interregnums rechtskräftig, gleich der des späteren Reichskammergerichtes im Reiche und analog der der Lehns- und Justizkanzleien in den Landesstaaten (E. Pitz 1963 S. 62 f., 91, 1964 S. 84, 89). Zu diesen Amtleuten, die im Interregnum von Rechts wegen handlungsfähig blieben und daher zur Regierung des königslos gewordenen Reiches berufen waren, gehörten mit Kompetenz für das gesamte Reich im Spätmittelalter die Inhaber der Erzämter, also die drei rheinischen Erzbischöfe als Inhaber der Erzkanzlerämter für Deutschland, Italien und Gallien, sowie der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhmen als Reichs- oder Erztruchseß, -marschall, -kämmerer und -mundschenk (Ssp. Ldr. III 57 § 2. D. Willoweit in LMA 3 Sp. 2101. W. Rösener in LMA 5 Sp. 68). Es scheint mir nicht zuzutreffen, daß sich die Vorzugsstellung, die diesen sieben Amtleuten später als Kurfürsten bei der Königswahl zufiel, nicht auf ihre Aufgaben als Erzamtleute des Reiches gegründet haben könne (H. Mitteis 1944 S. 173); mich dünkt, es seien die Volksrechte gewesen, die diese Amtleute vor anderen mit der Pflicht belasteten, während des Interregnums das Reich zu regieren und für die Erhebung eines neuen Königs zu sorgen. Erst in zweiter Linie traf diese Pflicht auch die Reichsamtleute mit regionaler Kompetenz, als Herzöge, Bischöfe, Reichsäbte, Großgrafen und Dinggrafen, die ebenfalls nicht nur vom König, sondern auch von ihren Völkern erhoben worden waren und in ihren Ländern dafür zu sorgen hatten, daß nicht das Ganze in Anarchie versank. § 712b. So hören wir denn auch zu 1002 und 1125, daß sich die Großen und Fürsten, die sich in einem Interregnum versammelten, um einen neuen König über
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sich zu erheben, de statu rei publicae oder de re publica (Thietmar IV 52, V 4) oder de statu et pace regni (Encyclica principum de eligendo rege: MGH. Const. 1, 165 n. 112. J. W. Busch 1995 S. 15 f., 23) berieten: Verantwortlich waren sie dem Reiche, unter dem wir uns das Volk in seiner Verfassung als dessen Untertanenverband vorzustellen haben. Dieses Reich und seine Verfassung existierten unabhängig davon, ob ein König an der Spitze stand, solange sich nur das Volk darüber einig war, einen solchen über sich erheben zu wollen. Längst hatte die geschichtliche Erfahrung den Rechtssatz begründet, daß das Volk nicht dazu befugt war, das Königtum abzuschaffen und die Anarchie zu wählen (oben: §§ 167b, 645). Auch in Zeiten der Akephalie hatten die Rechte des Volkes offenbar eine verfassungsmäßige Grenze, wie mindestens seit der Karolingerzeit allgemein anerkannt war (oben: § 601). Das Interregnum war ebenso sehr eine Institution der Verfassung wie die Königserhebung während desselben und ihre Vorbereitung zu Lebzeiten des Königs. Diese war geboten, weil man sich der Schwerfälligkeit öffentlicher Willensbildung nach den Regeln des Identitätssystems und daher auch der Gefahren bewußt war, die von den Parteiungen der Wähler (factiones, oben: § 623) ausgingen und den inneren Frieden des Volkes im Interregnum bedrohten. Es gab demnach durchaus Amtleute, denen es oblag, während der königslosen Zwischenzeiten das Reich zu regieren und Frieden und Rechtssicherheit zu erhalten. Im 9. und 10. Jahrhundert waren das die Herzöge und Großgrafen, aus deren Mitte im Jahre 1002 die Bewerber um das Königsamt hervorgingen (J. W. Busch 1995 S. 9, 14), im späteren 10. und im 11. Jahrhundert mehrfach geführt von der Königinwitwe (ebd. S. 13 f., 16 – 18), und schließlich im 12. Jahrhundert die geistlichen und weltlichen Fürsten, die im Begriff waren, zur Landeshoheit emporzusteigen (ebd. S. 18 – 23). Ebensowenig erlitten die Rechtsverhältnisse des Reichsgutes durch den Tod des Königs und das Interregnum eine Störung. Betroffen war davon ohnehin nur derjenige Teil desselben, den der König selbst genutzt hatte und den man als zu seinem Stuhle oder Throne gehörig (MGH. Const. 1, 645 n. 439 Z. 20) und später als königliches Tafelgut zu bezeichnen pflegte, denn diejenigen Reichsgüter, die der Herrscher den Reichskirchen, den Grafen oder seinen Vasallen zur Nutzung übertragen hatte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 4 S. 140 – 175, Bd. 8 S. 241 – 246. C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 83 – 89. Th. Kölzer in LMA 8 Sp. 403. Oben: §§ 303, 558), verblieben über seinen Tod hinaus in der Verwaltung der Bischöfe, Reichsäbte, Grafen und Vögte, denen und deren Ding- und Hofgemeinden er sie zu seinen Lebzeiten anvertraut hatte. Daß aber auch das Reichskönigsgut während des Interregnums seinem Zwecke nicht entfremdet würde, dafür hatten die Ding- und Landesgemeinden zu sorgen, in deren Bezirken es gelegen war (oben: §§ 429, 500 – 502, 525, 534, 572). Nach beendetem Interregnum nämlich hatten sie dem neuen Könige den Besitz des Amtsvorgängers nachzuweisen, sobald jener ihre Worthalter darüber nach den Regeln des Inquisitionsverfahrens unter Eid befragte (MGH. Const. 1,
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645 n. 438). Zu den Treuepflichten, die Kaiser Karl der Große von den Untertanen hatte beschwören lassen und die, weil auch dem Reiche geltend, während des Interregnums nicht erloschen, gehörte es, den betrügerischen Erwerb von Reichsgut zu unterlassen und Dritte daran zu hindern (oben: § 668). Die verbündeten Stadtgemeinden des Königreichs Italien erkannten diese Pflicht im Konstanzer Frieden von 1183 auf Verlangen Kaiser Friedrichs I. ebenso an (Const. 1, 409 S. 293 c. 27), wie sich die Mitglieder des Rheinischen Städtebundes im Jahre 1256 mitten im Interregnum freiwillig zu ihr bekannten: Bona etiam regalia, quamdiu vacaret imperium, totis viribus defendere promisimus, unicuique in sua possessione permanente (Const. 1, 579 n. 428, IX c. 2, S. 586 Z. 24 – 25. Oben: § 680). § 713. Manches weist darauf hin, daß der Reichsuntertanenverband und dessen Partikulargemeinden das Reichsgut während des Interregnums nicht nur im Auftrage des verstorbenen Königs, sondern auch aus eigenem Rechte verwalteten, nämlich als dessen Eigentümer, die es jedem Könige bei dessen Regierungsantritt zur Verfügung stellten und es, sobald er abgesetzt wurde oder verstarb, wieder an sich nahmen (im Reiche hätte dann dasselbe Recht gegolten wie im Herzogtum Kärnten, oben: § 534). Nur wenn man dies voraussetzt und annimmt, das Volk habe den Umfang der Güter im Verhältnis zu den Aufgaben, die es dem Könige übertrug, jederzeit neu bemessen können, scheint mir das Verhalten der Pavesen verständlich zu sein, die während des Interregnums von 1024 die in ihrer Stadt gelegene Königspfalz zerstörten (oben: § 626). Fiel aber das Königsgut mit dem Tode des Herrschers an das Volk als seinen Eigentümer zurück, so brauchen wir nicht zu unterstellen, was rechtlich gar nicht möglich gewesen sein kann, daß nämlich die Worthalter des Volkes und Amtleute des Reiches es in königslosen Zeiten usurpierten, und damit erklärt sich auch, warum während des großen Interregnums von 1250 bis 1273 keine Revolution der Reichsverfassung eingetreten ist. Länder und Landesherren, Stadtgemeinden und deren Räte (diese je nach Umfang des Kommuneprivilegs, oben: §§ 240, 241) nahmen pflichtgemäß in Verwaltung, was ihnen gehörte, und vorenthielten es dem neuen Könige insofern mit Recht, als die Wähler dessen Amtsaufgaben gegenüber denen der früheren Könige erheblich verringert haben mochten. Der oft hervorgehobene synonymische Gebrauch der Adjektive regius und publicus muß keineswegs bedeuten, daß der König Ursprung alles öffentlichen Rechtes und Gutes gewesen sei, sind es doch nicht die Quellen, sondern die Lehren vom feudalen, patrimonialen und theokratischen Staate, die eine solche Deutung erfordern. Lat. publicus heißt vielmehr das, was dem Volke gehört und vom Volke übertragen oder empfangen wird (oben: §§ 300b, 305, 474, 476, 516, 606), und was königlich war, konnte nur deswegen zugleich öffentlich oder des Volkes sein, weil der König sowohl seine Amtsgewalt als auch das Königsgut vom Volke empfangen mußte, das ihn erkor und bevollmächtigte. Wenn das Volk den König über sich erhob, verlieh es ihm die Gewere am Königsgut so, daß er es entweder selber nutzen oder die Gewere an die Amtleute des Reiches weitergeben konnte, und so,
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daß ihm, dem Volke selbst, während des Interregnums die Zwischennutzung (Regalienrecht: D. Hägermann in LMA 7 Sp. 558) zustand. Die Wissenschaft freilich zieht es vor, das Reichsgut als während des Interregnums herrenlos zu betrachten; so wenig gefällt ihr die Vorstellung, das Reich, will sagen: das Volk oder der Reichsuntertanenverband, sei nach germanisch-deutscher Rechtsauffassung sein Eigentümer gewesen. So schreibt Heinrich Mitteis (1944 S. 90): „Zweifellos erwarb der König mit der Thronbesteigung die Gewere am Reichsgut und an den Regalien . . . ; übrigens erwarb er sie nicht etwa als Eigengewere, sondern als treuhänderische Gewere am Reichsgut, sonst hätte ja gerade nach unserer Feststellung, daß das Reich nicht nach Erbrecht übergehen konnte, sondern stets von neuem erworben werden mußte, immer eine Besitzunterbrechung stattfinden müssen, und die Pavesen wären im Recht gewesen, als sie die verhaßte Königspfalz niederbrannten. Aber sie hatten nicht Königsgut, sondern eben Reichsgut zerstört, und eine Ahnung davon muß doch auch schon Konrad II. gehabt haben, wenn er ihren Gesandten zurief: Si rex periit, regnum remansit . . . Aedes publicae fuerunt, non privatae.“ Der Sinn dieser Sätze bleibt weitgehend im Dunkeln, denn obwohl eine treuhänderische Gewere nur eine abgeleitete oder Untergewere gewesen sein kann, erfährt der Leser nicht, wer der Obereigentümer oder Treugeber war, von dem der König sie empfing. Indessen: Empfing er sie überhaupt? Denn nur dann, wenn er selbst Eigentümer gewesen wäre, hätte sich aus seinem Tode eine Besitzunterbrechung ergeben können, solange das Dogma der Erbmonarchie (Le mort saisit le vif, oben: §§ 630, 701) noch nicht in das Rechtsbewußtsein des Volkes eingedrungen war. Diese Annahme nun stellt Mitteis mit Recht als irreal dar, aber damit ist die Frage nach dem Eigentümer des Reichsgutes, der dem Könige die Nutzungsgewere zu treuen Händen zu übergeben hatte, noch nicht beantwortet, und nur eine Ahnung von der Antwort billigt Mitteis wie Konrd II., so sich selber zu, weil die Pavesen eben Reichsgut und nicht königliches Hausgut zerstört hatten. Nehmen wir aber diese Ahnung ernst und erkennen das als (im Vergleich zum Menschenleben) unsterblich erscheinende Reich als Eigentümer an, so wird Mitteis’ Gedanke nicht nur verständlich, sondern sogar notwendig: Denn im Reichseigentum tritt, solange das Reich besteht, nie eine Besitzunterbrechung ein, wohl aber in dem vom Reiche abgeleiteten und erworbenen Besitzrecht, das dem Könige ebenso wie allen Amtleuten desselben zukam. § 714. Einen wenig befriedigenden Versuch, das Problem der Besitzunterbrechung und etwaigen Herrenlosigkeit des Reichsgutes während des Interregnums zu lösen, hat neuerdings Haus Constantin Faußner unternommen. Faußner führt nämlich als Gestalter der Reichsgutverfassung die volksrechtliche Eigentumsordnung ein; der Notwendigkeit, nach dem Eigentümer des Reichsgutes zu fragen, entzieht er sich jedoch dadurch, daß er seinen Aussagen die sprachliche Form des grammatischen Passivs gibt und es dem Leser überläßt, sich den Kopf über das darin enthaltene logische Subjekt zu zerbrechen. „Die Eigentumsordnung des frühen und
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hohen Mittelalters . . . wurde von dem Grundgedanken beherrscht, daß jedem Besitz ein Überlassungs-, ein Leiheverhältnis zugrundeliegt . . . Wie dem freien Mann, um ihn als Krieger einsetzen zu können, ein, von Dienstleistungen auf Herrenland freier Besitz überlassen war, oder dem Ministerialen sein Besitz, um in der Lage zu sein, seiner Dienstpflicht gegenüber seinem Herrn im Krieg und Frieden nachzukommen, so war dem König das sogenannte Reichsgut oder Reichsvermögen überlassen – ein bestimmter Besitz an Land und Leuten, an Rechten und Gerechtigkeiten, an Hoheits- und Herrschaftsrechten –, um die Aufgaben erfüllen zu können, die dem Königtum zukamen.“ Daraus habe sich die Zweckbindung des königlichen Nutzungsrechtes ergeben. Darauf, „dies zu gewährleisten war die mittelalterliche Rechts- und Eigentumsordnung ausgerichtet, wobei der Rechtsinstitution der herrschaftsgebundenen Besitzüberlassung und des Besitzes iure beneficiali (iure beneficiario) besondere Bedeutung zukam“ (H. C. Faußner 1973 S. 346 f.). Mit der herrschaftsgebundenen Besitzüberlassung sind königliche Verfügungen iure proprietario gemeint (ebd. S. 347 A. 3). Diese für alle geltende Rechts- und Eigentumsordnung hätte nach Faußner auch die formalrechtliche Verfügungsgewalt des Königs über das Reichsgut (als Funktionsbesitz des Königtums) bestimmt, die der König mit der Inthronisation erlangte. Diese deutet Faußner, unter Berufung auf eine Formulierung der Reichskanzlei von 936 (si aliquis . . . regalem potestativa manu possideat sedem, MGH. DO. I. 1 S. 90 Z. 11 – 12), ohne den metaphorischen Wortsinn zu beachten (oben: § 573), als sachenrechtliches Erlangen der Nutzungsgewere, daher der König rechtlich nur ein Vorerbe, nämlich in seiner Verfügungsgewalt zugunsten seiner Nacherben und Nachfolger im Reiche beschränkt gewesen sei (S. 364 f.). Wie aber kann das zutreffen, wenn man die „Erblichkeit nach dem Grundsatz Le mort saisit le vif“ zwar im Sachenrecht gelten läßt (S. 363 f.), jedoch es nicht wagen kann, ihr auch die Thronfolge zu unterwerfen? Faußner scheint denn auch schon im nächsten Satz seine Feststellung zu widerrufen, da er von dem königlichen Vor- und Nacherben sagt: „Er war rechtlich nur ein Statthalter und damit nur zu den Verfügungen befugt, die zur Ausübung und Förderung seines ihm übertragenen Herrscheramtes erfordert, zweckmäßig und nützlich waren“ (S. 365). Der König war also nicht (nur) Erbe, sondern (auch) Statthalter und Amtsinhaber, vergleichbar dem Mitteisschen Treuhänder, und ebensowenig wie von Mitteis erfahren wir von Faußner, an wessen Statt er seine Rechte hielt und wer ihm das Herrscheramt übertrug. Hiermit übereinstimmend merkt Faußner zwar an, daß die Reichskanzlei bei der Veräußerung von Königsgut „die Zustimmung der Großen des Reiches als Repräsentanten des populus vermerkt, der es zur Verfügung über Königsgut bedurfte“ (S. 392, 448), aber er enthält sich jeder Frage nach dem Rechtsgrunde, aus dem dieser Consensus notwendig war. Diese Enthaltsamkeit ist ebenso wie die Einebnung des Unterschieds zwischen (sachenrechtlichem) Eigentum und (hoheitsrechtlicher) Reichsgutverfassung daraus zu erklären, daß Faußner dem Begriff der Eigentumsordnung eine alle privat-
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rechtlichen Beschränkungen sprengende Bedeutung beilegt: Er behandelt sie in derselben Weise als funktional öffentliches Recht, wie Heinrich Mitteis das Lehnrecht behandelt hatte (oben: § 550). Nach ihm nämlich bestimmte sie nicht nur die Rechtsverhältnisse des liegenden Reichsgutes, sondern auch den „Besitz an . . . Hoheits- und Herrschaftsrechten“ (S. 346) oder, wie es zusammenfassend heißt, nicht nur den Grundbesitz, sondern auch die Hoheits- und Fiskalrechte des Reiches, z. B. Herzogtümer, Markgrafschaften, Grafschaften, Münz-, Zoll- und Marktgerechtigkeiten (S. 444). Die Gestaltungskraft der Eigentumsordnung wäre demnach so umfassend gewesen, daß dem Könige das, was ich als seine amtlichen Befugnisse betrachte, sowohl als Erbe wie als Statthalter zustehen konnte und daß unter den Begriff des Reichsgutes auch das königliche Haus- und Erbgut fällt, das der König als Leihemann des Reiches besessen und nach leiherechtlichen Grundsätzen vererbt hätte (S. 445 f.)! So sublimiert Faußner die Eigentumsordnung zu einer bloßen Rechtsidee, und wenn auch die Geschichtsmächtigkeit solcher Ideen nicht leicht überschätzt werden kann, so ist ihre empirische Wirksamkeit doch erst dann zu verstehen, wenn man weiß, wer sich jeweils zu ihrem Vormund aufwerfen, wer es übernehmen konnte, ihnen im irdischen Leben Gehör und Geltung zu verschaffen. Die Quellen unterstützen Faußners Theorie nur so lange, wie wir über die mehrdeutige synonymische Verwendung der Rechtswörter hinwegsehen, die ihnen eigentümlich ist und die uns, sobald wir sie erkennen, daran hindert, ihre Analogien zwischen Eigentums- und Hoheitsrechten wörtlich zu nehmen (oben: §§ 555, 573, 674). Zwar ist die wörtliche Interpretation innerhalb bestimmbarer Grenzen zulässig, und da gelangt Faußner mit Recht zu der Ansicht, die Eigentumsordnung des Mittelalters sei nicht nur als Volksrecht vom Volke gesetzt worden, sondern habe auch das Lehnrecht in sich enthalten (S. 348 – 364). Unzulässig ist es jedoch, Begriffe, die aus der Sphäre des Sachenrechts stammen, auf staatliche Herrschaftsverhältnisse, genauer gesagt: in die Sphäre des öffentlichen Rechts in dem Sinne, wie dieses damals verstanden werden konnte (oben: § 573), zu übertragen. Weil Faußner dies tut, gerät er in Gefahr, die Lehre vom Patrimonialstaate zu erneuern, indem er die Eigentumsordnung an die Stelle treten läßt, die darin früher die Lehnsherrschaft und das Erbkönigtum eingenommen haben. § 715. Die Überlegungen von Mitteis und Faußner bestärken mich in der Überzeugung (oben: § 626), daß eine in sich folgerichtige Rekonstruktion der germanisch-volksrechtlichen Reichsgutverfassung für das Hochmittelalter nur dann möglich ist, wenn ich voraussetze, daß das Reich, gedacht als der Reichsuntertanenverband, der ewige, unsterbliche Eigentümer des Reichsgutes war und seinen König zu dessen zeitweiligem Verwalter bestellte. Nur unter dieser Voraussetzung lassen sich meines Erachtens die Aussagen der Quellen widerspruchsfrei deuten und die vielfältigen Rechtsverhältnisse des Reichsgutes insgesamt aus den Rechtsund Treupflichten ableiten, die dem Könige gegenüber dem Eigentümer als seinem Mandanten oblagen und die er bei jeder Verfügung und Veräußerung von Reichsgütern und Reichsrechten zu beachten hatte.
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Die Worte Reichsgut und Krongut haben demnach dieselbe Bedeutung als nicht dem Könige, sondern dem Reiche eigentümlich gehöriges Gut, das der König in derselben Weise wie die Krone und zusammen mit ihr vom Reiche durch dessen Worthalter zum Zwecke gemeinnütziger Verwaltung empfing. Deutlich davon verschieden war das königliche Hausgut. Es gehörte als Eigentum oder Erbe dem Hause oder Geschlechte, welchem der König entstammte, und dieser nutzte, vererbte und veräußerte es nach den Regeln, die für das freie Eigentum jedes freien Hausherrn galten (oben: §§ 90 – 92, 119). Das Reichsgut dagegen war niemandes Erbe, da man sich seinen Eigentümer als unsterblich gedacht haben muß. Wie auf allem freien Eigen, so lastete auf dem königlichen Hausgute die Pflicht der Selbstausrüstung zum Kriegsdienst (oben: §§ 124, 131). In analoger Anwendung des Grundsatzes auf den Verwaltungs- und Amtsdienst, den der Untertanenverband einzelnen Rechtsgenossen auferlegte, dürfte der König dazu verpflichtet gewesen sein, sich aus eigenen Mitteln für das Königsamt auszurüsten, d. h. sein Hausgut in den Dienst des Reiches zu stellen. Aus diesem Grunde war es der Reichskanzlei möglich, gegebenenfalls den Unterschied zwischen Reichsgut und Hausgut zu vernachlässigen und dem Bestreben der vorwissenschaftlichen Rechtssprache nachzugeben, welches dahin ging, sich durch synonymischen Gebrauch verschiedener Rechtswörter von der Einheit allen Rechtes und dem inneren Zusammenhange seiner Institutionen zu überzeugen (oben: §§ 555, 674). Obwohl die Königsurkunden daher häufig Begriffe des volklichen Sachen- und Liegenschaftsrechtes nicht nur bei Verfügungen über Hausgut, sondern auch bei solchen über Reichsgut anwandten (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 239 f. E. von Guttenberg 1927 S. 80 f.), läßt sich mit diesem Sprachgebrauch nicht die Annahme begründen, Diktatoren, Notare, Fürsten und Schöffen seien unfähig gewesen, zwischen dem „treuhänderischen“ Eigentum des Königs am Reichsgut, dem erblichen Eigentumsrecht des Königs am Hausgut und der sei es auf Lebenszeit an Laien, sei es auf ewig an Reichskirchen vergebenen Nutzung des Reichsguts im Dienste und zugunsten des Reiches zu unterscheiden. Wenn es auf den Unterschied ankam, was namentlich dann der Fall war, wenn das Reich das Königsamt auf ein anderes Geschlecht übertrug, wußte man ihn nämlich sehr wohl zu treffen, und wo es darauf ankam, Reichsgut eindeutig zu kennzeichnen, standen der Reichskanzlei durchaus eindeutige Ausdrücke wie (res) iuris regni nostri oder fiscus zur Verfügung (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 242. C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 140 mit Anm. 108. Oben: §§ 303 – 306, 558). Auch übte der König das Recht, Güter weltlicher Großer nach deren Tode einzuziehen oder bei Untreue zu deren Lebzeiten zu konfiszieren, nicht zugunsten seiner Person und seines Hauses, sondern zugunsten des Reiches aus, wie das Reich durch seine Fürsten, nachdem sich die Sache jahrhundertelang von selbst verstanden hatte, im Jahre 1125 förmlich feststellte (RI 4, 1, 1 n. 101 S. 66 Z. 3 – 6. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 250 – 254, 481). Ein viel erörtertes Beispiel für dieses Problem bietet die Burg Bamberg, die meines Erachtens immer ein Reichsgut gewesen ist, auch wenn ihre Nutzer mehrfach wechselten. Zuerst begegnet sie uns als fränkisches Herzogsgut, aber als der Her-
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zog im Jahre 911 das Königsamt erlangte, überführte er sie ins Königsgut, indem er auch als König ihre Nutzung beibehielt (oben: § 450). Daher konnte Kaiser Otto II. sie im Jahre 973, als er sie an Herzog Heinrich II. von Bayern verschenkte, nostri iuris praedium nennen (MGH. DO. II. 44). Wieder war die Burg nebst Zubehör nun (Reichs-)Herzogsgut, bis sich nach neunundzwanzig Jahren der Vorgang von 911 wiederholte, denn Heinrichs gleichnamiger Sohn und als vierter dieses Namens von 995 – 1004 und 1009 – 1018 Herzog der Bayern, behielt ihre Nutzung bei, nachdem er im Jahre 1002 zur königlichen Würde erhoben worden war. Daher konnte er sie, als er sie im Jahre 1007 dem in ihr errichteten Bistum übertrug, sowohl als nostri iuris praedium wie auch als nostre paternae hereditatis locum bezeichnen (MGH. DH. II. 135, 143, 156. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 240. E. von Guttenberg 1927 S. 48 f., 59, 68, 103, 215 f. St. Weinfurter 2000 S. 24). Mit jenem Ausdruck kennzeichnete er sie als Königsgut, mit diesem als ehemaliges Herzogsgut, in dessen Besitz er seinem Vater gleichsam (!) wie ein Erbe nachgefolgt war. Den 1007 begründeten Status als Reichskirchengut bewahrte sich die Burg bis zum Jahre 1803. Nichts weist darauf hin, daß sie jemals irgendjemandes Hausgut gewesen sei. Der Unterschied kann den Zeitgenossen nicht zweifelhaft gewesen sein. Stellen, an denen bei Schriftstellern der deutschen Kaiserzeit das Interesse der res publica erwähnt, namentlich als gestört erwähnt wird, würden sich mit Leichtigkeit häufen lassen. In der Tat müßte ja, wie schon angedeutet, das geistige Vermögen der damaligen Staatsmänner und Publizisten an sich von dem unseren verschieden gewesen sein, wenn sie einer solchen Abstraktion nicht fähig gewesen wären, während doch nur sozusagen technische Unzulänglichkeiten verhinderten, daß die Behandlung, die diese Probleme durch sie erfahren haben, uns befriedigen könnte. „Woran es den Zeitgenossen fehlte, das war nicht der Sachverstand in Rechtsfragen, sondern deren theoretische Behandlung. Aus dem Mangel einer Rechtslehre ist daher nicht auf Mängel des lebendigen Rechts zurückzuschließen“ (F. Keutgen 1918 S. 12). § 716. Aus all dem ergibt sich, daß. wenn vom Reichsgut die Rede ist, die gemeinten Sachen, Güter und Rechte nach ihrem Eigentümer benannt werden, und das war das Reichsvolk oder der Reichsuntertanenverband, dessen Wille, so oft er sich durch die Eintracht der Großen einhellig äußerte, identisch war mit dem Willen jener Partikularverbände (oben: §§ 645, 652), die im einzelnen das Volksrecht am Reichsgut wahrten. Selbst zu nutzen freilich vermochte das Volk sein Eigentum nicht einmal während des Interregnums. Sein Recht, oder besser gesagt: seine Eigentümerpflicht beschränkte sich auf drei Aufgaben: Erstens hatte es dem Könige, den es von Rechts wegen über sich erheben mußte, unter im Herrschaftsvertrag (in der Wahlkapitulation) festzulegenden Bedingungen die Nutzung zu übertragen; zweitens hatte es, unter Wahrnehmung seines Rechtes auf Mitregierung und verbindliche Beratung (Konsens, oben: § 628), die königliche Verwaltung und Verwendung des Reichsgutes unter dem Gesichtspunkt der Gemeinnützigkeit (oben: § 628) zu kontrollieren, und drittens hatte es, wenn der König vom Reichsgut in
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pflichtwidriger Weise Gebrauch machte, das Nutzungsrecht von ihm zurückzufordern und ihn gegebenenfalls zu verlassen, um sein Verlangen durchzusetzen. Ist dagegen vom Königsgut, Herzogsgut, Reichskirchengut, Fiskalgut oder Reichslehngut die Rede, so werden die Reichsgüter und Reichsrechte durch den Verwalter gekennzeichnet, den das Volk mit dem Amte betraute, sie in seinem Interesse zu nutzen. Der König, als oberster Amtmann des Reiches, und die Amtleute, die er im Einvernehmen mit dem Volke einsetzen konnte (oben: §§ 125, 646 – 650), erlangte also kein eigentliches und zumindest kein volles Eigentum am Reichsgute, da beim Volke stets die erwähnten Aufsichts- und Heimfallsrechte zurückblieben. Das Verhältnis zwischen Eigentümer und Nutzer war kein sachenoder schuldrechtliches, sondern ein öffentlichrechtliches Verhältnis in dem Sinne, wie dieser Begriff auf das mittelalterliche Rechtsdenken angewandt werden kann (oben: §§ 421, 552, 573). Es kam nämlich nur in der Öffentlichkeit der Untertanenverbände zustande, die durch ihre Worthalter mit dem Nutzer paktierten. Kurzum, es war ein Amtsrechtsverhältnis, und auch das Königtum war ein Amt, da es nur mit Willen des Reichsvolkes besetzt und empfangen werden konnte. Folglich irren wir, wenn wir dem Könige ein treuhänderisches oder überhaupt irgendein Eigentumsrecht am Reichsgut beilegen, da der König dem Volke weder als seinem Treugeber schuldrechtlich noch als seinem Leiheherrn besitz- oder lehnrechtlich verpflichtet war. Nur analog oder metaphorisch können wir das Amtsverhältnis mit solchen in einer anderen Rechtssphäre beheimateten Begriffen bezeichnen. Das allerdings geschieht insofern aus gutem Grunde, als sich bereits die mittelalterliche Rechtssprache selbst infolge ihrer uns sattsam bekannten Eigenschaften dieser Analogie bedient hat. So wenig nämlich, wie der private oder Individualeigentümer in der Nutzung seines Hausgutes völlig frei war, so wenig, wie er sich zum Nachteil seiner Sippe durch Schenkung an Fremde aller seiner Rechte und Pflichten entäußern konnte (oben: §§ 90, 340, 356), ebensowenig waren dazu der Eigentümer und die Nutzer des Reichsgutes befugt. (Abzusehen ist dabei von dem besonderen Fall, in dem das Reich durch Staatsvertrag einen Teil seiner Rechte an ein anderes Reich und Reichsvolk abtrat, denn dieser Vorgang fällt nicht unter den Begriff der Nutzung oder Verwaltung des Reichsgutes.) Noch näher lag den Depositaren des Volksrechts die Analogie, weil in dem Amtsrecht eine Nutzungsgewere am Reichsgut enthalten gewesen sein muß, da sonst der König und seine Amtleute die Reichsrechte weder hätten als Prozeßparteien vor Gericht vertreten noch an untere Amtleute und Lehnsmannen weitergeben können. Und wie sich bei jeder weiteren Vergabung der Inhalt der Nutzungsrechte um die Vorbehaltsrechte oder -pflichten des Vergabenden und Obereigentümers verminderte, so war das bei den Amtsrechten der Fall, wie sogleich noch zu erörtern ist. Aber aus der Vergleichbarkeit der Gewere mit der Amtsvollmacht, von der die Rechtssprache des Volkes so gerne Gebrauch machte, darf man nicht (mit H. C. Faußner 1973 S. 362 – 365) auf Identität der Rechte einerseits des freien Haus- und
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Grundherrn und andererseits des Königs und der Amtleute am Reichsgute und den Reichsrechten überhaupt schließen. Mit dem analogen oder synonymischen Sprachgebrauch läßt sich nicht beweisen, daß die Übertragung der Amtsvollmachten vom Volke auf den König und dessen Amtleute den Regeln des Liegenschaftsoder Lehnrechts unterlegen hätte (oben: §§ 322b, 421, 439, 554, 590, 597b, 598). § 717. Bei jeder Übertragung der Amtsvollmacht fand eine Aufspaltung der Amtsrechte statt, die sich die Depositare des Volksrechts durch den Vergleich mit der sachenrechtlichen Denkfigur der Gewere bewußt und verständlich zu machen suchten. Wie sich die umfassende Sachherrschaft des Eigentümers aufspalten ließ in die ideelle Gewere des Obereigentümers oder ersten Leiheherrn, in die ihr nahekommende, weil vererbbare, und in die wenig geschätzte prekäre, weil befristete, Nutzungsgewere des Leihemannes (oben: §§ 96, 97, 125, 353, 354), so die umfassende, vom Volke durch Einung und Selbstbindung geschaffene staatliche Hoheit in die unveräußerlichen Vergabe-, Kontroll- und Heimfallsrechte der Untertanenverbände, in die Amtsrechte und -pflichten des Königs als obersten Amtmanns des Volkes und in die davon abgeleiteten, durch königliche Bestallung und volkliche Annehmung geschaffenen Amtsgewalten der nachgeordneten Amtleute. Für die Nutzung des Reichsgutes galt daher nichts anderes, als was für die Amtsvollmachten, davon sie ein Teil war, überhaupt gilt (oben: §§ 562, 580): Bei jeder Vergabe verminderte sich der Inhalt der Vollmacht um diejenigen Aufsichtsrechte oder Prärogativen, die bei dem Vergabenden zurückblieben. Dem Bestallten oder Belehnten erschienen diese Rechte als Herrschaftsrechte; für die Vergabenden dagegen waren es Treu- oder Amtspflichten, die sie selbst wiederum ihren Oberen schuldeten, so der König dem Volke, das ihn durch die Reichsversammlung über sich erhob und in der Erfüllung seiner Amtspflichten kontrollierte, die Herzöge, Bischöfe und Großgrafen wiederum dem Könige, der sie im Namen des Reichsvolkes und im Konsens mit ihren Untertanenverbänden bestallte, die Dinggrafen wiederum jenen und die Niederrichter den Dinggrafen. Jedesmal blieben bei dem Oberen Prärogativen zurück, auf die er keinesfalls und als König auch dann nicht verzichten konnte, wenn er Reichsgut zu Eigentum veräußerte, es sei denn, er hätte insofern abdanken und auf seine Amtsgewalt überhaupt verzichten wollen. Diese jedesmalige Minderung der Amts- und Nutzungsvollmacht hat sich als der Grund herausgestellt, aus dem der König die staatlichen Hoheitsrechte niemals weiter als bis in die dritte Hand veräußern und gelangen lassen durfte, da sie sich darüber hinaus aufgelöst und völlig verflüchtigt haben würden (oben: §§ 562, 580, 583). Das gleiche gilt von den nach Lehnrecht vergebenen Nutzungsrechten (oben: §§ 125, 147, 153, 558): Gaben Untervasallen sie in die vierte Hand weiter, so war das nicht mehr in den Formen der freien ritterlichen, sondern nur noch in denen der unfreien bäuerlichen Bodenleihe möglich. Hätte der König etwas anderes zugelassen oder dahingehende Pflichtverletzungen der Amt- und Unteramtleute geduldet, so hätte er seine eigenen Amtspflichten und die Treue gekränkt, die er dem Volke als dem eigentlichen Inhaber aller Hoheitsrechte und Amtsvollmachten aus der Bestallung schuldete.
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Die Existenz dieser Prärogativen, oder wie wir um des staatlichen Interesses willen richtiger sagen sollten: dieser Vorbehaltspflichten ist seit jeher bekannt, sie galten aber für lediglich „stillschweigend vorausgesetzt“ und daher nicht näher bestimmbar (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 189 – 196, 202 f., 259, 264 f.). Ihnen entstammt die fränkische Anschauung, daß Fiskalgut seinen Charakter niemals verliere, auch wenn es sich (als Benefizium) in privaten Händen befinde (ebd. Bd. 4 S. 206 f.). Selbst dann, wenn der König es so an eine natürliche Person veräußerte, daß es mit allen Befugnissen, die nach Volksrecht freien Eigentümern zustanden, in dessen proprietas überging, blieb es doch dem Reiche nach den Regeln des Inwärtseigen (oben: § 157) so weit verpflichtet, daß die Verfügungsgewalt des Inhabers dadurch auf seine Lebenszeit beschränkt blieb und jeder Erbe das Eigentum wieder in dem Umfange antrat, wie es der König dem Ersterwerber übergeben hatte, „und dies durch Generationen, bis der Letzte des Stammes starb und der Besitz dem Herrn heimfiel und von ihm eingezogen wurde“ (H. C. Faußner 1973 S. 355 – 366, oben: § 128b. I. S. Robinson 1999 S. 87). § 718. Es steht zu erwarten, daß sich aus der Amtspflicht, deretwegen sich der König in der Reichsversammlung verantworten mußte, und aus den mit ihr verknüpften Prärogativen, die er gegenüber den Reichsamtleuten geltendmachen konnte, die Rechtsverhältnisse des Reichsgutes auch in den Einzelheiten herleiten und begründen lassen. So könnte die Subsumtion des Herzogsgutes unter das Recht des Reichsgutes hilfreich sein, um das schwer verständliche Verhältnis des Königs zu den Herzögen weiter aufzuhellen. Hätte Herzog Burchard von Schwaben im Jahre 919 die Verwaltung des schwäbischen Reichsguts als amtliche, ihm von König Heinrich mit dem Herzogtum übertragene Aufgabe übernommen (oben: § 556a), so wäre damit erklärt, warum er einen Teil davon seinem Vasallen Babo nur iure beneficiali überlassen konnte, die Vergabung in proprium aber vom Könige erbitten mußte (MGH. DH. I. 2. H. C. Faußner 1973 S. 404 f.): Die Vergabe zu Eigentum gehörte zu den königlichen Vorbehaltsrechten. Auf Grund seiner unveräußerlichen Amtspflicht konnte König Heinrich I. den Herzögen von Bayern auch das in deren Bezirken gelegene Reichskirchengut nur mit Reservation jener Befugnis überlassen, kraft deren Otto III. und Heinrich II. später die Herzogsrechte wieder an sich nahmen (oben: §§ 481, 487, 489). Eine derartige Prärogative berechtigte Kaiser Konrad II. dazu, im Jahre 1027 von allen Grafen und erwählten Richtern des (Herzogs-)Landes Bayern eine eidliche Aussage über das zur Nutzung durch den König bestimmte Reichsgut einzufordern (MGH. Const. 1, 645 n. 439 Z. 18 – 23. K. G. Hugelmann 1955 S. 111. W. Störmer 1992 S. 514 f.). Gleichartige Vorbehaltsrechte hielt der König auch hinsichtlich des Reichskirchengutes, obwohl die bischöflichen Kirchen dieses zu Eigentumsrecht besaßen (oben: §§ 573, 574). Es war dies nämlich kein sachenrechtliches, sondern öffentliches Eigentum. Daher gerät man in unentwirrbare Widersprüche, wenn man Erzbischof Hinkmars Ausspruch per iura regum ecclesia possidet possessiones im Deutschen mit den Worten „den Besitz ihrer Güter“ anstatt „die Verwaltung öffentlicher Einkünfte“ wiedergibt (J. Durliat 1990 S. 243 mit A. 157). Weil öffentlicher
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Herkunft, gewährte die königliche Schenkung den Reichskirchen nur ein beschränktes Eigentum am Reichsgut. Die Beschränkung sollte verhindern, daß ein Bischof oder Abt solche Güter der königlichen Verfügung dadurch entzog, daß er sie seiner Kirche entfremdete oder ihre Okkupation durch Laien duldete. Ihretwegen pflegten Bischöfe und Äbte von jedem Könige die Bestätigung der Schenkungen seines Vorgängers zu erbitten (A. Dopsch 1921 – 22 T. 1 S. 238 – 243). Als Verwalter des Eigentums seiner Kirche konnte der Bischof über Güter unter Einschaltung des Kirchenvogtes im Rahmen seiner Amtsvollmacht ohne dingliche Zwischenschaltung des Königs verfügen; wollte er aber das Eigentum selbst veräußern und auf alle Nutzungsrechte verzichten, so bedurfte er dazu der Genehmigung und nachfolgenden Bestätigung des Königs, sofern der aufzugebende Besitz den Umfang von mindestens fünf Mansen erreichte (H. C. Faußner 1973 S. 371 f.). Diese Grundsätze galten noch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, auch wenn der König aus erzwungener Rücksicht auf das dem entgegenstehende kanonische Recht jetzt nicht mehr die Macht besaß, Reichskirchengut in seine eigene Verwaltung zurückzunehmen. Niemals jedoch hat der weltliche Gesetzgeber diese königliche Prärogative abgeschafft. Seit Kaiser Friedrich I. umgingen König und Fürsten den unlösbaren Konflikt zwischen beiden Rechten dadurch, daß der König Reichsgut von den Pfaffenfürsten zu Lehen nahm. Aber kein Rechtsstreit um solche Lehen ließ sich vor ein weltliches Gericht bringen, weder vor den Lehnshof des Bischofs noch vor den des Königs, da deren Sprüche unweigerlich die Umgehung des königlichen Vorbehaltsrechtes und damit der Reichsverfassung, die in dem Lehnsgeschäft enthalten war, hätten kenntlich machen müssen. Man begnügte sich daher damit, solche Streitigkeiten vor Schiedsgerichten auszutragen (J. Fikker / P. Puntschart 1911 S. 144, 167). Schon viel früher hatte sich der König Beschränkungen seiner Verfügungsmacht über die Reichs- und Königsklöster gefallen lassen, weil und sofern er bereit war, auf deren geistliche Zwecke Rücksicht zu nehmen. So willigte er in ihr Verlangen ein, sie weder an Dritte zu verleihen noch eine solche Verleihung durch den Abt zu dulden (MGH. DLdJ. 23, DO. I. 111, Const. 1, 17 n. 8 c. 2. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 189 – 193) und das Recht des Konvents auf Wahl seines Vorstehers zu achten (oben: §§ 438 – 440). Aber da diese dem Kirchenrecht entstammenden Zugeständnisse dem Volksrecht und der Reichsverfassung fremd waren, konnten sich die Klöster des Verzichts eines Königs auf Erfüllung eines Teils seiner Amtspflichten bis zum Ende des 11. Jahrhunderts niemals sicher sein. § 719. Das wichtigste Geschäft, das der rudimentären Reichsregierung während des Interregnums oblag, war nicht die Reichsgutverwaltung, sondern die Erhebung und, soweit noch erforderlich, die ihr vorangehende Wahl eines neuen Königs. Mit diesem Geschäft habe ich mich bereits an anderem Orte in der Absicht befaßt zu zeigen, daß die Rechtsgrundlagen und Verfahrensregeln desselben, die zu entdekken der Forschung noch nicht gelungen ist, in demselben germanischen Einungsrecht aufzufinden sind, dessen Grundriß sich aus den Bürgerrezessen der Hanse-
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städte und aus den Rezessen der hansischen Tagfahrten ableiten läßt (E. Pitz 2001 S. 424 – 429, 433 f., oben: §§ 15 – 27). Darauf aufbauend, möchte ich darlegen, daß sich, wenn jener Beweis akzeptabel ist, aus dem Grundgedanken des Einungsrechts eine ebenso einheitliche Auffassung der Königswahl ergibt wie für die Reichsgutverfassung. sobald man von dem Eigentumsrecht des Reiches an allem Reichsgut ausgeht. Als Grundgedanken des Einungsrechts (oben: Sechstes Kapitel und §§ 612, 635) betrachte ich den Zweck, die Einzelwillen einer beliebig großen Zahl von Rechtsgenossen zu einem einträchtig oder einmütig, concorditer et unanimiter, erklärten Gemeinwillen übereinszutragen. Dieser Zweck: einen einhellig geäußerten und bezeugten Gemeinwillen über die für das Königsamt am besten geeignete Person zu erreichen, steht im Mittelpunkt der Königserhebung und teilt diese in zwei (im Idealfall nacheinander ablaufende) Abschnitte, nämlich in die dem unitatis punctum (Wipo, Gesta Ch. c. 2, S. 15 Z. 14) vorangehende Wahl oder Auslese der Person des künftigen Königs und in die darauf folgende Erhebung oder Bevollmächtigung des Erwählten, die mit der Kur ihren Anfang nahm. Der sachliche Unterschied zwischen Wahl und Kur ist deutlich: Jene bezeichnete die mühsame und langwierige Bildung des einhelligen gemeinen Willens aller Untertanen über die am besten geeignete Person (ahd. uuellen übersetzte sowohl lat. eligere als auch velle und ist das Wurzelwort der beiden neuhochdeutschen Verben wollen und wählen), diese dagegen, als „Kiesen bei Namen“ (Ssp. Ldr. III 57 § 1), die Erhebung des Gewählten zum königlichen Rechtssubjekt (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 8 Anm.). Der lat. Sprachgebrauch verdunkelt den Unterschied, da lat. eligere sowohl ahd. uuellen als auch kiosan und irheffen zu Äquivalenten hat: erst in den mhd. Quellen tritt er hervor und erweist sich dadurch als grundlegend, daß keines der beiden Worte imstande war, das andere zu verdrängen (H. Mitteis 1944 S. 61. R. Schmidt-Wiegand in HRG 2 Sp. 714. E. Pitz 2001 S. 184 Anm. 356). Die aus etlichen, sich gegenseitig ergänzenden Akten bestehende Königserhebung stellt sich uns als eine Kettenhandlung von derselben Art dar, wie es die Erhebung der hohen Reichsbeamten (oben: Dreizehntes und Fünfzehntes Kapitel und §§ 557 – 559) war. Auch darin gleichen sich die Verfahren, daß es, obwohl erst die einhellige Kur die Bestallung des Erwählten rechtlich ermöglichte, dem Reichsvolke und seinen Teilgemeinden gleichgültig war, in welcher Reihenfolge sie die einzelnen Akte der Kettenhandlung vornahmen und mit Rücksicht auf die politischen Umstände vornehmen konnten (H. Mitteis 1944 S. 54). Der Verfahrensform nach glich die Erhebung des Königs der der Bischöfe, Reichsäbte, Herzöge und Grafen; Unterschiede bedingte allenfalls der Umstand, daß nur bei der Erhebung der Fürsten stets in der Person des Königs ein Reichsamtmann vorhanden war, dem es oblag, das Verfahren zu lenken. Eintracht über die Person des künftigen Königs durch die Kur herzustellen und durch die Bestallung rechtskräftig zu machen, das war nicht nur Zweck des Verfah-
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rens, sondern auch ein seit ältester Zeit allgemein anerkanntes Rechtsgebot. Was jedoch den Weg anlangt, auf dem es zu erfüllen war, so enthielt die Gewohnheit der Völker darüber keine strengen Formvorschriften. Zutreffend sagt daher Heinrich Mitteis (1944 S. 15, 47): Die „Thronerhebung . . . bewegte sich noch durchaus in den volkstümlichen Rechtsformen, die aus der germanischen Frühzeit stammten; (sie) war eine Bekundung des spontan geäußerten Volkswillens, der keine festen Regeln kannte, weil er als festliches Erlebnis von Fall zu Fall neu gestaltet, improvisiert wurde“. Die Gewohnheit hatte nämlich dem Umstande Rechnung zu tragen, daß ein einhelliger Gemeinwille unter den äußeren, namentlich den Verkehrsbedingungen des Mittelalters und unter den politischen Verhältnissen des Interregnums, wo es keine vollmächtige Reichsregierung gab und die Existenz des Reiches auf dem Spiele stand, nur unter großen Schwierigkeiten und nur dann herzustellen war, wenn es der Politik freistand, den jeweils gangbaren Weg einzuschlagen. Die politischen Umstände konnten es den Interimsregenten sogar gebieten, in den zweiten Verfahrensabschnitt einzutreten, bevor noch im ersten das punctum unitatis erreicht war. Geschah dies, so stand freilich jede partikulare Ermächtigung des Erkorenen unter dem Vorbehalt nachträglicher Rechtfertigung durch den Beitritt der vorerst noch ausbleibenden Teilgemeinden. Solcher Rechtfertigung dienten sowohl die sogenannten Nachwahlen als auch der Königsumritt, und wenn man zu diesen Hilfsmitteln greifen mußte, konnte sich die Königserhebung jahrelang hinziehen (ebd. S. 48, 55). Ergäbe sich aus dem Grundgedanken des Einungsrechts, wie hier angedeutet, eine einheitliche Auffassung vom Rechte der Königserhebung, so müßten sich in deren Rahmen auch alle (scheinbaren) Widersprüche beheben lassen, die dem Zeugnis der Quellen wegen der bekannten Mehrdeutigkeit der alten Rechtssprache innewohnen und namentlich bereits das Rechtswort eligere betreffen (ebd. S. 49 – 52. Oben: § 633). Ich versuche, dies darzutun, indem ich folgende sechs Fragen als Prüfsteine benutze: Wie kommt die Eintracht aller Untertanen zustande? Wer wählt den künftigen König? Wer leitet das Verfahren? Wer ist für das Königsamt geeignet? Wie kommt der Herrschaftsvertrag zustande? Wie ging die Bestallung des Königs vor sich? § 720a. Zwar nicht die zentrale Bedeutung des Gebotes der Einhelligkeit (oben: §§ 26, 428), wohl aber dieses selbst ist längst bekannt. „Ein förmliches Zählen der Stimmen, eine Entscheidung durch Majorität hat nicht stattgefunden. Immer wird großes Gewicht darauf gelegt, daß die Wahl eine allgemeine, eine einstimmige sei, von allem Volk gebilligt und anerkannt. Die Anwesenden stellten die Gesamtheit dar. So ist es in dieser Zeit nie von vorne herein zu zwiespältiger Wahl gekommen“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 11, 203 f. F. Kern 1914 S. 315). Eine wichtige Verfahrensregel, die die Erzielung formaler Einhelligkeit überhaupt erst ermöglichte, hat jedoch erst Heinrich Mitteis herausgestellt: die Pflicht nämlich eines jeden Untertanen, dem sich in der Öffentlichkeit der Volksversammlungen herausbildenden Willen der Mehrheit entweder ausdrücklich zu widersprechen oder ihm (stillschweigend) Folge zu leisten. Bei allen Teilakten, die sich zur Königserhebung
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verketten, „ist stets an ein Einigsein unter den Beteiligten, ein Einverstandensein vom Standpunkt des Einzelnen aus gesehen zu denken, also an einen Zustand, der die ganze Dauer der Kettenhandlung über gegeben sein mußte, aber auch als gegeben angesehen werden konnte, solange nicht ein erklärter Protest dagegen sprach“ (H. Mitteis 1944 S. 53, 169, 201; oben: § 641). Die Protestations- und Folgepflicht war Teil der allgemeinen Untertanenpflicht, die nicht nur dem Könige, sondern auch dem Reiche galt und wahrscheinlich die stärkste Fessel bildete, die das Reich während des Interregnums zusammenhielt (oben: §§ 637, 645, 661, 673). Denn wer sich weigerte, die Folgepflicht zu erfüllen, der entzog sich seiner „Treupflicht gegen das Gesamtvolk und seine Führer“ (ebd. S. 86). Die Mehrheit war schließlich sogar befugt, die Folge von ihm zu erzwingen so, wie es König Heinrich II. tat, nachdem er von Bayern, Franken und Sachsen erhoben worden war: Da nämlich wandte er sich gegen Herzog Hermann und das Teilreich der Schwaben, deren Land er solange verwüstete, bis sie sich ihm unterwarfen (Thietmar V cap. 12, 21, 22). Von diesem Zwangsrecht dürfte das Brennrecht abstammen, das im Spätmittelalter der vom Lande zu Kärnten erhobene Herzog gegenüber denen ausübte, die seine Herrschaft nicht freiwillig anerkennen wollten (oben: § 535). Angedeutet findet sich die Folgepflicht bereits in der Frage, die Erzbischof Adalbert von Mainz in der Wahlversammlung von 1125 an die drei Nominierten richtete: ob sie demjenigen von ihnen, den die Fürsten gemeinsam wählen würden, bedingungslos gehorchen wollten, sine contradictione . . . electo vellent obedire (RI 4, 1, 1 n. 92, hier: S. 52 Z. 29 – 32; ähnlich bereits 1024: Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 16 Z. 11 – 14, S. 17 Z. 25 – 27). Ausdrücklich in den Rechtsquellen bezeugt wird sie aber erst spät im 13. Jahrhundert (Swsp. Ldr. 130). Trotzdem muß es sich bei ihr um ältestes Herkommen handeln, da ohne sie eine formal einhellige Wahl oder gemeine Willensbildung überhaupt (oben: § 637) gar nicht möglich gewesen wäre. Aus der Verbindung mit der Folgepflicht ergibt sich, daß sich hinter dem Einhelligkeitsaxiom in Wirklichkeit ein Mehrheitsprinzip verbirgt, das ursprünglich nicht so sehr die Pflicht enthielt, einer Minderheit, als vielmehr die, einer Autorität zu folgen (H. Mitteis 1944 S. 75. Oben: § 424). Nur mit stichhaltigen Gründen konnten Teilverbände des Reiches und ihre Fürsten der (aktiven) Mehrheit die Folge verweigern; wer das rechtzeitig und in der Öffentlichkeit (der Reichsversammlung) tat, der durfte von Rechts wegen die Wählergemeinschaft verlassen und abziehen, um einen Gegenkönig zu erheben, wie es mehrfach, so 919, 1002, 1138 und 1198 geschehen ist. Umgekehrt verstärkte sich die Pflicht, der Mehrheit zu folgen, je mehr diese anwuchs. Je mehr Teilverbände ihrem Wahlvorschlag beitraten, desto stärker machte sich die Vermutung geltend, daß die noch Zögernden verpflichtet wären, ihr ebenfalls zuzustimmen (ebd. S. 79 – 86). Auf Grund ihres Rechtes, im Reiche mitzuregieren (oben: § 612), war es den Großen nie verwehrt, sich in Abwesenheit des Königs und ohne dessen Erlaubnis zu versammeln und zu beraten. Aber selbst diejenigen unter ihnen, die den König
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für rechtsbrüchig und sich selbst daher für berechtigt hielten, ihn zu verlassen und einen Gegenkönig zu erheben, waren sich der Vorläufigkeit ihrer Entscheidung und der Pflicht bewußt, die Andersdenkenden als Folger zu gewinnen, um so die einträchtige Erhebung des von ihnen Erkorenen herbeizuführen. Dem entsprechend beantwortete der Gegenkönig Rudolf im Jahre 1079 den Angriff König Heinrichs IV. auf Sachsen: Er führte dawider nicht nur ein Heer ins Feld, sondern missis ad omnes exercitus hostilis optimates nuntiis, eos per misericordiam Dei obsecratos, humiliter satis rogitavit, quatinus colloquium, quod papa iam pro pace et unitate ecclesiae ac totius regni concordia componenda decreverat, et ipsi cum domino suo observarent, sibique locum eiusdem observandi fide paceque non ficta concederent (Berthold S. 321 Z. 43 – 49). § 720b. Die rechtliche Beurteilung des Thronstreits von 1198 hätte demnach davon auszugehen, daß am Anfang gar keine gültige Königserhebung stattgefunden hat, „weil tatsächlich ein einhelliger und einmütiger Wahlwille der Gesamtheit der Fürsten . . . nicht zustandekam“ (H. Stehkämper 2003 S. 209), daß aber die Mehrheit der in Thüringen versammelten Fürsten, die Herzog Philipp von Schwaben erkor, mit Recht von der ausgebliebenen Minderheit die Erfüllung der Folgepflicht einfordern konnte, und daß sich die Erzbischöfe von Köln und Trier dieser Pflicht nicht mit stichhaltigen, sondern mit fadenscheinigen Gründen und folglich in rechtswidriger Weise entzogen haben. Denn der Kölner hatte nicht nur das Votum des Trierers mit einer sehr großen Menge Silbers gekauft, sondern auch, obwohl beide bis dahin „in den formlosen Wahlverhandlungen . . . rechtens in keiner Weise bevorzugt“ waren, behauptet electionem regis sui iuris esse, was immer das heißen mochte. Und obwohl die von beiden Erzbischöfen nach Andernach und Köln einberufenen Wahlversammlungen ohne Ergebnis endeten, so daß Philipp als einziger electus übrigblieb, forderten sie die Mehrheitsversammlung auf, nicht in ihrer – selbstverschuldeten – Abwesenheit zu wählen, sondern ihnen an anderem Orte zu gemeinsamer Wahl entgegenzukommen (Chron. reg. Colon. a. 1198, Rec. II p. 162. H. Mitteis 1944 S. 140 f. H. Stehkämper 2003 S. 208, 211). Der Bruch der Folgepflicht und der fehlende Wille zu ernsthaften Verhandlungen mit Philipp über den Schutz etwaiger berechtigter Interessen sind unverkennbar. Als die Minderheit endlich nach sieben Jahren bereit war, ihre Folgepflicht zu erfüllen, hat Philipp allerdings die solange getragene Krone noch einmal niedergelegt, bevor er concorditer ab omnibus abermals zum Königtum erhoben wurde, aber darin braucht keine Anerkennung der Unrechtmäßigkeit seiner ersten Krönung zu liegen, sondern lediglich der Verzicht auf die Möglichkeit, das fragwürdige Verhalten des Erzbischofs von Köln und seiner Parteigänger bloßzustellen. Obwohl nur von einer Partei, freilich der Mehrheitspartei, erhoben, war Philipp nach deutschem Recht seit 1198 rechtmäßiger König. Das ergibt sich daraus, daß sich niemals zuvor eine Minderheit so verhalten hatte wie jetzt und daß auch später eine Nachwahl durch die Minderheit niemals davon abhängig gemacht worden ist, daß der von der Mehrheit regulär erhobene König seine Würde wieder ablegte, obwohl nun hundert Jahre lang keine anderen als solche Parteiwahlen stattgefunden haben.
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Bis herab auf König Adolf von Nassau hat jeder gegen den Protest etlicher Wähler erhobene König als rechtmäßig erkoren gegolten (A. Wolf 1993 S. 81 f., 88).
§§ 721 – 730. Wer wählt den künftigen König? § 721. Des Königs Wähler war das Volk. Talis filius . . . quem populus eligere velit (MGH. Capit. 1, 126 n. 45 c. 5, oben: §§ 204, 661, 699), sollte Nachfolger Karls des Großen, entweder ein Sohn oder ein anderer aus dem Volke Erwählter, si autem alter e populo eligatur rex (MGH. DO. I. 1 S. 90 Z. 13 – 14), Nachfolger Ottos des Großen werden. Das Volk bestand aus den (alt- und neu-)freien Männern (oben: § 116), die im Reichsgebiet ansässig und bereit waren, gemeinsam und genossenschaftlich einen König über sich zu erheben und sich gegenüber dem Erwählten zu der Treue zu verpflichten, die ein Untertan allgemein seinem König schuldete (oben: §§ 677 – 680). Daher konnte der König von sich sagen: Omnium fidelium consensu et electione ad regnum pervenimus (MGH. DLo. III. 9. RI 4, 1, 1 n. 114). Der Untertaneneid aber war zugleich Genosseneid. Er verpflichtete die Schwörenden nicht nur dazu, dem Könige, sondern auch, sich gegenseitig treu zu sein (oben: §§ 185, 668 Abs. 7). Mit jeder Königswahl erneuerte das Volk daher zugleich seine staatliche Einheit und seine Verfassung als Reichsuntertanenverband. Darauf kam viel an, denn die Treupflicht gegenüber dem Könige erlosch mit dessen Tode, diejenige der Reichs- und Volksgenossen gegenüber sich selbst dauerte darüber hinaus auch während des Interregnums fort und verhütete, daß der Tod des Königs die Auflösung des Staates zur Folge hatte (oben: § 695). Dieser Fall hätte nur dann eintreten müssen, wenn das Volk lediglich ein Verband königlicher Vasallen gewesen wäre, dem der Herrenfall hätte ein Ende setzen müssen. Aus dem Lehnrecht läßt sich kein Recht der Lehnsmannen ableiten, sich gemeinsam den Lehnsherrn zu erwählen (oben: §§ 600, 670 – 677). Die deutsche Königswahl ist daher niemals feudalisiert worden; stets „gab es einen Untertanenverband, ein Staatsvolk“, unter dessen Teilnahme die Königswahl in aller Öffentlichkeit vor sich ging (H. Mitteis 1933 S. 444, 1944 S. 43 f., 54). Die Wahlordnung war bestimmt von der Verfassung des Reichsuntertanenverbandes als einer mehrfach partikulierten und gestuften Gemeinde. Zwar war jeder freie Mann berechtigt und nach Vermögen auch verpflichtet, wie an den Reichsversammlungen (oben: §§ 607 – 609), so an der Erhebung des Königs teilzunehmen, aber wegen der Pflicht zur Selbstausrüstung (oben: §§ 122, 301) konnten nur die Wohlhabenden (maiores, optimates, proceres, primores, primates, principes, Dynasten, oben: §§ 140, 599, 608a, 612a) dieses Recht persönlich wahrnehmen. Die Masse der freien Leute, namentlich der neufreien, die an ihre tägliche Arbeit gefesselt waren, übte ihr Wahlrecht genossenschaftlich und zu gesamter Hand durch die Verbandspersonen aus, deren Genossen sie waren und deren Worthalter vollmäch-
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tig waren, für sie zu wählen, solange sie sich der Identität ihres Willens mit dem ihren sicher sein konnten. Das System der identischen Willensbildung (oben: Erstes Kapitel) bildete daher die Grundlage der Wahlordnung. Nur aus den Regeln dieses Systems und aus den Grundsätzen des Einungsrechts ist es zu erklären, daß jeder einzelne Volksgenosse auf jeder Ebene des Staatsaufbaus persönlich an der gemeinen Willensbildung teilnehmen konnte, daß man auf keiner Ebene die Vollmächtigkeit und Beschlußfähigkeit der Versammlungen zu konstatieren brauchte und daß die Versammelten beschließen konnten, ohne daß Stimmberechtigungen definiert und Stimmen hätten gezählt werden müssen. Denn alles, was auf dem Wege hin zur Einhelligkeit des Volkswillens geschah, wurde erst dadurch rechtsgültig, daß alle den Wahlvorgang gemeinsam und einhellig beendeten (E. Pitz 2001 S. 427). Fügt man diese Rechtsauffassungen hinzu, so bestätigen und erklären sie, was die Verfassungsgeschichte seit jeher gelehrt hat: daß nämlich die Entscheidung zwar „bei den geistlichen und weltlichen Großen (lag), sie werden besonders hervorgehoben, das Volk nur daneben als mitwirkend oder zustimmend genannt . . . Aber immer freilich galt, was geschah, als Wille und Tat der Gesamtheit“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 189 f.), oder daß die Einzigartigkeit und der öffentlich-rechtliche Charakter des Königtums auf der Wahl durch Fürsten und Volk beruhte, wozu anfangs jeder freie Volksgenosse, die Führer der Nation aber als Vertreter des ganzen Volkes berechtigt waren (F. Keutgen 1918 S. 39 – 41, 115). § 722. Teilgemeinden innerhalb des Reichsuntertanenverbandes waren auf unterster Ebene die Gerichts- und Ortsgemeinden, auf mittlerer Ebene die Grafschafts-, Bistums- und Landesgemeinden und auf oberer Ebene die im 9. Jahrhundert zusammen mit dem Ostfränkischen Reiche geschaffenen Regna oder Teilreiche (oben: §§ 443, 444, 507, 616) Franken, Bayern, Schwaben, Sachsen, von denen man noch im 13. Jahrhundert wußte, daß es einst Königreiche gewesen waren (Ssp. Ldr. III 53 § 1), denn wenn auch ihre Häupter nicht Könige, sondern (nur) Herzöge hießen, so pflegten sie doch bei der Königserhebung als handelnde Verbandspersonen und Wähler aufzutreten. Gelegentlich kamen zu ihnen Thüringer und Lothringer, nie jedoch die Friesen hinzu (H. Mitteis 1944 S. 95 – 100. K. G. Hugelmann 1955 S. 141 – 144. Oben: §§ 493 – 506). Nicht als königliche Amtleute und nicht kraft autogenen Standes- oder Adelsrechts, wie die Lehre von der Adelsherrschaft will (oben: §§ 139, 332, 337), sondern in Vollmacht des Volkes, das sie zu Häuptern über sich gesetzt hatte und ihr Wählerverhalten an seine Zustimmung band, nahmen Herzöge und Große der Regna an der Königswahl teil. Bischöfe, Reichsäbte, Grafen und Große begleiteten daher ihre Häupter wie zu den Reichsversammlungen (oben: §§ 600, 632b,), so zu den Wahltagen, wo sie ihnen jederzeit derart mit ihrem Rate beistanden, daß sie sich der Identität ihres Willens mit dem ihres Volkes gewiß sein konnten. Daher traf Markgraf Liutpold von Österreich im Jahre 1081 die Entscheidung, König Heinrich IV. zu verlassen und Hermann zum Könige anzunehmen, auf einer Lan-
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desversammlung inmitten der Grafen und Angesehensten seines Gebietes (oben: § 210). Als während der Kur von 1024 die Reihe an den jüngeren Konrad kam, beriet sich der Gefragte separat mit den Lothringern, bevor er in die öffentliche Versammlung zurückkehrte und denselben Fürsten zum Könige kor wie die vor ihm Befragten (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 19 Z. 5 – 7). Denn nicht um seine persönliche Meinung war er befragt worden, sondern um die der Lothringer, die ihn zu ihrem Haupte gemacht hatten und deren Wort er sowohl als Kurfürst wie als Bewerber um das Königsamt zu führen hatte: Nach der späteren Formulierung des Sachsenspiegels hatte er so zu kiesen, daß sowohl sein als auch alles Volk ihm folgen konnte. Die Lothringer übrigens ermächtigten ihn keineswegs einhellig dazu, den älteren Konrad zu kiesen; Erzbischof Pilgrim von Köln, Herzog Friedrich von Oberlothringen und andere verließen enttäuscht die Wahlversammlung. Erst etliche Wochen später entschlossen sie sich dazu, der Mehrheit zu folgen (ebd. S. 19 Z. 35 bis 20 Z. 6, S. 94 Z. 22 – 24). Ebenso verhielt sich auf dem Wahltag von 1125 Herzog Friedrich von Schwaben, der an der Versammlung ebenfalls in der Doppelrolle des Kurfürsten und des Bewerbers teilnahm. Als der Erzbischof von Mainz ihn fragte, ob er der endlichen Wahl der Mehrheit folgen wollte, erklärte er, ohne Beratung mit seinen im Zeltlager zurückgebliebenen Großen wolle und könne er darauf nicht antworten, und verließ die Versammlung, ohne vorerst zurückzukehren, woraufhin sich die Stimmung der Fürsten gegen ihn wandte (RI 4, 1, 1 n. 92, hier: S. 52 Z. 35 – 40, 60 Z. 45 – 51). Die weiteren Beratungen, deren einhelligen Abschluß und die Kur Lothars hat Friedrich wohl nur aus der Ferne von seinem Lager aus verfolgt; erst einige Tage danach konnten die Fürsten ihn dazu überreden, in die Versammlung zurückzukehren und dem Willen der Mehrheit zu folgen (ebd. S. 53 Z. 35 – 37, 61 Z. 1 – 2): Kein Zweifel, daß er so nur nach Beratung und mit Willen der schwäbischen Großen, die ihn begleiteten, zu handeln wagte. Auch die bayerischen Bischöfe betrachteten ihren Herzog als Stimmführer des Regnums, in dessen Abwesenheit sie nichts über einen König beschließen könnten (ebd. S. 53 Z. 8, 16 – 20). Bereits Heinrich Mitteis (1944 S. 67) sah sich zu dem Schluß genötigt, daß sich aus den Willenserklärungen der einzeln befragten Personen als Teilen eines Gesamtaktes durch die Kur „der Gesamtwille aller im Sinne des älteren Genossenschaftsrechtes“ gebildet habe; die Einzelnen handelten „nicht nur als Individuen, als unverbunden nebeneinander stehende Willensträger, sondern sie haben sich zu einem gemeinsamen Ziele, eben der Königserhebung, verbunden und erreichen dieses Ziel, indem sie übereinstimmend und zur gesamten Hand tätig werden.“ Aber solange das Einungsrecht unerforscht blieb, ließ sich diese Erkenntnis nicht dahingehend verallgemeinern, daß die kiesenden Fürsten ihrerseits den genossenschaftlichen Gesamtwillen ihrer Untertanen auszusprechen hatten. So ergab sich ein Widerspruch daraus, daß einerseits „das deutsche Volk bei der Königserhebung
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in Stämme gegliedert zu handeln pflegte“, wobei sich die Teilreichsvölker als „Wahlverbände“ betätigten (ebd. S. 95 f.), daß aber andererseits die Herzöge so, wie jeder einzeln stimmende Wähler, „jeder seinen eigenen König“ wählten, anstatt ein ihre Wahlverbände zur Folge verpflichtendes „Vorstimmrecht“ auszuüben (ebd. S. 54, 84, 100 f.). Der Widerspruch besteht jedoch nur so lange, wie man von oben her und von den Fürsten herab auf das Wahlvolk blickt. Schaut man von unten, vom Volke her, auf die Fürsten, so erkennt man, daß ihrer keiner als Individuum eine Einzelstimme, sondern jeder von ihnen in Vollmacht seines Wahlverbandes eine Verbandsstimme führte, daß er nur dann stimmberechtigt war, wenn sein Einzelwille mit dem Gemeinwillen übereinstimmte, und daß nicht der Wählerverband ihm, sondern er dem Verbande zu folgen hatte. § 723. Ein schwieriges rechtsgeschichtliches Problem werfen die politische Geschichte und die seit dem 12. Jahrhundert zunehmende Verdichtung der schriftlichen Quellen in Verbindung mit dem Verfassungswandel auf, den das fortschreitende Dahinschwinden des altfreien Volkes bei gleichzeitigem Wachstum neufreier Stadt- und Landgemeinden auslöste. Denn der Wandel scheint eine Entwicklung angeregt zu haben, „welche von der Anschauung einer Wahl durch das ganze waffenfähige Volk ausgehend das Wahlrecht auf immer engere Kreise beschränkte“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 7). So müsse in den Jahrhunderten vor Ausbildung des jüngeren Reichsfürstenstandes (oben: §§ 594 – 596a) die Zahl der Wähler ungleich größer gewesen sein als später; in den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts müßten „mit der Abschließung des neueren Fürstenstandes auch die Magnaten, welche früher zu den Fürsten gehörten, ihr Wahlrecht verloren haben, ein Recht, welches freilich, bei der großen Anzahl der Beteiligten und dem überwiegenden Einflusse der mächtigern Fürsten für sie fast nur eine formelle Bedeutung gehabt haben konnte“ (ebd. S. 13). Mit den Magnaten habe der ältere Reichsfürstenstand „eines seiner wichtigsten Vorrechte verloren“ (ebd. S. 24). Indessen ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser Verlust niemals formell und verfassungsmäßig festgelegt worden ist und daß es, wenn ein Gesetz den Mitgliedern des jüngeren Reichsfürstenstandes das Wahlrecht zugesprochen hätte, nie zur Aussonderung des Kurkollegs aus dieser Wählerschaft gekommen wäre (F. Keutgen 1918 S. 115 f.). Das Kurkolleg aber trat ins Leben, „ohne daß die übrigen Fürsten sich zu irgendeiner erkennbaren Gegenanstrengung aufgerafft hätten, und das, trotzdem sie dadurch eines Rechtes verlustig gingen von, wie uns scheinen mag, höchster Bedeutung . . . Der Vorgang bleibt, trotz noch so minutiösem Nachweis, wie er sich Schritt für Schritt vollzogen habe, auf das Ganze gesehen die rätselhafteste Erscheinung innerhalb der deutschen Verfassungsgeschichte“ (ebd. S. 96). Obwohl dieses Rätsel bis heute nicht gelöst ist, hält die herrschende Lehre an Julius Fickers Thesen fest. Weil zuerst in Papst Innozenz’ III. Briefwechsel über die Doppelwahl von 1198 einige Fürsten als bevorzugte Wähler hervorgehoben werden (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 17), erklärte schließlich Heinrich Mitteis (1944 S. 15 f.) dieses Jahr zur Zeitenwende: Mit ihm sei die Zeit der Volkswahl zu Ende gegangen und habe die der reinen Fürstenwahl, dann der „Monopoli-
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sierung der Wahl durch die sieben Fürsten, ihre Loslösung von den volkstümlichen Grundlagen“ begonnen. Aber diese Auffassung begegnet weiterhin schwerwiegenden Einwänden. Immer noch ist ungeklärt, wie sich das Königswahlrecht seiner früh- und hochmittelalterlichen volksrechtlichen Grundlagen entledigen konnte, obwohl der Gesetzgeber nie die Befugnis besaß, die Rechte aufzuheben, die das Volk seit jeher nur durch seine Worthalter und Fürsten hatte ausüben können. Mochte auch das Volk unter den veränderten politischen und sozialen Verhältnissen des Spätmittelalters darauf verzichten, seine Rechte in der alten Weise wahrzunehmen und sie damit aktiv zu verteidigen, so bleibt doch fraglich, ob sich deswegen die ihnen korrespondierenden Pflichten der wählenden Fürsten, die der Sachsenspiegel noch für amts- und verfassungsrechtliche Gebote hielt, allmählich und in schwer beobachtbarer Weise zu bloßen Geboten politischer Klugheit abschwächen konnten und ob nicht selbst ein solcher Wandel nur deswegen möglich war, weil weder sie noch das Volk danach trachteten, die alten, von allen gemeinsam für Recht erachteten Grundlagen der Königswahl zu verlassen. § 724. Den vermeintlichen Wendepunkt in der Geschichte des Wahlrechts hatte Ficker an Hand der Beobachtung bestimmt, daß die Quellen noch (und nur) bis zum Ende des 12. Jahrhunderts den Unterschied zwischen persönlich verhandelnden und kiesenden Fürsten auf der einen Seite und den als deren Berater oder auch nur als Zuschauer anwesenden Wählern „bis herunter auf die untersten Volksklassen“ auf der anderen Seite hervorheben, während sie ihn von da an vernachlässigen, indem sie beides als eligere bezeichnen, auch wenn die zweite Gruppe der Wähler dem, was die Fürsten entschieden hatten, nur noch zustimmte (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 7 – 12). Die bis dahin dem deutschen Rechte unbekannte scharfe Unterscheidung zwischen persönlich wählenden und lediglich einhellig, d. h. gesamthänderisch, zustimmenden Reichsgenossen und damit die (scheinbare) Hervorhebung einiger Fürsten als bevorzugter Wähler findet sich zum ersten Male in einem Schreiben, welches die Wähler Herzog Ottos im Juli 1198 an Papst Innozenz III. richteten (MGH. Const. 2, 24 n. 19). Die geistlichen und weltlichen Fürsten und Großen, principes et barones Alamanniae clerici et laici, die sich als dessen Aussteller nennen, hatten Otto rechtmäßig erwählt und pflichtgemäß seiner Wahl zugestimmt, iuste ac rationabiliter elegimus et sicut debuimus ipsius electioni consensimus, und dem entsprechend unterschrieben sechs geistliche Fürsten nebst dem Herzog von Lothringen mit den Worten elegi et subscripsi, der Graf von Cuijk dagegen mit consensi et subscripsi. Der Eindruck, daß damit ein Bruch in der Entwicklung eingetreten sei, wird allerdings gedämpft durch das Schreiben, mit dem fünfzig geistliche und weltliche Wähler dem Papste am 28. Mai 1199 die Wahl Herzog Philipps zum Könige anzeigten (Const. 2, 3 n. 3. H. Mitteis 1944 S. 140 f.). Es waren dies sechzehn geistliche und zehn Laienfürsten, die, dem Range nach geordnet, einzeln, ferner aber
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andere Edle, die summarisch als Aussteller genannt werden, und zwar so, daß die einzeln Angeführten und sie als demselben Stande angehörig erscheinen: Madeburgensis archiepiscopus . . . marchio de Rumesperc aliiqui totius Alemannie nobiles. Ihrer Wahlentscheidung hatten zudem andere Fürsten und Edle durch Boten und Briefe, quorum nuncios et litteras habuimus, zugestimmt. Wieder werden sechzehn Geistliche und acht Laien einzeln, mit ihnen zusammen aber et alii quamplures comites et nobiles summarisch genannt. Sie alle, heißt es, hätten Philipp formgerecht erwählt: collecta multitudine principum, ubi nobilium et ministerialium imperii numerus erat copiosus . . . Philippum . . . rite et sollempniter elegimus. Weil aber einige wenige andere Fürsten ihre Folgepflicht nicht erfüllten, propter paucos principes iustitie resistentes, hätten sie mit ihrem Herrn und Könige einen Reichstag zu Nürnberg abgehalten, um ihm einmütig gegen die Rechtsbrecher beizustehen, contra turbatores suos adiutorium prestituri. In diesem Schreiben ist von einer Scheidung der Wählenden in persönlich kiesende und gemeinsam zustimmende keine Rede. Trotz unterschiedlichen Ranges waren alle Alt- oder Edelfreien sowohl gleichberechtigte Genossen des Reichsuntertanenverbandes als auch gleichberechtigte Teilnehmer an der Königserhebung, ungeachtet aller Standesunterschiede, die zwischen Edlen, Grafen, Markgrafen, Herzögen, Reichsäbten, Bischöfen und Erzbischöfen gegeben sein mochten. Auch sonst, so namentlich mit dem Hinweis auf die Folgepflicht, deren Verletzung die Minderheit ins Unrecht setzte, mit der Einhelligkeit der Nürnberger Entscheidung und mit dem Versprechen des Beistandes, auf dem alle Königsmacht beruhte, gibt uns dieses Schreiben zu erkennen, daß die Reichsgemeinde bei der Erhebung Philipps getreulich die Rechtsgewohnheiten einhielt, die sie seit jeher bei der Königswahl beobachtet hatte. Sie mußte freilich noch bis zum November 1204 ausharren, bevor endlich die Minderheit ihre Folgepflicht erfüllte. Denselben Standpunkt des deutschen Rechts vertrat eine Reichsversammlung, bestehend aus sechzehn geistlichen und vierzehn weltlichen Fürsten, die im Januar 1202 gegenüber dem Papste dagegen protestierte, daß sich dessen Legat zugunsten Ottos IV. in die Königswahl eingemischt habe (Const. 2, 5 n. 6). Nie zuvor nämlich hätten sich Päpste jemals zu Worthaltern der Wähler oder zu Richtern über die Gültigkeit der Wahl aufgeworfen, ut vel electorum personam gererent vel ut cognitores electionis vires trutinarent. Zwar habe einst Kaiser Heinrich II. auf das kaiserliche Recht verzichtet, die Papstwahl zu kontrollieren (oben: § 690), das aber berechtige den Papst nicht zu dem jetzt erhobenen Anspruch, die deutsche Wahl zu lenken. Die Fürstengemeinde, suprascriptorum principum universitas, wies daher den rechts- und verfahrenswidrigen Eingriff des Legaten zurück, weil er als Worthalter der Wähler die Mehrheit der Fürsten nicht hätte mißachten dürfen und als Richter gar nicht auftreten konnte, da es bei zwiespältiger Königswahl keinen höheren Richter, superior iudex, gebe, dessen Spruch die Parteien einige, sondern der freie Wille der Wähler den Riß heilen müsse. Der Spruch des Legaten zu Ottos Gunsten habe gar keinen gültigen Reichsbeschluß bestätigen können, weil sich die Minderheit, die Otto erheben wolle, durch die Abwesenheit des mehreren Teils ins
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Unrecht setze. Der Papst müsse gegen den vorgehen, der so Unziemliches, talia minus decentia (oben: § 187), ins Werk setze, nicht aber gegen Philipp, den sie einhellig und einmütig, una voce uno consensu, erwählt hätten und für dessen Gehorsam gegenüber dem apostolischen Stuhle sie sich verbürgten. § 725. Im Lichte dieses Schreibens, das bis in den angedeuteten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des päpstlichen Koronator-Amtes (oben: §§ 690 – 695) hinein das traditionelle ostfränkisch-deutsche Verfassungs- und Königswahlrecht widerspiegelt, nimmt sich die Erklärung der Wähler Ottos vom Juli 1198 sehr merkwürdig aus. Sie verleugnet ihre Herkunft von einer Minderheit, sie versucht, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken: per universos principes regni animos nostros ereximus, und sie bittet den Papst nicht nur, Ottos Wahl und Weihe zu bestätigen und ihm die Krönung zum Kaiser zu gewähren, sondern auch, die seiner Kur widersprechenden Wähler, principes et barones a tam rationabili electione discordantes, mittels der kirchlichen Bußgewalt zur Eintracht anzuhalten, sie von dem unerlaubten Treueschwur für Philipp, ab illicita fidelitate partis adverse, kraft apostolischer Schlüsselgewalt zu lösen und von ihnen kraft päpstlicher Autorität den Treueid für Otto zu erzwingen. Jeder Beobachter, der sich auf den Standpunkt des deutschen Rechtes stellt, dürfte sich durch diesen Befund dazu genötigt sehen, den Verfassern dieses Schreibens nicht nur Verfassungsbruch und Hochverrat, wollten sie doch der Mehrheit den Willen der Minderheit aufzwingen, sondern auch Landesverrat vorzuwerfen, da sie eine von der Reichsverfassung nicht vorgesehene, vom Reichsuntertanenverbande weder erhobene noch bevollmächtigte Macht (oben: §§ 692, 695a) herbeiriefen, die ihnen die Mehrheit mit den Zwangsmitteln eines dem Volke fremden Rechtes unterwerfen sollte. Hinzu kommt, daß Erzbischof Adolf von Köln, der spiritus rector der Minderheit, die Unterstützung seiner Sache von Erzbischof Johann von Trier um „die überaus hohe Summe von 8000 Mark“ erkauft hatte und trotzdem erleben mußte, daß Johann schon im April 1198 zur staufisch gesinnten Mehrheit überging (H. Stehkämper 2003 S. 210 – 212, 2003a S. 7 – 9). So dürfte sicher sein, daß sich Adolf der Rechtswidrigkeit seines Vorhabens bewußt war. Er konnte indessen darauf rechnen, daß sich der Eklat von 1157 (oben: § 592a) nicht wiederholen würde, da die Depositare des Reichsrechts, als die wir die staufisch gesonnene Mehrheit der Wähler erkannt haben, im Bewußtsein ihrer intellektuellen Unterlegenheit (oben: §§ 527 – 530) es nicht wagen würden, das kanonische Recht als fremdes Recht, das Papsttum als reichsfremde Verfassungsinstanz und sein Eingreifen in den Thronstreit als illegal anzuprangern oder auch nur auf die von den Kirchenreformern und ihren gelehrten Helfern längst verworfene Lehre von den zwei Schwertern zurückzukommen. In der Dekretale Venerabilem, mit der Papst Innozenz III. im März 1202 zugunsten des Erzbischofs von Köln und der Minderheit Stellung nahm (MGH. Const. 2, 505 n. 398), findet sich dann offen ausgesprochen, daß nach Auffassung dieser
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Partei das deutsche Königswahlrecht nicht nach Maßgabe der einheimischen Gewohnheit, sondern vom Standpunkt des römisch-kanonischen Rechtes als universal gültiger ratio scripta aus zu beurteilen sei. Unter Berufung auf die kuriale Translationstheorie (S. 505 Z. 29 – 31), der das Volksrecht niemals beigepflichtet hatte (oben: § 695), steigerte Innozenz sein Beratungsrecht (unten: §§ 737, 738) zum officium denuntiatoris, da es seines Amtes sei, die Tauglichkeit der Prätendenten für das Kaisertum zu prüfen (S. 506 Z. 12 – 14). Mit dem Argument, nur Otto, nicht jedoch Philipp sei am rechten Orte und vom rechten Liturgen geweiht worden (S. 506 Z. 22 – 26), legte er der Königsweihe eine rechtliche Bedeutung bei, die ihr nach Volksrecht keineswegs zukam (oben: § 696). Als Grund für sein Recht, bei zwiespältiger Wahl aktiv in die Erhebung des Königs einzugreifen, konstruierte er ex iure et exemplo eine Pflicht der Deutschen, ihm einen Kaiser und Schirmherrn zu stellen (S. 506 Z. 28 – 34), die der Reichsverfassung ganz unbekannt war (oben: § 695b). Insgesamt formte Innozenz seine Vorstellung vom Verhältnis des apostolischen Stuhles zur deutschen Königswahl nach dem Muster desjenigen zur Bischofserhebung. Nur von dieser konnte die Rede sein, wenn er sich auf die allgemein beachtete Regel berief, zur Prüfung der Person sei derjenige verpflichtet, dem die Handauflegung obliege, ad quem manus impositio spectat (S. 506 Z. 1 – 3). Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts setzte sich in den Bistumsgemeinden die Forderung der Kirchenreformer durch, daß Laien von der Bischofswahl auszuschließen seien und daß, wenn jemand die Rechtmäßigkeit einer Bischofserhebung bestritt, dem Papste die Gerichtsbarkeit über die Klage zustehe (oben: §§ 435, 436). Seither waren die päpstliche Rechtsprechung und die sie kommentierenden gelehrten Juristen damit beschäftigt, für den Gegenstand Normen aufzustellen, die Innozenz III. jetzt ganz unbefangen und erfüllt von der Verachtung, die die Kanonisten seit jeher dem Volksrecht und den Gewohnheiten der Laien entgegenbrachten, auf die Königswahl anwandte. Wie er das Recht, den Bischof zu wählen, auf das Domkapitel einschränkte, um die Laien auszuschließen, so konstruierte er einen beschränkten Kreis von Königswählern, von dem in Deutschland noch niemand je etwas gehört hatte: qui eligendi regem . . . de iure ac consuetudine obtinent potestatem (S. 506 Z. 15 – 16). Auch behauptete er, weil die Mehrheitswähler deren etliche übergangen hätten, absentibus aliis et contemptis . . . eligere presumpserunt (Z. 17 – 18), sei ihre Wahl ungültig, denn es sei wissenschaftlich erkanntes Recht, explorati iuris, daß die Mißachtung eines bestimmten Wählers der Wahl mehr schade als der Widerspruch vieler (Z. 29 – 31. H. Mitteis 1944 S. 132 – 137). Aus der deutschen Gewohnheit, die allen Wählern trotz anerkannter Rangunterschiede das gleiche Wahlrecht zuerkannte und jegliche Abweichung von irgendeiner Regel zuließ, wenn nur das Verfahren am Ende die Einhelligkeit des kiesenden Volkes zeitigte, hätte sich ein solcher Grundsatz niemals ergeben können. Gegen jede deutsche Rechtsauffassung verstieß Innozenz auch mit der Behauptung, es käme auf den Schein voller Wahlfreiheit an (S. 507 Z. 10 – 16), und als ob es sich um eine Bischofswahl handelte, dar-
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über er der oberste Richter wäre, forderte er die deutschen Fürsten auf, entweder Philipp unverzüglich zu verlassen oder gegen die Erhebung Ottos gesetzlich zulässige Einreden vorzubringen (S. 506 Z. 37 – 41). § 726. Nicht also dem Boden des deutschen weltlichen Volks- und Verfassungsrechtes, sondern dem Geiste des gelehrten römisch-kanonischen Rechts ist die Unterscheidung zwischen Wählern und Konsentierenden entsprungen, die Erzbischof Adolf von Köln anläßlich der Erhebung und Weihe König Ottos IV. am 9. Juli 1198 geltend machte. Sie entstammte der Rechtsauffassung der Kirchenreformer, die das Recht, den Bischof zu erheben, der Geistlichkeit vorbehielten und dem Bistumsvolk nichts weiter einräumten, als der Wahl in rechtlich unerheblicher Weise zuzustimmen. Niemals freilich ist das Volksrecht dieser Auffassung hinsichtlich jener Bischöfe gefolgt, die zugleich Reichsfürsten waren (oben: §§ 435, 436, 597a), und ebensowenig hat es sich jemals Papst Innozenz’ kuriale Theorie der Königswahl zu eigen gemacht. Weder durch Erkenntnisse der Kanonisten noch durch päpstliche Urteile ist der deutsche Thronstreit entschieden worden, sondern dadurch, daß Erzbischof Adolf und seine Anhänger endlich ihre volksrechtliche Folgepflicht gegenüber der Mehrheit erfüllten und so die Einhelligkeit des wählenden Volkes herstellten, die in dessen Augen allein eine Königserhebung legitimierte. Papst Innozenz III. war nicht imstande, daran etwas zu ändern, obwohl er Erzbischof Johann von Trier mit der Absetzung bedrohte und Adolf von Köln tatsächlich absetzen konnte, als sie sich zu ihrer volksrechtlichen Folgepflicht bekannten (H. Stehkämper 2003 S. 217 f., 2003a S. 8 f.) und damit der kurialen Theorie absagten. Ich kann mich daher nicht der Meinung derer anschließen, die annehmen, Erzbischof Adolf und Papst Innozenz hätten lediglich die wissenschaftliche Methode des gelehrten Rechts auf einen deutschrechtlichen Gegenstand angewandt, dessen volkstümliche Grundlagen dadurch allerdings alsbald vollständig zerstört worden wären (H. Mitteis 1944 S. 139). Ebensowenig kann ich der neuerdings vorgetragenen Ansicht zustimmen, „selbstverständlich“ seien die Erzbischöfe Adolf und Johann davon ausgegangen, „daß ihre Bekundungen nichts Neues und bisher Unerhörtes enthielten und ihre Ansprüche mit dem bestehenden Recht und gefestigten Rechtsgewohnheiten in Einklang standen“ (H. Stehkämper 2003 S. 212). Ich kann mich auch nicht davon überzeugen, Ziel der erzbischöflichen Politik sei „die Sicherung der freien Königswahl durch die Fürsten gewesen“ (H. Stehkämper 2003a S. 19). Was immer Adolfs Motive gewesen sein mögen: der Schutz des deutschen Rechts und der volksrechtlichen Reichsverfassung lagen ihm gewiß nicht am Herzen. Verfassungspolitiker war er nicht. Nichts scheint mir auch für die Vermutung zu sprechen, Erzbischof Konrad von Mainz, der von August bis November 1199 bei Papst Innozenz in Rom verweilte, sei dort der kanonistischen Zensur des Reichsrechts entgegengetreten und habe den Papst über die deutschen Rechtsgewohnheiten unterrichtet, ohne dabei freilich das Vorgehen Adolfs von Köln rechtlich oder formal zu beanstanden (H. Stehkäm-
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per 2003 S. 221 – 224, 2003a S. 12 – 14), denn wann hätte Innozenz jemals Verständnis für das Reichsrecht bewiesen? Wenn mein Freund Hugo Stehkämper von „der überstürzten Ordnungslosigkeit der Erhebung Philipps“ spricht und ihr die „rechtlich geordnete Königswahl“ entgegenstellt, die Adolf erstrebt habe (ebd. 2003a S. 18), so ergreift er, ohne es zu bemerken, bereits die Partei der Kanonisten, die nur ihre eigene Lehre als Recht gelten ließen, und gleich ihnen leugnet er die Existenz eines davon unabhängigen Reichsrechtes: „Hauptsächlich mit der weitaus überwiegenden Mehrheit der Wähler, niemals mit rechtlichen Argumenten sind, soweit es den Quellen zu entnehmen ist, ihre Widersacher diesen Auffassungen entgegengetreten“ (2003 S. 212). § 727. Welche Auffassung von der Königswahl Erzbischof Konrad von Mainz hegte, kann man daran erkennen, daß er, aus Rom heimgekehrt, zwischen den Parteien zu vermitteln versuchte und zu diesem Zwecke in Köln nicht nur mit dem Erzbischof, sondern auch mit den Bürgern Gespräche führte (Chron. reg. Colon. a. 1199 p. 169), denn das tat er gewiß nicht, „obwohl Königswahlen ausschließlich Sache der Fürsten waren“ (H. Stehkämper 2003 S. 226), sondern deswegen, weil er den Konsens der Bürger zum Wahlverhalten ihres Stadtherrn für rechtserheblich hielt und sich dessen bewußt war, daß die Bürger über die Machtmittel verfügten, um den Erzbischof zur Beachtung ihres gemeinen Willens anzuhalten. Nicht umsonst dankte später Papst Innozenz IV. am 19. November 1247 den Bürgern von Köln, die sich noch unlängst geweigert hatten, Kaiser Friedrich II. zu verlassen (oben: § 695b), dafür, daß sie jetzt König Wilhelm angenommen hätten, nicht umsonst forderte er sie und die Mainzer Bürger auf, diesem treu zu bleiben (MGH. Const. 2, 461 n. 353, 354). Die wahlberechtigten Fürsten wußten und erkannten an, daß das Volksrecht sie dazu verpflichtete, so zu wählen, daß auch die Neufreien ihnen folgen könnten. Da Wilhelm im Jahre 1247 nur von den niederrheinisch-westfälischen geistlichen Fürsten erhoben worden war, weigerten sich die Lübecker, die Goslarer und andere sächsische Bürgerschaften, ihn zum Könige anzunehmen und ihm die Reichssteuern auszuliefern, weil der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg seiner Wahl nicht zugestimmt hatten, und der König war genötigt, sich am 25. März 1252 in Braunschweig einer Nachwahl durch die beiden sächsischen Fürsten zu stellen (Const. 2, 631 n. 459). Sowohl die Bürger der freien Reichsstädte als auch die Herzöge betrachteten sich immer noch als Genossen eines Teilreichs, von dem der König einhellig gewählt und angenommen werden mußte und dessen Wort die genannten Fürsten führten (E. Pitz 2001 S. 288 f.). Nur aus einem Recht der Neufreien, bei der Königswahl gehört zu werden, und einer Pflicht der Fürsten, sich um ihre Zustimmung und Folge zu bemühen, ist es zu erklären, daß die Genossen des Rheinischen Städtebundes nach König Wilhelms Tode Anstalten machten, sich in offenbar hergebrachten und anerkannten Formen (oben: § 712) an der Erhebung des Nachfolgers zu beteiligen. Auf einer Tagfahrt zu Mainz beschlossen ihre Sendeboten am 25. Mai 1256 einhellig und eidlich und
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zum Heile des ganzen Volkes und Landes, falls die Fürsten zwiespältig wählten, keinem der Erwählten beizustehen, keinem Steuern zu zahlen oder Darlehen zu gewähren, keinem die Stadttore zu öffnen oder den Treueid zu leisten; dabei sollte es bleiben, bis die Fürsten ihnen einen einzigen präsentierten, donec nobis unus presentetur, qui de iure Romano regno debeat preesse, und nur bei einhelliger Wahl wollten sie die genannten Untertanenpflichten erfüllen (Const. 2, 579 n. 428 cap. IX c. 3 – 5, S. 586 Z. 25 – 34 und S. 593 n. 434 c. 2 – 4). Nachdem ihnen der Wahltag bekanntgeworden war, versammelten sie sich am 25. Mai aufs neue, um darüber zu beraten, in welcher Form sie ihn besenden, qualiter honeste . . . ad electionis terminum a principibus statutum accederemus, und dort für die Sache des Friedens, d. h. für die Eintracht der Fürsten, wirken könnten, da sie deswegen bereits Briefe und Boten an die Fürsten ausgesandt hatten (ebd. cap. X S. 587 Z. 2 – 6). Die Fürsten ihrerseits erblickten darin keineswegs eine unerlaubte Einmischung. Nachdem sie sich am 23. Juni in Frankfurt zum Wahltag versammelt hatten, bedankten sich ihrer drei bei den am 15. August in Würzburg zusammengetretenen Städten für den Eifer, mit dem sie sich für den Frieden und das Gemeinwohl (oben: § 236) eingesetzt und sie, die Fürsten, dazu aufgerufen hatten, einhellig zu kiesen; sie erklärten sich darin mit ihnen einig und teilten mit, Markgraf Otto von Brandenburg sei bereit, sich um das Königtum zu bewerben, wenn Fürsten, Edle, Städte und andere Freunde ihm dazu rieten, ad consilium nostrum et aliorum principum et nobilium atque vestrum ac aliorum amicorum suorum (ebd. cap. XI S. 587 Z. 28, 588 Z. 3 – 4, 20); der Bewerber aber ersuchte sie darum, zu dem Wahltage am 8. September in Frankfurt zu erscheinen, damit im Falle aufkommender Zwietracht unter den Fürsten die Unrecht erleidende Partei mit ihrer Hilfe gestärkt werde (ebd. S. 588 Z. 44). Gemeint war, daß die Städte auf jede Minderheit Druck ausüben sollten, die sich der Folgepflicht gegenüber der Mehrheit entziehen würde. Die Städte erneuerten denn auch am 15. August den im Mai gefaßten Beschluß, keine zwiespältige Wahl anerkennen zu wollen und je einzeln ihre vollmächtigen Boten zu dem Wahltage zu entsenden (ebd. c. 3 und 7, S. 589 Z. 10 – 12, 38 – 42). So waren sich immer noch alle darüber einig, daß nach Volksrecht weder den im Fürstenrate namens aller kiesenden noch den ihnen zustimmenden Fürsten ein persönliches Stimmrecht zustand, von dem sie willkürlich und zum Eigennutzen ihrer Häuser hätten Gebrauch machen können, sondern allein ein amtliches Stimmrecht, das auszuüben sie nur dann und nur solange vollmächtig waren, wie sie ihren Willen mit dem der Untertanen identifizieren konnten, deren Wort sie zu halten hatten und mit denen sie zu diesem Zwecke auch während des Wahlganges in ständiger Verbindung bleiben mußten. Von Rechts, Amts und Verfassungs wegen war es ihnen verboten, einen Mann zu erwählen, dem sämtliche Reichsstädte die Huldigung verweigern würden, war es ihnen verboten, sich über den gemeinen Willen des Volkes hinwegzusetzen. § 728. Nichts anderes hatte dreißig Jahre vorher der sächsische Schöffe Eike von Repgow (oben: § 597) für Recht gehalten, wenn er erklärte, zwar sollten zuerst
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die drei rheinischen Erzbischöfe und die drei deutschen Inhaber der Erzämter und danach die Gesamtheit der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten kiesen, aber die Erstwähler sollten nicht nach ihrem Mutwillen kiesen, sondern dabei dem zuvor festzustellenden gemeinen Willen aller Fürsten folgen (Ssp. Ldr. III 57 § 2. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 5 – 7. H. Mitteis 1944 S. 164. A. Wolf 1993 S. 92. H. Stehkämper 2003 S. 208). Einhellige Wahl des Königs war die Voraussetzung dafür, daß die genannten sechs Kurfürsten mit dem Namen des Erkorenen an die Öffentlichkeit treten konnten, denn das ganze Volk sollte seinen Namen erfahren und ihn zum Haupte annehmen, indem es in den gemeinen Konsens der Fürsten einstimmte. Der auf die Nennung des Namens folgende Konsens der Fürsten wiederum war die Bedingung dafür, daß nicht nur das anwesend versammelte Volk, sondern auch die Abwesenden, sobald sie die Kunde davon erreichte, in den huldigenden Zuruf und Beifall für den Erkorenen einstimmten, und dies wiederum setzte voraus, daß sich die Fürsten der Identität ihres (gemeinen) Willens mit dem ihrer Untertanenverbände gewiß sein konnten. Läßt man die volksrechtlichen, genauer gesagt: die genossenschafts- und einungsrechtlichen Grundlagen der Königserhebung außer acht, so scheint keine folgerichtige Erklärung der Aussagen des Sachsenspiegels über die Königswahl möglich zu sein. Denn da heißt es einerseits, die Deutschen, d. h. alle Deutschen, sollten den König wählen, und andererseits, zuerst sollten die sechs vornehmsten und dann alle Reichsfürsten kiesen (Ldr. III 52 § 1, 57 § 2). Das aber ergibt nur dann Sinn, wenn Eike die sechs Kurfürsten, die Genossenschaft aller Reichsfürsten und den Untertanenverband aller Deutschen miteinander identifizierte. Heinrich Mitteis (1944 S. 167, 202, 208) ahnte etwas davon, wenn er die Kurfürsten „als Treuhänder der übrigen Fürsten“ handeln läßt, er dachte aber nicht daran, dem nachzugehen und zu ermitteln, von welcher Art die Vollmacht der Treuhänder war und in welcher Form die Fürsten sie etwa erteilt haben könnten (oben: § 713). So bleibt es ihm unerklärbar und unverständlich, daß der Schwabenspiegel den Reichsfürsten zwar „kein Wahlrecht mehr gibt“, wohl aber ihnen „als Rückstand ihres einstigen Wahlrechts ein Vetorecht beläßt“ (S. 168), es bleibt unerklärbar, warum Eike einerseits „für die Gleichheit des (Wahl-)Rechtes innerhalb des Reichsfürstenstands eintreten“ wollte, andererseits aber das Erstkurrecht der sechs Fürsten konstatierte, obwohl er damit den Grundsatz der Gleichheit gefährdete (S. 170 f.), geschweige denn, daß sich irgendein Rechtsgrund für die Teilnahme der Städte an den Wahlen von 1252 und 1256 angeben ließe (S. 184, 186, 191). Angesichts solcher Widersprüche bleibt uns dann nur übrig einzusehen, wie „unwirklich im Grunde sein (Eikes) Bild von der Königswahl ist“ und daß das den Kurfürsten auferlegte Mutwilleverbot „eine bloße Sollvorschrift“ gewesen sei (S. 168, 171), um die sich niemand ernsthaft zu kümmern brauchte. Der Grund für Mitteis’ Urteil ist die These, mit den kanonistischen Spekulationen Papst Innozenz’ III. von 1202, wonach die Gültigkeit der Wahl von der Teilnahme gewisser Wähler abhängen sollte, sei „der erste Rechtssatz über die Königswahl überhaupt ins Leben getreten“, und diesen „in der Bildung begriffenen Satz
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des deutschen Verfassungsrechts“ habe Eike gekannt und sich zu eigen gemacht (S. 139, 166). Wenn uns aber diese These daran hindert, die Sätze des Sachsenspiegels über die Königswahl widerspruchsfrei zu erklären, so ergibt dies einen weiteren Beweis dafür, daß sie falsch ist, daß das deutsche Recht Innozenz’ III. Wahltheorie nicht rezipiert und noch weniger die alten volksrechtlichen Grundlagen verlassen hat, die nach Mitteis seither „vollständig verloren“ gegangen sein sollen. Damit bricht aber auch die These zusammen, daß das Jahr 1198 im deutschen Königswahlrecht Epoche gemacht habe. Eine von oben und außen, nämlich von Rom her, dekretierte Erneuerung hat es damals ebensowenig gegeben wie eine Neugestaltung der Reichsverfassung während des Interregnums von 1250 durch die Einung der Städte, die Otto Gierke (1868 S. 457 – 463, 476 – 480) als „von unten auf organisierende Volksbewegung des Mittelalters“ (oben: § 662) bewundert hat. Lediglich von weiterer Entfaltung des Wahlrechts auf dem Boden des Volksrechts und Herkommens kann die Rede sein. § 729. Gemäß der Form, die um 1225 der Sachsenspiegel und um 1275 der Schwabenspiegel bezeugt, sind 1273 König Rudolf I. und noch 1292 König Adolf erwählt worden: nämlich in einträchtiger Wahl aller Fürsten, deren Mitwirkung durch das Vorrecht der späteren Kurfürsten, ihren Willen in bestimmter Reihenfolge zuerst zu verlautbaren, noch keineswegs zur bloßen Zustimmung herabgesetzt wurde (A. Wolf 1993 S. 91 – 93). Und wenn auch am 27. Juli 1298 zum ersten Male ein König allein von dem siebenköpfigen Kurfürstenkolleg erhoben worden ist, so konnten sich doch die übrigen Wähler auf Grund der Vorgänge, die zum Sturze König Adolfs geführt hatten, gewiß sein, im Einvernehmen mit der Mehrheit der Fürsten und Reichsstädte für Albrecht I. zu stimmen. Dies bedeutet, daß sich auch der geschlossene Kreis der sieben Kurfürsten auf dem Boden des Volksrechts ausgebildet hat, ohne daß Rechtsgedanken des Lehnrechts (H. Miteis 1933 S. 444) oder des römisch-kanonischen Rechts auf den Vorgang hätten Einfluß gewinnen können. Die Kurfürsten übten ihr Amt so aus, als ob sie es vom Volke empfangen hätten (oben: § 712a), und zur Absonderung von den übrigen Fürsten verhalf ihnen ein Antrieb der deutschen Standesrechtsbildung, der überall zur Ausscheidung engerer Gruppen aus den weiteren Verbänden geführt hat und ein eigentümliches Merkmal des deutschen Standesrechts im Gegensatz zu dem der romanischen Völker bildet (oben: §§ 163, 208, 424, 594). Der Verein der Kurfürsten verhält sich zur Genossenschaft der Reichsfürsten und zum Reichsuntertanenverbande nicht anders als innerhalb einer Stadtgemeinde die Gruppe der Bürgermeister zum Rate und zur Bürgerschaft (E. Pitz 2001 S. 65 – 73; oben: § 19, unten: § 763b). Als Kaiser Karl IV. im Jahre 1356 die amtliche Tätigkeit der Kurfürsten zu regulieren hatte, geschah dies nicht, indem er ihnen in seiner Eigenschaft als höchster Richter im Reiche ein Privileg gewährte, welches neue, vom Herkommen abweichende und somit das Volksrecht korrigierende Normen hätte in Kraft setzen können, vielmehr sanktionierte er als Vorsitzender eines rechtsförmlich in Nürnberg
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abgehaltenen Reichstags ex officio und ad perpetuam rei memoriam (G. B. pr., S. 318. E. Pitz 1988 S. 28 f.) ein Gesetz, infrascriptas leges, das er zuvor von den dort anwesenden Kurfürsten und anderen Fürsten, Grafen, Freiherren, Herren, Edlen und Städten, die in großer Zahl dabeiwaren, reiflich hatte beraten lassen (G. B. pr., S. 320). Denn ein Privileg hätte, gleich allen anderen Privilegien, die jeder Kurfürst je erworben, mit dem Tode des Ausstellers und somit just für das Interregnum seine Geltung verloren; wäre dem anders gewesen, so hätte das Gesetz nicht zu bestimmen brauchen, daß jeder König sofort nach erfolgter Wahl als erstes vor allen anderen Amtsgeschäften diese Privilegien zu bestätigen habe (G. B. c. 2, 4, S. 336). Gerade während des Interregnums also, wenn die Kurfürsten ihre Amtes walten sollten, hätten sie einem Wahlprivileg weder selbst Gehorsam geschuldet noch für dessen Nutzung Gehorsam von Dritten fordern können. Dagegen galt ein Gesetz, das sich das Volk durch seine Worthalter selber gab, solange dieses Volk gleichen Willens blieb und seinen Staat aufrechtzuerhalten verstand, und zwar unabhängig davon, ob es Könige und Kurfürsten über sich erhob. Karls Gesetz konnte denn auch nichts anderes tun, als die Gewohnheit zu bestätigen und zu entfalten, ohne sie zu verändern, und dies geschah, indem es sie dort verbindlich auslegte, wo sie unklar gewesen war und daher Streit ausgelöst hatte. Denn tätig wurde der Gesetzgeber um des Volkes willen, weil der Streit der Kurfürsten bereits das Gemeinwohl, bonum commune, behindert hatte (G. B. c. 7, 2, S. 346). Es war nicht sein Wille, etwas neues zu schaffen, sondern das alte Recht in einer neuen Zeit in seiner Geltung zu bewahren. Während des Interregnums also, wenn alle Königsrechte an das Reichsvolk und seine zum Reichstag versammelten Worthalter zurückgefallen waren, konnte nur ein von diesen einhellig beschlossenes Gesetz den Kurfürsten ihre Pflichten vorschreiben, außer ihnen aber auch alle anderen reichsunmittelbaren Fürsten und mittelbaren Grafen, Landherren, Ritter, Dienstmannen, Edle und Nichtedle, Bürger und Burg-, Stadt- und Landgemeinden für die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl verantwortlich machen (G. B. c. 1, 2), und zwar bei Strafe des Meineids und Verlustes aller Lehen, die sie als Feinde des Reichsuntertanenverbandes und der Reichsverfassung, contra rem publicam et sacri statum ac dignitatem imperii . . . rebelles, treffen sollte. Der von ihnen gebrochene Eid aber kann kein Lehnseid, sondern nur das allgemeine Treugelübde aller alt- und neufreien Untertanen, auch derer, die niemandes Vasallen waren, gewesen sein. Da man von diesem Gelübde aber nicht genau wußte, wie es zustandegekommen war, ordnete das Gesetz zur weiteren Sicherheit und Festigung der genannten Untertanenpflichten an, daß alle Kurfürsten und sonstigen Fürsten sowie die Grafen, Landherren, Edlen, Städte und deren Gemeinden ihre Zusagen erneut mit Urkunden und Eiden bestätigen sollten (G. B. c. 1, 5). Es ist also (gegen H. Mitteis 1940 S. 228) sehr wohl „einzusehen, wieso“ Reichsfürsten, Grafen oder freie Herren (der Gemeinden gedenkt Mitteis nicht) „die Wahlbestimmungen hätten verletzen können“. Eindringlich nämlich bezeugt
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das Gesetz, daß nach Rechtsauffassung des Volkes der Reichsuntertanenverband nicht nur als Träger der gesetzgebenden Gewalt immer noch bestand, sondern auch trotz aller Rangunterschiede und Standesrechte, die Alt- und Neufreie, Edle und Nichtedle, Fürsten, Herren und Gemeinden voneinander absonderten, immer noch eine Einung politisch gleichberechtigter Genossen bildete, die alle zusammen durch ihre Worthalter die Einung aufrechterhielten und den Gemeinwillen formulierten. § 730. Deutlich spricht das Gesetz aus, was anders gar nicht sein konnte, da während des Interregnums niemand sonst dafür in Betracht kam: daß nämlich die Kurfürsten ihre Amtsvollmacht vom Reichsvolk empfingen. Denn den Eid auf ihre Amtspflicht, einen zum Königtum tauglichen Mann als zeitliches Haupt für das christliche Volk bedingungslos zu erwählen, sollten sie bei der Treue leisten, mit der sie Gott und dem Heiligen Römischen Reiche verbunden waren (G. B. c. 2, 2), und diese Treue kann während des Interregnums keine andere als diejenige Treue gewesen sein, die sich alle Untertanen des Reiches als gleichberechtigte Genossen nach Einungsrecht gegenseitig schuldeten, bildete doch das Reich während des Interregnums vorübergehend eine akephale Einung (oben: §§ 168, 175, 186, 196). Einungs- und Genossenschaftsrecht wandte das Gesetz auch auf den Verein der Kurfürsten an. Obwohl es den Erzbischof von Mainz zu dessen Worthalter oder Vorsteher bestimmte, hielt es doch auch die Kurfürsten als gleichberechtigte Genossen zu gesamthänderischem Handeln (oben: §§ 16, 17, 247) an. So war es zwar Amtspflicht des Erzbischofs, die anderen Kurfürsten zum Wahltage zu laden (G. B. c. 18, S. 368); versäumte er es aber, dies zu tun, so sollten sie, sobald sie die Nachricht vom Tode des Königs erreichte, auch ungeladen und aus eigenem Antriebe binnen drei Monaten in Frankfurt zusammenkommen (G. B. c. 1, 16, S. 330). Die Amtspflicht des Erzbischofs entledigte also die anderen nicht der Genossenpflicht, selbst für das Wohl der Gemeinschaft zu sorgen. Der Erzbischof war nicht mehr als primus inter pares, da er die Kurfürsten als seine Genossen, suos in dicta electione consortes, laden sollte, und wenn er auch jeden einzelnen von ihnen um seine Wahlentscheidung zu befragen hatte, so sollten doch zuletzt sie als seine Genossen gemeinlich die Kurfrage an ihn selbst richten (c. 4, 2, S. 340). Ebensowenig erhielt der Erzbischof das Recht, seine Ladung mißachtende Genossen wegen Ungehorsams zu bestrafen; das einzige Übel, das das Gesetz dem Säumigen androhte, war der Verlust seines Wahlrechts für dieses eine Mal (c. 1, 18, S. 330). Es genügte, daß bei ordnungsgemäßer Ladung die Beschlußfähigkeit der Genossenschaft gesichert war. Von der Behauptung Papst Innozenz’ III., die Abwesenheit eines oder einiger Kurfürsten käme ihrer Mißachtung gleich und mache die Wahl ungültig, nahm das Gesetz keine Notiz (R. Pauler 1997 S. 208, 211 f., 229). Vielmehr schärfte es den Wählern und deren Minderheit ihre Folgepflicht ein: Hätten alle oder die Mehrheit der (Anwesenden) in Frankfurt gewählt, so sollte die Wahl als von allen einmütig vollzogen gelten (c. 2, 4, S. 336).
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Auch was die Absonderung der Kurfürsten von den übrigen Wählern betrifft, brach das Gesetz keineswegs mit dem Herkommen. Wie seit jeher üblich, konnte es die Verben nominare, consentire und eligere als Synonyme für die Tätigkeit der Kurfürsten verwenden (c. 19, S. 370), denn jeder von ihnen hatte das Recht, entweder selbst eine Person zu benennen oder der Nennung eines Koelektors zuzustimmen. Daher ist es ganz unwahrscheinlich, daß das Gesetz den Konsens der übrigen Fürsten und anwesenden Untertanen für von Rechts wegen unerheblich erklären oder gar das Verbot, willkürlich zu kiesen, widerrufen wollte. Wenn es sich über beides ausschweigt, so deswegen, weil sich darüber keine die Wahl behindernden Streitigkeiten erhoben hatten. Darauf, daß die Kurfürsten weiterhin so zu kiesen hatten, daß alle freien Königswähler ihrer Entscheidung zustimmen konnten, deutet die Bestimmung hin, daß jeder Kurfürst die Stadt Frankfurt mit bis zu zweihundert Berittenen betreten durfte (c. 1, 17, S. 330). Gewiß waren damit nicht nur Leibwachen, Köche, Kammerdiener und Schreiber gemeint, sondern auch Große, Standespersonen und Räte aus den kurfürstlichen Ländern, mit denen sich jeder Wähler über sein Wahlverhalten beraten konnte, um jederzeit gewiß zu sein, daß sein Wille mit dem seines Landes übereinstimmte und er daher vollmächtig sei, als dessen Worthalter zu kiesen. Und nicht nur sein Land, sondern den gesamten Reichsteil, darin es lag, sollte er vertreten, denn um den Gewählten in der Sorge für die Reichsgemeinde, inter . . . rei publicae curas, zu unterstützen und um das Gemeinwohl zu fördern, pro bono et salute communi, sollten die Kurfürsten auch fernerhin periodisch zusammenkommen und bei dem Könige über etwaige Mißstände in den ihnen bekannten Gebieten, regionum sibi cognitarum, zu berichten und Abhilfe zu erwirken (c. 12, S. 356). Damit stimmt überein, daß die Wahlkapitulationen, die die Kurfürsten mit dem künftigen Könige aushandelten, bevor sie ihn wählten, dem Herrscher Verpflichtungen nicht nur zu ihren, sondern zu Gunsten aller Reichsteile und partikularen Untertanenverbände aufzuerlegen pflegten. Als im Jahre 1518 wieder einmal der Tod eines Königs bevorstand, der dem Reiche keinen Sohn als möglichen Nachfolger hinterließ, lehnten Kurfürsten und Reichsversammlung es nach alter Gewohnheit ab, noch zu seinen Lebzeiten den von ihm designierten Enkel zum Könige zu wählen: Die Wahl sollte frei sein wie seit jeher, wenn eine Dynastie erloschen war. Nun aber bewarben sich nicht nur die Fürsten, die König werden wollten, sondern auch die Kurfürsten, die eine bestimmte Bewerbung förderten, um den Beifall der Fürsten, Reichsgrafen, Herren, Ritter und Städte, die noch immer das Reich ausmachten (E. Henning 1981 S. 61. K. Brandi 1942 Bd. 1 S. 88 – 90, 94, Bd. 2 S. 102 f.). Hätten sie das getan, wenn die Königswahl bereits mit dem einhelligen Spruch der Kurfürsten beschlossen worden wäre und nicht darüber hinaus noch immer von Rechts wegen des Beifalls aller künftigen Untertanen des Königs bedurft hätte, um rechtskräftig zu werden?
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§§ 731 – 742. Wer leitet die Wahl und Erhebung des künftigen Königs? § 731. Der rückschauende Beobachter könnte meinen, die Staatsverfassung des hohen Mittelalters habe für eine geordnete Leitung der Wahl keine Vorsorge getroffen. Verläßt er aber den modernen Standpunkt und wechselt hinüber auf denjenigen, von dem aus allein im Mittelalter das Problem betrachtet werden konnte, so erweist sich diese Meinung als haltlos. Daß man auch damals eines geordneten Verfahrens und damit eines Leiters und Koronators (C. Brühl 1962 S. 276) bedurfte, kann nicht bezweifelt werden, denn kein Prätendent hätte sich selbst kiesen lassen und krönen können, ohne sich durch solche Eigenmacht als Tyrann oder Usurpator zu erweisen (oben: § 692). Im Interregnum nun, wenn das Reich einer königlichen Regierung entbehrte und in den Urzustand einer freien, akephalen Genossenschaft zurückkehrte (oben: §§ 16, 168, 186, 217, 218, 287b, 633), ging die Regierung auf die Großen, fideles qui rem publicam regere consueverunt (oben: §§ 208, 612a, 617), über, die jeder für sich dazu von den Untertanenverbänden, deren Häupter sie waren, die Vollmacht erhielten und im Wege weiterer genossenschaftlicher Ermächtigung ihre Zahl soweit mindern konnten, bis sie imstande waren, gesamthänderisch (oben: §§ 16, 186, 223 – 227, 248, 412) für das Reich zu handeln. Um die Formen, in denen der Reichsuntertanenverband die Königserhebung leiten ließ, zu erkennen, müssen wir daher von den Regeln des germanisch-deutschen Einungs- und Genossenschaftsrechtes und der diesem eingeborenen identischen Willensbildung ausgehen, an die sich noch das Reichsgesetz von 1356 gehalten hat. Das Einungsrecht nun teilte allen Genossen gleiche Rechte und Pflichten zu. Jeder Genosse war daher befugt, für den Verband zu handeln, darüber hinaus aber hierzu verpflichtet, wenn er nach Rang und Autorität (oben: § 424) erwarten konnte, für seinen Willen den Beifall und die Folge aller Genossen zu finden (E. Pitz 2001 S. 343 – 346). Eines hoheitlichen Amtes, wie man es damals nur durch königliche Bestallung erlangen konnte, bedurfte er dafür nicht, da Gemeinschaftsbeschlüsse wegen der Protestationspflicht (oben: § 641, qui tacet consentire videtur) keine Sanktion erforderten, um gültig zu werden, konnte doch jeder hören und sehen, ob sie gegen Widerspruch oder einhellig zustandekamen (oben: §§ 26, 27). Die Person des nach Rang und Autorität zur Leitung des gesamthänderischen Handelns berufenen Genossen konnte daher bei jeder Gelegenheit, jeder Versammlung wechseln und war insgesamt so unwichtig, daß die Quellen uns so gut wie nie ihren Namen nennen. Kraft Identitätsrechts war sie, so oft sie auch ein anderer sein mochte, vor allem das immer sich gleichbleibende, unsterbliche Volk. Hätten die Genossen des Reiches während des Interregnums eine solche Person bestimmt und zu ständiger Leitung berufen, so hätten sie diese nach germanischem Rechtsempfinden wohl nur ihren König nennen können, denn wenn schon eine Stellvertretung wie der partikularen Reichsbeamten (oben: § 561), so des Königs im Reiche überhaupt undenkbar war (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 177), dann erst
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recht eine solche, die über seinen Tod hinaus noch im Interregnum gültig gewesen wäre. Schon die Vertretung des lebenden Königs hätte, wenn sie keine Vorbehaltsrechte in seiner Hand zurückließ, seine Abdankung bedeutet (oben: §§ 258, 562, 563). So erwies es sich im Jahre 1198 als unmöglich, Herzog Philipp zum Reichsverweser an der Stelle seines unmündigen Neffen zu erheben (H. Mitteis 1944 S. 115), und später, während der ständigen Abwesenheit Kaiser Friedrichs II., dessen Sohn Heinrich als Vizekönig im Einvernehmen mit den Fürsten regieren zu lassen (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. 160, 185). Als unendlich spannungsreich hatte sich schon im 10. Jahrhundert das Verhältnis des Königs zu den Herzögen erwiesen, weil diesen in der (wohl nicht zuletzt zur Erleichterung der Königswahl eingerichteten) ostfränkischen Regna eine vizekönigliche Gewalt zustand, kraft deren sie von Amts und Autoritäts wegen verpflichtet waren, in ihren Regna die Wahl in die Wege zu leiten und zu lenken (oben: §§ 443, 444, 482, 489, 507, 539). Vollends war es rechtlich unmöglich, daß sich der König im Reiche durch Hofbeamte (oben: § 420) oder andere, nicht auch von der Reichsversammlung ermächtigte Hausgenossen vertreten ließ. Die Königin und Königin-Witwe allerdings besaß als consors regni eine solche, freilich unbestimmte und funktional beschränkte Vollmacht (A. Fößel 2000 S. 111 f., 166 – 179, 339 – 356. Oben: § 699), doch ist es unsicher, daß diese über den Tod ihres Gemahls hinaus gültig blieb. Mit Recht zurückgewiesen worden ist die 1914 von Eugen Rosenstock vorgetragene These, das Königshaus einerseits und die Stämme (d. h.: die Teilreichsvölker) andererseits seien die beiden Grundbestandteile der Verfassung, daher die Reichsregierung nichts anderes als die Verwaltung des königlichen Hauses gewesen; nur deshalb habe die Königin-Witwe die Regentschaft für einen minderjährigen Sohn führen und an Staatsgeschäften teilnehmen können, weil dies Interna des königlichen Hauses gewesen seien (F. Keutgen 1918 S. 10 A. 18. H. Mitteis 1944 S. 53). Trotzdem wird noch heute die Meinung geäußert, die karolingische Königsherrschaft sei so etwas wie eine überdimensionierte Hausherrschaft gewesen, an der beim Tode des Vaters alle Söhne gleichen Anteil erhalten sollten, und die sächsischen Könige Heinrich I. und Otto I. hätten in einer Art Hausordnung ihre Nachfolge regeln können (St. Weinfurter 2000 S. 17, 23). § 732. Als Leiter der Wahl und Erhebung des neuen Königs kommen demnach lediglich in Betracht der alte König, soweit er das Verfahren noch zu Lebzeiten in Gang zu setzen vermochte, während des Interregnums aber die Königin-Witwe, sofern sie ihre amtliche Stellung zu wahren wußte, die Herzöge, soweit sie nicht nur je in ihren Regna, sondern zu gesamter Hand auch im Reiche tätig zu werden gewillt waren, und schließlich die Fürsten gemeinlich, deren Vollmacht schwerlich jemand anzweifeln konnte. Was zunächst den alten König anlangt, so muß es zu seiner Amtspflicht, das Reich vor Schaden zu bewahren, gehört haben, Streitigkeiten über seinen Nachfolger zu verhüten und daher beizeiten den Wählern nicht nur eine dafür geeignete Person vorzuschlagen, sondern auch ihre einhellige Zustimmung zu seinem Vor-
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schlag herbeizuführen. Die Quellen nennen dieses Staatsgeschäft eligere, suggerere, designare, annuere (H. Mitteis 1944 S. 42); wir haben es mit der üblichen synonymischen Redeweise (oben: § 555) zu tun, die uns daran hindert, den rechtlichen Gehalt der Designation, wie man den Vorgang heute zu nennen pflegt, zu bestimmen (U. Schmidt 1987 S. 18 – 26). Ich halte es für unzutreffend, weil der Idee des Staatsaufbaus von oben her verhaftet, zu sagen, der königliche Wahlvorschlag habe die Wähler derart gebunden, daß sie ihn nicht ablehnen konnten, ohne ihre Untertanen- und Treuepflicht zu verletzen (ebd. S. 32, 37 – 43, 77), oder die königliche Lenkung der Wahl schließe die dualistische Verfaßtheit des Staates aus, da sich das Volk ohne Zutun des Königs keinen eigenen Willen bilden konnte (G. Tellenbach 1979 S. 196, 220 f. Oben: § 601). Denn wie wir wissen, gestattete das Reich seinem Könige nur dann, einen Nachfolger zu designieren, wenn ihm die Königin einen (falls noch nicht handlungs-, so doch wenigstens) rechtsfähigen Sohn geboren hatte (oben: § 699). Undeutlich bleibt, was die Designation und die Huldigung, die das Volk dem Erwählten zu Lebzeiten des Vaters leistete, namentlich dann bewirkten, wenn der König starb, solange der Designierte noch minderjährig war und eines Vormundes bedurfte, um regieren zu können. Denn wie jeder andere freie Mann, so schied auch der zum König erhobene mit dem Tode wie aus dem physischen, so aus dem Rechtsleben so vollständig aus, daß er weder seinen Kindern einen Anteil am Erbe ihres überlebenden Großvaters noch Dritten durch Testament einen Anteil an seinem eigenen Erbe verschaffen konnte (oben: §§ 92, 100). Sollte da das öffentliche Recht der Person des Königs eine über den Tod hinausreichende Willensmacht verliehen haben? Eine Stellvertretung des Königs durch einen Regenten jedoch ließ es noch nicht einmal zu dessen Lebzeiten zu. Überdies betrachtete es den unmündigen König als selber regierend, da die Reichskanzlei die Diplome in seinem Namen ergehen und mit dem eigenhändigen Vollziehungsstrich des Kindes versehen ließ: „Wessen Wille und Wort bei der Lenkung des Reiches am meisten galt, war also eine bloße Tatsachen- und Machtfrage“ (P. Kehr in MGH. DLdK. S. 75 f. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 201, Bd. 8 S. 12. H. Mitteis 1944 S. 41 f.). Nach dem Tode Kaiser Arnulfs (8. Dezember 899) war es nicht die KaiserinWitwe Oda, sondern Erzbischof Hatto von Mainz, der gemeinsam mit den Bischöfen Salomo von Konstanz und Adalbero von Augsburg und mit den um den König versammelten Großen bestimmen konnte, solange der stets kränkelnde König Ludwig lebte. Wir haben es mit einer Vormundschaft der Großen zu gesamter Hand zu tun, die den Bischöfen deswegen maßgeblichen Einfluß gewährte, weil die ihnen gleichrangigen weltlichen Großen, als Herzöge und Mark- oder Großgrafen, aus deren Gruppe bei freier Wahl der neue König hätte ausgelesen werden müssen, stets der Versuchung unterlagen, eine Vormund- und Regentschaft zur Förderung ihrer eigenen Bewerbung um das königliche Amt auszunutzen. Dies zeigte sich, als Kaiser Otto II. am 7. Dezember 983 in Rom verschieden war und die KaiserinWitwe Theophanu in Italien verweilte, während sich ihr dreijähriger, bereits erwählter und geweihter Sohn Otto in Aachen aufhielt: Da bemächtigte sich dessen
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Vetter zweiten Grades, Herzog Heinrich II. von Bayern, des Kindes und mit ihm der Reichsregierung, um nun die Wahl auf sich selber zu lenken, gleichsam als ob mit dem Tode des Kaisers das Reich ins Interregnum eingetreten sei. Dem widersprach niemand, auch wenn die Mehrheit der Fürsten hinsichtlich seiner Person anderer Ansicht war. Sie versammelte sich am 29. Juni 984 zu Rohr in Thüringen und zwang den Herzog, das königliche Kind der aus Italien zurückgekehrten Kaiserin-Witwe auszuliefern. Theophanus Vormundschaft und Leitung der Regierungsgeschäfte währte zehn Jahre, solange, bis Otto III. das fünfzehnte Lebensjahr erreichte und auf einer Reichsversammlung zu Sohlingen im September 994 die Schwertleite empfing (Gebhard Hdb. 1970 S. 265, 268. T. Struve in LMA 7 Sp. 949. G. Althoff 1996 S. 38 – 40, 48 f.). Offensichtlich beruhte die Vollmacht der Theophanu weder auf Haus- und Familienrecht noch auf einem Willensakt Ottos II., der über dessen Tod hinaus rechtskräftig geblieben wäre, sondern auf dem Willen der Großen, die das Reich gemeinsam mit dem unmündigen König zu gesamter Hand regierten. § 733. Wie wenig die zu Lebzeiten des Königs vollzogene Huldigung zu bedeuten hatte, zeigte sich gegen Ende der Regierung Kaiser Heinrichs III. Mit dessen selbstherrlicher Regierungsweise waren die zur Mitregierung berechtigten Fürsten so unzufrieden, daß sie, als er ihnen im November 1053 seinen erst dreijährigen Sohn zum Nachfolger designierte, nur zu einer bedingten Wahl desselben bereit waren. Sie versprachen dem Vater zwar unter Eid, nach seinem Tode dem Sohne zu gehorchen, doch sollte ihr Versprechen nur dann gelten, wenn der Sohn ein gerechter Herrscher sein werde (H. Mitteis 1944 S. 64. I. S. Robinson 1999 S. 20 – 22). Sie behielten sich das Recht vor, den Erwählten wieder zu verlassen, falls er in einer Weise regieren würde, die sie als ungerecht empfanden. Als der Vater am 5. Oktober 1056 unerwartet früh verstarb, brauchten sie die Bedingung wohl deshalb nicht zu erneuern, weil die Unmündigkeit des Sohnes bis zum Jahre 1065 eine vormundschaftliche Regierung nötig machte. Daß die Kaiserin-Witwe Agnes diese in ihrem Auftrage führte. ergibt sich nicht nur aus der Art und Weise, wie Erzbischof Anno von Köln sie ihr im Jahre 1062 zu entreißen vermochte (Gebhardt Hdb. 1970 S. 323 f., 328. I. S. Robinson 1999 S. 43 – 46), sondern auch aus einem vermutlich 1056 gefaßten und beschworenen, jedoch ungenau überlieferten Beschluß, durch den sie ihr sowohl die vormundschaftliche Regierung als auch das Recht überlassen haben sollen, im Falle des Todes des unmündigen Königs ihren Rat bei der Auswahl des Nachfolgers zu erteilen (U. Schmidt 1987 S. 40. I. S. Robinson 1999 S. 28, 59 – 61). Schon dies alles spricht dafür, daß die Rechtswirkung der zu Lebzeiten des alten Königs und auf dessen Designation hin erfolgten Erhebung des Nachfolgers nicht über den Tod des ersteren hinausreichte, sondern vom Reichsvolke durch dessen Große in freier, auch die Wahl eines anderen Bewerbers zulassender Willensentscheidung erneuert werden mußte, daß also trotz der Designation ein Interregnum eintrat, während dessen die Fürsten genossenschaftlich und zu gesamter Hand re-
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gierten. Dieser Eindruck bestätigt sich und wird zur Gewißheit, wenn wir diejenigen Regierungswechsel ins Auge fassen, die nicht noch von dem alten Könige vorbereitet werden konnten, weil ihm weder ein leiblicher Sohn geboren worden war noch ein Designationsrecht zugunsten Dritter zustand. Einen gewissen Einfluß auf die Fürstengenossenschaft mochte in diesem Falle die Königin-Witwe erlangen, da sie für sich selbst nicht nach der Krone streben konnte. Als nach dem Tode Kaiser Heinrichs II. (12. Juli 1024) die Reichsgemeinde, res publica, alsbald zu wanken begann, weil von den mächtigen weltlichen Fürsten jeder der erste oder nach diesem der zweite sein wollte und sich daher überall Zwietracht ausbreitete, da kam dem Reiche Kaiserin Kunigunde mit ihren beiden Brüdern, Bischof Dietrich von Metz und Herzog Hezilo von Bayern, nach Kräften zu Hilfe (Wipo, Gesta Ch. c. 1 S. 9), und zwar vermutlich dadurch, daß sie die Mehrheit der Großen dazu aufriefen, die Zwietracht zu beenden. An den Wahlverhandlungen selbst nahm Kunigunde nicht teil. Es trifft daher nicht zu (J. W. Busch 1995 S. 16 – 18), daß sie die Regentschaft übernommen und mit Rat ihrer Brüder und der hohen Geistlichkeit die Regierung geführt habe. Erst als das Volk den neuen König gekoren und erhoben hatte, trat sie noch einmal hervor, indem sie dem Könige die Insignien übergab, die Kaiser Heinrich ihr hinterlassen hatte, und ihn dadurch in gewisser Weise in seiner Amtsgewalt bestätigte: regalia insignia, quae sibi imperator Heinricus reliquerat, gratanter obtulit et ad regnandum, quantum huius sexus auctoritatis est, illum corroboravit (ebd. c. 2 S. 19 Z. 16 – 19). Die von der Gewohnheit nicht definierte Autorität, um die es hier geht, könnte die amtliche der consors regni (oben: § 699) gewesen sein, denn wer immer die Insignien verwahrte, tat das nicht als Privaterbe des verstorbenen Königs, sondern im Namen des Volkes, dem sie gehörten und das allein darüber entschied, wem der Verwahrer sie übergeben durfte. Nicht Haus- und Familienrecht, sondern das Recht des öffentlich und einhellig handelnden Volkes war dafür maßgeblich. So vertraute denn auch der sterbende Kaiser Heinrich V. im Jahre 1125 seine Hinterlassenschaft und die Obhut über die Kaiserin-Witwe Mathilde seinem Neffen Friedrich von Schwaben als nach Haus- und Familienrecht nächstem Erben an, die Reichsinsignien dagegen ließ er auf die Reichsburg Trifels bringen (RI 4, 1, 1 n. 98, hier: S. 60 Z. 5 – 9). Mathilde war daher machtlos, als die Fürsten und Erzbischof Adalbert von Mainz als deren Worthalter ihr die Insignien abforderten und sie von der Interimsregierung völlig ausschlossen (H. Mitteis 1944 S. 88 f. J. W. Busch 1995 S. 18 – 20, 23). § 734a. Den Vorgängen von 984 und 1024 ist zu entnehmen, warum die Großen die Leitung der Wahl nur ungern den Herzögen überließen: Sie fürchteten deren vizekönigliche Befugnisse nicht weniger, als es die Könige taten, und unterstützten daher deren von Otto I. begonnenes Vorgehen gegen sie, das mit der Auflösung der herzoglichen Regna in niedere Herzogtümer und Mark- oder Großgrafschaften endete (oben: Vierzehntes Kapitel), von denen keine Bedrohung ihrer genossen-
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schaftlichen Regierung mehr ausging. Solange die Herzöge aber noch Häupter der Regna waren, fiel ihnen die Leitung der Wahl nur dann zu, wenn keine allgemeine Wahlversammlung zustandekam und daher eine erste Entscheidung des fränkischen Regnums durch Nachwahlen der anderen Regna bestätigt werden mußte. Auf diese Weise hatte in den Jahren 919 bis 925 Herzog Heinrich von Sachsen das Königtum erlangt (oben: §§ 452, 479 – 482, 489). Wie sich aus den Berichten Bischof Thietmars von Merseburg klar ergibt, gelangte im Jahre 1002 Herzog Heinrich IV. von Bayern auf dieselbe Weise ans Ziel. Er vereinigte die Leitung des Wahlgeschäfts mit seiner eigenen Bewerbung um die königliche Würde und verhinderte dadurch das Zusammentreten einer allgemeinen Reichsversammlung, die ihm feindlich gesonnen gewesen wäre. Dies hatte er bereits erfahren, als die Fürsten, die den Leichnam Ottos III. (gestorben am 23. / 24. Januar 1002) aus Italien nach Aachen geleiteten, durch Bayern zogen, denn da hatte er einerseits einen jeden von ihnen mit vielen Versprechungen dafür zu gewinnen versucht, ihn sich zum Herrn und König zu erwählen, andererseits aber auch den Kanzler Erzbischof Heribert von Köln zur Herausgabe der Reichsinsignien genötigt (Thietmar IV 50), deren Besitz den Inhaber öffentlich als vornehmsten Treuhänder des Volkes und Ersten der wahlberechtigten Fürstengenossenschaft hervorhob. Die Fürsten hatten sich aber nicht überreden lassen. Sie wiesen ihn zwar nicht rundheraus ab, wollten aber zuerst feststellen, wohin sich die Mehrheit des ganzen Volkes und seiner sachkundigen Worthalter, melior et maior populi tocius pars, neigen werde (ebd.), und dieser Haltung schloß sich auch Herzog Dietrich von (Ober-)Lothringen (ebd. V 3) und gewiß mancher andere abwartende Fürst mitsamt seinen Untertanen an. Als Kandidat der Mehrheit trat schließlich seit dem 5. April Herzog Hermann von Schwaben hervor, während Markgraf Ekkehard von Meißen, vom Volke erhobener Herzog der Thüringer (oben: § 519), vergebens das Regnum der Sachsen hinter sich zu bringen versuchte und am 30. April ermordet wurde, bevor er sich mit Hermann und dessen Anhängern über die Bewerbung vergleichen konnte (Thietmar IV 52, 54, V 4 – 7). Der Übergang seiner sächsischen Gegner zu Herzog Heinrich von Bayern (ebd. V 3) entschied dann den Wettstreit. Gegen den Widerstand Hermanns glückte Heinrich die Überquerung des Rheins, und am 7. Juni 1002 konnte er sich in Mainz von den Großen Bayerns, Frankens und Oberlothringens zum Könige wählen lassen (ebd. V 11). Da nach Ekkehards Tode nur Hermann offen dagegen protestierte, wagte es Erzbischof Willigis von Mainz, Heinrich sogleich die geistliche Weihe zu erteilen; er und die Mainzer Wähler erhoben damit den Anspruch, die Mehrheit zu bilden und die ausgebliebenen Wähler zur Folge zu verpflichten. Und damit hatten sie Erfolg: Heinrich zog vom Rhein aus nach Thüringen, wo ihn Großgraf Wilhelm, die Ersten des Landes und das ganze Volk (oben: § 474) zum Herrn annahmen (Thietmar V 14), und weiter nach Merseburg, wo die geistlichen und weltlichen Fürsten Sachsens am 24. Juli dasselbe taten. Als deren Wort-
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halter trat, obwohl zwei Erzbischöfe und zahlreiche Bischöfe anwesend waren, Herzog Bernhard hervor (oben: §§ 443, 463). Dem Könige, der ihm gegenüberstand, eröffnete er mit Zustimmung aller den Willen des versammelten Volkes und aller (Sachsen) Notdurft und Volksrecht, um dann zu erfragen, welche Gnaden er ihnen mit Wort und Tat erweisen wolle, cum consensu omnium, astante coram rege, voluntatem plebis convenientis aperiens omniumque necessitatem ac legem specialiter exponens, quid eis misericordie dictis promittere seu factis vellet impendere, diligenter inquirit (Thietmar V 16). § 734b. Herzog Bernhard trug dem Bewerber also die vom Volke beschlossenen Bedingungen vor, unter denen es ihn zum Könige annehmen wollte, und forderte das Übereinstragen der Willen beider Seiten zu einem Herrschaftsvertrag. Der König antwortete darauf, indem er ihnen seinen bis dahin geheimen Willen dazu eröffnete, voluntatis mee secretum vobis aperio, quod . . . vobis omnibus impendere desidero. Nachdem die einhellige Stimme des Volkes, vox una plebis astantis, den Willen des Königs dadurch für hinreichend erklärt hatte, daß es ihn zum Könige ausrief, ergriff Herzog Bernhard die heilige Lanze und übertrug im Auftrage aller dem Könige die Regierung des (sächsischen) Regnums, Bernhardus igitur dux, accepta in manibus sacra lancea, ex parte omnium regni curam illi fideliter committit (Thietmar V 17. Oben: § 443). Gewiß liegt darin, daß eine Kriegswaffe als Symbol der Bevollmächtigung diente, der Grund dafür, daß kein geistlicher Fürst als Worthalter der Sachsen hervortreten konnte, sondern der Vorrang dem vornehmsten Laienfürsten des Volkes zukam. Dies kann den Geistlichen nicht gefallen haben, aber den Vorrang, den sie beanspruchten, konnten sie nur bei der Königsweihe sichtbar machen, der jedoch nach Volksrecht keine Bedeutung zukam. Von Sachsen aus zog der König nach Duisburg, wo die Bischöfe, und weiter nach Aachen, wo die Großen von Niederlothringen ihn zum Könige wählten. Da gab auch Herzog Hermann von Schwaben den Widerstand auf (oben: § 720a). Am 1. Oktober 1002 trat er in Bruchsal vor den König, um dessen Gnade zu erlangen und ihn zum Herrn anzunehmen (ebd. V 20, 22). Im Verlaufe von acht Monaten hatte Heinrich damit sein Ziel erreicht. Einige wenige Ausnahmen vernachlässigend, konnte er sich als von den Fürsten einmütig erhobenen König betrachten (MGH. DH. II. 34 vom 15. Januar 1003. Schwerlich kann zutreffend gesagt werden, es sei, weil „für die Wahl durch die Großen noch keine eigenen Formen und Regeln entwickelt“ waren, „weder zu einem allgemeinen Wahltermin noch überhaupt zu einem verbindlichen Wahlakt“ gekommen (St. Weinfurter 2000 S. 55). Was die Eigenart des Wahlgangs bestimmte, das war die Politik des künftigen Königs, und schwerlich hätte sich Heinrich zu ihr entschlossen, wenn er dadurch Gefahr gelaufen wäre, die Verfassung zu brechen. Am Hofe der Herzöge von Bayern erinnerte man sich gewiß noch daran, daß einst auch Heinrichs Urgroßvater nicht von einer einzigen Reichsversammlung, sondern im Verlaufe mehrerer Jahre nacheinander in den einzelnen Regna zum Könige angenommen worden war. Befreit man die volksrechtlich erheblichen Wahlhandlungen von der mystischen Verbrämung, mit der Heinrich hernach sein Königtum zu drapieren liebte (ebd.
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S. 42 – 47), so läßt sich weder behaupten, daß hier erstmals die geistliche Leitung der Wahl festzustellen sei (H. Mitteis 1944 S. 59), noch daß die Erhebung Heinrichs irregulär verlaufen sei. Wo immer sich vom 5. April bis zum 1. Oktober Fürsten versammelten, taten sie es als vollmächtige Worthalter der Gemeinden, deren Häupter sie waren, und handelten sie zu gesamter Hand, wenn sie ihre Sprecher und Thronbewerber bestimmten und schließlich, seit dem 7. Juni, in Erfüllung ihrer Folgepflicht Heinrich zum Könige wählten. Keine Quelle spricht davon, daß die Zeitgenossen das Verhalten irgendeines der Beteiligten als rechtswidrig angesehen hätten: Dafür waren sie zu gut mit der Mühsal identischer Willensbildung vertraut. Und was immer der eine oder andere für irregulär erachtet haben mag, das wurde dadurch geheilt, daß am 1. Oktober diejenige Einhelligkeit des Gesamtwillens hergestellt war, der gegenüber sich die immer noch Widerstrebenden ihrerseits als Verletzer der Folgepflicht ins Unrecht setzten. Wie sehr man das Verfahren als ordnungsgemäß ansah, ergibt sich daraus, daß man sich im Jahre 1024 abermals daran hielt. Zwar wurde König Konrad zuerst am 4. September 1024 auf einer fast allgemeinen Versammlung zu Kamba am Rhein erhoben, aber die Mehrzahl der sächsischen Fürsten war nicht zugegen, und die Lothringer zogen sich zurück, ohne zu kiesen. Spätestens mit Annahme der geistlichen Weihe am 8. September machte Konrad deutlich, daß er die Folge der Ausgebliebenen einfordern wollte. Dies geschah, indem er zunächst nach Köln und Aachen zog, wo die Lothringer, dann nach Minden, wo am 25. Dezember die Sachsen, und schließlich weiter nach Süden, wo bis Ende 1025 auch Bayern, Ostfranken und Schwaben die Nachwahl vollzogen oder ihre in Kamba getroffene Entscheidung bestätigten (Wipo, Gesta Ch. c. 2 und 6). Nicht schon durch die Annahme des Königtums in Kamba, sondern erst mit diesem Umritt schloß Konrad die TeilKönigreiche zum Bundesstaat zusammen, regna pacis foedere et regia tuitione firmissime cingebat (ebd. S. 29 Z. 15). § 735. Man sieht, daß von einer Leitung der Wahl von 1002 durch die Herzöge nicht eigentlich die Rede sein kann. Namentlich ein Recht, die Großen zum Wahltage verbindlich (d. h.: bei Strafe im Falle der Säumnis) zu laden, kann ihnen schwerlich zugestanden haben, wie es denn dem Einungsrecht überhaupt unbekannt war (oben: § 25). Bischof Thietmar jedenfalls vermeldet niemals, wer zu den Verhandlungen der Fürsten über die Königswahl geladen habe, sondern konstatiert lediglich, daß sie sich versammelten (principes conveniunt IV 52, V 15, omnibus in unum collectis V 3). Dagegen zeigt er, daß sie gemeinsam oder zu gesamter Hand tätig wurden und dazu durch die Kunde vom Tode des Königs und Eintritt des Interregnums veranlaßt wurden. Diejenigen, die Zeugen des Ablebens Ottos III. geworden waren und den Leichnam mitsamt den Reichsinsignien nach Aachen geleiteten, und mit ihnen alle, die dort an der Beisetzung teilnahmen, waren vor allen anderen Untertanen des Reiches dazu verpflichtet. Bei ihnen meldete Herzog Heinrich von Bayern seine Bewerbung an, sie beschieden ihn dahingehend, daß nicht ihnen allein, sondern dem ganzen Volke das
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Wahlrecht zustehe, und ihre Mehrheit sagte Herzog Hermann ihre Unterstützung zu (IV 50, 54). Ebenso versammelten sich die sächsischen Fürsten, sobald ihnen Ottos Tod bekanntgeworden war, also ungeladen und aus eigenem Antrieb, auf dem Königshof Frose, um über die Nachfolge zu beraten (IV 52). Es war weniger ein Recht der Großen als eine Pflicht, die das Volk seinen Worthaltern auferlegte, sich bei Eintritt des Interregnums sofort als akephaler Verband und freie Einung (oben: § 645) zu konstituieren, um dem Volke ein neues Oberhaupt zu nominieren und, wenn das Volk ihrem Vorschlage zustimmte, dem Erwählten Insignien und Amtsgewalt zu übergeben. Wie es noch das Reichsgesetz von 1356 bestimmt, waren zwar die Vornehmsten, die Erzbischöfe und Herzöge, dazu besonders verpflichtet, wenn sie aber säumig wurden, war es Pflicht jedes anderen Fürsten und freien Mannes, sie zu gemeinsamem Handeln und zu rascher gemeinsamer Beendigung des dem Reiche gefährlichen Interregnums aufzurufen. In denselben Formen vollzog sich im Jahre 1024 die Wahl König Konrads II. Unser Berichterstatter nennt als gemeinsam verantwortliche Große mit Namen drei Erzbischöfe, sechs Bischöfe und vier Herzöge aus Nieder- und Oberlothringen, Franken und Schwaben, einen Erzbischof, zwei Bischöfe und zwei Herzöge aus Bayern, dazu namenlos die ihm persönlich nicht bekannten Erzbischöfe und Bischöfe Sachsens nebst den Herzögen von Sachsen und Böhmen (Wipo, Gesta Ch. c. 1); es ergeben sich zwanzig genannte und mit den ungenannten geistlichen Fürsten aus Sachsen maximal dreißig Fürsten, quorum consiliis consuevit Francia reges eligere (ebd. S. 9 Z. 31). Von dem Bischof von Bamberg hören wir, was auch von den anderen hätte gesagt werden können, er sei ingenio et moribus rei publicae valde necessarius gewesen (S. 10 Z. 19): nicht dem Königreich, da es im Interregnum keinen König gab, sondern der Reichsgemeinde, die Wipo betont als regnum oder res publica anspricht (oben: § 626). Jene dreißig waren denn auch keineswegs allein verantwortlich; viele andere Bischöfe und Äbte (S. 11 Z. 8) ceterique potentes kamen mit ihnen zusammen, um der Gefahr vorzubeugen, ne res publica diutius sine regente nutaret (S. 13 Z. 5 – 9). Dieses Wahlgremium besaß kein Oberhaupt, ja noch nicht einmal, wie später das Kurfürstenkolleg, einen besonders verpflichteten, jedoch zu nichts berechtigten Geschäftsführer. Durch Briefe und Boten tauschten sich die Teilnehmer über geeignete Bewerber und Wahltermine aus, und am Ende dieses polyzentrischen Verhandelns condicta est dies notatusque locus, fit publicus conventus (S. 13 Z. 9 – 12, 17 – 19, unten: § 756b): Kein einzelner setzte fest oder lud ein, sondern die Gemeinschaft beschloß darüber im Wege der Einung. So konnten denn auch die in Kamba am Mittelrhein Versammelten keinen Leiter oder Vorsitzenden über sich erheben; die gemeinsame Achtung vor Vorrang, Autorität (oben: § 424) und Alter genügte, um die Beratung zu ordnen (Wipo c. 2). Da die Wähler getrennt nach den Regna, für die sie sprachen, ihre Zelte aufgeschlagen hatten, dürfte ein etwa achtköpfiger Ältestenrat die Verhandlungen gelenkt haben. Die Zahl der späteren Kurfürsten war damit vorgezeichnet, lange bevor sich dieser Rat ständisch von der Gemeinschaft der Großen absonderte. Die Akephalie bringt Wipo in seinem Be-
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richt dadurch zum Ausdruck, daß er seine Aussagen in die Form des grammatischen Passivs kleidet: coadunati sunt, quaeritur de re summa, dubitatur . . . Cum diu certaretur, quis regnare deberet, . . . inter multos pauci electi sunt, et de paucis admodum duo sequestrati sunt, in quibus examen . . . in unitatis puncto tandem quievit (S. 14 Z. 9 – 10, 15 Z. 8 – 15). § 736. Und nicht einmal jetzt, da sich die beiden Konrade als Bewerber gegenüberstanden, die Mehrheit ihre Entscheidung aber nicht zu verlautbaren wagte, weil sie fürchtete, die Minderheit würde die Versammlung verlassen, anstatt ihre Folgepflicht zu erfüllen (S. 16 Z. 6 – 11), trat ein neutraler Verhandlungsleiter hervor, sondern der ältere Konrad selbst löste die Krise, indem er sich mit seinem Vetter vertraglich über die gegenseitige Einhaltung der Folgepflicht einigte: ut ipsi inter se convenirent quodam pacto . . . quod in quem illorum maior pars populi laudaret, alter eidem sine mora cederet (S. 16 Z. 12 – 14), damit nicht populus sie beide verlasse und ihnen einen Dritten vorziehe (S. 17 Z. 26 – 27). In der langen Rede, die Konrad darüber gehalten haben soll (S. 16 Z. 21 bis 18 Z. 24), apostrophiert Wipo die Wahlversammlung ausschließlich und viermal als populus, um auf diese Weise ihre Identität mit der gesamten Reichsgemeinde zu betonen: Die Kiesenden waren das Volk. Offenbar hatten sich unterdessen die Fürsten vor Erregung erhoben, denn als die beiden Konrade den Vertrag sichtbar mit dem Friedenskuß bekräftigt hatten, setzten sie sich inmitten des umstehenden, in Menge herbeigeeilten Volkes wieder nieder (S. 18 Z. 21 – 22). Nun konnte man das Ergebnis der oft verwirrend verlaufenen Verhandlungen formgerecht feststellen, indem man zur Kur im engeren Sinne des Wortes schritt. Dazu mußten die Vornehmsten in ranggemäßer Reihenfolge einzeln befragt werden und nach festgelegter, gewiß althergekommener, namentlich alle Bedingungen ausschließender Formel den Namen des zu Kiesenden nennen. Die Formel lautete: Ego illum in dominum et regem atque rectorem et defensorem patriae laudo et eligo (S. 11 Z. 1 – 3). Selbst an dieser Stelle aber war die Person des Fragers so gleichgültig, war sie so wesentlich ein Werkzeug des Reichsuntertanenverbandes, daß sie namenlos blieb. Wipo nennt sie einfach das Volk, mit dem sie identisch war: Archiepiscopus Moguntinus, cuius sententia ante alios accipienda fuit, rogatus a populo, quid sibi videretur, abundanti corde, hilari voce laudavit et elegit maioris aetatis Chuononem (S. 18 Z. 36 bis 19 Z. 2). Man versteht, warum noch das Reichsgesetz von 1356 bei der Verpflichtung des Erzbischofs von Mainz, für die ordnungsgemäße Wahl zu sorgen, so zurückhaltend verfährt: Der Mainzer war zwar der vornehmste aller Reichsfürsten, aber aus diesem Vorrang folgte keinerlei Recht darauf, die Wahl zu leiten, die Wähler zu laden und das Ergebnis zu verkünden, geschweige denn es zu sanktionieren. All dessen bedurfte es nach Einungsrecht nicht, da die Kur (im Gegensatz zu den Verhandlungen) öffentlich vor sich ging und allein die Öffentlichkeit ihr die Rechtskraft sicherte (oben: §§ 26, 27). Nach Erzbischof Aribo von Mainz befragte das Volk die übrigen Erzbischöfe und Bischöfe und nach ihnen die weltlichen Für-
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sten; es werden die etwa dreißig eingangs meist namentlich Aufgeführten gewesen sein, die die Verbandsmeinung der Teilreiche, de singulis regnis, aussprechen konnten, auf die es jetzt ankam. Sie alle wiederholten den vom Mainzer gefundenen Kurspruch, und sobald am Ende als Ergebnis die einhellige Wahl nicht nur der Regna, sondern auch des Regnums oder Reichsuntertanenverbandes zweifelsfrei feststand, brach der Umstand in zustimmenden, also mitkiesenden Jubel aus: Fit clamor populi, omnes unanimiter in regis electione principibus consentiebant (S. 19. Z. 10 – 11). Wie zuvor dessen Sprecher, so identifiziert Wipo nun den Umstand mit dem populus, als eigentlichem Urheber der Kur. § 737. In denselben Bahnen verliefen die Erhebungen der Gegenkönige während des Investiturstreits: Gesamthänderisch handelnde Fürstengruppen übernahmen dabei die Leitung. Im Jahre 1073 waren das die Sachsen. Sie bedrängten die Fürsten der Lothringer und Ostfranken, um entweder von ihnen zur Erhebung eines Königs ermächtigt zu werden oder, da ihnen nach Rang und Anzahl der Vorrang gebührte, selbst und mit sächsischer Zustimmung einen König zu kiesen und zu bestallen (Lampert, Ann. a. 1073 S. 168 Z. 24 – 28). Drei Jahre später erklärten sich die Herzöge Rudolf von Schwaben, Welf von Bayern und Berthold von Kärnten oder Zähringen im Verein mit den Bischöfen von Würzburg, Worms und Passau et alii quos rei publicae calamitas movebat (ebd. a. 1076 S. 273 Z. 26 – 29. I. S. Robinson 1999 S. 153 – 156), zu Worthaltern des Reichsvolkes, ohne indessen jemals ihr Ziel zu erreichen, da sie zwar die Sachsen, nicht aber die Mehrheit aller Fürsten hinter sich zu bringen vermochten. Im Jahre 1081 erhob eine ebenso geringe Zahl sächsischer und schwäbischer Großer zu gesamter Hand den Grafen Hermann von Salm zum König (I. S. Robinson 1999 S. 207 – 210). Stets haben wir in den aktiv werdenden Gruppen nach Einungsrecht legitimierte Leiter des Verfahrens zu sehen, deren Vollmacht allerdings erlosch, sobald sich öffentlich zeigte, daß sie nicht namens einer Mehrheit der Wähler sprechen konnten. Im September 1076 riefen die genannten süddeutschen Fürsten deswegen von Ulm aus die Großen Schwabens, Bayerns, Sachsens, Lothringens und Frankens dazu auf, am 16. Oktober in Tribur zusammenzukommen. Diese Ladung zum Wahltage bewog den Erzbischof von Mainz und viele andere dazu, König Heinrich zu verlassen und sich ihnen anzuschließen, um den Zustand des Reiches zu bessern (Lampert, Ann. a. 1076 S. 274). Offensichtlich wußte Erzbischof Siegfried von Mainz noch nichts davon, daß ihm allein ein Recht zustünde, zur Wahl zu laden und sie zu leiten. Die klassische Lehre, der zufolge, wenn der König es unterließ, seine Nachfolge selbst zu regeln, der Erzbischof von Mainz (jetzt) die Fürsten zur Wahlversammlung einzuberufen habe (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 176 ff.), ist ebenso unbegründet wie die Vermutung, irgendjemand habe ihm die Vollmacht verliehen, den König zu wählen und zu krönen (I. S. Robinson 1999 S. 167). Die dem zugrundeliegende Bemerkung des Annalisten: cui potissimum propter primatum Mogontinae sedis eligendi et consecrandi regis auctoritas deferebatur (Lampert, Ann. a. 1073 S. 168 Z. 31 – 33), besagt nicht mehr, als daß das Volk ihm den ersten Rang unter den Fürsten beilegte und ihn deswegen, wenn nach erreichtem
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punctum unitatis die Kur begann, als ersten befragte und schließlich ihn damit beauftragte, den König zu weihen. Auf seinen Vorrang unter den Fürsten gründete sich auch die Hoffnung der Sachsen, daß, wenn er zur Wahl lüde, alle dem Aufruf Folge leisten würden. Daraus, daß Siegfried im Jahre 1073 ihrer Aufforderung folgte und die Fürsten de toto regno nach Mainz einlud, damit sie dort communi consilio Herzog Rudolf zum König erhöben (ebd. S. 168 Z. 30 – 35), ist nicht abzuleiten, daß die Fürsten niemand anders für berechtigt gehalten hätten, zur Wahl aufzurufen. Denn die Betreiber der Wahlen von 1076 und 1081 wußten nichts davon, und obwohl weder an der Ladung noch an der Leitung beteiligt, hat Siegfried keinen Anstand genommen, beide Gegenkönige zu weihen. Die Beurteilung der Vorgänge wird durch die Verquickung mit dem Investiturstreit erschwert, der den theokratischen Mystifikationen des Papsttums im Reiche in ungewöhnlicher Weise Gehör verschaffte. Ihnen gegenüber ist daran zu erinnern, daß alles, was Papst Gregor sagte und tat, vom Standpunkte der Reichsverfassung aus gesehen, bedeutungslos war. Gregor konnte, da er vom Reichsuntertanenverband ausgeschlossen war, den deutschen König weder absetzen noch wiedereinsetzen; nicht mehr war ihm möglich, als den heiligen Petrus zu bitten, er möge die deutschen Fürsten dazu bewegen, dies zu tun. Freilich hat sich Gregor später, berauscht von seinen eigenen Allmachtsphantasien, über seine Ohnmacht getäuscht und dadurch sogar bei seinen deutschen Anhängern Mißfallen erregt (I. S. Robinson 1999 S. 162 f.). Seine Gesandten konnten zwar als Gäste und Berater an den Reichs- und Wahlversammlungen teilnehmen (oben: §§ 432, 636, 725), aber ein Recht darauf, Gehör zu finden oder gar zu kiesen, stand ihnen nicht zu. Nur deswegen konnten sie den Willen der Fürsten beeinflussen, weil diejenigen, die Heinrich IV. verlassen und einen anderen zum König erheben wollten, nur mit ihrer Hilfe und nur bewehrt mit geistlichen, kanonischen Argumenten darauf hoffen konnten, dem Volke die behauptete Untauglichkeit Heinrichs zum königlichen Amte plausibel zu machen. Daher hat Papst Gregor VII. mit mehr Erfolg als je einer seiner Vorgänger (oben: §§ 693, 695a) für sich das Recht fordern können, die Eignung aller Bewerber zu prüfen, bevor die Fürsten einen von ihnen wählten (ebd. S. 157, 169, 208), aber selbst die Fürsten, die sich seiner Argumente bedienten, waren weit davon entfernt, ihm dieses Recht zuzugestehen, weil sich dafür die Mehrheit des Volkes niemals hätte gewinnen lassen. Hätten sie sich für jenes Recht zugunsten eines reichsfremden Klerikers eingesetzt, so hätten ihre Gegner sie aus gutem Grunde des Landesverrats beschuldigen können. Im übrigen war ihr Verhalten nach Reichsrecht zulässig. Eine Gewohnheit hätte daraus indessen nur dann hervorgehen können, wenn dazu der einhellige Beifall aller Fürsten und Großen zu gewinnen war. Nur eine einzige rechtsgeschichtlich bemerkenswerte, weil das historische Urteil bis heute trübende Folge hat ihre Politik gehabt: Zum ersten Male hatten deutsche Fürsten geduldet, daß Kleriker die Regeln der Bischofswahl auf die Königswahl anwandten, zum ersten Male hatte eine Fürstenpartei das kanonische Recht des Reformpapsttums dazu benutzt, eine deutsche Königswahl zu rechtfertigen (ebd. S. 168, 170).
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§ 738. Auch bei der Wahl Herzog Lothars von Sachsen zum Könige im Jahre 1125 machte der Erzbischof von Mainz kein Recht auf Ladung und Lenkung geltend. Wieder hielten sich die Fürsten, die zur Beisetzung Kaiser Heinrichs V. nach Speyer gekommen waren, für verpflichtet, zu gesamter Hand die Erhebung des Nachfolgers in Gang zu setzen. Die Erzbischöfe Adalbert von Mainz und Friedrich von Köln, drei Bischöfe, ein Abt, zwei Herzöge, ein Pfalzgraf, ein Graf sowie weitere geistliche und weltliche Fürsten, die darauf verzichteten, namentlich genannt zu werden, luden gewiß noch von Speyer aus die übrigen Wähler mit Frist von drei Monaten nach Mainz, um das Reich und die Wahl zu ordnen. Eines ihrer Schreiben hat sich erhalten (MGH. Const. 1, 165 n. 112. RI 4, 1, 1 n. 88). Aus ihm geht hervor, daß die gemeinlich Ladenden ihrer Ladung keinerlei Verbindlichkeit beilegten, sondern lediglich die Eröffnung eines Austauschs der Meinungen darin erblickten: Ohne nämlich dem Willen des Empfängers „irgendwie vorgreifen zu wollen und ohne sich ein besonderes Vorrecht, singulare ac privatum in hac re, anzumaßen,“ baten sie den Adressaten, Gottes Hilfe zu der Wahl zu erflehen, dem ihm anvertrauten Volke bis über vier Wochen nach deren Ende Frieden zu gebieten und auf eigene Kosten zu der Versammlung zu erscheinen. Der Erzbischof von Mainz führt zwar die Reihe der Ladenden an, aber aus dem Vorrang folgte kein Vorrecht, er war lediglich erster Genosse unter gleichen (RI 4, 1, 1 n. 92, hier: S. 61 Z. 8 – 14). Wenn die Ladenden gleichzeitig Graf Karl von Flandern aufforderten, sich um das Königsamt zu bewerben (RI 4, 1, 1 n. 89), so übten sie auch damit nur ein Recht aus, welches allen anderen Wählern ebenso zustand. Zu dem Wahltag erschienen vierundzwanzig Bischöfe, von denen Erzbischof Adalbert und sechs weitere namentlich bekannt sind, sowie drei Herzöge, ein Markgraf, zwei Kanoniker und sechs Grafen, darunter vor allem die Herzöge und der Markgraf mit großem, ihr Regnum darstellendem Gefolge. Anwesend waren ferner zwei päpstliche Legaten und Abt Suger von Saint-Denis (RI 4, 1, 1 n. 92, hier: S. 52 Z. 5 – 14). Da diese drei Geistlichen aber nur Gäste, Berater oder Bittsteller (ebd. S. 52 Z. 18, 53 Z. 11 – 16, 43 – 45, 59 Z. 2, 61 Z. 37, 42 – 48) sein konnten, übergehen die meisten Chronisten ihre Teilnahme mit Stillschweigen. Die Versammlung machte sich dadurch handlungsfähig, daß sie je zehn Fürsten aus den Teilreichen Bayern, Schwaben, Franken und Sachsen zu Wahlmännern bestimmte und versprach, der von diesen vollzogenen Wahl Folge zu leisten (ebd. S. 52 Z. 21 – 24, 54 Z. 37 – 45, 60 Z. 34 – 44). Die Genossenschaft dieser vierzig entspricht dem Umfang nach in etwa jenen maximal dreißig, die Wipo zum Jahre 1024 als maßgeblich für Auslese und Idoneitätsprüfung der Bewerber nennt, und gleich diesen ehrte die Versammlung sie dadurch, daß sie sitzen durften (ebd. S. 53 Z. 8, 60 Z. 33). Wer von ihnen den Vorsitz führte und ihren Beschluß verkündete, erfahren wir nicht. Selbst der Augenzeuge, dem wir unsere meisten Kenntnisse verdanken (ebd. S. 59 Z. 35), hielt es nicht für wichtig, dies zu notieren. Gesamthänderisch also nominierten die vierzig, nach separater Beratung in die Versammlung zurückgekehrt, drei für das Königsamt geeignete Fürsten.
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Erzbischof Adalbert, der offensichtlich dieser Versammlung vorsaß und den Rednern das Wort erteilte (ebd. S. 52 Z. 20, 28, 30, 41), konnte gewiß eben deswegen keinen offenen, direkten Einfluß auf die gemeinsame Willensbildung nehmen, sondern die Entscheidung über die Nominierten nur an die Gesamtheit und den gemeinsamen Rat der Fürsten zurückgeben (ebd. S. 53 Z. 4, 54 Z. 26 – 27, 55 Z. 25 – 28, 48, 60 Z. 19 – 29, 44, 61 Z. 15 – 18). Gleich allen anderen wurde er von dem Anschlag einer Gruppe ungenannter, wohl aus der Menge der Umstehenden hervorbrechender Personen überrascht, die, bevor noch die Beratungen das punctum unitatis erreicht hatten, in tumultuarischer Weise Herzog Lothar auf die Schultern hoben und zum König ausriefen, aber von ihm im Verein mit anderen Bischöfen und Laienfürsten zur Ordnung gerufen und gezwungen wurden, der Mehrheit Genugtuung zu leisten (ebd. S. 53 Z. 4 – 10, 18 – 20, 60 Z. 52 – 53, 61 Z. 4 – 5). Die Personenauswahl und damit der informelle erste Teil des Verfahrens endete nach mehreren Tagen damit, daß auf einhelligen Rat und einmütige Bitte der Fürsten hin Lothar zur Königswürde erhoben wurde (ebd. S. 53 Z. 20 – 21). Für unseren Gewährsmann verstand es sich von selbst, daß diese Aussage keines logischen Subjekts bedurfte; es war ihm nicht wichtig, uns mitzuteilen, an wen die Fürsten ihre Bitte richteten, wie er denn auch die formelle Kur mit Stillschweigen übergeht: Weder hören wir, wer die Fürsten um den Kurspruch befragte, noch wer als deren ranghöchster zuerst darauf antwortete. Ich fülle diese Lücke unter Hinweis auf Wipo mit der Annahme aus, daß sich die Bitte der (vierzig) Fürsten an den Umstand richtete, den alle Welt mit dem Reichsvolke identifizierte, und daß es ein persönlich bedeutungsloser Mann aus dem Volke war, der als populus hervortreten, die Fragen stellen und, sobald die vierzigmal gleichlautend wiederholten Kursprüche den jubelnden Konsens der umstehenden Menge ausgelöst hatten, spurlos wieder im Volke untertauchte. Der Brauch, den Frager populus zu nennen, erinnert mich an die romanische Gewohnheit, bestimmte Amtleute nach ihrer Vollmacht als potestas oder iustitia zu bezeichnen. Demnach hätte Erzbischof Adalbert der Wahlversammlung nicht amtlich in hervorgehobener vizeköniglicher Stellung, sondern auf Grund seines Ranges als primus inter pares vorgestanden. Es war die Genossenschaft der Fürsten, die mit seiner Hilfe die Verhandlungen lenkte und durch die Kur den Gewählten zum König erhob (U. Schmidt 1987 S. 78, 134), ganz so, wie es noch das Reichsgesetz von 1356 anordnete. Ich halte es daher für eine gelehrte, im deutschen Volks- und Gewohnheitsrecht nicht begründete Fiktion, wenn Bischof Otto von Freising berichtet, er habe davon gehört, daß schon die Alten ein Recht des Erzbischofs von Mainz festgestellt hätten, im Interregnum die Reichsfürsten zum Wahltage einzuberufen, id iuris, dum regnum vacat, Maguntini archiepiscopi ab antiquioribus esse traditur (Otto, Gesta I 17. RI 4, 1, 1 n. 92 S. 55 Z. 25 – 26, 61 Z. 11 – 12). § 739. Noch einmal verwendet Otto die schwer verständliche Redewendung, es sei ein Teil von irgendjemandes Befugnissen, um sich auf einen keineswegs all-
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gemein anerkannten Rechtssatz betreffend die Königswahl berufen zu können, dessen Urheber er im Dunkeln lassen wollte oder mußte. In dem Bericht über die Erhebung König Friedrichs I. im Jahre 1152 nämlich schreibt er, in äußerst zweideutiger Weise auf die Wählenden und auf das höchste Reichsamt Bezug nehmend: id iuris Romani imperii apex . . . sibi tamquam ex singulari vendicat prerogativa, daß jener apex nicht der Blutsverwandtschaft folgend weitergehe, sondern Könige durch die Wahl der Fürsten hervorbringe (Otto, Gesta II 1. H. Mitteis 1944 S. 26. U. Schmidt 1987 S. 140 f.). Schwerlich die beratenden Fürsten, sondern wohl nur gelehrte kanonistische Spekulationen, wie sie sich eine Minderheit während des Investiturstreits vergebens hatte zunutze machen wollen (oben: §§ 720b, 737), können einen solchen Rechtssatz ersonnen haben. Seine im Verborgenen fließende Quelle ist zweifellos in den Schulen der französischen Kanonistik zu suchen (J. Haller 1952 S. 21 f., 352). Auf sie sehen wir uns noch einmal verwiesen, wenn ein späterer Chronist uns zum Jahre 1198 mitteilt, unter den Fürsten sei schwere Zwietracht über das Kaisertum ausgebrochen, weil die Erzbischöfe von Köln und Trier behaupteten, die Wahl sei Teil ihrer Vollmacht, electionem regis sui iuris esse, und daher, wiewohl nur mit wenigen Fürsten gleicher Ansicht, allen anderen als Wahltag den 1. März in Köln vorgeschrieben hätten (Chron. reg. Colon. a. 1198 S. 162). Denn die Mehrheit der Fürsten wußte nichts von einem solchen Vorrecht zweier Erzbischöfe, zur Wahl zu laden. Kaiser Heinrich VI. hatte von ihnen im Jahre 1196 die Wahl seines noch nicht zweijährigen Sohnes Friedrich zum König erlangt, aber als er am 28. September 1197 in Messina verstorben war, fühlten sie sich nicht mehr verpflichtet, das unmündige und in Sizilien verweilende Kind zum König zu erheben. Wie wir aus der amtlichen Darstellung König Philipps von 1206 wissen (MGH. Const. 2, 10 n. 10 c. 2 – 5), begannen die Fürsten, sobald die Todesnachricht sie erreichte, was spätestens im November 1197 geschehen sein muß, pflichtgemäß damit, sich untereinander über die Erhebung eines Nachfolgers zu verständigen. Herzog Philipp von Schwaben, der Bruder des Verstorbenen, wandte sich mit Briefen und Boten an sie mit der Bitte, seinem bereits gewählten Neffen Friedrich beizustehen und ihn zum Könige haben zu wollen (ebd. S. 11 Z. 21 – 22), ohne daß wir erführen, wer ihr Worthalter gewesen wäre. Aber keinen von ihnen konnte er dazu überreden, und zwar aus etlichen Gründen, über die sie sich bereits einig geworden waren, ohne daß dazu hätte eine Reichsversammlung abgehalten werden müssen (ebd. Z. 25 – 31). Vielmehr war es einiger Wille der Fürsten, sich einen anderen König zu schaffen, aber über die dazu geeignete Person konnten sie sich nicht einig werden, solange sie nach ihr nur außerhalb des staufischen Hauses suchten. Die Erzbischöfe von Köln und Trier nebst anderen vom Niederrhein bemühten sich vergebens, die Herzöge Bertold von Zähringen und Bernhard von Sachsen zur Bewerbung zu überreden (ebd. Z. 34 – 44. Chron. reg. Colon. a. 1198). Daraufhin forderten alle Fürsten von Sachsen, Bayern, Österreich, Steier, Kärnten, Schwaben und Franken sowie viele Hoch- und Edelfreie Philipp auf, sich zu bewerben (Const. 2 S. 11 Z. 45 – 47); auch luden sie die genannten Erzbischöfe und
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die Besucher ihres nach Köln ausgeschriebenen Tages schriftlich dazu ein, einen Tag in Erfurt zu besuchen und dort gemeinsam mit ihnen einen geeigneten und würdigen Kaiser zu kiesen. Die beiden Erzbischöfe machten sich auf den Weg nach Erfurt, erfuhren aber unterwegs, daß sich die anderen Wähler bereits auf Philipp geeinigt und ihn zum König erwählt hätten. So kehrten sie um und setzten einen Tag in Andernach an, um dort einen anderen König zu schaffen (Chron. reg. Colon. a. 1198 S. 162 Rec. I). Außerdem schickten sie Bischof Hermann von Münster nach Erfurt, um zu erreichen, daß die dort Versammelten niemanden in ihrer Abwesenheit erwählten, sondern an drittem Orte mit ihnen zur Wahl zusammenkämen, aber Hermann traf dort erst ein, nachdem Philipp bereits erwählt war (ebd. Rec. II). Philipp hatte sich am 6. März erwählen lassen, weil er sah, daß die Wahl sonst auf einen Fürsten gefallen wäre, mit dem die staufische Partei niemals in Frieden und Eintracht würde leben können, und weil er am besten für das Amt geeignet war (Const. 2 S. 12 Z. 1 – 5, 11 – 24). Er konnte die Wahl auch für einhellig erachten, denn dreizehn Wochen lang wollte niemand ihr widersprechen; erst dann, am 9. Juni, seien seine Gegner unter Bruch ihrer bereits beschworenen Folgepflicht mit der Wahl des Grafen Otto von Poitou zum König hervorgetreten (ebd. Z. 31 – 38). In der Tat hatten Erzbischof Adolf von Köln und die niederländischen Großen, die es für ihrer unwürdig und unerträglich hielten, daß Philipp gegen ihren Willen König sei, solange gebraucht, um einen anderen Bewerber zu finden und zu erwählen (Chron. reg. Colon. a. 1198 S. 163). § 740. Wie in den Jahren 1002, 1024 und 1125 war es also Sache der Fürsten, und zwar nicht einzelner unter ihnen, sondern aller gemeinlich, die Königswahl vorzubereiten, indem sie sich über geeignete Kandidaten, über den Ort und über die Zeit verständigten, zu denen die gemeinsame Königserhebung vor sich gehen sollte. Wie seit jeher waren die Fürsten gemeinlich ungeladen und aus eigenem Antrieb nach Genossenschafts- oder Einungsrecht zu gesamter Hand tätig geworden, und daran hatten sich auch die vom Niederrhein drei Monate lang beteiligt, bevor sie erkannten, daß sie Philipps Königtum nicht würden verhindern können, und sich deshalb ebenso ungezwungen und aus eigenem Antrieb davon zurückzogen. Einen triftigen Grund, um der Mehrheit die Folge zu verweigern und darzutun, daß Philipp ungeeignet sei, hatten sie nicht vorzuweisen. So setzten sie sich nach deutschem Herkommen mit der Erhebung eines zweiten Königs eindeutig ins Unrecht. Um sich in dieser Not zu behelfen, stellte Erzbischof Adolf von Köln die reichsrechtswidrige, aus kanonistischen Quellen geschöpfte Behauptung auf, die Königswahl sei Teil seiner Amtsrechte. Heute nimmt man gewöhnlich an, daß die Erzbischöfe von Köln und Trier, wenn sie die Königswahl als ihres Rechtes beanspruchten, damit das Recht meinten, aus eigener Machtvollkommenheit den Wahltermin zu bestimmen, die Fürsten ordnungsgemäß dazu zu laden und den Wahlprozeß zu leiten: ein Recht, kraft dessen sie der deutschrechtlichen „überstürzten Ordnungslosigkeit der Erhebung Philipps
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. . . eine rechtlich geordnete Königswahl und -kur entgegenstellen“ konnten (H. Stehkämper 2003 S. 210, 227, 2003a S. 8, 17 f.). Wir hörten bereits, daß Erzbischof Adolf und seine niederrheinischen Anhänger nicht davor zurückschreckten, in landesverräterischer Weise die römische Kurie zu Hilfe zu rufen, und daß Papst Innozenz III. die Gelegenheit nutzte, um, so gut es ging, eine kanonistische Königswahltheorie zu entwickeln (oben: § 725). Es ging aber nicht gut (H. Mitteis 1944 S. 140 Anm. 434. J. Haller 1952 S. 353 f., 540), weil Innozenz seine Zuständigkeit nur mit der kurialen Kaiser- und Translationstheorie begründen konnte, die sich das deutsche Recht niemals zu eigen gemacht hatte (oben: §§ 692, 695), und deswegen weder willens noch fähig war, die genossenschaftsrechtliche Grundlage der deutschen Königswahl zu verstehen, gechweige denn sie zu akzeptieren. Abwegig war namentlich seine Behauptung, die Fürsten, die Philipp erhoben, hätten dies absentibus aliis et contemptis getan und seien daher fehlerhaft verfahren, perperam processisse, da der Wahl nach anerkanntem Rechte ein contemptus mehr schade als die Proteste vieler (Const. 2 S. 506 Z. 17 – 20). In der Fachsprache der Kanonisten bedeutete contemptus die hartnäkkige Mißachtung eines Rechtsgebotes; so galt, wer eine Versammlung ohne Erlaubnis verließ, als per contumaciam et contemptum absens (H. Mitteis 1944 S. 137 Anm. 424). Innozenz’ These, die Gültigkeit der Wahl hinge davon ab, daß gewisse Prinzipalwähler an ihr mitwirkten, „oder genauer gesagt: davon, daß ihnen Gelegenheit gegeben wurde mitzuwirken“, setzt die Existenz eines amtlichen Wahlleiters voraus, der die Fürsten ordnungsgemäß zu laden habe, denn nur wer ordnungsgemäß geladen worden ist, kann, wenn er ausbleibt, als contumax oder contemnens verurteilt werden (Const. 2 S. 505 Z. 24), und nur wer sein Wahlrecht in einer Versammlung ausübt, zu der nicht alle ordnungsgemäß geladen worden sind, kann es mißbrauchen und deswegen verlieren (ebd. S. 506 Z. 20 – 21). Und nur wenn der amtliche Wahlleiter es vorsätzlich unterlassen hätte, die Wähler Ottos zum Wahltage zu laden, hätten diese sich als übergangen und mißachtet ausgeben können. So brachten der Erzbischof von Köln und der Papst, dem weder als Politiker noch als Juristen etwas daran gelegen war, die deutsche Rechtsauffassung zu verstehen, „juristische und insbesondere prozessuale Begriffe“ ins Spiel, wie sie nur dem gelehrten kanonischen Recht geläufig waren, gleichsam als ob die deutsche Königswahl „ein formalisierter Rechtsakt einiger weniger“ (H. Mitteis 1944 S. 139) gewesen wäre, wie es nach kanonistischer Auffassung die Bischofswahl sein sollte. Davon war die deutsche Königserhebung indessen weit entfernt. Sie verlief zwar nicht regellos, sie war aber, weil vom Ziel der Einhelligkeit als entscheidendem Formmerkmal bestimmt, so locker geregelt, daß alle Verfahrensmängel, auf die sich Adolf etwa hätte berufen können – so namentlich etwa der Umstand, daß die Fürsten zum ersten Male einen König außerhalb Frankens auf sächsischer Erde erhoben hatten (Chron. reg. Colon. S. 163 Rec. II) –, nach deutschem
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Recht geheilt worden wären, sobald das Verfahren mit der einstimmigen Kur des Königs zu Ende ging. § 741. Für das Amt eines Wahlleiters und eine kraft dieses Amtes bei Strafe gebotene Ladung der Wähler, wie sie das gelehrte Prozeßrechtsdenken voraussetzte, gab es im deutschen Volksrechtsdenken keinerlei Bedarf. Der Reichsverfassung war beides unbekannt, und Erzbischof Adolf kann dem Papste auch nichts dergleichen nachgewiesen haben, denn Innozenz hätte sich in diesem Falle zweifellos darauf berufen, weil es seiner Argumentation den festen Boden dargeboten hätte, dem er im Kaiserwahlrecht vergebens nachgegangen war. Um die nirgendwo sichtbare deutschrechtliche Begründung für das von Fremden postulierte Amt allen Hindernissen zum Trotz zu entdecken, pflegt sich die herrschende Lehre auf „das mit dem Mainzer Vorrecht der prima vox oft deutlich werdende Gewohnheitsrecht, die Fürsten zu einer Königswahl zu laden und diese während der Verhandlungen auf Einmütigkeit hin zu lenken“ (H. Stehkämper 2003 S. 227), zu berufen, wobei freilich für den vorliegenden Fall vorauszusetzen ist, daß Erzbischof Konrad von Mainz, als er im Jahre 1197 zum Kreuzzuge aufbrach und deswegen dem Kölner (und Trierer?) für die Zeit seiner Abwesenheit seine Stellvertretung in Reichsangelegenheiten übertrug, Erzbischof Adolf auch sein Recht auf den ersten Kurruf überlassen habe (H. Stehkämper 2003a S. 3). „Der Kölner Metropolit konnte – und wollte – sich als Wahlleiter und Inhaber der prima vox – mit dem höchsten Rang unter den Fürsten bei der Erhebung eines neuen Königs also – 1198 und 1205 nur deswegen an die Stelle von Mainz setzen, weil dieser Erzstuhl wegen Handlungsunfähigkeit ausfiel und Trier dies zuließ“ (ebd. S. 17 f.). Als aber Erzbischof Konrad von Mainz im Dezember 1199 heimgekehrt war und einen Fürstenrat zusammenbrachte, um im Thronstreit zu vermitteln, habe er „für sich selbst – ganz selbstverständlich – als ,Vermittler‘ (mediator) die Leitung dieses Fürstenrates vorgesehen und damit zum Ausdruck gebracht, als Inhaber der prima vox die Beratungen richtungweisend lenken zu wollen“ (ebd. S. 15). Aus zwei Gründen halte ich diese Annahme eines der Genossenschaft der Wähler vorgesetzten leitenden Amtes für unzulässig. Erstens ergab sich aus der Ehre, nach der Wahl vom Volke (oben: § 736) als erster um den Kurspruch befragt zu werden, kein subjektives Recht des Erzbischofs auf den ersten Platz im Wählerverein, und wenn ihm kein solches Recht zukam, so konnte er daraus auch keine weiteren Rechte, etwa auf Ladung und Leitung der Fürsten, ableiten. Die ihn Ehrenden wollten ihn nicht, entgegen allem Genossenschaftsrecht, zu ihrem Haupte erheben, sondern lediglich den Vorrang anerkennen, der ihm als Primas der Reichskirche jederzeit zukam, wenn er anwesend war. In seiner Abwesenheit indessen waren seine Genossen frei in der Entscheidung, wen sie als ersten unter ihresgleichen ehren wollten. Die Vorstellung von einem subjektiven und übertragbaren Recht auf die prima vox ist daher undeutsch. Wie der Mainzer Primat selbst entstammt sie dem Kirchenrecht. Wollte man zweitens annehmen, das sub-
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jektive Recht zu leiten sei dem Mainzer, statt von der Kirche, vom Volke verliehen worden, so müßte darin das Recht enthalten gewesen sein, auch die Kur zu leiten und folglich namens des Volkes die Kurfrage an die ersten Fürsten zu richten. Das Recht zu fragen und das zu antworten konnten jedoch, wie noch das Reichsgesetz von 1356 anerkennt, nicht von einer und derselben Person ausgeübt werden. Das postulierte Leitungsrecht des Mainzers läßt sich demnach nicht aus deutschem Volks- und Reichsrecht, sondern allenfalls aus der Kirchenverfassung und damit aus kanonistischem Rechtsdenken erklären. Gerade in Verfassungsfragen jedoch gab es keinerlei prästabilierte Harmonie zwischen Volksrecht und Kirchenrecht, und daher haben die Königswähler auch niemals den Papst als kompetenten Interpreten der Reichsverfassung anerkannt. Sie wußten nichts von einem übertragbaren Recht des Erzbischofs von Mainz darauf, ihre genossenschaftliche Willensbildung in Gang zu setzen und zu lenken. Denn in diesem Falle hätten sie nicht schon wenige Jahre später den Pfalzgrafen bei Rhein als summus in electione imperatoris bezeichnen können (H. Mitteis 1944 S. 84). Ich sehe hierin eine Maßnahme, welche alle geistlichen Ansprüche, mochte der Erzbischof von Mainz oder der römische Papst sie erheben, abwehren sollte, wie denn auch der seit dem Interregnum von 1250 dem Pfalzgrafen beigelegte Reichsvikariat dem Zwecke diente, den päpstlichen Anspruch auf Interimsregierung und Wahlleitung abzuweisen. § 742. Niemals hat sich ein Erzbischof von Mainz auf die prima vox berufen, um den Anspruch auf das Leitungsrecht, das schließlich das Reichsgesetz von 1356 als Vorrecht eines ersten unter gleichen definierte (oben: § 730), zu begründen. Im Jahre 1291 fertigte Erzbischof Gerhard die Ladung zum Wahltage deswegen aus, weil dies auf Grund seines Amtes als Erzkanzler des heiligen Reiches seine Pflicht war (MGH. Const. 3, 455 n. 468). Dies aber war ein Amt, das ihm vom Reiche, d. h. vom Reichsuntertanenverband, erteilt worden war und deswegen auch während des Interregnums tätig werden konnte. Er übte es daher auch nach den Regeln des Genossenschaftsrechts aus, die später, im Jahre 1356, gesetzlich bestimmt wurden, denn die Verschiebung des Wahltages vom 2. auf den 5. Mai beschloß er gemeinsam mit seinen Fürstengenossen, a nobis et conprincipibus nostris consentientibus extitit prorogatus (Const. 3, 463 n. 475. A. Wolf 1993 S. 75, 80, 91), wie es seiner Stellung als primus inter pares entsprach. Und selbst diese Stellung war so wenig allgemein anerkannt, daß gleichzeitig Pfalzgraf Ludwig bei Rhein kraft seines fürstlichen Amtes, a principatus nostri officio, die Fürsten zum Wahltage lud (Const. 3, 456 n. 469. A. Wolf 1993 S. 55, 60). Wenn übrigens beide Reichsamtleute ihre Ladungen peremptorisch verfügten, so griffen sie zum ersten Male eine Institution des römisch-kanonischen Prozeßrechts (H. Mitteis 1944 S. 201) auf, obwohl sie damit zweifellos gegen das Reichsrecht verstießen. Sie beugten sich damit, um die Bewerbung des zu Erwählenden um die Kaiserkrone vorzubereiten, der Rechtsauffassung der römischen Kurie, die das
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Verfahren analog zur kanonischen Bischofswahl behandelte und daher als Beweis für die Rechtmäßigkeit der Kur die Vorlage schriftlicher und nach Kirchenrecht abgefaßter Wahlakten verlangte. Nach deutschem Rechte dagegen erfolgte die Wahl im mündlichen Verfahren und bewiesen die Wähler die Rechtmäßigkeit durch das mündliche Zeugnis der Kurfürsten, die mit dem König nach Rom fahren sollten, um dem Papste die gültige Wahl zu bezeugen (Ssp. Lr. 4 § 2. H. Mitteis 1944 S. 165 f.). Die deutschen Fürsten konnten daher mit der das Reichsrecht brechenden Romanisierung des Verfahrens schwerlich einverstanden sein, und anläßlich der Doppelwahl von 1314 ist der Streit darüber mit Rom denn auch offen ausgebrochen. Wie heftig die Fürsten indessen schon während des Thronstreits von 1198 jede römische Einmischung in ihr genossenschaftliches Ladungsrecht zurückwiesen, ist daraus zu ersehen, daß einige von ihnen, als Papst Innozenz III. sie zum 3. Juli 1201 zu einer Tagfahrt nach Köln beschied, auf der er ihnen vorschreiben wollte, wen sie zu wählen hätten (oben: § 724), entweder den Boten ihre Städte und Burgen versperrten, um nicht an dem geplanten reichsrechtswidrigen Unrecht beteiligt zu werden, oder aber sie aufhängten, um an ihnen den Landesverrat zu rächen, als den sie das Unrecht auffaßten (RNI 136 n. 51. H. Mitteis 1944 S. 134. J. Haller 1952 S. 349). Fragt man danach, welchen Teilen des amtlichen Wahlberichts von 1206 (Const. 2, 10 n. 10, oben: § 739) Heinrich Mitteis (1944 S. 121 A. 375, 141 A. 440) Beachtung geschenkt hat, so sieht man mit Verwunderung, wie hartnäckig die Forschung bisher darüber hinweggegangen ist, daß es Recht und Amtspflicht der Fürsten war, die Königswahl in Gang zu setzen, Bewerber um das höchste Amt zu finden, den Wahltag festzusetzen, zu ihm einzuladen und ihn zur einhelligen Willensbildung anzuhalten. Wahrzunehmen hatten sie diese Pflicht gemäß dem Genossenschaftsrecht, das allen Genossen gleiche Rechte und Pflichten zuteilte, jedem einzelnen, freilich gemeinsam mit allen anderen, die Aufgabe stellte, den Nutzen der Gemeinschaft zu wirken und Schaden von ihr fernzuhalten, ohne dazu eines Auftrags der anderen zu bedürfen; jeder einzelne sollte und mußte jederzeit im Namen der Gemeinde tätig werden, dies jedoch unter der Voraussetzung, daß er entweder im voraus oder nachträglich die Zustimmung der Genossen zu seinen Handlungen erwarb. Denn nur dann, wenn alle darüber einhellig und eines Sinnes waren, wenn zuletzt alle gemeinsam und mit gesamter Hand handelten, war der einzelne vollmächtig, um alle anderen verbindlich zu machen. Wir können demnach sicher sein, daß es im Jahre 1198 keine reichsrechtliche Norm gegeben hat, der zufolge nur eine Reichsversammlung zur Königswahl berechtigt gewesen wäre, die vom Erzbischof von Mainz kraft Amtes einberufen und geleitet worden wäre, und daß es deswegen auch niemanden gab, der, wie der Papst unterstellte, diesen oder jenen seiner wahlberechtigten Genossen kraft Leitungsrechts von der Wahl hätte ausschließen können und letzten Endes (allein) darüber zu befinden gehabt hätte, ob ein Bewerber rechtsgültig zum König gewählt worden sei oder nicht.
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§§ 743 – 748. Eignung, Herrschaftsvertrag und Kur § 743. Wählbar war nach Volksrecht jeder frei und ehelich geborene Mann, sofern er rechtsfähig, d. h. unbescholten, und weder gebrechlichen Leibes noch mit dem Kirchenbann belegt war (Ssp. Ldr. III 54 § 3). Da der König (gleich dem Herzog: Leges Baiwar. II c. 9) sowohl leiblich wie von Rechts wegen waffenfähig sein mußte, um Gericht halten und das Heer führen zu können, waren weder Frauen noch Geistliche wählbar. Da das Reich den Franken gehörte, mußte der König zudem nach fränkischem Rechte freigeboren sein. Wählten die Regna einen Mann anderer Abstammung, so mußte sich dieser daher in den fränkischen Teilreichsverband aufnehmen lassen, um amtsfähig zu werden (ebd. III 54 § 4. K. G. Hugelmann 1955 S. 50, 88 f. Eine analoge Regel galt im Herzogtum Kärnten, oben: § 535). Darüber hinaus gab es unverrechtlichte, von der politischen Erfahrung gebotene Regeln, die den Kreis der tatsächlich wählbaren Freien erheblich einschränkten. Die Achtung des Volkes für Autorität und Vorrang sorgte dafür, daß sich nur Männer höchsten Standes und Ranges, nämlich Königssöhne, Herzöge und Großgrafen, um das Königtum bewerben konnten. Die Wahlversammlung unterwarf die Bewerber sodann „einer Art von Prüfung“ (H. Mitteis 1944 S. 61), um unter ihnen den am besten geeigneten auszulesen. Das Ergebnis dieser Prüfung konnte kein auf Rechtsnormen begründetes Urteil, sondern nur ein Akt politischer Willensbildung sein. Gewiß gab es bestimmte, regelmäßig beachtete Idoneitätsmerkmale, aber deren Gewichtung war eine Ermessensfrage, die die Wähler nach Maßgabe des politisch Möglichen beantworten mußten. Darunter waren so wenig konkrete wie die erhofften Tugenden des Herrschers, causarum qualitates und lenitas (Thietmar IV 54, V 3), virtus inexplorata und Selbstbeherrschung (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 15 Z. 10), aber auch das Vorhandensein von Kindern, das den Wählern einen Bewerber ebenso empfehlen konnte (Thietmar I 19), wie es zu anderen Zeiten, etwa im Jahre 1125, seine Kinderlosigkeit tat, schließlich seit dem Investiturstreit die von vielen erwartete Gefügigkeit gegenüber der Kirche (H. Mitteis 1944 S. 35). Außerdem waren der Besitz an Gütern und die Zahl der Anhänger zu erwägen, wovon die Chance der Bewerber, die Mehrheit der Wähler für sich zu gewinnen, wesentlich abhing (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 19 Z. 23 – 25. MGH. Const. 2, 10 n. 10 c. 5. Oben: § 715). An der Wirkung auf die Wähler meßbar war wohl auch die Gabe der Beredsamkeit, die für einen König unentbehrlich war, wenn er die gemeine Willensbildung sollte lenken können (Nithard, Hist. S. 28 Z. 14: suadebat, S. 37 Z. 29: eloquens, oben: § 635). Mehr als alles andere scheint die Wähler aber die Abstammung der Bewerber beschäftigt zu haben, gleichsam als ob es möglich gewesen wäre, nach Rang und Namen der Vorfahren den Vornehmsten unter ihnen zu bestimmen (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 15 Z. 25 – 26), und als ob darauf mehr angekommen wäre als auf alle anderen Idoneitätsmerkmale (ebd. S. 19 Z. 22 – 25). Für das Haus- und Selbstbewußtsein der Bewerber und aller derer, die sich für ihnen gleichrangig und eben-
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bürtig erachteten und sich schließlich einem aus ihrer Mitte unterordnen sollten, mochte dies allerdings ein wichtiger Gesichtspunkt sein, aber die vielen, die es niemals wagen konnten, sich um das Königtum zu bewerben, also: die wählenden Völker und deren Große, dürften anderer Meinung gewesen sein. In ihrem Rechtsbewußtsein scheint die Abstammung der Bewerber und namentlich der Grad ihrer Verwandtschaft mit dem letzten König nicht viel bedeutet zu haben. Selbst eines Königs Sohn und vom Vater designiert zu sein, konnte, wie sich im Jahre 1053 zeigte (oben: § 733), einem Bewerber auch zum Nachteil gereichen, und 1125 hat es Herzog Friedrich von Schwaben, soweit wir wissen, vorgezogen, sich nicht auf seine Verwandtschaft mit dem salischen Königshause zu berufen (U. Schmidt 1987 S. 46 – 53), da er wußte, daß viele Wähler ihn deswegen als ungeeignet für die Nachfolge betrachteten. So ist es gewiß kein Zufall, daß auch Bischof Thietmar von Merseburg kein Wort über die Zugehörigkeit Herzog Heinrichs von Bayern zur stirps regia und darüber verliert, ob der von der Mehrheit der Großen begünstigte Herzog Hermann von Schwaben (oben: § 735) „eine erbrechtlich relevante Königsverwandtschaft besaß“, geschweige denn darüber, daß die Wähler von 1002 „die Konkurrenzen zwischen den Thronbewerbern . . . als ein Aufeinanderprallen verschiedener erbrechtlicher Prinzipien“ verstanden (A. Wolf 1995 S. 69, 147). Vielmehr berichtet Thietmar (IV 52), daß der sächsische Graf Lothar dem Markgrafen Ekkehard, der sich um das Königsamt bewarb, mit der Frage entgegengetreten sei: Spürst du nicht, daß deinem Wagen das vierte Rad fehlt, num currui tuo quartam deesse non sentis rotam? Wie allgemein angenommen wird, meinte der Graf damit einen Mangel der Abstammung, sei es nun fehlende Verwandtschaft mit dem ottonischen Königshause (H. Mitteis 1944 S. 35) oder der Umstand, daß keiner seiner vier Großeltern von königlicher Geburt war (A. Wolf 1995 S. 102, 146, 154). Selbst dann aber ist die Unbestimmtheit des Gleichnisses unübersehbar. Offenbar zielte es auf die Eignung Ekkehards zum Könige und wollte mindestens sagen, daß dafür vier wichtige Merkmale bestanden, von denen Ekkehard lediglich drei erfüllte, vielleicht aber darüber hinaus, daß der Markgraf immerhin drei Voraussetzungen für die Bewerbung erfüllte, die wichtiger waren als die Abstammung, wenn diese denn wirklich mit dem vierten Rade gemeint war. Schwerlich ist es richtig zu sagen: „Weil es mehrere prinzipiell Berechtigte gab, waren Wahlen nötig. Die Wahlen entschieden über einen komplizierten Erbfall mit mehreren Berechtigten“ (A. Wolf 1995 S. 147), denn Wahlen waren Akte politischer Willensbildung. Als Urteile in Rechtsstreitigkeiten konnte sie schon deswegen niemand betrachten, weil die Wahlversammlungen in Ermangelung eines mit Sanktionsgewalt ausgestatteten Vorsitzenden weder ein Gericht bildeten noch in gerichtsförmigem Verfahren verhandelten (ebd. S. 148). So kennen denn auch nur Annalisten die Ausdrücke ius consanguinitatis (Thietmar V 25, VII 3) oder ius propinquitatis (Ann. Quedlinb. a. 984, S. 66 Z. 2. A. Wolf 1995 S. 67, oben: § 165), und zwar nicht als Terminus des Wahl- oder Thronfolge-, also des öffentlichen Verfassungsrechts, sondern als Ausdruck des Haus- und Familienrechts – einer Nichte Thietmars stand iure consanguinitatis ein Anspruch auf Unterhalt gegen ihre Tante
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Äbtissin Hadwig von Gernrode zu –, den sie gewiß nur als solchen und als ein Argument neben anderen in die Darstellung der Idoneitätsmerkmale einführen wollten. Wir sahen bereits, daß die Rechtssprache des Volkes allenfalls von einer Vergleichbarkeit zwischen Nachfolge des Sohnes im väterlichen Amte und Erbrecht bzw. Erbgang innerhalb des königlichen Hauses zeugt und daß die Reichsregierung in allen amtlichen Dokumenten die Tauglichkeit des Bewerbers und das Wahlrecht des Reichsuntertanenverbandes dem vermeintlichen Erbrecht des Königssohnes überordnete (oben: §§ 699, 700). § 744. Das damit vom Sprachgebrauch der Quellen aufgeworfene Pseudoproblem sorgt bis heute in der Wissenschaft für Verwirrung (oben: § 145). Wenig konsequent waren bereits die Äußerungen von Georg Waitz, der dem Wahlrecht einerseits eine bloß subsidiäre Geltung beilegt, weil das fränkische Königtum im unbestrittenen Besitz des karolingischen Hauses gewesen und auf die Nachfolge das erbrechtliche Prinzip angewandt worden sei, solange ein regierendes Haus im Mannesstamme fortlebte; erst wenn das Haus erlosch, sei die Wahl eingetreten, wie in den Jahren 911, 1024, 1125 und 1139 geschehen. Andererseits läßt Waitz das Wahlrecht aber auch vorgehen; so habe die Wahl der Großen zuerst 888 das Erbprinzip eingeschränkt, ohne es doch zu verdrängen, da der König iure hereditario erwählt werden konnte. Sehe man auf die Form, so habe freilich die Wahl den Ausschlag gegeben, stets habe das Erbrecht der Anerkennung durch sie bedurft, denn der Erbe konnte ungeeignet sein und war dann zu übergehen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 160 – 219). Im Jahre 1914 begründete Fritz Kern die Auffassung, das vom Staatsrecht der Neuzeit geschaffene Geblütsrecht (oben: § 699) sei bereits dem Mittelalter bekannt gewesen. Seit jeher hätten germanische Heer- und Reichsvölker nicht nur eine Einzelperson, sondern das Geblüt zum Throne berufen und Könige aus neuer Familie als Dynastiegründer eingesetzt; „der Ursprung dieser Mischung von Erbrecht und Wahlrecht verliert sich im Dunkel der Vorzeit.“ Über die merowingische Gesamterbfolge aller Söhne und die karolingische Thronfolge zu gesamter Hand sei man schließlich im 10. Jahrhundert zu Individualsukzession und Individualerbrecht gekommen, und so sei es gelungen, „das Geblütsrecht zum Erbrecht zu steigern und die Mitwirkung des Volks . . . auszuschließen oder zur leeren Form zu machen“ (F. Kern 1914 S. 14 – 53, besonders 18 – 20, 39). Erst Heinrich Mitteis erkannte, daß die Frage, wie sich Wahl und Erbrecht zueinander verhielten, ob sie sich widersprächen oder ergänzten, falsch gestellt sei, da es keine Thronfolge ohne Wahl gegeben habe. Das Erbrecht des Sohnes und das Geblütsrecht der Seitenverwandten hätten lediglich den Kreis der wählbaren Großen eingeschränkt, und da freilich sei es ein Satz des objektiven Rechts gewesen, daß (die Wähler) vom Königsgeschlecht nicht ohne zwingende Not abgehen sollten. Die Unsicherheit der verwandtschaftlichen Beziehungen und die ungleiche Eignung der Bewerber hätten in jedem Falle eine Konkretisierung erfordert, und diese zu vollziehen sei die Funktion der Wahl gewesen. „Jede Wahl ist ihrem We-
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sen nach Auslese“ (H. Mitteis 1944 S. 21 – 30), und was das Nachfolgerecht der Seitenverwandten anlange, so gaben „nicht mehr physische, sondern politische Werturteile . . . den Ausschlag“ (ebd. S. 35). Wenn Mitteis betont, daß das Geblütsrecht „niemals als subjektives Recht, als durchsetzbarer Anspruch, als jus ad rem oder Näherrecht aufgefaßt werden darf“, sondern nur in Form eines objektiven Rechtssatzes Geltung fordern (ebd. S. 29 f.), d. h. den Willen der Wähler beschränken konnte, so war er im Begriff, es als bloßes Idoneitätsmerkmal und zudem als eines unter mehreren, die von den Wählern bewertet werden mußten, zu identifizieren. Aber den Versuchen, den „Begriff des Geblütsrechts in Abgrenzung zum Erbrecht und zur freien Wahl“ zu bestimmen (U. Schmidt 1987 S. 11), hat er damit kein Ende gesetzt. Neuerdings spitzt sich die Kontroverse auf die Frage zu, ob Abstammung vom letzten König oder Blutsverwandtschaft mit diesem Voraussetzung für die Wählbarkeit und Nachfolge auf dem Throne war oder nicht, d. h. ob im zweiten Falle das Prinzip der freien Wahl gegolten habe. Wenn darüber aber nur im Wege genealogischer Forschung entschieden werden kann (A. Wolf 1993 S. 99, 1995 S. 66), so bestätigt sich damit meine Auffassung, es habe sich bei dieser Voraussetzung allein um ein Merkmal der Eignung gehandelt, über dessen Geltung die Wähler in einer politischen Aktion zu befinden hatten (ebd. S. 148. C. Brühl 2001 S. 120 – 124, 127, 200). Die Begriffe Wahlrecht und Erb- oder Geblütsrecht sind von unterschiedlicher Qualität. Wie das Gleichnis von der Wahl als einem Fahrzeug mit vier Rädern besagt, bezeichnet jenes das Ganze einer Institution und dieses lediglich einen Teil davon. Das Recht zu wählen war ein Recht des Reichsuntertanenverbandes und daher Teil der Reichsverfassung; es war Volksrecht und öffentliches Recht und bezog seine Normen aus dem Genossenschafts- und Einungsrecht, nach dem sich die Versammlung der Wähler konstituierte, speziell dann aus dem System identischer Willensbildung, von dem seine Anwendung lediglich einen Einzelfall darstellte. Sein Vorrang vor dem Erbrecht als bloßem Interesse der Bewerber ergibt sich daraus, daß die Großen immer wieder den Willen bezeugten, die Gründung neuer Dynastien zu verhindern (C. Brühl 2001 S. 142, 151; zum Jahre 1074: U. Schmidt 1987 S. 27 – 33). Nur wer der Ansicht anhängt, der mittelalterliche Staat sei von oben her, von gewalttätigen Königen und Fürsten, dem Volke oktroyiert worden, kann deren vermeintliches Erb- oder Geblütsrecht dem Wahlrecht des Volkes gleichstellen oder gar ihm überordnen. § 745. Mehrfach haben neuere Beobachter (E. Pitz 1987 S. 471 f.) aus der Korrespondenz zwischen Untertanen- und Herrschereid erschlossen, daß nach volklichem Rechtsdenken die Herrschaft des Königs mit einem beschworenen Vertrag begann (E. Mayer 1899 Bd. 1 S. 7 f., oben: § 663, H. Mitteis 1933 S. 54 Anm. 137, oben: § 666): „Die Überlassung der Souveränität an die Inhaber der Staatsgewalt wird als auf Vertrag beruhend gedacht. Bestimmte Pflichten werden damit übernommen . . . Ihre Verletzung hebt den Vertrag auf. Soviel weiß oder fühlt auch der gemeine Mann“ (F. Keutgen 1918 S. 16). Einigkeit allerdings besteht in der Wis-
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senschaft darüber nicht (F. Kern 1914 S. 258 f., oben: § 670. G. von Below 1925 S. 214, oben: § 664). Dies kann uns nicht verwundern, da der Vertrag mündlich und scheinbar formlos zustandekam und namentlich, nach Art der Rezesse (oben: § 27), keiner Beurkundung bedurfte. Ja, eine solche war gar nicht möglich, weil die während des Interregnums regierende Genossenschaft der Großen weder ein Siegel führte noch der Reichskanzlei die Beurkundung ihrer Beschlüsse befehlen konnte. Kaum jemals wird die Stipulation des Vertrages daher so deutlich angesprochen, wie es Wipo anläßlich der Nachwahl König Konrads II. durch die Italiener einmal tut (cum Italis placitavit, oben: § 626). Die erste ausdrückliche Erwähnung der Sache, um die es geht, findet sich bei dem sächsischen Kleriker Bruno zum Jahre 1071: Quidam voluerunt aliquas condiciones interponere, ut hac lege eum super se levarent regem, quatenus . . . (Bruno c. 11 S. 85 Z. 13 – 14. H. Mitteis 1944 S. 61). Soweit Rechte und Pflichten des Königs bereits in der Volksrechtsordnung begründet waren, brauchte der Vertrag sie als Kurbedingungen nicht im einzelnen festzulegen; die versammelten Großen forderten lediglich allgemein von den Bewerbern die Bereitschaft und das Versprechen, die Volksrechte zu schützen und ihr Recht auf Mitregierung zu achten. Ausführlicher als der Kaplan Wipo (Gesta Ch. c. 6 S. 29 Z. 9 – 11) beschreibt Bischof Thietmar von Merseburg die Verhandlung, die der von den Franken bereits gewählte König Heinrich II. über seine Nachwahl mit den in Merseburg versammelten Sachsen führte. Die Fürsten hatten offenbar den sächsischen Gemeinwillen bereits festgestellt, als sie den Bewerber empfingen (Thietmar V 15); am nächsten Tage, als Heinrich öffentlich zur Stelle war, astante coram rege, eröffnete Herzog Bernhard mit Zustimmung aller (umstehenden Sachsen), cum consensu omnium, den Willen des übereinkommenden Volkes, voluntatem plebis convenientis, und speziell ihrer aller nicht verhandelbares Volksrecht, necessitatem ac legem, um dann die Frage an den König zu richten, was er ihnen mit huldreichen Worten versprechen oder tatsächlich zuwenden wolle. Der König antwortete darauf, indem er ihnen seinen (bis dahin) geheimen Willen eröffnete, ihnen die bevorzugte Stellung zu wahren, die sie zuvor unter ihren, den Königen aus sächsischem Hause, im Reiche eingenommen hatten, ferner ihr Volksrecht zu mehren und ihrem rechtmäßigen Willen nach Kräften stattzugeben (ebd. V 16). Das umstehende Volk akzeptierte dieses Versprechen als hinreichend, indem es Heinrich einmütig zum Könige ausrief (ebd. V 17, oben: §§ 443, 734. K. G. Hugelmann 1955 S. 51 f.). Gewiß seit jeher, zumindest aber seit Karl dem Großen pflegte das Volk von seinem König zu verlangen, daß er jeden einzelnen Untertan nach dessen eigenem Recht leben und richten lasse und das Recht aller Untertanen gemeinlich auf Mitregierung anerkenne (oben: §§ 658, 660, 667). Bei der Königswahl von 1053, einer Sohneswahl, stellten die Großen ihren Willen ausdrücklich unter den Vorbehalt ihrer Mitregierung (oben: § 733). Ihrem noch im 11. Jahrhundert aufgezeichneten Volksrecht zufolge begründeten die Friesen dessen Geltung auf einen fiktiven, mit einem König Karl ausgemachten Herrschaftsvertrag (oben: § 500). Was wir aus
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späteren Quellen über die Erhebung des Herzogs von Kärnten erfahren (oben: §§ 534, 535), scheint mir darauf hinzudeuten, daß die ostfränkischen Regna, die unter anderem zu dem Zwecke eingerichtet worden waren, die Königswahl zu erleichtern (oben: §§ 444, 461, 475, 483, 485, 782), auch bei der Erhebung ihrer Herzöge den Bewerbern Bedingungen stellten, die der künftige Herzog annehmen mußte, um erwählt zu werden, und daß die grundlegende Bedingung dieselbe war, die auch jeder König erfüllen mußte. § 746. Außerdem konnten die Wähler besondere Bedingungen formulieren. Zunächst waren das solche, die jeweils einem einzelnen Regnum zugutekamen. So erlangten die Schwaben 919 und die Bayern 921 von König Heinrich I. die Ausstattung ihrer Herzöge mit erweiterten vizeköniglichen Befugnissen und mit der Kirchherrschaft (oben: §§ 481, 482, 489, 516), die Thüringer 1002 die Aufhebung einer althergebrachten besonderen Zinspflicht (oben: §§ 474, 734b) und die Italiener 1024 eine Minderung des Reichsgutes, das sie dem Könige zu übergeben hatten (oben: §§ 626, 713). Seit dem Investiturstreit stellten die Fürsten, unter denen die geistlichen dabei den Ton angaben, Bedingungen auf, die das ganze Reich betrafen und auf Änderungen der Verfassung zielten. Eine Minderheit von Fürsten, die sich von päpstlichen Legaten beraten ließ, wollte im Jahre 1077 die Erhebung Rudolfs zum Gegenkönig zunächst an jeweils besondere Bedingungen knüpfen, aber die Legaten erinnerten sie daran, daß Rudolf nicht eines jeden für sich, sondern aller gemeinsamer König sein sollte, und so einigten sie sich auf zwei allgemeine Bedingungen: Rudolf mußte versprechen, vakante Bistümer nicht willkürlich, sondern nur an die kanonisch gewählten Kandidaten auszugeben, und ferner, kein Erbrecht an der königlichen Würde geltendzumachen, sondern freie Wahl des Volkes zuzulassen, auch wenn diese gegen den Sohn des Königs entschiede (Bruno c. 91. U. Schmidt 1987 S. 27 – 33. I. S. Robinson 1999 S. 168 – 170). Die Reichsversammlung, die im Jahre 1125 Lothar erkor, wollte Kirche und Reich des schweren Jochs bisheriger Königsmacht entledigen und beiden ein Leben nach ihren eigenen Gesetzen ermöglichen (RI 4, 1, 1 n. 88, oben: § 738); Lothar mußte sich verpflichten, auf jegliche Lenkung der Bischofswahlen zu verzichten und nur von ihren Kirchen frei erwählte Kandidaten und diese nur erst nach Empfang der geistlichen Weihe zu bestallen (ebd. n. 92, hier: S. 53 Z. 23 – 29, 59 Z. 39 – 42). Zum ersten Male kleidete damit die akephale Fürstengenossenschaft die von ihr beschlossenen Bedingungen in die Form einer Wahlkapitulation von der Art, daß Kaiser und Kurfürsten daraus in der Neuzeit ein wahres Reichsverfassungsgesetz entwickeln konnten. Schon die Wähler Ottos IV. erweiterten das werdende Verfassungsgesetz über die herkömmliche Königspflicht, die Kirchen zu schützen und die Untertanen bei ihren Rechten zu erhalten, hinaus um den Verzicht des Königs auf das Regalrecht, den beweglichen Nachlaß verstorbener Bischöfe und Reichsäbte einzuziehen (MGH. Const. 2, 24 n. 19, hier: S. 25 Z. 2 – 9, oben: §§ 724, 725).
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Überdies gab es noch individuelle Sondervereinbarungen, Versprechungen, welche die Bewerber jedem Wähler einzeln (singulatim, Thietmar IV 50) und heimlich (occulte, ebd. V 3, oben: § 734a) machten und von denen die päpstlichen Legaten 1077 sagten, sie brächten die Wahl um ihren Ernst und befleckten sie mit dem Gifte der Käuflichkeit (Bruno c. 91, S. 85 Z. 22 – 23. H. Mitteis 1944 S. 65. S. Haider 1968). Viele Große waren in Versuchung, von den Bewerbern, falls sie gewählt würden, die Schenkung bestimmter Reichsgüter, die Bestallung mit einem bestimmten Reichsamte oder einfach eine Summe baren Geldes zu verlangen. Gegenüber einem König, der sich weigerte, solche schon durch die Heimlichkeit als illegal ausgewiesenen Zusagen zu erfüllen, waren sie jedoch machtlos. Das mußte z. B. der ostfränkische Großgraf Heinrich (von Schweinfurt) erfahren, als ihm König Heinrich II. erklärte, er könne ihn nicht, wie versprochen, den Bayern als ihren neuen Herzog designieren, da die Bayern in der Wahl ihres Hauptes frei wären (Thietmar V 14, oben: § 517). Wie hinsichtlich der Herrschaft (oben: § 642), so kann man, was den Herrschaftsvertrag betrifft, daran zweifeln, daß der Begriff die gemeinte Sache zutreffend bezeichnet. Denn was den Inhalt oder die Vertragsbedingungen anlangt, so waren es die Wähler, die sich darüber vertrugen, um hernach ihren einhelligen Willen den Bewerbern zu oktroyieren; schwerlich wird ein Kandidat mit der Drohung, andernfalls seine Bewerbung zurückzuziehen, spürbaren Einfluß auf die Bedingungen haben nehmen und also wirklich als Vertragspartner der Wähler auftreten können. Die Bedingungen selbst aber legten nicht eigentlich Ziele und Aufgaben der künftigen königlichen Herrschaft, sondern wohl lediglich die Umstände fest, unter denen die Untertanen dem Herrscher gehorsam sein wollten bzw. sich vorbehielten, ihr Haupt wieder zu verlassen. Schon gar nicht begründete der Vertrag die Amtsvollmacht des Königs, denn diese beruhte auf Volksrecht und war unabhängig von den Zusagen hinsichtlich ihres Gebrauchs, die die Bewerber den Wählern machten (H. Mitteis 1944 S. 68 mit A. 189). § 747. Dem problematischen Inhalt des Vertrages entspricht die Formlosigkeit seines Zustandekommens. Ausgemacht werden mußten die Bedingungen während der Wahlverhandlungen, und da wird sich ihre Bestimmung mit der Tauglichkeitsprüfung vermischt haben, denn nur ein Bewerber, der die Bedingungen akzeptierte, konnte sich als für das Amt geeignet erweisen. Und wohl nur der Herrscher, nicht aber das Volk war imstande, später den Vertrag zu brechen, nämlich dann, wenn er seine Zusagen nicht erfüllte. Die Strafe, die ihm in diesem Falle drohte und die das Volk nach eigenem Ermessen vollzog, indem es ihm den Gehorsam aufsagte (deserere, derelinquere: Dialogus S. 317 Z. 27, 31. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 166 f. Oben: § 637), war bereits im Volksrecht und in der Reichsverfassung gegeben; folglich bedurfte der Vertrag keines besonderen Staatsaktes und keiner Sanktion, um rechtskräftig zu werden. Ohne daß es ausgesprochen wurde, trat er gemeinsam mit dem Wahlbeschluß in Kraft, nämlich dann, wenn die Wahlversammlung das punctum unitatis erreichte und zum Zeichen dessen den Staatsakt der Kur vollzog.
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2. Teil: Der Staat
Im Gegensatz zur Wahlverhandlung, die weder einer amtlichen Leitung noch anderen Regeln als denen, die der Endzweck der Einhelligkeit vorgab, unterlag und daher unübersichtlich und oft genug chaotisch verlaufen sein mag, war die Kur formal streng geregelt (oben: § 736), und nur an der Einhaltung der Form konnte die Wählergenossenschaft erkennen, daß sie einhellig und damit rechtsgültig kor. Ein namenloser Mann, der das Volk war, richtete an die vornehmsten unter den versammelten Genossen in der Reihenfolge, die ihm deren Rang vorschrieb, die Kurfrage: Nenne uns den Namen dessen, den du zum König kiesest! Gemäß gewiß althergebrachter Formel, die als von Fall zu Fall variabel lediglich den Namen des Erwählten offenließ, mußte die Antwort gegeben werden: Ego illum laudo et eligo in dominum et regem atque rectorem et defensorem patriae (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 19 Z. 1 – 3). Ausgeschlossen war damit jeder ausdrückliche Bezug auf den Herrschaftsvertrag oder auf irgendeine andere Bedingung, an die der Befragte während der Wahlverhandlung sein Votum geknüpft haben mochte. Hatte das Volk die Einzelvoten erfragt und sich von deren Übereinstimmung überzeugt, so erteilte es aus aller Munde einstimmig der Kur seinen Beifall. Sowohl die Einzelerklärungen als auch dieser gemeinsame Applaus lobten oder rühmten (laudare: H. Götz, Wb. 1999 S. 369) die zuvor ausgehandelte einhellige Wahl. Zwischen ihnen besteht kein rechtserheblicher Unterschied etwa in der Art, daß jene die Kur bewirkten und dieser lediglich Zustimmung ausgedrückt hätte (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 8 Anm. H. Mitteis 1944 S. 52, 71). Zu gesamter Hand oder wie aus einem Munde gab das Volk dem Erkorenen den Königsnamen, ohne auf Herrschaftsvertrag und Wahlkapitulation zurückzukommen. Dies alles läßt nur einen Schluß zu: Mit der einhelligen Kur setzte das Volk zugleich den Herrschaftsvertrag in Kraft, und nie ist es vorgekommen, daß der damit erhobene König dem widersprochen hätte. Bei der Nachwahl sei es des vom Vater designierten und noch zu dessen Lebzeiten vorweg erwählten, sei es des zunächst allein von den Franken gekorenen Königs, wenn also das kiesende Reichs- oder Teilreichsvolk einem bereits gefundenen Gemeinwillen lediglich beitrat, konnte man das Kiesen auch als accipere (Hlutharium . . . Franci loco patris eius super se regnaturum accipiunt. Hunc enim ferunt imperatorem morientem designasse, Ann. Fuld. a. 840) oder als assumere (Mlat. Wb. 1 Sp. 1095 Z. 23 – 51, oben: §§ 276b, 425) bezeichnen. Die Annehmung eines (schon vorher mit dem Königsnamen ausgezeichneten?) Bewerbers hatte dieselbe verfassungsrechtliche Bedeutung wie die (Erst-)Kur (H. Mitteis 1944 S. 43). Der Beifall des Volkes zum Kurspruch konnte „sofort in Huldigungs- und Unterwerfungshandlungen übergehen“: Die inmitten der Versammlung sitzenden Fürsten ergriffen die Hände des Erwählten, die hinter ihnen stehenden Großen erhoben die Hände und brachten durch Zuruf das „Gelöbnis der Treue und Unterordnung“ zum Ausdruck (H. Mitteis 1944 S. 52 f.), was man später als Huldigung bezeichnete (oben: § 660). Die Chronisten des Hochmittelalters benutzen das Ver-
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bum (con)laudare, um diesen noch nicht in Kurruf oder Nennung des Königsnamens und Beistandsgelübde oder Huldigung zerlegten Vorgang zu bezeichnen (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 220 A. 2. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 8 Anm. H. Mitteis 1944 S. 51 f.). Auseinanderzutreten begann beides seit dem 11. Jahrhundert, weil man es, wenn auch der einhellige Wille der Kurversammlung als mit dem Willen des Reichsuntertanenverbandes identisch galt, jetzt doch für geboten hielt, die Einlösung der Folgepflicht durch die Abwesenden ausdrücklich festzustellen. Zu diesem Zwecke hatte König Heinrich II. im Jahre 1002 den Brauch des Königsumritts wieder aufgenommen, den einst die Merowinger gepflegt hatten, der aber unter den Karolingern außer Übung gekommen war (C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 138. Oben: § 535), gewiß infolge der wiederholten allgemeinen Vereidigung aller Untertanen, die Karl der Große seit 789 eingeführt hatte. Zwar wollte oder konnte man jetzt nicht mehr alle Männer von einem bestimmten Alter an erreichen, wohl aber sollten doch immer noch außer den Reichsamtleuten und Reiterkriegern alle Freien von irgendwelcher Bedeutung, ingenui omnes, si alicuius momenti sint, dem Könige ihre Treue beschwören (Wipo, Gesta Ch. c. 4 S. 24 Z. 8 – 13. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 486 – 490), damit der Reichsuntertanenverband instandgehalten wurde, und dieses Ziel war am besten zu erreichen, wenn sich der König in möglichst vielen Landes- und Gerichtsversammlungen von möglichst vielen Partikularvölkern nachwählen und annehmen ließ. Erst im 13. Jahrhundert mag diese Gewohnheit verfallen sein. Im Jahre 1356 wußte der Reichsgesetzgeber offenbar nicht mehr so recht, wie die Treupflicht der Untertanen gegenüber dem Erkorenen zustandekam; daher ordnete er an, daß sich alle Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Landherren, Edlen, Städte und deren Gemeinden urkundlich und eidlich dazu bekennen sollten, die Untertanenpflichten während des Interregnums zu erfüllen. Ebenso sollten alle Schwureinungen in ihre Eide Treuvorbehalte zugunsten des Landesherrn und des Reiches aufnehmen (G. B. c. 1, 5 und 15. Oben: §§ 729, 680). Eine gesetzliche Vorschrift war damit an die Stelle des Rechtes getreten, das der König im 11. und 12. Jahrhundert in jedem Lande und in jeder Stadt persönlich hatte geltendmachen müssen. § 748a. Mit dem Kurruf erfüllten die Wähler eine Pflicht, die sie durch den Herrschaftsvertrag übernommen hatten: Sie gaben ihrem Vertragspartner den Königsnamen und gelobten, ihm hinfort keine weiteren Bedingungen als die im Volksrecht enthaltenen und während der Wahlverhandlung benannten zu stellen, wenn er ihre Zustimmung zu seinem Regierungshandeln einforderte. Auf dieselbe Weise band sich der Erkorene an den Herrschaftsvertrag, indem er den Amtseid ablegte. Sowohl die älteste überlieferte, aus dem Jahre 858 stammende Formel dieses Eides (oben: §§ 660, 670, 694) als auch der Tenor, den vierhundert Jahre später der Schöffe Eike von Repgow notierte (Ssp. Ldr. III 54 § 2. H. Mitteis 1944 S. 62), zitieren allein die allgemeinen, vom Volksrecht fixierten Amtspflichten des Königs; die ihm vertraglich vorgegebenen brauchte er nicht besonders zu beschwören, und vielleicht konnte er das auch gar nicht tun, da sie sich noch als volksrechtswidrig oder dem gemeinen Nutzen abträglich herausstellen mochten, so daß der
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2. Teil: Der Staat
König seine Amtspflicht, das Reich vor Schaden zu bewahren, verletzte, wenn er sich an sie halten würde. Diese Gefahr bestand namentlich hinsichtlich der Zusagen, welche König Lothar 1125 den der Kirchenreform verbundenen Bischöfen gab (oben: § 746). Den das Reichsrecht brechenden Verzicht auf das Regalienrecht (als einen Teil des unveräußerlichen Reichsgutes, oben: § 629) hat Otto IV. 1198 daher zweifellos in einem besonderen, den Amtseid ergänzenden Eid beschworen (MGH. Const. 2, 24 n. 19, hier: S. 25 Z. 2; oben: §§ 724, 725, 746). Die Fürsten lernten daraus, daß der Vertragseid des Bewerbers als Kurbedingung und der Amtseid des Königs als Kurerfüllung von einander zu unterscheiden wären. Sobald sie später dem Bewerber den Vertrag schriftlich in der Form einer Wahlkapitulation vorlegten, hatte der Bewerber den Vertragseid denn auch vor der Kur abzulegen (oben: § 701). Als Kurerfüllung wäre folglich auch die Huldigung anzusehen, mit der sich die Kiesenden samt allen Untertanen, deren Wort sie hielten, ihrem Könige zu Treue, Gehorsam und Beistand verpflichteten, fidele auxilium per sacramentum confirmant (Thietmar V 18). Erst damit erteilten sie ihm recht eigentlich die Bestallung. Da seine Macht darauf beruhte, daß sie seinen Befehlen gehorchten und ihm gegen Widerspenstige beistanden (oben: § 642), gewann er erst durch ihre Huldigung die Vollmacht, deren er zur Amtswaltung bedurfte. Die Huldigung war zugleich Bestallung und Ermächtigung des Königs. Der Zusammenhang zwischen rechts- und vertragsgemäßer königlicher Amtsführung und Treupflicht der Untertanen, den sich die Rechtskundigen während der Regierung Karls des Großen klarmachten (oben: §§ 657 – 659), hat zweifellos bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806 die Grundlage der Reichsverfassung bestimmt. § 748b. Der Sachsenspiegel spricht es übrigens deutlich aus, daß der königliche Eid ein kombinierter Amts- und Treueid war und folglich denjenigen, der ihn schwor, in derselben Weise einem Herrn und Mandanten unterordnete, wie es jeder andere Amtseid auch tat: Alse men den kuning kieset, sô sol her deme rîche hulde dûn unde sweren, daz her recht sterke . . . (Ssp. Ldr. III 54 § 2). Das Reich, dem er huldigen sollte, war das Reichsvolk oder der Reichsuntertanenverband, mit dem man, was ihre Willensäußerungen anlangte, sowohl die Reichsversammlung als auch die Fürstengenossenschaft identifizierte, die jederzeit deren Wort führte, namentlich aber während des Interregnums das Reich regierte und die Königswahl leitete. Dieses Reich war Inhaber aller Hoheitsrechte, die der König verwalten sollte; mit einem erst der Neuzeit angehörenden Worte können wir sagen: Es war der Souverän, und ebenso, wie sich der König, wenn er Hoheitsrechte an Amtleute weitergab, der Hoheit über sie nicht vollständig entäußern konnte (oben: §§ 562, 563, 731), so dankte auch das Reichsvolk keineswegs ab noch entmündigte es sich selbst, wenn es einen König über sich erhob, behielt es sich doch das souveräne Recht vor, durch die mitregierenden Fürsten den König ständig zu kontrollieren und ihn seines Amtes zu entsetzen, sobald er sich über die Volksrechte und den Herrschaftsvertrag hinwegzusetzen versuchte.
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Davon redet der Spiegler, wenn er sagt: Die man mût och wol sîme koninge unde sîme richtêre unrechtes wederstân, unde san helphen weren zu aller wîs, al sî her sîn mâch oder sîn herre, unde ne dût dar an weder sînen trúwen nicht, „der Untertan (oder: Rechtsgenosse, lat. homo, oben: § 672) muß durchaus seinem Könige und seinem Richter (ihres) Unrechts (halber) widerstehen, und sogar (der Gemeinde) helfen, (ihm) zu wehren in jeder Weise, selbst wenn (jen)er sein Verwandter oder (Lehns-)Herr ist, und damit verletzt er seine Treupflicht nicht“ (Ssp. Ldr. III 78 § 2). Denn diese gilt nicht nur, solange er seine beschworene Amtspflicht erfüllte, dem Könige ebenso wie jedem anderen Richter oder Reichsamtmann, sondern auch, und zwar unbedingt, der Reichs- und jeweiligen Gerichtsgemeinde (oben: §§ 661, 712a.b). Denn diese war Depositar der Volksrechte und konnte deshalb grundsätzlich das Volksrecht nicht brechen. Mit seinem Widerstand übte der Untertan die Kontrollpflicht des Souveräns gegenüber dem Amtmann aus, die jedem einzelnen Genossen namens der Gesamtheit oblag. Es handelte sich da nicht um einen Widerstand, der sich gegen den Souverän gerichtet hätte (F. Kern 1914 S. 167). Die Kur war eben nicht jene lex regia, von der das römische Recht fabelte, seit der Jurist Ulpian aus der absoluten gesetzgebenden Gewalt des altrömischen Kaisers auf ein Volksgesetz zurückgeschlossen hatte, durch das populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat (Digesten 1, 3, 31), ohne sich das geringste davon zu reservieren, auch wenn sich seit dem 16. Jahrhundert die Gelehrten immer wieder dieser Fabel bedienten, um die Könige und Fürsten, in deren Sold sie standen, als Gesetzgeber von der Bindung an den Willen ihrer Reiche zu lösen (E. Pitz 1987 S. 177, 441, 465, 2001a S. 31 – 33, 64, 215). In Deutschland war das Reich, war die Verbandsperson der Untertanen gemeinlich als Souverän Vorgesetzter und Dienstherr des Königs. Dieser war ihr, nicht dagegen sie ihm zur Huldigung verpflichtet. Sie war nämlich deutlich zu unterscheiden sowohl von den einzelnen als auch von der Personenvielheit, zu der sich diese addierten, und die allein er zur Huldigung anhalten konnte. Herr (dominus, oben: §§ 408, 671) war der König nur gegenüber jedem einzelnen Untertan, nicht jedoch im Verhältnis zur Gesamtheit des Untertanenverbandes (E. Pitz 2001 § 209). Auf die Erhabenheit, die den König von jenen trennte, bezog sich um die Jahrtausendwende der gelehrte Mönch Notker, wenn er seinen Schülern die fünfhundert Jahre alte Trostschrift des Boethius erklärte. Darin hält die Dame Philosophie einmal dem vom Unglück bedrängten Verfasser vor, welches Maß an Glück ihm doch auch zuteilgeworden sei, damals, als er zwei Söhne mit der konsularischen Würde bekleidet sah, während er selbst seinen König hatte lobpreisen dürfen; damit habe er eine Gabe davongetragen, wie sie zuvor Fortuna noch keinem unbeamteten Hausvater vergönnte, abstulisti munus, quod nulli umquam commodaverat privato. Notker übersetzt und kommentiert diese Stelle folgendermaßen: Tû habest iro anaguunnen, daz si noh neheinemo in sunder negab, neheinemo dînemo gnôz. Târ si chît priuato, dâr lâzet si echert ten chuning fore. Sie heizent alle priuati, die chuninga nesint. „Du hast ihr abgewonnen, was sie noch keinem einzelnen (beson-
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2. Teil: Der Staat
ders) gab, keinem deiner Genossen (oder: Standesgleichen). Wo sie sagt privato, da läßt sie lediglich den König aus. Alle die heißen privati, die nicht Könige sind“ (Notker S. 76. W. Schlesinger 1941 / 1964 S. XI, 1956 S. 186). Lat. privatus bezeichnet den einzelnen, zu allen Reichsämtern tauglichen Edelfreien und Genossen aller seinesgleichen, deren Rangunterschiede verschwinden, gemessen an der Hoheit, zu der sie die Republik (Thesaurus l. l. X col. 1391 lin. 48 usq. 1392 lin. 7) oder den König über sich erheben. Dieser je für sich abgesonderten einzelnen war der König Herr. Erhoben sie sich aber als Genossen aus der Vereinzelung, um den Reichsuntertanenverband zu konstituieren, so kehrte sich das Verhältnis um, und der König zeigte sich als ihr Amtmann. Obwohl erst die Einzelnen durch ihren Gemeinwillen das Reich schufen, waren sie doch dessen Untertanen und ihm ebenso zu Treue und Gehorsam verpflichtet wie dem Könige, den es über sich setzte (oben: §§ 15, 185, 186, 621, 661, 721). Sie hätten dem Gekorenen nicht zu huldigen brauchen, wenn es ihnen nicht vom Reiche durch die Kurversammlung befohlen worden wäre. Untertanen, die dem Reiche und dessen König Treue und Beistand schuldeten, waren sie auch nur je als einzelne. Die Untertanenpflicht war eine persönliche Pflicht, die jeder für sich selbst, wenn auch nur gemeinsam mit allen anderen (d. h.: samt und sonders) erfüllen mußte und nur so erfüllen konnte. Erst wenn der einzelne seinen Eigenwillen durch Teilnahme an den Grafschafts-, Landes-, Teilreichs- und Reichsversammlungen in den Gemeinwillen einbrachte, wenn er sich selbst also in die immerwährende, vergleichsweise unsterbliche Verbandsperson des Reiches hinein auflöste, hatte er teil an der Souveränität, kraft deren das Reich souveräner Vorgesetzter seines Königs war und während des Interregnums als akephale Genossenschaft einen neuen König über sich setzte. Der König aber blieb auch nach der Kur, was er vorher gewesen war, nämlich Genosse der Wähler und Untertan des Reiches. Der Eid, den er bei der Kur dem Reiche leistete, verstärkte seine Untertanenpflicht und fügte zu ihr die Treuepflicht eines Reichsamtmanns nach Maßgabe der Volksrechte und des Herrschaftsvertrages hinzu.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Das Königtum §§ 749 – 752. Bevollmächtigung des Königs § 749. Mit der Kur ging das Interregnum zu Ende und begann die Regierung des neuen Königs. Allerdings stellte die Kur trotz ihrer Formstrenge einen in doppelter Hinsicht unübersichtlichen Vorgang mit offenem Ende dar. Einerseits nämlich war ihre rechtliche Wirkung noch nicht von Juristen in methodischer Arbeit analysiert worden; die Männer aber, die den König erhoben, nahmen keinen Anstoß daran, daß sich in ihr die (die Wahl beschließende) Benennung eines Fürsten mit dem Königsnamen, die Erfüllung des Herrschaftsvertrages und die Bestallung oder Bevollmächtigung des Benannten miteinander vermengten. Namentlich hatte noch niemand die zweifache Funktion des königlichen Amtseides bemerkt, der, sofern er die Erfüllung jenes Vertrages zusicherte, vor der Kur, sofern er jedoch die Erfüllung der Amtspflichten betraf, nach ihr zu leisten gewesen wäre. Juristische Analyse mußte die Kur irgendwann einmal in ihre Bestandteile zerlegen und deren Reihenfolge bestimmen: Stipulation des Herrschaftsvertrages, Erfüllungseid des Bewerbers, Kur oder Erfüllung des Vertrages durch die Wähler, Amtseid des Erkorenen und Bestallung oder Bevollmächtigung desselben durch die Huldigung der Untertanen. Unklarheit über diese Teilaspekte hatte andererseits zur Folge, daß sich die Kur in eine Kettenhandlung, ja sogar in einen Vorgang mit offenem Ende verwandelte, sobald die Wähler ihre Wahl- und Folgepflicht wegen politischer Umstände nur sukzessive erfüllten. Dann steigerte sich eine Unübersichtlichkeit, die bereits bei der Kur hervortreten mochte, weil in einer Versammlung waffenklirrender Männer unter freiem Himmel selbst bei ungeteilter Aufmerksamkeit aller stets diejenigen, die in den hinteren Reihen oder auf der Windseite die Kurfürsten umgaben, nicht imstande waren, den in den Kurrufen ausgebrachten Namen hörend zu verstehen. Diesen Männern mußten die Kurfürsten sichtbar zu erkennen geben, wen sie erkoren und welcher Kur alle anderen zustimmen sollten. Aber dafür schrieb die Gewohnheit keine bestimmte Form vor. Jedenfalls wissen wir nichts davon, daß es etwas mit den Formen der Kärntner Herzogswahl (oben: §§ 534, 535) vergleichbares gegeben hätte. Die Formlosigkeit scheint sich aus den wenigen Nachrichten zu ergeben, die auf uns gekommen sind. So ist es lediglich wahrscheinlich zu machen, daß schon 751 der mos Francorum die Krönung und Thronsetzung des Erkorenen vorsah (C. Brühl 1962 S. 307 – 313.
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2. Teil: Der Staat
R. Schmidt 1968 S. 51 f., 58. Oben: §§ 686, 688). Die erste ausdrücklich bezeugte Krönung eines Königs der Ostfranken ist diejenige König Ludwigs des Kindes. Während des Interregnums von 899 / 900 erkoren die versammelten Großen den Sohn des Amtsvorgängers zum Könige über sich und erhoben ihn, nachdem er gekrönt und mit den königlichen Kleinodien bekleidet worden war, zum Firstbaum des Reiches, regem super se creant et coronatum regiisque ornamentis indutum in fastigio regni sublimant (Regino a. 900. C. Brühl 1968 S. 296). Offensichtlich war der ungenannte Koronator einer der ihren, und zwar ein Laie, da es der Name eines Bischofs dem Chronisten gewiß wert gewesen wäre, genannt zu werden. Bei der sächsischen Nachwahl Heinrichs II. im Jahre 1002 rief zunächst das Volk den Bewerber zum König aus, und zum Zeichen dessen (igitur) übergab sein Worthalter ihm die heilige Lanze und (mit ihr) die Reichsverwaltung (lat. cura, ahd. ahta, phliht, ruohha, sorga = Fürsorge, Aufsichtspflicht, H. Götz, Wb. 1999 S. 164): Bernhardus igitur dux accepta in manibus sacra lancea ex parte omnium regni curam illi fideliter committit (Thietmar V 17, oben: §§ 734b, 745). Im Jahre 1024 übergab die Königin-Witwe dem Erkorenen die Königszeichen, regalia insignia, seines Vorgängers im Amte und bestätigte damit seine Vollmacht, ad regnandum illum corroboravit (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 19 Z. 16 – 19, oben: § 733). Im Jahre 1125 scheinen bevorzugte Wähler den Erkorenen auf die Schultern erhoben und auf einen Thron gesetzt zu haben (RI 4, 1, 1 n. 52, hier: S. 53 Z. 7, 23, 54 Z. 12, 61 Z. 4 – 5), ohne daß der Reichsinsignien gedacht wird. Da die heilige Lanze nur zu 1002 als Königszeichen bezeugt ist, bleibt uns völlig unbekannt, welche Insignien, oder ob überhaupt solche notwendigerweise übergeben werden mußten, um die Kur rechtsgültig zu vollenden, geschweige denn, wessen das Amt des Koronators war und ob er die Übergabe mit bestimmten Reden begleitete. Nur dann, wenn ein König noch zu Lebzeiten seines Vaters und Vorgängers erhoben wurde, tritt dieser als Koronator in Erscheinung, der seinem Nachfolger die Krone aufsetzte (C. Brühl 1968 S. 276). § 750. Dies alles spricht dafür, daß der Übergabe der Königszeichen an den Erkorenen keine konstitutive, sondern lediglich eine deklaratorische Bedeutung zukam, daß sie, wie Wipo bezeugt, die durch die Kur erteilte Vollmacht lediglich bestätigte. Es hat daher auch keinen rechtsgeschichtlichen Sinn, danach zu fragen, welche Amtsaufgaben oder Tugenden des Königs die Zeichen im einzelnen symbolisieren sollten. Ebenso wie hinsichtlich der Bischofserhebung (oben: §§ 430, 431) ist die Analogie der Übergabe der Zeichen zur Einweisung in den Besitz an Grund und Boden mittels eines Investitursymbols zurückzuweisen. Die Bekleidung mit den Reichsinsignien war kein besitzbegründender Publizitätsakt, der dem Erkorenen die Gewere am Reiche verschafft hätte. Dies wäre allenfalls denkbar, wenn unter dem Reiche nur das Reichsgut zu verstehen wäre. Auf den Reichsuntertanenverband dagegen läßt sich eine sachenrechtliche Gewere nicht anwenden (oben: §§ 547, 590), es sei denn im Rahmen patrimonialstaatlichen Denkens. Die Insignien können daher nicht mehr sichtbar gemacht haben als die Vollmacht des Erkorenen, nach Volksrecht Huldigung und Gehorsam zu verlangen. „Sie sind im
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Moment des Regierungsantritts nichts anderes als eine Verstärkung der Folgepflicht, eine Festigung, Beglaubigung, corroboratio. Dem mit den königlichen Hoheitszeichen Bekleideten die Folge weigern bedeutete erhöhte Gefahr, verschärften Rechtsbruch für den, der sich nicht nachher im Kampfe zu rechtfertigen vermochte“ (H. Mitteis 1944 S. 48, 89 – 92). Besonders scharf würde die endliche Offenheit der Kur dann hervortreten, wenn zu ihrer Vollendung die Einnahme des Karlsthrones in Aachen erforderlich gewesen sein sollte, da die Königswahl meistens mehr oder weniger weit entfernt von hier stattfand. Ihr Ort war nicht der auf der Empore im Inneren der dortigen Pfalzkirche St. Marien befindliche Thronsessel, sondern ein Thron, der außerhalb des geweihten Raumes im Atrium vor dem Westportal der Kirche stand. Dieser weltliche Außenthron könnte von Karl dem Großen aufgestellt worden sein. Bei Wipo (Gesta Ch. c. 7 S. 28 Z. 7 – 9) heißt er publicus thronus regalis ab antiquis regibus et a Carolo praecipue locatus totius regni archisolium. Wohl nicht zufällig begegnet er uns zuerst unter Konrad II. urkundlich als abstraktes Zeichen der königlichen Amtsvollmacht, denn Konrad ließ wohl im Jahre 1027 per Inquisition feststellen, welche Besitzungen und Güter in Bayern ad solium imperii sui gehörten (MGH. Const. 1, 645 n. 439 Z. 20). Hier setzten die weltlichen Fürsten zuerst im Jahre 936 König Otto I. und zuletzt 1138 Konrad III. auf den Thron und damit in das Amt ein. Danach kam die weltliche Thronsetzung außer Gebrauch. Schon 1152 war der Außenthron abgerissen und nicht mehr vorhanden (H. Mitteis 1944 S. 92 – 95. R. Schmidt 1968 S. 45 f., 49 f. J. W. Busch 1995 S. 10). Der Rechtswirkung nach ist sie der Bekleidung mit den Reichsinsignien gleichzustellen (H. Mitteis 1944 S. 95). Aus der Gesamtheit dieser Nachrichten ist der Schluß zu ziehen, daß durch die einhellige Kur das Volk, dessen Willen man mit dem einstimmig bezeugten Willen der Wahlversammlung identifizierte, dem Erkorenen zugleich auch die Amtsvollmacht erteilte. Mit der Namengebung war die Ermächtigung verbunden (H. Mitteis 1944 S. 159 – 163). Von der Kurversammlung empfing der Erwählte durch deren Sprecher die cura regni (Thietmar V 16), und mit der Übergabe der Reichsinsignien bestätigte das Volk lediglich seinen Willen (ad regnandum . . . illum corroboravit, Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 19 Z. 17 – 19). Herzog Lothar war 1125 sofort nach Empfang der Huldigung vollmächtig, um den Fürsten ihre Ämter und Lehen zu verleihen und bei seiner königlichen Würde einen Landfrieden zu gebieten (RI 4, 1, 1 n. 92, S. 53 Z. 29 – 34, 37 – 42, 59 Z. 30 – 32). Das Braunschweiger Weistum von 1252 (oben: § 695b) und das Reichsgesetz von 1356 (oben: § 729) bestätigen, daß der König ex quo electus est vollmächtig war: Sofort danach konnte er daher den Kurfürsten ihre Privilegien erneuern und andere Amtshandlungen vornehmen, auch wenn noch einige Tage verstreichen mochten, bis die Beurkundung möglich war, da vorher noch der Siegelstempel mit seinem Bilde und Namen angefertigt werden mußte (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 2 S. 551). § 751. Eine neue Auffassung kündigt sich bei Wipo (Gesta Ch. c. 2 – 6) an, wenn er von der Erhebung Konrads in folgender Reihung berichtet: Im Anschluß an die
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Kur hätten alle den älteren Konrad für der königlichen Amtsgewalt am meisten würdig erklärt und gefordert, daß seine Weihe nicht verzögert werde, omnes maiorem Chuononem . . . regali potentia dignissimum iudicabant et, ut nulla mora consecrationis illius fieret, postulabant (ebd. S. 19 Z. 10 – 15). Wipo insinuiert dem Leser, daß die Kurversammlung den Erkorenen nicht sofort ermächtigen könne, sondern dessen Salbung und geistliche Weihe abwarten, ja vielleicht sogar die Ermächtigung überhaupt dem Liturgen überlassen müsse. So hätten denn auch alle den König nach Mainz begleitet, und dieser habe dort demütig die Weihe durch den Erzbischof abgewartet (S. 20 Z. 21 – 23, 30 – 32); den Tag aber, an dem er sie empfing, habe er als ersten seines königlichen Daseins höchst dienstbeflissen beendet, eam diem regiae speciei primitivam officiosissime consumpsit (S. 24 Z. 5 – 6). Wipos Leser muß annehmen, daß Konrad erst von diesem Tage an regiert habe oder habe regieren können: Erst jetzt habe er die Treueide aller Fürsten und Freien angenommen, die Hofämter besetzt (S. 24 Z. 8 – 23), Gericht gehalten (S. 26 Z. 12 ff.) und schließlich, auf dem Reichsthron zu Aachen sitzend, den ersten Reichstag abgehalten (S. 28 Z. 9 ff.). So legt Wipo zwar der Königsweihe nicht ausdrücklich konstitutive Bedeutung bei, aber eine klerikale Tendenz tritt deutlich hervor, und sie zielt darauf, die weltliche Ermächtigung des Königs durch die kirchliche und damit die volksrechtliche Auffassung des königlichen Amtes durch die theokratische zu ersetzen. Der Grund dafür, daß die Hoftheologen, die Bischöfe, der höhere Klerus überhaupt diese Tendenz erfolgreich vertreten konnten, liegt einerseits darin, daß das offene Ende der Kur nach der Setzung eines sichtbaren Schlußpunktes verlangte, andererseits aber darin, daß die Geistlichkeit über Hilfsmittel verfügte, um das Schaugepränge der Königsweihe in Szene zu setzen, die dem Laienvolke nicht zu Gebote standen. Während wir über die Insignien und die Thronsetzung, mit denen das Volk das Ergebnis seiner Kur sichtbar machte, fast nichts wissen, unterrichten uns die Krönungsordines, obwohl sie Kur und Ermächtigung des Königs lediglich nachahmen (oben: § 697), ausführlich sowohl über den Gebrauch, den der Liturg von den Reichsinsignien machte, die ihm das Volk und sein königlicher Amtmann zu diesem Zwecke zur Verfügung stellten, als auch über den heilsgeschichtlichen Sinn, den er mit Gebeten und Benediktionen in sie hineinlegte. Für den weltlichen Gebrauch hatten einfache Zeichen, wie man sie eben zur Hand hatte, den leicht zu begreifenden Zweck der Übergabe an den Erkorenen erfüllt; für den dunklen Hintersinn, den die geistliche Weihe ihnen unterschob, konnten sie gar nicht prächtig und kostspielig genug aus Gold, Edelsteinen, Emaille, Samt und Brokat angefertigt werden. Allein die liturgische Verwendung und der theologische Tiefsinn erweckten, was der weltliche Gebrauch niemals hätte bewirken können, nämlich die im 14. Jahrhundert aufkommende volkstümliche Verehrung der Reichsinsignien als Reliquien und Heiltümer (H. Trnek in LMA 7 Sp. 623 – 625). Nimmt man den überwältigenden architektonischen Rahmen hinzu, den die hochgewölbten Kaiserdome der geistlichen Königsweihe gewährten, so versteht man, warum in der Mitte des 12. Jahrhunderts zu eben der Zeit, als Reichsrecht
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und Reichsverfassung anfingen, die Verbindung der Königswürde mit dem Kaisertum zur Kenntnis zu nehmen (oben: § 695a), die weltliche Thronsetzung bei der Kur außer Gebrauch kam und der Außenthron vor dem Aachener Münster abgebrochen werden konnte: Die liturgische Handlung in der Kirche und der Innenthron auf deren Empore hatten sie verdunkelt und verdrängt. Die Thronsetzung überlebte nur noch als Teil des geistlichen Zeremoniells und Demonstration des theokratischen Amtskönigtums. Die verfassungswidrigen Pläne der kölnisch-welfischen Partei im Thronstreit von 1198 mit der kurialen Kaisertheorie verschmelzend, legte Papst Innozenz III. daraufhin der Königsweihe eine rechtliche Bedeutung bei, die ihr nach Volksrecht weder damals noch später zukam (oben: § 725). § 752. Selbst der Schöffe Eike von Repgow hat sich davon bestimmen lassen, und so kommt es, daß seine „Königswahllehre“ (Ssp. Ldr. III 52 § 1) zu „der eigentlichen Königswahlstelle“ (ebd. III 57 § 2. H. Mitteis 1944 S. 158, 163 f.) in einem eigentümlichen Gegensatz steht. Denn die Lehre besagt, daß der erkorene König (erst dann), wenn er vom dazu berufenen Bischof geweiht wird und auf den Thron zu Aachen kommt, die königliche Gewalt und Würde innehat, ebenso, wie er (erst) durch die päpstliche Weihe die kaiserliche Gewalt und Würde hat (oder innezuhaben beginnt). Der Stuhl zu Aachen meint den Thron auf der Empore im Inneren der Kaiserkirche (R. Schmidt 1968 S. 45), auf den der Liturg den Gesalbten des Herrn geleitete. Da aber die königliche Gewalt die Amtsvollmacht bezeichnet und die Namengebung „der eigentlich konstitutive Akt der Thronerhebung“ war, durch den sich der Erkorene in das Subjekt aller Reichsrechte verwandelte (H. Mitteis 1944 S. 162), scheint sich Eike mit dieser Lehre auf die theokratische Auffassung des Königtums zu beziehen, wie sie sonst lediglich von Hoftheologen, Kanonisten und Parteigängern der römischen Kurie vertreten wurde. An der zweiten Stelle jedoch erklärt Eike, daß die Wahlversammlung denjenigen „bei Namen kiesen“, also zur Verwaltung des Königsamts ermächtigen solle, den die einzeln kiesenden Fürsten und mit ihnen die Fürsten insgesamt (zuvor) erwählen (Ssp. Ldr. III 57 § 2, oben: § 728). In Verbindung mit der Angabe, daß der König während der Kur sich dem Reiche huldigend zu unterwerfen und einen Amtseid zu schwören habe (ebd. III 54 § 2, oben: § 748b), finden wir darin die volksrechtliche Auffassung des Königtums wieder. Es führt zu nichts, den bei Eike aufscheinenden Widerspruch durch die Konstruktion einer neuen Erhebungsweise, die den Boden des alten Volksrechts verlassen habe, verwischen oder eine „Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit“ in Eikes Darstellung entdecken zu wollen (H. Mitteis 1944 S. 160), wo es sich allenfalls um einen Konflikt zwischen verschiedenen, von je eigenen Interessenten verteidigten Rechtsauffassungen handelt. Die Erklärung dürfte einfacher sein: Die Unübersichtlichkeit der Kur, eine Folge der Wiederholbarkeit von Teilakten im Rahmen der Kettenhandlung, bewog Eike dazu, in der Einmaligkeit der Aachener Thronsetzung den Schlußakt zu erkennen, durch den alle vorangegangenen Teilakte erst zur Rechtskraft erwuchsen. Da die Thronsetzung aber aufgehört hatte, ein weltlicher Staatsakt zu sein, und nur noch
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im Rahmen der geistlichen Königsweihe als liturgische Handlung stattfand, gelangte Eike dahin, den konstitutiven Schlußakt der Kur in die nach Volksrecht ganz unerhebliche geistliche Zeremonie zu verlegen. Es ist möglich, daß er als „Getreuer Gottes und des Reiches“ den Widerspruch zwischen weltlichem und geistlichem Recht gar nicht empfand, als der sich diese Auffassung dem modernen Betrachter darstellt. Keinesfalls bestreitet demnach der Sachsenspiegel, daß Kur und Ermächtigung des Königs der geistlichen Zeremonie vorausgehen mußten, daß es das Volk und seine Wahlversammlung war, die den Erwählten bestallte und bevollmächtigte, und daß die Königsweihe nur dann gültig war, wenn der Liturg sie im Auftrag des Volkes dem von diesem bestallten König erteilte (oben: §§ 688, 689, 700). Nach Volksrecht sollten die Kur, die Vereidigung des Königs und die Huldigung der Untertanen unmittelbar aneinander anschließen, so daß der König vom Tage der Kur an im Besitz der Amtsvollmacht und damit imstande war, zu regieren. Einen gekorenen, aber noch nicht bestallten König konnte es daher nach Reichsrecht nicht geben. Die Idee, zwischen Kur und Bestallung des Königs liege ein Zeitraum, in dem der König zwar ernannt, aber noch nicht vollmächtig sei, entstammte dem Denken der Kirchenreformer und ihrer theokratischen Staatsauffassung, die den König mit dem Bischof (oben: §§ 428 – 430, 700) verglich und die Bestallung erst mit der Königsweihe stattfinden ließ. In der politischen Theologie, der sowohl die kuriale als auch die staufische Kaisertheorie entstammte, war Platz für einen erwählten römischen König, der sich darum bemühte, vom Papste die Kaiserkrönung und damit eine rechtlich inhaltsleere kaiserliche Würde zu erlangen, aber dem lagen Spekulationen zugrunde, die das deutsche Volks- und Reichsrecht nicht zur Kenntnis nahm. Wenn aber nach Reichsrecht ein bloß erwählter ostfränkisch-deutscher König nicht möglich war, so bestätigt dies die Annahme, daß das Interregnum mit der Kur des Königs endete und der Erkorene vom Tage seiner Erhebung an zum Regieren ermächtigt war.
§§ 753 – 756. Amtsgewalt und Reichsregierung § 753. Die durch Kur und allgemeine Huldigung vom Volke auf den König übertragene Amtsgewalt konnte zwar als cura regni, potestas, potencia, auctoritas, maiestas bezeichnet werden, für gewöhnlich aber hieß sie bannus oder Bann(gewalt). Da das spätrömische Staatsrecht keine Ermächtigung jedes einzelnen Kaisers durch das Volk kannte, hatte sich den Germanen offenbar kein lat. Begriff, am allerwenigsten aber das Substantiv imperium, als Äquivalent zum Namen ihrer Königsgewalt angeboten. Als Grundbedeutung des gemeingermanischen und ahd. Masculinums ban ist der Befehl, das Gebot oder Verbot, zu erkennen; in diesem Sinne übersetzte es lat. praeceptum (MGH. Capit. 1 S. 93 Z. 9). Der königliche
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Befehl erhielt seine besondere Bedeutung und wurde erst zum Bann im rechtlichen Sinne, wenn der König auf jeden Ungehorsam die Königsbannbuße von (mindestens) sechzig Schillingen setzte. Mit derselben Strafe errichtete, verpönte oder sanktionierte er (im „Reichsabschied“, oben: § 610) seine als Kapitularien erlassenen Gesetze. Wie für jenes die lat. Verben praecipere, mandare, statuere, iniungere, so bildeten für dieses lat. constituere (Capit. 1 S. 148 Z. 6), constitutio, edictum, decretum den terminus technicus (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 314 – 321, 601 – 604, 608 A. 4. F. L. Ganshof 1961a S. 53). Aus der Grundbedeutung von bannus entwickelte sich ein dreifacher weiterer Wortsinn (Mlat. Wb. 1 Sp. 1341 – 1348. R. Scheyhing in LMA 1 Sp. 1414), nämlich als Amts- oder Verfügungsgewalt oder Herrschaft(srechte), als von dieser geschaffener Rechtsanspruch, Gerechtsame oder Lizenz und als Gebiet, in dem die Banngewalt gelten sollte. Als Inhaber der Banngewalt kannten die Notare nicht nur den König, sondern auch die Reichsbeamten, die den Königsbann von ihm empfingen, als Grafen (oben: §§ 319 – 323), Vögte (oben: §§ 364 – 367) und Bischöfe (oben: § 430), und wenn davon die Rede ist, tritt in Wendungen wie ex banno nostro praecipere oder sub regio banno stabilire der spezielle Sinn der königlichen Ermächtigung deutlich hervor (Mlat. Wb. 1 Sp. 1344 Z. 24 – 36). Als Amtleute des Reiches befanden sich der König und die Reichsbeamten in einem und demselben Verhältnis zum Volke. Sie alle wurden in zweifacher Weise ermächtigt, nämlich einmal dadurch, daß die oder der Worthalter des Volkes sie ernannte(n) oder bestallte(n), so den König die einzeln Kiesenden, die ihm den Namen gaben, und die Amtleute der vom Volke damit beauftragte König, und zweitens dadurch, daß die Untertanen und Bewohner ihres Banngebietes samt und sonders sie zu Häuptern annahmen, indem sie ihnen jeder für sich, aber zusammen mit allen anderen huldigten. „Die in dem Bann wirkende Macht ist eben nur die in dem Königtum selbst liegende Gewalt und Autorität“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 567 f.), und diese geht von dem Volke aus, das seinem Haupte gelobte, ihm beizustehen. Mit der Ermächtigung erteilte das Volk seinem König eine universale Kompetenz. Während die Banngewalt der Amtleute begrenzt war auf ihre Amtsbezirke und zudem sachlich aufgespalten werden konnte (in Gerichts-, Blut-, Fiskal-, Wildbann usw., oben: §§ 304, 305, 320, 321), umfaßte die Amtsgewalt des Königs das ganze Reich und sämtliche hoheitlichen Befugnisse. Selbst den Strafen, bei denen er gebieten konnte, war keine Obergrenze gesetzt. Die schwerste Strafe, die dem Widerspenstigen drohte, war der Verlust der königlichen Gnade oder Huld (lat. gratia, ahd. huldî. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 576 – 591, 616. Oben: § 660), die wiederzugewinnen der König dem Rebellen, wenn überhaupt, dann zu willkürlich beliebten und gerichtlich nicht anfechtbaren Bedingungen gestattete. So konnte der König nicht nur die Abtretung ererbten Grundeigentums und vom Volke vergebener Amtsgewalten, sondern auch sichtbare, demütigende Bußfälligkeit in der Art verlangen, daß der Rebell barfuß und bloß mit dem Hemde bekleidet vor ihm erschien, um fußfällig seine Begnadigung zu erbitten (G. Althoff 1997 S. 21 – 125,
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199 – 228). Nur mit Hilfe einer so weitreichenden Strafgewalt war der König imstande, Gehorsam auch von jenen mächtigen Großen zu erzwingen, die nicht daran dachten, seinen Amtleuten zu gehorchen, und sich daher den Gerichtsstand unmittelbar vor ihm erzwangen (oben: §§ 140, 209). Nur im Einzelfall war es möglich, daß sich der König in der Ausübung der ihm persönlich übertragenen Banngewalt durch einen Herzog oder Gewaltboten vertreten ließ (Quellenwerk Schweiz nr. 83. DH. IV. 476. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 12. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 154 – 158. H. Maurer 1978 S. 136 Anm. 42, 203, 208, 212. Oben: § 482). § 754. Als wichtigste Amtsaufgabe des Königs und diejenige, um deretwillen vor allem die Großen des Reiches Interregna entweder zu vermeiden oder durch rasche Kur möglichst bald zu beenden suchten, ist der politische Auftrag zu nennen: Dem König oblag es zu erkennen, was zum Nutzen des Reiches geschehen mußte, und die gemeine öffentliche Willensbildung des Reichsuntertanenverbandes dahin zu lenken, daß das Notwendige geschehen konnte (oben: §§ 405, 410. 609, 634). Da er dabei die Regeln des Identitätssystems und namentlich das Gebot der Einhelligkeit zu beachten hatte, war dies ein schwieriges und langwieriges Geschäft, das von der Vielfalt partikularer Interessen in einem von unten her aufgebauten Gemeinwesen leicht in die Länge gezogen oder völlig gelähmt werden konnte, wenn der König den gemeinen Nutzen und das Interesse des gesamten Reiches nicht zu verteidigen verstand. Ihm oblag es von Amts wegen, nicht nur festzustellen, wann jeweils die gemeine Willensbildung das punctum unitatis erreicht, d. h. wann die Beratungen der Teilvölker und ihrer Worthalter zu einem Mehrheitswillen geführt hatten, der die Minderheiten zur Folge verpflichtete (oben: § 720a), sondern auch kraft seiner Banngewalt allen Widerstrebenden die Erfüllung der Folgepflicht bei Strafe zu gebieten. Um dieser Aufgabe genügen zu können, war der König einerseits dazu befugt, die Großen und das Volk aus allen Teilen des Reiches zu sich zu rufen und auf Reichsversammlungen um sich zu scharen, andererseits aber sich entweder persönlich in die Teilreiche, Länder und Grafschaften zu begeben, um deren partikulare Völker um sich zu versammeln, oder aber ihre Willensbildung aus der Ferne durch Briefe oder vollmächtige Boten und Gesandtschaften anzuleiten. Die von den Karolingern im 8. Jahrhundert erneuerte fränkische Reichsverfassung hatte als unmittelbar königliche nur die periodisch zweimal im Jahre zusammentretende Reichsversammlung geduldet und partikulare Zusammenkünfte nur in Gegenwart königlicher Missi oder vollmächtiger Sendeboten zugelassen (oben: §§ 457, 607). Aber diese Ordnung hatte den Interessen der Teilverbände gemäß dem Staatsaufbau von unten her so wenig entsprochen, daß Kaiser Ludwig der Fromme und seine Söhne sie aufgegeben hatten. Aus den vier Regna mit eigenen Versammlungen und von diesen erhobenen vizeköniglichen Herzögen (oben: §§ 443, 507, 722, 734) gingen durch Teilung des fränkischen Regnums die sieben Hoftagssprengel des Ostfränkisch-deutschen Reiches hervor. Obwohl der Sprach-
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gebrauch der Quellen zwischen königlichen Reichs- und Partikularversammlungen nicht unterscheidet, empfiehlt es sich, mit Julius Ficker (oben: § 442) die Versammlungen des ganzen Reiches, zu denen man auf fränkischem Boden zusammenkommen mußte, von den Landeshoftagen zu trennen, die der König in jedem Teilreich und Hoftagssprengel abzuhalten befugt war (K. G. Hugelmann 1955 S. 430 – 450). Auf die karolingische Periodizität der Reichsversammlung legten die Großen später offensichtlich keinen Wert mehr, da ihr Recht auf Mitregierung im Reiche ein Initiativrecht enthalten haben muß, das der König nicht außer Acht lassen konnte, ohne von ihnen verlassen zu werden und damit seine auf ihrem Beistand beruhende Macht zu gefährden. Dies zeigt die Reichsversammlung zu Tribur 1066: Es war die erste, die erkennbar von den Fürsten des Reiches ohne den Willen des Königs einberufen worden ist (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 428). Ergriff umgekehrt der König die Initiative, so tat er dies notwendigerweise im Einvernehmen oder mit Rat oder auf Antrag einer Minderheit der Großen und getrieben von der politischen Notwendigkeit, die Initiative nicht an sie zu verlieren. Von Rechts wegen kam jedoch der seinen insofern der Vorrang vor der fürstlichen zu, als nur der König die Untertanen ordnungsgemäß zur Versammlung aufbieten, d. h. sowohl unentschuldigt Ausbleibende als auch ohne seine Erlaubnis vorzeitig Abreisende wegen Verletzung der Treupflicht mit dem Entzug seiner Gnade und also willkürlich bestrafen konnte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 431, 441. Oben: § 609). Die akephale Fürstengenossenschaft dagegen war auf freiwillige Folge aller derer angewiesen, auf deren Teilnahme an einer Tagfahrt sie hoffte (oben: §§ 737, 741). § 755. Über die Ordnungsmäßigkeit der Ladung (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 5 S. 567, 576 – 581, Bd. 6 S. 431) bestimmt der Sachsenspiegel (Ldr. III 64 § 1): Gebietet der König Reichsdienst oder seinen Hof mit Urteilen und gibt er dies den Fürsten schriftlich sechs Wochen vorher bekannt, so machen sie sich strafbar, wenn sie dem Gebot auf deutscher Erde nicht folgen. „Mit Urteilen“ bedeutet offenbar dasselbe wie „iudicio“ oder „consilio principum“ in lat. Quellen (K. G. Hugelmann 1955 S. 442). Es mußte also eine Entscheidung der Reichsregierung über Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit (necessitas, unten: § 763b) der Ladung vorliegen, und die Fürsten verlangten, daß ihnen diese in Gestalt einer Tagesordnung zusammen mit der Ladung vorgelegt werde (oben: § 609). Die alte Pflicht des Königs, das Reich nur auf fränkischer Erde zu versammeln, dort freilich an jeder ihm beliebenden Stätte, war jetzt aufgegeben zugunsten aller Stätten auf deutscher Erde. Aber nach Italien, wo einst Kaiser Otto II., und nach Burgund, wo noch 1157 Kaiser Friedrich I. einen Reichstag abgehalten hatte, brauchten die deutschen Fürsten einer Ladung nicht mehr zu folgen (oben: §§ 256, 258, 259). Bevor sich in der Regierungszeit Kaiser Friedrichs I. der genau begrenzte jüngere Reichsfürstenstand herausbildete (oben: § 594), war der König schwerlich von Rechts wegen dazu verpflichtet, bestimmte Große und Fürsten persönlich zu laden. Lediglich politische Klugheit wird ihm geboten haben, die Häupter aller
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einflußreichen Partikularverbände zu sich zu rufen, um durch sie den Reichsuntertanenverband möglichst vollständig an sich zu binden, nämlich so, daß alle den einhelligen Willen der Versammlung mit dem des ganzen Volkes identifizieren konnten. Die aus dem germanisch-deutschen Einungsrecht abgeleiteten Regeln identischer Willensbildung erforderten, daß der König den persönlich Geladenen die Tagesordnung mitteilte, da sie keine Viril-, sondern Verbandsstimmen führten und in der Reichsversammlung nur solange vollmächtige Worthalter ihres Volkes waren, wie sie dazu berechtigt waren, ihren eigenen Willen mit dem ihrer Untertanen in eins zu setzen (oben: §§ 22, 23, 608, 612, 632b). Es waren also keineswegs bestimmte Personen, sondern die Häupter bestimmter Untertanenverbände zu laden, und diese mußten imstande sein, sich auf Landtagen mit ihren Großen gemäß der Tagesordnung vorweg zu beraten, und dem Könige so viele Sprecher ihres Landvolkes zuzuführen, daß sie sich während der Reichsversammlung der Identität ihres eigenen und des Landeswillens gewiß sein konnten. So kommt es, daß „Nichtgeladene“, d. h. vom König nicht persönlich geladene Untertanen, ebenfalls Zutritt zur Reichsversammlung hatten. Es gab keinen geschlossenen Versammlungsplatz, den zu betreten der König nur den persönlich Geladenen hätte gestatten können oder müssen (oben: §§ 3, 8, 722). „Lange ist auch die Vorstellung festgehalten, daß es das ganze Volk sei, welches zusammenkomme, sich um seinen König schare zur Beratung und Erledigung gemeinsamer Angelegenheiten“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 435 f.). Daraus, daß die Ladung eines Einzelnen dessen ganzem Lande galt, folgt auch das Recht der Fürsten, sich von ihren Untergebenen, sofern diese sie nicht begleiteten, eine Beihilfe zu den Reiseund Zehrungskosten geben zu lassen. Grundsätzlich waren alle Untertanen verpflichtet, der Ladung ihres Königs zu folgen, und diese Pflicht erfüllten sie entweder persönlich oder indem sie sich mit Zulieferungen an dem gemeinsamen Aufwand beteiligten (ebd. S. 440). Kaum ein freier Mann wird daher von der königlichen Ladung nicht erreicht worden sein. § 756a. Wie die Volksrechte das Problem einer königlichen Regierung in den Partikulargemeinden auffaßten und lösten, erfahren wir zuerst aus dem Sachsenspiegel: Zwar erkoren die Freien den König derart zum Richter über Eigen, Lehen und Leben, daß sie einem Kläger, der ihre Erbgüter oder, wegen eines todeswürdigen Verbrechens, ihr Leben forderte, nur vor einem vom König gehegten Gericht zu antworten brauchten; da aber der König nicht in allen Landen gleichzeitig verweilen und Gericht halten konnte, setze er durch die Fürsten Grafen und durch die Grafen Schultheißen ein (Ssp. Ldr. III 52 § 2, oben: § 562), damit sie in seinem Namen und bei seinem Banne Gericht hielten. Aber im Herumreisen regierend war der König zeitweilig doch überall einmal anwesend, so daß der Ausnahmezustand seines Fernseins endete und der durch die Kur begründete reguläre Zustand eintrat: . . . in swelk lant her kumt, dâ is yme ledich daz gerichte, daz her wol richten mût alle de clage, de vor gerichte nicht begunt noch nicht gelent sîn (ebd. III 60 § 2). Der Graf übergab dem König den Richterstab und trat zurück in das umstehende, die Urteile weisende Dingvolk: Alse is des greven (gerichte neder geleget), svenne
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die koning in sine grafscap kumt, dar se beide to antwerde sin. Also is iewelkes richteres, dar die koning to antwerde is, die klage ne ga denne uppe den koning (ebd. I 58 § 2). Der Heimfall des Richterstabes an den anwesenden König ist Ausdruck und Folge der Vorbehaltsrechte gegenüber seinen Amtleuten, deren sich der König niemals entäußern, um die er seine Amtsgewalt, wenn er sie weiterreichte an Dritte, notwendigerweise verkürzen mußte, weil er sich gegenüber dem Volke, das ihn erkor, als seinem Mandanten auch dann für die Erfüllung seiner Amtspflichten persönlich verantworten mußte, wenn er sie nicht selbst, sondern nur durch Dritte ausüben konnte (oben: §§ 258, 563, 580). Was für den Vorsitz in den Gerichtsversammlungen ausdrücklich bezeugt ist, muß auch für die Gemeinde- und Landesversammlungen gegolten haben, die sich meistens zeitlich an jene anschlossen und der Erledigung außergerichtlicher Verwaltungs- und Gemeinschaftsgeschäfte dienten (oben: §§ 210, 227, 229, 234). Außer den Besuchen, die der König ihnen herumreisend abstatten konnte, stand ihm, wie neuerdings Andreas Kränzle dargelegt hat, ein weiteres Mittel zur Verfügung, um die gemeine Willensbildung in den Teilgemeinden des Reichsuntertanenverbandes zu lenken. Er konnte nämlich jederzeit durch Boten und Sendschreiben und durch Gesandtschaften mit ihnen in Verbindung treten. Der Meinung allerdings, Verfassung und Regierungsweise des Karolingerreiches ließen sich allein vom Königtum her deuten (A. Kränzle 1997 S. 120 f., nach K. F. Werner 1980), kann ich nicht beipflichten, da sie das Regierungsgeschäft allzu sehr auf das Verwalten des Riesenreiches und die Grafschaften auf Ämter weisungsgebundener und kontrollierbarer lokaler königlicher Sachwalter einengt, das Reich also einseitig als von oben her aufgebaut betrachtet. So bedeutet denn auch das Erlöschen der dazugehörigen „relativ ausgeprägten normativen und administrativen Schriftlichkeit“ und der missatischen reisenden Zwischengewalten keinen Umsturz der Verfassung, sondern lediglich ein stärkeres Hervortreten ihrer anatektonischen Züge, das ich auf den gemeinen politischen Willen der Völker und Großen des Ostfränkischen Reiches zurückführe, einen Willen zudem, dem das Versagen der Könige bei der Lösung wichtiger staatspolitischer Aufgaben notwendigerweise Vorschub verleihen mußte (oben: § 382). § 756b. Hiervon abgesehen, stellt Kränzle sehr richtig fest, daß dem Reiche im 10. Jahrhundert eine polyzentrische Herrschaftsstruktur eigentümlich war, die sich nicht (mehr) instrumentell allein vom Königtum her deuten läßt, und daß sich ein falsches Bild von der königlichen Regierung im Herumreisen ergibt, wenn man annimmt, der Reiseweg sei dem Herrscher maßgeblich von der sehr ungleichmäßigen Streulage des Reichsgutes vorgegeben worden, dessen Erträge er dort hätte verbrauchen müssen, wo sie gewachsen waren. Dann nämlich ergeben sich aus dem Reichtum oder Mangel der Regionen an Reichsgut Landschaften, in denen der König häufig, und andere, in denen er selten oder nie verweilen konnte, und der voreilige Schluß lautet: Jahrelange Abwesenheit des Königs von einem Lande
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habe das Aufhören der königlichen Herrschaft in ihm bedeutet, denn „Herrschaft hänge im wesentlichen von der Präsenz des Königs ab, und diese werde durch die ambulante Regierungsweise hergestellt“ (A. Kränzle 1997 S. 122 – 124, 128 f.). Es ist dies die Lehre der landesgeschichtlichen Schule, die das Fundament der königlichen Gewalt in dem mit ihren Quellen und Methoden gut faßbaren Grundbesitz des Reiches und der Reichskirchen entdeckte und damit die ältere Auffassung bestärkte, im Frühmittelalter hätten Staaten nur als herrschaftliche und gewaltsame, den Völkern oktroyierte Schöpfungen entstehen können, daher das Karolingerreich und seine Nachfolger eines Exekutivapparates bedurften, dessen Dienste die königlichen Fisken und die mit Reichsgut belehnten Vasallen dem behördenlosen Staate geleistet hätten (oben: §§ 335, 653b). Indessen nicht alles nach Quellenlage Erforschbare ist für die Verfassungsgeschichte gleich wissenswert. Man darf darüber nicht übersehen, daß die Schriftsteller dem Könige keine „Kontrollfunktion“ gegenüber den bereisten Ländern und deren Grafen, sondern eine „Integrationsfunktion“ zuschreiben (ebd. S. 124 – 126). Diese Funktion nun übte der in einem Lande anwesende König gleichzeitig in anderen Regionen in Abwesenheit aus, und zwar dadurch, daß er Sendeboten und Sendschreiben dorthin schickte, wie es Kaiser Otto I. im Jahre 968 von Italien aus in Sachsen tat (ebd. S. 140, 145, oben: §§ 432, 460), und daß die Großen auch aus königsfernen Regionen seinen Hof suchten, um sich mit ihm zu beraten und Urteile, Entscheidungen, Privilegien (unten: § 783) von ihm zu fordern. „Die bloße Anwesenheit bei Hof war dann bereits ein Zeichen für Konsens“ (ebd. S. 155). Um ein zutreffendes Bild zu erhalten, müssen wir daher das königliche Itinerar um die Reisen der Großen ergänzen. Nicht schon fehlendes Reichsgut, sondern erst das Fernbleiben der Großen vom Hofe unterband die wirkungsvolle Ausübung königlicher Herrschaft in einem Lande. Beachtet man die Kopräsenz der Großen mit dem Könige auf den Reichs- und Hofversammlungen, so „wird das Modell einer einseitig vom Königtum her gedeuteten Herrschaftsordnung vermieden und die Teilhabe der Fürsten am Reich mitberücksichtigt“ (ebd. S. 130 f.). Unter den Bedingungen des Reise-Königtums konnte die Regierung in Kopräsenz mit den Großen nur dann funktionieren, wenn der Hof den Reiseweg langfristig im voraus plante und wenn den Großen jederzeit bekannt war, wo der König zu einer bestimmten Zeit verweilen würde, d. h. wenn die Großen mit dem Hofe und untereinander ständig durch Boten und Briefe verbunden waren (ebd. S. 150 – 153). Die Fürstengenossenschaft brauchte also keine neue Verkehrsform zu erfinden, wenn der König starb und sie im Austausch ihrer Meinungen die Wahl des Nachfolgers in Gang setzen mußte (oben: § 735). Epistolarum et legatorum commoditas (Wipo, Gesta Ch. c. 2 S. 13 Z. 11) unterstützte zu jeder Zeit die gemeine öffentliche Willensbildung des Reichsuntertanenverbandes.
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§§ 757 – 763. Konsens der Großen beschränkt die Amtsgewalt § 757. Legt man der Reichsverfassung das System der identischen Willensbildung zugrunde, das die Macht und Vollmacht des Königs auf den Beistand der Untertanenverbände gründete, so läßt sich, wie ich hoffe, auch auf die „nie gelöste Frage, wie die Gewalt des deutschen Königs oder Kaisers in der Blütezeit des Reiches beschränkt war“ (J. Ficker / P. Puntschart 1921 S. XVI), eine befriedigende Antwort finden. Daß sie in dieser Richtung zu suchen sei, ahnte bereits Georg Waitz (1876 – 96 Bd. 6 S. 622), wenn er die Macht des Königs als „gebunden an die Mitwirkung der Großen“ bestimmte, und zwar „gebunden durch das Recht, das in dem Bewußtsein des Volks und den Erinnerungen der Vergangenheit lebte, gebunden auch durch den alten Freiheits- und Selbständigkeitstrieb des Deutschen Volks, der in den Vorstehern der einzelnen Landschaften und anderen mächtigen Großen sich zum Streben nach Unabhängigkeit und Eigenmacht steigerte und der diese aus Beamten und Stellvertretern des Königs zu Inhabern staatlicher Rechte machte, die, wie sie in ihrer Vereinigung an den Rechten und Functionen des Staates überhaupt Anteil nahmen, dieselben auch in diesen Gebieten möglichst in eigenem Interesse zu üben suchten,“ denn darin ist bereits die Einsicht enthalten, daß es der politische Wille der Teilreichsvölker und Partikularverbände war, worauf sich die Macht der Großen und Fürsten und ihr Recht auf Mitregierung im Reiche stützten. Wir wissen nicht, inwieweit der ostfränkisch-deutsche König, gleich seinen karolingischen Vorgängern (oben: § 610), von den Beratungen der Reichs- und Hofversammlungen ausgeschlossen blieb. Erweislich ist dies nur für die Beratungen des Hofgerichts, wo der König lediglich das Recht hatte, die Verhandlung zu leiten, das Urteil zu erfragen und den Konsens der Berater dazu einzuholen: Zwar werde ihm mitunter eine Bestätigung des gesprochenen Urteils oder Zustimmung dazu beigelegt; „daß damit aber ein wirkliches Recht, ein Recht namentlich auch zur Verweigerung der Zustimmung, zur Verwerfung des Urteils, zur Forderung eines anderen durch andere Urteiler, gelegen, läßt sich nicht sagen.“ Dennoch war sein Einfluß auf die Urteile groß, und da er sie in dem weiten Spielraum, den die Verfassung seinem Ermessen und seiner Gnade einräumte, auszuführen hatte, trat stets in den Augen des Volkes seine Sanktion des Urteils als vermeintlich letzte Entscheidung hervor. Oft wird ihm diese von den Annalisten unmittelbar beigelegt (ebd. Bd. 8 S. 35 f.). Erschwert wurde die Lösung des Konsensproblems dadurch, daß man dem Paarwort consilio et auxilio, das die Beistandspflicht der Untertanen mit ihrem Beratungsrecht zu einer einheitlichen Aussage über die Vollmacht des Königs verschmilzt, die volksrechtliche Herkunft aberkannte (oben: § 673) und damit seinen Sinn auf die Institution des Rates konzentrierte. Was diese betrifft, so erkannte bereits Julius Ficker, daß in die Erklärung die Synonyme consilium, sententia, iudicium einbezogen werden müßten: Auf den Unterschied der Ausdrücke sei kaum viel Gewicht zu legen und daher das gelehrte Bedenken zurückzuweisen, daß an sich
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consilium und consensus juristisch verschieden seien, denn wer bloß raten dürfe, der habe noch kein Recht zu fordern, daß seinem Rate Rechnung getragen werde, und ohne wessen Zustimmung nicht gehandelt werden dürfe, der müsse noch nicht berechtigt sein zu raten. Aber im Sprachgebrauch der Quellen drücke auch consilium den Konsens aus, denn werde ein Rat befolgt, so enthalte er auch die Zustimmung der Ratgeber zum Willen des Handelnden. „In der Entscheidung der regierenden Persönlichkeit lag dann eben rechtlich auch der Wille anderer, die zuvor vielleicht nur geraten hatten, aber befugt waren zu verlangen, daß ihr Jawort eingeholt werde“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 69 A. 3). Damit stellte Ficker fest, daß der König nicht nach Willkür zu entscheiden, sondern den gemeinen Willen des Reiches auszusprechen hatte. Die synonymische Verwendbarkeit der genannten Wörter hatte ihren Grund ja darin, daß jeder Ratschlag, jedes Weistum, jedes Urteil, das die Großen oder Fürsten auf Verlangen des Königs fanden, auch einen Konsens enthielt, entstanden sie doch dadurch, daß die Finder die Willen und Meinungen der Partikularverbände, deren Wort sie hielten, zu einem einträchtigen, einhelligen Gemeinwillen übereinstrugen, den sie hernach dem Könige vorlegten. Da die Könige entweder von dem Rate der Großen ausgeschlossen waren oder darin nur eine beratende Stimme hatten, war der Konsens zuerst ein Konsens der Großen unter sich, dem der König als ihr Mitgenosse, wenn auch als erster unter gleichen, folgen mußte (oben: §§ 607, 610, 633, 635, 636, 638), und erst in zweiter Linie, oder gar überhaupt nur in der Sichtweise Außenstehender, Zustimmung der Großen zu einem autoritären Willen des Königs. Weil Ficker dies noch nicht bedenken konnte, verfehlte er den Kern des Problems, indem er es auf die Frage zuspitzte, ob sich die Fälle genauer bestimmen ließen, in denen der König des Konsenses der Fürsten bedurfte, und notwendigerweise zu dem Ergebnis gelangte, daß diese Frage zu verneinen sei, da es sich dabei nicht um eine Rechts-, sondern um eine Machtfrage handelte. Es habe im Ermessen des Königs gestanden, ob er zu einer Verfügung den Konsens der Fürsten einholen wollte. „Leitender Gesichtspunkt für die Entscheidung mußte dabei die Erwägung sein, ob die Verfügung ohne Zustimmung der Fürsten durchführbar sein werde und ob man bei sich erhebendem Widerspruch nicht Gefahr laufe, die Verfügung nach einem entgegengesetzten, auf einem Hoftage gefundenen Urteile widerrufen zu müssen. Denn unzweifelhaft hatte jeder, welcher sich durch eine königliche Verfügung in seinen Rechten verletzt glaubte, das Recht, darüber ein Urteil vor dem Reiche zu fordern“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 77 f., 1921 S. XVI). § 758. Auf große Schwierigkeiten stieß Fritz Kern bei dem Versuch, die Institution des Konsenses in dem Spannungsfelde zwischen Gottesgnadentum und Widerstandsrecht (oben: § 704) unterzubringen. Zwar stellt auch er fest, daß consensus und consilium Synonyme bildeten und daß man, wenn schon nicht dem Geiste, so doch der Ausdrucksweise der Quellen Zwang antäte, wollte man zwischen beratender und entscheidender Stimme der Getreuen einen Unterschied machen (F. Kern
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1914 S. 317 f., 336); zwar würdigt auch er ausführlich, daß mittelalterliche Herrscher es bei wichtigen Verfügungen kaum jemals unterließen auszusprechen, daß ihr Befehl Rat und Zustimmung gefunden habe, weil ihr Gebot nur dann Recht schaffen konnte, wenn es mit der frei geäußerten Rechtsüberzeugung des Volkes übereinstimmte; zwar räumt auch er ein, daß es Pflicht des Herrschers war, diese Identität herzustellen (ebd. S. 150 – 152), was alles in allem bedeutet, daß „die Konsensgebundenheit des Herrschers nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich anerkannt“ war – aber den Konsequenzen dieser Tatsache entzieht er sich mit Hilfe des Einwandes, es hätten „für die Art, wie dieser consensus fidelium einzuholen“ war, „nur lose Regeln bestanden“. Selbst da nämlich, meinte er, wo sich „eine Vertretung der Gesamtheit durch die meliores et maiores“ ausbildete, habe „keiner bestimmten Person ein festes subjektives und persönliches Recht zu(gestanden), unter allen Umständen zu den Konsentierenden zu gehören, so daß also niemals die Stimme irgendeines einzelnen Untertanen oder eines abgegrenzten Kollegiums oder einer bestimmten Mehrheit zum rechtmäßigen Zustandekommen eines Gesetzes, eines Reichsurteils oder eines politischen Entschlusses erforderlich war. Der Herrscher wurde nicht an den förmlichen Konsens irgendeiner Versammlung gebunden. Er konnte sich auch auf anderen Wegen des Einklangs seines Handelns mit dem Volksrecht versichern, selbst ohne Befragung irgendeines Ratgebers, wenn nur über die Rechtmäßigkeit seines Tuns kein begründeter Zweifel bestand“ (ebd. S. 151, 323). So habe der fränkische König Rechtssätze, die der Urteilsfindung zugrundegelegt werden sollten, ohne Zustimmung des Volkes dekretiert, wenn er kein Widerstreben dagegen erwartete, andernfalls aber selbst kraft seiner Banngewalt bereits durchgeführte Neuerungen nachträglich im Wege volksrechtlicher (konsentierender) Satzung unter den Schutz des Volksrechts gestellt (ebd. S. 328). Aber selbst wenn er entweder verbindliche Urteile oder bloß empfehlende Meinungen einholte, „die Entscheidung hatte in beiden Fällen doch der König allein. Wäre es anders, so würde der König nicht mehr König, sein Gericht irgendwie ein Volksgericht, aber kein Königsgericht mehr sein“ (S. 336). Angesichts der Formlosigkeit des Konsensverfahrens sei der frühmittelalterliche Staat nichts anderes gewesen als „sittlich gebundener und durch das Widerstandsrecht begrenzter Absolutismus, in der ersten Hinsicht dem aufgeklärten Absolutismus verwandt“ (S. 337), und „die gewohnheitsrechtliche Konsensgebundenheit wenigstens für einen selbständig gerichteten Herrscher“ nichts anderes als „die bloße Attrappe einer Verfassungsgarantie“ (S. 338). Man kann nicht sagen, daß dieses Urteil den Eigenschaften mittelalterlicher mündlicher Rechtskultur gerecht wird. Verläßt man den Standpunkt moderner Rechtstechniken und repräsentativer Verfassungen, von dem aus Kern den Vorwurf der Formlosigkeit gegen das Konsensrecht erhebt, so zeigt sich, daß das vermeintlich formlose Bündel von losen Regeln nichts anderes ist als das System identischer Willensbildung (oben: §§ 6, 14, 28, 29, 389, 390), dessen Regeln man sich freilich noch nicht ins Bewußtsein erhoben hatte und nicht zu erheben brauchte, weil sich über sie niemals irgendein Zweifel oder gar Streit im Volke oder zwi-
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schen den Großen geregt hatte. Max Weber (1921 / 72 S. 190 – 194, 441 – 456) verstand es zwar, den Makel der Formlosigkeit insoweit zu tilgen, wie dies der scheinbar positive Begriff des „traditionalen Einverständnishandelns“ vermag, aber inhaltlich ist die Verfassungslehre bis heute bei der rein negativen Bestimmung der alteuropäischen Verfassungen als präparlamentarisch stehengeblieben, der zufolge sich solches Handeln lediglich an gleichgerichteten Erwartungen der Beteiligten, nicht jedoch bereits an Rechtsnormen orientierte, geschweige denn von irgendeiner Seite nach solchen Normen erzwungen werden konnte. § 759. Deutlich formuliert neuerdings Ekkehard Kaufmann (in HRG 2 Sp. 1090 – 1099) das Problem, mit dem wir es zu tun haben, indem er einerseits versucht, die Institution des Konsenses mit modernen staatsrechtlichen Begriffen zu erfassen, andererseits aber zeigt, daß sich die Quellenzeugnisse der Anwendung dieser Begriffe widersetzen. Er versteht unter Konsens die „Bindung des ,Gesetzgebers‘ an die Zustimmung der Betroffenen“. Daraus ergibt sich ein Zusammenhang der Formen des Konsenses mit denen der Gesetzgebung und seiner Funktion mit der Rechtskraft oder Geltung der Gesetze: Der Konsens habe einerseits den Gesetzgeber rechtlich an den Willen der Betroffenen, andererseits diese letzteren, allerdings mehr tatsächlich als von Rechts wegen (Sp. 1098), an das Gesetz gebunden. Dem stellt Kaufmann allerdings entgegen, daß sich weder der Gesetzgeber noch die Gesetzesformen noch die Betroffenen empirisch bestimmen lassen. Die drei postulierten „reinen Formen“ des Gesetzes, als Weistum, Satzung oder Einung und Rechtsgebot, seien in den Quellen wegen deren ungenauer Ausdrucksweise nicht wirklich nachweisbar; vom Gesetz könne also nicht im modernen technischen Sinne des Wortes, sondern nur als Sammelbegriff für alle allgemein verbindlichen Rechtsnormen die Rede sein (Sp. 1091). Formstrenge sei dem Mittelalter in der ganzen Frage fremd gewesen, es begegneten uns vielmehr die verschiedensten Mischformen aus Weistum, Einung und Rechtsgebot (Sp. 1094). Von den Quellen sieht sich Kaufmann vielmehr auf die einungsrechtliche Grundlage der Institution hingewiesen: Bei der Einung nämlich komme der Konsens als konstitutives Merkmal am schärfsten zur Geltung; andere Gesetze entstanden dadurch, daß „die staatliche Gewalt“ mit den Betroffenen verhandelte und nach gelungener Einigung deren Selbstbindung an das Gesetz durch Eid zu erreichen suchte; das wichtigste Beispiel hierfür böten die Landfriedensgesetzte des hohen und späten Mittelalters, die formal gesehen freilich auf der Banngewalt des Königs beruhten, also gebotenes Recht darstellten (Sp. 1094). Als Gesetzgeber sieht Kaufmann offenbar eine nicht näher erkennbare „staatliche Gewalt“ an, die sich entweder mit den Betroffenen über das Gesetz einigte oder sie gerichtsförmlich um ihr Urteil befragte, um dann beides, sowohl die Einigung als auch das Weistum, durch ihr Banngebot zu bekräftigen. Er zitiert hierzu die karolingische Definition: lex consensu populi fit et constitutione regis (Sp. 1095, unten: § 760). Aber wie steht es dann um die Einung oder Satzung,
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deren Geltung auf eidlicher Selbstbindung der Betroffenen beruhte? „Einhellige Zustimmung einer zuständigen Personengruppe setzt auch eine Einigung innerhalb dieser Gruppe voraus, und die Zustimmung kann auch als die dem Einungsrecht so wesentliche Selbstbindung aufgefaßt werden“ (Sp. 1091). Bedeutet das nicht, daß die Betroffenen zugleich Gesetzgeber waren? Indessen bestimmen lassen sie sich ebenso wenig wie dieser: Bis zum Ende des Mittelalters nämlich sei es offengeblieben, wer zu den Leuten zählte, auf deren Rat und Selbstverpflichtung es ankam, und wem die Zustimmung mit Gewalt abgezwungen werden konnte, dem Volke nämlich, auf dessen Konsens man zwar noch lange, jedoch nur „der Idee nach“ oder „des Prinzips wegen“ abstellte (Sp. 1097, 1099). Für die Herkunft dieser Idee scheint es keine Erklärung zu geben. Besonders verwirrend ist das karolingische Zeugnis dafür, daß der Gesetzgeber zu dem mit Zustimmung der Großen erlassenen Gesetz noch ferner auf lokalen Dingversammlungen den Konsens des Volkes einholen ließ (unten: § 760), denn die Frage, ob dieser Konsens die Geltung des Gesetzes erst konstituierte oder erzwungene Folge der bereits eingetretenen Gesetzeskraft war, sei keine Rechts-, sondern eine Machtfrage gewesen, deren Lösung für jeden Dingbezirk gesondert zu prüfen sei. Vielleicht verhielt es sich aber auch anders, da es schwierig sei, die Konsensberechtigten von den Folgepflichtigen abzugrenzen (Sp. 1098 f.). In der Zusammenfassung muß Kaufmann es folglich offenlassen, wer der Gesetzgeber und wer die Betroffenen waren, und sich auf die Feststellung beschränken: „Der Konsens war das Instrument des mittelalterlichen Rechts, mit dem die Herrschaft sowohl rechtlich als auch politisch kontrolliert und gebunden wurde. Die Intensität dieser Bindung stand im Verhältnis zu Rang und Einfluß der Zustimmungsberechtigten“ (Sp. 1099). Hieraus ist der Schluß zu ziehen, daß die Gesichtspunkte, unter denen Kaufmann das Konsensrecht betrachtet, nicht dazu geeignet sind, den Sinn zu erfassen, der ihm nach dem Zeugnis der Quellen zukommt. Die Verfassungsgeschichte des Mittelalters kennt keine von staatlicher Gesetzgebung Betroffenen, sondern nur freie Männer, die im Besitz des Einungsrechts waren und davon Gebrauch zu machen wußten und daher aktiv an der Gesetzgebung teilnahmen, wenn man denn die gerichtliche Normfindung im Einzelfall so nennen will. Sie gehorchten den Gesetzen ihrer Volksrechte ebenso freiwillig wie der von ihnen selbst konstituierten Staatsgewalt, wenn man denn die königliche Regierung so nennen will. Als passive Untertanen von staatlicher Herrschaft und Gesetzgebung betroffen finden wir sie erst nach dem Ende des Mittelalters und nur so weit vor, wie sie sich die Selbstdarstellung der Fürsten als von Gottes Gnaden mit absoluter und erblicher Zuchtgewalt ausgestatteter Institutionen zu eigen machten. Nur dann, wenn wir die von den Quellen oft genug bezeugte Rechtsidee zugrundelegen, daß das Volk mit der Versammlung seiner Großen identisch sein sollte, solange beider Wille unwidersprochen übereinstimmte, und wenn wir ferner Könige und Fürsten als Amtleute des Volkes betrachten, die in dessen Auftrage das von ihm gefundene Gesetz zu gebieten und zu vollstrecken hatten: nur dann läßt sich das Konsensrecht folgerich-
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tig in die Verfassung des von unten her aufgebauten mittelalterlichen Staates einordnen. § 759a. Erschreckt von den scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten, mit denen Rechts- und Rechtssprachgeschichte zu kämpfen haben, hat neuerdings Jürgen Hannig nach einem anderen Wege gesucht, um das Wesen des karolingischen Konsensrechts zu ergründen. In welche Richtung dieser Weg führen wird, erfährt der Leser bereits aus dem Vorwort: Es geht dem Verfasser nicht mehr um die begrifflichen Probleme, die sich aus der Zweisprachigkeit des Rechtslebens, d. h. aus volkssprachlicher Mündlichkeit und lat. Schriftlichkeit, ergeben, sondern um die begriffliche Unschärfe der „fränkischen adlig-kirchlichen lat. Herrschaftssprache“ (J. Hannig 1986 S. 2). Denn wegen „der variablen Begrifflichkeit der Quellen“ seien alle Erkenntnisse der rechtsgeschichtlichen Forschung umstritten und eine juristische Rechtsgeschichte unmöglich (S. 168). Begreife man dagegen die Sprache der Kapitularien als Herrschaftssprache, so enthüllten sich die „Probleme speziell rechtlicher Natur, wie Gültigkeit, gesetzgebende Instanzen, rechtliche Zuständigkeit und juristische Nomenklatur“, als Probleme „von zweitrangiger Bedeutung, wenn sie sich nicht schon von selbst als unzulässige Fragen, auf die die Quellen gar nicht antworten können, disqualifizieren“ (S. 164). An die Stelle der Rechtsgeschichte muß daher eine Gewaltgeschichte treten, die zwar nicht ohne Rechtsbegriffe auskommt, aber um deren Definition sich nicht zu bemühen braucht. Denn „die Frage nach der Bedeutung des Konsenses hängt zentral von der Einschätzung der Machtstrukturen des karolingischen Imperiums ab, die sich nicht zuletzt in seinen Rechtsinstitutionen widerspiegeln“ (S. 5). Unter Strukturen versteht man seit Wilhelm Dilthey Beziehungsganzheiten, die sich einer kausalen Analyse entziehen, weil sie auf der „Erlebtheit seelischer Zusammenhänge“ oder sonstiger Lebenswirklichkeiten beruhen (H. G. Gadamer 1990 S. 227). Macht auszuüben aber war nach Ansicht der landesgeschichtlichen Schule, auf die sich Hannig bezieht (S. 32), Sache des Adels – nicht freilich Recht des Adels, denn wie wir wissen, hat noch niemand die Frage beantworten können, auf welchem verfassungsmäßigen Grunde eine eigenständige, vom Willen des Volkes unabhängige Adelsherrschaft beruht haben könne (oben: §§ 332, 333, 406, 566a). Zu Recht ist nach Hannig auch die alte Vorstellung eines Reichsuntertanenverbandes zugunsten einer dem Königtum ursprünglich gleichwertigen Adelsherrschaft aufgegeben worden (S. 26, 201 f.). Damit allerdings entfällt auch ein Rechtsbegriff, den die Staatsauffassung des Mittelalters überall voraussetzt und der daher für die Verfassungslehre unentbehrlich ist (oben: Neunzehntes Kapitel). Als Rechtsgrund für die Mitwirkung des Adels an der Gesetzgebung und damit für das adlige Konsens- und Beratungsrecht kann Hannig nur noch das von Fritz Kern konstruierte Widerstandsrecht (oben: §§ 704 – 708) heranziehen. Auf dieses Rücksicht nehmend, habe schon der erste fränkische König dem Adel ein Mitspracherecht an der Gesetzgebung einräumen müssen (S. 28 f.). Der ursprünglich dem Königtum gleichgestellte und daher auf eigene Faust handelnde Adel habe sein
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Widerstandsrecht zunächst nur zur Beschränkung der Königsmacht eingesetzt; erst die starke Herrscherpersönlichkeit Karls des Großen habe erreicht, daß sich der bloße Widerstand in eine positive Mitarbeit am Reiche durch Rat, Hilfe und Konsens transformierte (S. 27, 200 f., 225 – 228). Hatte der Adel in den sonst offenbar rechtlosen Machtkämpfen wenigstens noch ein Widerstandsrecht für sich, so vermag Hannig für den Willen des Königs, das Reich zu regieren, überhaupt keine autochthone, volksrechtliche Begründung auszumachen: Germanischem Rechtsempfinden sei eine Befugnis zur Rechtsetzung kraft königlicher Gewalt so vollkommen fremd gewesen, daß sie nur aus dem Willen Gottes und der Stellung des Königs als vicarius dei habe abgeleitet werden können (S. 27). Es kommt dem Verfasser freilich nicht in den Sinn, nach den Inhalten dieses Rechtsempfindens und ihrem Verhältnis zu der theokratischen Interpretation des Königtums zu fragen, die er nun in den Mittelpunkt seiner Herrschaftsund Machtgeschichte treten läßt. Denn „daß der Herrschende für seine politischen Handlungen Übereinstimmung mit dem Willen der Beherrschten postuliert und propagiert, ist Strukturelement jeder politischen Herrschaft und wird auch auf jener Stufe frühmittelalterlicher Staatlichkeit praktiziert“ (S. 299). Als im wesentlichen „programmatische Selbstverwirklichungen des christlichen Herrschers“ seien die karolingischen Kapitularien „aus dem ,juristisch‘-rechtlichen in einen programmatisch-ideologischen Argumentationszusammenhang“ zu verweisen (S. 164). Dies setzt allerdings die, wie ich meine, irrige Überzeugung voraus, das Karolingerreich sei ein im Wege der Usurpation von oben her errichteter Feudalstaat gewesen: „In ihrer Eigenschaft als ,Programmschriften des karolingischen Königtums‘ sind die Kapitularien zugleich auch politisch-ideologische Kampfmittel der ,Reichszentrale‘ gegen die genuinen Herrschaftsrechte des Adels, mit dem der Versuch unternommen wird, die ,mit Hilfe des Lehnswesens eingestaatete Adelsherrschaft zu transzendieren‘ und den populus unterhalb der Adelsschicht auf das Königtum zu fixieren und zu binden“ (S. 164, Zitate nach Friedrich Prinz). Vom Gegenstand der Verfassungsgeschichte bleibt danach weiter nichts übrig als ein „ideologisches Problem des Feudalisierungsprozesses“ (S. 200), das allerdings die Ideologen nicht zu lösen vermochten, ohne Ersatz für den verschwundenen Reichsuntertanenverband zu beschaffen: Die Karolinger, so hören wir, waren bestrebt, den Adel durch das Mittel der Vasallität und des Lehnswesens ,einzustaaten‘ und durch und über die aristokratischen Zwischenschichten den „populus universus im Sinne römisch-christlich verstandener Reichsuntertanenschaft“ an sich zu binden; „Voraussetzung für die Idee einer allgemeinen Reichsuntertanenschaft“ war der „christlich-egalitäre Gedanke“ (S. 227 f. mit 228 A. 1). § 759b. Nicht aus dem fränkischen Volksrecht, sondern aus der christlichen politischen Theologie soll nach Hannig nun auch der karolingische Konsensgedanke entsprungen sein. Dieser habe die Regierung „an das Einverständnis des weltlichen und geistlichen Adels oder an den Willen eines fiktiven, im Sinne der christlichen Reichsuntertanenschaft verstandenen populus“ gebunden, um „den Usurpations-
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charakter der karolingischen Herrschaft zu verschleiern“ (S. 300). Aber erst aus der Eigenmächtigkeit der adligen Herrschaftskonkurrenten ergab sich „die spezifische politische Bedeutung des Konsensbegriffs. Consensus fidelium ist der propagandistisch eingesetzte und in den Kapitularien des 9. Jahrhunderts programmatisch ausgeweitete Gedanke von politisch legitimiertem Mitspracherecht des Adels, gleichzeitig bedeutet er die Aufforderung zur Mitarbeit am zentralen karolingischen Königsstaat.“ Der damit verknüpfte Gedanke des unanimis consensus der Bischofskonzile erlaubte es, das vom Adel monopolisierte Zustimmungsrecht „zu relativieren und im Sinne des consensus omnium als Kriterium der Wahrheit, Richtigkeit und Gottgefälligkeit einer Entscheidung potentiell auf ,alle‘ auszuweiten. So war der ,Adelskonsens‘ relativiert und vom Herrscher manipulierbar.“ Auf die „Vorstellung einer das Volk repräsentierenden Adelsschicht“ lasse sich die Mitwirkung der fideles nicht zurückführen. Vielmehr diente ihr consensus einerseits der karolingischen Zentralgewalt als Instrument ihrer politischen Propaganda, andererseits aber dem Adel als Instrument, um seine Ansprüche auf Mitherrschaft durchzusetzen und schließlich „in der letzten Phase der Bruderkämpfe der Ludwigssöhne die königliche Autorität im feudalrechtlichen Sinne von sich abhängig zu machen“ (S. 300 f.). Nirgendwo kommt der Gegensatz zwischen Hannigs von der herrschenden Lehre gestützter Auffassung und der meinen, der Gegensatz also zwischen Gewaltgeschichte und Rechtsgeschichte, klarer zum Vorschein als da, wo es um die Aussagen der Quellen über das Volk geht. Nach Hannig bezieht sich nur der Begriff Adel auf eine geschichtliche Realität, und für deren Erkenntnis kommt nichts darauf an, daß der Begriff den Quellen fremd ist und vielleicht gar nicht richtig wiedergibt, was diese unter den Großen verstehen. Die Rede der Quellen vom Volke aber zeugt von gar keiner politischen Wirklichkeit, sondern bloß von einer theokratischen Fiktion und von der Arbeit der Hoftheologen, denen die Karolinger ihre Erfindung zu verdanken hatten. Es ist mir unmöglich, in dieser Auffassung eine korrekte Auslegung der mittelalterlichen Rechtssprache zu erkennen. Der Methode von Philipp Heck (oben: §§ 52 – 54) steht Hannig denn auch voller Mißtrauen gegenüber (S. 290 – 293), allerdings, wie mir scheint, auf Grund eines Mißverständnisses, denn es geht Heck nicht schlechthin um das Verhältnis der lat. Sprache zur ahd., das in der Tat nicht nur die Beeinflussung des lat. Wortsinns durch den volklichen Sprachgebrauch, sondern auch das Gegenteil, nämlich die Abhängigkeit deutscher Worte vom spätantiken Latein, zuließ, und Jannig hat insofern recht, als sich allerdings die „adlig-kirchliche lat. Herrschaftssprache“ überall die volkssprachlichen Wörter erst schaffen mußte, deren die „Ideologen“ bedurften, um dem Volke mit der christlichen Lehre auch ihre politische Theologie begreiflich zu machen. Diese Erstübersetzung lat. Wörter ins Ahd. und die von ihr bewirkte Erweiterung des Wortsinnes zahlreicher ahd. Ausdrücke war schon zu Hecks Zeiten gut erforscht. Aber nicht mit ihr hatte Heck und hat es die Rechtsgeschichte zu tun, sondern mit der Rechtssprache des Volkes, deren Sinn den Rechtsgenossen seit jeher vertraut war, der aber, wenn ihre Gesetze schriftlich
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fixiert werden sollten, in lat. Sprache wiedergegeben und, wenn der lat. Text eines Gesetzes anzuwenden war, durch Rückübersetzung ins Ahd. wiedergefunden werden mußte, also gerade nicht neu erfunden werden durfte, wie es bei der „Herrschaftssprache“ unvermeidlich war. Weil Hannig dieses Problem verkennt, verfehlt er die richtige Deutung der Wortgeschichte des lat. Verbums consentire und seiner ahd. Äquivalente (S. 290 – 293). Zutreffend stellt er fest, daß anfangs allein das ahd. Verbum gihengen nebst zugehörigem Substantiv gihengida, = erlauben und Erlaubnis, als Entsprechungen zu lat. consentire und consensus gebräuchlich waren. Erst am Ende der ahd. Periode fächerte Notker der Deutsche den Wortsinn weiter auf, indem er auch die Verben folgen und gihellen und die Hauptwörter einigtido, folchete, rat, uuillo beizog, zu denen später das Mhd. noch volbort, gehorchung, gunst hinzufügte. Da nun ahd. gihengen auch als Äquivalent zu lat. concedere und licere dient, jedoch die in lat. consentire mitenthaltene Bedeutung von Übereinstimmen und Raten nicht abzudecken scheint, muß unsere Frage lauten: In welchem Sinne konnte das Übereinstimmen aller oder Zustimmen einzelner als Erteilen einer Erlaubnis verstanden werden? Die Antwort hierauf wird davon abhängen, wen man sich als Subjekt des Übereinstimmens oder Erlaubens denkt. Hannig erklärt dazu, als Rechtsbegriff könne ahd. gihengen höchstens „jenen mit consentire, consensus, licentia, z. T. auch mit consilium wiedergegebenen Begriff der ,Einwilligung‘ und der ,Erlaubnis‘ (des Herrn)“ meinen, wie er in Volksrechten und Kapitularien häufig in der Redewendung cum consensu domini begegnet. Die petitio principii ist offensichtlich: Weil das Volk lediglich als Fiktion der Hoftheologen existierte und daher als Erlaubnisgeber nicht in Betracht kommt, kann es nur der König sein, der etwas zu erlauben hat. Für das Zustimmungsrecht, das der Adel ausübte und nach Hannig sogar für sich monopolisierte, hätte sich demnach der ahd. Sprachgebrauch gar keine Bezeichnung geschaffen! § 760. Um die richtige Lösung des Problems zu finden, ist auszugehen von der uns bereits bekannten doppelten Bedeutung des Verbums consentire (oben: §§ 30 Ziffer 2, 635) einerseits als einhellig sein, das gleiche wollen, wozu eine Personenvielheit als Subjekt zu denken ist, und andererseits als vollborden oder mitstimmen, nämlich des einzelnen zu oder mit dem, was andere wollen. In diesem letzteren Sinne findet sich das Wort im Untertaneneid von 802: repromitto ego . . . sic attendam et consentiam, so will ich achtgeben und einwilligen (MGH. Capit. 1, 99 n. 34 Anhang, S. 101 Z. 37, oben: §§ 666, 667). Auch konnte das Volk verlangen, daß der Herrscher dem zustimmte, was es einhellig beschlossen hatte: Sicut petierunt, ita dominus imperator consensit (ebd. 1, 117 n. 41 zu c. 5, S. 118 Z. 27 – 28). In der Zustimmung jedes einzelnen, und sei es des Königs, war die Erlaubnis enthalten, deren die Reichsversammlung bedurfte, um ihren einhellig übereinsgetragenen Willen mit dem Willen des Reichsuntertanenverbandes zu identifizieren und daher von jedermann Folge oder Gehorsam einzufordern. Die aus dem deutschen Sprachgebrauch abzulesende Wortgeschichte erklärt sich daraus, daß sich die Glossatoren
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als Subjekt des Erlaubens, Ratens und Gehorchens stets den einzelnen Rechtsgenossen einer Gemeinde vorstellten. Was das andere, das allgemeine Übereinstimmen, anlangt, so sagt die von Karl dem Großen gebotene Capitulatio de partibus Saxonie: Constitute sunt primum de maioribus capitulis. Hoc placuit omnibus . . . De minoribus capitulis consenserunt omnes . . . (ebd. 1, 68 n. 26 c. 1 und 15). Auch das Capitulare Saxonicum entstand, indem die in Aachen Versammelten omnes unianimiter consenserunt (ebd. 1, 71 n. 27 pr., oben: § 457). Als Synonyme zu dem Prädikat consenserunt omnes verwenden die einzelnen Kapitel die Ausdrücke placuit omnibus (c. 3, 10), statuerunt (c. 4, 6, 7) und convenit (c. 8. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 604 A. 1). Sie alle beziehen sich wohlgemerkt allein auf die Rechtsform. Das Capitulare brauchte nicht zu erwähnen, daß der König die Willensbildung leitete, daß er die Versammlung einberufen und ihr die Tagesordnung vorgelegt hatte (oben: §§ 609, 634). Dasselbe gilt von den Kapiteln, die Karls gleichnamiger Enkel auf einer Reichsversammlung zu Pîtres am 25. Juni 864 gemeinsam mit seinen Getreuen im Westfränkischen Reiche in Kraft setzte, capitula nunc in isto placito nostro . . . una cum fidelium nostrorum consensu atque consilio constituimus et cunctis sine ulla refragatione per regnum nostrum observanda mandamus (ebd. 2, 310 n. 273 pr., S. 312 Z. 3 – 7): Der König konnte sein Rechtsgebot erlassen, weil sich seine Getreuen und Berater über den Ratschlag (oben: § 193 Ziffer 4) oder Tenor der Gesetze geeinigt hatten. Eines derselben befaßte sich mit einer neuerdings erfundenen, spitzfindigen Auslegung der Norm des Salischen Rechtes über die rechtsgültige Ladung eines Franken vor das öffentliche Gericht (ebd. c. 6. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 605. E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1095): Auf Grund des einhelligen Ratschlags seiner Getreuen erließ der König sein Gebot, consensu et consilio fidelium statuimus, darüber, in welcher Form der Graf die Vorladung auszuführen hatte, um dem Beklagten jene spitzfindige Einrede gegen deren Verbindlichkeit zu verlegen. Dann aber heißt es: Weil ein Gesetz durch einhelligen Willen des Volkes und durch Rechtsgebot des Königs zustandekommt, sollen die Franken schwören, sich gemäß diesem königlichen Gebot jeder einzeln als gesetzmäßig vor Gericht geladen und zum Ladungsgehorsam verpflichtet zu erachten, quoniam lex consensu populi et constitutione regis fit, Franci iurare debent, quia secundum regium mandatum nostrum ad iustitiam reddendam vel faciendam legibus bannitus vel mannitus fuit. Durchführen ließ sich die Vereidigung der Franken gewiß nicht bei Hofe, sondern nur in den gräflichen Dingversammlungen, und durchführbar kann sie nur dann gewesen sein, wenn die Dinggenossenschaften durch ihre zur Reichsversammlung geladenen vollmächtigen Worthalter an den Beratungen über das Capitulare und an dem Reichsbeschluß beteiligt gewesen waren. So hatte schon Kaiser Karl im Jahre 803 seinen Missi geboten, das Volk wegen bestimmter ins Volksrecht aufzunehmender Reichsbeschlüsse zu befragen, ut populus interrogetur, und nachdem alle einhellig zugestimmt hatten, postquam omnes consenserint, das Kapitulare von ihnen mit Handzeichen unterschreiben zu lassen (Capit. 1, 114 n. 40 c. 19).
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Von der Ausführung des Gebotes in der Grafschaft Paris ist sogar das Protokoll erhalten: . . . Capitula . . . consignata Stephano comiti, ut haec manifesta fecisset in civitate Parisius mallo pubplico et ipsa legere fecisset coram illis scabinis, quod et ita fecit. Et omnes in uno consenserunt, quod ipsi voluissent omni tempore observare usque in posterum; etiam omnes scabinei, episcopi, abbatis, comitis manu propria subter firmaverunt (ebd. 1, 111 n. 39, hier: S. 112 Z. 16 – 20. E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1098). Es liegt da keine konkurrierende Gesetzgebung des Reiches und der Grafschaft vor, die eine Machtfrage aufgeworfen hätte; vielmehr haben wir es mit der sich Zug um Zug nach den Regeln identischer Willensbildung vollziehenden Verwirklichung des Gemeinwillens zu tun. Denn auch die Reichsversammlung war das Volk, auch sie war, wenn ordnungsgemäß und mit Tagesordnung geladen, mit dem Volke der Grafschaften identisch. Ein Gesetz entstand so, daß zuerst der König die Vorberatung verlangte, indem er das Volk zur Reichsversammlung aufbot, daß dann diese einhellig beschloß und dem König erlaubte, ihren Beschluß zu sanktionieren, und daß zuletzt das Volk in den Partikularverbänden seinen Willen erklärte, dem Beschluß zu folgen. Nur bei Abhängigkeit des Königs vom Volke ist es verständlich, daß die Quellen beständig vom consensus populi sprechen und die Übersetzer trotzdem lat. consensus mit ahd. gihengida = Erlaubnis wiedergeben konnten. § 761. Wie immer, wenn die Reichsregierung Interpretationen und Ergänzungen des Volksrechts beschloß, so kam es auch bei dem westfränkischen Reichsbeschluß von 864 über das Ladungsrecht darauf an, daß ihn sich die Schöffen der Grafengerichte zu eigen machten, indem sie ihn auswendig lernten (oben: §§ 26, 27, 309, 318, 491), und so sollten denn auch die Beklagten, die der Richter gemäß der neuen Interpretation des Salischen Gesetzes vor Gericht lud, bei Ungehorsam durch Urteil der Schöffen gebannt werden (MGH. Capit. 2, 310 n. 273 c. 6, S. 314 Z. 1 – 2; die Korruptel ipsae res illi dürfte in rei illi zu emendieren sein). Wie die Franken zum Schwure, so werden die Schöffen hierzu aber nur deswegen bereit gewesen sein, weil sie oder ihrer etliche als Getreue des Königs und Begleiter ihrer Grafen an der Reichsversammlung in Pîtres teilgenommen und also von vornherein nach den Regeln des Identitätssystems an der gemeinen Willensbildung beteiligt worden waren. Die gebotene Vereidigung der Franken beweist, daß alles Volksrecht Einungsrecht war (oben: § 193 Ziffer 5) und daß nach dem einhelligen Beschluß der Reichsversammlung jedermann dazu verpflichtet war, dem Gemeinwillen zustimmend Folge zu leisten. Eben das sagt der die Forderung des Eides begründende Nebensatz mit den Worten consensus populi aus: Das Gesetz entsteht durch den einhelligen Willen des Volkes, an dessen Bildung jedermann mitwirken kann und dem sich jeder einzelne, sobald der König es geboten hat, in Erfüllung seiner Folgepflicht anschließen muß. Die nachfolgende Zustimmung des Volkes zu einem Willen, den sich der König persönlich vorab gebildet hätte, kann der Text weder sprachlich noch sachlich gemeint haben: sprachlich deswegen nicht, weil der Notar, der ihn verfaßte, die con-
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stitutio regis dem consensus populi nicht voran-, sondern nachgestellt hat, und sachlich nicht, weil kein unmittelbares staatliches Interesse, sondern lediglich einzelne, durch jene Spitzfindigkeiten ihrer Kontrahenten geschädigte Franken mit ihren Beschwerden den König dazu bewogen haben können, die Angelegenheit auf die Tagesordnung einer Reichsversammlung zu setzen. Wenn man sich ferner fragt, ob jene begründende Sentenz: lex consensu populi et constitutione regis fit, als Sachaussage oder als antike Reminiszenz zu verstehen sei (G. Köbler 1971 S. 78), so könnte von dem letzteren nur insofern die Rede sein, als die Wörter consentire und consensus schon im klassischen Latein dieselbe doppelte Bedeutung hatten wie noch im hohen Mittelalter. Schon damals hatten sie sowohl die Eintracht, concordia, convenientia, aller oder des populus als auch die Zustimmung des einzelnen zu ihr bezeichnen, darüber hinaus aber als Synonyme zu coniuratio und conspiratio gebraucht werden können (Thesaurus IV col. 395 – 401, IA und IB, col. 390 – 393, IA und IC). Der Anklang an die Antike rührt ferner daher, daß die Sentenz, im Gegensatz zur Präambel des Ediktes, davon absieht, consensus und consilium populi miteinander zu verbinden, denn eine solche Verbindung wäre im Altertum unmöglich gewesen, aber obligatorisch war sie auch im Mittelalter nicht. In der Sache hat die Sentenz jedoch nichts Antikes an sich. Sie spricht die Rechtsauffassung des fränkischen Volkes darüber aus, was ein Gesetz war und wie es zustandekam. In dem lat. Sprachgebrauch insgesamt kommt allerdings auch die bereits erörterte Übereinstimmung zwischen altrömischer und germanischer Staatsauffassung zum Ausdruck, auf Grund deren die fränkischen Gelehrten den eigenen Staat in der Beschreibung des Kirchenvaters Augustinus wiedererkennen konnten (oben: § 603). Augustinus nämlich hatte unter anderem Ciceros Definition des Staatsvolkes als einer Personenvielheit, die kraft übereinstimmender Rechtsgedanken und gemeinsamer Interessen zur Gemeinschaft oder Verbandsperson erwuchs, übernommen: populus est coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus (Aug. Civ. dei II 21. Cicero De re publica 1, 39 und 3, 45); ein consensus iuris aber war es auch, was den mittelalterlichen Staat zusammenhielt. Hieraus ergibt sich ein weiteres. Der consensus omnium hatte im Altertum und im Denken Ciceros einen sensus communis singulorum vorausgesetzt, der es jedem einzelnen ermöglichte, dem Gemeinwillen beizupflichten. Obwohl im Hochmittelalter niemand etwas von dieser Lehre wußte, bezeugt die Art und Weise, wie man die Worte consentire und consensus benutzte, daß ein solcher Gemeinsinn auch jetzt die Grundlage für ein öffentliches Leben bildete, welches jedem freien Manne gestattete, an der gemeinen Willensbildung mitzuwirken und sich dem Gesetz zu unterwerfen, ohne die Entscheidung über sein eigenes Schicksal aus der Hand zu geben und an den Staat zu verlieren. § 762. Ich setze mich damit in Widerspruch zur herrschenden Lehre, die die Geltung speziell der karolingischen Kapitularien allein auf die Gebots- oder Banngewalt des Königs zurückführt und die Beiziehung der Großen damit erklärt, daß
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der König nicht willkürlich befehlen, sondern nur für gerechte Befehle Gehorsam verlangen konnte und nur wegen dieser Voraussetzung für manche seiner Befehle des Konsenses der Großen bedurft hätte (O. Gierke 1868 S. 112 A. 61, 114 mit A. 71. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 601 – 605, 608 f., Bd. 6 S. 563 – 566. H. Brunner 1906 S. 408. F. L. Ganshof 1961a S. 52 – 59. A. Krah 1989 S. 569 f.). Der Konsens der Großen bedeutete demnach „die obligatorische Anerkennung, daß eine erlassene Bestimmung – ob allgemeine Vorschrift oder Maßnahme für den Einzelfall – Recht sei; darin war zugleich die Verpflichtung enthalten, ihr Gehorsam zu leisten. Consentire war lediglich eine Folge der allen Untertanen auferlegten Verpflichtung, die Befehle des Königs zu befolgen. Der consensus war nicht etwa eine Zustimmung, die zu gewähren oder zu verweigern man frei war. Die deutschen Ausdrücke sind hier besonders klar: Consentire heißt nicht ,zustimmen‘, sondern ,anerkennen, daß etwas Recht ist‘“ (F. L. Ganshof 1961a S. 54 f.). Um das Zeugnis des Ediktes von Pîtres von 864, wonach das Gesetz durch Eintracht des Volkes und königliches Gebot entsteht, mit dieser Auffassung zu vereinbaren, muß man in den Wirren, denen das Fränkische Reich von 830 bis 843 ausgesetzt war, mehr als eine bloße Verschiebung des Verhältnisses zwischen Königsmacht und Adelsmacht sehen, nämlich einen Wandel der Verfassung, durch den der König eine absolute Gewalt eingebüßt und nur noch eine bedingte, nämlich vom Willen der Großen abhängige Gewalt übrigbehalten hätte; diesen jüngeren Verfassungszustand und nicht den vor einem halben Jahrhundert zerbrochenen habe Erzbischof Hinkmar im Jahre 882 beschrieben (ebd. S. 59 – 62). Ein Umbruch in der Verfassung und Staatsauffassung der Franken läßt sich jedoch im 9. Jahrhundert nicht wirklich feststellen (oben: §§ 602a, 640). Die herrschende Lehre beruht in diesem Punkte auf einem doppelten Irrtum. Erstens behauptet sie, es könne „von einem consensus der Bevölkerung keine Rede sein: Nur die Großen des Reiches, die im Reichstag oder in kleineren Versammlungen zusammenkamen, der populus in dem Sinne, den dieser Begriff in den meisten Texten der Karolingerzeit hat, wurde um seinen consensus gefragt“ (ebd. S. 54). Die weitergehenden Fragen, warum das Wort diesen Sinn haben konnte, was die darin enthaltene Identität der primores mit dem populus bedeutete (oben: § 617) und woher die Vollmacht der Großen rührte, namens des Volkes zu konsentieren, werden nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Offenbar handelten die Großen auf den Tagfahrten ebenso auf Grund einer absoluten Herrengewalt, wie sie daheim ihre Adelsherrschaft ausübten und wie im Reiche der König herrschte, wenn er den Untertanen die Pflicht auferlegte, seinen Befehlen zu gehorchen. Zweitens wird das Verbum consentire falsch verstanden, denn von seinen beiden Bedeutungen wird die des Zusammen- oder Übereinstimmens vollkommen übersehen (ebd. S. 47 mit A. 90, 54 A. 107), und soweit es das Zustimmen zu dem Willen eines anderen meint, wird ihm fälschlich der Sinn einer pflichtmäßigen und erzwungenen Anerkennung untergeschoben, der den ahd. Glossatoren unbekannt
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war (H. Götz, Wb. 1999 S. 136 f.). Nicht einmal aus denjenigen Kapitularien, die in das fränkische Volksrecht eingriffen und für die es bezeugt ist, daß Kaiser Karl dazu den Konsens des Volkes und der Schöffen einholte (oben: § 760), läßt sich etwas anderes folgern (F. L. Ganshof 1961a S. 56 – 59. A. Krah 1989 S. 569 f.). So aber kommt den Betrachtern die entscheidende Frage gar nicht zum Bewußtsein: wie nämlich das mittelalterliche Recht den scheinbaren Widerspruch zwischen Freiwilligkeit, also auch möglicher Verweigerung, des Konsenses und dem Gebote einhelliger Willensbildung ausglich. Wie wir wissen (oben: §§ 609, 720a), griff hier die Protestations- und Folgepflicht ein, die das Volksrecht den Minderheiten auferlegte. § 763a. Mit dem Glauben an den karolingischen Absolutismus (oben: §§ 332, 334) hängt die Annahme zusammen, die Könige hätten ihr Bannrecht als selbständige Rechtsquelle ausnutzen und damit ein die Volksrechte übergreifendes und überlagerndes Amts- oder Königsrecht schaffen können: Da die Volksrechte nur regionale Geltung besaßen, habe es, so nimmt man an, keine andere Möglichkeit gegeben, um der Reichseinheit eine gesetzliche Grundlage zu verleihen und im ganzen Reiche gültige Gesetze zu erlassen (F. Keutgen 1918 S. 23 f. H. Hirsch 1922 S. 197 f. W. Schlesinger 1956 S. 165, 167. K. S. Bader 1956 S. 247. R. Scheyhing in LMA 1 Sp. 1414 f.). Der Ausdruck Amtsrecht ist vor mehr als hundert Jahren erfunden worden, um ein gelehrtes Bedürfnis zu befriedigen, nämlich um einen vermeintlichen Dualismus von Volksrecht und Königsrecht in Parallele zu setzen zu der aus der römischen Rechtsgeschichte bekannten Zweiheit von ius civile und ius honorarium, also von Gesetzen des römischen Volkes und demjenigen Recht, das die römischen Magistrate auf Grund ihres imperium geschaffen hatten (H. Brunner 1906 S. 407 A. 3. F. L. Ganshof 1961a S. 56 A. 113. J. Hannig 1986 S. 13). Auch setzt der Glaube an ein karolingisches Amtsrecht die Lehre von der fränkischen Lehnsmonarchie (oben: §§ 651, 652) voraus, wenn er meint, nicht die Dinggenossenschaften und ihre Schöffen hätten das Amtsrecht zur Anwendung gebracht, sondern der König und die ihm zu besonderem Gehorsam verpflichteten Getreuen und Amtleute, habe der König es doch mit deren Hilfe unabhängig vom Willen des Volkes im Wege administrativer Strafandrohung in Kraft setzen können (H. Brunner 1906 S. 406 f.). Alle diese Annahmen fallen in sich zusammen, sobald man sich bewußt macht, daß der Staat des Mittelalters keine Schöpfung gewalttätiger Fürsten, sondern ein vom Volke und von unten her erbautes politisches Gebilde war (oben: §§ 447, 584, 759a). Die verfassungsmäßige Bedeutung des Konsenses kann sich uns nicht von der Frage her erschließen, ob sich die Fälle genauer bestimmen lassen, in denen der König des Konsenses der Fürsten bedurfte (oben: § 757). Denn diese Frage erhebt sich nur dann, wenn sich die Verfassungslehre auf den anachronistischen Standpunkt einer innerstaatlichen Teilung der Gewalten stellt. Das mittelalterliche Konsensrecht kann als Institution nur innerhalb des Verfahrens identischer Willensbildung (oben: Erstes Kapitel) und der Teilhabe der Großen an der Reichsregierung (oben: Achtzehntes Kapitel) angemessen erklärt werden. Dieses Verfahren aber
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kannte keinerlei Ausnahmen von der Konsensbedürftigkeit des königlichen Willens. Nur danach können wir daher fragen, wie das wegen des Gebotes der Einhelligkeit sehr schwerfällige Verfahren in der Praxis von Fall zu Fall den Konsens zwischen Volk und Herrscher wirklich herbeiführte. Läßt sich empirisch eine Regel ermitteln, die der König und die Reichsregierung beachteten, wenn zu entscheiden war, ob eine Reichsversammlung notwendig war, um den Gemeinwillen festzustellen, oder ob eine Hofversammlung, ein Landeshoftag oder gar der kleine Kreis ständiger Berater des Königs dafür genügten? Was diese Regel anlangt, so ist meines Erachtens zu erwarten, daß sich eine Sonderung der Regierungsgeschäfte nach einem sachlichen und einem regionalen Gesichtspunkt ergeben wird. Was den ersteren betrifft, so ist er seit dem 14. Jahrhundert in den niederdeutschen Stadtrechten als Unterscheidung zwischen gewöhnlichen, gewichtigen und hochbeschwerlichen Geschäften kasuistisch ausgearbeitet worden (E. Pitz 2001 S. 65, 229 f. Oben: § 19). Wie die gewöhnliche Amtsvollmacht der städtischen Bürgermeister, so hätte hiernach die des Königs und seiner Hofräte nur für solche Amtshandlungen ausgereicht, deren Zwecke im reichsrechtlichen Herkommen bereits als gemeinnützig anerkannt waren, so daß der König mit Sicherheit darauf rechnen konnte, für sie die Zustimmung des Reiches und der Fürsten, falls erforderlich, noch nachträglich zu erhalten. Zu den Geschäften dieser Art gehörten die Vorausplanung für den Reiseweg des königlichen Hofes, die damit verknüpfte Einladung zu Reichs- und Landeshofversammlungen (oben: § 754), die Schlichtung örtlicher politischer und rechtlicher Streitigkeiten und die Gewährung von Privilegien herkömmlicher Rechtsinhalte (unten: §§ 788 – 794). § 763b. Unter Geschäften von einigem Gewicht, die später nach Stadtrecht die Bürgermeister nur mit Zustimmung des gemeinen Rates ihrer Stadt vollziehen konnten, verstand man Entscheidungen, für deren Begründung zwar kein neues Recht geschaffen, wohl aber Herkommen und Gesetz verbindlich ausgelegt werden mußten. Die Bürger erwarteten dabei von ihrem Rate, daß die Auslegung das Stadtrecht mehren und bessern werde. Auch der König wird für Amtshandlungen, die durch Interpretation secundum legem begründet werden konnten, stets des Konsenses oder gar eines Weistums der Großen bedurft haben, um sie rechtsgültig vollziehen zu können. Es war hierzu also die Zustimmung mindestens einer ordentlichen (Landes-)Hofversammlung notwendig. Vollends muß dies im Falle jener hochbeschwerlichen Geschäfte gegolten haben, für welche die Bürgermeister sogar der Einwilligung der versammelten Bürger gemeinlich bedurften, weil sie der Gemeinde schädlich waren und deren Rechte contra legem minderten und verkürzten. Die Stadtrechte bestimmten als solche Handlungen in inneren Angelegenheiten der Gemeinde alle Eingriffe in das Stadtrecht selbst, insbesondere in die Grund- und Freiheitsrechte, die sich die Bürger samt und sonders gegenüber dem Rate vorbehalten hatten, ferner jede Belastung des gemeinen Vermögens, einschließlich der Erhöhung alter und Einführung neuer
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Geldsteuern, dazu in auswärtigen Angelegenheiten alle Entscheidungen, die der Stadt nachteilig werden und den Bürgern Kosten aufbürden konnten, wie Ansage und Beendigung von Krieg, Heerfahrt oder Fehde, Annahme und Verlassung des Stadtherrn und Bündnisse mit Fürsten, Herren oder anderen Städten. Dieser Kasuistik entspricht es, daß der Konsens des Reiches unerläßlich war, wenn der König Staatsverträge (wie zum Beispiel die mit der römischen Kirche) abschließen, das Reichsheer zum Kriegszuge aufbieten und Reichsgut veräußern oder Steuern erheben wollte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 98 – 103. J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 99, 313 – 319. E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1096. Oben: §§ 624 – 629, 716). Der lat. Fachausdruck für die hochbeschwerlichen Geschäfte lautet im Spätmittelalter negotia ardua. Vor der Mitte des 12. Jahrhunderts ist diese Wortverbindung nicht nachweisbar (Mlat. Wb. 1 Sp. 916 f. Novum Gloss. Fasc. Ne-Norma col. 1189 – 1195). Die Reichskanzlei bediente sich ihrer seither, um diejenigen Geschäfte zu bezeichnen, die der König nur mit dem Rate der Fürsten erledigen konnte und um deretwillen er daher befugt und verpflichtet war, die Großen zu sich an den Hof zu berufen (MGH. DF. I. 162 S. 278 Z. 37 – 38, 327 S. 154 Z. 33, 363 S. 216 Z. 21, 364 S. 217 Z. 30, 662 S. 170 Z. 28, 673 S. 190 Z. 15, 842 S. 54 Z. 26). Als ardua et necessaria imperii negotia galten namentlich das römische Schisma (DF. I. 313 S. 133 Z. 42), die Erhebung eines Bischofs in Cambrai (DF. I. 541) und der Friedensschluß mit den Lombarden (DF. I. 673 S. 190 Z. 15), dazu später auch (Straf-)Klagen gegen einen Reichsfürsten (Const. 2, 241 n. 196 S. 247 Z. 10). In England bezog man den Begriff seit der Regierungszeit König Edwards I. insbesondere auf das Recht des Königs und die Pflicht der zum Parlament versammelten Gemeinden, Steuern zu fordern und zu bewilligen, so oft magna negocia regni den casus necessitatis schufen; das Parlament von 1268 wurde einberufen super arduissimis negociis nos et regnum nostrum, statum et communitatem regni nostri et vos tangentibus (K. Kluxen 1987 S. 69, 73, 79 f. Vgl. Const. 2, 332 n. 244 Z. 25 – 29). Mit der sachlichen Scheidung der drei Geschäftsarten überkreuzte sich insofern ein regionaler Gesichtspunkt, als das Ostfränkisch-deutsche Reich aus Teilreichen bestand und der König Rechtsgeschäfte bestimmten Inhalts auch als Haupt eines Regnums ausführen konnte. Die Bestallung von Bischöfen und Grafen etwa oder die Schlichtung regionaler Konflikte waren Angelegenheiten partikularer Untertanenverbände, bei denen der König lediglich das Reichsinteresse zu wahren hatte; daher mochte es genügen, daß er dergleichen auf Landeshoftagen oder in Kopräsenz mit den Großen der betroffenen Region aus der Ferne erledigte (A. Kränzle 1977 S. 131 – 144). Auch wurden Kriegszüge gegen und Friedensverträge mit Dänen und Slaven im allgemeinen als Angelegenheiten allein des sächsischen, mit Ungarn des bayerischen Regnums betrachtet, während Heerfahrten nach Polen und Italien stets als Sache des gesamten Reiches, oder aller Regna gemeinsam, galten. Die Reichsverfassung und die Regeln identischer Willensbildung räumten dem politischen Gestaltungswillen und der Staatskunst des Königs, wie bereits Julius
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Ficker erkannte, in der Konsensfrage den größten Spielraum ein. Einerseits eignete der Zustimmung der auf einem rechtmäßig gebotenen Hoftag Anwesenden wohl immer „das volle Gewicht einer Zustimmung der Gesamtheit der Fürsten: Die Nichterscheinenden mußten sich dem Anspruch der Anwesenden fügen, für alle das Wort zu halten, auch wenn nur eine Minderheit anwesend war. Andererseits lief der König Gefahr, seinen Willen auf späteren Hoftagen durch Fürstenurteil aufgehoben zu sehen, wenn er in wichtigen Fragen den Konsens nur weniger zufällig anwesender Fürsten einholte: In diesem Falle hatten die Konsentierenden eben doch nur sich selbst dazu verpflichtet, der Entscheidung des Reiches ferner nicht zu widersprechen“ (J. Ficker / P. Puntschart 1911 S. 103 – 107).
§§ 764 – 768. Gesetzgebung § 764. Den Konsens einer Reichsversammlung erforderte vornehmlich jede allgemeine Gesetzgebung, denn diese galt als hochbeschwerliches Geschäft, da sie kaum jemals umhin konnte, in die Volksrechte einzugreifen, deren Depositare die örtlichen Dinggenossenschaften waren. Solche Eingriffe konnten Einzelheiten betreffen. So verbot Kaiser Karl im Jahre 802 seinen Untertanen, das im Volke anerkannte Recht auf Blutrache auszuüben, und befahl ihnen statt dessen, Wergeld zu fordern und anzunehmen (MGH. Capit. 1, 91 n. 33 c. 32, oben: §§ 107 – 109), und in Ergänzung aller Volksrechte setzte er die Wergelder für Geistliche für das ganze Reich einheitlich fest (ebd. 111 n. 39 c. 1. H. Siems 1980 S. 306 – 308). Der Eingriff konnte sich aber auch auf die Vollmacht der Depositare überhaupt beziehen, wenn nämlich der Gesetzgeber die Niederschrift eines Volksrechts in lat. Sprache anordnete und die Urteilsfinder hinfort auf den einmal festgelegten Wortlaut verpflichtete. Den Typus eines solchen Gesetzgebers stellt die Reichsversammlung zu Aachen im Jahre 802 / 803 dar, auf der Kaiser Karl vier Volksrechte gleichzeitig aufzeichnen ließ, nämlich die leges der Friesen, Sachsen, Thüringer und chamavischen Franken (RI 12 n. 390a. G. Köbler 1971 S. 33, 81 f., 197. H. Siems 1980 167 – 173, 366 – 371. P. Landau 2001 S. 29 – 31). Nach dem Lorscher Annalisten und Karls Biographen Einhard, denen wir unser Wissen verdanken, ging damals folgendes vor sich: (1) Kaiser Karl hatte bemerkt, daß den Rechten seines Reichsvolkes, legibus populi sui, vieles ermangelte; so hatten die Franken zwei Gesetzsammlungen, leges, die sich an vielen Stellen voneinander unterschieden. Daher war er darauf bedacht, Fehlendes hinzuzufügen, Verschiedenes zu vereinheitlichen und Verkehrtes oder falsch Vorgetragenes zu berichtigen. (2) Er versammelte Markgrafen und Grafen mit allem anderen christlichen Volke und den Gesetzeskundigen, duces, comites et reliquo christiano populo cum legislatoribus; vor ihnen ließ er alle im Reiche gültigen Volksrechte verlesen und jedem Manne sein Gesetz übergeben. Dabei sollte das Nötige gebessert und jedes Gesetz in der verbesserten Fassung aufgezeichnet werden, et fecit . . . legi et tradi . . . et emendare . . . et scribere, damit die Richter nach dem geschriebenen
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Text urteilten und jedermann gleiches Recht gewährten, ohne Geschenke anzunehmen. (3) Aber von allen diesen Vorhaben gelang ihm lediglich die Ergänzung der Volksrechte um einige wenige und dazu noch unvollkommene Gesetze, capitula. Außerdem ließ er alle noch nicht schriftlich fixierten Volksrechte, omnium nationum iura, aufzeichnen. Verbindet man diese Angaben mit dem, was uns Hinkmar über die Arbeitsweise der Reichsversammlung berichtet (oben: §§ 606 – 609), so ergibt sich folgende Interpretation: (1) Klagende Parteien, die den Kaiser um Rechtshilfe ersuchten, und die Hofleute, die darüber zu urteilen hatten, werden Karl (seit langem?) auf die aus der Vielzahl und den Mängeln der Volksrechte herrührenden Mißstände in der Rechtspflege aufmerksam gemacht haben. Dazu gehörte auch, daß die Rechtskenntnisse der Schöffen in den Grafengerichten nicht immer hinreichten, um zu verhüten, daß dem Gerichtsvolke falsche Urteile vorgetragen würden. Daher wird im Laufe des Jahres 801 der Plan des Kaisers herangereift sein, hierin für Abhilfe zu sorgen, und von der Reichsversammlung des Frühjahrs 802 wird er die Erlaubnis eingeholt haben, zu diesem Zwecke im Winter 802 / 803 eine besondere Reichsversammlung nach Aachen einzuberufen. (2) Hierzu erging die mit der Tagesordnung verbundene (schriftliche) Einladung an alle Grafen und deren Gerichtsgemeinden; die letzteren hatten ihren Häuptern so viele rechtskundige Männer beizuordnen, daß die Identität des auf der Versammlung geäußerten Willens ihrer Worthalter mit ihrem Gemeinwillen gesichert war. Bischöfe und Reichsäbte erhielten keine (besondere) Einladung, da nur über weltliches (Privat-)Recht zu befinden war; in dieser Hinsicht behandelte Karl sie als den laikalen Dinggenossen gleichgestellt. Ich nehme an, daß der Bericht des Lorscher Annalisten (dem Wortlaut?) der Ladung folgt, die Karl an den örtlich zuständigen Grafen (des Rheingaus) gerichtet hat. (3) Auf der Reichsversammlung stellte sich heraus, daß unter den Rechtskundigen aus so vielen verschiedenen Grafschaften mit wenigen Ausnahmen kein Einvernehmen über die Besserungen zu erzielen war, die die Reichsregierung vorgeschlagen hatte. Stets wird sich eine Mehrheit für nicht vollmächtig bekannt haben, um zuzustimmen, und daher die Vorschläge lediglich unter Vorbehalt des Willens ihrer Grafschaftsgemeinden, also: ad referendum (oben: § 22), entgegengenommen haben. Karl erreichte von ihnen nicht mehr als die Erlaubnis zur Niederschrift derjenigen Gesetze, in denen sie übereinstimmten. § 765. Da wir nicht erfahren, wie die Texte der vier genannten, wohl damals aufgezeichneten Volksrechte zustandegekommen sind und was die etwa vom Reichstag gefaßten und vom Kaiser sanktionierten Beschlüsse für deren Rechtskraft bedeuteten, ist es strittig, ob sie die von den Grafschaftsvölkern wirklich befolgten Rechtsgewohnheiten wiedergeben oder ein vom Kaiser entworfenes Programm des Wünschenswerten darstellen, von dem zu bezweifeln ist, daß die Dinggemeinden und ihre Schöffen und Urteilsweiser es akzeptiert haben (P. Landau 2001 S. 31 – 34). Bedenkt man jedoch, daß Karl die Gesetze oder Volksrechte in der Öffentlichkeit einer Reichsversammlung feststellen und aufzeichnen ließ, so dürfte die zweite Möglichkeit ausscheiden. Und dagegen, daß das geschriebene
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Recht erst durch Reichsbeschluß und Königsbann zur Rechtskraft erwuchs, spricht auch der Umstand, daß uns als ahd. Äquivalent zu lat. lex niemals das Substantiv gisethida = Einrichtung, Satzung, sondern anfangs stets e, ea, ewa = ewige Ordnung oder wizzod = bezeugtes Wissen, Zeugnis, genannt werden (G. Köbler 1971 S. 181 – 184, 227). Von einer bestimmten Entstehungsart, etwa dem Beschluß einer Reichsversammlung oder der schriftlichen Fixierung, hing die Geltung des Gesetzes dem Begriff nach nicht ab, obwohl beides tatsächlich möglich war (ebd. S. 218 f.). Nach der Aachener Tagfahrt sind im Gebiet des späteren Ostfränkisch-deutschen Reiches keine amtlichen Gesetzestexte mehr niedergeschrieben worden. Die Völker dieses Reiches werden die dafür nötige Vollmacht nicht mehr den Königen erteilt, sondern ihren eigenen Häuptern vorbehalten und auf die Niederschrift keinen Wert mehr gelegt haben. So ist fernerhin über neue Gesetze auf Landeshofund später auf Landtagen entschieden worden (oben: §§ 328 – 330, 466, 472, 490, 493). Auch für die Kapitularien der Karolingerzeit gilt die Definition, die in einem derselben enthalten ist: Der Gemeinwille des Volkes und das königliche Banngebot ergeben ein Gesetz. Überliefert sind uns die Kapitulargesetze anfangs in Form von Beschlußprotokollen, später jedoch immer häufiger und ausführlicher auch als Verlaufsprotokolle, die uns Einblick in das konsensbildende Verfahren der Reichsversammlungen gewähren. Aber schon in den Kapitularien der älteren Form wird der Konsens des Volkes so oft erwähnt, daß wir seiner als regelmäßigen Bestandteils der Kapitulariengesetzgebung sicher sein können (A. Bühler 1986 S. 318, 426 – 431, 447. F. Bougard 1995 S. 19 f.). Zweifellos besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Intensität, welche diese Form der Gesetzgebung in der Zeit von 750 bis 850 erreichte, und der von Erzbischof Hinkmar bezeugten Periodizität der Reichsversammlung in jener Zeit (oben: § 609). Es gehörte zu den Amtspflichten, die das Volk seinem Haupte auferlegte, die gemeine Willensbildung gemäß den politischen Bedürfnissen nach Maßgabe des Gemeinwohls zu lenken. Dem König oblag es, die Tagesordnung der Reichsversammlung zu erstellen, und damit gewann er maßgeblichen Einfluß auf den Inhalt der Kapitularien. Ferner gehörte es zu seinen Amtspflichten, den von den Großen im Einvernehmen mit ihrem Gefolge übereinsgetragenen Willen bei Strafandrohung zu gebieten und damit für die Durchführung der Gesetze Sorge zu tragen. Die umstrittene Frage, ob und in welchem Umfange die Kapitularien durch ihre Publikation (A. Bühler 1986 S. 447 – 453 und oben: § 608) das Rechtsleben des Volkes in den lokalen Dinggemeinden beeinflußt haben, ist im Rahmen der Regeln der identischen Willensbildung (oben: §§ 333, 608b) und der Rückübersetzung aus dem Lat. in die Volkssprachen (oben: § 345) zu beantworten. Da die Kapitularien häufig bestehendes Recht einschärften, statt neues zu setzen, oder auch bestehendes Recht interpretierend modernisierten, können wir annehmen, daß sich das Rechtsleben in vieler Hinsicht so abspielte, wie es den Kapitularien zu entnehmen
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ist (G. Schmitz 1996 S. 366 f.). Dies gilt etwa von der Einführung des Schöffenamtes in die Gerichtsverfassung (oben: § 318) oder von der Durchführung der Eideskapitularien (oben: §§ 660, 673), aber auch etwa von dem Grundsatz, daß nur der Kaufmann wegen seiner Handelswaren, nicht jedoch der Transporteur von Eigengut Zoll zu entrichten habe, auch wenn wir davon als von geltendem Recht erst wieder aus der Zeit König Konrads III. Nachricht haben (MGH. DKo. III. 203 S. 368 Z. 25 – 27. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 287. Oben: § 199). Ebenso häufig allerdings waren Karl der Große und Ludwig der Fromme bestrebt, die Volksrechte dadurch zu bessern, daß sie aus ihnen solche Bestimmungen auszumerzen suchten, die sich nach Maßgabe der christlichen Ethik und des Kirchenrechts als sündhaft erwiesen. Persönlich von dem Glauben an ihren theokratischen Amtsauftrag durchdrungen, bedienten sie sich des Rates der Bischöfe (oben: §§ 634, 636, 683), um diese Aufgabe erfüllen zu können und darüber hinaus die Verbreitung des Christentums zu befördern. Der in den Präambeln der Kapitulargesetze erwähnte Konsens der Getreuen bestand oft genug allein aus dem der Bischöfe; während manche Kapitularien nur sie erwähnen, gibt es keines, das allein den Konsens von Laien bezeugt (F. Bougard 1995 S. 19 f.). Zur Gesetzgebung über die Volksrechte auf der Aachener Reichsversammlung von 802 / 803 hat Kaiser Karl jedoch nur Laien hinzugezogen. Diese nämlich setzten sich gegen die kirchliche Korrektur des weltlichen Rechtes ebenso zur Wehr wie gegen den theokratischen Mystizismus der Hoftheologen (oben: §§ 681, 685, 692, 695). So waren etwa die Verbote der Fehde, der Schwureinungen und der Geschenke an Richter (oben: §§ 109, 180, 181, 684, 760) gegen den Widerstand, die Gebote betreffend Ausbildung der Pfarrer und Unterweisung der Laien in der christlichen Lehre gegen die Gleichgültigkeit des Volkes nicht durchzusetzen. § 766. Nur in dieser Hinsicht, nicht aber so allgemein, wie die landesgeschichtliche Schule behauptet (oben: §§ 333 – 335), sind die Kapitularien „ein Regierungsprogramm“ geblieben, „das nicht in die Wirklichkeit des politischen Lebens umgesetzt wurde“ (Th. Mayer 1956 S. 172 – 175). „Die Machtmittel des fränkischen Königtums sind nicht im Kampfe gegen das eigene Volk, sondern mit dessen Billigung gewonnen worden . . . Wenn sich in einer königlichen Gesetzgebung eine neue Schicht von Rechtsnormen bildet, so steht dieses Königsrecht grundsätzlich nicht im Gegensatz zum Volksrecht; die königlichen Verordnungen sind keine Diktate, sondern angewandtes und auf einzelne Fälle spezialisiertes Volksrecht; auch sie sind von einem vermuteten Volkswillen getragen . . . Wenn sich das Königsrecht wirklich einmal im Widerspruch zum Volksrecht befand – so beim Verbot der Fehde –, so war doch offenbar der Gedanke der, daß das Königtum berufen sei, mit der Fortbildung des Rechtes dem Volke voranzugehen und dieses zur Anerkennung des neuen, besseren Rechtes zu erziehen . . . Der schärfste Ausdruck der Führungsmacht ist bekanntlich der Bann des fränkischen Königs. Aber auch bei ihm ist der Zusammenhang mit den volksrechtlichen Grundlagen nicht durchbrochen; er ist kein angemaßtes ,Imperium‘ römischen Stils“ (H. Mitteis 1953 S. 46 f.). Ihre letzte Begründung erhalten diese Feststellungen freilich erst dann, wenn man das König-
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tum als ein vom Volke verliehenes Amt und den Königsbann als vom Volke auf den König übertragene Amtsvollmacht anerkennt. Die Rede von der „fränkischen adlig-kirchlichen lat. Herrschaftssprache“ der Kapitularien (oben: § 759a) erweist sich im Lichte dieses Befundes als verfehlt. Das Regieren mit Hilfe von Kapitulargesetzen ist im Ostfränkisch-deutschen Reiche nicht fortgeführt worden. Es widersprach offensichtlich den Vorstellungen der Völker und Großen dieses Reiches von den Aufgaben des Königs. An die Stelle der Kapitularien traten die nur in Einzelfällen für erforderlich gehaltenen Konstitutionen, deren aus dem 10. und 11. Jahrhundert namentlich für das Königreich Italien gut dreißig Exemplare überliefert sind (G. Köbler 1971 S. 34 f.). Im übrigen zog man es vor, neues Recht im Wege der Privilegierung in die Praxis einzuführen. Im 12. Jahrhundert bildeten Fürsten und König eine neue Form der Gesetzgebung in Gestalt des Reichsspruchs oder Reichsweistums aus (B. Diestelkamp 1977. D. Werkmüller in HRG 4 Sp. 751 – 754. B. Diestelkamp in Urk.regesten S. XXII). Als Gesetzgeber fungierte dabei ein Landeshoftag und Hofgericht, in dem jedermann eine Rechtsfrage vortragen konnte und die Fürsten namens des Reiches dem König darüber ein Urteil wiesen, das der König gebot. Der Hoftag machte sich dabei den Umstand zunutze, daß nach Volksrecht verfahrende Gerichte keine Endurteile über streitige Tatsachen, sondern lediglich Zwischenurteile über Rechts- und Beweisfragen zu finden brauchten und dabei in Auslegung des Volksrechts das Gesetz feststellten, nach dem die streitenden Parteien im einzelnen Falle ihren Konflikt beilegen sollten (oben: §§ 67, 68). War ein Land- (Grafen-, Vogt-) gericht nicht imstande, dieses (ungeschriebene) Gesetz zu finden, so konnten der Gerichtsherr oder eine Partei die Rechtsfrage in abstrakter oder hypothetischer Fassung des Falles dem Hofgericht zu gerichtlicher Entscheidung vorlegen (Beispiele oben: §§ 245, 324, 329, 628, 629). Das Urteil stellte eine optente contradictorio iudicio consuetudinis sentencia dar (Reichslandfrieden von 1235: MGH. Const. 2, 241 n. 196, hier: S. 241 Z. 37). Wie alle Hofgerichtsurteile, so konnten auch die abstrakten Rechtssprüche von der Reichskanzlei in der diplomatischen Form einfacher Privilegien beurkundet werden (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 71, 2 S. 295 f.). Der Notar vermerkte darin den Namen des Petenten und den Gegenstand seiner Frage, den vom König bestimmten Urteilsfinder und dessen Spruch, den einmütigen Beifall der anwesenden Fürsten und deren Zeugenschaft. Obwohl die Reichssprüche demnach stets aus Anlaß bestimmter Rechtsstreitigkeiten entstanden, konnte man sie wegen der hypothetischen, Parteinamen und Sachverhalt verschweigenden Formulierung wie Gesetze verwenden. Wer immer von ihnen erfuhr, konnte sich gegebenenfalls auf sie berufen und von der Reichskanzlei eine Abschrift des dem Petenten erteilten und vom Könige sanktionierten Reichsspruches erbitten. Nach Form und Inhalt grundsätzlich davon verschieden ist die Entscheidung Kaiser Heinrichs VI. über die Rechtswidrigkeit des Grundruhrrechts vom 24. Juni 1196 (Const. 1, 521 n. 373). Sie nennt weder den Petenten – nur aus der Überliefe-
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rung des Textes ergibt sich, daß die Bürger von Straßburg sie erbeten hatten –, noch den Urteiler, noch den Beifall der Hofversammlung. Statt dessen tritt der Kaiser als Einzelrichter auf, der das Urteil selbst fand, bevor er es durch seinen kaiserlichen Spruch rechtskräftig machte, statuentes et imperiali sanctientes edicto. Der fremdrechtlichen Form entspricht die Begründung des Urteils: Die Grundruhr sei entgegen dem vernünftigen gelehrten Recht durch volkliche Gewohnheit in ordnungswidriger Weise gesetzt worden, contra iuris rationem statutum . . . consuetudine inordinate statuta. Wir haben es nicht mit einem nach deutschem Recht gefundenen Reichsspruch, sondern mit einem auf römisches Recht begründeten kaiserlichen Machtspruch zu tun. Offenbar hatten die Straßburger Kaufleute am Hofe ihres Bischofs einen des fremden Rechts kundigen Kleriker gefunden, der ihnen den Entwurf der begehrten Entscheidung aufsetzen konnte (vgl. DF. I. 187, oben: § 592b). Ich bezweifle, daß die Reichskanzlei berechtigt war, danach eine amtliche Ausfertigung herzustellen, und halte es für sicher, daß die Straßburger niemals ein deutsches Gericht zur Anerkennung dieses Ediktes haben überreden können. Keinesfalls geht es an, das Edikt als königliches Gesetz und als Erzeugnis des deutschen Königs- und Hofgerichts zu betrachten (A. Wolf in LMA 4 Sp. 1395. Urk. regesten S. 460 n. 591). Wie die fürstlichen Urteilsfinder im Hofgericht, so wehrten sich die Schöffen und Rechtskundigen in den Land- und Stadtgerichten, wie seit jeher (oben: §§ 636, 764, 765), hartnäckig gegen die Revision der Volksrechte und die Verurteilung ihrer rechtlichen Überzeugungen nach den Maßstäben christlicher Moral und des gelehrten römisch-kanonischen Rechtes. § 767. Hiervon zeugt auch ein Hofgerichtsurteil von 1165 über das Testamentsrecht, das man ebenfalls als Gesetz zu betrachten pflegt (MGH. Const. 1, 321 n. 227. Urk.regesten S. 303 n. 390. A. Wolf in LMA 4 Sp. 1395). Am 26. September dieses Jahres saß der Kaiser in Worms einem rheinfränkischen Hoftag vor, und da wurde vor ihm ein zwischen Klerikern und Laien schwebender Rechtsstreit ausführlich erörtert, in dem beide Seiten entgegengesetzte Urteile forderten (MGH. DF. I. 492 S. 416 Z. 1 – 4).In dem Rechtsstreit, den das Wormser Schöffengericht (?) nicht hatte entscheiden können (S. 415 Z. 42 – 43), ging es um folgendes: Ein Wormser Kanoniker namens Wernher hatte auf dem Sterbebette im Beisein etlicher Standesgenossen sowie seiner Mutter und sonstiger Verwandter testamentarisch über seine Fahrhabe verfügt, und zwar sowohl zugunsten aller Wormser Kirchen als auch seiner Mutter und anderer Personen, ohne daß jemand dagegen Einspruch erhoben hatte. Später dann hatte Gundolf, Stiefvater des Verstorbenen, als Ehegatte und Vormund der Mutter das Testament mit der Begründung angefochten, von Rechts wegen dürfe niemand, und sei es auf dem Krankenbette, ohne Zustimmung seiner Erben etwas von seinem Besitz oder seiner beweglichen Habe über den Wert von fünf Schillingen hinaus spenden (S. 415 Z. 31 – 42). Da dies ein deutschrechtliches Argument ist, nehme ich an, daß Gundolf seine Klage vor dem weltlichen Gericht erhoben und hier Recht bekommen hat, daß aber die durch das Testament begünstigten Kleriker dessen Zuständigkeit bestritten und eine Entscheidung nach Kirchenrecht und durch das Gericht des Bischof gefordert haben. Es handelte sich
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also um einen Streit zwischen Volksrecht und Kirchenrecht, um den uralten Gegensatz zwischen dem Interesse der Kirchen an der Testierfreiheit und dem Interesse der (alt-)freien Häuser an der Bewahrung des Hausgutes (oben: §§ 100, 340, 356). Obwohl die Kirchen nun schon seit Jahrhunderten bestrebt waren, die volksrechtliche Überzeugung vom Vorrang des gemeinen Willens der Hausgenossen vor dem Einzelwillen des Testators zu entkräften, hielten Gundolf und zweifellos auch die Schöffen des Wormser Stadtgerichts unbeirrt an ihr fest. Auf dem Wormser Hoftage nun bewies der (Anwalt des) Klerus mit den Kanones der universalen Kirche, den Gesetzen der römischen Kaiser und den Dekretalen der Päpste, daß der Urteilsvorschlag der Laien abzuweisen sei (S. 416 Z. 5 – 7). Darüber könnte Kaiser Friedrich selbst in einen Gewissenskonflikt gestürzt worden sein, da ihn sein Amtseid zum Schutz der Volksrechte, der Krönungseid aber zum Schutz der Kirche verpflichtete. Zudem stand er vor der ganz ungewöhnlichen Situation, daß sich die versammelten Fürsten und Großen nicht auf ein gemeinsames einhelliges Weistum einigen konnten und daher ihm, dem Könige, die Entscheidung in dem heiklen Konflikt überließen. Friedrich behalf sich in dieser Notlage damit, daß er zwar das Weistum des Klerikers wählte und das des Laien verwarf, dies aber mit den Worten entschuldigte, er schäme sich nicht, non erubescimus, den heiligen, für göttliche Orakel erachteten Gesetzen seiner Amtsvorgänger Konstantin, Valentinian und Justinian sowie den Institutionen Karls und Ludwigs zu folgen, nachdem er durch sie belehrt wurden sei, eruditi (S. 416 Z. 7 – 10, 24 – 25). Diese Belehrung unterstrich er dadurch, daß er die Gesetze der drei frühbyzantinischen Kaiser nach dem Kodex des Justinian ausführlich und zum Teil wörtlich zitierte (S. 416 Z. 10 – 23). Die vorangegangene Gerichtsverhandlung muß indessen sowohl dem Kaiser als auch der Hofversammlung klargemacht haben, daß diese heiligen Gesetze wegen des in den Volksrechten ebenso gut begründeten Widerspruchs der Laien nur restriktiv ausgelegt und angewandt werden konnten. Niemand dachte daran, die alten Kaisergesetze über die Testierfreiheit für allgemein gültig zu erklären und insoweit das volkliche Erbfolgerecht grundsätzlich außer Kraft zu setzen. Eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen und damit als Gesetzgeber zu handeln, dazu fühlte sich der rheinfränkische Hoftag nicht berufen und nicht befugt und mangels Einhelligkeit auch nicht imstande. Der Kaiser bestätigte daher lediglich den Urteilsvorschlag der Kläger, wonach jedem Kleriker der Wormser Kirche die Testierfreiheit zustehen sollte. Dem Notar, der das Diplom diktiert hat, ist der hierauf bezügliche Satz (S. 416 Z. 25 – 29) mißglückt. Er begann ihn mit einem Akkusativobjekt, wählte aber als Prädikat ein Zitat aus dem Kodex Justinians, das ein Dativobjekt erfordert: sentenciam venerabilis cleri Wormaciensis ecclesie . . . (eligentes), huic libertati perpetuam tribuimus firmitatem. Nicht der Klerus der deutschen Reichskirche überhaupt, sondern lediglich der der Wormser Kirche erlangte das Recht zu testieren, und zwar als eine besondere Freiheit oder als Privileg, nämlich als eine Ausnahme von dem Volksrecht, das im übrigen durch das Urteil nicht angetastet, sondern als für alle anderen verbindliche Regel eher bestätigt wurde.
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§ 768. Es ist nachzuweisen, daß niemand in der Wormser Entscheidung ein allgemeines Reichsgesetz oder auch nur ein fränkisches Teilreichs- oder rheinfränkisches Landesgesetz erblickt hat, welches das römische Testamentsrecht in die deutschen Volks- oder Landrechte hätte einfügen sollen. Denn selbst der benachbarte Klerus der Mainzer Kirche nahm nicht darauf Bezug, als acht Jahre später ein Rechtsstreit zwischen ihm und den Bürgern von Mainz zur Entscheidung anstand, nachdem die Bürger, genauer gesagt: die Verwandten des Testators, den Klerus daran gehindert hatten, ein von einem Mainzer Kanoniker errichtetes Testament zu vollstrecken. Es ist anzunehmen, daß die Verwandten des Testators als Partei, die Bürger aber als Urteilsfinder des Mainzer Schöffengerichts an dem Rechtsstreit beteiligt gewesen waren, bevor ihn die Kleriker am 2. Juli 1173 vor den Kaiser und dessen Hoftag zu Speyer brachten (MGH. DF. I. 606. Urk.regesten S. 322 n. 411). In der Sache unterschied sich dieser Rechtsstreit zwar dadurch von dem Wormser, daß der Testator nicht über ererbte, sondern allein über Sachen verfügt hatte, die er aus dem Besitz seiner Kirche erworben und innerhalb deren Immunität verwahrt hatte. Der Klerus begründete seinen Anspruch denn auch mit seinen von früheren Königen gegebenen Immunitätsprivilegien, während die Laien zwar viele, aber im einzelnen nicht genannte Dinge dagegen anführten, bei denen es sich nur um volks- und gewohnheitsrechtliche Argumente gehandelt haben kann. Gleichwohl hätte dieser Fall nicht vor das Hofgericht gebracht werden müssen, wenn der Gesetzgeber vor acht Jahren in Worms den Normenkonflikt betreffend das Testamentsrecht grundsätzlich behoben und wenn die Mainzer Schöffen diese Entscheidung zugunsten des Kirchenrechts als rechtmäßig akzeptiert hätten. Keines von beidem war offensichtlich geschehen. Wie zuvor der Wormser, so drehte sich auch der Mainzer Rechtsstreit um die Frage, ob dem Klerus ein Recht zu testieren zustünde; wiederum konnten sich die fürstlichen Urteilsfinder nicht darüber verständigen, ob diese Frage nach geistlichem oder nach weltlichem Recht zu beurteilen sei, und wiederum überließen sie die Entscheidung dem Kaiser. Der aber bewies die für die Laien des Zeitalters typische Deferenz gegenüber dem gelehrten Recht, dessen Prestige die Worthalter der Volksrechte kein gleich starkes Selbstbewußtsein entgegenzusetzen hatten (oben: §§ 253, 263, 436, 527 – 530, 593, 597a, 700). Kaiser Friedrich beschloß daher, Bischof Konrad von Worms und andere geistliche Experten des Kirchenrechts um die Wahrheit des richtigen Rechts zu befragen (DF. I. 606 S. 92 Z. 41 – 43). Diese Fachleute bezeugten, daß das vom Mainzer Klerus beanspruchte Immunitätsprivileg, illa emunitatis libertas, in vielen Reichskirchen gelte, und erläuterten an Hand des geschriebenen römisch-kanonischen Rechtes, daß diese Freiheit rechtmäßig sei (S. 93 Z. 1 – 12). Sollte der Kaiser die beklagten Bürger von Mainz um ein Gegengutachten ersucht haben, so ist klar, daß sich diese zwar für unfähig erklären mußten, es in derselben wissenschaftlichen Form zu liefern, daß sie aber deswegen ihrer Rechtsüberzeugung nicht entsagt haben können. Von den Experten belehrt, bestätigte der Kaiser dem Mainzer Klerus aus kaiserlicher Autorität das hergebrachte Immunitätsprivileg, und durch Kaisergesetz gebot er, imperiali lege sanccimus, was er secundum legem
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Francorum nicht gebieten konnte, daß nämlich der Klerus über binnen der Immunität besessene Fahrhabe zu testieren berechtigt sei (S. 93 Z. 12 – 22). Deutlicher als in dem Wormser Urteil von 1165 behauptet der Kaiser hier, daß sein Urteil nicht auf einem einhelligen Reichsweistum beruht, sondern einen kaiserlichen Machtspruch darstellt, den zwar die Experten des Kirchenrechts als gerecht empfinden mochten, den aber das Volk für nichts anderes denn für Willkür halten konnte, auch wenn es ihn mit stummer Empörung hinnehmen mußte, um sich nicht dem Vorwurf der Ketzerei auszusetzen. Es war die Willkür der imperatoria maiestas, que regis regum et domini dominantium vicem gerit in terris (S. 92 Z. 15 – 16), die ihrerseits in den Forderungen des Volksrechts lediglich gewalttätige Tyrannei und schändliche Arglist erkennen zu können vorgab (DF. I. 492 S. 415 Z. 26 – 27). Ich halte es für sicher, daß Friedrich sich dem Volke mit einer solchen Entscheidung nicht verständlich machen und folglich durch sie auch keinerlei Einfluß auf das volkliche, von den Schöffen bewahrte und ausgesprochene Rechtsbewußtsein nehmen konnte. Die Macht des Reichsgesetzgebers über die Volksrechte erweist sich damit als immer noch ebenso eng begrenzt wie in der Karolingerzeit. Der Gesetzgeber war lediglich dazu berufen und fähig, das ungeschriebene Volksrecht zu erkennen und im Einzelfall interpretierend auszulegen, nicht aber dazu, es zu verändern. Wurde dies von ihm verlangt – und nur der Klerus mutete ihm solches zu –, so zeigte er sich unfähig, einen Konsens unter den Rechtsgenossen zu finden, so daß der König, als sein Sprecher, an und für sich die Klage hätte zurückweisen und damit das Volksrecht oder das auf alte Privilegien der Kirche gegründete Herkommen bestätigen müssen. Nichts anderes hat Kaiser Friedrich in beiden Fällen zu tun gewagt und tun können. Die Majestätsrhetorik seines Diploms stellt sich damit als leere Form heraus. Die Entscheidung von 1165 kann nicht als Gesetz bezeichnet werden, weil sie die alte karolingische Definition nicht erfüllt, der zufolge lex consensu populi et constitutione regis fit.
§§ 769 – 782. Landfriedensordnungen 1093 – 1235 § 769. Dasselbe Problem geben uns die Landfriedensordnungen des ausgehenden 11. und des folgenden Jahrhunderts auf, hinsichtlich deren bis heute keine Einigkeit darüber besteht, ob wir es bei ihnen mit Gesetzen zu tun haben oder nicht. Denn ein dreiviertel Jahrhundert lang kamen sie in der Form beschworener Einungen zustande, bis endlich Kaiser Friedrich I. ihnen die Form hoheitlicher Gesetze aufprägte oder aufgeprägt zu haben scheint (E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1451 – 1465. H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1465 – 1485. E. Wadle 2001). Aus diesem Befund ergibt sich ein Problem, das solange unlösbar bleiben muß, wie wir nicht wissen, was die Begriffe Einung und Gesetz für die Zeitgenossen bedeutet haben.
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Die Motive, die die Urheber der Landfriedensordnungen zu ihren Maßnahmen bewegten, pflegt man unter dem Namen der Landfriedensbewegung zusammenzufassen. Sie sind einerseits religiöser, andererseits praktischer Natur. Was die ersteren anlangt, so hatte die christliche Mission im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte die Wertschätzung des Friedens auf Erden in den politisch aktiven Gruppen der Bevölkerung so weit gefördert, daß sich die Hausherren um ihres Seelenheils willen freiwillig dazu bereit erklärten, sowohl auf Blutrache, Fehde und andere Formen eigenmächtiger Rechtshilfe als auch auf Aneignung fremder Fahrhabe nach Strand- oder Grundruhrrecht zu verzichten, obwohl sie nach Volksrecht dazu befugt und wegen Schwäche der Gerichtsgewalten oft genug auch gezwungen waren, sich dieser Rechtsmittel zu ihrem Schutze zu bedienen. Vorkämpfer der religiösen Friedensbewegung waren diejenigen Geschlechter, die seit jeher den Kirchen Söhne und Töchter als Stiftsherren, Mönche, Kanonissen, Äbte, Äbtissinnen und Bischöfe opferten und im 11. Jahrhundert durch Stiftung reformwilliger Kirchen und Klöster die Kirchenreform (oben: §§ 435, 549) unterstützten, obwohl sie dadurch in Gegensatz zur Politik König Heinrichs IV. traten. Für sie bedeutete es die Erfüllung einer heiligen Pflicht, sich unter Eid zum Verzicht auf Eigenmächtigkeiten und zum friedlichen Austrag von Rechtsstreitigkeiten vor Gericht zu bekennen (MGH. Const. 1, 602 – 609 n. 424 – 426. J. Gernhuber 1952 S. 116 f. Oben: § 456). Zweifellos wollten die Urheber der Landfriedensordnungen diese Bereitschaft mit den Mitteln des weltlichen Rechts bestärken. Vielfach nimmt man daher an, die Friedensordnungen hätten vor allem die ritterliche Fehde bekämpft, ungeachtet dessen, daß sie begannen, Totschlag, Raub, Brandstiftung und Diebstahl von ihr zu lösen und auch als selbständige Delikte unter Strafe zu stellen (E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1460. H. Holzhauser in HRG 2 Sp. 1469). Hierher gehört auch die Meinung, die Strafnormen hätten sich weniger an die potentiellen Rechtsbrecher als an die zur Strafverfolgung aufgerufenen Amtleute, als Bischöfe, Herzöge, Grafen, Markgrafen, Rektoren, und speziell an den Adel bis herab zu den schöffenbaren Freien gerichtet, die als Gerichtspersonen durch die Landfrieden dazu angehalten werden sollten, die Täter von Amts wegen zu verfolgen und nach neuem Recht zu bestrafen (H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1470). Eher praktische Motive mögen der Landfriedensbewegung den Beifall des einfachen Volkes zugewandt haben, dessen Glaubenswissen weniger weit fortgeschritten war als das des Adels und dessen Friedensbedürfnis sich eher aus dem Interesse des Landwirts, Handwerkers und Kaufmanns an ungestörter Verrichtung seiner Arbeit nährte. Diesem praktischen Interesse verlieh der zunehmende Bedarf des Reiches und der Landesherren an Geldsteuern (oben: §§ 329, 627) seit dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts ein politisches Gewicht, wie man es in früheren Jahrhunderten noch nicht gekannt hatte. Daher riefen die Friedensordnungen nicht nur die Gerichtspersonen, sondern auch die Allgemeinheit zur Verfolgung von Straftätern auf, und als solche faßten sie nicht die haus- und erbgesessenen freien oder unfreien Bauern und Bürger, sondern das anonyme Gewohnheitsverbrechertum
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von reisigen Knechten und entwurzelten Rittern auf, das man in Süddeutschland unter dem Begriff der schädlichen Leute zusammenfaßte (H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1470, 1475). § 770. So dürften in erster Linie die einst unfreien und jetzt rascher denn je zur Neufreiheit emporsteigenden Leute, die sich auf dem Lande und in den Städten lebhaft vermehrten, mit ihren wesentlich ökonomischen Interessen dafür verantwortlich gewesen sein, daß sich mit der Landfriedensbewegung auch eine neue Auffassung des Strafrechts allgemein durchsetzte. Zu den Merkmalen des älteren Strafrechts, die wir aus den fränkischen Volksrechten kennen, gehören sowohl die Schwäche oder Passivität des Gerichtes, welches das Verfahren nicht selber führte, sondern die Herrschaft über den Prozeß den Parteien überließ (oben: §§ 67 – 70, 308), als auch das Recht des nicht auf handhafter Tat ergriffenen Missetäters, sich durch Leistung von Schadenersatz an den Kläger von der blutigen Bestrafung für seine Untat loszukaufen (oben: §§ 62, 105 – 110). Nach diesem alten Recht stand es im Belieben der Geschädigten, ob sie auf die Rache am Totschläger oder Mörder ganz verzichten wollten, wenn sie die Kosten scheuten, die ihnen seine Vorladung vor Gericht, seine Überführung und schließliche Exekution verursachten, oder ob sie ihn deswegen mit eigenmächtiger Fehde verfolgen oder aber ihn vor Gericht bringen wollten, und in diesem Falle: ob sie ihn auf Sühneleistung oder auf Erduldung einer blutigen Strafe verklagen wollten. Vergebens hatte das Königtum bis dahin versucht, das Schadenersatz- und Bußrecht der Parteien zurückzudrängen und die Gerichte zu aktiver Verfolgung der Übeltäter anzuhalten, sobald sie von einem Verbrechen erfuhren, ohne daß ein Kläger auftrat. Nicht mehr hatte es erreicht, als daß ihm die Parteien einen Teil der gezahlten Sühne als Friedensgeld überlassen mußten. Die Gerichtsherrschaft war damit zur Quelle von Einnahmen für Grafen und Immunitätsherren geworden, und dies namentlich für die letzteren, da sie von Tätern, die einen ihrer Hintersassen verletzten oder töteten, beides fordern konnten, sowohl das Friedensgeld als auch die Buße. Aus den Immunitätsprivilegien, deren Formular die Kanzlei Kaiser Ludwigs des Frommen geschaffen hatte (oben: §§ 361, 362), geht hervor, daß die Hochgerichtsbarkeit der Immunitäts- oder Vogtgerichte bis ins 11. Jahrhundert hinein nicht Kriminal-, sondern Sühnegerichtsbarkeit war, und dasselbe haben wir von der Gerichtsbarkeit der Grafengerichte anzunehmen (oben: §§ 321, 322a). Diejenigen, die sich weder eine kostspielige Verfolgung von Missetätern leisten noch, wenn sie selbst wegen einer todeswürdigen Untat beklagt wurden, den geforderten Blutpreis erschwingen konnten, haben wir vor allem in der un- und neufreien Bevölkerung zu suchen, die nicht von ihrer täglichen Arbeit abkömmlich war und mit dieser kaum mehr erwarb als das zum Leben Notwendige. Bis ins 12. Jahrhundert hinein werden daher blutige, d. h. Strafen, die dem Übeltäter an Leib und Leben gingen, im wesentlichen nur bei handhafter Tat, sonst aber gegenüber Unfreien angewandt worden sein. Dies aber änderte sich jetzt: Die Hochgerichte der Grafen und Vögte, die einst Sühnegerichte gewesen waren, begannen seit dem
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11. Jahrhundert, sich in Blutgerichte zu verwandeln (oben: §§ 308, 323b). Sie wandten sich von dem alten volksrechtlichen Sühnestrafrecht ab und gingen dazu über, bei übernächtiger Tat auch gegen wohlhabende und zahlungsfähige Freie eine blutige Strafe zu verhängen. Was einst die Ausnahme gewesen war, das wurde im 12. Jahrhundert zur Regel. Davon zeugt der deutsche Ausdruck peinliche Strafe, der eine sprachliche Neuschöpfung dieser Zeit ist. Das alte Sühnestrafrecht wurde nicht aufgehoben; es blieb in Geltung, aber nur noch selten gestatteten die Gerichte den Parteien, davon Gebrauch zu machen (H. Hattenhauer 1992 S. 318). Nur in Friesland, wo es keine die Gerichte stärkende Landesherrschaft gab, hielten sogar die Landfriedenseinungen noch im 15. Jahrhundert überhaupt an dem volksrechtlichen Bußensystem fest (H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1460 – 1462, 1467 f., 1472). Der letzte beschworene Reichslandfrieden, der noch im Stile einer peinlichen Strafsatzung abgefaßt worden ist, stammt aus dem Jahre 1224. Wenn der Mainzer Reichslandfriede von 1235 keine solchen Strafen mehr festzusetzen brauchte, so beweist dies, daß, wie die Stadt- und Landrechtsquellen der Folgezeit bestätigen, aus dem peinlichen Strafrecht nunmehr gemeines deutsches Volksrecht geworden war. § 771. Insoweit, wie vorstehend beschrieben, besteht in der Wissenschaft im wesentlichen Einverständnis über die Landfriedensbewegung. Die Probleme beginnen jedoch, sobald man sich die Frage nach den Subjekten der strafrechtlichen Entwicklung vorlegt: Wer hat sie in Gang gesetzt, und wie verhält sich dieser Jemand zu den Urhebern der Landfriedensordnungen? Folgten diese der Entwicklung derart nach, daß sie deren jeweils erreichte Stufe lediglich dokumentieren, oder lösten sie sie in der Absicht, ein bestimmtes Reformprogramm Schritt für Schritt zu verwirklichen, überhaupt erst aus? Über die Strafrechtsgeschichte des 12. Jahrhunderts unterrichtet uns außer den Landfriedensordnungen auch eine Reihe von Vogteiordnungen oder Weistümern des Hofrechts bevogteter Kirchen, die, sofern es sich um Reichskirchen handelte, auch als Reichsweistümer vor dem Könige erfragt und von ihm beurkundet werden konnten. Derartige Vogteiurkunden traten jetzt an die Stelle der alten Immunitätsprivilegien, an deren Erwerb (und damit: am Status einer Reichseigenkirche) den neugegründeten sogenannten Reformklöstern nichts mehr gelegen war. Die ältesten Reichsvogteiweistümer ergingen im Jahre 1095 für Echternach (Quellen hg. von L. Weinrich 1977 S. 160 n. 43), im Jahre 1102 / 04 für Prüm (MGH. DH. IV. 476, unten: § 792) und 1104 für das Domstift Augsburg (DH. IV. 482, 484. H. Hirsch 1922 S. 134 – 140). Sie fallen also in dieselbe Zeit wie die ältesten Landfriedensordnungen, und Kaiser Heinrich IV. war der erste deutsche König, der grundsätzlich sowohl zur Frage nach dem rechtlichen Inhalt, einschließlich der strafrechtlichen Befugnisse, der Kirchenvogtei als auch zur Frage des Landfriedens und seines strafrechtlichen Schutzes hat Stellung nehmen müssen. Nach herrschender Lehre war die Landfriedenspolitik ein Werk der Reichsregierung und ein Teil der Staatsreform, die König Heinrich IV. nach dem Zusammenbruch der alten Reichskirchenverfassung eingeleitet hätte, um dem Königtum we-
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nigstens die Gerichtshoheit über die seinem Willen sonst weitgehend entzogenen kirchlichen Territorien zu erhalten (oben: § 323a). Insbesondere habe diesem Zwecke die Absicht der Friedensordnungen gedient, die Verfolgung der schweren Verbrechen von dem Willen der Geschädigten unabhängig zu machen, d. h. sie in die Hand der Gemeinschaft oder des Staates zu legen. Denn alle Friedensordnungen setzten voraus, daß die Ahndung jener Missetaten nicht nur im Interesse der verletzten Partei, sondern auch in dem der Gesamtheit läge und daher von ihr unterstützt oder gar betrieben werden sollte, kränkten doch die Täter als Räuber und Mörder nicht nur ihre Opfer, sondern als Friedensbrecher auch die Gemeinschaft des Landes. So habe das Reich allmählich zur Definition des Landfriedensbruchs als eines Verbrechens gefunden, welches das ältere Strafrecht noch nicht gekannt hatte. Die Friedensordnungen ersetzten den Frieden, den seit jeher der einzelne genoß und den zu wahren jedes einzelnen eigene Sache war, durch einen höheren und allgemein gültigen Frieden, der jeden Verletzten anwies, das Gericht des Landes anzurufen, ohne selbst etwas unmittelbar gegen den Täter zu unternehmen. Ja, es gelang ihnen noch mehr: Die äußerste Form privater Rachenahme wurde als Todesstrafe nun zu dem vornehmsten Rechtsmittel, mit dem die öffentliche Gewalt gegen Rechtsbrecher vorging. Hierzu baute sie das Verfahren bei handhafter Tat, das seit jeher zur Bestrafung des Täters mit dem Tode geführt hatte, weiter aus und wandte es auch auf die Übeltaten nicht handhaft ergriffener Verbrecher an. Unter dem Einfluß der allgemein gültigen Strafandrohungen für Landfriedensbruch, die spätestens seit 1152 Freie und Unfreie betrafen, wurde die kriminelle Behandlung der Straftäter allmählich eine Forderung, die die Allgemeinheit erheben sollte (H. Hirsch 1922 S. 152, 234). § 772. Dieser Beschreibung ist zwar im wesentlichen zuzustimmen, es bleibt jedoch die Frage, ob die Könige ihre Landfriedenspolitik mit den Mitteln der Gesetzgebung haben betreiben können oder ob sie sich darauf beschränken mußten, in Erfüllung ihres eigentlich politischen Amtsauftrags das Gemeinwohl zu erkennen und die gemeine Willensbildung dem entsprechend anzuleiten. Die Mehrzahl der Rechtshistoriker, die der ersteren Meinung anhängt, begründet dies damit, daß die Reichslandfrieden zwar „ihre Kraft auch aus der Beschwörung der Untertanen ziehen, aber aus einer befohlenen, deren Verweigerung selbst wie Landfriedensbruch bestraft wird, worin sich gerade der Gesetzescharakter der Landfrieden zeigt“ (H. Mitteis 1944 S. 44. Th. Mayer 1939 S. 473. H. J. Berman 1991 S. 754. O. Engels 1991 S. 537 f.). Am schärfsten hat Joachim Gernhuber (1952 S. 69) den Zirkelschluß angeprangert, in dem sich verfängt, wer die Geltung der Landfriedensordnungen aus den Eiden der Untertanen herleiten will: Der Eidesunwillige werde nach einer Norm bestraft, die doch für ihn noch gar nicht verbindlich sein könne, solange er den Eid auf sie nicht geleistet habe. Vor allem daraus hat Gernhuber (S. 60 f., 116 f.) den Schluß gezogen, daß die Landfriedensordnungen nicht erst seit 1152, sondern von Anfang an Gesetze gewesen seien und daß der Eid nicht die Untertanenpflicht begründe, ihnen zu gehorchen, sondern die Christenpflicht anerkenne, ein friedliches Leben zu führen.
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Allgemeinen Beifall hat diese Auffassung nicht gefunden. Zu eindeutig setzt sie den Gesetzesbegriff des spätrömischen und frühneuzeitlichen Absolutismus voraus, der bereits den bloßen, formgerecht geäußerten Willen des Herrschers zum allgemeinen Gesetz erklärte, gleichsam als ob die Banngewalt des fränkisch-deutschen Königs mit dem römischen Imperium vergleichbar gewesen sei und als Quelle eines vom Volkswillen unabhängigen Amtsrechts in Betracht käme (oben: §§ 763, 766). Diesem Irrtum freilich leisten die Landfriedensordnungen insofern selbst Vorschub, als sie erst seit 1235 den Konsens der Fürsten als Voraussetzung für das königliche Geltungsgebot ausdrücklich erwähnen; daher könnten die Landfriedensordnungen Kaiser Friedrichs I., die von einem Konsens nichts wissen, mit einem gewissen Recht als „hoheitliche Landfriedensgesetze“ (H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1477) aufgefaßt werden, die allein der Wille des Herrschers in Kraft gesetzt habe. Allerdings kamen auch die Zweifler nicht über Gernhubers Lehre hinaus, weil sie nicht imstande waren, den verworfenen Gesetzesbegriff durch einen zutreffenden zu ersetzen. „Formal gesehen waren die Landfriedensgesetze entweder Einungen oder Gesetze . . . , je nachdem, ob eine stärkere Königsgewalt Landfriedensgesetze erlassen konnte, oder der in erster Linie betroffene und verantwortliche Hochadel sich freiwillig zur Wahrung des Landfriedens durch Vertrag zusammenschloß. Die Geschichte der Landfriedensgesetze zeigt hier keine einheitliche Linie . . . Regelmäßig wurde der Landfrieden beschworen. Bei der Einung ist dies selbstverständlich, aber auch bei Gesetzen wurde darauf selten verzichtet. Häufig schwor zuerst der Hochadel und war verpflichtet, den Landfrieden dann von seinen Untergebenen ebenfalls beschwören zu lassen“ (E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1460). Die Schwörenden seien zwar anfangs Genossen einer Landfriedenseinung gewesen, seit 1152 jedoch sei der Eid nicht (mehr) Voraussetzung für die Unterworfenheit unter das neue materielle Recht, sondern Konsenseid gewesen, durch den die hohen Reichsamtleute sich dazu verpflichteten, es als Richter anzuwenden: Dies und so die Durchsetzung des neuen materiellen Rechts habe der König durch den Landfriedenseid sicherstellen wollen. „Somit beruhte die Strafbarkeit auch eines Täters, der den Frieden beschworen hatte, nicht grundsätzlich auf dem Gedanken des Eidbruchs . . . Das kann jedoch nicht heißen, daß der dem gesamten Inhalt des Friedens geltende Eid auf die sekundären Verfolgungspflichten zu beschränken sei, und zwar um so weniger, je höheren Standes der Schwörende war. Gegenüber Höhergestellten, weniger einer Gerichtsgewalt Unterworfenen als diese Besitzenden, konnte das Strafrecht nicht heteronom durchgesetzt werden, sondern mußte der Gedanke einer Verwillkürung der Straffolge zu Hilfe genommen werden“ (H. Holzhauer in HRG 2 Sp. 1470 f.). Die Widersprüchlichkeit dieser Auffassungen ist nicht zu übersehen. Denn Einungsrecht war stets Willkürrecht, das man vom Gesetzesrecht und dessen Auslegung im Reichshofgericht sorgsam unterschied (oben: §§ 195, 196, 218, 244). Hält man andererseits am Recht des Königs fest, ohne Konsens der Großen Gesetze zu geben, und leitet man dieses von seiner Banngewalt oder Amtsvollmacht ab,
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so bleibt die Frage: Warum mußte der König sein Gesetz beschwören lassen, wo sich doch die Untertanen bereits dadurch, daß sie dem erwählten König huldigten und ihn bevollmächtigten, dazu verpflichtet hatten, seinen rechtmäßigen Geboten zu gehorchen (oben: §§ 749, 752)? Von Konsenseiden hören wir denn sonst auch nur dann, wenn der König von den Untertanen freiwillige Leistungen, wie die Heerfolge nach Italien, erheischte, die nicht bereits durch seinen Amtsauftrag sanktioniert waren. Schließlich ist die Behauptung, die Friedenspflicht habe in erster Linie den Hochadel betroffen, mit dem Zeugnis über die Allgemeinheit der Eidespflicht nicht zu vereinbaren. Über den Sinn des Begriffs Gesetzgebung besteht also wenig Klarheit. Denn als Definition kann es nicht gelten, wenn wir hören: „Ein Hauptgegenstand der königlichen Gesetzgebung war der Reichslandfriede; er wurde 1103 noch mündlich beschlossen und nur als Bericht überliefert, aber schon 1152 erstmals in urkundlicher und damit gesetzlicher Form verfaßt . . . Andere königliche Gesetze betrafen die Testamentserrichtung (1165), die Korrektion des Rheinstroms (1165) und die Grundruhr (1196) . . .“ (K. Kroeschell und A. Wolf in LMA 4, 1988, Sp. 1394 – 1396). Denn die urkundliche Form kann kein treffendes Kriterium sein, wenn sie so verschiedene Dinge wie einerseits den kraft königlicher Hoheit gebotenen Landfrieden von 1152 und das Gesetz über die Grundruhr von 1196, andererseits aber die drei Reichsweistümer von 1165 (MGH. DF. I. 492, 496, 497. Urk.regesten S. 303 ff. n. 390, 392, 393; oben: § 766) unter einen und denselben Begriff zu bringen vermag. Bis auf den heutigen Tag ist unklar und strittig, was im Mittelalter ein Gesetz gewesen ist und wie es sich zum überkommenen Volksrecht verhielt (E. Wadle 2001 S. 33 – 37). § 773. Ebenso problematisch ist der Begriff der Einung, dessen sich J. Gernhuber (1952 S. 60 f.) bedient, um zu zeigen, daß die Landfriedensordnungen nicht darunter subsumiert werden können. Gernhuber verwirft die Auffassung, in der Friedensfrage hätten sich die Menschen, anstatt der autoritativen Rechtsetzung eines über ihnen stehenden Verbandes gehorchen zu müssen, freiwillig den neuen Normen unterworfen, indem er sie als eine Vertragstheorie begreift, die zwar „den Geltungsgrund der Landfrieden grundsätzlich in einer Selbstverpflichtung des einzelnen sieht, insofern aber öffentlichrechtlich denkt, als sie die Selbstverpflichtung grundsätzlich nicht in das Belieben des einzelnen stellt, sondern durch eine allgemein verbindliche Anordnung zur Selbstverpflichtung kraft der königlichen Banngewalt deckt.“ Wie aus dem darin enthaltenen Gegensatz zwischen öffentlichrechtlichem Gesetz und privatrechtlichem Vertrag erhellt, entstammt Gernhubers Begrifflichkeit der Korporationstheorie des gelehrten römisch-kanonischen Rechts, welches genossenschaftliche Verbände nur als Produkte privater Rechtsbeziehungen zwischen den Genossen denken konnte und daher das Vorhandensein selbständiger, von denen jedes einzelnen Teilnehmers verschiedener und folglich ihm gegenüber hoheitlicher Rechte der Gemeinheit verneinte. Gerade diese Verbandsrechte aber kenn-
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zeichnen das germanische Einungswesen (oben: §§ 168, 169, 171, 186, 192 Abs. 3, 239, 251, 255. E. Pitz 2001 S. 24 – 27). Alle Schwierigkeiten, meine ich, lösen sich auf, sobald wir der Beurteilung der Landfriedensordnungen einerseits die alte karolingische Definition des Gesetzes: lex consensu populi et constitutione regis fit (oben: § 760), und andererseits die Regeln des germanischen Einungsrechts (oben: Sechstes und Siebtes Kapitel) zugrundelegen. Denn der westfränkische König, der im Jahre 864 die Definition aussprach, hatte damit sinngemäß erklärt: Selbst wenn der Gesetzgeber eine volksrechtliche Norm lediglich neu interpretierte, brauchten die Franken seinem Mandat nur und erst dann zu gehorchen, wenn sie das neugefaßte Gesetz beschworen haben würden, und noch ein halbes Jahrtausend später hielt es der Reichsgesetzgeber für nötig, seine Interpretation des Königswahlrechts von den Untertanen beschwören zu lassen (oben: §§ 729, 749). Ich kann dafür nur einen Grund erkennen: Selbst secundum legem ergehende Gesetze verpflichteten offenbar niemanden zum Gehorsam, der nicht freiwillig und eidlich dazu bereit war, der hergebrachten Auslegung seines Volksrechts zu entsagen und im Streitfall auf die Einrede zu verzichten, das Gesetz sei contra legem ergangen und daher ungültig. Selbst wenn man daraus nicht den Schluß ziehen wollte, daß alle Volksgesetze ursprünglich einmal durch Einung der Rechtsgenossen entstanden seien (oben: § 761), beseitigt diese Erklärung der Eidespflicht doch den Gegensatz zwischen königlichem Gebotsrecht und völkischem Einungsrecht, da der König nur als erkorenes und vollmächtiges Haupt einer herrschaftlichen Einung gebieten konnte und alle partikularen freien Einungen den Vorrang seines Gebotes anerkennen mußten. Beide Formen der Einung konnten einen Gebietsbezug erwerben (oben: §§ 168, 202, 203, 207) und sodann alle freien Einwohner dieses Gebietes entweder zum Beitritt zwingen oder ausweisen (oben: §§ 162b, 202, 204); es bedurfte also keines außer- und überverbandlichen Zwanges, damit Friedenseinungen von einer Minderheit der Bewohner des befriedeten Gebietes den Beitrittseid verlangen konnten. Die Frage, ob Landfriedenseide das Friedensrecht begründeten oder lediglich anerkannten (R. Scheyhing 1968 S. 156 f.), kann nur im ersteren Sinne beantwortet werden. Was aber das Landfriedensrecht betrifft, so steigerten sich alle Schwierigkeiten, vor denen der Gesetzgeber stand, sobald er tiefer in die Volksrechte eingreifen mußte, weil er sein Ziel nicht mehr durch Auslegung alter Gesetze, sondern nur noch durch deren Kassation erreichen konnte. Vom Standpunkt der Volksrechte aus betrachtet, ergingen die Friedensordnungen eindeutig contra legem. Dies war auch dem Gesetzgeber bewußt, denn er reagierte darauf mit einer Vorschrift, die die Forschung unbeachtet zu lassen pflegt: Er verfügte nämlich ihre Befristung. Immerhin ist bereits anerkannt worden, daß zwischen dieser Maßnahme und der allmählichen Fortbildung des beschworenen Landfriedensrechts zum dauernd gültigen Volks- oder Gesetzesrecht ein Zusammenhang besteht (H. Krause 1958 S. 226, 230).
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Wenn die beschworenen Friedensordnungen an einem bestimmten Tage in Kraft treten und an einem ebenso genau über mehrere Jahre hinweg im voraus bestimmten Tage wieder erlöschen sollten, so begründeten sie einen Ausnahmezustand, nach dessen Ende der gewöhnliche volks- oder landrechtliche Friedenszustand wieder aufleben sollte, der alle Arten von eigenmächtiger Rechtshilfe und Fehde duldete. Ich kann mir dies nur damit erklären, daß die Vorkämpfer der Landfriedensbewegung bei den Depositaren des Volksrechts auf Widerstand stießen und, weil sie zugeben mußten, daß niemand dazu befugt war, nach Volksrecht gültige Gesetze aufzuheben, in den Kompromiß einwilligen mußten, das neue Friedensrecht zunächst als befristetes Ausnahmerecht in Geltung zu setzen. Wieder einmal stehen wir vor der Tatsache, daß sich das Volksrecht gegen jede Revision zur Wehr setzte, der es fromme Männer nach dem Maßstabe christlicher Moral und des kanonischen, oder später: des altrömischen Kaiser- und Majestätsrechts unterwerfen wollten. Nicht umsonst beklagte Kaiser Friedrich II. im Vorspruch zu dem Landfriedensgesetz von 1235 aufs heftigste den Widerstand, den seine Untertanen und deren althergekommene Rechtsgewohnheiten der Einführung rational begründeten und schriftlich fixierten, d. h.: gelehrten Gesetzesrechts entgegenstellten (MGH. Const. 2, 241 n. 196. H. Hattenhauer 1992 S. 269 f.). Aus solcher Hartnäckigkeit der Volksgerichte wird es sich erklären, daß Nachweise für die Anwendung der Landfriedensordnungen so gut wie vollständig fehlen (E. Wadle 2001 S. 81). Wir werden damit rechnen müssen, daß wohl nicht jede Friedensordnung in ihrem Gebiete so viele Schwurgenossen hat mobilisieren können, daß eine Mehrheit jeglicher Eidesverweigerung und dem, was sie zum Friedensbruch erklärte, wirksam begegnen konnte. § 774. Jedenfalls ist die religiöse Friedensbewegung, aufs ganze gesehen, so gut wie wirkungslos geblieben, war doch erst der seit dem Spätmittelalter ins Leben tretende obrigkeitliche Behörden- und Steuerstaat im 16. Jahrhundert imstande, ihre Ziele durchzusetzen. Bis dahin standen alte und neue Rechtsansichten nebeneinander, erhielten sich sowohl bedeutende Reste des Bußenstrafrechts und die Ablösbarkeit der peinlichen Strafe durch Geldzahlungen, war weder ein vollkommenes Verbot der Fehde durchführbar noch die Befristung der Friedensordnungen zu überwinden. Zum ersten Male wagte es der Reichsgesetzgeber im Jahre 1495, den ewigen Landfrieden mit absolutem Verbot der Fehde und Selbsthilfe zu verkünden (H. Hirsch 1922 S. 152. E. Kaufmann in HRG 2 Sp. 1461 f., 1464). Nur eine einzige Ausnahme von der Unwirksamkeit der älteren Friedensordnungen läßt sich feststellen, nämlich die im Verlaufe einiger Generationen erreichte weitgehende Durchsetzung peinlicher Strafen für alle schweren Verbrechen ohne Rücksicht auf Rang und Stand des Täters. Dieser Erfolg aber ist weder dem Willen der Reichsregierung noch dem der Edelherren und Dynasten, die sich für die religiöse Friedensbewegung einsetzten, sondern dem Willen und praktischen Friedensinteresse des Volkes zuzuschreiben. Die ältesten, noch während des Investiturstreits hervortretenden Friedenseinungen nämlich waren die Stadt- und Landgemeinden, die sich als Einungen von
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den Gerichtsgemeinden abspalteten und ihre Angelegenheiten nach Einungsrecht selbst verwalteten. Beherrscht von neufreien Landwirten und Gewerbeleuten, richteten sie die erneuerbare, d. h. nicht absolut für ewige Geltung gedachte gewillkürte oder gesetzte Gemeindeordnung auf den gemeinen Nutzen und beschworenen Frieden der Genossen untereinander aus (oben: §§ 234, 236). Die Handhabung des Friedens aber entzogen sie dem herrschaftlichen Gericht und übertrugen sie derart auf die Kommunalbehörde, daß die Schöffen entweder allem Einfluß auf sie entsagen oder aber ihr beitreten und dann ihren Rechtsauffassungen in der gerichtlichen Urteilsfindung nachkommen mußten (oben: §§ 249 – 252). Nicht das Interesse des Adels, soweit er von der religiösen Friedensbewegung erfaßt worden war, sondern das der neufreien Bevölkerung, die über die Zwecke der Selbstversorgung und Dienstbarkeit hinaus für den Absatz ihrer Erzeugnisse auf dem Markte zu arbeiten begann, ist es gewesen, was die Schöffengerichte im Verlaufe des 12. Jahrhunderts in Blutgerichte verwandelt und die Buß- und Wergelder hinter den peinlichen Strafen hat zurücktreten lassen. Denn vor allem den Neufreien fehlte es an der Muße und den Hilfsmitteln, deren einer bedurfte, um sich selbst zu rächen. Vor allem sie waren bereit, ihren Strafanspruch an die beschworene Friedenseinung abzutreten und Verbrecher, von denen sie an Leib und Gut geschädigt wurden, als Mörder und Räuber anzusehen und auf eine blutige Strafe anstatt auf Schadensersatz zu verklagen, den die Täter ohnehin kaum noch aufzubringen vermochten, wenn die Gemeinde die Geldsumme zum Schutze ihres Friedens nur hoch genug ansetzte. Um dies alles zu erreichen, war keine Änderung des mündlich überlieferten Volks- oder Landrechts und seiner Gesetze erforderlich, sondern lediglich eine andere Auslegung. Der Gesetzgeber brauchte daher nicht tätig zu werden, und wenn er tätig wurde, so konnte er nicht mehr tun, als durch Konsens der Großen und Sanktion des Königs zum Gesetz zu erheben, was die Depositare des Volksrechts ihm als richtiges Recht wiesen. Die Großen nämlich: das waren die Gerichtsherren, die die Strafurteile von Schöffen erfrugen, welche selbst den Friedenseinungen angehörten und daher von der Rechtmäßigkeit des peinlichen Strafens durchdrungen waren. Zweifellos handelten die nobiles terrae Coloniensis nach ihrem Willen, wenn sie sich seit 1080 in einem genau umgrenzten weiträumigen Gebiete auf den Erzbischof von Köln als ihr Oberhaupt und auf gemeinsame Landstandschaft und Friedenswahrung einigten (oben: § 456). Wäre diese praktische Friedensbewegung nicht von unten her den Fürsten und dem König entgegengekommen, so hätte der Gesetzgeber für sich allein das neue Strafrecht niemals durchsetzen können, fehlten ihm doch alle Hilfsmittel, um so vielen Tausenden von Klägern und Urteilsweisern in unendlich vielen lokalen Friedens- und Gerichtsgemeinden seinen Willen aufzuzwingen. Für sich allein wäre ein Gesetzgeber machtlos gewesen, mochte er sich auch noch so beredt auf christliche Moral und römisches Kaiserrecht berufen. Nur soweit sie von den praktischen Interessen und davon geprägten Rechtsauffassungen des Volkes ausging, und nur soweit sie die Friedensgerichtsbarkeit von unten her aufzubauen verstand,
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konnte die Landfriedensbewegung erfolgreich sein. Von oben her ließ sich auch im staufischen Kaiserreich noch immer kein Staat erbauen. § 775. Wegen der Wichtigkeit und Schwierigkeit des Themas erscheint es mir geboten, diese Annahmen an Hand wichtiger Quellen wenigstens vorläufig zu überprüfen. Der der Kirchenreform zugetane Priester und Chronist Bernold von Konstanz berichtet zum Jahre 1093, auf einer Versammlung, die sein Bischof mit den Herzögen Welf von Bayern und Berthold von Schwaben zu Ulm abhielt, hätten Herzöge und Grafen, Edel- und Neufreie (tam maiores quam minores) geschworen, vom 25. November an bis auf Ostern über zwei Jahre, also bis zum 13. April 1096, einen unverbrüchlichen Frieden einzuhalten, und jeder einzelne der beteiligten Fürsten habe in seinem Amtsbezirk diesen Frieden von jedermann beschwören lassen, hanc pacem singuli principes qui convenerunt, unusquisque per potestatem suam usquequaque iurare fecerunt (Bernold S. 457). Herzog Berthold hatte demnach die nicht nach Ulm gekommenen Grafen des schwäbischen Regnums und jeder Graf die Dingpflichtigen seiner Grafschaft dazu anzuhalten, daß sie ein jeder für sich, aber gemeinsam mit allen anderen den Frieden ebenfalls beschworen. Die Eidesformel ist nicht überliefert. Sie hat zweifellos die Friedenssatzung als persönliches Gelübde, d. h. in der sprachlichen Form der ersten Person Singular, wiederholt (vgl. MGH. Const. 1, 117 n. 68). Den Inhalt der Satzung bildete das Versprechen einerseits jedes einzelnen Schwörenden, Kirchen, Klerikern, Kaufleuten und jedem Eidgenossen Frieden zu gewähren, andererseits der Schwörenden gemeinlich, (1) bestimmte Taten als Friedensbruch zu werten, d. h. als unsühnbar mit blutigen Strafen zu ahnden, (2) die Missetäter gemeinsam, als coniuratores oder exercitus pro communi causa, zu verfolgen, und (3) untereinander Streitigkeiten über Eigenoder Lehngut vor den Häuptern der Schwureinung, apud rectores nostros, gütlich auszutragen (Const. 1, 609 n. 427). Der Begriff rector ist der weltlichen Verfassungs- und Kanzleisprache des frühen und hohen Mittelalters fremd. Er entstammt der Amtssprache der Kirche, wo lat. corrigere die Beurteilung und Besserung eines Verhaltens nach feststehender Regel und das Substantiv rector den dazu Befugten bezeichnete, also den Richter in einem Sinne, der den Volksrechten und Volkssprachen damals noch nicht bekannt war (oben: §§ 307, 308). Entsprechende Vorstellungen vom Richten und von Richter und Gericht drangen erst seit dem 11. Jahrhundert aus dem kirchlichen Vorstellungsbereich in den weltlichen ein, aber immer noch war damit keine sachliche Rezeption verbunden. Denn nur die Kirche konnte lehren, daß jeder Verstoß gegen die Norm von einem eigens dazu bestimmten Vertreter Gottes unnachgiebig und gerecht gerichtet werde; im weltlichen Gericht war dagegen gerade das Urteilen nicht Recht und Aufgabe des als Richter bezeichneten Gerichtsherrn (G. Köbler 1970 S. 111 – 113). Die Landfriedensrichter sollten offenkundig keine ordentlichen Gerichtsherren sein, sondern als Häupter einer Schwureinung eine Gewalt ausüben, die man zunächst nicht als Gerichtsbarkeit verstand.
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Über die verfassungspolitischen Möglichkeiten. die sich vor derartigen friedensund einungsrechtlichen Behörden eröffneten, können uns die Rektoren belehren, die sich später, im Jahre 1167, der lombardische Städtebund vorsetzte. Dieser bis 1252 hin mehrfach erneuerte Bund von Stadtgemeinden stellte einen interkommunalen beschworenen Landfriedensbund dar, eine concordia, societas oder coniuratio et societas, deren Regierung die Städte den Rektoren des Bundes gemeinlich übertrugen. Die Vollmacht der Rektoren war von der Art, daß sie sich einerseits mit der der Konsuln jeder Bundesstadt überkreuzte, andererseits aber die des Königs von Italien und römischen Kaisers in vollem Umfange ersetzen zu können beanspruchte. Nicht an verfassungsrechtlichen, sondern an politischen Schwierigkeiten ist dieser Versuch gescheitert, einen repräsentativ regierten republikanischen Bundesstaat von unten her zu errichten (G. Fasoli 1968 S. 154, 157 f. R. Bordone 1987 S. 51, 56 f.). Wenn sich auch kein deutscher Friedensbund so weitreichende Ziele setzen konnte, mußten doch die etablierten ordentlichen Gerichts- und Landesgewalten die Gefahren verspüren, die von ihm ausgehen konnten. Der schwäbischen Eidesformel zufolge nämlich gelobte jeder Eidgenosse, gewisse Rechte, die ihm das Volksrecht einräumte, während der Friedenszeit und gegenüber den befriedeten Personen nicht ausüben zu wollen, nämlich die Befugnis, (1) mittels Fehde oder eigenmächtiger Pfandnahme eigene Ansprüche gegen sie durchzusetzen, (2) sich auf ihrem Grunde befindliches schiff- oder achsbrüchiges Kaufmannsgut anzueignen, (3) sich mit Friedensbrechern, wenn die Tat übernächtig geworden war, gegen Empfang eines Buß- oder Wergeldes zu versöhnen (oben: §§ 105 – 110), und (4) Klagen wegen Friedensbruchs und liegenden Gutes vor das Grafen- oder Landgericht zu bringen, da diese Gerichte die Täter bei entsprechender Klage nach Landrecht mit Geldzahlung davonkommen ließen und die Inhaber liegender Geweren gegenüber dem wahren Eigentümer begünstigen mußten (oben: § 97). Obwohl die Vereidigung der Landleute in vielen lokalen Versammlungen erst noch durchzuführen war, brauchte man die Eidesformel nicht aufzuzeichnen; alle rechtsfähigen Personen mußten imstande sein, sie auswendig zu lernen und im Gedächtnis zu behalten. Aber wie wir bereits wissen, waren nicht alle freien Männer fromm genug, um sich zu diesem Verzicht auf Rechte, die sie zudem gegenüber unbefriedeten Personen weiterhin anwenden mußten, aus freiem Willen zu entschließen. Die auf Wahrung des Volksrechts amtlich verpflichteten Schöffen und Richter konnten nicht umhin, den Widerspruch zwischen dem Friedenseid und ihrem Amtseid zu empfinden, zu dem jeder von ihnen in seinem Gewissen Stellung beziehen mußte. Bernold bezeichnet denn auch den Beschluß der Ulmer Versammlung ausdrücklich weder als vom Herzog sanktioniertes Gesetz des schwäbischen Regnums noch als einhellig zustandegekommen. Die Eidgenossenschaft des Friedens war nicht identisch mit dem Lande, sondern zwar auf dessen Gebiet bezogen, dies aber als freie Einung (oben: §§ 193 Abs. 6, 218). § 776. Hierzu passend berichtet Bernold (S. 458) zum Jahre 1094 mit deutlicher Anspielung auf die Gebiets- oder Landesherrschaft, die die Herzöge in den jeweili-
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gen Regna oder niederen Dukaten (oben: §§ 449, 450, 456, 525) erstrebten, Herzog Welf habe den Frieden, den er mit dem Herzog und den Fürsten von Schwaben angefangen, iniciavit, auch über (das Regnum) Bayern erstreckt, und auch (die Länder) Franken und Elsaß hätten eidlich beschlossen, in ihren Gebieten den Frieden einzuhalten, aber nur in (dem Regnum) Schwaben gelte der Friede wirklich etwas, weil dessen Fürsten nicht unterließen, ein jeder in seinem Amtsbezirk das Friedensrecht, iusticiam, anzuwenden, was zu tun die anderen Länder, provinciae, noch nicht beschlossen hätten. Vertrauten diese Länder noch auf die Macht der Rektoren, die Beitrittseide der Widerstrebenden zu erzwingen? Wohl nur schwäbische Fürsten scheinen dazu bereit gewesen zu sein, in Friedenssachen auf ihr Amtsrecht als ordentliche Richter zu verzichten und sich statt dessen als Rektoren der Friedenseinung zu betätigen. Gleichwohl jedoch wagten sie es nicht, die herkömmliche Reichsverfassung zugunsten der neuen, im Lichte des Christentums und einer modernen Vorstellung von Gemeinnützigkeit interpretierten Gerichtsbarkeit nach Einungsrecht einfach außer Kraft zu setzen. So ließen sie sich auf den oben beschriebenen Kompromiß ein: Sie erklärten den beschworenen Frieden insofern zum Ausnahmezustand, als sie ihn an Ostern 1096 enden lassen wollten, was nur bedeuten kann, daß von da an die ordentliche Staats- und Gerichtsverfassung wieder in Kraft treten sollte und jedermann die ihm nach Volksrecht zustehenden Befugnisse wieder würde ausüben dürfen. Die Friedenseinungen der (Ost- oder Rhein-?)Franken und der Elsässer scheinen sich noch nicht einmal dies zugetraut zu haben. Sollten sie unwirksam geblieben sein? Ein etwas jüngerer, wohl ins Jahr 1104 gehöriger schwäbischer, vom Herzog und von vielen Grafen beschworener Landfriede sah sich sogar genötigt, den widerspenstigen Verteidigern des Volksrechts Zwang anzudrohen: Wer den Frieden nicht bis zum nächsten Marienfest beschworen habe, sollte mit dem Verlust der (Schwur-)Hand bestraft werden, wenn er nicht mit sieben Zeugen beschwören konnte, von der Errichtung des Friedens nichts gewußt zu haben; wer aber deswegen nicht schwören wollte, weil er mit niemandem Feindschaft hätte, der sollte wie ein Friedensbrecher bestraft werden (MGH. Const. 1, 613 n. 430 c. 5 und 7). Ich suche die Verweigerer nicht unter den alt- oder neufreien Rittern und Bauern, sondern unter den Dynasten: jener Oberschicht der Altfreien, die über Grafen- oder Allodialgerichte oder Kirchenvogteien verfügten und in deren Bezirken selbst nach Landesherrschaft und Reichsunmittelbarkeit strebten. Ihnen konnte nichts daran gelegen sein, als Rektoren von den Friedenseinungen oder gar von den Herzögen abhängig zu werden, die sich zu deren Häuptern erheben ließen. König und Herzog aber waren zu schwach, um sie in die Einungen hineinzuzwingen und damit den um die Neufreien erweiterten Reichsuntertanenverband zugunsten der Reichsgewalt zu stärken. Die Modernisierung des Staates ließ sich nicht mehr im Reiche, sondern nur noch in den Territorien durchführen (H. Hirsch 1922 S. 157. O. von Dungern 1927 S. 68. K. Bosl 1970 S. 776 f.). Ich möchte bezweifeln, daß die schwäbische Friedenseinung jemals einen Eidesverweigerer in der angedrohten Weise hat bestrafen können.
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Der erste das ganze Deutsche Reich umfassende Landfrieden kam auf Betreiben Kaiser Heinrichs IV. am 6. Januar 1103 auf einer Reichsversammlung in Mainz zustande, und zwar so, daß der Kaiser, die Erzbischöfe und Bischöfe, des Königs Sohn und die Ersten des ganzen Reiches, als Herzöge, Markgrafen, Grafen, und viele andere ihn beschworen (Const. 1, 125 n. 74). Die Annalisten sagen zwar von dem Kaiser: pacem in quadriennium constituit, aber trotzdem war es kein kraft königlicher Banngewalt gebotener oder mit Konsens des Reiches gesetzlich vorgeschriebener Frieden. Vielmehr beruhte die Friedenspflicht abermals auf Einungsrecht und dem freien Willen der Frommen, und wiederum nahm sie auf die Unwilligen Rücksicht, indem sie nur für eine Frist von vier Jahren Geltung beanspruchte. Offensichtlich konnte der Kaiser nichts Landrechtswidriges gebieten, sondern lediglich für die Friedensidee werben und den Großen ein Vorbild geben, indem er als erster den Eid leistete und sich als Eidgenosse allen anderen Schwörenden gleichstellte. Wenn sein gewiß noch zeitgenössischer Biograph berichtet: Ut ubique pax et tranquillitas esset, convocatis ad curiam primatibus, pacem per totum regnum sub iuramento firmari fecit, et ad inhibenda mala quae fiebant, gravem poenam in transgressores decrevit (Vita Heinr. IV. c. 8), so ist das Prädikat firmari fecit auf jene Werbung und nicht auf einen förmlichen Reichsbeschluß zu beziehen, und die Aussage poenam decrevit auf Heinrichs persönlichen beschworenen Willen, Friedensbrecher nach dem neuen peinlichem Strafrecht vor den Friedensrichtern anzuklagen. So warb der König genauso für den Frieden, wie der Papst seit 1095 für den Kreuzzug warb, und die Friedenspflicht beruhte auf demselben Rechtsgrunde wie die Kreuzzugspflicht, nämlich auf der eidlichen Selbstverpflichtung desjenigen, der aus religiösen Gründen und um Gotteslohns willen bereit war, sich mit ihr zu beladen. Heinrichs Werbung scheint genug Gläubige erreicht zu haben, um wirksam zu werden, denn der Biograph bemerkt: Quod quidem pacis decretum, quantum miseris ac bonis profuit, tantum perversis et potentibus nocuit. § 777. Unter dem pacis decretum haben wir die Eidesformel zu verstehen, die uns ebenso wie die bayerische von 1094 und die schwäbische von 1104 zwar nicht im Wortlaut, da dieser die Ich-Form erfordert, wohl aber dem Inhalt nach durch eine anonyme und unbeglaubigte Notitia erhalten geblieben ist (E. Wadle 2001 S. 88 – 91). Auf die Gegenwart gekommen sind diese drei Notitien auf einem und demselben Wege, nämlich als Marginalien in Augsburger und Freisinger Handschriften, deren geistliche Eigentümer als friedensbeschützte Personen an ihnen interessiert gewesen sein müssen. Ob den Schreibern bereits schriftliche Fassungen vorlagen, die sie lediglich kopierten, oder ob sie Gehörtes im Gedächtnis bewahrten, bevor sie es niederschrieben, läßt sich nicht bestimmen. Ich nehme das letztere an, weil Einungen im mündlichen Verfahren nicht nur zustandekamen, sondern auch ihre Beschlüsse faßten (oben: §§ 26, 27). Nach den einungsrechtlichen Regeln identischer Willensbildung beruhte die Geltung der Beschlüsse darauf, daß sich die Rechtsgenossen ihnen eidlich im voraus unterworfen hatten, so-
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fern sie in öffentlicher Versammlung und unter Mitwirkung oder doch wenigstens im Beisein aller beraten und gefaßt wurden. Das für alle erkennbare Zeichen gültiger gemeiner Willensbildung war dann gegeben, wenn das Haupt der Versammlung das Ergebnis der Beratungen unwidersprochen, d. h. mit einhelliger Zustimmung der für alle Genossen vollmächtigen Anwesenden zusammenfaßte, bevor sich die Versammelten voneinander verabschiedeten (oben: § 610). Einer Beurkundung bedurfte der Abschied oder Rezeß nicht, denn alle Anwesenden waren seine Zeugen und bewahrten im Gedächtnis, in was sie eingewilligt und wozu sie sich verpflichtet hatten (daher bedurften wie die Einungen überhaupt, so die Fürstengenossenschaften der Regna und des Reiches, oben: § 745, keines eigenen Siegels). Schrieb gleichwohl ein Zeuge oder Protokollant mit, was das Haupt verkündete, so entstand lediglich ein formloses Memorandum oder der Form nach eine anonyme Notitia, die es den Genossen erleichterte, sich an den Inhalt des erzielten Konsenses zu erinnern. Starb aber die Erinnerung aus, auf der dessen Geltung beruhte, so konnte die Notitia sie nie und nimmer ersetzen. Daher war dem Interesse der Augsburger und Freisinger Stiftsherren an den Friedenssatzungen mit den erwähnten Notitien vollauf Genüge getan. Niemals konnten sie auf den Gedanken kommen, die Rechtskraft der Satzung von der Existenz, geschweige denn von der Form der Niederschrift abhängig zu machen. Als vom Herrscher gewünschte, angeregte, beworbene, jedoch nicht befohlene Einungen stellen sich auch die Landfrieden König Lothars III. dar, sowohl der erste, auf sechzehn Monate befristete, den er noch am Tage seiner Wahl und Erhebung erbat und bekanntmachte, sub regiae majestatis obtentu . . . indixit (RI 4, 1, 1 n. 92, S. 53 Z. 37 – 42), als auch der zehnjährige, den er zu Pfingsten 1135 auf einer Reichsversammlung zu Magdeburg zustandebrachte: Zuerst und im Beisein des Kaisers, coram ipso, beschworen die Fürsten des Reiches, hernach alles Volk, sowohl das anwesende als auch die Abwesenden auf ihren Land- und Gerichtstagen, den Frieden, deinde cetera multitudo plebis tam ibi quam per singulas regni partes hec eadem facere suadetur et compellitur (ebd. n. 440). Der Herrscher konnte nicht gesetzlich befehlen, sondern lediglich überreden und den hartnäckigen Anhängern des Volksrechts erklären, daß er sie nicht vor der Verfolgung schützen würde, die ihnen die Friedenseinung androhte, obwohl ihn sein Amtseid dazu verpflichtete, dies zu tun (oben: § 745)! Wieviele partikulare Friedenseinungen die Fürsten in ihren Ländern daraufhin ins Leben zu rufen vermochten, wissen wir nicht. Nichts spricht dafür, daß die Fürsten bei der Königswahl von 1152 die Reichsverfassung umgestürzt und König Friedrich größere Amtsvollmachten erteilt hätten als seinen Vorgängern. Genauso wenig wie diese war Friedrich dazu befugt, dem Volke aus eigener Machtvollkommenheit ein Landfriedensgesetz zu oktroyieren. Die Verfassung zu ändern waren auch die antikurial gesonnenen Gelehrten nicht imstande, die jetzt damit begannen, das Deutsche Reich heiligzusprechen und seinem Oberhaupte die Machtbefugnisse des spätrömischen konstantinischen Kaisertums beizulegen (oben: §§ 255, 256, 593, 594, 695a, 739). Die Chronisten
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fahren denn auch fort, in der seit 1093 üblichen Weise über die neuen Landfriedensordnungen zu berichten. So meldet Isengrim von Ottobeuren zu dem Hoftag, den Friedrich am 25. Juli 1152 in Ulm abhielt: ubi ab eodem astipulantibus principibus firma pax facta est (Ann. Ottenb. S. 313 Z. 33 – 34). In der Satzaussage ist der uns geläufige Ausdruck pacem iurari fecit enthalten, und aus der Zustimmung (L. Diefenbach, Glossarium 1857 S. 56) der Fürsten möchte ich schließen, daß sie es waren, die dem König die in Schwaben in einem halben Jahrhundert friedensrechtlicher Praxis geschaffene Eidesformel gewiesen haben. Aus anderen Quellen erfahren wir, daß sich die Laienfürsten dort auch mit dem Strafverfahren befaßten. Sie beschlossen nämlich, daß bei der Bestrafung von Raub und Brandstiftung auf kirchlichen Gütern der weltliche Rechtsspruch der bischöflichen Exkommunikation vorauszugehen habe (RI 4, 2, 1 n. 110). Wahrscheinlich hat Friedrich den Landfrieden noch in seiner Eigenschaft als Herzog von Schwaben (H. Maurer 1978 S. 273) beworben und als erster beschworen; auch hat er ihn (dort) energisch mit viel Blutvergießen, Erhängen und Verbrennen von Kirchen und Burgen vollstreckt (Ann. Ottenb. a. 1154. H. Hirsch 1922 S. 155). § 778. Wohl auf demselben schwäbischen Hoftage zu Ulm ließ König Friedrich im Juli oder August 1152 einen Aufruf zum Landfrieden in allen Teilen des Reiches ergehen (MGH. DF. I. 25. RI 4, 2, 1 n. 125). Dieser nicht im Original, sondern nur abschriftlich und ohne Schlußprotokoll und Datum überlieferte Aufruf ist das älteste uns bekannte amtliche, in der Reichskanzlei bearbeitete Dokument, das sich mit dem Landfriedensrecht befaßt. Es besteht aus zwei Teilen, nämlich aus dem Eingangsprotokoll (Intitulatio, Inscriptio) nebst Arenga und Narratio und aus der Friedenssatzung. Der Inscriptio zufolge wandte sich der – nach dem Vorbilde Konrads III. (oben: § 695a) bereits mit dem Kaisertitel ausgezeichnete – König mit einem Sendschreiben an die hohen Amtleute, die er als Landfriedensrichter anredete und betrachtete: episcopis, ducibus, comitibus, marchionibus rectoribus, ad quos littere iste pervenerint. Der dem Reichsrecht fremde Begriff rectores ist an dieser Stelle zweifellos als Apposition zu den vier vorangehenden Amtsbezeichnungen zu verstehen, war es doch im Herzogtum Schwaben seit jeher üblich, Landesherren und ordentliche Richter mit der außerordentlichen, weil im Einungsrecht begründeten Amtsgewalt der Rektoren zu betrauen. In der Friedenssatzung, die den Begriff rector nicht verwendet, erscheinen iudices und comites, denen die Fürsten vorgesetzt waren, entweder als ordentliche königliche Richter oder als volksrechtliche Notrichter, die das Friedensrecht in ihren Amtsbezirken zu vollstrecken hatten. Wenn Friedrich den Aufruf unter Berufung auf seinen Amtsantritt ergehen ließ: quoniam . . . solium regiae maiestatis conscendimus, so folgte er damit dem Beispiel seiner Vorgänger; ebenso hatte König Lothar im Jahre 1125 sub regiae maiestatis obtentu gehandelt. Damit göttliche und menschliche Gesetze, leges, in Kraft blieben und in der Absicht, sowohl Kirchen als auch geistliche Personen zu schützen, wollte der König jedermann sein Recht, ius suum, bewahren und aus königli-
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cher Autorität ansagen, daß in allen Teilen des Reiches Friede zu halten sei, pacem . . . toti terrae necessariam per universas regni partes habendam regia auctoritate indicimus. Wie es aber mit dem Frieden zu halten sei, sollte die folgende Ordnung den Adressaten erklären, qualiter autem eadem pax tenenda sit et servanda, in subsequentibus evidenter declarabitur. Wie man sieht, ist der Kanzleinotar Heribert, der diesen ersten Textteil des Sendschreibens diktiert hat, dem Sprachgebrauch der Annalisten gefolgt, die sich ihrerseits offenbar von Anfang an die Rechtssprache der Friedenseidgenossen angeeignet hatten. Seit jeher hießen der Friede und die Friedensordnung pax, seit jeher pflegte man vom König zu sagen: pacem constituit, pacem sua manu firmavit et instituit, pacem per totum regnum sub iuramento firmari fecit, und nannte man die Eidesformel pacis decretum. Nichts deutet darauf hin, daß König Friedrich im Jahre 1152 anders verfahren konnte und wollte als seine Vorgänger, weil er etwa nach Kaiserrecht dazu befugt gewesen wäre, für sich allein dem Reiche ein Gesetz zu geben und aus kaiserlicher Hoheit den Frieden zu gebieten (E. Wadle 2001 S. 95 – 97). Zwar läßt Heribert den König allein zu den Fürsten reden, ohne des Beirats und Konsenses der Großen zu gedenken, aber da sein Sendschreiben, littere iste (von lex oder edictum ist keine Rede) nicht von einer Reichsversammlung, sondern von einem schwäbischen Hoftage aus erging, konnte gar kein Fürstenrat dasein und etwa das Reich zu Worte kommen lassen. Wenn schließlich der König nicht als Herrscher gebieten, sondern lediglich als christlicher Fürst ermahnen und werben wollte, so war dazu der Beirat des Reiches auch nicht erforderlich. Weil es sich von selbst verstand, brauchte Heribert auch nicht zu erwähnen, wozu der König aufrief und daß der Aufruf, um wirksam zu werden, auf den Eifer der Fürsten angewiesen war, in ihren Reichsteilen und Ländern Friedenseinungen zu errichten und mitsamt ihren Untertanen diese zu beschwören. Zweifellos blieb es solchen regionalen Einungen überlassen, sowohl ihre Friedensbezirke zu begrenzen als auch Anfang und Ende des Zeitraums zu bestimmen, in dem die Eidespflichten zu erfüllen waren. Immerhin spielt die Friedensordnung auf die Befristung, die sie selbst nicht bietet, in c. 1 und c. 3 mit den Worten an: si quis hominem infra pacem constitutam occiderit . . . , si quis alium infra pacis edictum vulneraverit . . . § 779. Was diesen zweiten Teil des Sendschreibens anlangt, so hatte die Friedensordnung im Laufe eines halben Jahrhunderts beträchtlich an Umfang zugenommen. Offensichtlich hat man grundsätzlich wichtige, in diesem Zeitraum ergangene Urteile der Friedensgerichte gesammelt und deren Rechtsgedanken auf dieselbe Weise in eine frei assoziierende Ordnung gebracht, wie es später der Schöffe Eike von Repgow bei Abfassung des Sachsenspiegels tat (oben: § 597). Neben dem Ausstellungsort sprechen inhaltliche Argumente dafür, daß es sich dabei um schwäbisches Friedensrecht handelte. Wahrscheinlich haben wir es mit eben der Friedensordnung zu tun, die der König in seiner Eigenschaft als Herzog von Schwaben gleichzeitig für das schwäbische Herzogtum, und zwar hier mit Bei-
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rat der Fürsten, zur Annahme brachte; er mag sie, wiewohl lediglich ein partikulares Weistum, als Muster den anderen Reichsteilen habe empfehlen wollen. Ihr Redakteur mag ein gebildeter, des Lat. hinreichend kundiger Laie gewesen sein, und somit ein Vorgänger jener Männer, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts darangingen, deutsche Land- und Stadtrechte in lat. und deutscher Sprache schriftlich darzustellen. Eine Beteiligung des Kanzleinotars Heribert an der Formulierung ist nicht nachweisbar. Ich halte sie für unwahrscheinlich. Heribert wird eine Niederschrift, die die schwäbischen Fürsten ihrem Weistum zugrundegelegt hatten, lediglich übernommen und an die von ihm verfaßte Einleitung des Sendschreibens angehängt haben. Wäre die Friedensordnung als Sammlung von Urteilen über streitige Rechtsauffassungen entstanden, so würde sich erklären, warum sie auf längst abschließend geregelte Dinge wie das Beschwören des Friedens und dessen räumliche und zeitliche Begrenzung nicht mehr einzugehen brauchte. Könnten wir sie gar als Rezeß eines früheren Friedensbundes ansehen, so hätte sie auch keiner Datierung und Beglaubigung bedurft und damit Heribert dazu veranlassen können, das Sendschreiben ebenfalls ohne dies ausgehen zu lassen. Legen wir die einungsrechtliche Geltung des Friedensrechts zugrunde, so müssen wir geradezu erwarten, was schwer zu verstehen wäre, wenn der König hätte, aus welcher Machtvollkommenheit heraus auch immer, dem Reiche einen Landfrieden gesetzlich gebieten wollen: daß nämlich sein Sendschreiben ohne Schlußprotokoll, wie es die Diplomform verlangt, ausgefertigt worden ist. Nichts legt uns die Annahme nahe, daß dieses Sendschreiben die Adressaten erreicht oder daß sich einer von ihnen bei der Reichskanzlei darum bemüht habe, eine Abschrift davon zu erhalten, geschweige denn, daß der eine oder andere daraufhin in seinem Amtsbereich eine Friedenseinung ins Leben gerufen habe. Obwohl sich aus dem deutschrechtlichen Inhalt der Friedensordnung ergibt, daß das Sendschreiben nur für deutsche Empfänger bestimmt war, ist es in keinem deutschen Archiv und in keiner deutschen Handschrift überliefert. Irgendwann in den nächsten Jahrzehnten muß sich jedoch ein Italiener dafür interessiert haben, denn gegen Ende des 12. Jahrhunderts ist es in eine frühe Rezension der Libri feudorum aufgenommen worden, deren älteste Handschriften es noch nicht enthalten (E. Wadle 2001 S. 91 – 94). Mir ist nicht ersichtlich, daß jenen unbekannten Italiener etwas anderes als ein rein wissenschaftliches Interesse dazu veranlaßt haben könnte, sich den Text anzueignen. Wie wenig Friedrich daran dachte, das Friedensrecht von der einungsrechtlichen Grundlage zu lösen, um es gewissermaßen zu verstaatlichen, ergibt sich daraus, daß er zu Beginn des ersten und zweiten Italienzuges in den Jahren 1155 und 1158 sowie später, zu Beginn des Kreuzzuges 1189. sogar die Ordnungen über Aufrechterhaltung des Friedens im Heerlager von allen, a singulis maioribus et minoribus, ab omnibus, beschwören ließ, obwohl er sie doch, wie man denken sollte, kraft seines Heerbanns auch hätte gebieten können (MGH. DF. I. 1092, 222, 1007). Sei-
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ne Tätigkeit heißt jetzt ordinare, ihr Ergebnis ordinatio. Vielleicht scheint darin die seither in den romanischen Sprachen hervortretende Gewohnheit auf, königliche Gebote, denen die Kronjuristen Gesetzeskraft beilegten, als Ordonnanzen zu bezeichnen und sie den mit Konsens der Großen und Parlamente beschlossenen Gesetzen gegenüberzustellen (B. Lyon in LMA 4 Sp. 1398. E. Lalou in LMA 6 Sp. 1442. K. Kluxen 1987 S. 88). § 780. Der Landfriede, den Kaiser Friedrich am (18.?) November 1158 auf den Ronkalischen Feldern am Po verkündete, erging auf einer Reichsversammlung des Königreichs Italien, zu der Friedrich alle italienischen Stadtgemeinden und Großen eingeladen hatte, um die staatlichen Verhältnisse des Königreichs neu zu ordnen; er betraf daher allein das italienische Königreich (Gesta Frid. III 53, IV 1 und 3). Das deutsche Heer, das den Kaiser begleitete, lagerte den Italienern gegenüber auf dem anderen Ufer des Po; es nahm an dem Reichstag nicht teil, wie es denn schon der Verhandlungssprache unkundig war. Hätten die Deutschen gleichwohl vernommen, daß sich Friedrich dort an die Untertanen des Imperiums wandte, so hätten sie sich dennoch davon nicht betroffen fühlen können, da sie sich niemals einem Imperator unterworfen, sondern Friedrich lediglich zum König über sich erhoben hatten. Zwar saßen in des Kaisers geheimem Rate, der die Akten der Reichsversammlung vorbereitete, außer dem päpstlichen Legaten und siebenundzwanzig italienischen auch sieben deutsche Bischöfe (Gesta Frid. IV 3); sie alle aber hatten vor allem die kanonischen Interessen der Kirche, die deutschen zudem die außenpolitischen Interessen ihres Reiches zu wahren und insoweit über die Rechtmäßigkeit der Reichstagsbeschlüsse zu wachen. Zur Sache können nur die italienischen Laien als Worthalter der Gemeinden und des königlichen Untertanenverbandes geredet haben, da die Bischöfe, wie alle geistlichen Personen, dem Landfriedensrecht zufolge aus demselben bereits ausgeschieden waren (MGH. DF. I. 241 S. 33 Z. 14 – 15). Nach Abschluß der mehrtägigen Vorbereitungen begab sich der Kaiser am vierten Tage in das Parlament der Italiener, in concionem, um dort vom Hochsitz herab und umgeben von den Beratern, durch Dolmetsch die eröffnende Rede zu halten (Gesta Frid. IV 3 und 4): Obwohl er die Regierung des römischen Imperiums nach göttlichem Willen führte, wollte er nicht willkürlich herrschen, sondern lediglich rechtmäßiger König sein und jedermann bei Freiheiten und Rechten erhalten; die verdunkelten Reichsrechte müßten daher sowohl durch kaiserliche Heilmittel als auch durch die Weisheit der Großen wieder ans Licht gebracht und sowohl das Königs- wie das Volksrecht danach schriftlich fixiert werden. Die imperiale Majestätsrhetorik sollte also als Zierat verstanden werden und nur bestätigen, daß Friedrich unter seinem Imperium nichts anderes verstand als die ihm vom Volke anvertraute königliche Banngewalt und daß sein Rechtsgebot nur zusammen mit dem Konsens des Volkes ein Gesetz ergab. Imperium und nomen regium, imperialis maiestas und regalis excellentia erscheinen in dieser Rede als Synonyme. Kein Wunder, daß die Italiener begeistert waren. Zuerst die Bischöfe, dann die Großen des Landes und zuletzt die Sendeboten der Stadtgemeinden hielten endlose Reden
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über den Kaiser, der lediglich inmitten seines Volkes residieren wollte (Gesta Frid. IV 5). An den folgenden Tagen hielt der Kaiser Gericht für alle mit einander streitenden Parteien; die Urteile fanden italische Richter, nämlich vier gelehrte Juristen aus Bologna nebst Rechtskundigen aus sämtlichen Städten (ebd. IV 6), und so wurde selbstverständlich nach dem Rechte entschieden, das die Richter dem König wiesen. Ganz zuletzt erst wandte man sich der Reichsverfassung und den Regalien zu. Auch hier konnte der Kaiser zwar fordern, entscheiden aber taten Bischöfe, Große und Gemeinden, und zwar einhellig (ebd. IV 7). Nicht anders können die beiden Gesetze zustandegekommen sein, die der Kaiser am letzten Tage promulgierte. Sie betrafen das Lehnrecht und den Landfrieden (ebd. IV 10. DF. I. 242, 241). Beide Gesetze sind nur in Italien, und zwar als Abschriften in den Libri feudorum, überliefert. Wenn außerdem Rahewin sie in seine Königschronik aufnahm, so bedeutet das nicht, daß sie auch in Deutschland publiziert worden wären. Wiederum sind sie in der Königskanzlei weder diktiert noch bearbeitet worden, noch halten sie das diplomatische Formular ein, das ihre Geltung auf den Beurkundungsbefehl des Königs begründet hätte. Zwar entbehrt nur das Friedensgesetz der Arenga und der Narratio, aber beide Gesetze ermangeln namentlich des Schlußprotokolls und damit sowohl der Beglaubigung als auch der Datierung. Ihre Geltung beruhte offenkundig nicht auf dem Willen des Königs, sondern auf der öffentlichen und unwidersprochenen Bekanntgabe in der Reichsversammlung. Wir haben es mit Rezessen oder Reichstagsabschieden zu tun. Wie die Texte zustandegekommen sind, ist unbekannt. Vermutlich wurden die einzelnen Sätze von Interessenten in die Beratung eingebracht und nach erzielter Einmütigkeit protokolliert. Dem Protokollanten mögen sie bereits schriftlich vorgelegen haben, so daß er nur noch als Redakteur tätig zu werden brauchte. Namentlich wegen der Überschrift ist anzunehmen, daß ihnen die Arbeit von Rechtsgelehrten zugrunde lag: Fredericus dei gratia Romanorum imperator et semper augustus universis suo subiectis imperio. Ihr ist auch der Anfang der Friedensordnung zuzuschreiben: Hac edictali lege in perpetuum valitura iubemus, ut omnes nostro subiecti imperio veram et perpetuam pacem inter se observent. § 781. Die Italiener wußten diesen rhetorischen Schmuck des Gesetzes zu würdigen, denn es war ihr Gesetz, und es galt, weil sie es durch Vertrag unter sich vereinbart und diesen Vertrag in der Reichsversammlung vorab samt und sonders beschworen hatten (Gesta Frid. IV 9: consequenter pax in commune iuratur). Der Kaiser gebot daher ferner, daß der Friede ut inviolatum inter omnes fedus perpetuo servetur: Herzöge, Markgrafen, Grafen, Haupt- und Untervasallen sollten sich persönlich, die lokalen Friedensrichter, rectores, dagegen mit vornehmen und einfachen Leuten, soweit sie im Alter zwischen siebzehn und achtzig Jahren standen, samt und sonders durch ihren Eid dazu verpflichten, den Frieden einzuhalten und die Rektoren beim Friedensschutz zu unterstützen. Diese Eide sollten alle fünf Jah-
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re erneuert werden (DF. I. 241 S. 33 Z. 14 – 18). Wer den Frieden weder beschwören noch einhalten, wer also auf das Volksrecht der Fehde und Selbsthilfe nicht verzichten wollte, dessen Güter sollten (von den Rektoren) konfisziert, sein Haus sollte zerstört werden (ebd. S. 34 Z. 9 – 10): Der Friedensfeind wurde gezwungen, seine Gemeinde zu verlassen und auszuwandern. Die besitzlose Masse der Bevölkerung brauchte nicht zu schwören, sie war nicht fehdefähig und daher nicht Subjekt, sondern Objekt der Friedensordnung. Dies alles entsprach altem germanischem, den Italienern mindestens seit der Karolingerzeit eigenen Einungsrecht, ausgezeichnet freilich vor dessen ostfränkischdeutscher Ausprägung durch bedeutsame Modifikationen. Bereits König Karl hatte im Jahre 789 den Eid, der den Reichsuntertanenverband bekräftigte, von allen dingpflichtigen Männern und hochstehenden Unfreien im Alter von dreizehn bis siebzig Jahren gefordert, aber schon im Jahre 802 scheint es strittig gewesen zu sein, ob alle Untertanen den Eid erneuern mußten oder ob der Kaiser ihn nur von den nach 789 Herangewachsenen fordern durfte (oben: §§ 657, 666). Nur in Italien jedenfalls hat das Friedensrecht die allgemeine Vorschrift ausgebildet, daß jedermann den Friedenseid nach jeweils fünf Jahren zu erneuern habe. Dies dürfte mit der wirtschaftlichen und politischen Macht der Stadtgemeinden zusammenhängen, die in Deutschland nicht ihresgleichen hatten. Längst hatten sie die Bischöfe der Regierung entsetzt und die Fürstentümer auf die geographischen Ränder des Königreichs zurückgeworfen. In dessen Kernlandschaften übten sie selbst eine Landesherrschaft aus, die nicht nur danach strebte, alle Einwohner zu mediatisieren und über die Standesgrenzen hinweg als Untertanen einander gleichzumachen, sondern auch danach, durch Städtebünde ihre Vereinzelung zu überwinden und den Reichsuntertanenverband in sich aufzusaugen (G. Fasoli 1968 S. 142 – 150. R. Bordone 1987 S. 49 f. M. Ascheri 1994 S. 209 – 214). Seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts waren daher die Bürgereide der Städte in der Entwicklung hin zu Untertaneneiden der Städtebünde begriffen. Die italienische Landfriedensbewegung brauchte diese Voraussetzung nicht erst zu schaffen, sondern lediglich noch auszunutzen. Schon vor 1158 und längst vor 1183, als Kaiser Friedrich dies im Konstanzer Friedensvertrag bestätigte (MGH. DF. I. 843 c. 12, 844 c. 12, 848 c. 12), war daher die Vereidigung aller Bürger im Alter von fünfzehn bis siebzig Jahren und mit ihr gewiß auch die fristmäßige Erneuerung dieser Eide (G. Fasoli 1968 S. 147) allgemein üblich geworden. Übernahm man aber diese Regel in das Landfriedensrecht, so bedeutet dies, daß den Italienern der Rechtsgedanke von der Identität des Bürger- und Untertaneneides mit dem Friedenseid aufgegangen war und daß sie die Friedenspflicht als Untertanenpflicht zu begreifen begannen. Damit aber lösten sie diese Pflicht von der alten volksrechtlichen Grundlage und verpflanzten sie auf den Boden des gewillkürten und beschworenen Friedensrechtes. Damit nun waren zwei Neuerungen verbunden, an die nördlich der Alpen noch niemand denken konnte, nämlich die Aufhebung der einschlägigen Volksrechtsnormen durch Gesetz und die ewige, d. h.
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unbefristete Geltung dieses Gesetzes. Denn bei regelmäßiger Erneuerung des Friedenseides war es nicht mehr nötig, die Geltung des Friedensrechtes zu befristen; nie wieder konnte der Friedensbund enden und nach ihm das Volksrecht auf eigenmächtige Rechtshilfe noch einmal aufleben. Nicht weniger als dreimal betont der Friedensrezeß, daß dieses Gesetz auf ewig gelten, daß es ein ewiger Friede sein und der Bund ihn auf ewig bewahren sollte (DF. I. 241 S. 33 Z. 12 – 14). Der Friedensrezeß aber war vor allem ein nach modernem italienischem Recht beschlossener Rezeß der verbündeten Städte, die dem deutschen und ihrem Könige gerne erlaubten, sich an die Spitze ihrer Reichseinung zu setzen und ihren Willen als sein Gesetz zu verkünden. § 782. Im Deutschen Reiche konnten sich weder die Verfassungspolitik noch das Rechtsdenken derartige Ziele setzen. Die deutschen Städte waren weit davon entfernt, das Rückgrat des Reichsuntertanenverbandes auszumachen. Nur wenige von ihnen waren reichsunmittelbar, die meisten vielmehr einem Stadt- oder Landesherrn untertänig, und nirgendwo waren sie einander so dicht benachbart, daß ihre Bündnisse und Friedenseinungen ohne den Beistand der Landesherren und allein im Bunde mit dem König hätten Erfolg haben können. Der deutsche, stark partikulierte und mehrfach gestufte Untertanenverband entbehrte daher der Kräfte, die ihn zu einer Reichsgemeinde im wesentlichen gleich freier Untertanen und Staatsgenossen hätten einebnen können. Gewiß machte sich eine dahingehende Tendenz auch in den deutschen Städtebünden bemerkbar; ihr Vorhandensein, aber auch die politische Schwäche ihrer Fürsprecher ist daraus zu ersehen, daß sich im 14. und 15. Jahrhundert in dem großen und mächtigen hansisch-niederdeutschen Städteverein die Rechtsidee eines interkommunalen, gesamthansischen Bürgerrechts zwar ausbilden, aber nicht durchsetzen konnte (E. Pitz 2001 S. 331 f.). Dies alles hatte zur Folge, daß sich das im Jahre 1158 formulierte italienische Landfriedensrecht nicht nach Deutschland übertragen ließ, sondern, soweit es hier überhaupt wahrgenommen wurde, als fremdes Recht und Seitenstück zum gelehrten römisch-kanonischen Recht in Erscheinung trat. Als solches zitierte es Erzbischof Eberhard von Salzburg, als er 1160 auf Grund eines Beschlusses seiner Provinzialsynode die Bedrückung des Stifts Reichersberg durch die Vögte untersagte: Unter verfälschtem Titel, als edictum ab imperatore Friderico universis imperii sui principibus indictum, stellte er es den päpstlichen Dekretalen gleich (MGH. DF. I. 241, Vorbemerkung S. 32 Z. 26 – 34). Keines dieser beiden Rechte konnten die Urteilsfinder des angesprochenen Hofgerichts bei der Entscheidung über ihr Vogtrecht als verbindlich anerkennen. So blieb es im Deutschen Reiche zwar bei der amtlichen Pflicht des Königs, pro necessitate et statu provinciarum pacem ordinare (DF. I. 774 S. 328 Z. 33), d. h. um die Not der Länder abzuwenden, die Untertanen zur Errichtung von Friedensordnungen anzuhalten (Const. 2, 369 n. 281), aber entsprechende Befehle konnten weder der König noch der Gesetzgeber erteilen; sie mußten es den Ländern überlassen, solche, wie seit jeher, befristeten Ordnungen zu beschwören und auch deren
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Dauer selbst festzusetzen (Const. 2, 394 n. 280 c. 24, usque ad terminum inter vos condictum ebd. 396 n. 281). Den Frieden zu beschwören war Christenpflicht eines jeden geistlichen oder weltlichen Fürsten, Edlen, Freien und Ministerialen, also jedes Untertans, gleich welchen alt- oder neufreien Standes (Const. 2, 111 n. 88). Der jeweils vornehmste der Friedensgenossen, der König, ein Herzog oder ein Graf, hatte als erster den Eid abzulegen. Die von der Reichs- oder einer Landesversammlung beschlossenen Ordnungen zeigen sich weiterhin in der Form von Rezessen: Unter dem streng gegenständlichen Titel „Dies ist die Eidesformel“ (huius autem pacis forma est DF. I. 774 S. 329 Z. 3, haec est forma pacis Const. 2, 394 n. 280, 398 n. 284, 568 n. 426), der um das vorangestellte Jahresdatum und eine Notiz über den Urheber erweitert werden konnte (quam dominus imperator precepit renovari, facta per dominum venerabilem episcopum Heinricum Brixinensem), reihen sich die von der Versammlung vereinbarten Satzungen aneinander. Es gibt am Anfang ebenso wenig eine erzählende Begründung des Eidesrechts wie am Ende eine Datierung oder Beglaubigung, geschweige denn, daß eine Bearbeitung des völlig anonymen Textes durch die Reichskanzlei nachweisbar wäre. Nicht in lat. Übersetzung, sondern in der Volkssprache, in der alle Rezesse ausgemacht und beschlossen wurden, ist uns erstmals die von Kaiser Friedrich II. herbeigeführte Landfriedensordnung des Reichstags zu Mainz von 1235 überliefert (Const. 3, 275 zu n. 279. H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 2 S. 385 f.). In zwei Fällen ist der Rezeß um die Namen derer erweitert, die die Satzung noch während der Versammlung beschworen und sie hernach bezeugen konnten (DF. I. 774 S. 330 Z. 34 – 39, Const. 2, 566 n. 425). Zum Amte des Königs gehörte es ferner, den festgestellten Reichsrezeß so zu publizieren, wie seine fürstlichen und alt- oder neufreien Getreuen ihn beschlossen hatten (DF. I. 988 S. 275 Z. 12 – 16. Const. 2, 241 n. 196 S. 247 Z. 36 – 39, 474 n. 371). Selbst dann indessen, wenn er ihn zu diesem Zwecke (in seiner Kanzlei?) ins Lat. übersetzen und unter seinem Namen ausfertigen ließ, ermangelt dieses Dokument der gewöhnlichen Diplomform und insbesondere des Schlußprotokolls, durch das es erst zum amtlichen, vom König sanktionierten Rechtsgebot geworden wäre. Auch mußte der König von seinen Untertanen verlangen, den von ihren Worthaltern beschlossenen und beschworenen Rezeß zu erfüllen (Const. 2, 111 n. 88). Geschehen konnte dies aber nur so, daß Landesherren und Länder entsprechende Friedenseinungen errichteten und von jedermann beschwören ließen. So erreichte denn auch der 1235 in Mainz verkündete Reichslandfrieden nicht das Ziel, welches zu dieser Zeit den Italienern vorschwebte und in England durch die königliche Rechtsprechung verwirklicht wurde, nämlich einen ewigen, einförmigen und allgemein verbindlichen Staatsfrieden herzustellen, der alle ständischen Sonderrechte innerhalb des Untertanenverbandes beseitigte. Der deutsche Landfriede verpflichtete weiterhin nur diejenigen, die ihm ausdrücklich zustimmten, und Fürsten, Vögte, Ritter, Städte und Länder taten das nur unter Vorbehalt ihrer jeweiligen Sonderrechte und Gewohnheiten. In Deutschland blieb es bis zum Ende
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des Mittelalters dabei, daß die Bestimmungen eines jeden Friedens durch befristete territoriale oder regionale Schwureinungen zur Rechtskraft gelangten, sofern die ordentlichen Gerichte der Schwurgenossen willens und imstande waren, sie anzuwenden (H. Angermeier 1966 S. 18 f., 32 – 36). Das Volksrecht, welches Fehde und eigenmächtige Selbsthilfe als Rechtsmittel anerkannte, ist daher erst mit der Selbständigkeit der Schöffengerichte, die seine Depositare waren, untergegangen: in den Städten in dem Maße, wie sie von den Weisungen der bürgerlichen Eidgenossenschaften abhängig wurden (oben: §§ 250 – 252), und auf dem Lande in dem Maße, wie die streitenden Parteien es vorzogen, anstatt ihrer die landesherrlichen Amtsgerichte anzurufen (oben: §§ 283, 391, 598). Hätte sich das Volk nicht auf diese Weise freiwillig von seinen angestammten Gerichten zurückgezogen und damit vom eigenen Recht losgesagt, so wäre es dem Gesetzgeber niemals möglich gewesen, die Privat- und Strafrechtsverhältnisse der Untertanen von oben herab zu regulieren. Was schließlich die Frage anlangt, von der wir ausgegangen sind, die Frage nämlich nach dem Range der Rechtsquelle des Landfriedensrechts, so ergibt sich aus den vorstehenden Befunden, daß Landfriedensordnungen deswegen und solange keine Gesetze sein konnten, weil und wie es keinen consensus populi über die Rechtmäßigkeit des Friedensrechts gab. War sich das Volk hierüber nicht einig, so konnte selbst dann, wenn ein König oder Herzog es ausgesprochen hätte, ein hoheitliches Gebot den Sonderwillen der Friedenseinungen nicht zum allgemeinen Gesetz erheben. Von der anhaltenden Uneinigkeit des Volkes aber zeugen sowohl die befristete Geltung der Friedensordnungen als auch die fortwährende Geltung des Volksrechts auf rechtliche Selbsthilfe und Fehde.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Privilegienrecht §§ 783 – 787. Jurisdiktionsprimat und Privatgesetz im Römischen Reich § 783. Mehr noch als durch die autonome Geltung der Volksrechte könnte die Reichsregierung in dem Bestreben, als Gesetzgeber zu handeln, durch die Regeln der identischen Willensbildung und durch deren Angewiesensein auf Einhelligkeit behindert worden sein. Angesichts der Langsamkeit und Schwerfälligkeit des politischen Verfahrens und der Vielzahl der Rechtsentstehungsquellen, aus denen sich der reich partikulierte und gestufte Untertanenverband zusammensetzte, lag es nahe, daß die Reichsregierung neues Recht, dessen das Reich bedurfte, ohne daß sich bereits ein allgemeiner Konsens darüber herausgebildet hatte, im Wege der Ausnahmeregelung zunächst nur denen zugutekommen ließ, die es zu nutzen wünschten und dafür eine Notwendigkeit darlegen konnten. Solches Sonderrecht hieß seit jeher privilegium oder privata lex. Ahd. Glossen des 9. Jahrhunderts nennen als Äquivalente dazu das Adjektiv suntarîg, das Substantiv hantfestî und zum Ablativ das Adverb selbuueldim (E. Steinmeyer / E. Sievers, Glossen 1879 – 1922 Bd. 2 S. 107,70. 145,31. 151,31. H. Götz, Wb. 1999 S. 520), welches uns verrät, daß nicht jeder Sprecher solche Sonderrechte positiv bewertete. Was den Staat des hohen Mittelalters anlangt, so charakterisiert das Privilegieren nicht nur seine Rechtsfortbildung, sondern überhaupt seine Regierungsweise. So zeigt etwa die Privilegierung italienischer Interessenten in den Jahren 774 bis 1024, daß das langobardische Königreich in dieser Zeit keineswegs ein Nebenland des Fränkischen und Ostfränkischen Reiches war, obwohl die Könige es nur relativ selten besuchten. Der hohe Anteil der für Italien bestimmten Diplome an der Expedition der Königskanzlei erweist die Privilegierung italienischer Empfänger „als eines der auf das Regnum angewandten Regierungsmittel und als Teil der Gesamtheit einheitsbildender Maßnahmen, deren Zweck es war, die Bindungen zwischen dem Zentrum des Imperiums und dessen Rändern aufrechtzuerhalten“ (F. Bougard 1995 S. 58. Oben: § 756b). Darüber hinaus kann dieses Regierungsmittel als notwendiges Komplement einer Reichsverfassung betrachtet werden, die die öffentliche Willensbildung den Regeln des Identitätssystems unterwarf. Anfänge und Eigenart der Verfassungsgeschichte des Mittelalters sind nun dadurch bestimmt, daß die Reiche der Germanen dieses Regierungsmittel vom Römischen Kaiserreich ererbt haben. Es stellt also eine dem germanischen Rechts- und Staatsdenken eigentlich fremde Einrichtung dar. Die königliche Befugnis, Unterta-
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nen zu privilegieren, trägt in unseren Quellen keinen besonderen Namen; sie war in der Amts- und Banngewalt des Herrschers unter anderem enthalten. In Ansehung entsprechender Berechtigungen, die sich der Bischof von Rom nach kaiserlichem Vorbilde innerhalb der Kirche beigelegt hatte, kann sie als Jurisdiktionsprimat bezeichnet werden (oben: § 631). Dieses Wort sagt einerseits, daß die Befugnis zu den unveräußerlichen Primatsrechten (oben: § 717) gehörte, kraft deren der König im Wege der Rechtsaufsicht dafür zu sorgen hatte, daß die Empfänger von ihren Privilegien keinen eigenmächtigen, sondern den bestimmungsmäßigen gemeinnützigen Gebrauch machten. Andererseits bezieht sich die Bezeichnung auf den prozessualen Charakter des Privilegierens und auf die Zweiphasigkeit der alteuropäischen Prozeßform, die dem Könige das altrömische Recht der Jurisdiktion (oben: § 68), den Partikulargewalten dagegen die richterliche Prüfung und Vollstreckung der Privilegien überließ. § 784. Die Rechtsgeschichte des Jurisdiktionsprimats und seiner Formen wirft schwierige Probleme auf und ist wenig erforscht (E. Pitz 1987 S. 107 – 122, 268 – 282, 1988a S. 69 ff., 1990 S. 11 – 32. St. Enders 1997 S. 358 – 460). Der Anteil des römischen Volkes als republikanischen Gesetzgebers an der römischen Rechtsgeschichte ist verhältnismäßig gering. Die Gesetzgebung pflegte auf bestimmte Anlässe zu reagieren, die heute kaum noch zu rekonstruieren sind, und befaßte sich daher auch in den wenigen Fällen, wo sie es mit Problemen des Privatrechts zu tun hatte, nicht so sehr mit dem Grundsätzlichen der Institutionen als vielmehr mit Einzelheiten, deren weitere Entwicklung sie der alltäglichen Praxis der Rechtsprechung und insbesondere der Jurisdiktion des Prätors überließ. Ganz allgemein erweist sich das Privatrecht als Angelegenheit weniger des Gesetzgebers als der Interessenten, ihrer Rechtsberater und der Richter, deren Entscheidung sie einholten. Besonders das römische Privatrecht war in diesem Sinne Juristenrecht. So hat denn auch der erste Princeps zwar die Gesetzgebung betreffend Verfassung, Krieg, Frieden und Staatsverträge an sich gezogen, diejenige betreffend das Privatrecht aber weiterhin dem Volke überlassen. Offensichtlich aber verlor dieses bald das Interesse an ihr. Noch vor der Mitte des ersten Jahrhunderts überließ es sie dem Senat, ohne daß sie ihm durch den Princeps förmlich entzogen worden wäre (Th. Mommsen 1887 S. 345 f.). Bald nötigten die politischen Umstände und das Interesse der Rechtsuchenden die Principes auch dazu, die Jurisdiktion der republikanischen Prätur zu übernehmen und sie allmählich zum Primat oder kaiserlichen Vorrecht zu steigern. Aber selbst ihre, dem Begriff nach schrankenlose, Staatsgewalt funktionierte in der Praxis nur dann, wenn ihre Gebote den Bedürfnissen und dem Rechtsempfinden der Untertanen Genüge taten. Daher bedurfte der Jurisdiktionsprimat einer Verfahrensform, die geeignet war, den Konsens zwischen dem Kaiser, seiner Regierung und dem regierten Volke zu sichern, und dies war die Form des zweiphasigen Parteiprozesses, der sowohl nach römischem wie nach germanischem Recht die Entscheidung über die Rechtsfrage von der Beurteilung der Tatfrage trennte und auf diese Weise die Neutralität der Jurisdiktion gegenüber den Parteien sicherte.
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Die Geschichte des Imperium Romanum zu studieren bedeutet, nach einer Erklärung für die erstaunliche Langlebigkeit dieses Reiches zu suchen. Das Ergebnis der Suche wird uns aber nur dann befriedigen, wenn wir außer dem politischen Willen des Kaisers und seiner Heere auch einen auf den Zusammenhalt des Ganzen gerichteten, von konsensorientiertem Handeln aller Untertanen und Gemeinden bestimmten Willen des Volkes ausmachen können. Wenn nun schließlich auch die römische Stadt- und Dekurionatsverfassung zugrundeging, so endete mit ihr doch nicht die Selbstverwaltung der lokalen und kommunalen Angelegenheiten, deren Aufgaben zu übernehmen die kaiserlichen Behörden nie in der Lage waren (J. A. O. Larsen 1966 S. 145 – 161. E. Pitz 2001a S. 128 f., 245 f., 280). Als Anstaltsstaat, der seine Insassen wider ihren Willen beherrscht hätte (oben: §§ 702b, 703a), ist das Römische Reich daher schwerlich treffend zu beschreiben. Da es jedoch weder Teilreichs- noch Reichsversammlungen kannte und der Kaiser nur zu Senat und Volk der Reichshauptstadt in ein direktes Verhältnis identischer Willensbildung zu treten vermochte, muß ihm die Reichsverfassung irgendein anderes Regierungsmittel zur Verfügung gestellt haben, um seinen Willen mit dem der Untertanen in Einklang zu bringen. Als solches aber ist kein anderes zu entdecken als das prozessuale Verfahren, das ihm der Jurisdiktionsprimat darbot (E. Pitz 2001a S. 62 – 67). Diese Aufgabe zu erfüllen war das Verfahren deswegen geeignet, weil es das Tätigwerden der kaiserlichen Regierung von zwei wichtigen Bedingungen abhängig machte. Erstens konnte der Kaiser durch sein Reskript rechtliche Entscheidungen mit Drittwirkung lediglich auf Antrag eines Interessenten oder Petenten hin treffen, und zweitens konnte er dies lediglich unter dem Vorbehalt der Wahrheit der Bitte (veritas precum) tun: Zum Schutz der Rechte etwa betroffener Dritter mußten die Petenten alle für die kaiserliche Entscheidung wichtigen Tatsachen und Rechtsverhältnisse vollständig anführen. Als Bittsteller traten einerseits Amtleute, vom örtlichen Statthalter und Bischof aufwärts bis zum Prätoriumspräfekten, andererseits aber auch Privatpersonen und Personenverbände wie Stadtgemeinden, Provinziallandtage und die Senate der beiden Hauptstädte auf. Ihre Eingaben ließ der Kaiser von Fachleuten des Palastes unter rechtlichen Gesichtspunkten (die veritas precum brauchte der Palast nicht zu prüfen) bearbeiten und mit einem Vorschlag für seine Entscheidung (decretum) versehen. Sanktionierte er diesen Vorschlag mit seiner Unterschrift, so fertigte der Palast danach das Antwortschreiben oder Reskript aus, und dieses übergab er nicht nur dem Petenten, sondern machte es, soweit erforderlich, durch öffentlichen Aushang auch der Allgemeinheit bekannt. Insoweit entsprach das Verfahren demjenigen, welches einst der Prätor der Republik in iure geleitet hatte. Dessen zweiter Abschnitt, die alte Verhandlung in iudicio, spielte sich jetzt vor den Provinzialbehörden ab. Denn wegen des Vorbehalts der Wahrheit seiner Bitte war der Petent und Empfänger verpflichtet, das kaiserliche Reskript der zuständigen Provinzial- oder Stadtbehörde vorzulegen, und nur wenn er hier, gegebenenfalls gegen den Widerspruch benachteiligter Dritter, die
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Richtigkeit seiner Angaben nachwies, setzte die Behörde ihn in den Genuß jenes Rechtes ein, welches das kaiserliche Dekret ihm zugesprochen hatte. Mißlang der Beweis, so durfte die Behörde das Dekret nicht vollstrecken: Es galt als erschlichen, und bei erwiesener Subreption erklärte die Behörde es für ungültig. Denn für rechtswidrige Befehle und Dekrete erwartete der Kaiser von niemandem Gehorsam. In dieser Hinsicht bewährte sich das Kaiserreich als genauso vollkommener Rechtsstaat, wie es später die germanischen Königreiche des Mittelalters waren. § 785. Der Gefahr unrechter Erschleichung von Reskripten und Privilegien vermochte man lediglich durch strenge Formvorschriften für deren Ausfertigung und Vollstreckung zu begegnen. Was die äußere Form anlangt, so waren Reinschrift des vom Kaiser genehmigten Dekretvorschlags, kaiserliche Unterschrift und genaue Datierung vorgeschrieben, da jedes Dekret grundsätzlich in Kenntnis aller älteren Reskripte erging. Zur inneren Formgerechtigkeit gehörte vor allem die narratio oder Angabe des Sachverhalts, den der Petent dem Kaiser vorgetragen hatte, da von der Möglichkeit, sie zu überprüfen, die Vollstreckbarkeit oder Widerrufbarkeit des Reskriptes im Publikationsverfahren abhing. Ferner mußte das Dekret oder die Disposition des Kaisers von der veritas precum abhängig gemacht werden. Dieser Bedingung kam so grundlegende Bedeutung zu, daß sie auch dann gültig war, wenn das Dekret sie nicht ausdrücklich erwähnte. Die Bittschriften der Untertanen und die Jurisdiktionsgewalt boten demnach dem Kaiser Gelegenheit, in Einzelfällen, für die die wenigen alten Volksgesetze keine Norm bereithielten, nach der sie hätten beurteilt werden können, durch Auslegung der Gesetze eine solche Norm festzustellen. Mit der Normsetzung für den Einzelfall aber eröffnete sich ein Weg, auf dem man das seit dem Untergang des republikanischen Gesetzgebers erstarrte Gesetzesrecht den Erfordernissen neuer Zeitalter anpassen konnte. Gelang nämlich dem Begünstigten die Exekution und fand das ihm gewährte Sonderrecht auch von Seiten der als Dritte Betroffenen Anerkennung, so bewährten sich der Reskriptsprozeß und die öffentliche Bekanntmachung der Reskripte als ein Mittel, um den Konsens des kaiserlichen Gesetzgebers mit den Rechtsauffassungen seiner Untertanen herbeizuführen. Denn allgemeinen Beifall konnte ein Privileg nur dann erlangen, wenn für alle sichtbare soziale und politische Verhältnisse eingetreten waren, die es rechtfertigten. In diesem Falle aber mußten sich bald weitere Personen oder Gemeinden finden, die unter gleichen Verhältnissen lebten und unter denselben Mängeln des veralteten Gesetzesrechts litten wie der zuerst Begünstigte, und sie nun konnten das einmal gewährte Privileg von Rechts wegen auch für sich in Anspruch nehmen, sobald sie von seiner Existenz Kenntnis erhielten und sich mit einer entsprechenden Bitte an den Kaiser wandten. Erweckte der unaufhaltsame Wandel der menschlichen Dinge das Bedürfnis nach Anpassung und Besserung des Gesetzes, so pflegte sich zunächst eben in Einzelfällen bemerkbar zu machen, daß das veraltende Gesetz zu unerträglichen Härten führen konnte. Gerade in diesen Fällen bedurfte die Allgemeinheit des Jurisdik-
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tionsprimats, kraft dessen der Kaiser auf Antrag für eben diese bestimmten Fälle eine Ausnahme von dem Gesetz gebieten konnte. Eben diese war das Privatgesetz oder Privileg als „eine Einzelperson betreffendes Gesetz“. Es schuf ein Sonderrecht, ius singulare, für ein Individuum oder eine Sache oder auch für eine Gruppe oder Mehrheit derselben. Die Vollmacht allerdings, die alten, vom römischen Volke beschlossenen Gesetze aufzuheben, war in dem kaiserlichen Jurisdiktionsprimat zunächst ebensowenig enthalten wie einst in dem des republikanischen Magistrates, und daher war das durch kaiserliches Dekret geschaffene Sonderrecht grundsätzlich dem Verdacht ausgesetzt, gegen das alte, aber weiterhin gültige Gesetz zu verstoßen und daher anfechtbar zu sein. Infolgedessen unterlag das Privilegienrecht in der Anwendung den strengsten Restriktionen. Da es nur auf Antrag verliehen wurde, konnte es niemandem wider seinen Willen aufgenötigt werden; da es nur unter Vorbehalt der veritas precum und nur gemäß dem speziellen Zwecke galt, der die Ausnahme vom Gesetz rechtfertigte, mußte der Kaiser jedes Privileg widerrufen, wenn die Umstände entfielen, auf die es zugeschnitten worden war, oder wenn der Begünstigte es mißbrauchte, um andere als die genannten Zwecke zu erreichen. Schließlich galten Privilegien nur für die Amts- oder Lebenszeit des Kaisers, der sie autorisierte. Sollten sie Dauer gewinnen, so mußten die Nachfolger sie erneuern, sobald Interessenten ihnen dazu durch ihre Petitionen Anlaß gaben. Erst dann, wenn sich die Umstände als dauerhaft erwiesen, konnte dies auch das Sonderrecht tun. Ohne daß spätere Kaiser aus eigenem Antrieb darauf drangen, ohne daß sie es wollten oder auch nur bemerkten, verwandelte sich das Sonderrecht dadurch, daß sie es weiteren Petenten bewilligten, allmählich in allgemein gültiges Recht, dem das alte Gesetzesrecht weichen mußte. § 786. Der rechtspolitischen Gefahren, die mit dieser Form der Gesetzgebung verbunden waren, weil sie der förmlichen öffentlichen Zustimmung des Volkes entraten mußte, war man sich wohl seit jeher bewußt: Sie bedrohte die Gesetzesbindung und damit die Legitimität der Regierung. „Neues Recht, so sollte man auch ohne alle juristischen Überlegungen auf den ersten Blick schon meinen, könnten weder Dekrete noch Reskripte bringen, da man sich doch darauf müsse verlassen können, daß ein bereits begründetes Rechtsverhältnis nach derzeitigem Recht und nicht nach irgendeinem neuen Rechtseinfall des Kaisers zu beurteilen sein werde. Theoretisch ist das zweifellos so, und auch praktisch hat eine große Masse kaiserlicher Erlässe in Privatrechts- und Verwaltungssachen nichts anderes bedeutet als Sicherstellung der richtigen Anwendung des geltenden Rechts. Aber bei dieser authentischen Interpretation ist die Grenze nach neuem Recht zu fließend, und die eigenartig ungesicherten Rechtszustände einer Zeit, in der die wenigen festen Gesetze gar nicht ausreichten, daß danach entschieden werde, bringen die merkwürdige Folge mit sich, daß oft für Rechtsfälle erst das Recht, nach welchem sie zu entscheiden sind, neu geschaffen werden muß; und weiterhin, daß eine derartige Entscheidung über den Einzelfall hinaus auf ähnliche Fälle auch in Zukunft zunächst in der harmlosen Form des Exemplum . . . Einfluß nimmt, aber als
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ein von der kaiserlichen Autorität getragenes Exemplum auch bald als geltendes Recht angesehen werden kann. So sind denn kaiserliche Erlässe in Einzelfällen . . . auch neue Rechtsentstehungsquellen und als solche schon darum auch veröffentlicht worden“ (L. Wenger 1953 S. 429). Der Jurisdiktionsprimat erforderte also je länger, desto dringender eine höhere Legimität, als sie sich der Princeps hatte beilegen können, solange er bestrebt war, republikanische Formen zu wahren. Was er brauchte, gewann er schließlich, als die Kaiser Diokletian und Konstantin dem Reiche seine spätrömisch-byzantinische Verfassung aufprägten. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts erweiterten die Beamten des kaiserlichen Palastes das Reskriptformular um eine neugeschaffene Formel, die auch in den Edikten Verwendung fand und sowohl die besonders als auch die allgemein gültigen kaiserlichen Dekrete ausdrücklich als gesetzliche Gebote definierte, indem sie die Strafbarkeit des Gesetzesbrechers auf die Verletzung des Gebotes gründete. Ausdrücklich konnte diese Formel das Verhältnis des neuen Gesetzes zu früheren oder späteren Gesetzen regeln, etwa indem sie bestimmte, daß ein älteres Gesetz gänzlich oder zum Teil in Geltung bleiben sollte, ohne durch das neue Gesetz abgeändert zu werden, oder daß das neue Gesetz seinerseits durch kein späteres Gesetz aufgehoben werden dürfe (A. Berger, Dictionary 1953 S. 689). So brachte die neue Formel die Erhöhung des von keiner Volks- oder Wahlversammlung legitimierten Kaisers zum Gesetzgeber zum Ausdruck, der auch die Befugnis besaß, bestehende Gesetze aufzuheben, und damit selbst nicht mehr an das Gesetz gebunden war. Die von den Petenten mitgetragene Praxis und Gewohnheit hatte den Jurisdiktionsprimat zur Legislatur erhöht, die das einst auf dem römischen Forum versammelte Volk in seiner Zerstreuung über das Weltreich längst hatte fallenlassen müssen. Der Vorgang setzt folglich voraus, daß das Verfahren des Reskriptsprozesses und der Privilegierung dazu geeignet war und hinreichte, um den Konsens zwischen Gesetzgeber und Volk zu sichern, ohne den auch das Gesetz eines absoluten Kaisers keine allgemeine Geltung hätte erlangen können. Mit der neuen Formel begann zugleich der Sprachgebrauch der Pönformeln Gestalt anzunehmen, die durch das ganze Mittelalter hindurch die Texte königlicher Privilegien beschließen sollten (J. Studtmann 1932 S. 256 f.). Gleichwohl blieb die Legitimation des kaiserlichen Gesetzgebers eine problematische Angelegenheit. Der Mangel eines verfaßten und zur Mitwirkung fähigen Reichsvolkes oder Untertanenverbandes ließ sich nur durch jene schrankenlose Mystifikation des christlichen Kaisertums und orthodoxen Gottesstaates ersetzen, die das byzantinische Staatsrecht kennzeichnet, im Abendlande aber niemals nachgeahmt werden konnte. Im Jahre 438, als Kaiser Theodosius in Konstantinopel die erste aus kaiserlichen Dekreten und Edikten zusammengestellte Gesetzessammlung veröffentlichte, richtete denn auch der Senat des alten Rom öffentlich die Aufforderung an ihn, daß keine Gesetze mehr auf Bittschriften hin veröffentlicht werden sollten, weil durch derartige Erschleichungen alles Recht der Hebebezirksbesitzer in Verwirrung gestürzt werde: ut ad preces nullae leges promulgentur . . . His subreptionibus possessorum ius omne confunditur (Gesta Senatus S. 3 § 5).
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§ 787. Eine zuverlässige staatliche Kontrolle der Rechtsfortbildung konnte der Jurisdiktionsprimat unter diesen Umständen dem Kaiser ebensowenig gewähren wie innerhalb der Reichskirche den Bischöfen von Rom, die ihn seit dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts formal und inhaltlich nachahmten, um die Aufsicht über die Fortbildung des Kirchenrechts an sich zu bringen. Selbständige lokale Rechtsbildungen waren vor allem deswegen nicht zu unterbinden, weil Interessenten, die nicht auf kaiserliche oder päpstliche Anerkennung angemaßter Befugnisse rechnen konnten, jeder Abweisung und Maßregelung entgingen, wenn sie nur darauf verzichteten, Bittschriften einzureichen und ihre Usurpationen dem Gesetzgeber zur Prüfung vorzulegen. Ebenso vergeblich, wie es zuerst Papst Innozenz I. gegenüber den Bischöfen tat (E. Pitz 1990 S. 190 A. 88, 294 f.), versuchte Kaiser Justinian I., seinen Untertanen eine Berichtspflicht in allen causae maiores, allen rechtspolitisch wichtigen Angelegenheiten, aufzuerlegen (Novellen VIII c. 6, XVII c. 3). So verstummte oder versagte die Gesetzgebung auf Antrag, sobald die Untertanen eines Gesetzes nicht zu bedürfen vermeinten oder sich von ihm nichts anderes als unerwünschte Beschränkungen erwarteten. Der Reskriptsprozeß selbst setzte damit der Kaisermacht eine nahezu unsichtbare, dafür aber um so wirksamere, weil letzten Endes auf dem unausgesprochenen Willen des Volkes beruhende Grenze. Es war nur konsequent, daß sich von 476 bis 634 alle Provinzen mit ausgeprägter Vulgarrechtsbildung vom Byzantinischen Reiche lösten und nur jene griechischen Kernlande in Kleinasien und auf der Balkanhalbinsel dem Kaiser in Konstantinopel treu blieben, deren Rechtsgefühl sich in der byzantinischen Staats- und Rechtstheorie vollständig widerspiegelte. Gleichwohl ging der Jurisdiktionsprimat auch im Abendlande nicht unter, denn nicht nur hielt die römische Kirche an ihm fest, sondern es eigneten ihn sich auch die germanischen Königreiche an, die im 5. Jahrhundert auf dem Boden des Weströmischen Reiches entstanden, denn deren romanische Untertanen betrachteten die Könige als Nachfolger des Prätoriumspräfekten für Gallien und legten die Bitten um Recht, die sie früher an diesen Amtmann des Kaisers gerichtet hatten, nun den Königen der Westgoten, Burgunder und Franken vor. Die Formelsammlungen fränkischer Notare enthalten einige Muster für Eingaben an den König, an denen sich die römisch-germanische Kontinuität des Verfahrens prüfen läßt (MGH. FF. p. 363 n. 43, 366 n. 5, 367 n. 6, 380 n. 1). Der königlichen Verfassungspolitik eröffnete sich damit die Chance, nach dem Vorbilde des weströmischen Kaiserreichs eine zentralisierte hoheitliche Gerichtsbarkeit einzurichten, wie sie ihren germanischen Untertanen von Hause aus fremd war (oben: § 320). Angesichts des gewaltigen Abstands, der die überlegene römische Rechtskultur von der der Germanen trennte, wäre die Übernahme des römischen Jurisdiktionsprimats durch ihre Könige vermutlich unmöglich gewesen, wenn die Germanen nicht bereits mit dem Gebrauch von Rechtsnormen vertraut gewesen wären, die, obwohl nicht schriftlich fixiert, dieselbe verbindliche Geltung besaßen wie die le-
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ges, die der kaiserlichen Jurisdiktion entstammten und von Theodosius im Jahre 438 gesammelt und kodifiziert worden waren. Darauf deutet die Selbstverständlichkeit hin, mit der die Könige der Burgunder und Franken schon früh im 6. Jahrhundert diese Normen aufzeichnen ließen – in offensichtlicher Nachahmung der römischen Kodifikation. Es fehlt uns allerdings jede Möglichkeit, um festzustellen, welche volkssprachlichen Ausdrücke damals für Recht und Gesetz gebräuchlich waren (oben: § 765). Insbesondere wissen wir nicht, ob die Abstraktion von der unüberschaubaren Vielzahl einzelner leges auf den Gattungsbegriff lex als das Verbindliche schlechthin so, wie dieses als lex christiana oder lex naturalis bereits in Theodosians Kodex hervortritt, auch schon den Germanen aufgegangen war (G. Köbler 1971 S. 200 – 206). Es könnte traditioneller lat. Sprachgebrauch ohne volkssprachliches Äquivalent gewesen sein, daß man jetzt bei den Franken die Lehren der Bibel als lex, als die unveränderlich im Gewissen und unverletzten Rechtsgefühl der Menschen verwurzelte Norm, den Inhalt des Codex Theodosianus als lex Romana, aber auch die eigenen Volksrechte als lex Francorum, lex Ribuariorum, lex Burgundionum usw. bezeichnete. Ebenso könnte es latinoromanischer Sprachgebrauch ohne germanische Entsprechung gewesen sein, daß der in der Bedeutung enggefaßte Begriff lex den umfassenden, alles objektive Recht überhaupt bezeichnenden Ausdruck ius in sich aufsog oder ihn verdrängte und selbst in die Bedeutung des objektiven Rechts einrückte.
§§ 788 – 794. Der Jurisdiktionsprimat im hohen Mittelalter § 788a. Unmöglich dagegen ist es, eine gedankliche Verbindung zwischen germanischem Gesetzesbegriff und römischem Jurisdiktionsprimat anzunehmen, denn eine solche war nicht herzustellen, ohne daß sich die römische Institution tiefgreifend veränderte. So konnte später ahd. êuua oder ê = Ewigkeit, ewige Ordnung, Gesetz und speziell Testament, als Äquivalent sowohl für lat. lex als auch für ius im Sinne von objektivem Recht (für subjektives Recht trat ahd. reht ein), außerdem aber auch für regula = Regel, Richtschnur, pactum = Übereinkunft und condicio = Vereinbarung verwandt werden (H. Götz, Wb. 1999 S. 129, 361, 373, 459, 563), und daraus ergibt sich, daß in germanischer Sicht weder königliche Setzung und Verpönung noch schriftliche Fixierung für die Bezeichnung einer objektiven Norm als lex wesensnotwendig waren; anstatt dieser für den römischen Gesetzesbegriff wichtigen Merkmale kam es den Germanen offensichtlich nur auf die allgemeine Verbindlichkeit und feste Verknüpfung einer Rechtsfolge mit einem Geschehen an (G. Köbler 1971 S. 218 f.). Wohl nur deswegen, weil germanisches Rechtsdenken der Entstehungsart von Gesetzen keine Bedeutung beilegte, ließ sich der lat. Sprachgebrauch mit einer Rechts- und Staatsauffassung verbinden, die der römischen Kaiserzeit ganz fremd war und erst mit den germanischen Reichsgründungen in die Geschichte eingetreten ist: mit dem Übereinstragen nämlich verschiede-
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ner Rechtsansichten zum einhelligen Konsens der versammelten Rechtsgenossen sowohl in den örtlichen Teilgemeinden als auch in der Reichsversammlung. Dem steht die weitverbreitete moderne Lehrmeinung gegenüber, dem Mittelalter sei das in der Welt- oder göttlichen Schöpfungsordnung enthaltene objektive Recht nur als eine Idee vertraut gewesen, deren Inhalt im ganzen Umfange zu erkennen und zu positivieren außerhalb menschlichen Vermögens lag; die Germanen und die später im Deutschen Reiche vereinigten Völker hätten daher zwischen objektivem Gesetzesrecht und subjektiven Befugnissen des einzelnen Rechtsgenossen nicht unterscheiden können. Zwar hätten sie zahlreiche, den Individuen zustehende (Sonder-)Rechte, aber kaum ein objektives Recht gekannt, in dem die subjektiven Rechte sowohl ihre Begründung als auch eine Begrenzung gefunden hätten. Von dieser Auffassung aus gelangt man zu einem Urteil über das Privilegienrecht und den weltlichen Jurisdiktionsprimat, das deren rechtspolitischer Bedeutung nicht gerecht wird. Denn danach hätte den germanischen Völkern der Maßstab gefehlt, um subjektive Rechte und Befugnisse von Vorrechten und Privilegien unterscheiden zu können, daher der Gedanke generell geltender Normen zwar gedacht, nicht aber hätte fruchtbar gemacht werden können: Praktisch seien subjektives Recht und objektive Norm soweit zusammengefallen, daß jeder individuell Begünstigte vom König und von der Allgemeinheit seiner Genossen als sein subjektives Recht verlangen konnte, nach der speziell für ihn zuständigen objektiven Bestimmung behandelt zu werden. Unter dieser Voraussetzung mußte den Menschen alles Recht als Privileg einzelner Personen oder Sachen oder individueller Komplexe solcher erscheinen und wegen seiner Besonderung in deren jeweiligen Freiheiten, libertates, aufgehen. Während objektives Recht nur eine einzige Freiheit kennt, die es den Individuen entweder zuteilt oder versagt, ermöglicht das Privilegienrecht eine unüberschaubare Vielzahl von abgestuften Freiheiten. „Wenn man begriffen hat, daß dem Mittelalter libertas das subjektive Recht schlechthin bedeutet, daß die libertates in ihrer Gesamtheit das Recht überhaupt sind, so wird man die Bedeutung des Privilegs als schriftliche Fixierung des Rechtes erst ganz verstehen. Das Privileg schafft nicht – wie man nach der modernen Grundbedeutung des Terminus annehmen sollte – Ausnahmen von der allgemein herrschenden Rechtsordnung, sondern das Privileg ist vielmehr recht eigentlich die adäquate Kodifizierung des individuell differenzierten, jeweils konkreten, subjektiven Rechts, der libertas. Mit der Schwäche und Unentwickeltheit und Einfachheit der objektiven Rechtsordnung findet auch die Tatsache ihre Erklärung, daß im Mittelalter der Privilegienverleihung – darunter hat man Stadt- und Markgenossenschaftsrechte, Ministerialen- und Hofrechte mitzuverstehen – gegenüber die allgemeine staatliche Gesetzgebung stark zurücktritt“ (Gerd Tellenbach 1936 S. 26). Ich halte diese Auffassung für unzutreffend. In Wirklichkeit war die Geltung der Volksrechte, verstanden als leges oder Gesetze im Sinne objektiven, für alle in gleicher Weise geltenden Rechtes, durch den Rückhalt, den sie an den volklichen
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Gerichtsversammlungen und den Gesetzeskenntnissen der Sühnemittler, Urteilsweiser, Schöffen und Fürsten besaß, so übermächtig, daß sie das Privilegienrecht jederzeit als Sonder- und Ausnahmerecht hat hervortreten lassen. Daraus resultiert die wichtigste Veränderung, die der Jurisdiktionsprimat durch die Verpflanzung in die germanische Welt des Mittelalters erlitt: Das germanische Staatsrecht stellte die Gesetzesbindung der Jurisdiktionsgewalt wieder her. Kein germanischer König konnte, gleichsam als sei er legibus solutus, in das Gesetzesrecht seiner Untertanen eingreifen. § 788b. So gelangte aus dem theodosianischen Kodex die Norm: contra ius rescripta non valent, in der Fassung: quaecumque contra leges fuerint a principibus obtenta non valent, in die westgotische Lex Romana und durch sie zu den Franken (G. Köbler 1971 S. 204 f. E. Pitz 1988a S. 82 f., 85 – 88). Hinter den leges aber stand jetzt als Schirm vor königlicher Willkür und ranghöchster Depositar der Volksrechte die Reichsversammlung. Die Sorge Karls des Großen für die Volksrechte (oben: § 764) wäre schwer zu verstehen, wenn der Herrscher nicht von deren Vorrang vor allen subjektiven Rechten überzeugt gewesen wäre. Auch gebot er durchaus über das Abstraktionsvermögen, das erforderlich ist, um beides zu unterscheiden, wie wir aus der Antwort erfahren, die er einmal einem Königsboten auf die Frage erteilte, wie eine Ehe zwischen Unfreien verschiedenen Standes zu beurteilen sei. Er verlangte nämlich nicht weniger, als daß die Richter alle Einzelfälle gleich behandeln sollten, quia non est amplius nisi liber et servus (oben: § 112). Den Vorrang des Volksrechts vor jeglichem Privileg machte auch sein Enkel, der westfränkische König Karl II., im Jahre 843 geltend, als er die Reichsversammlung aufforderte, dafür zu sorgen, daß ihm niemand um eines privaten Vorteils willen Bitten vorlege, mit deren Bewilligung er gegen das Recht, contra iustitiae rationem, und gegen seine königliche Würde verstieße: Gäbe er aber doch einmal aus menschlicher Schwäche einer solchen Subreption nach, so sollten die Großen ihn dazu ermahnen, sich gemäß den Bedürfnissen aller Untertanen, prout . . . necessitatibus subiectorum convenit, also nach Maßgabe des Gemeinwohls, zu korrigieren (MGH. Capit. 2, 253 n. 254 c. 4 und 5. Oben: § 640). Dasselbe Zugeständnis machte er im Jahre 876 den italienischen Großen, als diese ihn zu ihrem König erhoben (ebd. 2, 98 n. 220, S. 100 Z. 31 – 34). Zweifellos war daher den Rechtskundigen bewußt, daß mittels Privilegs verliehene Rechte nicht nur dem Gebot der Gemeinnützigkeit, sondern auch dem der Rechtsgleichheit insofern genügen mußten, als unter gleichen Umständen jedem Untertan Anspruch auf gleiche Privilegierung zukam. Auch waren die Großen durchaus imstande, sich über eine Definition dieser Umstände zu verständigen, und d. h.: sie von den Einzelfällen zu abstrahieren und als objektive Norm zu erkennen, wie sich aus dem Bericht Kaiser Karls III. über ein Gesetz ergibt, das die italienische Reichsversammlung zu Ravenna am 14. Februar 882 beschloß und von ihm sanktionieren ließ, ein Gesetz, das nach fränkischem Reichsrecht (oben: § 761) durch Eintracht des Volkes (fidelium nostrorum cetu freti consilio generali,
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fidelium generaliter promulgata et sancita auctoritas) und königliches Gebot (nostra imperiali auctoritate, nostra imperialis institutio: MGH. DK. III. 49, S. 82 Z. 35 – 36, 83 Z. 10 – 12) zustandegekommen war, nachdem Bischöfe und Volk dem Gesetzgeber eine sehr laute Klage über heidnische Bräuche und unrechte Gewalt unterbreitet hatten, die von den weltlichen und öffentlichen Amtleuten auf Kirchengut und über freie und unfreie Hintersassen der Kirchen ausgeübt wurden. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß die secularis et publica potestas, der der scharfe Tadel des Gesetzes galt, die königliche Gewalt selbst war und nach Maßgabe weltlichen Rechts durchaus korrekt verfuhr, entschied der Gesetzgeber, daß alle diese Heidentümer und unverschämten Amtshandlungen auszurotten seien. Um sie im einzelnen zu bestimmen, bediente er sich der Immunitätsformel eines Privilegs, das Kaiser Ludwig II. im Jahre 872 für Piacenza ausgestellt hatte und das seinerseits mittelbar auf ein Privileg Kaiser Ludwigs des Frommen von 819 zurückgeht (MGH. DL. II. 56). Auf Grund eines speziellen Immunitätsprivilegs konnte also eine im ganzen Königreich gültige Konstitution über die Immunität aller Bistümer des Landes beschlossen werden (E. E. Stengel 1942 / 1960 S. 264 mit Anm. 6). Das aber beweist, daß sich die Großen des Reiches der grundsätzlichen Allgemeingültigkeit des Privilegienrechts durchaus bewußt waren. Wenn uns indessen dieses Gesetz nur aus den Privilegien bekannt ist, die der Kaiser daraufhin für mindestens vier Bistümer ausgefertigt hat (MGH. DK. III. 49 – 52), so kann dies zunächst damit erklärt werden, daß es keine diplomatische Form für Gesetzesurkunden (unten: § 806) gab und daher Privilegienurkunden als Ersatz dienen mußten. Zudem hatte der Gesetzgeber stillschweigend weltliches Volks- und Reichsrecht zugunsten frommen Kirchenrechts außer Kraft gesetzt und dadurch, daß er dies stillschweigend tat, sein Gesetz der Einrede der Rechtswidrigkeit ausgesetzt. Auch deswegen empfahl es sich, das Gesetz in Privilegsform zu beurkunden. Die betroffenen, vom Gesetzgeber enteigneten Eigenkirchenherren und Gerichtsgemeinden konnten nämlich behaupten, daß die Bischöfe und Völker, die das Gesetz erbaten, es erschlichen hätten, weil sie die entgegenstehenden weltlichen Gesetze nicht ausdrücklich benannt hatten. Wir müssen daher vermuten, daß viele Große dem Gesetz in der Reichsversammlung nur unter Vorbehalt des Willens ihrer Vollmachtgeber zugestimmt, d. h. daß sie es lediglich ad referendum gutgeheißen haben. Dem könnte der König durch die Ausfertigung in Privilegsform Rechnung getragen haben, da sein Dekret anläßlich der Publikation von den betroffenen Gerichtsgemeinden kassiert werden konnte und mußte, wenn sich Einspruch dawider erhob und das Gerichtsvolk ihm den einhelligen Konsens verweigerte, so, wie es andererseits, wenn es ihn erteilte, damit seinen herkömmlichen Rechten am Kirchengut samt und sonders entsagt hätte. Viele Gründe lassen sich anführen, um zu erklären, warum zwar in Italien, nicht aber im Ostfränkisch-deutschen Reiche der Versuch gemacht worden ist, die Immunität des Reichskirchengutes im Wege der Gesetzgebung einzuführen. Die Annahme, nur die italienischen, nicht aber die fränkisch-deutschen Großen hätten
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über genügenden Sachverstand verfügt, um aus dem Sonderrecht für den Einzelfall die allgemeine Norm zu abstrahieren, deren der Gesetzgeber bedurfte – diese Annahme ist jedoch schwerlich plausibel zu machen, auch wenn sich die Reichskanzlei nur selten einmal dazu entschloß, allgemeine „Rechtssätze und Regeln ausdrücklich“ auszusprechen, denn wohl nicht nur für uns reicht die lange Reihe der von ihr ausgefertigten Urkunden meistens hin, „um aus der wiederholten Anwendung in Einzelfällen auf dieselben zurückschließen zu können“ (J. Ficker 1863 S. 20). Die rechtsgeschichtliche Ursache für die Zurückhaltung des Reiches ist meines Erachtens darin zu suchen, daß nördlich der Alpen der Widerstand der Depositare des Volksrechts so mächtig war, daß die kirchlichen Bittsteller von der Reichsregierung nie mehr als die prekäre Bewilligung kirchlicher Sonderrechtswünsche durch Privilegien zu erreichen vermochten. § 789. Die Germanisierung des römischen Jurisdiktionsprimats hatte ferner wichtige Neuerungen in Bezug auf die inneren und äußeren Formvorschriften zur Folge. So mußte in der schriftlosen Gesellschaft des Mittelalters die kaiserliche Unterschrift durch die Rekognition des Kanzlers und die Besiegelung ersetzt werden, und Äußerlichkeiten wie die feierliche Ausfertigung auf großformatigen Pergamenten, die elongierten Buchstaben in den Schmuckzeilen, der weite Zeilenabstand und das den Aussteller symbolisch repräsentierende Bildsiegel waren darauf berechnet, den lat., beim Vorlesen der Übersetzung in die Volkssprache bedürftigen Texten bei den Hörern mit optischen Mitteln eine Glaubwürdigkeit zu sichern, die sich auf die bannende Wirkung nicht nur des königlichen Wortes, sondern auch seiner Materialisierung in Pergament, Tinte und Siegelwachs verließ. Bewahrer der Formgerechtigkeit und daher maßgeblicher Berater des Königs bei der Entscheidung über die Bitten waren die Hofkapläne, die seit der Erneuerung des fränkischen Königtums durch Pippin und Karl den Großen der unmittelbaren Umgebung des Herrschers angehörten und für ihn die Kanzleigeschäfte erledigten (oben: §§ 688, 689). Aus der wiederhergestellten Gesetzesbindung des Jurisdiktionsprimats und der Vielzahl partikularer gesetzgebender Volks- und Gerichtsgemeinden ergab sich als verfassungsrechtliche Folge, daß dem königlichen Privilegienrecht des Mittelalters das Gebiet des Privatrechts verschlossen war, auf dem sich die altrömische Jurisdiktion und die daraus hervorgegangene kaiserliche Legislative so eindrucksvoll betätigt und ihre politische, die Einheit des Reiches stützende Wirkung entfaltet hatten. Während die römischen Bürger und seit dem Jahre 212 alle freien Untertanen des Römischen Reiches den Kaiser auch als Bürgen und Depositar ihrer privaten Rechtsverhältnisse verehrten, betrachteten die alt- und neufreien Untertanen wie der frühen germanischen Königreiche überhaupt, so des Fränkischen und des Ostfränkisch-deutschen Reiches als solchen die rechtskundigen Urteilsfinder ihrer Grafschafts-, Immunitäts- und Landgerichte und der höheren Gerichte, vor denen die Mächtigen zu Recht zu stehen pflegten. Das deutsche Privatrecht, einschließlich des darin enthaltenen Strafrechts, ist zuerst in diesen Gerichten zu der Fülle an Institutionen, von der uns der Sachsenspiegel Kenntnis gibt, hernach aber in den
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Stadtgemeinden von deren rechtskundigen Schöffen und Ratmannen entfaltet, fortgebildet und damit geschaffen worden. Die königliche Regierung und das Hofgericht hatten daran keinen Anteil. Das Privilegienrecht des Hochmittelalters war vielmehr im wesentlichen Verfassungsrecht. So gelang es der Reichsregierung, im Wege der Privilegierung die Institutionen der Immunität, der Vogtei und des kirchlichen Wahlrechts zu schaffen und auf diese Weise sowohl die ererbte römische Staatskirchenordnung als auch das jüngere, vom germanischen Eigenkirchenrecht geprägte Kirchenrecht zur Reichskirchenverfassung des hohen Mittelalters fortzubilden (oben: §§ 351, 352, 358, 361, 417, 438, 566, 576). Durch Privilegierung war es weiterhin möglich, das Marktrecht des freien und freizügigen Kaufmanns mit der Verfassung der Hofrechtsgemeinden in Einklang zu bringen (oben: §§ 376, 434) und einen Ausgleich zwischen den Interessen der Immunisten und Allodialherren und der Grafen zu erzielen, die die Kosten zu tragen hatten, welche durch Anlage und Betrieb eines Marktes verursacht wurden. „Auf diese Weise hat sich eine gewisse gleichmäßige Ordnung, ein Recht wie der Kaufleute, so des Marktes ausgebildet, auf das, auch ohne nähere Bezeichnung, Rücksicht genommen werden konnte“ (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 383. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 236 – 241. Oben: § 434). Der Grundsatz, nach dem das Marktrecht den Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen herbeiführte, findet sich zum ersten Mal in einem Diplom Ottos III. für Quedlinburg angedeutet: daß nämlich einerseits innerhalb eines abgrenzbaren Einzugsgebietes niemand einen neuen Markt schaffen dürfe, der dem privilegierten Markte schädlich wäre, andererseits aber innerhalb dieses Gebietes gelegene Märkte, die am Tage der Ausstellung des Privilegs bereits bestanden, weiterhin rechtmäßig bestehen bleiben sollten (MGH. DO. III 155. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 7 S. 386. St. Dohmen 1996 S. 184 – 198). Die Existenz solcher älteren Märkte hatte der Petent um der veritas precum willen erwähnen müssen, und der König mußte das Privileg zu ihren Gunsten einschränken, da er ihren Nutzern ebenso zum Rechtsschutz verpflichtet war wie den Quedlinburgern, die aus guten Gründen von ihnen unabhängig werden wollten. Durch Privilegienrecht, d. h. durch prozessuales, zeitweise in hohem Grade streitiges Zusammenwirken der Interessenten mit dem König, ist schließlich die auf Einungsrecht begründete Verfassung und außergerichtliche Rechtspflege der Stadt- und einiger weniger (namentlich der schweizerischen) Landgemeinden in die Grafschafts-, Landes- und Reichsverfassung eingefügt worden (oben: §§ 36, 168, 171, 237 – 252). In diesen Fällen ist besonders offensichtlich, daß der königliche Entschluß und das Privileg das Gemeinderecht nicht zu schaffen vermochten; dieses entsprang dem Willen und der Eintracht der Gemeindegenossen, und das Privileg konnte es lediglich innerhalb allgemein für tragbar erachteter Grenzen bestätigen und schützen. Das Privileg aber war kein Oktroy, der König konnte es niemandem gegen seinen Willen aufzwingen. An dieser Rechtstatsache scheitert die Vermutung, der Reichsstatthalter und spätere Kaiser Heinrich VI. habe in den
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Jahren 1188 bis 1197 „für die Bischofsstädte am Rhein Selbstverwaltungskörper in der Rechtsform des italienischen Konsulats eingerichtet“ und so mittels seines Privilegs den Grund für die Entstehung der deutschen Ratsverfassung gelegt (H. Planitz 1954 / 1975 S. 300. Oben: §§ 252, 261). Gründlicher Prüfung bedarf die Frage, ob nicht auch das Dynastenprivileg (oben: §§ 142, 563) hierhergehört. Es ist denkbar, daß weltliche Herren, die auf schriftliche Ausfertigung von Privilegien keinen Wert legten, gleichwohl mündliche Entscheidungen des Königs (oder Herzogs) über ihre Rechtsstellung erbeten und erhalten haben. Dürften wir dies voraussetzen, so könnten wir auch die Einfügung der sogenannten Allodialherrschaft in die Grafschafts- und Reichsverfassung auf Privilegierung zurückführen und damit verständlich machen. So ist die Verfassung des Deutschen Reiches in langen Jahrhunderten in einem mühsamen Prozeß immer wieder neuen Interessenausgleichs durch Privilegierung geschaffen worden. Weil die einmal zugunsten eines bestimmten Petenten getroffene Entscheidung im Wiederholungsfalle jederzeit korrigiert werden konnte, läßt sich dieser Prozeß als ein beharrliches Herausexperimentieren derjenigen öffentlichen Ordnung beschreiben, die dem Rechtsgefühl des Volkes und seiner Großen den reinsten Ausdruck verlieh (St. Dohmen 1996 S. 198 – 211). Es entspricht den Möglichkeiten der von Laien getragenen vorwissenschaftlichen Fortbildung und Entfaltung des Rechts, daß die Experimentierenden nicht danach strebten, die Grundsätze, denen sie dabei folgten, vom Einzelfall zu abstrahieren und ins Bewußtsein zu erheben. Nur der zurückblickende moderne Betrachter findet sie gelegentlich in einem Privileg angedeutet vor. Solange man den Grundsatz aber nicht feststellen konnte oder wollte, war es nicht möglich, die im Wege des Jurisdiktionsprimats von Fall zu Fall geregelten Probleme durch ein allgemeines Gesetz zu ordnen, das hinfort die Gerichte von sich aus auf jeden darunter fallenden Petenten hätten anwenden können. § 790. Ein äußeres Anzeichen für weitere formale und funktionale Veränderungen, die die Germanisierung des Jurisdiktionsprimats zur Folge hatte, findet sich darin, daß das Ahd. zwar für den lebenden Zeugen eines Rechtsgeschäftes und dessen sei es gesprochenes, sei es geschriebenes Zeugnis mit den Substantiven urkundo und urkundi Äquivalente zu lat. testis und testimonium besaß (H. Götz, Wb. 1999 S. 663), nicht jedoch für die Begriffe Dekret und Reskript, die eigentlichen Merkmale der kaiserlichen Jurisdiktion. Wenn man sie aber unter dem Fremdwort privilegium zusammenfaßte, so wurden sie gründlich mißverstanden oder umgedeutet, da die Römer stets nur das gewährte Sonderrecht als Privileg bezeichnet hatten, niemals jedoch das Reskript, in dem der Kaiser es veröffentlichte. Privileg hieß im Mittelalter vor allem das Schriftstück, in dem der König ein auf Antrag gewährtes Sonderrecht verbriefte (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 1 S. 1 f.). Was die Formen anlangt, so hatten die römischen Kaiser schon lange, bevor sie ihre jurisdiktionelle Gewalt zur Legislative steigerten, die Abhängigkeit vom römischen Volke als dem eigentlichen Gesetzgeber abgestreift, seit nämlich die Bürger,
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die auf dem Forum in Rom über die Gesetzentwürfe der Magistrate abgestimmt hatten, infolge der Zerstreuung über die Provinzen ihre (Voll-)Macht durch Untätigkeit eingebüßt hatten. Die germanischen, von unten her aufgebauten Königreiche verfügten dagegen sowohl in Grafschaften und Bistümern als auch im Reiche über tätige Volksversammlungen und Depositare der Volksrechte, die fähig und willens waren, die von ihnen eingesetzte königliche Gewalt an ihre Rechtsweisung und Zustimmung zu binden. Da sich das Recht des Volkes, an der Regierung mitzuwirken, auch auf den Jurisdiktionsprimat erstreckte, ergaben sich auch neue Verfahrensformen für dessen Handhabung. In Verbindung mit der Mündlichkeit des germanischen Rechtslebens, der Vervielfachung der Rechtsquellen innerhalb des anatektischen Staates und der Einengung des Kreises der Petenten auf die geistlichen und weltlichen Großen des Volkes war es die Konsenspflichtigkeit aller königlichen Entscheidungen, die der bürokratischen Bearbeitung der Bittschriften durch fachlich geschulte Beamte in den Palästen des Kaisers und des Prätoriumspräfekten ein Ende machte und als neue Institutionen die Intervention der Großen und das Kanzleidiktat ins Leben rief. Deren Ausbildung deutet auf eine vergleichsweise geringe Bewertung des Privilegierens innerhalb der Gesamtheit des öffentlichen Rechtslebens hin. Offensichtlich zählte die Jurisdiktion zu den einfachen oder gewöhnlichen Regierungsgeschäften, zu denen der König lediglich den Konsens seiner zeitweilig oder ständig bei Hofe anwesenden Berater einzuholen brauchte (oben: § 763a). Diese Bewertung erklärt sich aus der bereits erörterten geringen Geltungsmacht der Privilegien und aus der Selbständigkeit der Volksgerichte, von deren Urteil es abhing, ob sie sie für volksrechts- oder gesetzmäßig erkennen und in Kraft setzen oder, weil contra legem ergangen, als ungültig zurückweisen wollten. Intervenienten (R. Schetter 1935 S. 1 f. A. Gawlik in LMA 5 Sp. 470) waren dritte Personen, die beim König für den Petenten und Empfänger Fürsprache einlegten. Solche gab es seit jeher, doch werden sie in den Diplomen der Merowinger und frühen Karolinger nur selten genannt. Es mögen zunächst, wie zuvor in der Kaiserzeit, entlohnte Anwälte der Petenten gewesen sein, aber an den Höfen germanischer Könige empfahl es sich, Fürsprecher aus dem Kreise beim Herrscher einflußreicher Männer zu gewinnen, die dem Petenten zu persönlicher Audienz verhelfen konnten (Hinkmar cap. 19 und 20, oben: § 606. B. Kasten 1997 S. 259 ff. 369 ff.). Unter Kaiser Ludwig dem Frommen wurde die Nennung von Intervenienten in der Narratio der Diplome fast zur Regel. Seither wird erkennbar, daß sich darunter Personen befanden, auf deren Rat hin, consilio, oder mit deren Zustimmung, consensu, der König die Ausstellung der Urkunde anordnete. Die Intervenienten dürften dem Könige also zusammen mit dem Kanzler und den Großen des Hofrates dafür gebürgt haben, daß die Genehmigung der Bitte weder die Interessen des Reiches noch die dem König als Amtsvollmacht zugewiesene Rechtssphäre verletzte (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 6 S. 617 f. Oben: §§ 171, 269). Obwohl die Regierung die Wahrheit der Bitte nicht zu überprüfen brauchte und in der Regel hierzu gar nicht in der Lage war, wird es sich den Petenten weiter
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empfohlen haben, zu Intervenienten auch solche Männer zu gewinnen, die, etwa bei der Bitte um Verleihung von Reichsgut, in der betreffenden Region einflußreich waren. Jeder Petent tat gut daran, sich bereits vor der Verhandlung mit dem König der Vereinbarkeit seiner Bitte mit den Rechtsauffassungen und Interessen der Untertanenverbände zu vergewissern, auf die er mit dem königlichen Privileg einwirken wollte (oben: §§ 288, 289, 376, 434). Intervenienten könnten auch der Grafschafts-, Bistums- oder Landesgemeinde, der sie entstammten, für die Rechtmäßigkeit des Privilegs gebürgt, ja vielleicht in derselben Weise wie die Urteilsfinder im Hofgericht für die Richtigkeit des Urteils, dafür gehaftet haben: wie jener Graf Sigehard von Burghausen, der in Regensburg am 5. Februar 1104 von Ministerialen deswegen erschlagen wurde, weil er dem König ein falsches Urteil betreffend ihre Standesrechte gewiesen hatte (I. S. Robinson 1999 S. 321 f.). Der Reichsregierung muß es unerwünscht gewesen sein, allzu oft Privilegien zu bewilligen, die in Geltung zu setzen das Volk sich weigerte, denn solche Privilegien blieben nicht nur toter Buchstabe, sondern erweisen sich auch als Denkmäler gescheiterter königlicher Politik. Damit mag es zusammenhängen, daß die Reichskanzlei unter König Heinrich IV. aufhörte, zwischen Intervention, Rat und Zustimmung zu unterscheiden, und statt dessen damit begann, nur noch die Anwesenheit bestimmter Personen bei der königlichen Entscheidung zu erwähnen oder schließlich diese Personen einfach als Zeugen anzuführen (H. Bresslau 1912 – 1931 Bd. 2 S. 201 f. I. S. Robinson 1999 S. 361). Vor dieser Zeit ist die Erwähnung von Zeugen in Königsurkunden außerordentlich selten. Der Ersatz der Interventionsformel, die ein Teil der Narratio und Petitio gewesen war, durch eine Zeugenliste, die ihren Platz im Schlußprotokoll der Diplome erhielt, betont das erhöhte Gewicht, das die Fürsten seit ihren Kämpfen mit Heinrich IV. auf das Recht legten, im Reiche gemeinsam mit dem König zu regieren und alle königlichen Entscheidungen gutheißen zu müssen. Die Königin, die vorher häufig als Intervenientin aufgetreten war (A. Fößel 2000 S. 123 – 150), schied nun auch in dieser Hinsicht (vgl. oben: § 733) aus der Reichsregierung aus (H. Appelt 1990 S. 113). Statt dessen begann es sich für Klöster und Kaufmannsgemeinden zu empfehlen, ihren Landesherrn als Intervenienten zu gewinnen (ebd. S. 112). § 791. Ein weiterer formaler Unterschied gegenüber der alten kaiserlichen Jurisdiktion ist darauf zurückzuführen, daß der antike Reskriptsprozeß nicht mehr funktionieren konnte, weil die germanischen Staaten keine Lokalbehörden besaßen, die in der Weise kaiserlich römischer Provinzialstatthalter die Wahrheit der dem Kaiser vorgetragenen Bitten überprüfen und je nachdem das dem Bittsteller erteilte Reskript oder Privileg entweder vollstrecken oder kassieren konnten. Zwar hatten gotische, burgundische und fränkische Könige anfangs, dem römischen Vorbilde folgend, eine zentralistische und amtsrechtliche Form der Gerichtsbarkeit angestrebt, die auf unmittelbaren Beziehungen zwischen König und Grafen aufgebaut werden konnte (oben: § 320), aber spätestens seit der Verschiebung des Schwerpunktes fränkischer Herrschaft aus den romanischen Reichsteilen nach Austrasien,
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die mit dem Aufstieg des karolingischen Königshauses einherging, war eine solche Verfassungspolitik nicht mehr durchführbar. Der König übte die auf römischen Rechtsgedanken beruhende Jurisdiktionsgewalt jetzt in einer Gesellschaft aus, die nicht mehr nach römischem Recht lebte, sondern die Häupter ihrer Lokalgemeinden dem Verbandswillen gemäß dem dinggenossenschaftlichen Prinzip (oben: §§ 172, 202, 307) und damit nach einem Rechte unterwarf, das dem römisch-byzantinischen Staate gänzlich unbekannt war. Die Dinggenossen der Grafschaften und Vogteien waren ihren angestammten germanischen Volksrechten verpflichtet und wußten nichts von einem Jurisdiktionsprimat des Königs, der ihnen hätte vorschreiben können, wie sie mit den Rechtsansprüchen eines von ihm privilegierten Mannes umzugehen, und namentlich nichts davon, daß sie ihre Gesetze gegebenenfalls gemäß dem königlichen Willen auszulegen oder gar zu berichtigen hätten. König und Reichskanzlei pflegten indessen die Verleihung eines in den Volksrechten nicht vorgesehenen Sonderoder Vorrechts an den Petenten und Empfänger des Privilegs mit Mandaten zu begleiten, die sie an die betroffenen Dinggemeinden adressierten und die den Befehl enthielten, den Begünstigten unter Verzicht auf eigene Befugnisse in den Genuß des ihm gewährten Rechtes zu setzen, und wir hatten Grund zu der Vermutung, daß wir, wenn die Empfänger statt der Privilegien diese Mandate für dauernd aufbewahrungswürdig erachtet hätten, ein anderes Bild von der Reichsverfassung erhalten würden, als es bei der gegebenen Quellenlage der Fall ist (oben: §§ 429, 465, 466, 475, 678). Damit ein durch Privileg erworbenes Vorrecht gültig werde, kam eben alles darauf an, daß die betroffenen Gerichtsgemeinden es akzeptierten und in das von ihren Urteilsfindern und Schöffen tradierte Rechts- und Gesetzeswissen aufnahmen. Dies gilt insbesondere für Schenkungen von Reichsgut und Reichsrechten an mit Immunität ausgestattete Reichskirchen und spätere Bestätigungen solchen Besitzes. Denn niemals ist es dem Historiker möglich, mit ihrer Hilfe und an Hand der in ihnen genannten Namen von Ortschaften und Grafschaften die Besitzungen einer Reichskirche kartographisch zu veranschaulichen. Offensichtlich ist die Privilegierung konzessiv zu verstehen: Sie reichte so weit, wie an den genannten Orten Stiftsgut wirklich gelegen war und in den genannten Gauen Grafenrechte wirklich in Geltung standen, was im einzelnen zu wissen und zu bezeugen allein Aufgabe der örtlichen Dingverbände, nicht aber die des Königs oder seiner Kanzlei und Kammer sein konnte (oben: §§ 279, 624, 713). Wenn z. B. König Heinrich IV. im Jahre 1068 der bischöflichen Kirche zu Bamberg die Grafschaften bestätigte, die ihr im Radenz- und Saalegau, im Grab- und im Volksfeld und wo immer sonst im Reiche von seinen Vorgängern verliehen worden waren (MGH. DH. IV. 208), so konnte dieses Privileg nur dann Geltung erlangen, wenn es dem Bischof gelang, diese bambergischen Grafenrechte in den beanspruchten Gerichtsbezirken mit Hilfe von Schöffenweistümern wirklich nachzuweisen. Soweit wir erkennen können, gelang ihm dieser Nachweis lediglich in denjenigen Zenten, in denen seine Kirche erheblich begütert war, und selbst dort vermochte er
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seine Gerichtshoheit nicht überall durchzusetzen (E. von Guttenberg 1927 S. 197 – 203). Was geschah, wenn sich der Besitzer eines Privilegs in das örtliche Gericht begab, dessen Dinggenossen es anerkennen und vollstrecken sollten, darüber erfahren wir unmittelbar so gut wie nichts. Dies mag vor allem von der Mündlichkeit des Verfahrens verursacht sein, die die Entstehung verwahrbarer Quellen verhinderte. Ich kann mich allerdings des Verdachts nicht erwehren, daß die Begünstigten es häufig gar nicht versucht haben, den voraussehbaren Widerstand der Betroffenen gegen jeden äußeren Eingriff in ihre Rechtsverhältnisse und ihr angestammtes Volksrecht zu überwinden, sondern es vorzogen, sich der Möglichkeit einer Niederlage gar nicht erst auszusetzen. § 792. Dieser Verdacht stützt sich vor allem auf den Rechtsstreit, den Abt Wolfram von Prüm und der Klostervogt Bertold von Ham zu Beginn des 12. Jahrhunderts vor dem Königsgericht um die Rechte und Pflichten des Vogtes austrugen (MGH. DH. IV. 476. Urk.regesten S. 114 n. 164). Vor dem Gericht, das sich zu diesem Zwecke eigens nach Prüm begeben hatte, beklagte der Abt den Vogt, weil dieser die Klostergüter nach eigenem Ermessen mit Steuern belegte, wozu nach seiner Ansicht das Recht nicht dem Vogte, sondern nur dem Grundeigentümer zustand (DH. IV. 476 S. 648 Z. 31 – 33). Seine Rechtsansicht unterstützte er dadurch, daß er sämtliche Diplome oder Privilegien, testamenta, verlesen und in der Volkssprache erklären ließ, die dem Kloster seit der Zeit König Pippins, seines Gründers, verliehen worden waren. Auf den Vogt indessen machte weder die öffentlich bezeigte Parteinahme der Richter für den Abt noch die Fülle der Privilegien irgendwelchen Eindruck. „Er lachte über die Diplome und sagte, jeder beliebige Schreiber könne aufschreiben, was ihm beliebte, deswegen dürfe er sein Recht nicht verlieren, und schließlich nahm er Zuflucht zu den (gesetzlichen) Waffen seiner Verteidigung und stellte allein für sich als Recht, in das er einwilligen würde, ius voluntarium, folgendes auf: daß er das als Recht selbst anerkennen und befolgen würde, was Dienstmannen des oft genannten Klosters, die er selbst auswählen und benennen könne, als solches weisen und beschwören würden“ (ebd. S. 648 Z. 44 bis 649 Z. 3). Dem widersprach der Abt zunächst heftig. „Es schien ihm nämlich gefährlich zu sein, von den Diplomen abzulassen“ und auf den Eid der Ministerialen zu bauen. Damit tritt der Kern des Streites deutlich hervor: Sollten Laien oder Kleriker, sollte weltliches oder kanonisches Recht ihn entscheiden? Denn die lat. geschriebenen Diplome erklären konnten nur Kleriker, und der Abt wird es nicht versäumt haben, damit Anhänger der Kirchenreform zu betrauen. Seine ganze Hoffnung muß darauf beruht haben, mit Hilfe einer kanonistischen Interpretation der Privilegien die geltende volksrechtliche Auslegung überwinden zu können, in der sich bis vor wenigen Jahrzehnten noch Könige, Äbte, Konvent und Hofgemeinde einig gewesen waren. Der Auslegung aber bedurften die Urkunden des Klosters schon deshalb, weil es in ihnen, soweit sie sich erhalten haben, gänzlich an einschlägigen Bestimmun-
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gen über das Vogtgericht fehlt. Der Abt kann sich nur dann auf sie berufen haben, wenn er meinte, daß sich die Verbote seines Immunitätsprivilegs nicht nur gegen die (alten) Grafen, sondern auch gegen den viel jüngeren Vogt gerichtet haben müßten. Für die Denkweise der Kirchenreformer ist diese Interpretation keineswegs ungewöhnlich (E. Wisplinghoff 1960 S. 324). In der folgenden öffentlichen Diskussion freilich, der die königlichen Richter nunmehr schweigend beiwohnten, ohne sich einzumischen, konnte der Abt seine Forderung nicht durchsetzen. Schritt für Schritt mußte er dem Vogte nachgeben, bis schließlich sogar „mit seiner Zustimmung die von Bertold Benannten vortraten und so, wie sie sie je am richtigsten von ihren Voreltern erfahren und am wahrsten in Erinnerung rufen konnten, die Rechte der Vögte in den einzelnen Haupthöfen sorgfältig aussagten“ und beschworen (DH. IV. 476 S. 649 Z. 9 – 12). Dem Gericht kann weiter nichts übriggeblieben sein, als sich dieses Weistum zu eigen zu machen und es mit königlicher Autorität zu bekräftigen (vgl. ebd. S. 650 Z. 26 – 27). Wir würden zweifellos das Rechtsdenken aller Beteiligten verfehlen, wenn wir uns fragten, warum sich der Abt nicht darauf berief, daß die Hofgemeinde einst die Privilegien im Publikationsverfahren ohne Widerspruch akzeptiert habe, und warum der Vogt sie nicht mit der Begründung zurückwies, die Hofgemeinde habe ihnen niemals zugestimmt und betrachte sie daher als erschlichen. Denn wenn sie auch einst vor der Hofgemeinde publiziert worden waren, so gab es davon keine andere Dokumentation als das, was die Hofgemeinde davon im Gedächtnis bewahrte und in ihr Hofrecht eingeordnet hatte. Das aber bezog sich nur auf die Grafschaft, nicht jedoch auf die Vogtei. Ich halte es daher für ein gigantisches, die Staatsverfassung auf den Kopf stellendes Fehlurteil, daß sich die „theoretisch so felsenfeste Rechtssicherheit“ der mittelalterlichen Rechtskultur „in der Praxis“ ganz anders dargestellt habe, weil hier „die Spärlichkeit und Unsystematik der Aufzeichnung, der Mangel geordneter und vollständiger Gesetzbücher, das Fehlen registrierter Urkunden und Erlasse, das Nichtvorhandensein gelehrter Richter und Gesetzgeber, die ungleichmäßige Kenntnis und zweifelnde Benutzung des einmal aufgeschriebenen Rechts durch die Nachfahren“ den Ausschlag gegeben hätten (F. Kern 1919 / 1952 S. 48 f.). Dies alles mochte die Kirchen beschweren, die das Volksrecht da, wo es ihnen lästig war, mit Hilfe der königlichen Jurisdiktion aus den Angeln zu heben suchten – dem Volke und seinem Rechtsleben kommen wir mit einer Beschreibung dessen, was es alles nicht war, keineswegs auf die Spur, und niemals dürfen wir die volkliche Rechtskultur nach dem beurteilen, was Kirchenleute an ihr auszusetzen hatten. Es ist unübersehbar, daß der Jurisdiktionsprimat des Königs und sein Privilegienrecht einer anderen Rechtswelt entstammten als derjenigen, in der das Volk lebte und aus der schließlich nicht einmal die geistlichen Fürsten, sei es als Parteien, sei es als Richter, vollständig herauszutreten vermochten. In dieser Welt stellten Privilegienbriefe eine sehr schwache und unsichere Stütze für Rechte und Rechtsansprüche dar. Um jede unerwünschte Interpretation derselben zu unterbin-
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den, dürften Fürsten und Städte daher früh damit begonnen haben, sie geheimzuhalten, und nur im allgemeinen war diese Praxis überholt, als im Jahre 1806 mit dem deutschen König- und Kaisertum auch der Jurisdiktionsprimat unterging. § 793. Ein weiterer Unterschied zwischen antiker und mittelalterlicher Jurisdiktion betrifft die Geltungsdauer der Entscheidungen. Seit dem 4. Jahrhundert hatten die Dekrete der römischen Kaiser solange gegolten, bis der Aussteller oder einer seiner Nachfolger sie korrigierte oder widerrief. Der Kaiser war legibus solutus, weder an seine eigenen Dekrete noch an die seiner Vorgänger gebunden gewesen. Dem mittelalterlichen König dagegen oblag einerseits die Pflicht, Privilegien zu widerrufen, wenn betroffene Dritte ihm bewiesen, daß die Petenten sie mit unwahren Bitten erschlichen hatten oder von ihnen aus eigener Machtvollkommenheit einen unrechten Gebrauch machten. Andererseits führten das Recht der Großen auf Mitregierung im Reiche, das den König auch bei Erteilung von Privilegien an ihren Konsens band, und die Unabhängigkeit der Gerichtsgemeinden, die in ihrer Eigenschaft als Depositare des Volksrechts während des Publikationsverfahrens nicht an königliche Weisungen gebunden waren, dazu, daß der König in der Ausübung der Jurisdiktionsgewalt nicht frei war. Infolgedessen stand und steht es dahin, ob seine Dekrete allgemein bis auf Widerruf gültig waren und durch seinen Widerruf wirklich ungültig wurden. Von zwei Seiten her wurde in dieser Hinsicht das altrömische Kaiserrecht in Frage gestellt. Einerseits war die Auffassung weit verbreitet, daß die Rechtsgeltung von Privilegien durch die Lebensdauer ihres Urhebers begrenzt sei und mit seinem Tode ihr natürliches Ende fände. Diese Auffassung kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß sich die Privilegierten ihre Vorrechte seit dem frühen Mittelalter von dem jeweils regierenden Amtsnachfolger des verstorbenen Urhebers bestätigen ließen, denn dies wäre nicht nötig gewesen, wenn das Volksrecht den Nachfolger an die Dekrete seines Vorgängers gebunden hätte. Die Frage nach dem Sinn der Bestätigungen führt uns zudem zurück auf das Interesse der Privilegierten, „einen Schutz vor Eingriffen des Bestätigenden selber zu erlangen“ und die eigene „Position gegen den gegenwärtigen Machthaber“ dadurch zu sichern, daß dieser sich selbst der Verfügung des verstorbenen Ausstellers unterwarf (H. Krause 1958 S. 211 – 219). Was das Volksrecht weder bewirkte noch verlangte, das mußten die Begünstigten seinem freien Willen abgewinnen. Eine rechtsgeschichtlich befriedigende Erklärung für diesen Sachverhalt (G. Waitz 1876 – 96 Bd. 3 S. 285 f., Bd. 6 S. 620 f.) gibt es noch nicht (H. Krause 1958 S. 214 f.), denn der einst von Fritz Kern konstruierte Gegensatz zwischen gutem altem und geltungsschwachem neuem Recht reicht dazu nicht hin, sondern bedarf selbst einer Erklärung. Diese aber muß man verfehlen, wenn man voraussetzt, eben deswegen, weil es neues Recht war, sei allem Privilegienrecht die selbstverständliche Dauer alten Rechts abgegangen und habe die niemals aufhörende Suche nach einer wirksamen Dauergarantie für neues Recht erfolglos bleiben müssen, wie die endlose Abfolge von Bestätigungen alter Privilegien bewiese (ebd. S. 221 – 223).
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Der mittelalterliche Staat kannte nämlich sehr wohl eine solche Dauergarantie für neues Recht, und dies war dieselbe, die auch allem alten Recht seine Dauer gewährte. Altes Recht: das waren die Volksrechte des frühen Mittelalters, aus denen durch ständige Besserung in der lokalen Gerichtspraxis die Land-, Hof- und Stadtrechte des hohen und späten Mittelalters hervorgingen. Deren zwar wandelbare, aber im ganzen unaufhebbare Dauer beruhte darauf, daß sie im Rechtsgefühl des Volkes verankert und im Gedächtnis seiner Rechtskundigen, Schöffen und Fürsten deponiert waren. Wie der dem Jurisdiktionsprimat eigentümliche Reskriptsprozeß beweist, der im Mittelalter in der Publikation und Verifikation der Privilegien in den örtlichen Gerichtsgemeinden fortlebte, gewann auch Privilegienrecht dadurch und insofern dauernde Geltung, daß und als es von diesen Depositaren als volksrechtsgemäß (secundum legem) gefunden rezipiert und dem vorhandenen Bestand an mündlich überlieferten Gesetzen einverleibt wurde. Geschah dies, so blieb ein einmal durch königliches Privileg anerkanntes Recht auch über den Tod des Urhebers hinaus gültig, mochte der Nachfolger es nun bestätigen oder nicht, oder mochte er es sogar widerrufen, wenn andere Interessenten ihn dazu bewegen konnten, es als erschlichen zu verurteilen (oben: § 242). § 794. Wir würden irregeführt werden, wenn wir mit Fritz Kern die Königsmystik der christlichen Theologie für bare rechtsgeschichtliche Münze nähmen und die Augen vor der Tatsache verschlössen, daß der Staat des hohen Mittelalters nicht von oben, von der monarchischen Spitze, sondern von unten und vom Volke her erbaut war. Auf solchem Irrtum beruht die Behauptung: (Nicht das Volk, sondern) „der Herrscher garantiert das Recht. Ihm entfließen alle Privilegien. Aber sein Wille und seine Macht tragen nicht mehr nach seinem Tode,“ es bleibe dann nur die bange Frage, was der Nachfolger zu tun belieben werde, denn „der Gedanke des unpersönlichen, besser des überpersönlichen Staates war noch nicht erfaßt“ (H. Krause 1958 S. 226 f.). Nur der in der theologischen Herrschermystik Befangene kann glauben, einsichtige Herrscher hätten die Bewahrung des Rechtes im Gedächtnis des Volkes durch geeignete technische Vorkehrungen wenn nicht beseitigen, so doch entbehrlich machen können: „Hätte der mittelalterliche Staat ein gutes behördliches Urkundenregister gehabt, mit Löschung der getilgten und immerwährender Schauhaltung aller noch gültigen Urkunden, dann hätte das Mittelalter nicht eine einzige Bestätigung gebraucht. Diese sind einfach technische Behelfe für Rechtsbeständigkeit, Vorsichts-, wenn man will, Angsterzeugnisse gegen die Rechtsunsicherheit“ (F. Kern 1919 / 1952 S. 53. H. Krause 1958 S. 216). Heute sind selbst Freunde dieser Lehre nicht mehr wirklich von ihr überzeugt. Denn nur die Volksrechtsordnung kann mit der Aussage gemeint sein: „Der Tod des Königs bedeutete nicht das Aufhören der Rechtsordnung, auch nicht zu einem Teil. Ein Interregnum ließ die Existenz des politischen Körpers von Bestand und machte das Königsgut nicht herrenlos“ (H. Krause 1958 S. 225). Mit dieser Rechtsordnung, deren Geltungsgrund an keinerlei Person gebunden war und daher von keinem Herrscherwechsel berührt wurde (ebd. S. 228), war auch jener überpersönliche Staat bereits gegeben, dessen Dasein die Herrschermystik seit jeher
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bestreitet. Wenn aber neues Recht in die Schicht des alten und dauerhaften Rechtes aufsteigen konnte (ebd. S. 229), so haben wir uns zu fragen, wie dieser Aufstieg vor sich ging, und die Antwort darauf stellt sich ein, sobald wir die Verifikation durch die Volksgerichte zur Kenntnis nehmen, deren jedes Privileg bedurfte, um Geltung zu erlangen. Wie sich Parteien, denen daran gelegen war, die ewige (d. h. nur durch Widerruf beendbare) Geltung von Privilegien zu behaupten, zur Begründung auf die theokratische Amtsvollmacht des Königs berufen mußten, so diejenigen, denen eine auf die Regierungszeit des Urhebers beschränkte Geltung vorteilhaft war, auf die Bevollmächtigung des Königs durch das Volk, das ihn erwählte und zum Haupte über sich erhob. Denn diese Auffassung machte das Volk zum Eigentümer aller Hoheits- und Reichsrechte und verpflichtete den König, dafür zu sorgen, daß diese Rechte am Ende seiner Regierung, also gewöhnlich mit seinem Tode, unverkürzt an das Volk zurückfielen. Den unveräußerlichen Königs- und Hoheitsrechten, die sich aus diesem Grunde der König bei jeder Verfügung über Reichsrechte und Reichsgüter gegenüber dem Begünstigten vorbehalten mußte (oben: §§ 717, 718), entsprach daher die Pflicht des Königs, derartige Verfügungen oder, aus der Sicht des Begünstigten gesprochen: derartige Privilegien in ihrer Geltung auf seine Regierungszeit zu befristen und unter den Vorbehalt der Bestätigung durch seinen Nachfolger zu stellen, falls der gemeine Nutzen diesem deren fortdauernde Geltung geboten erscheinen lassen würde. Unter den Gründen, aus denen dem Reichsuntertanenverbande und den Großen des Reiches an der raschen Beendigung jedes Interregnums so viel gelegen sein mußte, lag gewiß nicht der geringste in dem Umstande, daß alles Privilegienrecht während der Interregna außer Kraft trat (oben: § 729). Umgekehrt allerdings erlangte dann auch alles Privilegienrecht erneuerte und schließlich fortdauernde Geltung, welches der Reichsgemeinde so nützlich war, daß sie den Bewerbern um die königliche Würde die Bestätigung in den Verhandlungen über den Herrschaftsvertrag zur Bedingung der Kur machte (oben: § 746). Beispiele dafür, daß der König Privilegien seiner Vorgänger dadurch aufhob, daß er ihnen die Bestätigung versagte, sind mir erst aus der Zeit Kaiser Friedrichs II. und aus Italien bekannt (C. Brühl 1968 Bd. 1 S. 737. A. Haverkamp 1970 Teil 2 S. 674). Da sie dort wohl erst durch die Erneuerung der altrömischen wissenschaftlichen Rechtskultur ermöglicht worden sind, lassen sich aus ihnen keine Rückschlüsse auf die volksrechtlichen Anschauungen im Deutschen Reiche nördlich der Alpen herleiten.
§§ 795 – 798. Über die Unzulässigkeit der Deduktion von Regalrechten § 795. Die Nähe der Befugnis zu privilegieren zur königlichen Gerichtsbarkeit, mit der wir die Verwendung des in antiker Tradition stehenden Begriffs Jurisdik-
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tionsprimat rechtfertigen, schränkt die verfassungsrechtliche Bedeutung der Institution erheblich ein. Enthielten nämlich Privilegien in erster Linie Urteile über Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit von Sonderrechtsbräuchen, so kann die urteilende königliche Gewalt, sofern sie unparteiisch handeln sollte, nicht auch Quelle der Sonderrechtsbräuche selbst gewesen sein. Sie fand sie lediglich vor; ihr Ursprung aber lag einerseits in der rechtsschöpferischen Vollmacht der grafschaftlichen Dinggemeinden, aus denen sich die Teilreichsvölker zusammensetzten, und andererseits in dem göttlichen Auftrag, die Welt zu verändern, den sich Kirchen und Klöster beilegten. In den dadurch hervorgerufenen Konflikten hatten sowohl Herzöge und Landesversammlungen der Teilreiche als auch die Reichsregierung die Aufgabe zu erfüllen, für die Einheit der Volksrechte und für deren Verträglichkeit mit dem Interesse des Gesamtreiches zu sorgen. Die jurisdiktionelle Kompetenz des Königs bedeutet demnach nicht, daß Partikulargemeinden ein im Wege der Privilegierung festgestelltes und vorläufig (d. h. unter Voraussetzung der veritas precum) beschütztes Sonderrecht nur mit Erlaubnis des Königs ausüben konnten, sondern lediglich, daß eine Entscheidung notwendig war, wenn solche Sonderrechtsbildungen miteinander in Widerstreit gerieten. Insbesondere geht es nicht an, den König als Inhaber der durch Privileg geschützten Rechte und jede Privilegierung als Verleihung eines Königsrechts an den Petenten zu verstehen. Der Jurisdiktionsprimat war eine Institution des Verfassungsrechts, und zwar, wegen seiner öffentlichen Ausübung in prozessualen Formen, eine Institution formalrechtlicher Art. Deswegen ließen und lassen sich aus ihm keine materiellen Rechte herleiten, wie es dem Reiche gehörige und ohne Vorbehalt (oben: §§ 717, 718) verleihbare Rechte doch gewesen sein müßten. Ich sehe es daher als einen Trugschluß an, aus dem Königsrecht zu privilegieren und dessen universaler Kompetenz königliche Regalrechte zu deduzieren, die bereits von den Karolingern in derselben Weise ausgeübt worden wären wie die später, im 12. Jahrhundert, ausgebildeten Regalien, nämlich als finanziell nutzbare Hoheitsrechte (oben: § 323. A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 336, 339). Das Recht etwa, auf eigenem Grund und Boden einen Marktplatz zu bauen und auf solchen Märkten Waren feilzubieten und zu kaufen, stand jedermann zu; erst dann bedurften die Freien dazu einer Entscheidung des Grafengerichts und in letzter Instanz der königlichen Jurisdiktion, wenn sich die Märkte gegenseitig schädigten und daher die Interessen der Marktherren und Marktbesucher nach Recht und Gesetz gegeneinander abgegrenzt werden mußten (oben: § 789). Namentlich die Konstruktion eines königlichen Bodenregals bedarf der Zurückweisung, weil dessen Begriff, gleich vielen anderen Begriffen der älteren rechtsgeschichtlichen Forschung, bei der heute obwaltenden Beliebigkeit der Terminologie (oben: §§ 336, 337, 556a, 710), noch immer bei Bedarf reaktiviert zu werden pflegt und weil er der Projektion der Patrimonialstaatslehre auf den Staat des Mittelalters Vorschub leistet. Deswegen muß erwiesen werden, daß es nicht möglich ist, aus der königlichen Privilegierung von Grundeigentum, welches ein Mann nach Bifangrecht aus ungenutztem Gemeindelande aussonderte (oben: §§ 226,
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291), auf ein königliches Bodenregal oder Obereigentum an herrenlosem Lande zu schließen (F. Keutgen 1914 S. 31 – 34 mit A. 41a. W. Wegener in HRG 4 Sp. 473). Wie wir es häufig finden, so weist auch in diesem Falle bereits Georg Waitz (1876 – 96 Bd. 8 S. 256 f.) auf die richtige Lösung des Problems hin. Zwar nahm er an, innerhalb der Grenzen des Reiches habe das unbebaute Land zur Verfügung des Königs gestanden, da Kaiser Heinrich II. im Jahre 1018 dem Kloster Einsiedeln einen Wald geschenkt habe, der, weil unzugänglich und ungenutzt, seinem Eigentum zugewiesen sei oder für sein Eigentum gehalten werde, quandam silvam inviam et incultam et ob hoc nostrae proprietati deputatam (MGH. DH. II. 395. H. Götz, Wb. 1999 S. 185); er fügte aber hinzu, daß manchmal auch ohne königliche Zustimmung Land gerodet und in Eigengut verwandelt worden sei, und so mutmaßte er, daß der Befugnis des Königs am herrenlosen Lande wohl ein allgemeines Nutzungsrecht der Anwohner gegenüberstand, zumal es „ein besonderer Fall ist, daß zu der Errichtung eines sogenannten Wildbanns häufig die Zustimmung der beteiligten Anwohner eingeholt und daß sie, erfolgt, in einer Urkunde erwähnt wird“ (G. Waitz Bd. 6 S. 618), da das Recht einer vom König privilegierten Jagdgenossenschaft mit den Nutzungsrechten der Anwohner kollidieren konnte und der König, wenn er diese beschränken wollte, deren Zustimmung dazu einholen mußte (ebd. Bd. 8 S. 260 f. Oben: §§ 225, 288 – 291). § 796. Gemäß dieser Anweisung wäre nicht nur das genannte Diplom von 1018, sondern die gesamte Reihe einschlägiger Privilegien für Einsiedeln zu erklären. Sie beginnt mit einer Urkunde König Ottos I. von 947 (DO. I. 94), die auf Grund einer Bitte Herzog Hermanns von Schwaben erging. Der Herzog hatte dem König mitgeteilt, eine Stätte namens Meinradszell sei ihm von gewissen Getreuen zu Eigentum übertragen worden; ein Eremit Eberhard, uns anderweitig bekannt als Dompropst zu Straßburg, habe dort eine Kirche nebst Gebäuden für einen Mönchskonvent erbaut, dessen Vorsteher er sei. Hermanns Bitte ging dahin, der König möge dieser Stätte als Privileg die Immunität und das Recht der Abtswahl bewilligen. Otto erfüllte die Bitte. Er gewährte den Mönchen das Wahlrecht und untersagte der gräflichen Gewalt, die Stätte und ihre Bewohner zu verwalten: Abt und Konvent sollten die Stätte als Eigentümer besitzen und nutzen, und ihre Güter sollten unter Königsschutz stehen, abbas potestative cum suis monachis ad illorum necessarios usus firmiter possideat absque ullius contradictione, et sub nostra defensione et munitatis tuitione res illorum perpetualiter permaneant ad illorum ut supra diximus necessarios usus. Es ging also in erster Linie darum, Abt und Konvent am Klostergut und an der zugehörigen familia die Nutzungsgewere, d. h. ein freiem Eigentum vergleichbares Nutzungsrecht zu sichern, denn Inhaber der ideellen Gewere oder Eigentümer und somit Eigenkirchenherr (oben: §§ 95 – 97, 354, 356) war Herzog Hermann, dem ungenannte Getreue diese Befugnisse übertragen hatten. Wer mögen diese Getreuen gewesen sein? Selbst wenn man in ihnen herzogliche Vasallen sehen will (H. Maurer 1978 S. 149), kann doch der Ort Meinradszell kein Lehnsbesitz gewe-
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sen sein, da sie zugunsten des Herzogs über die proprietas oder volle Gewere daran verfügten. Es ist indessen, wie wir wissen (oben: §§ 654, 672 – 674), gar nicht nötig, jeden Getreuen des Königs oder eines Herzogs als Vasallen anzusehen. Betrachten wir sie statt dessen als freie Genossen des herzoglichen Untertanenverbandes und der Dinggemeinde des Zürichgaus, so können wir sie näherhin als Enkel oder Urenkel von Männern bestimmen, die um die Mitte des 9. Jahrhunderts mit Willen und Zustimmung ihrer Mark- und Jagdgenossen in den unberührten Urwäldern fern von dem bewohnten Zentrum des Zürichgaus ein Stück Land nach Bifangrecht gerodet und sich angeeignet hatten, eben jenes Stück Land, auf dem sich, zweifellos mit ihrer Erlaubnis, der im Jahre 861 verstorbene Eremit Meinrad niederließ, von dem die Stätte ihren Namen erhielt. Diese Rodungsunternehmer hatten keinen Grund, ihr Eigentumsrecht an dem Bifang vom König bestätigen zu lassen, weil niemand da war, der es angefochten hätte; sie hatten genug an dem Rechtsschutz, den ihnen die Grafschaft und innerhalb derselben die den Wald nutzende Mark- und Jagdgenossenschaft gewährte. Sie dürften die ersten Eigenkirchenherren von Meinradszell gewesen sein, und wie es häufig geschah, könnte die Art und Weise, wie ihre Erben das Eigenkirchenrecht handhabten, ein Grund dafür gewesen sein, daß sich in der Zelle kein dauerhaftes monastisches Leben entfaltet hat. Nachdem Herzog Hermann im oder vor dem Jahre 947 von ihnen das Eigentumsrecht erworben hatte, konnte er die Zelle als herzogliches Eigenkloster neu begründen (H. Maurer 1978 S. 72 f., 162, 165 f.). Damit aber seine Erben das Kloster nicht abermals verderben ließen, entsagte er seinem Eigentumsrecht und erwarb er von König Otto I. das oben erwähnte Privileg, welches Abt und Konvent als Eigentümer der Stätte bestätigte und ihre Güter nicht nur in den Königsschutz aufnahm (oben: § 360), sondern auch mit der Immunität einer Reichskirche ausstattete. Damit freilich schufen Herzog und König (oben: § 482) ein Problem, denn schwerlich konnten sie die Stätte sowohl der Gerichtsbarkeit und dem Rechtsschutz der Grafschaft als auch den Nutzungs- und Jagdrechten der Markgenossen entziehen, ohne dazu deren Einwilligung einzuholen. Des Mangels dürften sie sich bewußt gewesen sein, wie der wiederholten Bestimmung des Königs zu entnehmen ist, daß sich die Nutzungsrechte des Klosters auf das für dessen Existenz Notwendige beschränken sollten: Offensichtlich wollte der König in die älteren Rechte der Grafschafts- und Markgenossen möglichst wenig eingreifen. Wäre deren Zustimmung vorher eingeholt worden, so hätte der Herzog dies zweifellos in seiner Bitte erwähnt; hatte er sie aber nicht erworben, so setzte er das königliche Privileg dem Verdacht aus, mit einer unwahren Bitte zu Lasten Dritter erschlichen zu sein. Es gibt mehrere Möglichkeiten, um dies zu erklären. Kaum jedoch waren sich die Beteiligten im Jahre 947 noch nicht darüber im klaren, welche Folgen die Verleihung von Immunität und Königsschutz für alle älteren Eigentums- und Nutzungsrechte an dem Rodeland haben würde. Sollte aber das Diplom in Kenntnis dieser Folgen ergangen sein, so wäre zweierlei möglich: Entweder haben König und Abt darauf verzichtet, das Privileg vor der Dingversammlung der Grafschaft bekanntzugeben, oder aber die Dinggenossen haben es nach erfolgter Publikation
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2. Teil: Der Staat
als erschlichen und volksrechtswidrig zurückgewiesen. In beiden Fällen wäre es nicht rechtskräftig geworden. Und so muß es gekommen sein, weil andernfalls die nachfolgenden Streitigkeiten zwischen Kloster und Markgenossenschaft nicht zu verstehen wären. In der Tat bezeugt eine noch zu erörternde Königsurkunde von 1114, daß die Markgenossen weder dieses Privileg noch die ihm nachfolgenden Bestätigungen jemals anerkannt haben. Wie wir wissen (oben: § 361), ist es ein allgemeines Problem der königlichen Immunitätsprivilegien, daß es den Begünstigten oft nicht gelang, das ihnen vom König bewilligte Recht gegen den Widerstand der Grafen und Grafschaften durchzusetzen. § 797. Weil die Wünsche des Klosters unerfüllt geblieben waren, trat der Abt im Jahre 1018 an Kaiser Heinrich II. mit der Bitte heran, er möge ihm einen Wald in der Umgebung des Klosters innerhalb angegebener Grenzen schenken (MGH. DH. II. 395). Demnach wünschte das Kloster seine Eigentums- und Nutzungsrechte gegen die der Markgenossenschaft abzugrenzen; die Grenze aber scheint der Abt eigenmächtig festgesetzt zu haben, da er es unterließ, ihre Anerkennung von Seiten der Markgenossen zu erwähnen. In seiner Bitte ist auch der Satz enthalten, aus dem Georg Waitz jenes Königsrecht am unbebauten Lande erschlossen hat, das spätere Historiker zum Bodenregal gesteigert haben: daß es sich nämlich um einen Wald handelte, der, weil ungenutzt, für königliches Eigentum gehalten werde, ob hoc nostrae proprietati deputatam. Bereits der Umstand, daß der Abt uns das logische Subjekt dieser Behauptung verschweigt, so daß wir nicht erfahren, wer dem König das Eigentum beigelegt hat, schon dieser Umstand verrät uns, daß wir es hier mit einer Erfindung des Abtes zu tun haben. Der König aber war nicht verpflichtet, diese Behauptung nachzuprüfen und etwa zu diesem Zwecke die Rechtsauffassung einer Reichsversammlung zu erfragen. Niemals ist das angebliche königliche Bodenregal durch ein Reichsweistum oder Reichsgesetz (oben: § 766) festgestellt worden. Auch kann die Behauptung des Abtes nicht der Rechtsauffassung der Markgenossen entsprochen haben – im Gegenteil, hätte der Abt die erlangte Kaiserurkunde vor der Versammlung der Markgenossen publiziert, so hätte er zweifellos deren wütenden Protest hervorgerufen, versuchte er doch, mit einer unwahren Bittschrift und einem erschlichenen Privileg die Genossen innerhalb der genannten Grenzen gegen ihren Willen zu enteignen. Auch dieses Privileg ist daher verdächtig, mangels ordentlicher Publikation in der Grafschaft niemals zur Rechtskraft erwachsen zu sein. Die Markgenossen jedenfalls hielten an ihrem Recht fest, innerhalb der Grenzen des Klosterwaldes nach Bedarf zu roden und zu jagen. Trotz der Unsicherheit seiner weltlichen Rechtslage entwickelte sich das Kloster Einsiedeln seit der Mitte des 10. Jahrhunderts zum maßgebenden monastischen Reformzentrum in Süddeutschland. Aber erst zu einer Zeit, als die Partei der Kirchenreformer stark genug geworden war, um den Investiturstreit auszulösen (oben: §§ 323a, 435, 549), wagte es Abt Rudolf I. (1090 – 1101), den Streit des Klosters mit den Markgenossen von Schwyz um die Grenzen des klosternahen Waldgebietes offen auszutragen. Von Kaiser Heinrich IV. erlangte er ein (verlorengegange-
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nes) Privileg, welches dem Kloster das Grundstück, auf dem es erbaut war, und den umgebenden ungenutzten Wald genauso übertrug, wie es bereits Otto I. und Otto II. getan hatten (MGH. DH. IV. 514). Wieder scheint es der Abt gewesen zu sein, der die Markgenossen stillschweigend enteignen zu können hoffte, indem er das Grundstück und den Wald zu Reichsgut erklärte. Die Markgenossen müssen auch diese Urkunde, sobald sie von ihr Kenntnis erlangten, als erschlichen und rechtswidrig zurückgewiesen haben. Der Abt mußte einsehen, daß keines der von seinen Vorgängern und ihm erworbenen Diplome die Rechtslage im Schwyzer Walde verändert hatte, weil unbebautes Land eben nicht, wie er behauptete, zur Verfügung des Königs stand. Und während die Markgenossen das Volksrecht auf ihrer Seite hatten, entbehrte der König der Befugnis, als Gesetzgeber in dasselbe einzugreifen. Selbst Ausnahmen davon konnte er nur dann gewähren, wenn die Betroffenen dem zustimmten. Wollten Abt und Konvent überhaupt noch zum Ziele kommen, so mußten sie ihren Gegnern das Argument entwinden, ihr Nutzungsrecht am klosternahen Gute beruhe auf schwäbischem Volksrecht. Abt Gerot und sein Vogt Ulrich änderten daher ihre Strategie. Sie verzichteten darauf, die königliche Jurisdiktionsgewalt anzurufen, und erhoben statt dessen Klage beim Königsgericht, dessen Urteiler als Depositare des Volksrechts dazu berufen waren, dieses verbindlich zu interpretieren. Dies geschah am 10. März 1114, als Kaiser Heinrich V. in Basel verweilte, wo sich sein Hof fast ausschließlich aus schwäbischen Bischöfen und der Kirchenform nahestehenden weltlichen Fürsten, darunter dem klagenden Klostervogt, zusammensetzte (Urk.regesten S. 126 n. 177. G. Waitz 1876 – 96 Bd. 8 S. 256). Die Klage richtete sich gegen die Markgenossen von Schwyz, die sich unter Berufung auf eigenes, angrenzendes Ackerland Gebiete des Klosters als ihr Erbteil gewaltsam angeeignet haben sollten und den seit 947 ergangenen Königsurkunden die Anerkennung versagten, obwohl diese die Freiheit des Klosters von allen Verpflichtungen erwiesen. Als Worthalter der Markgenossen war Graf Rudolf (von Lenzburg) anwesend, und er nun wurde durch ein gerechtes Urteil der Großen gemäß dem schwäbischen Volksrecht, equo iudicio primatum nostrorum, sicut docet lex Alemannorum, im Sinne der Klage für schuldig befunden. Auch nahm er für seine Person das Urteil an, indem er dem Kaiser hundert Pfund bezahlte, um sich seine Gunst zu erhalten. Indessen niemand scheint darauf vertraut zu haben, daß die Markgenossen den Fürstenspruch akzeptieren und hinfort ihr Landrecht auf dieselbe Weise auslegen würden wie die obersten Getreuen des Königs. Denn nur auf Betreiben der Kläger hin kann es geschehen sein, daß der Kaiser das Urteil, ergänzt um den Rat rechtskundiger Männer, zum Anlaß nahm, um dem Kloster abermals das Privileg der Immunität und Freiheit zu verleihen. Da er die Rechtskundigen, von denen er sich in seiner Rechtsauffassung bestätigen ließ, nicht zum Kreise der Urteiler zählte, können sie schwerlich etwas anderes gewesen sein als Kanonisten, denn das deutsche Recht kannte keine anderen Rechtskundigen als die Urteilsfinder. Offensichtlich waren die schwäbischen Urteiler in Basel auf kanonistischen Rat hin zu der neuen Auslegung des Volksrechts gelangt, wonach dem Kaiser die freie Verfügung
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über jede Einöde nach Belieben zustehen sollte: iudicio optimatum . . . , immo consilio iuridicorum, qui omnes concordi censuere iudicio causam vastitatem cuiuslibet invie heremi nostre imperiali cedere potestati, videlicet eam, cuilibet placuerit, redigendi . . . Letzten Endes gewann das Kloster wiederum nicht mehr als ein Privileg, auch wenn die Kanzlei nicht versäumte anzumerken, daß die anwesenden geistlichen und weltlichen Fürsten, also: die Urteiler, der Verleihung zugestimmt hätten. § 798. Obwohl sich ihr Worthalter dem Urteil unterworfen hatte, waren natürlich die Markgenossen, denen keine kanonistischen Berater beistanden, mit nichten gesonnen, deswegen ihre seit alters überkommene Rechtsauffassung zu ändern. Fast dreißig Jahre später, am 8. Juli 1143, als sich König Konrad III. in Straßburg aufhielt, brachte daher Abt Rudolf II. den Rechtsstreit mit ihnen abermals vor das königliche Hofgericht zu letztinstanzlicher Entscheidung (MGH. DKo. III. 89. Urk.regesten S. 168 n. 230). Die Markgenossen hatten sich nunmehr als Landesgemeinde verfaßt, denn er beklagte sie nicht nur als coheredes, sondern auch als cives de Suites, und er beklagte sie ausdrücklich deswegen, weil sie weder die königlichen Privilegien noch das Urteil von 1114 anerkannt hatten, obwohl dieses von den Alemannen und nach alemannischem Gesetz gefunden worden war. Auch das Urteil von 1143 hat daher den Rechts- und Grenzstreit nicht beendet, und die Machtverhältnisse – die Schwyzer Landesgemeinde stand als treibende Kraft hinter dem Bunde mit Uri und Unterwalden von 1291 – begünstigten die Schwyzer nun mehr denn je. In Etappen verschoben sie den 1114 vom Kloster beanspruchten Grenzverlauf, so daß der endliche Frieden von 1350 das einstige Klostergebiet um die Hälfte verkleinerte. Aber selbst in dieser Ausdehnung gelang es den seit 1274 als Reichsfürsten geltenden Äbten nicht, die Reichsunmittelbarkeit des Klostergebiets (oben: § 440) durchzusetzen. Unaufhaltsam geriet das Kloster unter die Landeshoheit der Schwyzer (E. Gilomen-Schenkel in LMA 3 Sp. 1744. J. Wiget in LMA 7 Sp. 1651). In sieben Jahrhunderten war es den Mönchen nicht gelungen, die weltliche Verfassung der Klosterstätte, die die Grafschafts- und Markgenossen in der Mitte des 9. Jahrhunderts geschaffen hatten, nach reichskirchenrechtlichen Grundsätzen umzugestalten. Niemals hat die Stätte des Klosters zum Reichskirchengut gehört. Die endlich errungene Landeshoheit der Landesgemeinde geht darauf zurück, daß es die alte Gau- und Markgemeinde gewesen war, die einst das Bifang- und Eigenkirchenrecht ihrer namentlich nicht bekannten Genossen an der Stätte konstituiert und garantiert hatte. Berücksichtigt man den prozessualen Charakter des Privilegierens, so zeigt sich, daß es sich bei der Behauptung, alles Ödland habe im hohen Mittelalter zur Verfügung des Königs gestanden, um eine Parteibehauptung handelt, die sich zwar die Könige bedingt, nämlich unter Voraussetzung der veritas precum, zu eigen machen konnten, die aber vom Volke niemals anerkannt worden ist und daher niemals Gesetzesrang und gesetzliche Geltung erlangt hat. Georg Waitz war demnach völlig im Recht, wenn er die vermeintliche Befugnis des Königs durch ein entgegen-
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gesetztes Recht der Anwohner beschränkt sah, ohne daß er freilich die Entstehung des Gegensatzes hätte aufklären können. Seine Nachfolger waren in ihrem Urteil nicht mehr so vorsichtig wie er. Um 1920 hatte sich die Lehre ziemlich allgemein durchgesetzt, daß sich der König als Eigentümer alles herren- oder erbenlosen Gutes betrachtet und daraus eine Reihe von Regalrechten, als Boden-, Straßen-, Strom-, Forst-, Jagd-, Fischerei-, Allmend-, Berg- und Fundregal, abgeleitet habe (A. Dopsch 1921 – 22 T. 2 S. 353 f., T. 1 S. 123 f., 132, 237 f.). „Die Wissenschaft ist darüber einig, daß alles herrenlose, d. h. nicht in Privatbesitz übergegangene Land nach fränkischem Reichsrecht dem ausschließlichen Aneignungsrecht des Königs unterlag und nur mit seiner Bewilligung in Privathände übergehen konnte.“ Ebenso hätten die Allmenden im Obereigentum des Königs gestanden, auch wenn dieser sie der Nutzung und Rodung durch die Markgenossen nicht entziehen konnte. Das Königsrecht sei allerdings bloß ein ideales Obereigentum gewesen, verschieden nämlich von dem unmittelbaren Eigentum, das dem Herrscher an den in seiner Gewere befindlichen Krongütern zustand. Diesen Unterschied sollte die Bezeichnung Bodenregal zum Ausdruck bringen. Praktisch geworden sei dieses, „abgesehen von den herrenlosen Ländereien, hauptsächlich in Rodungs- und Niederlassungsprivilegien, in Allmende-, Rottland- und Bergwerksabgaben, sodann in dem Forst-, Strom-, Straßen- und Strandregal“ (R. Schröder / E. von Künßberg 1922 S. 196, 207, 209, 224 – 226, 579 f.). Ohne diese Konstruktion hätte schwerlich der Versuch gemacht werden können, alle persönliche Freiheit des hohen Mittelalters als Königsfreiheit zu erklären (oben: §§ 115, 652). Das ihr entgegenstehende Volksrecht verloren die Anhänger dieser Lehren völlig aus dem Blick (R. Hübner 1930 S. 270. R. Kötzschke 1943 S. 284, oben: § 294. K. Bosl 1970 S. 721, 754, 783, 791, 795), es sei denn dort, wo keinerlei Privilegierung der Rodungssiedler wahrscheinlich zu machen war, wie etwa in Dithmarschen, wo altsächsische Verhältnisse bis zum Ende des Mittelalters bestehen blieben (H. Stoob 1951 S. 99 f., oben: § 500).
§§ 799 – 806. Zur Gesetzgebung Kaiser Friedrichs I. § 799. Im 9. Jahrhundert befanden sich die Bischöfe, wenn sie den Anspruch auf Zensur des Volksrechts erhoben, in der Defensive, da die Karolinger sie in dieser Rolle nur als Berater zur Reichsversammlung zuzulassen pflegten (oben: §§ 636, 765). In dieser Hinsicht trat im Ostfränkisch-deutschen Reiche ein Wandel ein, je mehr im Verlaufe des 10. und 11. Jahrhunderts die kirchliche Reformbewegung erstarkte und die Unterstützung nicht nur von Laien, sondern auch durch die Könige fand. Jetzt waren fromme Herrscher bereit, ihrer Verfügungsmacht über die Reichskirchen freiwillig Grenzen zu setzen (oben: § 718), und die Rechtsform für dieses Tun gewährte ihnen der Jurisdiktionsprimat. Aber da ihre Zugeständnisse an die Kirchen nach Volks- und Reichsrecht den Verzicht auf Erfüllung eines Teils ihrer Amtspflichten enthielten, konnte jeder einzelne König sie nur für seine Per-
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son und Lebenszeit in Kraft setzen. Jeder Nachfolger mußte selbst entscheiden, wie er die Forderungen der Frömmigkeit in seinem Gewissen mit seiner Amtspflicht, die Reichsrechte zu wahren, vereinbaren wollte. Auch jetzt, wo sie sich in der Offensive befanden, konnten sich die Kirchen daher der einmal errungenen Privilegien nicht auf Dauer sicher sein (oben: § 794). Jetzt, wo sie selbst die Nutznießer waren, lag ihnen nichts mehr daran, das Erschleichen von Privilegien zu bekämpfen oder daran zu erinnern, daß das Volk, dessen Gesetze sie durchbrachen, den König dazu auffordern konnte, sie deswegen zu widerrufen. Im Gegenteil, eine besondere Form der Erschleichung wurde nun zur Spezialität kirchlicher Schreibstuben, nämlich die mittels gefälschter Vorurkunden, deren sich Bischöfe und Äbte bedienten, um dem König echte Diplome zu entlocken. Kaum ein Bischof oder Abt schreckte noch davor zurück, dem König und der Reichsregierung derartige Fälschungen zur Bestätigung vorzulegen (P. Herde und A. Gawlik in LMA 4 Sp. 246 – 251). Als König Karl auf dem Tage zu Coulaines im Jahre 843 die westfränkische Reichsversammlung aufforderte, dafür zu sorgen, daß niemand ihm um privater Vorteile willen rechtswidrige Bitten vorlege (oben: § 788b), führten ihm zweifellos die Bischöfe die Feder, denen niemand zu widersprechen wagte, wenn sie die Sorge für die heilige Kirche als wichtigste Aufgabe des Reiches herausstellten. Bedroht fühlten sie sich damals vor allem dadurch, daß die Könige die Reichskirchen dem weltlichen Eigenkirchenrecht (oben: § 356) unterwarfen, indem sie Gesuche von Laien um Belehnung mit Kirchengut und Reichsabteien genehmigten. Legte man daran die Maßstäbe des Kirchenrechts an, so mußten derartige Bitten als rechtswidrig und die Dekrete und Reskripte, mit denen der König sie bewilligte, als erschlichen und damit ungültig bezeichnet werden. Die Abmahnungen, zu denen der König die Reichsversammlung aufforderte, hätten also nur dann Erfolg haben können, wenn die Franken dazu bereit gewesen wären, ihre Volksrechte einer kirchlichen Zensur zu unterwerfen. Aber diese Bereitschaft war nicht vorhanden. Die Behauptung: „Wenn weltliches Recht dem göttlichen widerspricht, so ist es eo ipso nichtig, braucht nicht erst widerrufen, sondern kann und muß für nichtig erklärt werden“ (F. Kern 1914 S. 345), ist falsch. Sie bezeichnet allenfalls einen frommen Wunsch der Bischöfe, jedoch niemals eine allgemein anerkannt gewesene Rechtstatsache. Auch der fromme Wille der Könige aus sächsischem und salischem Hause, alle Bitten der Bischöfe und Reichsäbte um Schenkungen und Privilegien zu erfüllen, vermochte daran nichts zu ändern. Nichts beweist die Hartnäckigkeit, mit der sich die Laien der Zensur der Volksrechte widersetzten, sobald es um die irdischen Güter der Kirche ging, besser als die Existenz und emsige Tätigkeit der geistlichen Fälscherwerkstätten. Ihrer hätte es nicht bedurft, wenn die königlichen Privilegien den Kirchen die erwünschte Besserung ihrer Rechtslage wirklich hätten verschaffen können. Die weltlichen Gerichte, vor denen die Bischöfe und Äbte ihre Privilegien publizieren und verifizieren mußten, ließen sich, wie wir aus dem Prümer Vogtweistum von 1102 / 04 (oben: § 792) wissen, durch königliche Diplome in ih-
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rer Rechtsauffassung so wenig beeindrucken, daß sie echte und unechte, erschlichene und gültige Urkunden ebenmäßig zurückwiesen. Nicht das Privileg des Königs definierte die örtlichen Rechtsverhältnisse, sondern das Ortsrecht bestimmte den Umfang, in dem das Dekret des Königs Rechtskraft zu erlangen vermochte. An dieser Rechtstatsache konnte auch der Fleiß der Fälscherwerkstätten nichts ändern. Als die kirchliche Reformbewegung im 12. Jahrhundert den Höhepunkt erreichte (oben: §§ 435, 436, 440), ging die Blütezeit des Privilegienrechts zu Ende. Kirchen und Klöster hörten auf, den Schutz des Königs zu suchen, um die Macht des weltlichen Eigenkirchenrechts zu brechen (oben: §§ 770, 771). Sie begannen auf den Schutz des Papstes und des Kirchenrechts zu setzen, dessen Charakter als objektives Gesetzesrecht durch die wissenschaftliche Arbeit der Rechtsschule zu Bologna und des Dekretisten Gratian in einer Weise ans Licht gebracht wurde, die alsbald dem ganzen Abendlande als Vorbild einer neuen Rechtskultur diente (oben: § 597a). Was aber das Deutsche Reich anlangt, so machten die jahrelangen Verhandlungen Kaiser Heinrichs V. und der Reichsfürsten mit zwei Päpsten über die Beilegung des Investiturstreits und endlich im Jahre 1122 der Abschluß des Staatsvertrags mit der römischen Kirche sowohl der Reichsregierung als auch den Großen des Reiches klar, daß über die Reichskirchen- und damit über die Reichsverfassung nicht länger im Wege der Privilegierung einzelner Kirchen und Petenten entschieden werden konnte, sondern daß es hinfort einer allgemeinen, alle gleichgearteten Fälle derselben Norm unterwerfenden Gesetzgebung bedurfte, um die Verfassung zu modernisieren. Manche Arengen königlicher Diplome zeigen, daß sich auch die Reichskanzlei der Problematik des Privilegierens und seiner Gesetzesbindung bewußt wurde (MGH. DF. I. 196 S. 328 Z. 25 – 27. DF. I. 396 S. 272 Z. 11 – 13). Die Verachtung, mit der die gebildete Geistlichkeit auf das Volks- oder Gewohnheitsrecht herabblickte, ließ allerdings keinerlei Interesse an einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Problems aufkommen. § 800. Unter diesem Gesichtspunkt kehren wir noch einmal zu den drei gewöhnlich als Privilegien bezeichneten Diplomen Kaiser Friedrichs I. zurück, denen besondere Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches zukommt. Was das Diplom betreffend die Erhebung der Mark Österreich zum Herzogtum im Jahre 1156 anlangt (MGH. DF. I. 151), so konnten wir bereits wahrscheinlich machen (oben: §§ 327a, 492), daß der Kaiser die Abtrennung der Mark vom Herzogtum Bayern und die Bestallung oder Belehnung der beiden neuen Herzöge nur mit dem Willen der Untertanenverbände der Länder Bayern und Österreich vornehmen konnte, deren hergekommenes Recht auf Erhebung oder Annehmung ihrer Häupter und auf Mitregierung im Lande durch die Einrichtung eines neuen Herzogtums nicht geschmälert werden durfte. Reichssache war lediglich diese Einrichtung selbst, und da sie die Reichsverfassung veränderte, erforderte sie auch die Zustimmung des Reiches oder der Reichsfürsten gemeinlich, die das Reich ausmachten.
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Nun räumte das Reich dem neuen Herzogspaare mit der libertas affectandi oder Nominierung des Nachfolgers im Falle seiner Kinderlosigkeit und mit der Beschränkung der Hof- und Heerfahrtspflicht auf bayerisch-österreichische Angelegenheiten auffällig weitreichende Sonderrechte ein, die, soweit uns die schriftlichen Quellen zu erkennen geben, der Reichsverfassung bis dahin unbekannt gewesen waren. So hatte das Herzogspaar allen Grund, die neue Einrichtung als Privileg zu bezeichnen. Kaiser und Reich indessen waren nicht dieser Meinung, denn ihre Urkunde verwendet weder den Begriff noch die für Privilegienbriefe übliche Kanzleiform. In der Narratio (DF. I. 151 S. 259 Z. 9 – 23) ist keine Petitio enthalten, d. h. die kaiserliche Verfügung ist weder, wie bei Privilegierungeen unumgänglich, auf Antrag des Begünstigten ergangen, noch, wie üblich, durch Intervenienten vorbereitet worden. Die Urkunde erwähnt den neuen Herzog weder als Petenten noch als Empfänger der Urkunde, und nur aus der Überlieferung des Textes ergibt sich, daß er in den Besitz einer Ausfertigung davon gelangt ist. Und wie es keine Petitio gibt, so fehlt auch eigentlich eine königliche Dispositio, denn das in der grammatischen Form eines Participium coniunctum in die Narratio einbezogene Kolon perpetuali lege sanctientes (S. 259 Z. 23) kann schwerlich als formulargemäße Eröffnung einer Disposition (H. Appelt 1990 S. 112) oder als deren Ersatz gedeutet werden. Wäre der Diktator, nachdem er die Narratio, wie es dem Kanzleistil entsprach, im Präteritum gehalten hatte, weil er sie auf Vorvergangenes bezog, nicht von da an zum Präsens übergegangen, so hätten wir gar keinen Grund, die Aufzählung der dem Herzogspaar gewährten Sonderrechte (S. 259 Z. 23 bis 260 Z. 1) für eine königliche, von einem Petenten erwirkte Disposition zu halten. Es folgt darauf auch keine Sanctio, wie sie in jedem gewöhnlichen Privileg enthalten ist, sondern sogleich die von namentlich genannten Zeugen bekräftigte Corroboratio (S. 260 Z. 1 – 13). Aus der Narratio geht indessen deutlich hervor, wie die unerbetene Urkunde wirklich entstanden ist und was für eine Handlung sie bezeugt. Kaiser Friedrich selbst nämlich war der Handelnde insofern, als er auf einer allgemeinen Reichsversammlung zu Regensburg in Gegenwart vieler Fürsten den Rechtsstreit der beiden Heinriche dadurch beendet hatte, daß beide Fürsten ihm die Trennung der Mark vom Herzogtum Bayern und die Belehnung des einen mit diesem, des anderen mit jener ermöglicht hatten (S. 259 Z. 9 – 18). Wie wir aus anderen Quellen wissen (K. Reindel in: Hdb. bay. G. 1981 S. 340 – 345), hatte sich der König in Erfüllung seiner Amtspflicht, das Gemeinwohl und den inneren Frieden des Reiches zu sichern, persönlich der Aufgabe angenommen, den Streit seines Hauses mit den Welfen beizulegen und zu diesem Zwecke auch den Streit der beiden Heinriche um das Herzogtum Bayern zu schlichten. Seinem Verhandlungsgeschick war es zu verdanken, daß nach dem welfischen auch der babenbergische Heinrich der Entscheidung des Streites durch das Königsgericht zugestimmt hatte. Den Ausschlag mag dabei gegeben haben, daß Friedrich bereit war, in der Person des Herzogs Wladislaw von Böhmen einen Fürsten zum
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Urteilsfinder zu bestellen, der mit dem Babenberger aus seiner ersten Ehe verschwägert war. Und so erreichte Friedrich auf der Reichsversammlung zu Regensburg, um dem Babenberger, der auf das Herzogtum Bayern verzichtet hatte, eine Standesminderung zu ersparen, vom Reiche die Erlaubnis, die Mark Österreich in ein Herzogtum umzuwandeln und dessen Herzog mit den erwähnten besonderen Hoheitsrechten auszustatten, wie uns die Urkunde noch in der Narratio mitteilt: Nach dem von Herzog Wladislaw bekanntgegebenen und von allen Fürsten gebilligten Rate und Urteil hatte der König die Umwandlung vorgenommen und die Sonderrechte durch ewiges Gesetz in Kraft gesetzt, perpetuali lege sancientes (S. 259 Z. 19 – 23). Dieses Sanktionieren oder Statuieren (Z. 27) war das eigentliche Geschäft des Königs, und damit diese seine kaiserliche Verfügung, hec nostra imperialis constitutio (S. 260 Z. 1), auf ewig gültig bleibe, ordnete er die Ausfertigung und Besiegelung einer Urkunde an, die freilich über ihren Empfänger nichts verlauten läßt. § 801. Obwohl König und Reichsversammlung den Konsens der Fürsten in gerichtsförmigem Verfahren herstellten, scheint mir deutlich zu sein, daß sie einen Akt der Gesetzgebung vollzogen, als sie das Herzogtum Österreich einrichteten, denn consensu populi et constitutione regis (oben: § 761) kam diese Einrichtung zustande: als ein vom Reichsvolke durch seine vollmächtigen Worthalter übereinsgetragenes und speziell von den Teilvölkern der Länder Bayern und Österreich mitgetragenes, vom Könige aber nach erreichter Einhelligkeit des Gemeinwillens gebotenes oder festgestelltes Gesetz, das vom Augenblick der Feststellung an gültig war, ohne einer Beurkundung und eines weiteren Publikationsverfahrens zu bedürfen, und das solange gültig blieb, wie das Reich und sein Gesetzgeber bestehen und an ihm festhalten würden. Namentlich war seine Geltung unabhängig von der Person des Königs, der es festgestellt hatte. Es galt auch nach seinem Tode während des Interregnums und erheischte keine Bestätigung durch den nachfolgenden König, im Gegenteil: Von Amts wegen war jeder neue König verpflichtet, es als einen Teil des Volksrechts zu schützen und zu vollstrecken. Falls sich die Reichsregierung oder etwelche Interessenten eine schriftliche Ausfertigung solcher Gesetze wünschten, so konnte dieser nur die Bedeutung einer Gedächtnisstütze und Beweisurkunde zukommen. Die Reichskanzlei hatte für solche Gesetzesurkunden noch kein besonderes Formular (später: in perpetuam rei memoriam, oben: § 729) ausgebildet, sondern pflegte die gewöhnliche, dem Jurisdiktionsprimat dienstbare Diplomform, so gut es ging, dem besonderen Zweck anzupassen (H. Appelt 1990 S. 8 – 10), so wenig diese aus dem Formular des Reskriptes oder auf Antrag bewilligten Dekrets entwickelte Form dazu auch geeignet sein mochte. Mit diesem Problem beschäftigte sich der Diktator der dem neuen Herzog übergebenen Ausfertigung, als er deren Arenga verfaßte und dabei, in vorbereitender Anspielung auf den Rechtsinhalt der Urkunde, in den alten Gedanken von der commutatio rerum einen neuen Sinn hineinlegte, denn er meinte damit nicht mehr den Tausch von Vermögenswerten, von dem die Formel bis dahin gehandelt hatte (ebd. S. 109), sondern die Umwandlung der Mark in ein Herzogtum, worüber hernach die
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Narratio berichtet. Das Substantiv commutatio in der Arenga (S. 259 Z. 5) kann keinen anderen Sinn haben als das Prädikat commutavimus an dieser Stelle (S. 259 Z. 21): „Obwohl eine Verfassungsänderung durch den leiblichen Vollzug“ – gemeint ist: durch die sicht- und hörbare Einmütigkeit der Reichsversammlung – „rechtsgültig bestehen kann, . . . so muß doch unsere kaiserliche Autorität dazwischenkommen, damit kein Zweifel über den Staatsakt aufkommen kann,“ quamquam rerum commutatio ex ipsa corporali institutione possit firma consistere, . . . ne qua tamen possit esse geste rei dubietas, nostra debet intervenire auctoritas (S. 259 Z. 5 – 8). Es ist also mit Bedacht geschehen, daß der Diktator weder den Staatsakt als Privilegierung noch das Diplom als Privileg bezeichnet, sondern den König die Entscheidung „durch ewiges Gesetz feststellen“ läßt (S. 259 Z. 23). Aus der Schwierigkeit, die Diplomform auf die Beurkundung eines legislativen Aktes zuzuschneiden, erkläre ich mir den Umstand, daß der Diktator für den Bericht über dessen zweiten Teil (S. 259 Z. 23 bis 260 Z. 1) das grammatische Präsens verwendet, gleichsam als ob die Schriftform ein Äquivalent zur Disposition gewöhnlicher Privilegien erheischte, obwohl doch Akte der Gesetzgebung eines königlichen Dekrets gar nicht bedurften. Sollte diese Annahme zutreffen, so würde sich ergeben, daß nicht der Kaiser aus der Machtfülle seines Amtes, sondern die Reichsfürsten und Urteiler aus der Fülle des bei ihnen deponierten Volksrechts die erwähnten Sonderrechte und namentlich die für den modernen Beobachter so geheimnisvolle libertas affectandi formuliert und dem Herzog von Österreich zugestanden haben. Dies aber hätten sie schwerlich getan, wenn sie darin ein der Reichsverfassung bis dahin ganz unbekanntes Privileg erblickt hätten. Wahrscheinlicher dünkt mich, daß sie darin ein Recht sahen, das alle Landesherren, die sich zugleich einer königlichen Bestallung erfreuten, vorkommenden Falles würden für sich in Anspruch nehmen können. Dieser Meinung konnten sie deswegen sein, weil jeder Landesherr außer der königlichen Bestallung oder Belehnung auch der Wahl oder Annehmung durch sein Land bedurfte, mochte er nun als Sohn des letzten Fürsten oder aus anderen Gründen der für das Fürstenamt am besten Geeignete sein. Wie das Wahlrecht der Landesgemeinde seit je die Willkür des Königs bei der Besetzung vakanter Herzogsstühle beschränkt hatte (oben: Fünfzehntes Kapitel), so beschränkte es auch die Willkür des Herzogs von Österreich (und jedes anderen Landesherrn) bei Ausübung der libertas affectandi. Da die Landesgemeinde am Privilegienstande ihres Hauptes teilhatte (oben: § 434), kam das vom Reiche bestätigte herzogliche Nominationsrecht auch ihr zugute: Sie beschützte ihr Wahlrecht. Indem Friedrich das von ihm herbeigeführte und von den Fürsten übereinsgetragene Gesetz bestätigte, übertrug er nicht ein eigentlich königliches Recht auf das Herzogspaar, sondern bestätigte er lediglich, daß das Recht des Landes und seines Hauptes, den Nachfolger zu kiesen und ihm zur Belehnung zu nominieren, mit seinem königlichen Amte vereinbar war. § 802. Die Königsurkunde von 1168, die von dem Herzogtum Würzburg handelt (MGH. DF. I. 546), ist unter anderen Umständen entstanden. Denn das Herzogtum
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brauchte nicht neu eingerichtet, sondern in seiner Existenz und Verfassung lediglich anerkannt zu werden. Daher gab es einen Petenten, der sowohl die königliche Entscheidung darüber als auch die Ausfertigung der Urkunde betrieb, und die Kanzlei war imstande, die gewöhnliche Form königlicher Privilegien bei der Beurkundung einzuhalten. Als Petent handelte Bischof Herold in Gemeinschaft mit dem Domkapitel, dem Adel und der Ministerialität des Bistums, oder anders gesagt: gemeinsam mit dem bereits als rechtsfähige Verbandsperson bestehenden Lande Würzburg. Dieses Land war, für uns erkennbar seit dem Ende des 9. Jahrhunderts, aus dem Bestreben mainfränkischer Grafschaftsvölker, sich in einem Dukatsverband zusammenzuschließen, hervorgegangen, doch hatte es bisher weder die Anerkennung sämtlicher Einwohner des Landes noch die des Reiches erlangt, und daher versuchte es seit langem, seine ungesicherte Existenz durch die Auszeichnung seines gekorenen Hauptes mit der Herzogswürde zu befestigen (oben: §§ 327b, 450). Die Gegner dieser Politik, als Fürsten und Herren, die in mainfränkischen Teilräumen nach eigener Landesherrschaft oder einfach danach strebten, reichsunmittelbar zu bleiben, nahmen vor allem daran Anstoß, daß der Bischof die herzogliche Würde in ganz Ostfranken für sich beanspruchte. Um ihren Widerstand, der keinen einhelligen Gemeinwillen des Landes oder gar aller Ostfranken aufkommen ließ, zu überwinden, waren schon Herolds Amtsvorgänger auf den Gedanken verfallen, ihr Ziel auf dem finsteren Wege der Erschleichung zu erreichen. Zu Hilfe kam ihnen dabei ein von ihnen häufig beschäftigter Schreiber, der zwischen 1136 und 1157 vereinzelt, nämlich viermal, auch als gelegentlicher externer Schreiber für die Reichskanzlei tätig geworden ist, aber mit deren Praxis wenig vertraut war. Von ihm hatten sie Königsurkunden auf die Namen Heinrichs II., Konrads II. und Heinrichs III. mit dem gewünschten Inhalt anfertigen lassen (H. Appelt 1990 S. 21. W. Petke in RI 4, 1, 1 S. 323 zu n. 496). Diese Fälschungen legte Herold jetzt dem Kaiser zur Bestätigung vor. Es ist nicht bekannt, ob oder daß schon vor 1168 ein Bischof den Versuch gemacht hat, die Falsifikate vor ostfränkischen Dinggemeinden zu publizieren, geschweige denn, daß er damit Erfolg gehabt hätte. Wären aber derartige Versuche unternommen worden und hätten fränkische Gerichte den Fälschungen die Anerkennung verweigert, weil sie dem Landrecht widersprachen, so wäre die Verhandlung vor dem Kaiser als ein Berufungsverfahren zu verstehen, und daraus könnte es sich erklären, daß der Kaiser damit eine Reichsversammlung befaßte, auf der die Gegner des Würzburger Anspruchs offenbar gut vertreten waren. Denn da er sich zur bloßen Gewährung oder Bestätigung eines Privilegs mit dem Konsens seiner Hofleute hätte begnügen können, betrachtete er das Anliegen der Würzburger offensichtlich als ein hochbeschwerliches und das ganze Reich betreffendes Geschäft (oben: § 763b). Sein Diplom betont nämlich, daß er auf einer allgemeinen Reichsversammlung, in generali curia Wirzeburg celebrata, darüber entschied, und zwar auf derselben, in der er (auch) die zwieträchtigen Fürsten der Sachsen miteinander versöhnte (DF. I. 546 S. 5 Z. 23 – 24). Die außerordentlich umfangreiche
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Zeugenliste nennt namentlich vierzehn geistliche Fürsten, achtzehn Stiftsherren, sieben weltliche Fürsten, fünfzehn Grafen und achtunddreißig Edelfreie und Ministerialen (S. 6 Z. 25 bis 7 Z. 18). Sie beweist, daß die Reichsversammlung zugleich einen mainfränkischen Landeshoftag darstellte und damit nicht nur für die Genehmigung, sondern auch für die Publikation und Verifikation des beantragten Privilegs zuständig war. Über den Gang der Verhandlungen wüßten wir so gut wie nichts, wenn sich nicht „aus einigen Andeutungen im Text“ des Diploms darauf schließen ließe, daß die erwähnten Falsifikate dabei eine Rolle gespielt haben, jedoch dem Wortlaut des Diploms nicht zugrundegelegt worden sind (zu DF. I. 546. S. 4 Z. 30 – 33). Ich nehme daher an, daß sie, wie bei Schriftstücken üblich, „die die Grundlage für eine politische oder rechtliche Entscheidung oder für die Ausfertigung einer Urkunde bieten sollten, vor dem Kaiser und den anwesenden Großen in deutscher Übersetzung öffentlich verlesen“ (H. Appelt 1990 S. 16) worden sind, daß die Verlesung aber sogleich den öffentlichen Widerspruch derjenigen ostfränkischen Dinggemeinden hervorrief, deren Schöffen und Große entweder nichts von einer früheren Publikation der vermeintlich uralten Diplome wußten oder aber bereits früher dagegen protestiert hatten und deren Landrecht folglich auch den Inhalt nicht rezipiert hatte. Gelehrte Kenner des Privilegienprozesses müssen den Petenten sogar den Vorwurf der Erschleichung des Herzogsrechts und damit einer betrügerischen Absicht gemacht haben. Aus ihm nämlich erklärt sich die Eigenart des Verfahrens, in dem die Entscheidung über die Petition fiel: nämlich als eines Publikationsprozesses, der fehlschlug, weil die Reichs- und Hoftagsversammlung die ihr vorgelegten Urkunden (zwar nicht als Fälschungen, wohl aber) als rechtswidrige und somit ungültige Beweismittel zurückwies (oben: § 792). § 803. So weist das Diplom, welches das Ergebnis des Verfahrens und die Rechtsgründe der Entscheidung dokumentiert, bereits in der Arenga auf das Problem hin, das aus der Würzburger Petition ein hochbeschwerlichen Geschäft des Reiches gemacht hatte. Es heißt da nämlich, der Kaiser müsse die frommen Verfügungen seiner Amtsvorgänger nicht nur unverkürzt bewahren, sondern ihnen auch, sobald er sie durch sein amtliches Urteil förmlich bestätigt habe, censure sue auctoritate alacriter et sollempniter confirmata, ein ewiges Gedächtnis sichern, damit nicht das einmal um Not der Kirchen und Wohlfahrt der Länder willen Dekretierte durch die Zeitläufte verdunkelt und in Zweifel gezogen werde. Gern ergreife er daher die Gelegenheit, alte Einrichtungen zu befolgen, denn wer Erschleichungen verhüten wolle, der müsse das rechtmäßig Festgesetzte bewahren, quia locus subreptionibus non relinquitur, quotiens rationabiliter constituta servantur (DF. I. 546 S. 5 Z. 13 – 22). Friedrich und der Reichsversammlung war also bekannt, was es mit der Bitte der Würzburger um Bestätigung ihrer Privilegien auf sich hatte. Nur indirekt gibt uns das Diplom zu verstehen, daß sich König und Reich nicht nur geweigert haben, die erbetene Bestätigung auszusprechen, sondern daß sie damit auch den Petenten aus dem Verfahren verbannten und dessen Fortgang selbst in
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die Hand nahmen. Die Narratio enthält nämlich eine andere Bitte als die von den Petenten vorgelegte, und wir müssen annehmen, daß sich auf sie die Reichsversammlung in den vorangegangenen Verhandlungen über die Einreden der Gegner als allein mit dem Landrecht vereinbare und folglich einhellig annehmbare Bitte verständigt hatte. Bischof Herold und den Seinen blieb nichts anderes übrig, als sich diese Bitte zu eigen zu machen, die einzige, welche der Kaiser rechtmäßigerweise bewilligen und das Land nicht zurückweisen durfte. Sie lautete: Der Kaiser möge die Gerichtsbarkeit, die die Würzburger Kirche von früheren Kaisern erhalten und gegenwärtig innehabe, dem Bischof, der Kirche und dem Herzogtum bestätigen und dies mit seinem Privileg bekräftigen (ebd. S. 5 Z. 27 – 30). Damit nicht genug: In der Einleitung zur Disposition kommt das Diplom noch einmal auf das Problem zurück, das die Reichsversammlung zu lösen hatte: Sie mußte das Begehren der Petenten mit dem Einspruch der Betroffenen gemäß dem Gesetz in Einklang bringen, also über Petition und Exzeptionen ein Urteil fällen. Weil der Kaiser rechtmäßige Bitten gerne aufgreife, so wolle er auch die Dekrete seiner Vorgänger, soweit feststehe, daß sie rechtmäßig ergangen und seit jeher von der Kirche und dem Herzogtum Würzburg unwidersprochen genutzt worden seien, quas tamen constat rationabiliter esse decretas et ab ecclesia et ducatu Wirzeburgensi . . . irrefragabiliter habitas et usitatas, keineswegs in Zweifel ziehen, sondern soweit bewahren, wie er sie nicht korrigieren müsse, ubi nihil est, quod corrigere debeamus (ebd. Z. 30 – 37). Damit ist erklärt, wie die Disposition entstanden ist: nämlich nicht auf Grund der vom Petenten vorgelegten Urkunden, deren Rechtswidrigkeit die laut gewordenen Einreden an den Tag gebracht hatten, sondern auf Grund des Status quo, der mit Rücksicht auf die Einreden, hoc excepto quod . . . (S. 6 Z. 6), definiert und schließlich einhellig beschlossen werden konnte. Es fand damit auch keine Erhebung des Würzburger Landes zum Herzogtum statt, sondern lediglich die beiläufige Anerkennung des Umstandes, daß das Land tatsächlich damals, in welchen Grenzen auch immer, ein Herzogtum war. Wie der gleichzeitige Vermerk beweist, den Bischof Herold auf die Rückseite einer Ausfertigung setzen ließ, kam es den Würzburgern aber hierauf an. Sie betrachteten das Diplom als privilegium de confirmatione ducatus et comitiarum (S. 5 Z. 8). Obwohl das Diplom es nicht ausdrücklich erwähnt, hat der Kaiser sein Dekret auf den einhelligen Konsens der Reichsversammlung hin verkündet, die ihrerseits einem Urteil der vornehmsten Fürsten beigetreten sein wird. Auch der Würzburger Staatsakt vom 10. Juli 1168 war also mehr als eine gewöhnliche Privilegierung oder Amtshandlung der Jurisdiktionsgewalt, nämlich ein Akt der Gesetzgebung, beruhend auf der Eintracht des Volkes, das durch seine Worthalter während der Verhandlungen ausführlich zu Worte gekommen war und als Zeuge seines Beschlusses die königliche Sanktion bestätigte. Friedrich sagt denn auch in der Disposition, er entscheide mit kaiserlicher Autorität und durch ewig gültiges Gesetz (S. 5 Z. 44 – 45); seine Sanktion sollte als pragmatische den Reichsbeschluß zur ewig gültigen Konstitution machen (S. 6 Z. 18 – 19). Als Gesetz hat auch dieses Privileg niemals einer Bestätigung durch spätere Herrscher bedurft.
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§ 804. Im Gegensatz zur Anerkennung des Herzogtums Würzburg von 1168 handelte es sich bei der Einrichtung des Herzogtums Westfalen im Jahre 1180 wiederum um eine Neuschöpfung, die erst durch die vorherige Teilung eines älteren Herzogtums, nämlich des Regnums Sachsen, möglich geworden war. Dieser Teilung lagen tatsächliche und rechtliche Ursachen zugrunde. Was die ersteren anlangt, so hatte sich innerhalb des Regnums schon wenigstens hundert Jahre vorher ein Land Westfalen mit selbständigem politischem Gemeinwillen ausgebildet, und bald darauf hatte sich auch der Bund der welfischen Lande in der Mitte konstituiert und sowohl von Westfalen als auch vom elbostfälischen Lande abgesetzt (oben: §§ 467, 469, 472). Die rechtliche Ursache der Teilung ergab sich aus dem politischen Gegensatz zwischen Herzog Heinrich dem Löwen, der die Einheit des Regnums erhalten wollte, und den sächsischen Fürsten, die der Selbständigkeit der Länder den Vorzug gaben. In Gang gesetzt aber hatte die Teilung keiner der streitenden Fürsten, sondern Kaiser Friedrich, dessen Amt es war, um des Gemeinwohls willen jeglichen Streit zu schlichten. Nachdem er lange zwischen den sächsischen Fürsten zu vermitteln bestrebt gewesen war, gab er schließlich im November 1178 das Teilungsverfahren dadurch frei, daß er eine Klage der Fürsten gegen den Herzog zur Entscheidung annahm und damit den gerichtlichen Austrag des Streites vor sich und dem Reiche zuließ. Die Errichtung des Herzogtums Westfalen gleicht daher im wesentlichen der des Herzogtums Österreich von 1156: Es kann der zustimmende Wille des betroffenen Landes dabei vorausgesetzt werden, und dem Wollen und gerichtlichen Handeln der Reichsregierung kam entscheidende Bedeutung für den Ablauf des Verfahrens zu. So gleicht denn auch die darüber ausgefertigte Königsurkunde (MGH. DF. I. 795) in den diplomatischen Formen durchaus derjenigen von 1156. Wie diese nämlich entbehrt sie sowohl der Petition und Intervention als folglich auch der Disposition und Sanktion. Wiederum haben wir eine Gesetzesurkunde vor uns und damit das Exemplar einer Schriftgutform, für die die Reichskanzlei weder einen Begriff noch ein Formular besaß. Immerhin kündigt bereits die Arenga nicht mehr als ein Memorandum an, wenn sie sagt, weil das menschliche Gedächtnis schwach sei, hätten Friedrichs Amtsvorgänger beschlossen aufzuschreiben, was die Zeitläufte nicht in Vergessenheit bringen sollten (DF. I. 795 S. 362 Z. 23 – 26). Die hierauf folgende, sehr umfangreiche Narratio (S. 362 Z. 26 bis 363 Z. 10), deren Prädikate, wie sachlich geboten, im den Zeitformen des Präteritums stehen, weiß nichts von einem Petenten, sondern beginnt mit der Nachricht, daß der damalige Herzog Heinrich auf Klage der Fürsten und Edlen hin vorgeladen und wegen Ladungsungehorsams gemäß dem Urteil schwäbischer Fürsten in die königliche Acht geurteilt worden sei (S. 362 Z. 27 – 32); lediglich angedeutet wird dabei, daß es der König war, der die Ladung ausgesprochen und das Achtverfahren gegen den Ungehorsamen betrieben hatte, was sich, wie wir aus anderen Quellen wissen, auf Reichsversammlungen zu Speyer im November 1178 und zu Worms im Januar 1179 abgespielt hatte. Als nächstes teilt die Narratio mit, wegen weiteren Ungehorsams sei Heinrich nach Lehnrecht vorgeladen und verurteilt worden (Z. 32 – 36).
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In diesem Verfahrensabschnitt war der König als gekränkter Lehnsherr Kläger, und das Reich wies ihm, vielleicht auf einer Tagfahrt zu Magdeburg im Januar 1179, ein obsiegendes Urteil. Kläger und Betreiber muß der König auch bei dem nächsten Schritt gewesen sein, als eine Reichsversammlung zu Würzburg (im Januar 1180) dem Beklagten durch einhelliges Urteil der Fürsten die Reichslehen absprach und diese in die Verfügung des Königs gab (Z. 36 – 39). Bis hierhin läßt demnach die Narratio die vom König angeleitete Reichsversammlung, als Urheber des gerichtsförmig übereinsgetragenen Gemeinwillens, handeln; von jetzt an aber übernahm der König die Führung, gemäß seiner amtlichen Aufgabe, das dem Reiche Nützliche zu bestimmen und auszuführen. Dies geschah in zwei Schritten: „Also haben wir uns mit den Fürsten beraten und mit ihrem Rate das Herzogtum . . . in zwei Teile geteilt und einen Teil davon . . . der Kölner Kirche durch gesetzmäßige Schenkung aus kaiserlicher Freigebigkeit übertragen“ (S. 362 Z. 39 bis 363 Z. 6). Ferner „haben wir die Meinung der Fürsten darüber eingeholt, ob es (uns) erlaubt sei, (das folgende) zu tun, und nachdem diese (Meinung) gefunden und durch gemeine Zustimmung sowohl der Fürsten als auch der ganzen Reichsversammlung gutgeheißen worden war, . . . haben wir Erzbischof Philipp mit dem seiner Kirche übertragenen Teil mittels kaiserlicher Fahnenlanze formgerecht bekleidet“ (S. 363 Z. 6 – 10). Man kann das Prädikat investivimus auch mit den Worten „wir haben belehnt“ wiedergeben. Die jetzt im Kreise der Reichsfürsten beliebte neue Terminologie ändert jedoch nichts daran, daß es sich dabei um die herkömmliche volksrechtliche Bestallung des Herzogs handelte (oben: §§ 547 – 549, 593, 594), die der Bestätigung durch das Land bedurfte, um rechtskräftig zu werden. In Westfalen dürfte der neue Herzog ihrer in hinreichendem Maße teilhaftig geworden sein; seinem Kollegen im östlichen Teil des sächsischen Regnums dagegen haben wichtige Länder die Annehmung offensichtlich verweigert (oben: § 472). § 805. Mit dem Bericht über diese Verfügungen, die der König mit Zustimmung der Reichsversammlung zu Gelnhausen am 13. April 1180 traf, endet die Narratio. Weil in der Öffentlichkeit der Reichsversammlung und mit deren Erlaubnis getroffen, waren die königlichen Verfügungen, ebenso wie die Beschlüsse der vier seit November 1178 vorangegangenen Reichsversammlungen, sofort zur Rechtskraft erwachsen. Weiteres Recht konnte in der Sache nicht mehr gesetzt werden. Dies ist der Grund dafür, daß die Gelnhäuser Urkunde vom 13. April 1180 weder von einer Petition zu berichten weiß noch eine Disposition enthält. Das gesamte vom November 1178 bis zum Januar 1180 gerichtsförmig durchgeführte Verfahren, das den Rechtsgrund für die letzten Gelnhäuser Verfügungen gelegt hatte, schloß eine solche aus und ließ, wie schon in der Arenga des Diploms angekündigt, nur noch für eine beweisende Dokumentation Raum. Daß der König jetzt, nach Abschluß des öffentlichen Staatsaktes, überhaupt noch etwas zu tun hatte, bringt die Urkunde dadurch zum Ausdruck, daß sie von dem Präteritum der Narratio zum Präsens des gegenwärtigen Handelns übergeht.
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Was aber konnte der König, anstatt zu disponieren, noch tun? Es blieb ihm nur noch übrig, die rechtsgültig vollzogene Übertragung des Herzogtums auf die Kölner Kirche und Bestallung des Erzbischofs zu bestätigen, seinen Willen zu bekunden, daß beides auf ewig gültig sein sollte, durch kaiserliches Edikt zu verbieten, daß jemand sie breche, und dieses Gesetz durch sein Privileg mit goldenem Siegel und namentlich genannten Zeugen zu bekräftigen, hanc . . . donationem et investituram . . . confirmantes et . . . ratam permanere volentes, ne quis eam . . . violare attemptaverit, imperiali edicto inhibemus et hanc nostram constitutionem presenti privilegio . . . corroboramus . . . (S. 363 Z. 10 – 16). Der diplomatischen Form nach besteht diese kaiserliche Willenserklärung aus einer ein für allemal gültigen Confirmatio, einer die gewöhnliche Sanctio ersetzenden Verbotsformel (H. Appelt 1990 S. 114) und der Corroboratio in vereinfachter, seit 1178 entwickelter Fassung (ebd. S. 116). Wie einer Reichsversammlung angemessen, nennt die Zeugenliste (S. 363 Z.16 – 29) fünfunddreißig Fürsten, Grafen, Edle und Ministerialen mit Namen, bevor sie auf die Menge der ferner Anwesenden verweist. Die Gelnhäuser Urkunde ist demnach weder inhaltlich noch formal ein Privileg von der Art, daß sie sowohl einer nachträglichen Validierung mittels örtlicher Publikation als auch der Bestätigung nach jedem Interregnum bedurft hätte. Zwar spricht sie selbst davon, daß Erzbischof Philipp wegen geleisteter Reichsdienste ein Privileg verdient habe (S. 362 Z. 43), aber damit war nicht ein auf Antrag gewährtes königliches Dekret gemeint, sondern die Urkunde selbst, die der Kaiser mit goldener Bulle besiegeln ließ (S. 363 Z. 15). In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Diplom, ebenso wie bei dem betreffend das Herzogtum Österreich von 1156, um eine Beweisurkunde betreffend die Errichtung eines Reichsgesetzes oder einer nach zuvor erzieltem Konsens der Reichsversammlung verkündeten kaiserlichen Konstitution. Von den Formen des Jurisdiktionsprimats und Privilegienrechts unterscheidet sich eine solche Konstitution dadurch, daß sie nicht auf Antrag eines Interessenten hin ergangen war; vielmehr hatte der König selbst vom November 1178 an in Erfüllung seiner Amtspflicht das mit der Gesetzgebung endende Verfahren und nach dessen Abschluß die Ausfertigung der Urkunde betrieben. Es gibt Hinweise darauf, daß die Besiegelung mit goldener Bulle im Deutschen Reiche (anders als in Burgund und Italien) damals ein Merkmal amtlicher Expedition von urkundlichen Zeugnissen über besonders wichtige Staatsakte war (H. Appelt 1990 S. 94). Es wäre insofern kein Zufall, daß keine der beiden Herzogsurkunden, weder die von 1156 noch die Gelnhäuser, die Person des begünstigten Fürsten als ihren Empfänger nennt. Nur aus der Überlieferung der Diplome ist zu erschließen, daß die Herzöge Ausfertigungen derselben besessen haben. § 806. Die Ausfertigung einer Gesetzesurkunde warf nämlich ein Problem auf, für das der Reichskanzlei keine Lösung geläufig war. Denn während Privilegien stets wie einen Petenten, so auch einen Empfänger hatten, dem die Kanzlei die ausgefertigte und beglaubigte Urkunde schließlich aushändigte, hätte eine Geset-
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zesurkunde an und für sich die Kanzlei niemals verlassen dürfen, da ihr zwar nicht der Adressat, wohl aber der Empfänger fehlte: „Gesetze sind nicht expedibel“ (H. O. Meisner 1969 S. 280). Adressat aber war die Öffentlichkeit des Reichsuntertanenverbandes, waren alle Getreuen Christi und des Reiches (DF. I. 151 S. 295 Z. 9, DF. I. 546 S. 5 Z. 22, DF. I. 795 S. 362 Z. 27 Oben: § 678). Als deren Amtmann aber hätte der König selbst die Urkunde in Verwahrung nehmen müssen. Gerne wüßten wir, ob man sich damals der Rechtspflicht bewußt geworden ist, für die urkundlichen Ausfertigungen von Gesetzen ein Reichsarchiv als Ausstellerarchiv einzurichten, und lediglich keine praktische Lösung für diese Aufgabe fand, weil das Reich weder über eine Hauptstadt noch über einen festen Regierungssitz gebot. So mag es den Ausstellern damals noch genügt haben, die Verwahrung den jeweils am nächsten interessierten Fürsten im Namen des Reiches in Auftrag zu geben, zumal diese zum kleinen Kreise der vornehmsten und ranghöchsten Reichsfürsten gehörten und sehr wohl als vollmächtige Depositare des Reichsrechts und der Reichsurkunden angesehen werden konnten. Entsprach es nicht der von unten her erbauten Reichsverfassung, daß wir hier statt eines zentralen, an den herumreisenden Hof und Reichstag gebundenen ein dezentralisiertes Reichsarchiv in der Entstehung begriffen antreffen? Wir müssen uns daran erinnern (oben: § 777), daß die Abschiede oder Rezesse der Reichsversammlung keiner Beurkundung bedurften, um rechtskräftig zu werden, sondern von dem Augenblick an, in dem der König die einhellige, unwidersprochene Eintracht der Anwesenden feststellen konnte, gültig waren und blieben, weil alle Anwesenden dessen Zeugen waren und das Übereinsgetragene im Gedächtnis behielten. So dürfte die Gelnhäuser Urkunde in den Angaben über die Beschlüsse der seit November 1178 veranstalteten Reichsversammlungen darauf beruhen, daß Kanzler und Notare sie auswendig gelernt hatten, und selbst dann, wenn sich ein Notar darüber Notizen gemacht hatte, konnten ihm diese lediglich dabei helfen, sich an die Beschlüsse zu erinnern. Von solchen formlosen Niederschriften, die während der Verhandlungen angefertigt wurden und als Vorstufen für Vertragsurkunden dienen konnten, haben wir mancherlei Kunde (H. Appelt 1990 S. 6 – 8). Starb aber die lebendige Erinnerung am königlichen Hofe, im Kreise der Reichsfürsten oder im Volke und in den Köpfen seiner Schöffen und Rechtskundigen aus, so war es auch um ihre Geltung geschehen, und kein Dokument, mochte es nun formlos abgefaßt oder formgerecht beglaubigt und besiegelt sein, konnte ihm fernerhin die Rechtskraft sichern. Wir müssen folglich das bereits von Fritz Kern (oben: § 794) geäußerte Mißverständnis beheben, mit Hilfe eines guten behördlichen Urkundenregisters hätte der mittelalterliche Staat die Beständigkeit neugeschaffenen Rechts aufs einfachste sichern können, oder wie neuerdings gesagt worden ist, hinter den befremdlichen Formen und Funktionen des Jurisdiktionsprimats verberge sich „wohl ein durchgehendes Problem des vormodernen Staates, nämlich seine Unfähigkeit, eine vollständige und lückenlose Kontrolle der eigenen Administration und ihrer Folgewirkungen zu gewährleisten“ (O. Hageneder 1999 S. 407). Als Ausdruck dieser Unfä-
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2. Teil: Der Staat
higkeit gilt der bereits von Julius Ficker (1911 S. 78 – 89, 1921 S. 171 – 174) erörterte Widerruf von Privilegien, die sich im Publikationsverfahren als erschlichen herausstellten (oben: § 242). Aber beweist er wirklich, „daß die jeweilige Regierungsspitze die Übersicht hinsichtlich ihres Kanzleiausstoßes verlor und daher unschwer hintergangen werden konnte“ (O. Hageneder S. 409)? Ich sehe in all dem kein Problem des vormodernen Staates, sondern eines des modernen Historikers, der diesen Staat mit unzulänglichen Hilfsmitteln aus der Ferne betrachtet. Solange nämlich, wie die Volksrechte im Gedächtnis der Schöffen und Urteiler in den Grafen-, Vogt- und Landgerichten deponiert waren und die von den Teilgemeinden des Reichsuntertanenverbandes bevollmächtigte Reichsversammlung als Zeuge und Depositar des Reichsrechts fungierte, solange konnte niemand auf den Gedanken kommen, es sei besser, dieses lebendige Staatsund Reichsarchiv durch ein Register oder Depositum toter Schriftstücke zu ersetzen. Noch weniger ließen die volksrechtlichen Grundsätze des öffentlichen und mündlichen Rechtslebens den Gedanken aufkommen, die Gültigkeit eines Gesetzes könne von der Existenz eines schriftlichen Zeugnisses oder gar von dessen Form und Echtheit abhängen. Die Depositare des Volksrechts – und das waren nicht nur die schöffenbaren und fürstlichen, sondern alle gerichtsfolgepflichtigen Freien (oben: § 307) – müssen eine Rechtsordnung, die auf Niederschriften und deren Registratur und gelehrte Interpretation angewiesen gewesen wäre, um neugeschaffenes Recht zur Geltung zu bringen, verachtet haben, weil sie den Freien die Kenntnis ihres eigenen Rechtes vorenthielt und sie damit entmündigte und letzten Endes ihrer Freiheit beraubte. Auf ihren Standpunkt aber muß sich stellen, wer den vormodernen Staat und seine Verfassung verstehen will. Nicht intellektuelle Unfähigkeit, sondern der Mangel eines Bedürfnisses hinderte sie daran, ein Urkundenregister und Methoden für die Echtheitskritik an Königsurkunden zu erfinden. Denn Niederschriften von Gesetzen und Dekreten konnten nie mehr als Stützen des Gedächtnisses sein, die, wenn sie etwas anderes vermeldeten, als was die lebendige und öffentlich bezeugte Erinnerung der Rechtskundigen enthielt, eben deswegen bereits falsch und wertlos waren, ohne daß ein Gericht noch hätte feststellen müssen, ob sie formal echt und gültig oder echt, aber erschlichen, oder unecht, aber inhaltlich richtig, oder sowohl unecht als auch unrichtig waren. Das vermeintliche „Problem des vormodernen Staates“ lehrt uns zwar bei vergleichender Betrachtung, daß der Staat des Mittelalters anders verfaßt war als der moderne, aber zur Erfüllung der Aufgabe, die Eigenart der alten Verfassung positiv zu bestimmen, liefert es keinerlei Beitrag. Diese Verfassung hat aber die europäische Verfassungsgeschichte noch bis tief in die Neuzeit hinein bestimmt. Nur sehr allmählich nämlich gelang es den zu Obrigkeiten emporsteigenden Fürsten und Monarchen, einen bürokratischen Verwaltungsapparat zu schaffen, der die alte, justizförmige Regierungsweise zu beseitigen und alle Sonderrechte innerhalb des Untertanenverbandes einzuebnen vermochte.
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Solange, wie dieses Ziel noch nicht erreicht war, waren auch im Staate der Neuzeit „allgemeinverbindliche Regelungen im Sinne moderner Gesetze und Verordnungen nicht nur kaum möglich, sondern überhaupt nicht gefragt. Das heißt, es wurde nach dem Prinzip des Reskripts verfahren, reagiert und nicht agiert. Die Mehrzahl der Jurisdiktionsakte gingen nicht auf Initiative des Herrschers und seiner Regierung zurück, sondern auf Verlangen von Untertanen . . . Die von der Zentrale produzierten Dokumente . . . wurden auch von den Bittstellern selbst entworfen und von der Zentrale nur ausgefertigt“ (W. Reinhard 1999 S. 139. H. Mohnhaupt in HRG 3 Sp. 2008. Oben: § 47). Erst die von der Französischen Revolution im Jahre 1789 in Gang gesetzte Modernisierung des Verfassungsrechts schuf den Begriff eines allgemeingültigen, d. h. gleichmäßig alle Untertanen bindenden Gesetzes und beseitigte damit die „diametral entgegengesetzte zentrale Bedeutung des Privilegs“ als eines zugunsten von einzelnen Personen und Gruppen gegebenen Spezialgesetzes (W. Reinhard 1999 S. 298 f.). Erst mit diesem politischen Fortschritt ist der Aufbau von unten her endgültig überwunden worden, der den Staat des Mittelalters ausgezeichnet hatte. *** § 807. Obwohl oder weil der Jurisdiktionsprimat eine dem Volksrecht fremde Verfassungseinrichtung darstellte, war das Privilegienrecht nicht imstande, den volksrechtlichen Grundsatz zu durchbrechen, dem zufolge Gesetze und neues Recht allein durch einhellige Eintracht des Volkes und königliches Gebot zustandekamen. Sehr früh nämlich hat das Volk auch den über Petitionen entscheidenden König dazu verpflichtet, zu seinen Dekreten den Konsens seiner Großen und Worthalter einzuholen. Außerdem entzog es der Jurisdiktionsgewalt die Zuständigkeit für die privaten Rechtsverhältnisse physischer Personen und genealogisch begründeter Verbandspersonen (Sippen, Häuser, Geschlechter) und für das Gemeindeverfassungsrecht; jene verblieb bei den rechtskundigen Genossen der Gerichtsund Landesgemeinden, und für diese setzten die Gemeinden selbst die notwendigen Normen. Das Privilegienrecht war daher im wesentlichen auf den Ausbau der Staatsverfassung beschränkt, und nur deswegen, weil seine Setzung immer noch der Kontrolle durch das Volk im Publikationsverfahren unterlag, konnte die Einholung des volklichen Konsenses zu dem vorläufigen, durch die Forderung der veritas precum bedingten königlichen Dekret in der Regel als gewöhnliches oder allenfalls gewichtiges Regierungsgeschäft (oben: § 763b) behandelt werden. Machten aber die politischen Verhältnisse daraus einmal ein hochbeschwerliches Geschäft, zu dem der König den Konsens einer Reichsversammlung als Worthalters des Reichsuntertanenverbandes einholen mußte, so unterschied sich die Rechtssetzung in nichts mehr von der Gesetzgebung durch Eintracht des Volkes und königliches Gebot, wie die Einrichtung der Herzogtümer Österreich und Westfalen in den Jahren 1156 und 1180 beweist. Der Umstand, daß die Zeitgenossen überhaupt versucht waren, darin Privilegierungen der ersternannten Herzöge zu erblicken, hat seinen Grund darin, daß nach germanischem und mittelalterlichem
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2. Teil: Der Staat
Volksrecht die Rezesse öffentlicher Versammlungen keiner Beurkundung bedurften und daß man daher auf die von dem römischen Kaiserstaat ererbte Diplomatik des Jurisdiktionsprimats zurückgreifen mußte, sobald man einmal den Wunsch verspürte, von Staatsakten der Gesetzgebung außer dem Zeugnis der Öffentlichkeit und ihrer Erinnerung auch schriftliche Zeugnisse oder Beweisurkunden zu besitzen. Ich gelange damit zu dem gewiß vorläufigen und weiterer Prüfung bedürftigen Schluß, daß der Staat des hohen Mittelalters sehr wohl einen bestimmten Gesetzesbegriff kannte und praktisch anwendete, daß uns dieser Begriff aber erst dann verständlich werden kann, wenn wir die Eintracht des Volkes, den consensus populi, auf dem er wesentlich beruht, mit den Regeln des Systems der identischen Willensbildung (oben: Erstes Kapitel) verknüpfen können. Denn nur aus ihnen ergibt sich, in welchem Sinne die zur Reichsversammlung eingeladenen Großen vollmächtig waren, um für den Reichsuntertanenverband zu sprechen, und in welchen Formen ihnen die Partikularverbände und Gemeinden, aus denen sich das Reichsvolk zusammensetzte, diese Vollmacht erteilten. Nur aus ihnen ergibt sich schließlich, daß in dem von unten her erbauten Staate die letzte Entscheidung über die Gültigkeit sowohl alles alten wie des neu gesetzten Rechtes bei den Partikularvölkern, d. h. bei deren Willen und Fähigkeit lag, Gesetze im Gedächtnis zu behalten und sie vorkommenden Falls zu erkennen und anzuwenden. Erst im Spätmittelalter begann ihnen diese Fähigkeit verlorenzugehen (E. Pitz 2001 § 241 mit Anm. 534). Bis dahin konnten Reichsversammlungen Gesetze nur unter dem Vorbehalt beschließen, daß die Identität ihres Willens mit dem der Teilgemeinden wirklich hergestellt worden war. Diese Voraussetzung aber war von der Art, daß der Gesetzgeber nur ausnahmsweise tätig werden konnte. Es erscheint mir daher als fraglich, daß die Amtsvollmacht des Königs einen Auftrag zur Gesetzgebung im Sinne einer allgemein und über Tag und Jahr hinaus gültigen Regelung des Rechtslebens seiner Völker enthalten hat. Der Gedanke, daß das Fränkische und später das Ostfränkisch-deutsche Reich einer solchen Gesetzgebung bedurfte, wäre wohl nie gefaßt worden, wenn sich nicht die christliche Kirche als Inhaber einer der volklichen überlegenen Gerechtigkeit angesehen und daher verpflichtet gefühlt hätte, das Volksrecht zu zensieren, und wenn sie sich nicht, weil sich die Partikulargemeinden dagegen sperrten, genötigt gesehen hätte, den König und die Reichsregierung für diese Aufgabe zu gewinnen. Denn in der Reichsversammlung waren Zahl und Einfluß der Bischöfe und Reichsäbte groß, und gegenüber dem willigen Herrscher erwies sich die Kirche als dankbar, indem sie sein Amt und seine Person in einer Weise mystifizierte und verklärte, die die Staatsverfassung und das Rechtsdenken zwar erst seit dem Spätmittelalter, dann aber um so gründlicher umgestaltet hat. Ohne ihre Hilfe wäre es den Fürsten nicht möglich gewesen, den neuzeitlichen Obrigkeits- und Patrimonialstaat zu errichten. Nur deswegen, weil sich das Volk, namentlich seit seiner Niederlage im sogenannten Bauernkriege, vom öffentlichen Leben und der Verteidigung seines eige-
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nen Rechtes abwandte, war es diesem Staate möglich, den alten germanisch-fränkischen Gesetzesbegriff zu unterdrücken und durch den Absolutismus des Herrschers nach römischem Rechte zu ersetzen. Und nur deswegen, weil sich Engländer, Niederländer, Schweizer und Amerikaner dem hartnäckig widersetzten und weil die Engländer aus diesem Anlaß das alte System der identischen Konsensund Willensbildung zu dem politisch leistungsfähigeren Repräsentativsystem fortbildeten, waren die Europäer seit der Französischen Revolution imstande, diese verfassungsgeschichtliche Entwicklung allmählich zugunsten des repräsentativ verfaßten demokratischen Rechtsstaats zu korrigieren. Wie aber die Repräsentativverfassung nur als modernisierte oder rationalisierte Form der alten Identitätsverfassung hat entstehen können, so ruht auch der moderne Begriff des allgemeinen Gesetzes auf dem Grunde der mittelalterlichen Einheit von Eintracht des Volkes und Rechtsgebot des Königs.
Schlußbetrachtung §§ 808 – 813. Über den Germanismus der Verfassungslehre § 808. Der Übergang vom Identitätssystem der gemeinen Willensbildung zum Repräsentativsystem pflegte sich nicht in revolutionärem Umsturz der Staatsverfassung zu vollziehen, sondern als Entwicklung des jüngeren aus dem älteren System: Man ersetzte die beschränkte Vollmacht von Worthaltern, die die letzte Entscheidung den vollmachtgebenden Gemeinden überließen, durch die unbeschränkte Vollmacht von Abgeordneten, die ihre Gemeinden insofern bevormunden, als sie sie durch ihr Abstimmungsverhalten bindend verpflichten. Während das imperative Mandat der Worthalter die Souveränität des Staates auf die Gemeinden verteilte, konzentriert das freie, von deren Weisungen unabhängige Mandat der Abgeordneten die Souveränität des Staates auf die Reichsversammlung. Der Übergang zum jüngeren System befreite somit die Politik von dem Zwange, alle Entscheidungen auf einhellige Beschlüsse des Reichsvolks, seiner Gemeinden und der Reichsversammlung begründen zu müssen. Weisungsgebundene Worthalter konnten den Gemeinwillen nur dann feststellen, wenn Minderheiten auf Widerspruch zu verzichten bereit waren (verdecktes Mehrheitsprinzip, oben: §§ 719, 720a). Unbeschränkt vollmächtige und daher in ihrem Willen formal freie Abgeordnete dagegen konnten, wenn versammelt, den Gemeinwillen mit bloßen Mehrheiten feststellen, da Minderheiten, wenn sie ihre Folgepflicht erfüllten, kraft jener formalen Freiheit auch ihre Mandanten zum Gehorsam gegenüber dem (Mehrheits-)Beschluß verpflichteten. Alle gemeine Willensbildung, alles gemeinsame Beschließen einer Reichsversammlung beruht auf der Suche der Beteiligten nach Eintracht und Konsens und auf konsensorientiertem politischem Handeln. Solches Handeln prägt keineswegs erst die neueren, gemäß dem Repräsentativsystem verfaßten europäischen Staaten; es war vielmehr, wie die Quellen reichlich bezeugen, bereits in der identischen Willensbildung des Mittelalters enthalten, und wie die Verfassung selbst ist es beim Übergang zur Repräsentation lediglich in eine neue Form übergeführt worden, deren Merkmal die Offenlegung und Arithmetisierung des Beschließens mit einer Mehrheit von Stimmen ist. Man kann daher die Umformung als einen Fall von Rationalisierung betrachten. Entgegen der heute vorherrschenden Meinung, daß der Staat lediglich eines unter vielen Systemen menschlicher Vergemeinschaftung, und unter ihnen keineswegs das wichtigste, ausmache, bestimme ich den Staat als höchstes und allen anderen insofern überlegenes dieser Systeme, als nur der Staat die politische Einheit
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Schlußbetrachtung
einer Gesellschaft konstituieren oder, mit anderen Worten gesagt, aus der Bevölkerung eines von ihm bestimmten Gebietes ein (Staats-)Volk machen kann. Dadurch erweist sich als das spezifisch Politische, welches das öffentliche oder staatliche Leben bestimmt, die Macht zu entscheiden, was Recht sei, und die Geltung dieses Rechts zu erzwingen. Dies geschieht zunächst im Wege der Verstaatlichung aller Gerichtsbarkeit, d. h. der Erhebung aller Schiedsrichter zu Inhabern hoheitlicher Gewalt, und vollendet sich mit der Monopolisierung des rechtmäßigen Gebrauchs physischer Gewalt gegenüber Rechtsbrechern. Erst dann, wenn das sittliche Gebot des Landfriedens zum staatlichen Gesetz wird, eröffnet sich jedem einzelnen Genossen der werdenden Volksgemeinde die Möglichkeit, sich aus der Bindung an Verwandte und Nachbarn zu lösen, sich unbewaffnet im Lande zu bewegen und anderen Menschen als Freier und Gleicher zu begegnen. Kein anderer gesellschaftlicher Verband als der staatliche kann dem Einzelnen den hierfür nötigen Schutz gewähren – und nur der Staat darf daher den hierfür nötigen Gehorsam von ihm fordern, nur er kann ihn sich untertänig und das Volk zum Untertanenverband machen. Nur der Staat, dem das Volk, wenn es mit sich einig ist, die dafür nötige Macht verleiht, nur der Staat als politische Form des Volkes kann und darf über Leben und Gut des einzelnen Genossen und Untertans verfügen, nur er kann Steuern und im Falle eines rechtmäßigen Krieges das Opfer des eigenen Lebens von ihm fordern. Gewiß geschieht es, daß sich der Staat, wenn das Volk und seine Regierung eine falsche Politik betreiben, als anderen gesellschaftlichen Kräften unterlegen erweist, aber niemals kann deren eine ihn in seiner Funktion der Machtausübung ersetzen. Das Wesen des Politischen besteht im Gebrauche der Macht, die aus der Einigkeit des Staatsvolkes entspringt, und in der Bindung dieser Macht an das Recht, das sich ein Staatsvolk setzt. Eine solche Macht kann daher nur dann vorhanden sein, wenn ein gemeiner politischer Diskurs, wenn ein daraus hervorgehender gemeinsamer Wille und ein hiervon und vom Konsens der Untertanen gelenktes politisches Handeln das Staatsvolk nicht nur konstituieren, sondern auch dauernd zusammenhalten. Lassen wir nun die Formen der gemeinen Willensbildung in den Mittelpunkt der Verfassungslehre treten, so entfällt die Notwendigkeit, die Staatsverfassung nach Maßgabe der Rechte und Pflichten des höchsten Staatsamtes, also des Herrschers, und seiner Helfer zu beurteilen: Wir erlangen die Freiheit, die sei es theokratischen, sei es ideologischen Mystifikationen der Herrschaft als das zu nehmen, was sie sind, nämlich als Versuche, den empirischen, irdischen Ursprung der Staatsmacht und staatlichen Souveränität zu verdunkeln (oben: §§ 691 – 702). Wir gewinnen eine Verfassungslehre, die nicht nur den Staat des hohen Mittelalters, sondern den europäischen Staat überhaupt als ein von unten her erbautes politisches Gebilde verständlich machen kann. § 809a. Eine Verfassungslehre, die in dem deutschen Staat des hohen Mittelalters eine Erscheinungsweise des europäischen Staates überhaupt und mithin einer bestimmten allgemeinen Staatsidee erblickt, muß die Frage beantworten, ob oder inwiefern diese Staatsidee als germanisch bezeichnet werden kann. Herkömm-
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licherweise pflegt man sie so zu nennen, weil die abendländische Staatsform weder von der Idee des Gemeinde- oder Stadtstaats, die dem heidnischen griechischrömischen Altertum eigentümlich war, noch von der Idee der absoluten und gottgewollten Monarchie, die sich, ausgehend von dem universalen römischen Kaiserreich, in Osteuropa ausgebreitet hat, geprägt war, sondern von der Idee eines von unten her erbauten und durch die Vereinigung vieler Völker zu weiträumiger Herrschaft, wenn nicht sogar zur Weltreichsbildung gelangenden Bundesstaats. Einen solchen Staat aber finden wir, wie es scheint, zum ersten Male von den germanischen Heervölkern verwirklicht, die ihre Königreiche auf dem Boden des Weströmischen Reiches errichteten. Das Problem läßt sich weiter zuspitzen, wenn wir in dem Staatsaufbau von unten her und in dem System identischer Willensbildung, das im Mittelalter die Staatsverfassung geprägt hat, einen Genossenschaftsgeist am Werke sehen, dessen Rechtsschöpfungen ich nach dem Vorbilde von Otto Gierke als germanisch bezeichne, weil sie sich eindeutig und in empirisch darstellbarer Weise von denen unterscheiden, die gleichzeitig der römisch-byzantinische Kaiserstaat (und die katholische Kirche) in Gestalt des nachklassischen römischen Rechts hervorgebracht haben. Nun ist bekannt, daß die schriftlich und in lat. Sprache überlieferten germanischen Volksrechte des frühen Mittelalters mancherlei Berührungen mit dem weströmischen Vulgarrecht der Spätantike aufweisen, die uns daran erinnern, daß die Germanen seit alters in derselben Welt wie die Römer und das Staatsvolk des römischen Imperiums lebten (oben: §§ 350 – 354). Dieser Sachverhalt stellt uns vor die Aufgabe, die germanische Staatsidee und die von ihr bestimmten europäischen Staatsverfassungen in einem weiteren Rahmen zu betrachten, dessen Ausfüllung auch neue Antworten auf die Namensfrage geboten erscheinen lassen mag. Was mir im achten Lebensjahrzehnt an Arbeitskraft verblieben ist, reicht nicht aus, um diese Aufgabe zu lösen. Ich kann lediglich versuchen anzudeuten, in welcher Weise ich vorgehen würde, wenn dieses Hindernis nicht bestünde. Ich habe die wandernden germanischen Heervölker der „großen Invasionen“ als personenbezogene herrschaftliche Genossenschaften bestimmt (oben: §§ 197, 204, 644), die sich jedoch durch erfolgreiche Landnahme und schließliche Ansiedlung einen Gebietsbezug erwarben, der ihre Reichsgründungen in Flächenstaaten verwandelte. Wandernde Heervölker nun dürften die Weltgeschichte damals bereits seit Jahrtausenden bestimmt haben. Dies gilt namentlich für die indogermanischen Völker, die in vorgeschichtlicher Zeit die kulturelle und politische Führung in Europa an sich gerissen hatten. Die ältesten Nachrichten über die Verfassung solcher Heerhaufen finde ich in Xenophons Bericht über den Rückzug der elftausend griechischen Söldner, die der persische Prinz Kyros im Jahre 401 vor Christus nach Babylon geführt, dort aber durch seinen Tod herren- und rechtlos gemacht hatte. § 809b. Dank überlegener Urteilskraft und Beredsamkeit vermochte Xenophon die akephale Personenvielheit der Krieger dazu, sich als Einung oder Genossenschaft zum Zwecke der gemeinsamen Rückkehr nach Ionien zu konstituieren. Dies
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Schlußbetrachtung
geschah in zweifacher Weise. Erstens erhoben die Krieger eine Regierung über sich, indem jeder ihrer fünf Teilverbände einen von den Offizieren vorgeschlagenen und von der Versammlung aller Männer bestätigten Archonten oder Strategen erkor und das gesamte Heer die fünf Strategen gemeinlich mit der Führung beauftragte. Zweitens gelobten sie samt und sonders, im Falle der glücklichen Heimkehr Zeus dem Erretter und anderen Göttern Opfer darzubringen. In beiden Akten muß ein Gelöbnis der Treue und des Gehorsams enthalten gewesen sein, das die Krieger samt und sonders gegenüber ihren irdischen und überirdischen Führern ablegten. Diese Konstitution erhob den Verband zum souveränen Herrn jedes einzelnen Genossen und gab ihm Gewalt über dessen Leben und Tod. Das Verbandsrecht im einzelnen festzustellen war weder möglich noch nötig; es muß gemeingriechischen Gewohnheiten entsprochen haben und allgemein bekannt gewesen sein. Xenophon berichtet nur über Entscheidungen, die im Einzelfalle notwendig wurden, weil keine Eintracht bestand. So beschloß die Heeresversammlung, daß kein Krieger berechtigt sei, aus eigenem Willen das Heer zu verlassen, und daß, wer desertiere und ergriffen werde, bevor das ganze Heer in Sicherheit sei, als Verbrecher verurteilt werden solle. Ferner sollte mit dem Tode bestraft werden, wer eigenmächtig und gegen den gemeinen Willen aller befreundete Barbaren ausplünderte, da der Täter nicht nur die Gemeinschaft schädigte, sondern ihr auch die Entscheidung über Krieg und Frieden entzog. Nachdem ein Teilverband, für sich allein operierend, eine Schlappe erlitten hatte, beschlossen die versammelten Heerleute, daß, wer noch einmal vorschlage, das Heer zu teilen, mit dem Tode zu bestrafen sei. Die Souveränität des Verbandes oder letzte Entscheidung in allen wichtigen strategischen Fragen lag bei der Heeresversammlung: Die Krieger gemeinlich waren Herren ihres Schicksals (kyrioi), und alle Beschlüsse der Strategen bedurften ihrer Bestätigung oder Ermächtigung (epikyrôsai). Namentlich war der Verband berechtigt, die am Anfang gefundene Verfassung zu ändern. Als man der Heimat nahegekommen war, meinten die Heerleute, wenn sie einen einzigen Archonten erwählten, könne dieser die jetzt erforderlichen politischen Entscheidungen besser treffen als die in Babylon errichtete Polyarchie der fünf Strategen, die sich stets erst untereinander einigen mußten, bevor sie den Willen des Heeres erfragten. Die Vollmacht des einen Archonten sollte so weit gehen, daß Xenophon ihn als archon autokrator und die neue Heeresverfassung als Monarchie bezeichnet. Gemeint war damit aber nur die unbeschränkte Vollmacht dessen, den wir einen Repräsentanten nennen, weil sich seine Mandanten im voraus dazu verpflichteten, seinen Entscheidungen zu gehorchen (Expeditio Cyri VI 1, 21 und 31. Historia Graeca II 2, 17 – 19. V 3, 26). Die eigene Souveränität jedoch gab das Kriegsvolk damit nicht preis. Schon nach sieben Tagen setzte es den Monarchen wieder ab und kehrte zur Polyarchie von nunmehr zehn Strategen zurück. Die Willensbildung der versammelten Krieger vollzog sich so, daß der Stratege, der sie zusammenrief, den Gegenstand bezeichnete, über den zu entscheiden war, und dazu einen Vorschlag machte. Alsdann forderte er jedermann auf, dazu das
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Wort zu nehmen und eigene Vorschläge zu machen, und zwar auch den idiotes, einen Mann, der den eigenen Nutzen über den gemeinen zu stellen pflegt. Sobald sich eine Mehrheitsmeinung abzeichnete, weil die meisten Redner dasselbe sagten, oder sobald niemand mehr dem Vorschlag des Strategen widersprach, erklärte dieser als Leiter der Verhandlungen: Wolle noch jemand widersprechen, so tue er das jetzt; wenn nicht, so werde er über den Vorschlag durch Handaufheben abstimmen lassen (psephisasthai). Der Beschluß (to psephisma) erging sodann gemäß der siegreichen oder Mehrheitsmeinung (ek tes nikoses). Xenophon spricht nie von einer Zählung der Stimmen. Offenbar konnte man erst dann zur Abstimmung schreiten, wenn die Mehrheit eine ohne weiteres erkennbare qualifizierte Mehrheit war, der sich niemand mehr zu widersprechen getraute. § 810. Xenophons Bericht ist anzumerken, daß ihm die Wissenschaft seiner Zeit keine Theorie und die hellenische Sprache keine Begriffe zur Verfügung gestellt hat, mit deren Hilfe er die Verfassung seines wandernden Heerhaufens hätte bestimmen können. Dessen Verfassungs- und Strafrecht waren ein Laienrecht und insofern von derselben Art wie die Volksrechte und das Verfassungsrecht des lat. Mittelalters. Ich halte sie für naturwüchsiges, von seinem Zwecke her den Völkern nicht allzu viele Variationen ermöglichendes gemeines alteuropäisches Kriegerund Kriegsrecht, über das uns Xenophon genauer unterrichtet als Homer. Das davon abstammende gemeingriechische Recht oder ethnische Recht der seßhaft gewordenen Völkerschaften war in Xenophons Tagen bereits durch das jüngere Recht der Stadtgemeinden so weit verdunkelt, daß die Aufmerksamkeit der Philosophen daran vorbeiging und sich allein auf das letztere richtete. Da schon die Zeitgenossen dem wandernden Heervolke der Zehntausend die Absicht zutrauten, in Paphlagonien oder Bithynien eine Stadt gründen zu wollen, kann nicht bezweifelt werden, daß bereits die Hellenen die Umwandlung personaler Genossenschaften durch Landnahme und Ansiedlung in gebietsbezogene Gemeinden kannten. Auch daraus ergaben sich Verfassungsformen, die denen des germanischen Mittelalters ähnlich sind. Ich übertrage diese Vergleichbarkeit auf die Formen der gemeinen identischen Willensbildung. Aus dem germanischen Mittelalter freilich ist mir bisher kein Text bekanntgeworden, der über diese Formen so genaue Angaben machte wie Xenophons Kriegskommentar. Von dem, was sich aus den Quellen des lat. Mittelalters ergibt, unterscheidet sich dieser Kommentar eigentlich nur darin, daß er die durch Verstummen des Widerspruchs erreichte Einhelligkeit der Willensbildung offen als Sieg der Mehrheitsmeinung darstellt, während man sich im Mittelalter lediglich verdeckter Mehrheiten bewußt war. Gerne wüßte ich, ob die beiden Konstitutivakte, deren Xenophon gedenkt, ausreichten, um das Heervolk in eine Verbandsperson zu verwandeln und um das Treue- und Gehorsamsverhältnis zu begründen, das jeden einzelnen Krieger zum Untertan der Gesamtheit machte. Es könnte durchaus noch ein ausdrückliches, von allen Rechtsgenossen samt und sonders zu leistendes oder gar zu beschwörendes Gelübde oder Versprechen von der Art dazugehört haben, wie es die von den Philosophen freilich kaum noch bemerkte Grundlage auch des griechischen Stadtrech-
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tes bildete. Im vierten Buche seiner Erinnerungen an Sokrates läßt Xenophon den Meister sagen, die Stadtgemeinden (poleis) hielten die Eintracht (homonoia) der Bürger (politai) für ihr höchstes Gut, und vor der Volksversammlung sei derjenige der beste Redner, der allem Zwist ein Ende mache und die Eintracht herstelle. Überall in Hellas sei es daher Gesetz, daß die Bürger beschwören müßten, einträchtig sein zu wollen, und überall leisteten sie wirklich diesen Eid. Dies aber geschehe nicht um der Einheit des Geschmacksurteils in Fragen der dramatischen Kunst oder der Lustbarkeit willen, sondern damit die Bürger den Gesetzen gehorchten. Hier ist die Rede von dem Waffen- und Bürgereid, den die durch Geburt zum Eintritt in die Bürgerschaft berechtigten jungen Leute ablegen mußten, um das Bürgerrecht zu erlangen, einem Eide, mit dem „sie sich der Hauptsache nach zur tapferen, treuen Verteidigung des Vaterlandes, zur Eintracht, zum Gehorsam gegen die Gesetze, oft auch zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung verpflichteten“, und den die Bürger gemeinlich jedesmal dann zu erneuern pflegten, wenn sie nach Beilegung innerer Streitigkeiten die verlorengegangene Friedensordnung und Stadtverfassung (politeia) wiederherstellten (G. Busolt 1920 S. 224 mit A. 3, 234 A. 1. M. Ostwald 1955 S. 110 – 114, 120 – 122). Xenophon bemerkt den Zirkelschluß nicht, den er Sokrates imputiert, wenn er den Eid zwar gesetzlich vorgeschrieben sein läßt, die Geltung des Gesetzes aber erst auf den Eid begründet (oben: § 772). Wir können den Zirkel beheben, wenn wir den Eid der Bürger gemeinlich, der in vorgeschichtlicher Zeit eine jede Stadtgemeinde allererst konstituiert haben muß und sie nach jedem die Eintracht der Bürger vernichtenden Zwist wiederherstellte, unterscheiden von den Beitrittseiden der alljährlich nachwachsenden Neubürger, denn wie im germanischen Einungsrecht des Mittelalters konnten nur die letzteren von einer bestehenden Bürgerschaft gesetzlich vorgeschrieben werden. Eine historische Erinnerung an den Fundamentaleid, den die ersten Bürger gemeinlich bei der Gründung ihrer Stadt abgelegt hatten, scheint es nicht mehr gegeben zu haben. Gewiß war sie in dem Kult des Ktistes enthalten, jenes Gottes oder Heros, auf den eine jede griechische Stadt ihre Gründung zurückzuführen pflegte, denn von ihrem auf der Agora gelegenen Grabe aus konnte diese Gottheit die Einhaltung der jährlich geschworenen Beitrittseide überwachen. § 811. Die Sitte, eine Bürgergemeinde auf Eidesrecht und Eidespflicht zu begründen, erkläre ich mir mit der Notwendigkeit, einen älteren Begriff von den Freiheitsrechten des Kriegers und Hausvaters zu überwinden, der noch keine unbedingte Unterwerfung des Individuums unter die Volksgemeinde und des persönlichen freien Willens unter den Gemeinwillen gekannt hatte (oben: § 66). Nach diesem Begriff müßte ein Mann befürchtet haben, sich unfrei zu machen, wenn er einem Gesetz gehorchte, das eine Mehrheit seiner Genossen gegen seinen Willen beschloß, und keine Genossenschaft, keine Gemeinde, keine Volksversammlung hätte ihn von Rechts wegen, d. h.: ohne selbst das Recht zu brechen, dazu zwingen können, einem solchen, seinem eigenen Willen fremden Gesetz zu gehor-
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chen. Es wäre das eine Rechtsordnung gewesen, die der Folgepflicht der Minderheit gegenüber dem Willen der Mehrheit noch keine normative Qualität beigelegt hätte. In der Anerkennung der allgemeinen Verbindlichkeit dieser Folgepflicht, und damit: in der Herstellung eines einhelligen und einträchtigen politischen Willens der Rechtsgenossen, dürfte der verfassungsrechtliche Fortschritt zu suchen sein, den die Hellenen mit dem Übergang von der landrechtlichen Verfassung der Völkerschaften (ethne) zur Stadtverfassung (politeia) vollzogen. Allerdings konnte kein freier Mann dazu gezwungen werden, an ihm teilzunehmen. Nur jeder einzelne selbst, und er nur für seine eigene Person, konnte auf die absolute Willensfreiheit verzichten, die ihm das alte gemeinhellenische Recht einräumte. Dies zu tun aber war er nur dann bereit, wenn es gleichzeitig alle anderen, als seine zukünftigen Mitbürger (politai), ebenfalls taten. Und da es nach altem Rechte niemanden gab, der den Bruch dieses Versprechens hätte bestrafen können, blieb denen, die eine Stadt gründen wollten, zur Herstellung des neuen Rechtszustandes nichts anderes übrig, als mit Hilfe des heros ktistor eine Eidgenossenschaft zu errichten. Das dürfte der Sinn des ersten, die Stadtgemeinde begründenden Gemeineides gewesen sein: Die Eidgenossen gelobten sich gegenseitig samt und sonders, auf das alte Freiheitsrecht zu verzichten und um der Eintracht aller Politen willen ihre Folgepflicht gegenüber dem Willen der Mehrheit anzuerkennen. Nur als Eidespflicht können sich die Hellenen dieser Folgepflicht und damit eines Begriffs von politisch bedingter Freiheit bewußt geworden sein. Aber der alte, tief im Lebensgefühl des Volkes verwurzelte Freiheitsbegriff war damit nicht aus der Welt geschafft. Er erhielt sich nicht nur bei jenen Völkerschaften, die sich der Gemeindebewegung verschlossen oder erst sehr spät zur Stadtverfassung übergingen, sondern auch in den Städten selber, wo man seine Anhänger als idiotai bezeichnete und oft genug die erwünschte Eintracht der Bürger nur dadurch herzustellen verstand, daß die Mehrheit sie in die Verbannung schickte. Zwar war, vom Standpunkt der Stadtrechte aus gesehen, wer keiner Stadtgemeinde angehörte, nun rechtlos (atimos); es gelang der Stadtrechtsbewegung aber lediglich, die gemeinhellenische volksrechtliche Vorstellung von Freiheit zu marginalisieren. Hellenen waren sich wohl stets dessen bewußt, daß sie einer alten, naturwüchsigen Freiheit entsagten, wenn sie den Waffen- und Bürgereid einer Polis ablegten und sich damit deren politischer Freiheit bemächtigten. Nur von dem ursprünglichen Eid, der die samt und sonders Schwörenden überhaupt erst zu Bürgern machte und sie dazu verpflichtete, gemeinsam, wenn auch mit Mehrheit, beschlossenen Geetzen zu gehorchen, nur von diesem Gemeineide, auf dem wie im germanischen Mittelalter als „Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip“ (W. Ebel 1958a, oben: §§ 15, 218, 233) die Stadtverfassung und alles Stadtrecht beruhte, kann man meines Erachtens sagen: Für die hellenische Demokratie „war gerade die eidliche Bindung des im Dienste der Stadt politisch tätigen Bürgers eine der wesentlichen Stützen der gesamten Ordnung, und nicht zu Unrecht hat der Redner Lykurg in seiner Rede gegen Leokrates im Jahre 331 / 330
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gesagt, daß der Eid das sei, was die Demokratie zusammenhalte“ (J. Bleicken 1985 S. 102). § 812. Wie weit die Gemeinsamkeiten antiker und mittelalterlicher Verfassungsformen reichen, die sich aus diesem gemein-alteuropäischen Geltungsgrunde alles öffentlichen Rechts ergaben, dies erhellt aus den Untersuchungen, die J. A. O. Larsen im Jahre 1966 veröffentlicht hat. In ihnen wird nicht nur nachgewiesen, daß bereits den griechischen Stadt- und Bundesstaaten die gemeine öffentliche Willensbildung einerseits durch das versammelte ganze Volk und andererseits durch Repräsentanten bekannt war, sondern auch, daß das griechische Repräsentativsystem begrifflich durch dieselben Merkmale bestimmt worden ist, wie das im späten Mittelalter entwickelte neu-europäische, daher denn Larsens von dem letzteren begrifflich geprägter angloamerikanischer Sprachgebrauch nicht nur dazu geeignet ist, meiner Verfassungslehre zugrundegelegt zu werden, sondern auch die antiken Systeme gemeiner politischer Willensbildung ebenso zutreffend zu beschreiben wie die seit dem Mittelalter entstandenen modernen. Repräsentation nämlich bedeutet nach Larsen, daß ein Volk die letzte Entscheidung über wichtige politische Fragen durch Personen trifft, die im Namen ihrer Vollmachtgeber (constituents) handeln und von ihnen die Vollmacht (authority) erhalten, dies nach eigenem bestem Urteil zu tun, ohne daß ihre Mandanten dafür von ihnen Rechenschaft fordern können. Es sind die an Aufträge und Weisungen nicht gebundenen und nur ihrem eigenen Gewissen unterworfenen Abgeordneten des Volkes unseres heutigen Staatsrechts. Der repräsentativen stellt Larsen die direkte Regierungsweise (direct government) gegenüber. Hier trifft eine Bürger- oder Volksversammlung (ekklesia, primary assembly) die letzte Entscheidung, die sich zu Recht oder Unrecht mit dem ganzen Volke (einschließlich der abwesenden Rechtsgenossen) identifiziert und Sendeboten mit der Regierung beauftragt, die den Willen ihrer Auftraggeber lediglich bekanntgeben (messengers merely recording the will of their constituents), nicht aber durch ihr Votum zu binden vermögen. Es ist also die Verschiedenheit der Vollmachten, die ein Volk seinen Worthaltern erteilt, was den Unterschied zwischen den beiden Regierungsweisen oder Verfassungen ausmacht. Die beschränkte Vollmacht der Sendeboten behält die letzte oder souveräne Entscheidung dem versammelten Volke vor; die unbeschränkte Vollmacht der Repräsentanten oder Abgeordneten dagegen überträgt sie auf deren Versammlung. Diese bezeichneten die Griechen mit dem Worte boulé, das zu dem Verbum boulesthai = wollen oder wünschen gehört und damit anzeigt, welches die Aufgabe der Versammlung war: Sie stellte den gemeinen souveränen Willen des Volkes fest, und zwar nach den Regeln entweder des Identitäts- oder des Repräsentativsystems. Die letzte Entscheidung oder Souveränität hieß to kyros, die Tätigkeit einer Versammlung, die sie ausübte, epikyrôsai und der Exekutivbeamte, den sie über sich setzte, ho kyrios = Vollmacht- oder Gewalthaber, Herr. Der Kyrios war also ursprünglich gewiß ebenso wenig ein unumschränkter Gebieter wie der archon autokrator (oben: § 809b).
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§ 813. Auch das politische Problem, das den Völkern den Übergang vom Identitäts- zum Repräsentativsystem nahelegte, war in der Antike dasselbe wie im Mittelalter, nämlich die Schwerfälligkeit der identischen Willensbildung. Diese konnte eigentlich nur in sehr kleinen Stadtgemeinden funktionieren, kaum aber noch in Großstädten, die sich aus vielen Teilgemeinden (demoi) zusammensetzten, oder gar in Städtebünden, zu denen sich mehrere Städte um eines gemeinsamen Zwekkes willen derart zusammentaten, daß sich ihre Gesamt-Bürgergemeinde als dreifach gestufter und mehrfach partikulierter Untertanenverband bezeichnen läßt. Larsen (1966 S. 57 – 59) zeigt dies am Beispiel der gegen die Perser gerichteten Symmachie ionischer Städte aus dem Ende des 6. Jahrhunderts, deren Sendeboten Herodot probouloi, d. h. für andere oder anstatt anderer Wollende (also nicht bloß: zeitlich vorher Beratende) nennt; sie seien vielleicht in der Weise von ihren Stadtgemeinden bevollmächtigt worden, „that the members often voted in accordance with what they knew was the public opinion of their communities. At times when the issue to be considered was known in advance, they may even have received instructions before they left home.“ Wir haben es hier mit der beschränkten Vollmacht oder dem imperativen Mandat von Worthaltern zu tun, welches dem Identitätssystem eigentümlich ist. Aber die Entwicklung tendierte dahin, „that the members were called upon to use their judgment“, d. h. sich die unbeschränkte Vollmacht von Repräsentanten ihrer Städte beizulegen, sobald es ihnen unmöglich war, ihr Referenzrecht auszuüben, um Instruktionen von ihren Mandanten zu erhalten (vgl. Xenophon, Historia Graeca VI 5, 1). Die Existenznot des kriegführenden Bundes hätte demnach den Übergang zum Repräsentativsystem erzwungen. Larsen verweist dazu auf einen inschriftlich erhaltenen Beschluß der hellenischen Symmachie aus dem Jahre 302, dem zufolge die Mitglieder der Bundesregierung „were not to be held to account at home for their action in the synedrion“. Larsen bemerkt hierzu: „So far as institutions are concerned it is this independence from the home authorities and this theoretical right to rely upon their own judgment which mark the synedroi as true representatives rather then ambassadors.“ Ein weiteres Problem, auf das Larsen verschiedentlich (S. 4, 21, 24, 39, 104) zu sprechen kommt, ist dem Mediävisten ebenfalls bekannt. Es sind die Sichtweise der erzählenden Quellen, deren Verfasser an Rechts- und Verfassungsfragen wenig interessiert waren, und die Sprache der Staatsmänner, die nicht danach strebten, ein Staatsrecht für juristische Fachleute zu schaffen, sondern sich in ihren Beschlüssen der Umgangssprache juristischer Laien bedienten. So reicht die Geschichte der griechischen Bundesstaaten in Zeiten zurück, da es noch keine abstrakten philosophischen Staatstheorien und daher auch keine definierten Fachworte gab, mit denen ihre Verfassungen hätten genau beschrieben werden können. Und als schließlich eine wissenschaftliche Staatslehre entstand, waren es die souveränen Volksversammlungen, die deren Aufmerksamkeit vor allem fesselten; die repräsentativen Elemente der Stadtstaatsverfassungen und die Verfassungen der Bundesstaaten haben die Theoretiker dagegen kaum beachtet. Was sie fesselte, das war die demokratische Theorie: der Glaube nämlich an die Tugend des einzelnen Bürgers und an die kollektive Weisheit der Bürgerschaft.
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Bestärkt von dem Mißtrauen des Volkes gegenüber Berufspolitikern und Aristokraten, verhinderte dieser Glaube eine angemessene Würdigung der Vorteile repräsentativer Verfassungen. Die Übertragung der Souveränität von der Volksversammlung auf die boulé hätte nach vorherrschender griechischer Auffassung das Volk, das bereits seiner naturwüchsigen Freiheit entsagt hatte, auch um seine politische Freiheit gebracht und die Demokratie vernichtet. Repräsentanten stellte man Oligarchen gleich, weil ihre Vollmacht das Volk zu entmündigen scheint. Erst bei Polybios findet sich der Ausdruck synedriaké politeia, der hinfort den Griechen als Fachwort für den repräsentativ regierten Bundesstaat dienen konnte. Aber weder während der Blütezeit dieser Staatsform im 3. und 2. Jahrhundert noch später hat sich daraus eine wissenschaftliche Theorie der Bundesstaatsverfassung entwickelt. In dem antiken Erbe, das dem europäischen Mittelalter zufiel, war daher nichts enthalten, was Theologen und Gelehrte im Umgang mit der gemeinen Willensbildung ihrer Staaten auf die eigene politische Erfahrung hätten anwenden können.
§§ 814 – 819. Antike Tradition und Mittelalter § 814. So überrascht es uns nicht, daß der bundesstaatliche Übergang von der repräsentativen zur identischen Willensbildung im Altertum offensichtlich dieselben Probleme aufwarf, die auch im Mittelalter die Politik beschäftigten. Den Staatsmännern stellte sich etwa die Aufgabe, ein für die Bürger aller Bundesstädte gemeinsames Bürgerrecht zu schaffen. Polybios nennt Bundesstaaten, die ein solches einrichteten, sympoliteiai, und für das dadurch geeinigte Bundesvolk nahmen die Griechen das Wort ethnos in Gebrauch (Larsen 1966 S. 23 f.), waren doch alle Stadtgemeinden ethnisch gebunden, weil sie einst durch die Auflösung der politischen Einheit eines hellenischen Teilvolkes entstanden waren. Ferner war die Frage zu beantworten, wie die Souveränität der Bürger- oder Volksversammlung mit der Notwendigkeit zu vereinbaren war, dem Gemeinwesen eine handlungsfähige Regierung durch die formal nur noch beratende boulé zu gewähren. Erkennbar ist da die Tendenz, der Versammlung lediglich gewisse besonders wichtige Entscheidungen, wie die Verurteilung von Bürgern zum Tode, die Wahl des höchsten Bundesbeamten und den Abschluß von Bündnissen und Staatsverträgen, vorzubehalten (Larsen S. 15, 16, 82, 90) und deswegen die Volksversammlung nur noch selten, etwa zweimal im Jahre, einzuberufen. Diese Tendenz stimmt überein mit der mittelalterlichen Bestimmung hochbeschwerlicher Geschäfte, für deren Erledigung die königliche Regierung des Konsenses der Reichsversammlung bedurfte (oben: § 763b). Und wie das mittelalterliche Identitätssystem, so kannte zumindest die Verfassung des Achäischen Bundes ein Verbot, der Volksversammlung Fragen vorzulegen, die die boulé oder Regierung nicht vorher zusammen mit der Ladung bekanntgemacht hatte (ebd. S. 76 f., 93 f.). Larsens Beobachtungen ergänzend, möchte ich einen Blick auf den griechischen Begriff des Gesetzes werfen. Dieser wird dadurch verdunkelt, daß die Philosophen,
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an ihrer Spitze der große Plato, hinter oder über dem empirischen Gesetzgeber nach einer höheren Instanz zu suchen pflegten, einem göttlichen Manne oder göttlich inspirierten Philosophen, dem es gegeben wäre, das Gerechte zu erkennen, und den eine Bürgerschaft unter glücklichen Umständen als Ktistes in ihren Dienst nehmen konnte, um von ihm jene wahrhaft gerechten Gesetze zu empfangen, die sich die Bürger selbst aus Mangel an Einsicht nicht geben konnten, obwohl doch sie allein dem Staatsvolke zu Eintracht und innerem Frieden verhalfen, sie allein es vor Parteienhaß und Bürgerzwist bewahrten (Plato, Nomoi 628b. 630c-631a. 714b-715e). Nicht das empirische Gesetz, auf das sich eine Bürgerschaft selbst verständigen und das sie nach Eidesrecht geltend machen konnte, sondern das übersinnliche, transzendente Gerechte galt der Philosophie als die höchste staatliche Norm. Denn von jenem, auf das es mir ankommt, wußte man, daß es weiter nichts als Übereinkunft oder Verabredung (syntheke) und als solche ein Sonder- oder partikulares Gesetz sei, auf das sich die Mehrheit der Bürger verständigte und dem sich die Minderheit beugen mußte, obwohl es unvermögend war, die Bürger gut und gerecht und das Gesetz unverbrüchlich zu machen (Aristoteles, Politik 1280 b 5 – 12, Rhetorik 1376 b 7 – 9), erleidet es doch Korrekturen, sooft die Erfahrung lehrt, daß eine andere Satzung der bestehenden vorzuziehen sei (ebd. Politik 1287 a 25 – 28). Plato verwendet das Paarwort „Übereinkommen und Übereinstimmung“ (syntheke kai homologia, Kratylos 384d, Kriton 52d), um das Übereinstragen der Einzelwillen zu dem Gemeinwillen des versammelten Volkes bzw. seiner (verdeckten oder offenen) Mehrheit zu kennzeichnen, also dasselbe, was in der fränkischen Definition des Gesetzes von 864 (oben: § 761) consensus populi heißt. Die Frage, ob der einhellige Wille des Volkes auch die Gerechtigkeit des Gesetzes verbürge, wurde im Mittelalter nicht mehr von Philosophen, sondern von Theologen erhoben – und ebenso oft verneint wie einst von jenen (oben: § 765). § 815. Die griechischen Stadtstaaten des 6. Jahrhunderts und die Bundesstaaten des 6. und 5. Jahrhunderts waren nach Larsen vermutlich sämtlich als repräsentative Oligarchien verfaßt, d. h. ihre souveräne boulé war mit adligen, nicht von den Bürgern einer Bundesstadt erwählten Personen besetzt. Wie ihre Verfassungsgeber die Vollmacht dieser Personen und die Repräsentation des Bundesvolks durch die souveräne boulé theoretisch begründet haben, bleibt uns verborgen. Die Wissenschaft des Hellenismus ging an diesem Problem vorbei. Die vom Siege der Athener über die Perser erweckte Begeisterung der meisten Hellenen für die demokratische Staatsverfassung führte im 5. Jahrhundert dazu, daß die Stadtstaaten in der Mehrzahl die direkte Regierungweise durch eine Bürgerversammlung annahmen, deren Willen man sowohl mit dem des Staatsvolkes als auch mit dem der von ihr gewählten Bouleuten (bouleutai, Mitglieder der boulé) identifizierte. Aber auch die meisten Bundesstaaten legten sich im 4. und 3. Jahrhundert auf diese für sie so unhandliche und unpraktische Regierungsform fest, und zwar indem sie die Vollmacht zur souveränen letzten Entscheidung von
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der boulé auf eine Bürgerversammlung übertrugen, die, wenn sie mehr sein sollte als die ekklesia der Hauptstadt, in so großen Bündnissen wie dem arkadischen zehntausend stimmberechtigte Männer umfaßte (Xenophon, Hist. Graeca VI 5, 6. VII 4, 33 – 34). Die boulé war jetzt nicht mehr der höchste Willensträger, sondern nur noch Berater der Volksversammlung. An ihrem repräsentativen Ursprung hielten jedoch sowohl die Stadt- wie die Bundesstaaten insofern fest, als die städtischen Demen bzw. die Bundesstädte in ihr im Verhältnis zu Einwohnerzahl und Heeresstärke vertreten waren und je nachdem eine unterschiedliche Zahl von Stimmen führten (Larsen S. 55 – 57, 66, 83, 96, 121). Seit dem Ende des 3. Jahrhunderts begann indessen die demokratische Bewegung wieder rückläufig zu werden. Die Rückkehr zur repräsentativen Willensbildung und Regierungsweise begann, als der Achäische Bund, wahrscheinlich im Jahre 217, die letzte Entscheidung über den Gemeinwillen der repräsentativen boulé und den von ihr erhobenen Amtleuten übertrug und nur noch für den Fall außerordentliche Volksversammlungen vorsah, daß die Regierung den Beschluß in einer lebenswichtigen (oder hochbeschwerlichen) Frage im Wege des Referendums an diese Versammlung zu delegieren wünschte. Die neue Ordnung war offenbar notwendig geworden, weil längst nicht mehr so viele Bürger die Versammlung besuchten, wie nötig gewesen wäre, um deren Willen mit dem allgemeinen Willen der Bundesbürgerschaft identifizierbar zu machen (ebd. S. 90 f.). Regelmäßige periodische Tagfahrten der Bundesvolksversammlung gab es seitdem nicht mehr (S. 86). Larsen (S. 120) nimmt an, daß spätestens in der frühen römischen Kaiserzeit sämtliche griechischen Bundesstaaten ihre Volksversammlungen abschafften und daß auch keine neuen mehr eingerichtet wurden. § 816. Auch die Stadtstaaten der Italiker verfügten über Vollversammlungen aller Bürger als Inhaber der höchsten Entscheidungsgewalt. In Rom aber stimmte diese Versammlung nicht nach Köpfen, sondern nach Abteilungen der Bürgerschaft ab (oben: §§ 3 – 5), deren Zuschnitt bestimmte Gruppen der Bevölkerung bevorteilte. Darin lag ein Hemmnis nicht nur für die Entwicklung der römischen Republik zur Demokratie, sondern auch zur Fortbildung der von den Römern in einem Flächenstaat vereinigten italischen Stadtgemeinden zu einem Bundesstaat mit repräsentativer Willensbildung (Larsen 1966 S. 159 f.). Wie ich meine, sind vor allem zwei Gründe erkennbar, die den Aufbau einer römisch-italischen Bundesrepublik von unten, nämlich von den Gemeinden, her unterbunden haben. Erstens eignete den Römern ein anderer Freiheitsbegriff als den Griechen. Diese konnten sich persönliche Freiheit nur so vorstellen, daß darin die subjektiven (privaten) Rechte des Hausvaters mit den subjektiven öffentlichen Rechten des Politen verbunden waren und diese letzteren in der Verbindung den Vorrang genossen. Ein Leben in Freiheit war nach ihrer Auffassung nur als als Leben eines Politen (bios politikos) möglich. Dieses setzte zwar negativ das Freisein von leiblicher Notdurft voraus, das allen denen versagt blieb, die in erster Linie gewerbliche Interessen verfolgen mußten, positiv aber war es das Freisein zur Teilnahme am öffentlichen
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Leben der Polis (politeuesthai), wo die Freien den Wettbewerb um Mannestugend und Vorrang (areté, aristeuein) austrugen. Niemals hätte daher ein griechischer polites der Gemeindeversammlung und den von dieser erhobenen Magistraten eine Machtfülle übertragen können, wie sie die Römer den ihren überließen, ohne sich in ihrer persönlichen Freiheit geschmälert zu fühlen. Ganz anders die Römer. Sie fanden ihre Freiheit darin, daß das ius civile sie im Rechtsverkehr mit anderen Bürgern einander gleichstellte und hier ihre Willensfreiheit und Rechtssubjektivität in einmalig reichem Maße ausgestaltete. Im Verhältnis zur politischen Gemeinschaft, zur res publica, dagegen waren sie, um den Anforderungen der Politik genugzutun, dazu bereit, auf alle subjektiven Rechte zu verzichten, die über die durch das Bürgerrecht gesicherte Teilnahme an der gemeinen Willensbildung und an der Nutzung des ager publicus hinausgingen. Der dignitas der Großen, ihrem Anspruch auf die Magistraturen und einen Sitz im Senat, entsprach die vom Bürgerrecht geschützte libertas der kleinen Leute, zu tun und zu leiden, was von ihnen zu fordern die Gesetze, an deren Satzung sie mitgewirkt hatten, der Regierung erlaubten. Ihre Freiheit ging in dem Privileg des Bürgerrechts auf und verlor folglich mit dem Untergang der Republik alle Bedeutung (F. E. Adcock 1967 S. 101 – 104. O. Gierke 1881 S. 34 – 45). Seinem „außerordentlichen Sinn für das Politische“ verdankte das römische Volk die seiner Staatsverfassung eigentümliche strikte Trennung des privaten vom öffentlichen Recht und seinen doppelten Freiheitsbegriff, „denn die Römer, anders als die Griechen, haben niemals das Private dem Öffentlichen geopfert, sondern verstanden, daß diese beiden Bereiche in ihrer Existenz von einander abhängen“ (H. Arendt 1958 S. 74). Hieraus ergibt sich der zweite Grund für den ungriechischen Verlauf der römischen Staatsgeschichte. Die Macht, die die Bürger den Magistraten und dem Senat überließen, erlaubte es der Regierung, die Stellung der römischen Gemeinde als Vormacht eines italischen Bundes auf ungleiche Bündnisse (foedera iniqua) zu begründen, die den Bundesgenossen zwar Selbständigkeit im Inneren gewährten, ihnen aber außer der Wehrhoheit auch das Bündnisrecht entzogen. Daher verband das Bundesverhältnis jede Stadt für sich allein mit der Hauptstadt, nicht jedoch die Städte auch untereinander, und damit war den Bundesgenossen das Recht genommen, eine Bundesversammlung zu errichten, die die gemeinsamen Interessen der socii gegenüber der Hauptstadt hätte vertreten können. Nach griechischer Auffassung hätten derart ungleiche Bündnisse jede Stadt und jeden einzelnen ihrer Bürger der Freiheit beraubt. Aber in Italien entstand daraus ein politisches Problem erst im 2. Jahrhundert, als die Hauptstadt aufhörte, auf die innere Selbständigkeit der Bundesgenossen Rücksicht zu nehmen. Und auch dieses Problem lösten die Römer nicht dadurch, daß sie ihnen freies Bündnisrecht nebst Bundesverfassung und Bundesversammlung (und damit Freiheitsrechte im griechischen Sinne) gewährt hätten, sondern dadurch, daß sie die Bürger der verbündeten Städte zum römischen Bürgerrecht (und damit zu den bescheidenen Freiheitsrechten der eigenen Bürger) zuließen. Die Bundesgenossen waren es zufrieden, obwohl sie auch jetzt keinen
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Einfluß auf die Staatsregierung erlangten, denn die über die ganze Apenninenhalbinsel erstreckte römische Bürgerschaft konnte sich an den Versammlungen der Bürger auf dem Forum kaum noch beteiligen, und da das Bürgerrecht weitergehende subjektive öffentliche Rechte nicht enthielt, hatten sie weder einen Rechtsgrund noch offensichtlich das politische Bedürfnis, auf eine Vertretung ihrer mit Rom verbündeten Städte in der Bürgerversammlung durch Worthalter oder Repräsentanten zu drängen (E. Meyer 1961 S. 220 – 230. F. E. Adcock 1967 S. 37, 54, 59 – 62. E. Pitz 2001a S. 38, 64 f.). § 817. Diese Verfassungspolitik ließ sich allerdings, wie Larsen in den letzten Kapiteln seines Buches darlegt, nicht länger fortsetzen, als die Römer im 2. Jahrhundert in Griechenland und im 1. Jahrhundert in Gallien begannen, ihrem Staate Gebiete einzuverleiben, deren Stadt- und Volksgemeinden zur Aufnahme in die römische Bürgerschaft ungeeignet waren. Aber da die in die neuen Provinzen entsandten Magistrate deren Verwaltungsleistungen nicht entbehren, weil nicht durch eigene ersetzen konnten, ließen die Römer in Hellas zum Zwecke der Lokalverwaltung nicht nur vorhandene Stadt- und Bundesstaaten bestehen, sondern schufen auch neue Gemeindeverbände mit der Pflicht, den Kaiserkult zu unterhalten, und dem Recht, den römischen Provinzialstatthalter zu überwachen. Alle diese Bünde behielten die in Hellas hergebrachte repräsentative Regierungsweise bei. Auch im lat. Westen entstanden derartige Provinzialversammlungen, um den Kaiserkult zu versehen. Über ihre Verfassung ist so wenig bekannt, daß sich nicht sagen läßt, ob sie autochthone Gebilde waren oder griechische Vorbilder nachahmten. Da nichts auf die Existenz von Volksversammlungen (primary assemblies) in ihnen hinweist, dürften die Provinzialregierungen (concilia) entweder aus Worthaltern oder aus Repräsentanten der zugehörigen Städte bestanden haben. Larsen nimmt an, daß man dabei die griechische Norm übernahm, der zufolge die Städte im Verhältnis zur Anzahl ihrer Einwohner in der Regierung vertreten waren. Ob ihre Delegierten (als Worthalter) an Instruktionen gebunden waren und ob die Konzilien nur einstimmig beschließen konnten, ist nicht bekannt. Von diesen Provinzialversammlungen sagt Larsen (S. 145 f.), sie hätten alle Teile des Reiches mit den Einrichtungen versorgt, die es ihnen ermöglichten, sich durch Repräsentanten zu regieren, auch wenn die kaiserliche Regierung von diesen Einrichtungen für das Gesamtreich keinen Gebrauch machte oder, aus welchen Gründen auch immer, machen konnte. Das römische Imperium kannte keine Reichsversammlungen. In den Provinzen aber habe sich diese Versorgung im spätrömisch-byzantinischem Zeitalter fortgesetzt, obwohl sich die Verfassung der Provinziallandtage nun von der früheren so sehr unterscheidet, daß die Kontinuität kaum erkennbar ist. Denn die Mitglieder waren jetzt nicht mehr Delegierte von Stadtgemeinden, sondern als staatliche Würdenträger oder Großgrundbesitzer (Besitzer von Steuerhebebezirken, oben: §§ 350 – 352) zur Teilnahme berechtigt, und daher scheint auch die Vertretung der Ortsgemeinden im Konzil ihrer Provinz im Verhältnis zur Einwohnerzahl aufgegeben worden zu sein. Die Kaiser bedienten
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sich der Landtage, um ihre Edikte verifizieren und publizieren zu lassen, indem sie diese als rescripta ad provinciales ausfertigten (oben: § 784), und sie schützten das Recht der Großen oder primates, sich zu versammeln, zu beraten und ihnen Bericht zu erstatten, indem sie jedermann und damit auch ihren eigenen Beamten verboten, sie dabei zu behindern. Offensichtlich hatten sie erkannt, daß ihnen einzig und allein die Provinziallandtage erlaubten, ihre oft eigenmächtigen und bestechlichen Statthalter und Amtleute öffentlich zu kontrollieren. Obwohl man die spätrömische Provinzialverfassung nicht mehr als repräsentativ bezeichnen kann, nimmt Larsen (S. 154 – 157) an, daß sie keine plötzliche Neuschöpfung darstellte, sondern sich aus der Verfassung der Gemeinden, Gemeinde- und Provinzialverbände der Prinzipatszeit entwickelt habe. § 818. Betrachtet man die Daten, die Larsen zusammengetragen, und die Schlüsse, die er daraus gezogen hat, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch dem römischen Kaiserreich nicht alle Elemente eines Staatsaufbaus von unten her fremd waren (oben: §§ 381, 784, 785). Kann man einen Staat, der die Geschäfte seiner Untertanen und ihrer Gemeinden sich selbst überließ und sich nur dann in sie einmischte, wenn er darum ersucht wurde, wirklich als absolutistischen Zwangsstaat, muß man ihn nicht eher als liberalen Volksstaat interpretieren, der sich insofern von dem des hohen Mittelalters nicht wesentlich unterschied? Könnten wir diese Frage bejahen, so würde sich uns die weitere Frage stellen, ob nicht etwa eine Realtradition anatektonischer Verfaßtheit von den Bundesstaaten des Hellenismus bis in die spätrömisch-frühbyzantinische Zeit und weiter bis hinein ins lat. Mittelalter geführt habe. Eine theoretische und literarische Tradition dieses staatsrechtlichen und philosophischen Problems dagegen kann nicht existiert haben, da die griechische Staatslehre nur die direkte Volksherrschaft und die identische Willensbildung im Stadtstaat zum Gegenstand der Theorie gemacht hatte und deren Überlieferung alsbald, nachdem Cicero seine Abhandlung über die Republik verfaßt hatte, abgerissen war. Als Realtradition steht aber der theoretischen eine bei allem unbemerkt vor sich gehenden Wandel der Formen doch kontinuierlich verlaufende politische Praxis gegenüber, die auf dem praktischen Wissen der Menschen von Sitte und Recht beruht und zusammen mit diesem Wissen durch Erziehung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Griechen sprachen von phronesis und die Römer von prudentia, wenn sie dieses praktisch-politische Wissen meinten, das sie der episteme oder scientia als dem theoretischen Wissen der Gelehrten gegenüberstellten, weil es seine Wahrheiten nicht mit Hilfe der Vernunft aus Begriffen, sondern mittels des sensus communis aus der Bewältigung konkreter Aufgaben deduzierte. Erst die europäische Aufklärung hat dieses Erfahrungswissen als Vorurteil denunziert und bekämpft. Gemeinsinn galt den Römern als eine allen Menschen eingeborene Fähigkeit zum Urteilen, die man durch ein Leben in Gemeinsamkeit mit allen anderen erwirbt und die von den Zwecken und Ordnungen dieser Lebensweise bestimmt wird (H. G. Gadamer 1990 S. 22 – 28). Im Mittelalter nannte man die Männer, die sich durch Gemeinsinn und politische Urteilskraft auszeichneten, boni
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homines, homines prudentes, prudhommes. Ihre Fähigkeiten setzt auch der lat. Sprachgebrauch des Mittelalters vom consensus omnium oder consensus populi voraus (oben: § 761). Trifft es wirklich zu, daß, wie Larsen (S. 161) annimmt, die römischen Provinzialversammlungen schließlich verschwunden seien und daß dieses letzte Stadium des Scheiterns repräsentativer Regierungsweisen in der Antike zugleich eine wichtige Phase des Scheiterns freiheitlicher Institutionen und volklicher Selbstverwaltung bezeichne? In diesem Falle wäre es wohl richtig, den Germanismus des Mittelalters in schroffen Gegensatz zum Hellenismus und Romanismus des Altertums zu bringen. Ich halte es jedoch für falsch, aus dem Untergang der spätrömischen Formen der Stadt- und Provinzialverfassung auf den Untergang der Selbstverwaltung überhaupt zu schließen, denn wer sonst, außer den lokalen und regionalen Großen, hätte deren Aufgaben erfüllen können (E. Pitz 2001a S. 245 f., 261 – 263)? Die scheinbar formlose Selbstverwaltung der Grafschaften, Bistümer und Regionen und die Staatsverfassung nahmen seit dem 6. Jahrhundert im Frankenreich lediglich neue Formen an, Formen allerdings, die die identische Willensbildung aller Freien nun erstmals bis hinauf auf die höchste Ebene der königlichen und Reichsregierung erhoben, indem sie Reichsversammlungen der von Gemeinden und Provinzen durch Willensidentität bevollmächtigten Großen einführten, wie sie das Römische Reich nie hatte hervorbringen können, weil es niemals ein Bundesstaat gewesen war. Diese germanistische Schöpfung war gewiß vor allem deswegen erfolgreich, weil sie mit einem neuen Begriff von persönlicher Freiheit Hand in Hand ging. Auch das lat. Mittelalter verfügte über einen absoluten Freiheitsbegriff, der als Gegensatz allein die Knechtschaft oder Unfreiheit kannte (oben: § 788b) und sich auf die Freiheit der Alt- oder Edelfreien bezog. Diese edle Vollfreiheit des Mittelalters gleicht insofern der Freiheit des Hellenismus, als sie so wie diese die Abkömmlichkeit des freien Mannes vom täglichen Broterwerb und die tätige (leitende) Teilnahme am öffentlichen Leben voraussetzte oder einschloß. Aber die Edlen waren jetzt in ganz anderer Weise als im Altertum von den Knechten abhängig, die sie durch ihre Arbeit vom Gewerbebetrieb abkömmlich und durch Beistand und Gehorsam vollmächtig machten. Denn die Germanen und das europäische Mittelalter bewerteten die bäuerliche und gewerbliche Handarbeit anders als Griechen und Römer. Weil der Arbeiter, der Ödland urbar machte und nicht nur für sich selbst sorgte, sondern auch einen Markt beschickte, Eigentum gewann und daher freier sein konnte als der Habenichts, schätzten auch die Altfreien solche Arbeit und erleichterten sie durch arbeitsparende Maschinen wie die Wassermühle, die im Altertum zwar bekannt gewesen, aber kaum genutzt worden war. Seit dem 9. Jahrhundert gibt es Darstellungen der vom Jahresablauf bestimmten Arbeiten in den Monatsbildern, seit dem 10. Jahrhundert nennen Theoretiker die Arbeiter als dritten Stand nach Predigern und Kriegern, seit dem 13. Jahrhundert wandten Gelehrte ihre Aufmerksamkeit den mechanischen Künsten und dem Ingenieur zu, der sie fortzubilden verstand.
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§ 819. Daher kommt es, daß die Volksrechte des Mittelalters die Knechte und Diener nicht mehr als Sachen behandelten, wie es die antiken Rechte getan hatten, sondern als Unfreie oder Minderfreie, und so löste das germanische Rechtsdenken die Vollfreiheit in eine Vielzahl von Teilfreiheiten auf, deren mindester auch kein Unfreier mehr entbehrte und durch deren sukzessive Kumulation jeder Knecht oder Hörige darauf rechnen konnte, in seinen Kindern und Enkeln zu neuer und schließlich zu voller, der edlen gleichwertiger Freiheit aufsteigen zu können. Die Teilfreiheiten des Mittelalters unterscheiden sich in dieser Hinsicht grundlegend von der Halbfreiheit des römischen libertus, die die Alten als einzige Zwischenstufe zwischen Sklaventum und Freiheit gekannt hatten. Schon mit den germanischen Teilfreiheiten waren auch subjektive öffentliche Rechte verbunden, wie sie die Alten nur den (Voll-)Freien zugeteilt hatten, so namentlich das Einungsrecht, das auch Unfreien gestattete, Gemeinden zu bilden und bereits in den Hofgerichten das dinggenossenschaftliche und Konsensprinzip zur Geltung zu bringen, das der krasseste Ausdruck der Rechtsordnung für die Abhängigkeit ist, die jetzt die Edlen und Großen in Gesetzgebung und öffentlicher politischer Willensbildung an die freiwillige Mitwirkung ihrer Untertanen fesselte. Aus dieser germanisch-mittelalterlichen Vorstellung von einer allgemeinen Freiheit, an der in Bruchteilen auch die Geringsten teilhatten, empfing das System der identischen Willensbildung eine Durchschlagskraft, die es in der Antike nicht hatte gewinnen können, die es jetzt aber zur Grundlage der Staatsverfassung bestimmte und über die einst erreichte Zweistufigkeit hinaus bis zu fünf- und sechsfacher Abstufung steigern konnte. Inwieweit ist dieses System germanisch? Gewiß insoweit, als Reichsversammlungen oberhalb von Provinziallandtagen zuerst im 5. Jahrhundert in germanischen Königreichen tätig geworden sind (oben: §§ 381, 644, 645). Aber dies geschah auf dem Boden des Weströmischen Reiches – und daher möglicherweise auch nach dem Willen der römischen Provinzialen, die zu Untertanen dieser Reiche geworden waren. Und die von Larsen zusammengetragenen Belege sind durchaus vereinbar mit der Vermutung, bereits die spätrömische Provinzialverfassung sei auf identische Willensbildung in den Selbstverwaltungseinheiten und Provinzen begründet gewesen, d. h.: die Mitglieder der Versammlungen seien, auch wenn sie nicht von den Gemeinden erwählt wurden, doch nur dann zu Rede und Stimmabgabe vollmächtig gewesen, wenn ihr Wille mit dem ihrer Untertanen oder Hintersassen übereinstimmte. Wäre dies der Fall gewesen, so wäre schon damals die Souveränität, welche Juristen und Theologen dem Kaiser beilegten, in Wahrheit auf die Versammlungen und Gemeinden verteilt gewesen. Von daher könnte eine Realtradition politischer Praxis in die germanischen Königreiche eingegangen sein und ihren Teil zu den neuen Verfassungseinrichtungen beigetragen haben. Als rein germanisch würden wir diese alsdann nicht mehr bezeichnen dürfen. Würde eine solche Realtradition aus der römischen Kaiserzeit in das Mittelalter hineinreichen, so wäre es leichter zu verstehen als ohnedem, daß fränkische Gelehrte in der Staatslehre Augustins und somit indirekt Ciceros die Verfassung des Reiches wiedererkennen konnten, in dem sie selber lebten (oben: §§ 603, 761).
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Und eben dieses würde auch für die Humanisten der frühen Neuzeit gelten, deren Staatslehre auf der Möglichkeit beruht, die Realtradition des Mittelalters, aus der die zeitgenössischen Verfassungen hervorgegangen waren, im Lichte der antiken Denkweise zu betrachten, die sie aus den philosophischen und historischen Schriften des nunmehr klassisch gewordenen Altertums kennengelernt hatten. Offenbar setzt nicht erst heutzutage historisches Verstehen den Anspruch dessen, der ältere Schriftsteller studiert, voraus, in der theoretischen Überlieferung eine für ihn selbst gültige und verständliche Wahrheit zu finden (H. G. Gadamer 1990 S. 305 – 312). Gibt es für diesen Sachverhalt eine bessere Begründung, als sie uns die Existenz der Realtradition gewährt, über die ich mir Klarheit zu verschaffen versuche?
§§ 820 – 822. Literarische und Realtradition des Mittelalters § 820. Die einst abgerissene theoretische Tradition politischer und staatlicher Einrichtungen ist im Mittelalter nicht wieder aufgelebt. Denn alle politischen Theorien dieses Zeitalters sind von Klerikern verfaßt worden, und keine von ihnen zielt darauf ab, das politische Denken und die volksrechtlichen Begriffe der weltlichen Gesellschaft zu reflektieren; vielmehr standen sie im Banne der biblischchristlichen theokratischen Anschauungen vom Staate. „Die Kirche blieb die universale Ordnung, in die der Herrscher wie die priesterlichen Amtsträger gleichermaßen eingefügt waren“ (J. Miethke 1991 S. 51). Daraus entsprang zunächst eine theoretische Sakralisierung des Herrscheramtes, die mit der profanen Auffassung vom königlichen Amt unvereinbar war und von den Laien so wenig rezipiert wurde, daß sie, vom Standpunkte der germanischen Volksrechte aus betrachtet, als Mystifikation angesehen werden muß (oben: Zwanzigstes Kapitel). Zu Recht nahm die kirchliche Reformbewegung an ihr Anstoß. Maßgeblich geprägt vom politischen Denken und Wollen Papst Gregors VII., erstrebte diese Bewegung die Entheiligung und Laisierung des Herrschers, ohne aber deswegen ihr Interesse der laikalen, volklichen Staatsauffassung und Realtradition zuzuwenden. „Nicht der König als imago Christi et dei . . . , vielmehr der römische Bischof als vicarius Christi und vicarius dei, der Papst als Stellvertreter Christi und Gottes, wurde zum beherrschenden Thema der politischen Theologie des späteren Mittelalters, während eine Königsmystik erst in der frühen Neuzeit wieder in den Vordergrund der Aufmerksamkeit politischer Theorie rückte“ (ebd. S. 65). Welche Macht die europäische Realtradition weltlicher Staatlichkeit noch am Ende des Mittelalters sogar in dem damals vergleichsweise aufgeklärten Königreich Italien über die Gemüter ausübte, davon zeugt ein Staatsakt, der sich im Jahre 1450 im Mailand zutrug, nachdem sich der Condottiere Francesco Sforza mit militärischer Gewalt des Herzogtums Mailand bemächtigt hatte. Zwar war er am 26. Februar mit Willen des Rates und unter dem Beifall des Volkes an der Spitze von fünfhundert Soldaten in dessen Hauptstadt eingezogen, aber dies genügte ihm nicht, um seiner despotischen Signorie den Anschein der Legitimität zu verleihen.
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Am 3. März schloß er mit dem Rate einen Vertrag ab, dem zufolge ihn eine Volksversammlung zum Herzog annehmen sollte. So versammelten die Ratmannen am 11. März alle Familienväter im Volkspalaste (palazzo dell’arengo), und diese Versammlung bestätigte ihn in seiner Stellung und erwählte zwölf Bürger, die ihm im Namen des Volkes die Amtsinsignien überreichen und den Treueid leisten sollten. Am 25. März konnte dann der feierliche Einzug des Signore in die Stadt vor sich gehen und die Legalisierung seiner Gewalttat öffentlich zur Schau stellen. Um des Scheins willen war der Despot auch bereit, vom Kaiser die Belehnung zu empfangen, aber da er dem Reiche alle Dienste verweigerte, war Friedrich III. nicht dazu bereit, sie ihm zu erteilen. Obwohl er sich nicht als Fürst von Volkes oder Kaisers Gnaden, sondern als Herr und Herzog kraft eigenen Verdienstes betrachtete, dem das Volk seine Souveränität auf ewig und unwiderruflich abtreten mußte (oben: § 538), war die verfassungsrechtliche Realtradition des Mittelalters doch noch so mächtig, daß er sich ihrer Formen bedienen mußte, um seiner Herrschaft den Schein der Legitimität zu vermitteln (Gli Sforza 1982 S. 20 f., 172 f.). § 821. Eine nachhaltige Schwächung erlitt die Macht der Realtradition im Deutschen Reiche mit der Niederlage zahlreicher Land- und Stadtgemeinden im Bauernkriege von 1524 / 25 und in Frankreich mit der Niederlage der Hugenotten in der Bartholomäusnacht von 1572 (E. Pitz 1987 S. 71, 141 – 143, 195). Denn beides waren Niederlagen des von der Reformation der Kirche beflügelten mittelalterlichen Kommunalismus (oben: §§ 235, 236, 273, 391, 392) und der volksrechtlichen Auffassung, daß der Staat von unten her aufgebaut sein sollte. Der gemeine Mann, wie in Deutschland jetzt die Menge der neufreien, hof- oder haushäbigen Gewerbeleute hieß, die, in Genossenschaften, Zünften und Gemeinden aller Art vereinigt, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen verfolgten, der gemeine Mann litt schwer unter der Herrschaftsordnung der obrigkeitlich verfaßten Kleinstaaten, die im 15. Jahrhundert von Fürsten und Landständen geschaffen worden war. Unter Berufung auf das reformierte Verständnis der Evangelien und auf die wahre göttliche Gerechtigkeit setzten ihr die Gemeinen „das Modell einer korporativ-bündischen Verfassung“ entgegen; diese beruhte auf der regionalen Einheit jeweils „eines größeren, im räumlichen Zuschnitt der Schweizer Eidgenossenschaft vergleichbaren politischen Verbandes, in den die genossenschaftlichen Traditionen der Dorfgemeinden, Stadtgemeinden und Landschaften in der geläuterten Form des Wahlprinzips eingebracht wurden“ (P. Blickle 1993 S. 196). Diesen zwei- bis dreistufigen Staatsaufbau von unten her sicherten die Gemeinden durch Eide (Quellen Bkr. S. 166 Z. 31 – 34, 190 Z. 3, 14, 197 Z. 35, 198 Z. 11, 285 Z. 24, 369 Z. 17 und öfter); wie es einst die Landfriedenseinungen getan hatten (oben: § 773; Quellen Bkr. S. 193 n. 50 Art. 2), verhängten die Schwarzwälder Bauern über jeden, der sich weigerte, ihrer Vereinigung beizutreten, den Bann. Diese Drohung traf speziell die Schlösser und Klöster: Für Fürsten, Ritter und Pfaffen blieb nur dann Raum in dem Bunde, wenn sie auf ihre privilegierte Stellung verzichteten und in die kommunalen Verbände eintraten (Quellen Bkr. S. 235 n. 68. P. Blickle 1993 S. 199). Überall hören wir von Bauernparlamenten und
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Landtagen, in die die Gemeinden, als unterste politische Einheiten, nach altem Brauche (oben: § 229) ihre Verordneten entsandten, um über die Bundesverfassung zu beraten und eine oberste Exekutivbehörde einzusetzen. Viele ihrer Satzungen sind anonym abgefaßt, wie es bei öffentlich beschlossenen Rezessen üblich war (oben: §§ 26, 27, 777). Die von den Aufständischen verfaßten Schriftstücke sprechen die Sprache des volklichen Systems identischer Willensbildung. Ihre Aussteller nennen sich „das Land“, „die Landschaft“, „eine ehrsame Gemeinde“ oder einfach „wir“ oder „man“ und identifizieren die Gesamtheit aller Genossen mit denen, „so jetzo versammelt sind“ (Quellen Bkr. S. 297 Z. 22, 238 n. 7, 426 n. 140). Jeder durch Einung begründete Haufen verordnete Oberste, Hauptleute und Räte über sich, die gemeinsam Gewalt haben sollten zu regieren, damit es die Gemeinden (oder gemeinen Leute?) nicht unter großen Kosten in ihrer Versammlung selbst tun müßten (ebd. S. 193 n. 50 Art. 9). Diese Regierung war zwar gegenüber jedem einzelnen Genossen Obrigkeit, deren Befehlen er, freilich unter Treuvorbehalt, gehorchen mußte (was sie befehlen, „dem soll der Gemeine bei christlicher Treue gehorsam sein“, ebd. S. 199 Z. 32 – 34; S. 342 n. 107), aber zu der Gesamtheit der Einung verhielten sie sich nicht als Obrigkeit, sondern als mit ihr oder ihrer Versammlung identische Worthalter. Als solche hießen sie „Wir Hauptleute, gemeine Räte und ganze Versammlung des gemeinen christlichen Haufens“ (ebd. S. 342 n. 107) oder „gemeldter Untertanen verordneter Ausschuß, Räte und vollmächtige Anwälte“ (ebd. S. 216 n. 63) oder einfach „wir armen Leut“, die wir „von wegen der christlichen Vereinigung“ sprechen (ebd. S. 191 n. 48, 49). Daß ihre Vollmacht auf Identität des eigenen mit dem Verbandswillen beruhte, ergibt sich aus der Form, in der der Elsässer Haufen mit dem Rate zu Straßburg verhandelte: Zweitausend versammelte Männer stellten sich im Kreise auf und ließen in dessen Mitte die Sendeboten des Rates mit ihren Hauptleuten und Ausschuß verhandeln (S. 242 n. 74), so daß ihre Worthalter nur in Übereinstimmung, nur im Konsens mit der Versammlung handeln konnten, die ihrerseits für die Gesamtheit stand. Noch immer waren dem deutschen Recht die Repräsentation und die unbeschränkte Vollmacht, die die Verordneten zu autokratischen Vormündern ihrer Gemeinden machte, unbekannt, und da die westeuropäischen Rechte diese Institution nur unter dem Drucke fürstlicher Regierungen anzunehmen pflegten, wäre es erstaunlich, wenn sie im Deutschen Reiche von dem gemeinen Manne hätte erfunden und eingeführt werden können. Als am 21. März 1525 dessen Aufstand in Franken begann, errichteten die Regionen oder Haufen der Neckartaler und Odenwälder Bauern zu Heilbronn ein Parlament, zu dem sie auf Mitte Mai die Haufen aus Schwaben und Mainfranken und vom Oberrhein und schließlich die des ganzen Reiches einluden (P. Blickle 1993 S. 10). Die regionalen Bundesrepubliken waren also im Begriff, sich ihrerseits zu einem Bunde zu vereinigen, der einmal das ganze Deutsche Reich umfassen sollte. Auch wenn dieses Unternehmen am Ausbruch des Krieges mit den Für-
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stenstaaten scheiterte und der Krieg verlorenging, weil Reformatoren und Stadtgemeinden den Plänen des gemeinen Mannes „das Schwert verweigerten und einen Kompromiß ansteuerten, wo es keinen Kompromiß geben konnte“ (ebd. S. 212), ist doch erkennbar, daß den Gemeinen eine den veränderten Zeiten angepaßte Rückkehr zu den Formen eines von unten her erbauten Staatswesens vorschwebte, mit denen einst im frühen Mittelalter die deutsche Verfassungsgeschichte begonnen hatte und die noch immer die Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und des Kaufmanns- und Städtebundes von der deutschen Hanse bestimmten. Noch immer behielt das Volksrecht die letzte souveräne Entscheidung in allen hochbeschwerlichen Geschäften den Gemeinden als unterster Ebene des mehrfach gestuften und partikulierten Gemeinwesens vor. Da es keine theoretische Bearbeitung des alten Verfassungsrechts gab und folglich keine literarische Tradition die Zeitgenossen darüber aufklärte, kommt darin die Kraft der mindestens ein Jahrtausend alten Realtradition zum Vorschein, die noch immer das politische Handeln der Gemeinden prägte. Ich kann mich daher der Meinung, daß in dem bundesstaatlichen Verfassungsentwurf der aufständischen Bauern „ein respektabler Neuansatz politischen Denkens“ aufleuchte (ebd. S. 212), nicht anschließen. § 822. Die Niederlage hatte verheerende Folgen. Sie entmutigte die Gemeinden, machte sie irre in ihrer angestammten Rechts- und Staatsauffassung und reif für die Unterwerfung unter die Obrigkeit des absolutistischen Fürsten- und Patrimonialstaates. Seither ist die aus dem Mittelalter hergekommene verfassungspolitische und staatsgestaltende Realtradition auf dem europäischen Kontinent nahezu verschollen. Nur in der Schweiz, in den Vereinigten Niederlanden, in der polnischen Adelsrepublik, im Königreich England, wo die im Unterhaus des Parlaments versammelten Gemeinden den Ansturm des Absolutismus in den Jahren 1649 und 1687 abzuwehren verstanden, und in Neuengland, dem Koloniallande jenseits des Atlantiks, blieb sie lebendig (oben: §§ 392 – 396, 702a). Auch die Staatslehre, die im 16. Jahrhundert von humanistisch gebildeten Männern nach antikem Vorbilde neugeschaffen wurde, wußte kaum etwas von der Realtradition, deren Geschöpfe die Staatsformen waren, die sie im Lichte der hellenistischen republikanischen und der spätrömischen juristischen Staatsvorstellungen reflektierte und begrifflich zu durchdringen bestrebt war. Die unverstandene Verfassung des Deutschen Reiches konnte sie nur als Monstrum in ihre Vorstellungen einfügen. Ihr wichtigstes Thema war die Auseinandersetzung mit den theokratischen Staatstheorien, die im Mittelalter einerseits von Hoftheologen im Dienste der Kaiser und christlichen Könige, andererseits von Reformtheologen und Kanonisten im Dienste des Papsttums erdacht worden waren. Daher hatte die neue humanistische Rechts- und Staatswissenschaft keinen Anlaß, auf die Formen der gemeinen öffentlichen Willensbildung und auf die Konsensverfahren einzugehen, die die europäische politische Praxis beherrschten. Statt dessen konzentrierte sie sich auf die Herrscherrechte. An sie aber legte sie die Normen der absolutistisch-anstaltlichen Staatsauffassung an, die den Novellen des Kaisers Justinian und damit dem frühbyzantinischen Staatsrecht zu entnehmen waren, von denen freilich die
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politische Praxis des lat. Mittelalters weder etwas gewußt hatte noch beeinflußt worden war. Denn das Kaiserrecht hatte sich aus dem der altrömischen Magistratur entwikkelt, die sich seit jeher als gesetzlich geordnete Vertretung der Gemeinde in allen jenen Geschäften dargestellt hatte, die nicht zur unmittelbaren Erledigung durch Volksbeschluß geeignet waren und insoweit die Gemeinde selber als willens- und handlungsunfähig erwiesen hatten. Seit die Bevormundung des Volkes durch jährlich wechselnde Magistrate auf die lebenszeitliche Magistratur des Princeps übergegangen und die politische Tätigkeit der Gemeinde schließlich erloschen war, hatte man daher den Willen des höchsten Beamten als rechten Ausdruck des Volkswillens betrachtet, ohne daß es dafür einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft hätte (O. Gierke 1881 S. 48 f. Th. Mommsen 1887 S. 302). Da nach der strengen Logik des römischen öffentlichen Rechts stets nur ein einziges Subjekt als Träger der staatlichen Gewalt in Betracht kam, war jeder Rechtsgedanke an einen Zwiespalt zwischen dem Willen der Bürgerschaft und dem ihres archon autokrator ausgeschlossen. Weil kraft Gesetzes und von Rechts wegen sämtliche Handlungen des Oberhauptes als Handlungen der Bürgerschaft galten, wurde Übereinstimmung der Willen auch dann als gesetzlich gegeben unterstellt, als aus jenem der römische Kaiser und aus diesem der Reichsuntertanenverband hervorgegangen war. Niemals konnte der vorausgesetzte Konsens zwischen Herrscher und Volk praktisch oder theoretisch zum Problem werden, niemals ein Bedürfnis nach Konsens erzeugenden Verhandlungen des Princeps mit seinen Untertanen entstehen. Offensichtlich reichte das Verfahren der kaiserlichen Gesetzgebung auf Antrag und per Reskript hin, um die Lücke in der Praxis zu schließen (oben: § 784), ohne die Theoretiker zu beunruhigen. Ihrem Beispiele folgten die Juristen des 16. Jahrhunderts, obwohl es ihnen, wie das Bodinsche Steuerparadox (oben: §§ 538, 630, 631) lehrt, nicht leicht fiel, den Widerspruch zwischen mittelalterlicher Realtradition und absolutistischer Staatstheorie auszugleichen.
§§ 823 – 828. Rousseau und Kant § 823a. Obwohl bereits Montesquieu im Jahre 1748 dargelegt hatte, daß aus den republikanischen Stadtstaaten des Altertums, in denen das Volk unmittelbar die Staatsgewalt ausübte, nur despotische Flächenstaaten hätten hervorgehen können, weil ihnen die Repräsentation des Volkes in der Regierung unbekannt blieb, und daß die auf diese Einrichtung gegründete freiheitliche Verfassung moderner Flächenstaaten germanischen Ursprungs sei (E. Pitz 1987 S. 704 f., 733 f.), erregte es doch ungeheures Aufsehen unter den Gebildeten, als Jean-Jacques Rousseau (oben: § 402) in einer Abhandlung über Grundsätze des Staatsrechts von 1762 darauf aufmerksam machte, daß Staaten nicht von königlichen Gewalten und zentralisierten Bürokratien, sondern von der Eintracht und dem gemeinen Willen des Staatsvolkes zusammengehalten und in eine Verfassung gebracht würden. Denn
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bevor noch ein Volk einen König über sich erheben könne, müsse es eine Übereinkunft über die Vollmacht der Königswähler, für alle zu handeln, und über die Pflicht der Minderheit, sich der Wahl der Mehrheit zu unterwerfen, treffen (1. Buch 5. Kapitel). Diese Übereinkunft, die als Ursprung aller anderen nur einstimmig habe beschlossen werden können, bestimmte Rousseau aus reiner Vernunft als Antwort auf die Frage, wie die Form einer menschlichen Gemeinschaft aufzufinden sei, die jeden einzelnen mit der Stärke der Gesamtheit verteidigte, ohne doch seine Freiheit zu beeinträchtigen. So gelangte Rousseau zu dem Vernunftbegriff eines Gesellschaftsvertrages (oben: § 167b), der jeden Einzelnen zusammen mit allen anderen der obersten Leitung durch den gemeinen Willen aller unterstellt und damit den gemeinsamen sittlichen Körper einer öffentlichen Verbandsperson erzeugt habe. Dieser Körper bestehe aus ebenso vielen Gliedern, wie die Versammlung Stimmen habe, und empfange Einheit, Leben und Willen aus dem ursprünglichen Vertrage. Als Gesamtperson heiße er Republik oder politischer Körper, das einzelne Mitglied aber entweder Staatsbürger (citoyen, oben: § 233), sofern es an der Souveränität der Gesamtheit teilhabe, oder Untertan, sofern es deren Gesetzen unterworfen sei (1. Buch 6. Kapitel). Da der souveräne Wille der Gesamtheit dem Interesse des Einzelnen nicht widersprechen könne, wohl aber dessen besonderer Wille dem der Gesamtheit, sei der Einzelne versucht, die Rechte des Staatsbürgers zu genießen, den Pflichten des Untertans aber sich zu entziehen; daher enthalte der Gesellschaftsvertrag stillschweigend die Verpflichtung des ganzen Körpers, den widerstrebenden Einzelnen zum Gehorsam gegenüber dem Gemeinwillen zu zwingen (1. Buch 7. Kap.); insofern werde die staatsbürgerliche Freiheit vom Gemeinwillen beschränkt (1. Buch 8. Kap.). Dieser sei unfehlbar, solange jeder einzelne Bürger in der beschließenden Versammlung nur seine eigene Meinung vertrete, so daß es ebenso viele Stimmen wie Menschen gebe. Sobald aber Gruppen und Klüngel entstünden und nur noch so viele Stimmen wie Parteien zugelassen würden, gebe es keinen Gemeinwillen mehr, denn die obsiegende Meinung sei nur eine Privatmeinung (2. Buch 3. Kap.). Dieses Ideal einer aus Vernunftbegriffen deduzierten Staatsverfassung konnte Rousseau mit den Geschichten und Theorien der antiken literarischen Tradition belegen, ohne sich klarmachen zu müssen, daß sich das empirische Staatswesen seiner Zeit nur deswegen nach diesem Ideal beurteilen ließ, weil es auf der aus dem Mittelalter hergekommenen Realtradition beruhte, deren volks- und einungsrechtlicher Inhalt mit dem Staatsbegriff der griechischen Polis und annähernd auch der römischen Republik im wesentlichen übereinstimmte. Sobald freilich diese Kongruenz aufhörte, geriet er in Schwierigkeiten, die er in Unkenntnis jener Realtradition nicht zu beheben vermochte. Er sah sehr wohl, daß der Vernunftbegriff, den er sich gebildet hatte: „Da der Souverän keine andere Macht hat als die gesetzgebende Gewalt, so handelt er nur durch Gesetze, und da Gesetze nichts anderes sind als authentische Akte des Gemeinwillens, so kann der Souverän nur handeln, wenn das Volk versammelt ist“ – daß dieser Vernunftbegriff eigentlich nur auf
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(kleine) Stadtstaaten anwendbar und nur mühsam auf Flächenstaaten zu übertragen sei. Zwar könne deren Staatsvolk durch Ratsversammlungen handeln, wie sie „die meisten der alten Regierungen, selbst monarchische wie die der Makedonen und der Franken“, besessen hätten, aber um die Gefahren, die der Volkssouveränität von solchen Versammlungen und von der fürstlichen Regierung drohten, abzuwehren, wußte Rousseau nur ein wenig taugliches Hilfsmittel vorzuschlagen: Das Volk sollte keine Hauptstadt dulden, sondern die Regierung abwechselnd in jeder Stadt residieren lassen (3. Buch 12. und 13. Kap.). § 823b. Von der Regierung meint Rousseau, sie sei vorhanden, weil das gesetzgebende Volk eines Bevollmächtigten bedarf, der die Gesetze vollzieht und zwischen der staatlichen Gesamtperson und der Personenvielheit der Untertanen vermittelt. Die Regierenden seien Beamte des Souveräns, in dessen Namen sie ihre Macht ausübten, und bildeten im kleinen einen ebensolchen politischen Körper wie das Staatsvolk im großen. Auch von ihrem ranghöchsten Mitglied gilt: „So ist der herrschende Wille des Fürsten nichts anderes oder darf nichts anderes sein als der Gemeinwille oder das Gesetz, und seine Stärke ist nichts anderes als die in ihm vereinte öffentliche Gewalt. Sobald er aus sich selbst heraus eine absolute und unabhängige Handlung ableiten will, beginnt die Verbindung des Ganzen sich zu lokkern. Wenn es schließlich dazu käme, daß der Fürst einen Einzelwillen hätte, der stärker wäre als der des Souveräns, und daß er zur Durchsetzung dieses Einzelwillens von der öffentlichen Gewalt, die in seinen Händen ist, Gebrauch machte, so daß man gleichsam zwei Souveräne hätte, einen von Rechts wegen und einen tatsächlichen, so würde sich auf der Stelle die gesellschaftliche Einheit auflösen, und der politische Körper zerfiele“ (3. Buch 1. Kap.). Was aber die beratenden Versammlungen anlange, so dürften sie sich nicht als Repräsentanten zwischen den Souverän und die Regierung schieben, denn „die Souveränität kann nicht repräsentiert werden . . . Sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille läßt sich mitnichten vertreten: er ist er selbst, oder aber er ist ein anderer; einen Mittelweg gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Repräsentanten, noch können sie dies sein; sie sind nur seine Beauftragten und können nichts endgültig beschließen.“ Nach Rousseaus Ansicht sollten sie nicht Vormünder, sondern lediglich Berater oder Worthalter des Volkes und daher, wenn sie sich der Identität ihres Willens mit dem des Souveräns nicht gewiß waren, verpflichtet sein, ihren Ratschlag hinter sich zu bringen, um ihn ihren Mandanten zur Entscheidung vorzulegen: „Jedes Gesetz, welches das Volk nicht selbst bestätigt hat, ist nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich sehr; frei ist es nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, es ist nichts“ (3. Buch 14. und 15. Kap.). Rousseau wußte nicht, daß das Ideal, das er von den demokratisch verfaßten Stadtstaaten des griechischen Altertums abstrahierte, auch in der identischen Willensbildung der partikulierten und gestuften Reichsgemeinden des lat. Mittelalters
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hätte aufgesucht werden können. Denn auch von deren konsensorientiertem Handeln und allmählichem Erreichen des unitatis punctum (oben: § 719) hätte er sagen können: „Je mehr Übereinstimmung in den Versammlungen herrscht, das heißt, je näher die Meinungen der Einmütigkeit kommen, um so entschiedener ist der Gemeinwille der bestimmende; die langen Beratschlagungen hingegen, die Zwistigkeiten, der Lärm künden das Anwachsen der Privatinteressen und den Niedergang des Staates an.“ Und gilt nicht von den mittelalterlichen Königswahlen (oben: § 748b), was Rousseau auf den transzendenten Gesellschaftsvertrag zurückführt, daß nämlich der Wille der Mehrheit alle Untertanen verpflichte, obwohl ihm doch die Minderheit wider den eigenen Willen zustimmen müsse (4. Buch 2. Kap.)? Denn bei der einhellig dem König und dem Reiche dargebrachten Huldigung hatte jedermann gelobt, den Mehrheitswillen als Gemeinwillen anzuerkennen und ihm im Einzelfall den eigenen Willen unterzuordnen, und daher konnte ihn diese Unterordnung grundsätzlich nicht um die Freiheit seines Willens bringen. Sehr folgenreich waren die Vorstellungen, die sich Rousseau statt dessen vom Mittelalter machte. Er betrachtete es als „Zeitalter der Feudalherrschaft, des abgeschmacktesten Systems, das je bestand und das den Grundsätzen des Naturrechts und jeder guten Staatsordnung widerspricht“, und zwar namentlich deswegen, weil das Staatsvolk die Fehde als Rechtsmittel zuließ und dieser Mißbrauch erst durch den Gottesfrieden aufgehoben wurde (1. Buch 4. Kap.). In der Qualität stellte Rousseau der Fehde den Begriff der Repräsentation gleich: „Wir haben ihn aus der Lehnsverfassung übernommen, dieser ungerechten und unsinnigen Regierungsform, in welcher der Mensch herabgewürdigt und der Name ,Mann‘ entehrt wird. In den alten Republiken und selbst in den Monarchien hatte das Volk niemals Repräsentanten; man kannte dieses Wort überhaupt nicht“ (3. Buch 15. Kap.). Daher verkannte Rousseau den Zusammenhang zwischen sei es direkter, sei es nach dem Identitätssystem ausgeübter Volksherrschaft auf der einen und durch Repräsentanten vermittelter Volksherrschaft auf der anderen Seite. So standen nicht nur die Revolutionäre von 1789 unter seinem Einfluß, als sie sich für die „identitäre“ anstatt der repräsentativen Demokratie und damit für ein sowohl veraltetes als auch utopisches anstatt des brauchbaren und zukunftsträchtigen Verfassungsmodells entschieden (K. D. Bracher 1981 S. 38, 52, 62), sondern auch die Romantiker des 19. Jahrhunderts, die das in der frühen Neuzeit ausgebildete régime féodal bis weit ins Mittelalter hinein zurückdatierten, anstatt sich zu fragen, wie die öffentliche Willensbildung in dieser Zeit vor sich gegangen sei. § 824. Der erste und für lange Zeit einzige Staats- und Rechtsphilosoph, der das von Rousseau aufgeworfene Problem des Gemeinwillens weiter bearbeitete, war Immanuel Kant, doch ist dieser Teil seiner politischen Philosophie in der zuerst 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft“ mehr verborgen als veröffentlicht, da Kant als deren Gegenstand die ästhetische Urteilskraft ankündigte, deren Analytik sich auf das Schöne und Erhabene sowohl in der Natur wie in der Kunst und auf den Idealismus der Zweckmäßigkeit als deren einziges Prinzip beziehen sollte. In Debatten über Kultur und Geschmack war nämlich zuerst entdeckt worden, daß
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der öffentliche Gebrauch der Vernunft dazu neigt, einen Konsens der Teilnehmer und mit ihm eine öffentliche Meinung hervorzubringen, die die Kraft einer Wahrheit besitzt. Auch hatten bereits Sokrates (oben: § 810) und Plato, dieser in dem Dialog über die Gesetze, das politische Urteil und den Gesetzesgehorsam der Bürger mit dem poetischen, musikalischen und önologischen Geschmacksurteil in Verbindung gebracht (Plato, Nomoi I 636a bis II 673d, III 682e, 700a – 701c). Gewiß ist aber auch zu bedenken, daß Kant als Untertan des absolutistisch regierten preußischen Staates keine hinreichende Anschauung von öffentlicher politischer Willensbildung besaß, denn über das, was in Polen, Schweden, England und Neuengland und seit 1789 in Frankreich geschah, konnte er sich nur aus den Zeitungen unterrichten. Da es einen diesen Königreichen vergleichbaren deutschen Nationalstaat nicht gab und folglich auch eigentlich kein deutsches Volk, kam als Ausdruck der Sehnsucht nach etwas allen Deutschen Gemeinsamem vor allem die Sprache in Betracht. Auch dies mußte eine Denkweise begünstigen, in der die Ästhetik die Stelle der Politik einnehmen oder doch wenigstens diese in sich begreifen konnte. Kant jedenfalls erklärt: „Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten,“ zwischen beiden bestehe eine Analogie, „der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse,“ und zur Begründung führt er an: „So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch dargestellt . . . Dies Geschäft ist bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient; allein hier ist nicht der Ort, sich dabei aufzuhalten. Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck . . . ein Symbol für die Reflexion enthält“ (I. Kant 1793 § 59, § 42 = B 170). Kant schickt sich hier an, die Grenze der cartesianischen Bewußtseinsphilosophie zu überschreiten, deren isoliertes Subjekt sich die Gegenstände vorstellt, ohne ihrer Realität gewiß werden zu können; er bedurfte ihrer Ergänzung durch eine Philosophie der Sprache und ihres überindividuellen Subjekts, in deren Raum sich Menschen miteinander verständigen und durch konsensorientiertes Handeln Gesellschaften und Staatsvölker konstituieren. In den Kritiken der reinen (theoretischen) und der praktischen Vernunft hatte er zuvor die Metaphysik auf eine tragfähige Grundlage gestellt, indem er theoretische und praktische Erkenntnisurteile voneinander trennte: Jene legen den jederzeit sinnlich bedingten Begriff einer Natur überhaupt durch den Verstand zugrunde und stellen dem Ich vor, was eine Sache ist; deshalb gehören nicht hierher die Worte Gott, Freiheit und Unsterblichkeit: Sie sind keine Verstandesbegriffe für natürliche Objekte, sondern haben ihre Wahrheit als Postulate der reinen Vernunft, deren nur die praktischen Erkenntnisurteile bedürfen.
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Diese nämlich legen die Idee der Freiheit, als a priori durch die Vernunft gegeben, zugrunde und stellen vor, daß Ich etwas verrichten soll, um eine Sache hervorzubringen (ebd. § 31). Daß Ich dabei recht handle, dafür sorgt das Vernunftgebot des kategorischen Imperativs als Norm für die vielfachen Maximen, nach denen Individuen handeln können. Bereits mit dieser Norm hatte Kant das Verhältnis des individuellen Willens zum Gemeinwillen grundsätzlich bestimmt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Aber nun stand er vor der uralten Frage, wie sich der Einzelne derjenigen Maximen seines Wollens wählend vergewissern könne, die sich zur Richtschnur für den Gemeinwillen eignen, wie die Ideale der reinen Vernunft, sobald sie mit empirischen Inhalten erfüllt und dadurch zwischen Menschen strittig werden, die Ausbildung irdischen positiven Rechts lenken und wie man mit Hilfe reiner Erkenntnisurteile zur Einsicht in die beste, für alle Menschen taugliche Staatsverfassung gelangen könne. § 825. Kant beantwortet diese Frage, indem er die Urteilskraft als ein drittes in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen, und zwar als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft, bestimmt. Er versteht darunter das Vermögen, das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten zu denken und ebenso, wie der Verstand das sachliche Erkenntnisvermögen und die Vernunft das Begehrungsvermögen des Willens lenkt, das Gefühl der Lust und Unlust zu regulieren. Das Geschmacksurteil ist demnach ein Urteil des Wohlgefallens oder Mißfallens an einem gegebenen Gegenstand, das sich auf keinerlei Verstandes- oder Vernunftbegriff von der beurteilten Sache gründen kann (ebd. Vorrede B V und § 31). Dadurch, daß die Urteilskraft die Gesetzgebung des Verstandes mit der der Vernunft verknüpft, ermöglicht sie den Übergang vom Gebiet des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs kraft einer „Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen“, deren Zusammenstimmung den Grund für das Gefühl der Lust und Unlust enthält und zugleich die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl befördert (ebd. Einleitung Abschnitt XII = B LIII-LVII). Wir haben hier den Kern dessen vor uns, was spätere Denker eine Handlungstheorie nennen werden. Die Spontaneität des Gemüts bewirkt nach Kant denn auch, daß das Geschmacksurteil lediglich ein empirisches Urteil sein kann, das weder eine objektive Notwendigkeit ankündigen noch auf Gültigkeit a priori Anspruch erheben kann. Nur empirisch und ohne anderen einen Begriff zuzumuten, will es für jedermann als ein Gefühl der Lust oder Unlust erregend gelten (Einleitung VII = B XLVI). Nicht logisch, sondern ästhetisch, nicht objektiv, sondern subjektiv ist sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit begründet. Es postuliert nicht jedermanns Einstimmung, wie dies das logische Urteil tut, sondern sinnt diese nur jedermann an, „als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen“ der Urteilende „die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet. Die allgemeine Stimme ist also nur eine Idee“ (ebd. § 8). Die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils läßt sich zwar bereits „aus dem natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit (empirisch und psychologisch) leichtlich dartun“
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(§ 9 = B 29 f.), sie erklärt sich aber erst wahrhaft, wenn man die „Abstammung eines so durch Beispiele bewährten Geschmacks von dem tief verborgenen allen Menschen gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden,“ ins Auge faßt (§ 17 = B 53). Man wirbt „um jedes anderen Beistimmung“ zu einem Geschmacksurteil, „weil man dazu einen Grund hat, der allen gemein ist,“ und angesichts der Subjektivität aller Empfindungen kann dieser Grund nur in der Existenz eines Gemeinsinns gefunden werden, „wodurch wir aber keinen äußern Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte verstehen“ (ebd. §§ 19, 20). Mit dieser Definition unterscheidet sich Kant sehr von dem altrömisch-stoischen Begriff des sensus communis als des Vermögens, wiewohl ohne Reflexion, so doch verständig über alle Gegenstände der Moral und Ästhetik zu urteilen. Weil nicht theoretisch zu begründen, war dieses Vermögen unerlernbar: Nur durch Übung konnte es erworben werden, zumal es mehr war als eine bloß formale Fähigkeit, enthielt es doch auch einen Inbegriff von Urteilen und Urteilsmaßstäben, die den sensus communis inhaltlich bestimmten: „Alle haben genug ,gemeinen Sinn‘, d. h. Urteilsvermögen, daß man ihnen den Beweis von ,Gemeinsinn‘, von echter sittlichbürgerlicher Solidarität, d. h. aber: Urteil über Recht und Unrecht, und Sorge für den ,gemeinen Nutzen‘ zumuten kann“ (H. G. Gadamer 1990 S. 27 – 29). Kant dagegen hatte diesen Begriff aus seiner Moralphilosophie entfernen müssen, weil er die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs weder auf das Gefühl des Wohlgefallens oder Mißfallens noch auf die Allgemeinheit des sittlichen Empfindens begründen konnte. Für die vernünftige Willensbestimmung kann keine bloße Gemeinsamkeit des Empfindens die Basis bilden. Von einem wirklichen Gemeinsinn konnte Kant daher nur noch in Ansehung des Geschmacksurteils reden: Der wahre Gemeinsinn ist der Geschmack (ebd. S. 29 – 39). Und wie der Geschmack jetzt zwischen Verstand und Vernunft vermitteln sollte, so hatte einst im Mittelalter der sensus communis zwischen menschlichem Wissen und göttlicher Offenbarung, hernach aber zwischen Laien- und Schulwissen vermittelt und als Korrektiv für die unnützen Spekulationen der Theologen und Philosophen gedient (A. v. Maydell / R. Wiehl 1974 S. 242 f.). § 826. Es machen sich hier bereits die Schwierigkeiten bemerkbar, mit denen Kant später bei der Begründung seiner Rechtslehre zu ringen hatte. Er war sich dessen bewußt, daß alles, was er über das Geschmacksurteil ausführte, auch auf das Werturteil über politisch-historische Gegenstände zutrifft und daß er deren Erörterung aus der Kritik der Urteilskraft nicht ausschließen konnte. Von dem Gemeinsinn, den wir unserem Urteil „nicht als Privatgefühl, sondern als ein gemeinschaftliches zum Grunde legen“ und der uns zu der Erwartung berechtigt, daß jedermann mit uns übereinstimmen werde, sagt Kant gelegentlich, daß das Geschmacksurteil lediglich als ein Beispiel von dessen Urteil anzusehen sei (I. Kant 1793 § 22 = B 67). Die Beispiele, deren er sich bedient, zeigen die Spannweite, die er dem Geschmacksurteil zuwies.
Schlußbetrachtung
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Das Urteil etwa, daß etwas erhaben, d. h. schlechthin groß oder mächtig sei, beziehen wir nicht nur auf Gegenstände der Natur, sondern auch auf solche der Kunst und Geschichte. So beurteilen wir „im Praktischen: die Größe einer gewissen Tugend, oder der öffentlichen Freiheit und Gerechtigkeit in einem Lande“ (§ 25 = B 82 f.), und Macht, als „ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist,“ und Gewalt, die „auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist,“ legen wir nicht nur der Natur bei, sondern auch Menschen, vorzüglich und „auch im allergesittetsten Zustande“ noch dem Feldherrn und Krieger und der „Unbezwinglichkeit seines Gemüts durch Gefahr“, nach ihm aber auch dem Staatsmann. „Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt“ (§ 28 = B 102, 106). Im letzten Teil der Kritik, wo es um die Beurteilung der Natur im Verhältnis zur Kultur, zur Freiheit und zur geschichtlichen Welt geht, kehrt Kant zu diesem politischen Schwerpunkt seiner Untersuchung zurück: Nur mit Hilfe der natürlichen Ungleichheit unter Menschen könnten sich Wissenschaft und Kunst als minder notwendige Stücke über die mechanische Kultur des Lebensnotwendigen hinaus entwickeln. „Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnis der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird . . . Zu derselben wäre aber doch, wenn gleich Menschen sie auszufinden klug und sich ihrem Zwange willig zu unterwerfen weise genug wären, noch ein weltbürgerliches Ganze, d. i. ein System aller Staaten, die aufeinander nachteilig zu wirken in Gefahr sind, erforderlich. In dessen Ermangelung, und bei dem Hindernis, welches Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht, vornehmlich bei denen, die Gewalt in Händen haben, selbst der Möglichkeit eines solchen Entwurfs entgegen setzen, ist der Krieg (teils in welchem sich Staaten zerspalten und in kleinere auflösen, teils ein Staat andere kleinere mit sich vereinigt und ein größeres Ganze zu bilden strebt) unvermeidlich: der, so wie er ein unabsichtlicher (durch zügellose Leidenschaften angeregter) Versuch der Menschen, doch tief verborgener vielleicht absichtlicher der obersten Weisheit ist, Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten . . . Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mitteilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenngleich den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Tyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab, und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll“ (§ 83 = B 393 – 395).
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Schlußbetrachtung
§ 827. Was ist dies anderes als der Ansatz zu einer Theorie der einhelligen, konsensorientierten Geschmacks- und gemeinen Willensbildung und gesellschaftlichen Rationalisierung? ein Ansatz freilich, den Kant nicht allzu weit befördern konnte, da er den Standpunkt der Bewußtseinsphilosophie nicht verlassen wollte und sich daher schwer tat, aus der Sichtweise dessen, der ein Geschmacks- oder Werturteil fällt und dafür auf allgemeine Zustimmung rechnet, hinüberzuwechseln in die Sichtweise der anderen, die sich das Urteil aneignen sollen, indem sie sich selbst eines, wenn auch ein damit übereinstimmendes, bilden. Zu einer Theorie des Gemeinschaftshandelns konnte Kant noch nicht durchdringen. Zudem war er sich der Gefahr bewußt, die ihn beim Wechsel der Standpunkte bedrohte und der er sich bereits mit der Aufgabe aussetzte, die er der Urteilskraft stellte: nämlich zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, und damit zwischen apriorischen und empirischen Bestimmungen des Geschmacksurteils, des gemeinen Willens und des von diesem gesetzten Rechts zu vermitteln. Wie der Natur, so schreibt die Vernunft der gesellschaftlichen Praxis eben nur die allgemeinen, nicht aber die besonderen Gesetze, nicht das positive Recht vor. Dieser Sachverhalt stellte Kant vor die uralte Frage, wie sich die Metaphysik des Rechts zur empirischen Rechtspraxis verhalten solle und wie der Vermengung der Vernunftidee mit der historischen Wirklichkeit zuvorzukommen sei. Kant sah sehr wohl, daß die von der Vernunft gebotene Vollendung des Rechts durch einen ewigen Frieden nur von der Geschichte der Menschheit zu erwarten, also: auf sie angewiesen sei, ohne daß doch deren empirischer Verlauf das Vernunftproblem hätte lösen und die Frage nach der Gerechtigkeit des positiven Rechts beantworten können (G.-W. Küsters 1988 S. 3, 9, 47, 77 f., 82 f., 129 f.). Um die Versuchungen des Empirismus abzuwehren, bedurfte das Geschmacksurteil einer Deduktion, einer Rechtfertigung vor dem Gerichtshof der Vernunft, weil es Notwendigkeit beansprucht, indem es jedermanns Beistimmung fordert, obwohl es kein Erkenntnisurteil ist. Diese Deduktion stellte Kant in den Mittelpunkt seiner Kritik. Sie bestimmt zwei logische Merkmale des Geschmacksurteils, setzt dabei aber voraus, daß dessen Allgemeingültigkeit „sich nicht auf Stimmensammlung und Herumfragen bei andern, wegen ihrer Art zu empfinden, gründen, sondern gleichsam auf eine Autonomie des über das Gefühl der Lust (an der gegebenen Vorstellung) urteilenden Subjekts, d. i. auf seinem eigenen Geschmacke, beruhen . . . soll“ (§ 31 = B 134 f.). Die logische Deduktion erfordert demnach, daß die Bildung eines gemeinen Geschmacks oder politischen Willens vom Urteil des Einzelnen und nicht von sozialen Verhältnissen ausgehe, in denen, wie verworren auch immer, Gemeinschaftsbildungen bereits vorliegen. Nur durch Empirie also gelangte Kant zur Kategorie der Gemeinschaft und damit zu der Bedingung für die Möglichkeit eines wechselseitigen Verhältnisses der Willkür von Subjekten, die in einer Rechtssphäre miteinander verbunden sind (G.-W. Küsters 1988 S. 61, 130 f.). § 828. Denn Kant macht doch wohl eine empirische Aussage, die nicht aus den „logischen Eigentümlichkeiten“ des Geschmacksurteils folgt, wenn er feststellt,
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dieses Urteil bekomme durch die „Eigenschaft“ allgemeiner Mitteilbarkeit ein Interesse „in Beziehung auf Gesellschaft, in der es sich mitteilen läßt“ (§ 29 = B 126), so wie umgekehrt ein empirisches Interesse am Schönen nur in der Gesellschaft existiert (§ 41). Denselben Bezug zur Gesellschaft enthält die Begründung der Mitteilbarkeit auf den Gemeinsinn. Zu der schwierigen Frage, wie Einhelligkeit des Urteils mehrerer Menschen zustandekomme, hatte Kant zuvor bereits ausgeführt, daß die Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung, die wir für unser Urteil erwarten, zwar lediglich eine subjektive und nur auf unser Gefühl gegründet sei, daß wir dieses Gefühl aber „nicht als Privatgefühl, sondern als gemeinschaftliches zum Grunde legen,“ d. h. als einen Gemeinsinn, der allerdings nicht sagt, „daß jedermann mit unserem Urteile übereinstimmen werde,“ wohl aber, daß er „damit zusammenstimmen solle. Also ist der Gemeinsinn . . . eine bloße idealische Norm, unter deren Voraussetzung man ein Urteil, welches mit ihr zusammenstimmte, und das in demselben ausgedrückte Wohlgefallen an einem Objekt, für jedermann mit Recht zur Regel machen könnte: weil zwar das Prinzip nur subjektiv, dennoch aber, für subjektiv-allgemein (eine jedermann notwendige Idee) angenommen, was die Einhelligkeit verschiedener Urteilender betrifft, gleich einem objektiven, allgemeine Beistimmung fordern könnte; wenn man nur sicher wäre, darunter richtig subsumiert zu haben“ (§ 22). In der Deduktion kommt Kant ausführlich auf diesen (sei es empirischen, sei es phänomenalen) Sachverhalt zu sprechen: Nur unter der Voraussetzung, daß in allen Menschen dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft anzutreffen seien, könnten sich Menschen überhaupt etwas mitteilen, und was die Mitteilbarkeit der Empfindungen anlange, so sei dafür eine gemeine Auffassung ihrer Gegenstände durch einen gemeinen und gesunden Verstand die Bedingung (§§ 38, 39). Als eine besondere Art von sensus communis sei der Geschmack das Vermögen, sich in die Stelle jedes anderen Menschen zu versetzen und dadurch die Mitteilbarkeit der Gefühle a priori zu beurteilen (§ 40). Hieraus ergibt sich die „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ als Verfahren der gemeinen Urteils- und Willensbildung. Denn dieser geht ein Streit der Meinungen voraus, die jede für sich wahr sein können und auf die Hoffnung der Streitenden bauen, untereinander übereinzukommen (§§ 56, 57). Nur dann, wenn man leugnet, „daß dem ästhetischen Geschmacksurteile irgend ein Prinzip a priori zum Grunde liege,“ ergibt sich, daß „ein Geschmacksurteil nur sofern für richtig gehalten zu werden verdiene, weil es sich trifft, daß viele in Ansehung desselben übereinkommen, und auch dieses eigentlich nicht um deswillen, weil man hinter dieser Einstimmung ein Prinzip a priori vermutet, sondern . . . weil die Subjekte zufälliger Weise gleichförmig organisiert seien“ (§ 57 Anm. II = B 244 f.). Aber als ein bloß idealisches ist jenes Prinzip so wenig genau zu bestimmen, daß das Urteilen nicht methodisch lehrbar ist. Vielmehr scheint der richtige Gebrauch der Urteilskraft von „der Kultur der Gemütskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse“ abzuhängen, „welche man Humaniora nennt: vermutlich, weil Humanität einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen,
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sich innigst und allgemein mitteilen zu können, bedeutet . . . Das Zeitalter sowohl, als die Völker, in welchen der rege Trieb zur gesetzlichen Geselligkeit, wodurch ein Volk ein dauerndes gemeines Wesen ausmacht, mit den großen Schwierigkeiten rang, welche die schwere Aufgabe, Freiheit (und also auch Gleichheit) mit einem Zwange (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht, als Furcht) zu vereinigen, umgeben: ein solches Zeitalter und ein solches Volk mußte die Kunst der wechselseitigen Mitteilung der Ideen des ausgebildetsten Teils mit dem roheren . . . und auf diese Art dasjenige Mittel zwischen der höheren Kultur und der genügsamen Natur zuerst erfinden, welches den richtigen, nach keinen allgemeinen Regeln anzugebenden Maßstab auch für den Geschmack, als allgemeinen Menschensinn, ausmacht. Schwerlich wird ein späteres Zeitalter jene Muster entbehrlich machen“ (§ 60 = B 262 f.).
§§ 829 – 834. Max Weber § 829. Zum ersten Male finden wir hier bei Kant eine Erörterung des Problems, wie es überhaupt möglich ist, daß Menschen einander Urteile und Empfindungen mitteilen und durch den Streit ihrer Meinungen hindurch zum endlichen einhelligen Konsens ihrer Geschmacks- und Werturteile übereinskommen können. Etliche Gründe lassen sich anführen, um zu erklären, warum weder Rousseaus Lehre vom Gemeinwillen noch diese kantische Erörterung zur Wiederentdeckung der verschollenen Realtradition des Systems identischer Willensbildung geführt haben und warum nicht nur Historiker, sondern auch Philosophen und Staatskundige über die von Kant gestellten Fragen hinweggegangen sind. An erster Stelle ist da das Scheitern der verfassungspolitischen Hoffnungen der Französischen Revolution zu nennen. Anstatt sich auf Volkssouveränität gegründete republikanische Verfassungen zu geben, hielten die kontinentalen Staaten an der Monarchie fest und begnügten sich damit, den Untertanen, die sie jetzt Staatsbürger nannten, als Ersatz für die verweigerte politische Mitbestimmung denjenigen rechtlichen Schutz vor der Staatsgewalt zu gewähren, den Kant in der Rechtslehre von 1797 als Merkmal des Rechtsstaates hervorgehoben hatte. Den Parteienstreit scheuend und Parteimeinungen, im Einklang mit der antiken Staatslehre und mit Rousseau, als unwahr und ungerecht diffamierend, denunzierten sie die Repräsentativverfassungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Amerika als Vehikel zügelloser Parteiherrschaft, der gegenüber nur noch die absolute Monarchie die Einhelligkeit des politischen Willens und damit die Einheit des Staatsvolkes zu verbürgen schien. Ein zweiter Grund liegt in der Entstehung der sozialen Frage, denn da man auf dem Kontinent deren Lösung vom Staate erwartete, war sie imstande, den von den Ständeversammlungen verfochtenen Liberalismus und mit ihm das öffentliche Interesse an der Verfassungsfrage zurückzudrängen. Warum sollten sich Sozialisten mit der Verfassung des Staates abgeben, dessen Absterben sie erwarte-
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ten? Die bis dahin vom Liberalismus geprägte Staatslehre geriet so in Abhängigkeit von der Sozialphilosophie, und die nebelhaften Vorstellungen, die sich die Menschen von sozialer Gerechtigkeit machen können, verdunkelten die Freiheitsund Bürgerrechte des Einzelnen, auf denen der liberale Begriff der Gerechtigkeit beruht. Drittens aber hatte bereits vor der Revolution von 1789 das Vernunftdenken der Aufklärung die Unmittelbarkeit zerstört, die zuvor die Verständigung der Menschen untereinander geprägt hatte, wenn sie entweder im sachlichen Verkehr miteinander oder im Gespräch, also durch Fragen, Antworten, Einwenden und Widerlegen, solange über etwas verhandelten, bis sich Einverständnis und Einhelligkeit einstellten: Denn dies geschah, weil die Sachen, über die sie verhandelten, schon vor erreichter Verständigung die Menschen miteinander verbanden (H. G. Gadamer 1990 S. 193 f.). Diese Weise, andere zu verstehen, war die (phänomenologische) Voraussetzung für die Überzeugung, die aus allen Quellen des Altertums und des Mittelalters zu uns spricht, daß Einmütigkeit aller Menschen der Regelzustand der Menschheit (in Friedenszeiten) sei und dessen Herstellung, so oft Sünde, Irrtum und Zwietracht ihn zerstörten, das Wesen der Politik und die vornehmste Aufgabe eines Staatsvolkes seien. Seit man aber an jedes Argument anstatt des humanioren den Maßstab der eigenen, für universal gehaltenen Vernunft anlegte, hatte sich in Europa ein neuer Begriff des Verstehens ausgebildet, das Verstehen des anderen nämlich als eines Fremden, mit dem eine Verständigung zu erzielen und Einverständnis zu erreichen man nicht mehr für möglich hielt. Das Vernunftdenken hatte die Individualität des anderen und damit eine grundlegende Fremdheit der Gesprächspartner an den Tag gebracht, die „letztlich einen Verzicht auf gemeinsamen Sinn bedeutet“ (ebd. S. 184) und sich auch auf die Menschen und die Denkweise der eigenen Vorzeit, des eigenen, als feudal denunzierten Mittelalters erstreckte. Zwar erfand die Romantik alsbald die philologisch-historische Methode, mit der sich die zuvor aufgerissene Kluft überbrücken läßt, aber die verlorene Voraussetzung einer einzigen, in den Sprachen aller Menschen enthaltenen Wahrheit als Grundlage des Verstehens und Einverständnisses war damit nicht zurückzugewinnen. Was historisch verstanden werden kann und soll, ist seitdem nicht mehr das gemeinsame, im sensus communis begründete Empfinden und Sachdenken, sondern die Individualität und das besondere Denken des oder der Sprechenden (ebd. S. 188, 192). „Ein durch die Vernunft allgemein zugänglicher Sinn wird so wenig geglaubt, daß die gesamte Vergangenheit, ja, am Ende sogar alles Denken der Zeitgenossen schließlich nur noch ,historisch‘ verstanden wird“ (ebd. S. 250). § 830. Dem hatte Kant insofern vorgearbeitet, als er den Begriff der Erkenntnis auf den theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch eingeschränkt und davon den allgemeinen Erfahrungsbegriff des Geschmacks und Gemeinsinns mitsamt dessen Geltung im Bereich von Sitte und Recht ausgeschlossen hatte. Schon die nächste Generation deutscher Philosophen gelangte daher zu der Überzeugung,
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daß die Subjektivität des Bewußtseins der letzte Grund des Erkennens sei und die Metaphysik in der Logik aufgehen lasse. Der historischen Erfahrung räumten Hegel und sein Schüler Karl Marx nur noch eine dienende Rolle gegenüber der wissenschaftlichen Theorie ein: Als Magd der Philosophie hatte sie dafür zu sorgen, daß sich die Theorie nicht in innere logische Widersprüche verstrickte. Nichts galt dagegen jener Gemeinsinn und gesunde Menschenverstand, denen es zu verdanken ist, daß Menschen wie Wirklichkeit überhaupt, so die Tatsächlichkeit geschichtlicher Gebilde wahrnehmen und verstehen und sich handelnd in ihnen einrichten können (I. Kant 1793 § 91 = B 456 f. H. Arendt 1955 S. 41, 1970 S. 149). Der Neukantianismus entfaltete Kants Lehren nur noch als Erkenntnistheorie. Allerdings hatte er bei der methodischen Begründung der Geisteswissenschaften, wo er es vor allem mit Fragen des Geschmacks und der Bewertung zu tun hatte, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. So geschah es im Widerspruch zu seinem Kritizismus, daß Wilhelm Dilthey die Gleichartigkeit von Subjekt und Objekt in Kultur und Geschichte betonte und den Begriff der historischen Struktur für soziale Ganzheiten prägte, die der kausalen Analyse unzugänglich sind (H. G. Gadamer 1990 S. 38, 223, 227, 250. Oben: § 759a). Als bei weitem wirksamste Schöpfung neukantianischer Erkenntnistheorie hat sich die „Soziologische Kategorienlehre“ herausgestellt, die Max Weber seiner auf Mitteilbarkeit und Verständlichkeit des Sinnes sozialen Handelns gerichteten Soziologie zugrundelegen wollte (M. Weber 1921 / 1972 S. 1 – 182). Weil unter diesem Sinne nur etwas Subjektives, nämlich der im historisch gegebenen Falle von den Handelnden subjektiv gemeinte, indessen wie für sie selbst, so auch für andere verstehbare Sinn gemeint sein kann, hatte Weber die Frage zu bedenken, unter welchen Kategorien es möglich sei, diesen Sinn objektiv zu erfassen. Um sie zu beantworten, trifft er die dreifache Unterscheidung zwischen (a) historischer Betrachtung oder deutender Erfassung des im Einzelfall real gemeinten Sinnes, (b) soziologischer Massenbetrachtung des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten Sinnes und (c) (erkenntnistheoretischer) Betrachtung ihres wissenschaftlich konstruierbaren reinen oder Idealtypus (ebd. S. 4). Obwohl sich Geschichtsschreibung und Soziologie weitgehend auf dieselben Realitäten des Handelns beziehen, müssen nach Webers Ansicht die soziologischen Typenbegriffe gegenüber der historischen Kausalanalyse relativ inhaltsleer bleiben, um die erstrebte gesteigerte Eindeutigkeit zu erreichen. Der Erkenntnis der Wirklichkeit dienen sie „in der Form: daß durch Angabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser Begriffe diese eingeordnet werden kann . . . Die gleiche historische Erscheinung kann z. B. in einem Teil ihrer Bestandteile ,feudal‘, im anderen ,patrimonial‘, in noch anderen ,bureaukratisch‘, in wiederum anderen ,charismatisch‘ geartet sein. Damit mit diesen Worten etwas Eindeutiges gemeint sei, muß die Soziologie ihrerseits reine (Ideal-)Typen von Gebilden jener Arten entwerfen, welche je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger Sinnadäquanz zeigen, eben deshalb aber in dieser absolut reinen Form vielleicht ebensowenig je in der Realität auftreten
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wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raumes errechnet worden ist“ (ebd. S. 9 f.). Weber äußert sich nicht darüber, ob der Soziologe, wenn er Idealtypen in „absolut idealer reiner Form“ entwirft, a priori aus reinem Verstande oder aber a posteriori aus historischer Erfahrung derjenigen Gebilde schöpft, die er nach ihnen beurteilt wissen will. Für ersteres spricht sein vielfach wiederholter Hinweis darauf, daß keiner der von ihm beschriebenen Idealtypen „historisch wirklich ,rein‘ vorzukommen pflegt“ oder daß „absolut idealtypisch reine“ soziale Handlungen und Beziehungen historisch gar nicht oder nur selten existiert haben. Für letzteres spricht der Umstand, daß Weber die in der Kategorienlehre ausgearbeiteten Idealtypen aus einer Vielzahl empirischer, vom Erfahrungsstoff abstrahierter Merkmale regellos und so zusammensetzt, daß sich das Prädikat „rein“ nur auf den extremen Grad der erreichten Abstraktion und auf die logisch widerspruchsfreie Komposition der Merkmale beziehen kann. Mit Recht ist daher gesagt worden, Weber verwerfe zwar intuitive Verfahren der Begriffsbildung für soziale Ganzheiten (oder Strukturen), führe sie aber mit den Idealtypen indirekt wieder ein (K. Pribram 1992 Bd. 1 S. 435). Weber ringt hier offensichtlich mit demselben Problem wie Kant bei der Deduktion der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, und die Durchführung der Kategorienlehre zeigt, daß der von den Handelnden gemeinte Sinn ihres Tuns in derselben Weise mit ihren subjektiven Werturteilen vermengt ist wie das Geschmacksurteil, dessen Bestimmungen Kant nicht hatte von der Erfahrung ablösen können. Während Kant aber die Urteilskraft zwischen Vernunft und Verstand hatte vermitteln lassen, folgt Weber der neukantianischen Werttheorie, die zwischen Sein und Sollen und folglich zwischen Tatsachen- und Werturteilen scharf unterscheidet. Weber leitet daraus die Forderung ab, daß die Wissenschaft die Werturteile des Betrachters von sich fernzuhalten habe, während die der Betrachteten objektiv zu konstatieren und als historische Tatsachen zu behandeln seien (M. Weber 1921 / 1972 S. 2 – 3. K. Pribram 1992 Bd. 1 S. 437 f.). § 831. „Für soziologische Zwecke geschaffene, begrifflich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus denen es – noch häufiger – gemischt ist,“ sind denn auch die vier von Weber (1921 / 1972 S. 12 f.) unterschiedenen Typen sozialen Handelns: Die Handelnden können sich bestimmen lassen (1) durch zweckrationale (utilitarische) Erwägungen, (2) durch wertrationale (vom Erfolg der Handlung absehende) Erwägungen, (3) durch Affekte und Emotionen und (4) durch Tradition oder „eingelebte Gewohnheit“. In der angegebenen Reihenfolge der Handlungstypen verengt sich das (nur im ersten Fall ubiquitäre) Bewußtsein des Aktors derart Schritt um Schritt, daß im wertrationalen Handeln die Folgen, im affektuellen Handeln die Folgen und die Werte und im traditionellen Handeln die Folgen, die Werte und die Zwecke ausgeblendet werden. Das traditionelle Handeln bleibt so als eine zunächst nicht weiter bestimmte Restkategorie übrig (J. Habermas 1987 Bd. 1 S. 379 – 381). Weber sieht es „ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen“ stehen, „was man ein ,sinnhaft‘ orientiertes Handeln überhaupt nennen kann. Denn es ist sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung
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der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize.“ Erhalten jedoch die Handelnden „die Bindung an das Gewohnte in verschiedenem Grade und Sinne bewußt aufrecht,“ so „nähert sich dieser Typus dem von Nr. 2,“ also dem wertrational orientierten Handeln und Verhalten. Ebenso kann sich affektuelles Handeln (etwa das „Bedürfnis nach aktueller Rache“) dem wertrationalen nähern, wenn die Aktoren die letzten Richtpunkte des Handelns bewußt herausarbeiten und sich an ihnen (wie an Rechtsnormen) orientieren. Angesichts dieser Ausführungen ist es erstaunlich, daß Soziologen und Historiker so häufig der Versuchung erliegen, Gesellschaft und Kultur des Mittelalters als von Traditionalismus im Weberschen Sinne geprägt zu bezeichnen, kann doch niemand behaupten, zumindest das öffentliche Leben jener Zeit in Gerichts-, Gemeinde-, Markt-, Landes- und Reichsversammlungen sei zutreffend als dumpfes Reagieren auf gewohnte Reize zu kennzeichnen (oben: § 406). Der Traditionalismus des Mittelalters und namentlich die volksrechtliche Gewohnheit kann richtig nur als wertrational im Sinne Webers bezeichnet werden – ebenso wie die Normierung des affektuellen Rachebedürfnisses durch Wergeldtarife, Fehderecht und Landfriedensordnungen (oben: §§ 770, 773). Auch das Festhalten der Bauern und Handwerker an hergekommenen Arbeitsweisen ist angesichts der Gefahren, die eine ständig von Mangel und Hungersnot bedrohte Gesellschaft von fehlschlagenden Experimenten zu gewärtigen hatte, in der Regel als bewußte und insofern rationale Verhaltensweise anzusehen. Die traditionellen Wert- und Rechtsvorstellungen schließlich können sich nicht wie dumpfe Reize, auf die die Menschen (unbewußt) reagiert hätten, vererbt haben, sondern müssen bewußt durch Erziehen und Erlernen von einer Generation auf die nächste weitergegeben worden sein (oben: § 818). Dies war im Mittelalter nicht anders als im Altertum und in der Neuzeit und als es in der Gegenwart immer noch ist. Zweifel an dieser Tatsächlichkeit hat allerdings der Glaube der Aufklärer des 18. Jahrhunderts an die Universalität ihres Vernunftgebrauchs erweckt, an dessen Maßen gemessen sich das Mittelalter als ein Zeitalter der Unvernunft, des Aberglaubens und des kritiklos vererbten Vorurteils denunzieren ließ. Es gehört zu den Abgründen, die die Aufklärung zwischen Vergangenheit und Moderne aufgerissen, und zu dem Bruch der Sinnkontinuität realer und literarischer Traditionen, den sie damit hervorgerufen hat, daß uns seitdem das Wissen um die Notwendigkeit und Berechtigung von Vorurteilen verlorengegangen ist. Es gibt eben nicht nur falsche, sondern auch richtige, d. h. vernünftig zu rechtfertigende Vorurteile, und die Erfahrung lehrt, daß es zweckmäßig ist, diejenigen anerkannter Autoritäten (oben: §§ 424, 632b, 720a, 735) zu befolgen, denn erst dadurch, daß alle Gemeindemitglieder bestimmte erlernte Überzeugungen miteinander teilen, werden ein Verstehen des anderen und Verständigung und konsensorientiertes Handeln unter Menschen überhaupt ermöglicht. Nicht schon das Mittelalter, sondern erst das Zeitalter der Romantik hat die Restauration des Alten allein deshalb, weil es das Alte oder Ursprüngliche ist, erfunden und zur höchsten Norm erhoben (H. G. Gadamer 1990 S. 275 – 281).
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§ 832. Da nach Weber empirisches soziales Handeln den reinen Handlungstypen lediglich nahekommt oder auch aus ihnen gemischt ist, würde uns die Kultur des europäischen Mittelalters den seltenen Fall des historischen Vorkommens eines reinen Typus gewähren, wenn sich das Verhalten der Menschen jener Zeit ausschließlich an eingelebten Gewohnheiten orientiert hätte. Indessen hat Weber selbst keineswegs übersehen, daß zweckrationales Handeln im Wirtschaftsleben (oben: § 101) und wertrationales Handeln im politischen und Rechtsleben des Mittelalters überall anzutreffen sind. Daher führt seine Methode, das Historische mit Hilfe irrealer, nämlich idealer und universal anwendbarer Typenbegriffe zu erhellen, zu einer durchaus zwiespältigen Beurteilung des europäischen Mittelalters. Dessen Rechtsfindung nämlich kennzeichnet Weber einerseits als charismatische Offenbarung durch Rechtspropheten und andererseits als rationale, fachmännische Erkenntnis. Da die Quellen nichts davon wissen, daß die germanisch-romanischen Völker jemals Priester oder andere „selbständige charismatische Träger des Rechtswissens“ mit der Pflege der weltlichen oder Volksrechte betraut hätten, erkläre ich mir die Einblendung der Gestalt des Rechtspropheten in Webers ansonsten auf die germanische Welt zugeschnittener Darstellung aus der Kenntnis fremder, nach Webers Meinung jedoch vergleichbarer Kulturen (er verweist selbst auf Togo; siehe auch 1921 / 1972 S. 449 und oben: § 480) und damit aus jener Vermischung empirischer Begriffsmerkmale, die das Wesen seiner Idealtypen ausmacht. Innerhalb der Welt des Mittelalters reduziert Weber denn auch das Charisma des Rechtsweisen auf die bloße Autorität des Experten: „Das germanische ,Weistum‘ . . . (ist) Wahrspruch von Autoritäten, deren Legitimation auf persönlichem Charisma oder auf Alter oder auf Wissen oder auf Honoratiorenqualität ihres Geschlechts oder schließlich auf Amt . . . ruht, über konkrete oder abstrakte Rechtsfragen“ (1921 / 1972 S. 450). Charisma und Amt haben freilich zur Folge, „daß die Gemeinde der Rechtsgenossen an der Rechtsfindung zwar beteiligt ist, aber die Rechtsfindung nicht souverän beherrscht, sondern nur den Urteilsvorschlag der charismatischen oder amtlichen Träger des Rechtswissens akzeptieren oder verwerfen, also auch, zuweilen durch besondere Mittel wie die Urteilsschelte, beeinflussen kann“ (ebd. S. 454). Andererseits betrachtet Weber aber die Autoritäten auch als Experten, deren „spezifische Sachkunde“ das in der „Alltagserfahrung der Rechtsgenossen“ begründete Volksrecht in „die Form der rationalen Regel“ überzuführen vermag (ebd. S. 455). Bereits die fränkische Kodifikation der Volksrechte „bedeutet . . . unvermeidlich in irgendeinem Grade eine Systematisierung und in diesem Sinn: Rationalisierung des Rechtsstoffs“ (S. 490). Die deutschen Rechtssprichwörter „entspringen einerseits der durch die Beteiligung der Gemeinde bedingten Popularität (des Rechts) und relativ großen Laienkenntnissen vom Recht; andererseits ist ihre Formulierung Produkt einzelner, geschult oder dilettantisch über die Maximen häufig wiederkehrender Entscheidungen nachgrübelnder Köpfe, besonders oft sicherlich der Rechtspropheten. Sie sind fragmentarische ,Rechtssätze‘ in Form von ,Parolen‘. Ein formell irgendwie entwickeltes ,Recht‘ dagegen, als Komplex be-
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wußter Entscheidungsmaximen, hat es ohne die maßgebende Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und nirgendwo gegeben . . . Zusammen mit den beamteten Trägern der Rechtspflege bilden die ,Rechtshonoratioren‘: Gesetzessprecher, Rachimburgen, Schöffen, eventuell Priester, die mit der Rechtsfindung befaßte Schicht der ,Rechtspraktiker‘“. Ihnen geben steigende Ansprüche (der Rechtsuchenden) an ihr Können den „Anstoß zur Rationalisierung des Rechts“ (S. 455). Aus diesen idealtypischen Erwägungen ergibt sich selbst dann, wenn man das von Päpsten und Bischofssynoden gefundene Kirchenrecht als von charismatischen Trägern des Rechtswissens gesetztes Recht ansehen will, keine geoffenbarte Satzung mittelalterlichen weltlichen oder Volksrechts, da die Versuche der Reichsregierung, die Volksrechte gemäß dem Rate der Bischöfe zu bessern, stets gescheitert sind (oben: §§ 549, 634, 636, 683, 737, 765). Da die Verfassungslehre überdies zahlreiche Beispiele für bewußte Rationalisierung der Volksrechte auf Kosten sowohl des Herkommens wie des affektuellen Handelns vorzuweisen hat (oben: §§ 597a.b, 715, 779, 789), besteht kein Anlaß dazu, die Figur des charismatischen Rechtsweisen mit Hilfe eines Weberschen Idealtypus aus fremden Kulturkreisen in die mittelalterliche soziale Wirklichkeit zu verpflanzen. Eher haben wir Anlaß zu der Annahme, daß Rechtsweisung und Gesetzgebung im Mittelalter nicht mehr und nicht minder rational vor sich gingen als in anderen Zeitaltern der europäischen Geschichte. Es müßte erst noch erwiesen werden, daß dem mittelalterlichen Rechtsleben ein besonderes Mischungsverhältnis von rational und affektuell bestimmtem sozialem Handeln eigentümlich und daß ihm der Grenzfall sinnhaft orientierten Handelns, als den Weber das traditionsgeleitete Handeln bestimmt, überhaupt eigentümlich war. In empirischer Betrachtungsweise kann unter Rationalisierung wohl nur die Mehrung des gesellschaftlichen Schatzes an empirisch gesichertem Wissen verstanden werden; es ist ein quantitativer Begriff und kein qualitativer, da von Mehrung der Vernünftigkeit des Einzelnen oder der Gesellschaft keine Rede sein kann. Speziell betrachte ich alles auf Verständigung und Konsens gerichtete Gemeinschaftshandeln als per se zweck- und wertrational. Die europäische Verfassungsgeschichte bietet uns denn auch keinen Grund, um das Erfordernis der Einstimmigkeit bei Gemeinschaftsbeschlüssen mit Weber als „durch den Offenbarungscharakter alles geltenden Rechtes bedingt“ anzusehen und daraus zu folgern: „Schwanden die magischen und charismatischen Mittel zur Auffindung des richtigen Rechtes, so konnte die Vorstellung entstehen und entstand: daß die Mehrheit das richtige Recht bezeuge und also die Minderheit die Pflicht habe, sich dem durch die Mehrheit Bezeugten anzuschließen“ (S. 424). § 833. Vergebens sucht man bei Weber die Vorstellung, geschweige denn die idealtypische Ausarbeitung davon, daß soziales Handeln den Willen der Beteiligten erfordert, einen Willen nämlich, gemeinsam (statt jeder einzeln für sich allein) zu handeln, zu diesem Zwecke aus freiem Willen einen Personenverband zu schaffen und diesem Verbande durch Übereinstragen der Einzelwillen einen Gemeinwillen und damit eine Verbandspersönlichkeit zu verleihen. Der Rousseausche Gedan-
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ke, daß Staaten von dem einträchtigen Gemeinwillen des Staatsvolkes zusammengehalten werden, daß sich das Handeln der Menschen vor allem an dem Gemeinwillen orientiere, an dessen Bildung sie beteiligt waren, und daß der Glaube an die Legitimität des Gemeinschaftshandelns aus eben dieser Beteiligung entsteht – dieser Gedanke ist Weber vollkommen fremd. Der Lehre Otto Gierkes folgend, betrachtet er nämlich das Genossenschaftswesen und sein Einungsrecht als eine Angelegenheit allein der niederen Volksschichten und ihrer Gemeinden, die auf die Staatsverfassung keinerlei Einfluß erlangte (oben: § 271). Anstatt einer gemeinen Willensbildung gesteht Weber den Menschen lediglich ein Einverständnis zu, welches dadurch entsteht, daß sich der Einzelne der überindividuellen Verbreitung seines gewöhnlichen Verhaltens bewußt wird und daß diese Gewohnheit in das halb oder ganz bewußte Erwarten eines sinnhaft entsprechenden Handelns anderer hineingehoben wird (M. Weber 1921 / 1972 S. 442). Das Primäre ist nach seiner Ansicht ein naturwüchsiges „massenhaftes ,Gemeinschaftshandeln‘, aus dem sich dann ,Einverständnisse‘ entsprechenden Inhalts“, d. h. betreffend den von allen subjektiv gemeinten Sinn, entwickeln können. Zuerst regelt bloße Sitte die faktischen Regelmäßigkeiten des Handelns; auf dem Wege über „konventionelle Regeln“ pflegt dann die Sitte „in die Form verbindlicher ,Normen‘ . . . der Traditionsbildung übergeführt zu werden . . . Sobald die Konvention sich der Regelmäßigkeiten des Handelns bemächtigt hat, aus einem ,Massenhandeln‘ also ein ,Einverständnishandeln‘ geworden ist . . . , wollen wir von ,Tradition‘ sprechen“ (S. 188 – 192). Soweit Weber dies und ebenso die Entstehung „umfassender politischer Verbände oder Einverständnisgemeinschaften“ (S. 499) erläutert, gehört es der Kultur vorgeschichtlicher Zeiten an. Was aber die „Entwicklungsstadien politischer Vergesellschaftung“ in geschichtlicher Zeit und speziell im europäischen Mittelalter anlangt, erkennt er als „politisches Gemeinschaftshandeln“ allein das „gewaltsame Gemeinschaftshandeln“ durch Kriegführung an. In diesem Zusammenhange erwähnt er einmal beiläufig den Willen, indessen nicht (mit Kant) als ein wesentlich durch Vernunft bestimmbares wählendes, sondern (mit Schopenhauer und Nietzsche) als ein von Affekten beherrschtes und daher in den Folgen irrationales menschliches Vermögen: Zwar sei der Inhalt des auf der Basis ethnischen Gemeinschaftsglaubens möglichen Gemeinschaftshandelns nicht auszumachen, aber auf dieser Grundlage könne ein politisches Gemeinschaftshandeln besonders leicht im Kriegsfalle entstehen: „Das potentielle Aufflammen des Willens zum politischen Handeln ist demnach nicht die einzige, aber eine derjenigen Realitäten, welche hinter dem im übrigen inhaltlich vieldeutigen Begriff von ,Stamm‘ und ,Volk‘ letztlich steckt“; wir haben es mit einem „politischen Gelegenheitshandeln“ zu tun, aus dem freilich eine dauernde politische Gemeinschaft hervorgehen kann. In diesem „gänzlich unkantischen, geradezu historistischen Mißtrauen gegen die argumentative Leistungsfähigkeit praktischer Vernunft“ zeigt sich die Kehrseite des Weberschen Begriffs von Rationalität und Rationalisierung (J. Habermas 1987
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Bd. 1 S. 221 f.). Es machte ihn in derselben Weise blind gegenüber der geschichtlichen Bedeutung konsensorientierten Wollens, Redens und Handelns, wie es die eben erst durch Georg Waitz begründete empirische verfassungsgeschichtliche Forschung war (oben: §§ 643, 662, 703b). Weder Soziologen noch Historiker fühlten sich dazu berufen, die Erzeugung des Gemeinwillens durch den Konsens der Staats- und Rechtsgenossen zu erforschen. Als Verfassung nämlich kann gewaltsames Handeln lediglich Herrschaft hervorbringen (M. Weber 1921 / 1972 S. 516 – 519). Soweit die Menschen von der Legitimität solcher Herrschaft überzeugt sind, ergibt sich die Definition: „Der in diesem Sinne ,legitim‘ Beherrschte soll . . . ,politischer Untertan‘ heißen“ (S. 590). Unter „,Verfassung‘ im soziologischen Sinn“ ist denn auch lediglich „die Art der faktischen, die Möglichkeit, das Gemeinschaftshandeln durch Anordnungen zu beeinflussen, bestimmenden Machtverteilung in einem Gemeinwesen“ zu verstehen (S. 194). Politischer Verband heißt daher lediglich ein Herrschaftsverband, dessen Bestand und Geltung seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Gebiets kontinuierlich durch Anwendung von Zwang seitens des Verwaltungsstabs garantiert werden (S. 29). Der Staat ist wesentlich Anstaltsstaat (oben: §§ 653a, 709). § 834. Webersche Idealtypen und Begriffe sind demnach weder dafür bestimmt noch dazu geeignet, die dem romanisch-germanischen Mittelalter eigentümliche Bildung eines politischen Gemeinwillens im Wege des Verhandelns und Konsentierens und das durch einen solchen Willen gelenkte Gemeinschaftshandeln zu erhellen. Nicht einmal ein „traditionelles Einverständnishandeln“ ist in den Quellen zu beobachten, wenn man Webers Definition des traditionellen Handelns als Grenzfalls sinnhaft orientierten Handelns zum Maßstab macht (oben: § 758). Um Idealtypen zu schaffen, die der mittelalterlichen Kultur angemessen wären, hätte Weber den Standpunkt der Bewußtseinsphilosophie verlassen müssen, da sich aus deren Prämissen kein kategorischer Begriff von menschlicher Gemeinschaft deduzieren läßt. So kann denn auch Weber für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie keine handelnde Kollektivpersönlichkeit zulassen, wie Juristen sie unter den Namen Staat oder Genossenschaft kennen, sondern nur (geglaubte) Vorstellungen der (einzelnen) Menschen von ihnen, an denen sie ihr Handeln orientieren können (M. Weber 1921 / 1972 S. 6 f.). Zur Ausbildung von eingelebten Sitten, freiwillig befolgten Konventionen und zwangsbewehrtem Recht ist kein politisches Gemeinschaftshandeln aller (S. 14 f.), sondern nur der Glaube der Beteiligten erforderlich. Diese können nämlich soziales Handeln an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientieren und dadurch dieser Ordnung (objektive) Geltung verschaffen (S. 16). Solche legitime Geltung können sie einer Ordnung zuschreiben (a) kraft Tradition oder eingelebter Gewohnheit, die sie für heilig und daher für unveränderlich halten, (b) kraft affektuellen Glaubens an die prophetische Schöpfung neuer Ordnungen, (c) kraft wertrationalen Glaubens an die Geltung ei-
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ner absolut gültigen Ordnung und (d) „kraft positiver Satzung, an deren Legalität“ entweder deswegen „geglaubt wird“, weil Interessenten sie vereinbart haben (paktierte Ordnung), oder weil eine als legitim geltende Herrschaft sie ihnen oktroyiert hat (S. 19). Im Grunde genommen freilich hält Weber jede Ordnung für (dem Einzelnen) oktroyiert: „Der Gegensatz paktierter und oktroyierter Ordnungen ist dabei nur relativ. Denn sobald die Geltung einer paktierten Ordnung nicht auf einmütiger Vereinbarung beruht, – wie dies in der Vergangenheit oft für erforderlich zur wirklichen Legitimität gehalten wurde, – sondern innerhalb eines Kreises von Menschen auf tatsächlicher Fügsamkeit abweichend Wollender gegenüber Majoritäten – wie es sehr oft der Fall ist, – dann liegt tatsächlich eine Oktroyierung gegenüber der Minderheit vor . . . Soweit ,Abstimmungen‘ als Mittel der Schaffung oder Änderung von Ordnungen legal sind, ist es sehr häufig, daß der Minderheitswille die formale Mehrheit erlangt und die Mehrheit sich fügt, also: die Majorisierung nur Schein ist“ (S. 19 f.). Dem Weberschen Zweifel an der Möglichkeit, (Rechts-)Ordnungen zu vereinbaren, ist als Ergebnis unserer Verfassungslehre entgegenzuhalten, daß ein Gegensatz zwischen paktierter und oktroyierter Ordnung dem alten Volksrecht unbekannt ist, da es den oktroyierenden Herrscher als vom Volke ermächtigten Amtmann betrachtet, dessen Oktroy unter dem Vorbehalt volklicher Zustimmung stand. Dann aber können der Staatsgedanke und die politische Verfassung des mittelalterlichen Staates lediglich unter den vierten Typus einer legitimen Weberschen Ordnung subsumiert werden, und es muß die öffentliche Ordnung jener Zeit auf demselben Legalitätsglauben beruhen, den Weber die noch „heute geläufigste Legitimationsform“ nennt. Nur wer an eine göttliche Legitimation des Herrschers glaubt, kann diesem eine rechtmäßige Gewalt, um dem Volke Ordnungen zu oktroyieren, beilegen. An anderer Stelle, nämlich unter der Idealtypik drei reiner Formen legitimer Herrschaft, die Weber unter dem üblichen Vorbehalt abweichender historischer Realität begrifflich fixiert (S. 124), findet sich hierfür die Bestätigung. Denn der europäischen Verfassungsgeschichte ist von diesen drei Typen lediglich der rationale angepaßt. Bereits dem Volksrecht des Mittelalters können nämlich weder Herrschaften traditionalen noch solche charismatischen Charakters zugeschrieben werden, sondern allein legale Herrschaften, von denen Weber selbst sagt, daß ihre „Legitimitätsgeltung . . . auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen“ (S. 124). Solche Herrschaft ist unter anderem mit der Vorstellung verbunden, „daß beliebiges Recht durch Paktierung oder Oktroyierung rational . . . gesatzt werden könne, . . . daß . . . der Gehorchende nur als Genosse und nur ,dem Recht‘ gehorcht“ und „daß die Verbandsgenossen, indem sie dem Herrn gehorchen, nicht seiner Person, sondern jenen unpersönlichen Ordnungen gehorchen und daher zum Gehorsam nur innerhalb der ihm durch diese zugewiesenen rational abgegrenzten sachlichen Zuständigkeit verpflichtet sind“ (S. 125. Oben: § 419).
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Sieht man näher zu, so lassen sich allerdings auch Webers Begriffe von Legitimität, Legalität und Herrschaft (zu dem letzteren oben: §§ 642, 746) auf mittelalterliche Rechtsverhältnisse deswegen nicht mit Erfolg anwenden, weil sich die Menschen von der Legitimität der Rechtsordnung einen ganz anderen Begriff machten (oben: §§ 272, 406, 419 – 421). Sie gründeten ihn nämlich auf ihre Teilnahme an der gemeinen Willensbildung und deren Öffentlichkeit und brauchten an die Legalität der von ihnen selbst eingesetzten Herrschaft nicht zu glauben, weil sie über ein empirisches Wissen von ihr geboten. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß durch den gemeinen Willen aller übereinsgetragenes oder gesatztes Recht seine Geltung sowohl nach hellenischer als auch nach romanisch-germanischer Gewohnheit durch Verschwörung der Rechtsgenossen erlangte. Denn nur an die Wirksamkeit des Eides als bedingter Selbstverfluchung mußte man glauben, nicht aber an die Legalität des vereinbarten Gesetzesrechts, von dem jedermann ein zuverlässiges, weil von der Gesamtheit bezeugtes Wissen erlangte. So klafft in Webers Begriff von rational legitimierter Herrschaft eine Lücke, weil Weber ebenso, wie es die gleichzeitige verfassungsgeschichtliche Forschung tat, alles konsensorientierte Gemeinschaftshandeln aus seiner Wahrnehmung ausblendete. Darüber hinaus können, da seine Soziologie den juristischen Begriffen, die sie vorfindet, einen ganz anderen Sinn als den umgangs- oder fachsprachlichen unterschiebt (M. Weber 1921 / 1972 S. 6 f.), Webers idealtypische Begriffe nicht in eine Verfassungsgeschichte eingeführt werden, die sich die Aufgabe stellt, verschollene Rechtsgedanken vergangener Zeiten zu rekonstruieren und ihren Einfluß auf den Verlauf der politischen Ereignisse zu bestimmen.
§§ 835 – 840. Heidegger und Arendt § 835. Ohne von Weber beachtet zu werden, hatten unterdessen philosophische Bemühungen mit dem Ziel eingesetzt, die soziale und geschichtliche Welt vom wirklichen menschlichen Leben her zu verstehen und durch Rückgang auf die Faktizität der Lebenswelt deren Aufspaltung in Subjekt und Objekt zu überwinden. Sowohl die Bewußtseinsphilosophie als auch die Objektivität der Wissenschaft mußten sich in der neuen Denkweise als sekundäre und künstliche Formen des Verstehens und Erklärens der Welt herausstellen. Den Aufstieg zur herrschenden Lehre sicherte diesen Bemühungen in Deutschland die Abhandlung über „Sein und Zeit“, die Martin Heidegger im Jahre 1927 vorlegte. Sie erwies die Möglichkeit einer phänomenologischen Erfassung des Faktischen, deren ontologische Basis sie nicht mehr in dem reinen Denken des Selbstbewußtseins, sondern in der unbegründbaren und unableitbaren Tatsächlichkeit menschlichen Daseins: in der Existenz, aufsuchte. Als Phänomen bestimmte Heidegger das, was verdeckt in der Lebenswelt enthalten ist und sich bewahrheitet, indem es aus ihr aufscheint und entdeckt werden kann. Phänomenologie ist demnach Hermeneutik der Faktizität und Verstehen des menschlichen Daseins als In-der-Welt-Seins, für das es (noch)
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keine Zerlegung des Seienden in Subjekt und Objekt gibt. Denn mit jedem Dasein ist ein ursprüngliches, unreflektiertes Verstehen seiner selbst und der Welt durch Sprache, Rede und Mitteilung gegeben, die für das Dasein konstitutiv sind. Niemand ist von Hause aus ein Einzelner, weil sich jeder schon immer mit anderen versteht und verständigt, bevor er sich seiner Subjektivität bewußt werden kann. Die Einverständnisgemeinschaft bedarf keiner Konstruktion reiner Idealtypen, um sich und die Wirklichkeit begreifen zu können. So war die Philosophie endlich Kants Hinweisen über die Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils (von denen Heidegger freilich nicht spricht) nachgekommen und imstande, die Sprachgebundenheit alles Verstehens und die Sprachlichkeit aller Kommunikation als Voraussetzung für die Verallgemeinerung des Werturteils zu erkennen. Den Begriff der Gemeinschaft, den weder Kant noch Weber hatte als Kategorie a priori gewinnen können, bestimmte Heidegger (1927 §§ 9 und 26) als Existenzial, d. h. als eine von vielen Weisen, in denen das Dasein phänomenal existiert. Grundverfassung des alltäglichen menschlichen Daseins ist das In-der-WeltSein als Selbst- und Mit-anderen-Sein. „Die ,Fürsorge‘ als faktische soziale Einrichtung zum Beispiel gründet in der Seinsverfassung des Daseins als Mitsein . . . In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben.“ Eine weitere Möglichkeit der Fürsorge „verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.“ Fürsorge entspringt also aus dem Miteinandersein. „Das gemeinsame Sicheinsetzen für dieselbe Sache (ist) aus dem je eigens ergriffenen Dasein bestimmt. Diese eigentliche Verbundenheit ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den Anderen in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt“ (ebd. § 26). Heideggers Analyse des In-der-Welt-Seins ist demnach keineswegs, wie man gemeint hat (J. Habermas 1987 Bd. 2 S. 71), für Phänomene der Vergesellschaftung unempfindlich, auch wenn „deren Beschreibung und Klassifikation“ nicht zu den Aufgaben zählte, die Heidegger sich stellte. Hierher gehört auch seine Bemerkung über die Abständigkeit, die sich im Mit-Sein auftut und dazu führen kann, „daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten.“ In dieser Seinsart der Abständigkeit „liegt aber: Das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen . . . Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht . . . Das Man hat selbst eigene Weisen zu sein . . . Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ,die Öffentlichkeit‘ kennen . . . Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln“ (ebd. § 27). § 836. Wie diese Erörterungen der Seinsverfassung zeigen, ist in den verschiedenen Seinsweisen menschlicher Existenz, die Heidegger phänomenologisch fixiert,
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die Möglichkeit des Politischen und die Bildung von Gemeinschaften mit politischer Zwecksetzung bereits enthalten. Den Kreis dieser Möglichkeiten erweitert Heidegger noch durch die Bestimmung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins. Denn auch von politischen Verbänden gilt, was Heidegger über das Man überhaupt aussagt: „Das Man stirbt nie, weil es nicht sterben kann, sofern der Tod je meiner ist,“ und deswegen kann es sich die Vorstellung von einer unendlichen öffentlichen Zeit im Gegensatz zur endlichen Lebenszeit des Einzelnen machen (§ 81). Die Lebenswelt des Man und ihre öffentliche Zeit aber stellen den Raum dar, in dem sich das Dasein als ein notwendigerweise geschichtliches selbst versteht, sofern es sich über sich selbst verständigt und damit ein konsensorientiertes Gesamthandeln ermöglicht. Vor allem anderen Seienden nämlich ist das Dasein durch Seinsverständnis ausgezeichnet, und dieses ist sozialen Charakters. „Im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen und Erkenntnis allererst möglich macht“ (§ 26). Aus der Zeitlichkeit des Daseins erst erklärt sich der zirkuläre Verlauf des Verstehens; denn was es verstehen will, das findet das Dasein immer schon als ein Verstandenes und verstehbar Vorstrukturiertes vor (§§ 32, 63). Wie Hans-Georg Gadamer schon 1960 gezeigt hat, ergeben sich hieraus Konsequenzen, die für die Verfassungslehre von Bedeutung sind (H.-G. Gadamer 1990 S. 272 – 275, 281 – 290). Ziel allen Verstehens, aller Auslegung dessen, was andere sagen oder gesagt haben, aller Verständigung unter Menschen ist das Einverständnis in einer Sache; jede Auslegung nämlich bezieht sich auf Sachen oder auf Texte, die ihrerseits von Sachen handeln, und muß sich daher von der Sache bestimmen lassen. Sie setzt mit vorgefaßten Begriffen ein, die sie, sobald sie versteht, um welche Sache es geht, entweder als angemessene Begriffe bewahrt oder durch angemessenere Begriffe ersetzt. Der Verstehende wird sich also von der Sache her seiner eigenen Vorurteile bewußt – oder er bleibt taub für die Sache, über die ein Anderer oder die Überlieferung zu ihm spricht. Alles Verstehen ist demnach wesentlich vorurteilshaft. Wer das leugnet, wie es die Philosophen der Aufklärung taten, der entmachtet die Überlieferung, da er auch das berechtigte und bewährte Vorurteil verwirft. Heideggers positive Deutung des hermeneutischen Zirkels rehabilitiert daher die von der Aufklärung zerstörten Autoritäten und mit ihnen die Tradition: Beides muß nicht, aber es kann eine Wahrheitsquelle sein, und namentlich in moralischen Fragen muß nicht jede Generation alle Antworten neu erfinden. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins machen, daß Tradition und Geschichte nicht uns gehören, „sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des
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einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins“ (ebd. S. 281). Offensichtlich spricht Gadamer hier von der Realtradition der Geschmacks- und Werturteile und ihrer Gegenstände, die die Alten durch Erziehung und Belehrung an die Jungen weiterzugeben pflegen, die aber ihrerseits Gegenstand einer Reflexion sind, der die Texte der literarischen Tradition ihre Entstehung verdanken. Nicht jedoch diese, sondern allein die für die Verfassungslehre so wichtige Realtradition ist ein phänomenales Charakteristikum des Daseins in seiner Lebenswelt und als verzeitlichte, iterierende Form des Verstehens gleich diesem ein Existenzial. „Das durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität, und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen – und nicht nur das aus Gründen Einsichtige – über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat. Alle Erziehung beruht darauf“ als Einweisung in das nach Herkommen Gültige, das die Jungen in Freiheit übernehmen sollen, ohne es begründen zu können, weil „außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt“ (ebd. S. 285). Für Webers Grenzfall von Tradition als „dumpfem Reagieren auf gewohnte Reize“ ist da natürlich kein Raum. „Tradition vollzieht sich nicht naturhaft, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung . . . Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft“ ebenso wie die planende Neuerung, die sich so gerne als einzige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Als Lebende stehen wir ständig derart in der Überlieferung, daß die verstehende Begegnung mit ihr ein Sichwiedererkennen desjenigen ist, der, sei es in naiver Rezeption und Reflexion (oben: § 555), sei es mit wissenschaftlicher Methodik, die Teilhabe an ihr erstrebt. § 837. Weil sich der Liberalismus von den Niederlagen, die er sich im 19. Jahrhundert zugezogen hatte, auch im 20. nicht erholte, sondern namentlich in Deutschland im Spätabsolutismus und Sozialismus erstickte, hatte die Heideggersche Wende unter anderem für die Erforschung des Mittelalters zunächst keine Folgen (oben: §§ 50, 57, 215, 216, 333, 403, 447, 555, 665, 709). Es geschah im amerikanischen Exil, daß Hannah Arendt für die von Heidegger nicht weiter beachteten Phänomene der Vergesellschaftung und insonderheit für das politische Handeln eine Theorie und Begrifflichkeit nach Maßgabe der phänomenologischen Hermeneutik schuf: Begriffe nämlich, die „den Phänomenen in der Wirklichkeit“ entsprechen sollten (H. Arendt 1970 S. 176). Auf diesem Wege gewann sie zum Beispiel einen Begriff von politischer Macht als sozialem Phänomen, der im Einklang mit der empirischen Grundlage der vorliegenden Verfassungslehre steht (oben: §§ 61 – 64, 653a, 711) und insofern der subjektivistischen und daher „soziologisch amorphen“ Vorstellung von Max Weber („Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen“, M. Weber 1921 / 1972 S. 28) weit
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überlegen ist. Gleich ihrem Lehrer Heidegger leitet Arendt Macht aus der Seinsweise des Daseins als Mit-Sein ab, kraft deren sie „allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist . . . Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt“ (H. Arendt 1970 S. 180 f.). Auf demselben Grunde ruht ihre Vorstellung vom politischen Handeln. Sobald nämlich Menschen nicht bloß zusammenleben, sondern auch zusammen handeln wollen, bedürfen sie einer entsprechenden Ordnung, Verfassung oder Organisation. „Was eine Gruppe von Menschen als Gruppe zusammenhält, wenn der immer flüchtige Augenblick des Zusammenhandelns verflogen ist, und was wir heute Organisation nennen, ist Macht, die wiederum ihrerseits dadurch intakt gehalten wird, daß die Gruppe sich nicht zerstreut“ (H. Arendt 1958 S. 254). „Wo Menschen sich organisieren, tun sie es, um zu handeln und Macht zu gewinnen“ (ebd. S. 473, auch S. 145). Da sich dies alles in der Lebenswelt als ursprüngliche, nicht hinterfragbare Faktizität des Daseins ereignet, bedarf es auch keiner (metaphysischen) Rechtfertigung oder Deduktion. Mögen sich auch Menschen, als stets befangen in Seinsvergessenheit und Verfallenheit des Daseins an die Welt, darüber täuschen, mögen sie an der Möglichkeit, sich selbst zu verstehen, verzagen und daher meinen, es bedürfe transzendenter Eideshüter und ihrer eidlichen Selbstverfluchung, um der Ordnung ihrer Organisation Zuverlässigkeit und Geltung zu verschaffen: die phänomenale Analyse des Faktischen kann auch dieses feststellen und der Mystifikation auf den Grund gehen, ohne ihr selbst zu verfallen. Die Analyse freilich ergibt, daß politisches Handeln zwar seine Folgen, die Wirkung nämlich der Prozesse, die es in Gang setzt, weder absehen noch widerrufen kann, daß es aber die von daher entspringenden Übel auch zu heilen vermag. „Das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten“ und mit ihnen „Wegweiser in die Zukunft“ aufzurichten, „in der ohne die bindenden Versprechen, welche wie Inseln der Sicherheit von den Menschen in das drohende Meer des Ungewissen geworfen werden, noch nicht einmal irgendeine Kontinuität menschlicher Beziehungen möglich wäre, von Beständigkeit und Treue ganz zu schweigen“ (ebd. S. 301 f.). In der politischen Theorie und Praxis habe „das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, und die ihm innewohnende Macht, das Zukünftige zu sichern,“ eine außerordentliche Rolle gespielt. Spätestens seit den Römern und ihrer Maxime pacta sunt servanda habe „die Vertragstheorie im Zentrum politischen Denkens gestanden, was nichts anderes besagt, als daß man das Vermögen des Versprechens als die zentrale politische Fähigkeit ansah. „Das Versprechen und die aus ihm sich ergebenden Abkommen und Verträge sind die einzigen Bindungen, welche einer Freiheit adäquat sind, die unter der Be-
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dingung der Nicht-Souveränität gegeben ist. Der große Vorteil aller Staatsformen, die ursprünglich auf einem Vertrag beruhen und für die das Ideal politisch festgelegter Bezüge am Modell des Bündnisses abgelesen ist, beruht darauf, daß in ihnen Freiheit als ein positiver Modus des Handelns möglich ist.“ Von politischen Körpern, die auf Herrschaft und Souveränität beruhen, unterscheidet sich das freiheitlich verfaßte Staatswesen als „Gemeinschaft, die zusammengehalten und aneinander gebunden ist – nicht durch den sie beherrschenden Willen eines Einzelnen, der aus Vielen Einen macht, sondern durch ein Vorhaben, auf das die Vielen sich geeinigt und um dessentwillen sie sich durch Versprechen aneinander gebunden haben“ (ebd. S. 311 – 313). Im phänomenalen politischen Handeln ist das Reden inbegriffen; beides in einem bestimmt das Politische, sofern sich dieses nicht des Mittels der Gewalt bedient. Bereits das Finden des rechten Wortes in der Öffentlichkeit der Gemeinschaft und im rechten Augenblick ist politisches Handeln (H. Arendt 1958 S. 35 f.). „Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind . . . Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann . . . Sofern wir im Plural existieren, und das heißt, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.“ Da sich politische Fragen an alle Mitglieder eines politischen Verbandes richten, können sie nicht in den Fachsprachen einiger jeweils Weniger, sondern nur in der vorwissenschaftlichen Alltagssprache des Laien und Humanisten beantwortet werden, deren Begriffe, und mit ihnen unser Bewußtsein von Wirklichkeit, der Gemeinsinn konstituiert (ebd. S. 11 f., 264 f.). Denn nur im In-der-Welt-Sein und Mit-Sein entsteht unser Wirklichkeitsgefühl, nennen wir doch (nach Aristoteles) nur Dasjenige Sein, was allen als glaub- und meinungswürdig erscheint (ebd. S. 250 f.). Es war nur folgerichtig, daß Hannah Arendt schließlich auf Kants Lehre von der Mitteilbarkeit des (Geschmacks- und Wert-)Urteils und auf deren Grundlegung im Gemeinsinn aufmerksam wurde. Wohl als erste entdeckte sie, daß Kants politische Philosophie nirgends anders als in der Kritik der Urteilskraft enthalten ist. § 838. Ihre eigene politische Theorie, namentlich ihr Modell des öffentlichen politischen Handelns, orientiert sich maßgeblich am Beispiel des antiken Stadtstaates, vor allem an dem der athenischen Polis, aber auch an der römischen Republik. Dabei vertraut sie darauf, daß Dichter und Schriftsteller ihr davon ein zutreffendes Bild vermitteln. Die Tätigkeiten des Handelns und Sprechens erscheinen ihr als so flüchtig und vergänglich wie das Leben überhaupt, als etwas, das keine anderen Spuren und greifbaren Zeugnisse in der Welt hinterläßt als die Geschichte selbst, in der Menschen handelnd und sprechend aufgetreten sind. Diese Geschichte könnte sich dem Gedächtnis der Menschheit niemals so einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben, wenn nicht Dichter und Geschichtsschreiber und die Künste des Bildens und Erzählens wären, die erst die Geschichte formen und überliefern (H. Arendt 1958 S. 211 f.).
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Man vermißt hier den Gedanken, daß es neben und noch vor der reflektierenden, von den Schriftstellern geschaffenen Tradition sehr wohl auch direkte Überreste des Redens und Handelns gibt, seit nämlich Menschen auch schriftlich miteinander verkehrt und nicht nur Texte ihrer Reden, sondern auch Erklärungen ihres Willens in Briefen, Reskripten, Dekreten, Gesetzen der Nachwelt hinterlassen haben. Hierher gehört, daß Frau Arendt es unterläßt, sich zur Erhellung der politischen Theorie der Römer der Quellen des römischen Rechts zu bedienen; vielmehr vertraut sie da allein auf Cicero und Augustinus als Gewährsleute. In einem gewissen Widerspruch hierzu steht ihre Beobachtung, daß zwar Handeln und Sprechen für sich genommen vergängliche Vorgänge sind, nicht aber das sprachgebundene und überindividuelle Bezugssystem, das Menschen miteinander verbindet und aus ihrem Handeln und Sprechen entsteht, denn von ihm sagt sie, es sei „in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten . . . Da Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus“ (ebd. S. 225 f.). Wegen der zeitlichen Dimension, die der Existenz dieses die Generationen übergreifenden Bezugssystems zukommt, identifiziere ich es mit der (lebensweltlichen) Realtradition empirischer Seins- und Rechtsordnungen, der für die Verfassungsgeschichte eine ebenso große Bedeutung zukommt wie der von Frau Arendt bevorzugten, ja: allein ins Auge gefaßten literarischen oder theoretischen Tradition. Hieraus erklärt sich ein merkwürdiger Widerspruch in Arendts Urteil besonders über die amerikanische Revolution (oben: §§ 401, 402). Da alle modernen Staatstheoretiker, vor allem aber die gründenden Väter der Vereinigten Staaten von Amerika, mit den Schriften des griechisch-römischen Altertums vertraut waren, neigt Frau Arendt dazu, die Bedeutung der theoretischen Tradition für die Revolutionen des 18. Jahrhunderts hoch, nach meiner Meinung: zu hoch, zu veranschlagen, höher jedenfalls, als es die Furcht der Gründerväter vor dem andauernden Tumult der hellenischen Stadtvölker und vor Tyrannei und Aristokratie als deren Folgen rechtfertigen. Von der Autorität des Gründungsaktes, durch den die amerikanische Republik ihre verblüffende Stabilität gewann, kann Frau Arendt vermuten: „Daß sie sich allen Theorien zum Trotz durchsetzen konnte, liegt doch wohl daran, daß das große römische Vorbild in der Praxis den Ausschlag gab, was nicht weiter verwunderlich ist angesichts der Gründlichkeit, mit der die Gründer sich dem Studium römischer Geschichte und römischer Institutionen gewidmet hatten, um sich auf die eigene große politische Aufgabe vorzubereiten“ (H. Arendt 1963 S. 256). Der antiken Theorie stellt Hannah Arendt an Bedeutung die des aufgeklärten europäischen Republikanismus gleich. Ihr schreibt sie die Überzeugung zu, die moralische Pflicht des Staatsbürgers zum Gehorsam gegen die Gesetze leite sich aus der Annahme her, daß er ihnen zugestimmt habe und folglich, im Grunde ge-
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nommen, sich selbst gehorche. Hier bricht nun plötzlich die Wirklichkeit der Realtradition in ihre Theorie ein (H. Arendt 1970a S. 306 – 316). § 839. Denn nach Arendts Ansicht begründet die republikanische Theorie die Herkunft des Konsenses auf eine bloße Fiktion, diejenige nämlich eines Gesellschaftsvertrages, den die Bürger unter sich oder als Gesamtheit mit der Regierung abgeschlossen hätten und dessen Geltung auf dem Grundsatz pacta sunt servanda beruhe. Hinnehmbar sei diese, im Jahre 1690 von John Locke formulierte, Theorie von der Gründung der Gesellschaft auf den Konsens aller Einzelnen nur dann, wenn man den Ton nicht auf stillschweigende Zustimmung auch der Unwilligen, sondern auf die aktive Teilnahme aller an den öffentlichen Angelegenheiten lege: Nur dann nämlich bedeute der Konsens, daß jeder Bürger aus freiem Willen Mitglied des Gemeinwesens sei und von Rechts wegen auch dissentieren könne. Wer wisse, daß er widersprechen dürfe, der wisse auch, daß er zustimme, wenn er den Widerspruch unterlasse. Es ist das Ideal der athenischen Demokratie, der Regierung direkt durch das Volk, das Arendt ihrer Interpretation des Gesellschaftsvertrages zugrundelegt und an dem gemessen sie den Konsens im repräsentativen Regierungssystem als zur Fiktion verkehrt empfindet. Dieses System bestärke nämlich Parteiherrschaft und Bürokratie und gründe den Gemeinwillen auf Mehrheitsentscheidungen anstatt auf allgemeinen Konsens und das freiwillige Gehorsamsversprechen jedes einzelnen. Soweit läßt Frau Arendt die literarische oder theoretische Tradition zu Worte kommen. Aber das ist nicht alles. Denn der Konsens, der den Geist der amerikanischen Gesetze ausmacht, jener Konsens, der nicht die Herrschaft einer Mehrheit über unwillige Minderheiten, sondern aktive Unterstützung und dauerhafte Teilnahme aller an allen öffentlichen Angelegenheiten bedeutet, dieser Konsens beruhte im vorrevolutionären Lebensabschnitt Amerikas nicht auf einem theoretisch fingierten Gesellschaftsvertrag, sondern auf „zahlreichen feierlichen Abkommen und Übereinkünften . . . , die vom Mayflower Compact bis zum Zusammenschluß der dreizehn Kolonien zu einer Einheit reichten,“ und dies war die Wirklichkeit, die auch Locke vor Augen hatte, als er seine Vertragstheorie formulierte (ebd. S. 307). Was aber war das für eine Wirklichkeit? Auf diese Frage erhalten wir zur Antwort, daß die amerikanische Revolution in Gestalt des Konsensprinzips über einen vorher nie voll ausformulierten Rechtsbegriff verfügt habe, den sie nicht aus irgendeiner Theorie, sondern aus der außergewöhnlichen Erfahrung der Siedler und damit aus den damals allerneuesten Wesenszügen der europäischen Zivilisation empfing. In Amerika hätten Europäer die alte Idee der Freiheit in Gleichheit verwirklicht, die bis dahin lediglich eine unerfüllte Hoffnung gewesen sei. Kein Zweifel: Die Siedler, die den Mayflower Compact errichteten, die das Kolonialland mit Orts- und Landesgemeinden besetzten und seit 1774 den amerikanischen Bundesstaat erbauten, handelten nicht nach Maßgabe theoretischer, aus der Literatur geschöpfter Erkenntnisse, sondern auf dem Grunde eines Wissens, das sie aus ihrer europäischen Lebenswelt mitgebracht (oben: §§ 394 – 398) und sich dort
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Schlußbetrachtung
innerhalb jenes Bezugssystems von politischen Erfahrungen und Rechtsgedanken lebend erworben hatten, das allem politischen Reden und Gemeinschaftshandeln zugrundeliegt. Was aber Frau Arendt nicht erkennen konnte, weil die weit zurükkreichende Tradition dieses europäischen Bezugssystems seit dem 16. Jahrhundert verschollen ist und daher bis heute weder von der Staatslehre noch von der Verfassungsgeschichte beleuchtet wird, das ist die Einbettung jenes Bezugssystems in die Realtradition des Einungs- und Genossenschaftswesens, die der frühen Neuzeit aus dem Mittelalter, ja vielleicht sogar bereits aus dem Hellenismus zugetragen worden ist und seit je die Verfassungen der von unten her aufgebauten germanisch-romanischen Staaten geprägt hat. So vielfältige Möglichkeiten zur Ausgestaltung der Verfassungen diese Realtradition auch den Völkern eröffnete: ihr Grundgedanke hat sich als unwandelbar erwiesen, daß nämlich nur der Konsens aller Mitglieder Recht und Gesetz feststellen, daß nur der gemeine Wille aller Mitglieder dem Gesetz zur Geltung verhelfen kann, daß nur gemeindliche Volksversammlungen Konsens und Gemeinwillen unter Wahrung der Freiheit jedes einzelnen Mitglieds herbeiführen und daß daher freiheitliche Flächenstaaten nur als Bundesstaaten von unten, von dem in seinen Gemeinden souveränen Volke her errichtet werden können. § 840. Es ist mir ebenfalls gewiß. daß nicht die literarische Tradition des freiheitlichen und demokratischen Staatsdenkens die Einheit der europäischen Verfassungsgeschichte begründet, sondern diese Realtradition, die in den Reden und Taten politisch handelnder Menschen zu Worte kommt und als Erfahrungswissen von Generation zu Generation weitergegeben wird, die folglich ganz unabhängig von theoretischen Reflexionen als Existenzial oder Charakteristikum menschlichen Daseins überhaupt jederzeit besteht und ihrerseits erst den Ansatzpunkt und Gegenstand aller theoretischen Reflexion über Gesellschaft und Verfassung abgibt. Formen und Verständnis des Politischen sind nicht Wirkung, sondern Bedingung ihrer theoretischen Behandlung durch Philosophen, Theologen, Juristen und Historiker. Sie existieren in der gerichtlichen und politischen Praxis der Völker und erscheinen vor allem in deren Sprach- und Rechtsdenkmälern. Nur deswegen sind antike Staatstheorien auf eine spätere politische Praxis in der Weise anwendbar, daß sie den Gebildeten dazu verhelfen, sich der Zweck- und Rechtmäßigkeit ihres Handelns zu vergewissern, weil Theoretiker und Praktiker in ihr ihre eigene Lebenswelt wiedererkennen konnten (oben: §§ 603, 604, 687). Hannah Arendt konnte sich ein solches Verhältnis der theoretischen zur realen Tradition des Politischen nur in Grenzen klarmachen. Daher konnte sie sich auch nicht fragen, welches der Gegenstand sei, auf den sich die Staatstheorien des Mittelalters beziehen, und auf welche Weise sie ihn reflektieren. Ihr blieb verborgen, daß diese Theorien nicht das Wesen und die Wahrheit des Politischen und der Rechtsordnung ihrer Zeit erkennen, sondern mit deren Hilfe das theokratische Dogma verifizieren wollten, das der Illusion eines von oben, vom Haupte her errichteten Staatsbaus bedarf und in deren Dienste das Königtum mystifiziert. Noch weniger konnte sie bemerken, daß nicht die politische Theologie des hohen Klerus
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das wirkliche Staats- und Rechtsdenken des Mittelalters bestimmte, sondern daß vor und unabhängig von ihr das Volk der Laien seine eigenen Vorstellungen von Politik und Verfassung hegte, daß diese die Wirklichkeit und Faktizität des Politischen ausmachten und daß sich mit der Sprache, dem Recht und der Kultur des Volkes die Realtradition des politischen Lebens hartnäckig gegenüber der kirchlich geprägten Hochkultur und deren theokratischer Staatsauffassung behaupteten (oben: §§ 681, 695). Diese gelebte Wirklichkeit verfehlte sie gründlich, weil sie der politischen Theorie vertraute. So meint sie, mit dem Verschwinden des antiken Stadtstaates habe der Begriff des bios politikos und der vita activa seine eigentliche Bedeutung verloren, weil die christliche Moral den Rückzug aus dem öffentlichen in das private und kontemplative Leben geboten habe (H. Arendt 1958 S. 24, 74 f., 90). Aber wieviele Bischöfe, wieviele Mönche der lat. Kirche, um von den Laien nicht zu reden, haben diese Forderung erfüllt? Sie meint ferner, nach dem Untergang des Römischen Reiches habe allein die katholische Kirche den Menschen einen Ersatz für die Zugehörigkeit zu einem öffentlichen Körper gewährt, wie ihn bis dahin die Stadtgemeinden gebildet hatten; daher „ist eine Gleichsetzung des Religiösen mit dem Öffentlichen, wenn auch unter Vorbehalten, möglich, während der Bereich des Weltlichen in den Jahrhunderten des Feudalismus ganz und gar an die Stelle rückte, die in der Antike dem privaten Bereich zugewiesen war. Eines der hervorragenden Merkmale dieser Zeit war, daß alle menschlichen Tätigkeiten und alle alltäglichen, weltlichen Begebenheiten im Rahmen des Privathaushalts vonstatten gingen, so daß es einen weltlich-öffentlichen Bereich im eigentlichen Sinn gar nicht gab,“ zumal der Feudalherr „in den Grenzen seiner Herrschaft“ auch noch „Recht sprechen durfte“ und damit sogar Recht und Gesetz dem öffentlich politischen Bereich entzogen waren (ebd. S. 44). Wie hätte in einer solchen Welt das Einungsrecht gedeihen können, das die Passagiere der Mayflower mit sich nach Amerika trugen?
§§ 841 – 848. Jürgen Habermas § 841. Das Verdienst, als erster theoretisch erklärt zu haben, wie gewaltfreies, konsensorientiertes Gemeinschaftshandeln, wie das Übereinstragen verschiedener und oft genug gegensätzlicher Meinungen in einen gemeinen Willen aller Beteiligten möglich ist: dieses Verdienst kommt dem Soziologen und Sozialphilosophen Jürgen Habermas und seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 zu, und nach meiner Meinung werden alle Einsichten in das Wesen solchen Gemeinschaftshandelns, die die vorliegende Verfassungslehre im Wege der Interpretation von Quellen aus dem Mittelalter und daraus ableitbarer Folgerungen gewonnen hat, von dieser Theorie bestätigt und in ein helleres Licht gesetzt. Wenn Habermas’ Abhandlung trotzdem der Wiederentdeckung der verschollenen Realtradition mittelalterlicher Verfassungspolitik eher im Wege steht als zu
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Hilfe kommt, so hat dies seinen Grund darin, daß sich Habermas keinen Begriff von einem liberalen, von unten her erbauten und dadurch die persönliche Freiheit seiner Untertanen schützenden Staate machen kann. Als Schüler der kryptomarxistischen Frankfurter Schule legt er seiner Lehre die Theorien von Karl Marx und Max Weber über den Zustand moderner Gesellschaften und deren widersprüchliche Rationalisierung zugrunde, und mit ihnen macht er sich den absolutistischen, anstaltlichen, katatektonischen Staatsbegriff dieser beiden Gelehrten zu eigen. Überhaupt steht nicht das Politische im Mittelpunkt seines Interesses und seiner Handlungstheorie, sondern die Frage, wie die „Sozialpathologien, die im Gefolge der kapitalistischen Modernisierung auftreten“ (J. Habermas 1987 Bd. 2 S. 449), zu erklären sind. Ob soziales Handeln politisch bestimmt ist, das hängt aber nicht von dessen handlungstheoretisch bestimmbaren Formen ab, sondern von den Zielen, die sich bestimmte Aktoren setzen. Nur beiläufig entwickelt Habermas daher eine eigene Definition von Politik und Staat (Bd. 2 S. 246 f., siehe unten: § 846). Politisches Handeln ist ein Sonderfall des kommunikativen Handelns, dem Habermas im Rahmen seiner Erkenntnisziele keine Aufmerksamkeit zuzuwenden braucht. Das ändert aber nichts an der Vortrefflichkeit seiner Handlungstheorie. Er bestimmt nämlich kommunikatives Handeln als konsensorientiertes Handeln, das er sich belebt denkt von „der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhanges vergewissern“ (Bd. 1 S. 28). Es entstehe aus der von jeder Gesellschaft empfundenen Notwendigkeit, ihre Bedürfnisse durch koordinierte Handlungen der Einzelnen zu befriedigen, und aus der Möglichkeit, sich zu diesem Zwecke des Mechanismus sprachlicher Verständigung zu bedienen. Der menschlichen Sprache wohne Verständigung als ihr Telos inne (Bd. 1 S. 387), und kommunikatives Handeln sei auf Verständigung gegründetes Gemeinschaftshandeln (ebd. S. 370). Die Theorie dieses Handelns ist daher zugleich eine Theorie des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften (S. 152 – 196) und Sprachtheorie. Als solche orientiert sie sich nicht an bestimmten, namentlich nicht an den innerhalb der europäischen Kultur klassischen Sprachen, sondern an dem universalen Sprachmodell der Linguistik. Entschieden verläßt sie den Standpunkt der europäischen Bewußtseinsphilosophie und ihres isolierten, sei es erkennenden, sei es handelnden Subjekts. Statt dessen nimmt sie den Standpunkt der Intersubjektivität möglicher Verständigung ein, deren formale Eigenschaften sie als Bedingungen der Objektivität möglicher Erfahrung betrachtet (Bd. 2 S. 279). Eine solche Theorie des Handelns bedarf einer Theorie des Argumentierens mit Gründen und Gegengründen, denn als sprach- und handlungsfähige Subjekte sind Menschen zur Rationalität disponiert, d. h. sie sind fähig zur Kommunikation, weil sie imstande sind, aus expliziten Fehlern zu lernen, und damit die Voraussetzungen
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für die Argumentation erfüllen (Bd. 1 S. 44). Auch können sie in Diskursen die ihrem Sinne nach universalen Geltungsansprüche prüfen und erhärten, die sie erheben, wenn sie die Wahrheit von Sachaussagen, die Richtigkeit moralischer Handlungsnormen und die Wohlgeformtheit von (Geschmacks- und) Gefühlsausdrücken behaupten. Diskurs heißt, daß der Sinn des problematisierten Geltungsanspruchs die Beteiligten zu der Unterstellung nötigt, grundsätzlich: wenn nämlich offen und lange genug diskutiert werde, könne durch Argumentieren ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden (Bd. 1 S. 71). Argumentation bedeutet, daß Dissense durch Beibringen von Gründen geschlichtet werden können. Kommunikatives Handeln kann im einzelnen entweder teleologisches und strategisches oder normenreguliertes oder dramaturgisches Handeln sein: jenes nämlich orientiert an der Erreichung bestimmter Zwecke, dieses an der Erfüllung bestimmter von allen als gültig oder gerechtfertigt anerkannter Normen und das letztere an subjektiven, parteilichen Wünschen, Gefühlen, Werturteilen (Bd. 1 S. 126 – 141). Immer aber setzt der Begriff solchen Handelns Sprache als ein Medium voraus, das den Teilnehmern erlaubt, sich auf gemeinsame Zwecke, Normen, Empfindungen zu verständigen, indem sie einen Konsens ihrer Sach-, Wert- und Geschmacksurteile herbeiführen, kraft dessen sie ihre Handlungen koordinieren (Bd. 1 S. 141 f. Bd. 2 S. 190 f.). Um Konsense zu erreichen, müssen die Teilnehmer zuerst die Situation definieren, aus der heraus sie handeln wollen: ein schwieriges Beginnen, solange keiner der an einem kooperativen Deutungsprozeß Beteiligten ein Interpretationsmonopol besitzt (solange wir es also mit akephalen Gemeinschaften zu tun haben). Stabilität und Eindeutigkeit sind daher in der kommunikativen Alltagspraxis eher die Ausnahme. Nur für Augenblicke gelingt oft die Kommunikation, und nicht jeder Dissens kann überwunden werden, da die Handelnden bei der Suche nach dem Konsens je ihre eigenen Ziele verfolgen (Bd. 1 S. 150 f.). Von kommunikativen Handlungen ist erst dann zu sprechen, wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden, wenn sich also die Beteiligten nicht primär am eigenen Erfolg orientieren, sondern ihre individuellen Ziele unter der Bedingung verfolgen, daß sie ihre Pläne aufeinander abstimmen können. Dabei hat die Analyse des Begriffs Verständigung vom (laienhaften) vortheoretischen Wissen kompetenter Sprecher auszugehen, die selber intuitiv erkennen können, wann sie auf andere einwirken und wann die Verständigung gelingt oder fehlschlägt. Diffuse kollektive Gleichgestimmtheit reicht für das Gelingen nicht aus. Verständnis und Verständigung setzen rational motivierte Zustimmung der Beteiligten und begründbare Überzeugungen voraus (Bd. 1 S. 385 – 387). § 842. Handeln ist also mehr als Kommunikation und diese mehr als das Medium Sprache, in dem sie sich bewegt. Daher kann Habermas die für das kommunikative Handeln konstitutiven Verständigungsakte nicht in ähnlicher Weise analysieren wie die grammatischen Sätze, mit deren Hilfe sie ausgeführt werden. Denn
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soweit es der Verständigung dient, nehmen Sprecher auf Sachverhalte und Zwecke, auf geltende Normen und auf mitteilbare Gefühle oder Erlebnisse Bezug und bilden damit eine kommunikative Praxis aus, die darauf angelegt ist, Dissense zu beheben, ohne Gewalt einzusetzen, d. h.: einen Konsens zu erzielen, zu erhalten oder zu erneuern, der auf intersubjektiver Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche beruht. Die dieser Praxis innewohnende Rationalität zeigt sich darin, daß sich ein kommunikativ erzieltes Einverständnis letztlich auf Gründe stützen muß, die der Teilnehmer darin, daß sie ihre Äußerungen begründen können. Indem sie die drei erwähnten Weltbezüge aufnehmen, mobilisieren die Teilnehmer das nicht nur in der Sprache, sondern auch in diesen Bezügen enthaltene Rationalitätspotential für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung. Die Teilnehmer bemessen den Konsens an Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit der Äußerungen über Weltbezüge (Bd. 1 S. 37 f., 148 f.). Menschen, die sich zum Zwecke kommunikativen Gemeinschaftshandelns zu verständigen suchen, tun dies stets im Horizont einer Lebenswelt und vor einem mehr oder weniger diffusen, stets aber unproblematischen Hintergrund von Überzeugungen, die alle miteinander teilen. Es ist ein alltägliches implizites Wissen, das sich die Menschen nicht nach Wunsch bewußt machen oder in Zweifel ziehen können und das sich den Philosophen, die dies dennoch versuchen, „in Gestalt von Common-sense-Gewißheiten“ zeigt (J. Habermas 1987 Bd. 1 S. 107, 451). Aus dem lebensweltlichen kollektiven Kontext- und Hintergrundwissen heraus stellen Sprecher und Hörer die genannten drei Weltbezüge her, die sie zugrundelegen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln (ebd. S. 142). Nur in diesem Kontext sind ihre rationalen Äußerungen sinnvoll. Ihm entstammen die Begriffe, welche Laien in der kommunikativen Alltagspraxis verwenden, und selbst der sozialwissenschaftliche Beobachter wird, um ihre Worte und Taten zu verstehen, seine theoretischen Begriffe an die im Kontext vorgefundene vortheoretische Begrifflichkeit der Laien anschließen müssen (S. 175, 177). „Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen; sie ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko, das mit jedem aktuellen Verständigungsvorgang entsteht“ (S. 107). Das Dissensrisiko aber wächst mit der Dezentrierung der Weltbilder in einer Lebenswelt, die immer mehr Kollektive miteinander in Berührung bringt und immer mehr Lebenswelten durch „ein Gewebe kommunikativer Handlungen, die nur im Lichte kultureller Überlieferungen gelingen können,“ in die Gesellschaft integriert (Bd. 2 S. 223). Je größer aber jenes Risiko, „um so häufiger dürfen wir rationale Handlungsorientierungen erwarten,“ und da die kulturelle Überlieferung früher Erreichtes speichert und akkumuliert, kommt es zu (fortschreitender) Rationalisierung der Lebenswelt. Ich erkenne in diesem Schatze gespeicherten Erfahrungswissens den Oberbegriff für die Realtradition politischer Erfahrung, deren Bedeutung für die politische Kultur jeder Gesellschaft ich hervorhebe. Es ergibt sich ein Begriff von diskursiver und somit prozeduraler, mit Prozessen des Lernens, Irrens, Vergessens verbundener Rationalität (Bd. 1 S. 107 – 110. Bd. 2 S. 269, 463 – 468, 588).
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Den Begriff der Lebenswelt nennt Habermas insofern komplementär zu dem des kommunikativen Handelns, als dieses seinerseits die Erhaltung der Lebenswelt befördert und dadurch notwendige Bedingungen für deren Rationalisierung setzt (Bd. 2 S. 182). Indem sich die Interaktionsteilnehmer untereinander verständigen und ihre Handlungen koordinieren, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie gleichzeitig benutzen und erneuern. Kommunikatives Handeln dient der Überlieferung und Erneuerung des kulturellen Wissens, aus dem heraus Menschen die Welt interpretieren, es dient der sozialen Integration und Erneuerung der legitimen Ordnung einer Gesellschaft, und es dient der Ausbildung der Persönlichkeit der nachwachsenden Aktoren, indem es sie zu sprach- und handlungsfähigen Individuen erzieht (Bd. 2 S. 208 f.). So erzeugt die Rationalisierung der Lebenswelt die Fortbildung primitiver zu modernen Gesellschaften, und dabei räumt Habermas nun auch dem Politischen einen Anteil ein. „Max Weber hat die evolutionäre Bedeutung der kulturellen Handlunssysteme (für Wissenschaft, Recht und Kunst) hervorgehoben. Mead und Durkheim betonen des weiteren die evolutionäre Bedeutung der Demokratie: Demokratische Formen der politischen Willensbildung sind nicht nur Ergebnis einer Machtverlagerung zugunsten der Trägerschichten des kapitalistischen Wirtschaftssystems; mit ihnen setzen sich auch Formen der diskursiven Willensbildung durch, und diese affizieren die Naturwüchsigkeit der traditional legitimierten Herrschaft in ähnlicher Weise, wie die moderne Naturwissenschaft, eine fachlich geschulte Jurisprudenz und die autonome Kunst die Naturwüchsigkeit der kirchlichen Traditionen zersetzen. Aber die Rationalisierung der Lebenswelt erstreckt sich nicht nur auf Bereiche der kulturellen Reproduktion und der sozialen Integration . . . Seit dem 18. Jahrhundert setzt eine Pädagogisierung von Erziehungsprozessen ein, die ein von imperativen Mandaten der Kirche und der Familie entlastetes Bildungssystem möglich macht . . . Wie im Falle der kulturellen Handlungssysteme und der in diskursive Formen übergeleiteten politischen Willensbildung bedeutet die Formalisierung der Erziehung nicht nur eine professionelle Bearbeitung, sondern die reflexive Brechung der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt“ und „fortschreitende Rationalisierung“ (Bd. 2 S. 220 f.). § 843. Mit der Geschichtlichkeit der Lebenswelten ist ein Gegensatz zwischen ursprünglichen und modernen Gemeinschaftsformen gegeben, der Habermas vor die Frage nach unterschiedlichen Rationalitäten und nach der Möglichkeit, Rationalität evolutionär zu steigern, stellt. Das ist ein schwieriges Problem. Einerseits nämlich ist Rationalität bereits in der Sprache angelegt und sind rationale Äußerungen von Menschen nur in ihrem lebensweltlichen Kontext sinnvoll, daher Rationalität und Rationalisierung allen Lebenswelten innewohnen sollten, auch wenn sie nicht überall die gleichen Gegenstände zu bearbeiten haben. Andererseits befürchtet Habermas, der Typus verständigungsorientierten Handelns, dessen rationale Binnenstruktur er skizziert, sei keineswegs immer und überall als Normalfall kommunikativer Alltagspraxis anzutreffen, und angesichts der gegebenen Varianten fragt er sich, ob er für seinen, ob wir für unseren Begriff der Rationalität All-
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gemeingültigkeit beanspruchen dürfen (Bd. 1 S. 198). „Nur eine systematische Geschichte der Rationalität, von der wir weit entfernt sind, könnte uns davor bewahren, entweder in schieren Relativismus zu verfallen oder unsere eigenen Rationalitätsstandards auf naive Weise absolut zu setzen“ (Bd. 1 S. 194. Bd. 2 S. 584 – 588). Aber da die Rationalitätsproblematik nicht von außen her auf die Soziologie zukommt, sondern von innen, von der Handlungstheorie her, in ihr selbst aufbricht und sich im Begriff der Verständigung und des Konsenses zentriert, stellt sich weiter die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich Modernisierungsprozesse unter Gesichtspunkte der Rationalisierung bringen lassen (Bd. 1 S. 196). Habermas hält jenen Fall für gegeben: „Die Theorie der Rationalisierung gehört nicht zu jenem spekulativen Erbe, dessen sich die Soziologie als Wissenschaft entledigen müßte“ (Bd. 1 S. 209). Erfunden bereits von der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, habe sie zuerst den theoretischen Fortschritt der mathematischen Naturwissenschaften als Paradigma gewählt, von dem her sich die Geschichte der Menschheit begreifen lasse. Im 19. Jahrhundert sei dieses Modell durch das der sozialen Evolution ersetzt worden, das die von Charles Darwin entdeckte natürliche Entstehung der Arten zum Paradigma erhob und Gesellschaften als organische Systeme deutete, deren Evolution die Fortschritte der Zivilisation erkläre. Gleichzeitig jedoch stellte der (romantische) Historismus die Eigenart von Kultur als einem durch Sinnzusammenhänge konstituierten Gegenstandsbereich heraus, der nicht nach Maßgabe naturwissenschaftlicher, speziell biologischer Vorbilder begriffen werden kann. Dies veranlaßte Max Weber dazu, das Problem der Entstehung und Entwicklung moderner Gesellschaften wieder unter dem aufklärerischen Gesichtspunkt der Rationalität zu bearbeiten. Allerdings konzentrierte er sich dabei nicht mehr auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik, sondern auf die Entwicklung der moralisch-praktischen (wertrationalen) Grundlagen der Institutionalisierung zweckrationalen Handelns. Sein Programm war allerdings hinsichtlich der Traditionen der Schriftkulturen, mit denen sich die Geisteswissenschaften befassen, leichter durchzuführen als hinsichtlich derer der vorhochkulturellen Gesellschaften, mit denen es die Kulturanthropologie zu tun hat. Das universale Entwicklungsproblem hat eher hier als dort seinen Sitz. Aber die Methode (der Idealtypisierung) erlaubte es Weber, zwischen beiden Standpunkten insofern zu vermitteln, als er Rationalisierungsprozesse nicht als speziell abendländisches Phänomen zu betrachten brauchte, sondern sie in allen Weltreligionen nachweisen konnte (Bd. 1 S. 209 – 224). Trotz ihrer Verwurzelung in Vorstellungen des Neukantianismus bietet nach Habermas’ Ansicht die Webersche „Theorie der Rationalisierung . . . nach wie vor den aussichtsreichsten Ansatz für die Erklärung der Sozialpathologien, die im Gefolge der kapitalistischen Modernisierung auftreten,“ sofern man die ihr anhaftenden Inkonsistenzen durch „eine mit verbesserten begrifflichen Instrumenten vorgenommene Rekonstruktion“ beseitigt (Bd. 2 S. 449). Ich frage mich, ob das gelin-
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gen kann, ob man sich, wenn man von dem bewußtseinsphilosophischen Standpunkt hinüberwechselt zum sprachphilosophisch-lebensweltlichen, nicht auch von Webers soziologischer Kategorienlehre und damit von der idealtypischen Begriffsbildung trennen muß, will man nicht Gefahr laufen, jene Idealtypen, die Weber aus erkenntnistheoretischen Erwägungen heraus als Prüfsteine für die empirische Begriffsbildung gedacht hatte, irrigerweise mit dieser selbst zu verwechseln, wie es geschieht, sobald man zwar Webers Erkenntnistheorie eliminiert, seine Definitionen aber beibehält, gleichsam als ob sie in der empirischen Realität auftreten könnten (oben: § 830). Habermas ist sich zwar der Schwierigkeiten bewußt, die sich beim Aufbau neuer Theorien der Gesellschaft „durch eine entsprechende Assimilation und Umdeutung des kategorialen Rahmens der Handlungstheorie“ und „durch die Rückkoppelung . . . an das Sperrgut einer Kulturtheorie“ ergeben, die man „aus der Erbmasse von Durkheim, Freud und Max Weber mitführt“ (Bd. 2 S. 357). Es ist jedoch zu bezweifeln, daß es ihm überall gelungen ist, ihrer Herr zu werden. § 844. Zu jenem Sperrgut rechne ich namentlich die in der Soziologie herausgebildete und von Habermas rezipierte Konvention, „zwischen den sozialevolutionären Stufen der Stammesgesellschaften, der traditionalen oder staatlich organisierten Gesellschaften sowie der modernen Gesellschaften (mit ausdifferenziertem Wirtschaftssystem) zu unterscheiden“ (Bd. 2 S. 230) – namentlich dann, wenn man sie auch auf die vormoderne europäische Geschichte und Kultur anwenden will. Bestimmt treten bei Habermas nur die Eigenschaften der dritten Entwicklungsstufe hervor, denn sie ist es, der sein eigentliches Interesse gilt. Analysiert man die Evolution unter Systemaspekten, so ergibt sich als Merkmal der Moderne „die Entkoppelung von System und Lebenswelt“ in der Weise, „daß die Lebenswelt, die mit einem wenig differenzierten Gesellschaftssystem zunächst koextensiv ist, immer mehr zu einem Subsystem neben anderen herabgesetzt wird.“ In modernen Gesellschaften erlangen die Subsysteme des Marktes als Ortes zweckrationalen Wirtschaftshandelns und der Bürokratie als Ortes zweckrationalen Verwaltungshandelns einen Grad von Autonomie, der sie von ihren moralisch-praktischen, in Gesellschaft und Lebenswelt gelegten Grundlagen weitgehend unabhängig macht (Bd. 2 S. 230). Dies bedingt eine Rationalisierung der Lebenswelt und Transformationen der institutionellen Basis, für die „die Evolution von Recht und Moral Schrittmacherfunktionen“ übernimmt (Bd. 2 S. 232). Stammesgesellschaften erweisen sich alsdann als soziokulturelle Lebenswelten und selbstgesteuerte Systeme in einem, System- und Sozialintegration sind in ihnen eng ineinander verschränkt. Erst im Rahmen staatlich organisierter Gesellschaften entstehen Gütermärkte, die „über das Geldmedium gesteuert werden. Aber einen für das Gesellschaftssystem im ganzen strukturbildenden Effekt erzeugt dieses Medium erst mit der Ausgliederung der Ökonomie aus der staatlichen Ordnung. In der europäischen Neuzeit entsteht mit der kapitalistischen Wirtschaft ein über das Geldmedium ausdifferenziertes Teilsystem, das seinerseits den Staat zur Reorganisation zwingt. In den komplementär aufeinander bezogenen Subsyste-
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men von Marktwirtschaft und moderner Verwaltung“ tritt neben dem Geldmedium ein weiteres „Steuerungsmedium“ auf, nämlich die bürokratisch verwaltete „Macht“ (Bd. 2 S. 247). Während sich die Handlungsfähigkeit traditioneller Gesellschaften in der staatlichen Organisation konzentriert, verteilen moderne Gesellschaften die zuvor allein vom Staat ausgeübte Steuerungsfunktion auf verschiedene Systeme, unter denen der Staatsapparat (mit Verwaltung, Militär und Rechtsprechung) und das kapitalistische Wirtschaftssystem die maßgeblichen sind (Bd. 2 S. 255). Die Institutionalisierung dieser Systeme „verlangt Umbauten im institutionellen Kernbereich der moralisch-rechtlichen, d. h. konsensuellen Regelung von Handlungskonflikten.“ Die in der traditionalen Gesellschaft angebahnte Differenzierung von Moral und Recht zeitigt in der modernen die völlige Trennung von Moralität als persönlich-interner Verhaltenskontrolle und Legalität als externer Kontrolle durch ein staatlich sanktioniertes Zwangsrecht. Parallel dazu „verändert sich im Bewußtsein der Rechtsgenossen die Funktion der Rechtsprechung und die Position des Richters.“ An die Stelle einer Schiedsgerichtsbarkeit, die nur subsidiär tätig wird, wenn die Mittel rechtlicher Selbsthilfe und die Formen traditioneller Sittlichkeit nicht hinreichen, um die Parteien zum Konsens anzuleiten, tritt in modernen Gesellschaften ein Richter, der die Integrität der Rechtsordnung zu wahren hat und die dazu erforderliche Zwangsgewalt aus der von allen als legitim und gültig respektierten Rechtsordnung bezieht. Das traditionsgebundene Recht wandelt sich um „in ein zweckrational einsetzbares Ordnungsmittel, in ein äußerlich imponiertes, von sittlichen Motiven entkoppeltes Zwangsrecht und in ein Instrument der Ausgrenzung von Bereichen legitimer Willkür“. Jetzt „bilden die öffentlich rechtlich organisierten Staatsorgane die Ebene, auf der in hartnäkkigen Konfliktfällen Konsens wiederhergestellt werden kann“ (Bd. 2 S. 257 – 267). Dieser Theorie einer dreistufigen sozialen Evolution legt Habermas Max Webers Theorie des okzidentalen Rationalismus zugrunde – und belastet sie daher mit Weberschem Sperrgut empirischer Erkenntnisse, die von den historischen und kulturanthropologischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts erarbeitet worden waren, die mir aber mit einer empirischen europäischen Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte heute nicht mehr verträglich zu sein scheinen. Dazu rechne ich vor allem die mit Webers Rechtslehre rezipierte Vorstellung vom traditionellen Recht, das die Menschen nicht als Produkt eigener Satzung, sondern als heilige, daher wenigstens theoretisch unabänderliche und nur von Zauberern und Priestern zu interpretierende Konvention verstanden hätten; nur im Wege charismatischer Offenbarung und des Oktroys durch Rechtspropheten habe dagegen neues Recht gesetzt werden können, und erst auf postkonventioneller Stufe sei die Idee grundsätzlicher Kritisierbarkeit und Rechtfertigungsbedürftigkeit von Rechtsnormen gefaßt, sei traditionale durch rationale Einverständnisgeltung ersetzt worden, und zwar in demselben Maße, wie das von Rechtshonoratioren gefundene Recht durch Juristenrecht ersetzt worden sei (Bd. 1 S. 348 – 361).
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Deutlich scheint hier Webers Auffassung durch, daß traditionales Handeln tendenziell ein dumpfes, d. h. irrationales Reagieren auf gewohnte Reize (oben: § 831) bedeute. Gadamers Lehre vom rationalen Charakter von Traditionen und Vorurteilen (oben: § 836) kann Habermas denn auch nicht für seine Theorie nutzbar machen. Zwar steht seine Handlungstheorie namentlich da, wo sie die Abhängigkeit des Verstehens und der Verständigung vom lebensweltlichen Hintergrund und von der Überlieferung kulturellen Wissens entwickelt, mit Gadamers Auffassungen durchaus im Einklang, nicht aber dort, wo es um Gadamers bereits von Heidegger grundgelegte Interpretation der Aufklärungsphilosophie und ihres Rationalismus geht. § 845. Bereits aus Habermas’ Ausführungen über die evolutionäre Bedeutung der Demokratie (Bd. 2 S. 220 f., oben: § 842) geht hervor, daß er in der diskursiven politischen Willensbildung eine Neuerung sieht, die erst die europäische Aufklärung im 18. Jahrhundert hervorgebracht habe als etwas, das der „Naturwüchsigkeit der traditionalen Herrschaft“ fremd und mit ihr unvereinbar gewesen wäre. Dem korrespondiert seine Behauptung, erst die systematische Ausdifferenzierung der kapitalistischen Wirtschaft und staatlichen Bürokratie aus der traditionellen Lebenswelt habe, gewissermaßen als deren Überreste, die private Lebenssphäre der Familie und ihres Haushaltes sowie eine Öffentlichkeit erzeugt, in der die Privatleute am Kulturbetrieb und als Staatsbürger an der öffentlichen Meinung teilnehmen konnten (Bd. 2 S. 458, 471 f. Oben: § 57). Es sei dies eine Frucht der „Durchsetzung des Obrigkeitsstaates . . . um den Preis der Zerstörung traditionaler Lebensformen“ gewesen: „Das ist die ,Rationalität‘ der betriebsförmigen und anstaltsmäßigen Organisation, auf die Max Weber unermüdlich hinweist“ (S. 474). „Die Autonomie der Wahlentscheidung souveräner Staatsbürger“ kann daher nur erst ein Postulat bürgerlicher Staatstheorie und eine Fiktion sein (S. 475, weiter: S. 524 – 537). Hinter all dem steht als Webersches Sperrgut die Vorstellung von der Staatsanstalt als organisatorischem Kern des Staates und von einer gesellschaftlichen Rationalisierung, die von der Rechtsetzung durch frei vereinbarte Satzung zum hoheitlich gebotenen Recht und von freien Verbänden als Inhabern des Satzungsrechts zu zweckrational geordneten Anstalten hinüberführt (Bd. 1 S. 226 f., 301, 347. Bd. 2 S. 453 – 462). Als Folge rechne ich dazu, daß Habermas die (gesellschaftliche?) Konsensfindung auf private, sei es außergerichtlich oder gerichtlich lösbare Konfliktfälle beschränkt und es darüber versäumt, der öffentlichen Konsensbildung in geschmacklichen und politischen Streitfragen die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. In seiner Theorie des konsensorientierten kommunikativen Handelns kommt dem gemeinsamen politischen Handeln der Vielen und der öffentlichen Bildung ihres gemeinen politischen Willens keine fundamentale Bedeutung zu. Nur in einzelnen Bemerkungen geht er gelegentlich auf sie ein, und diese sind wie erratische Blöcke unbekannter Herkunft in die anstaltsstaatliche Landschaft eingesprengt (Bd. 2 S. 405 – 412). Politische Willensbildung hat ihren Platz nicht im Staat, den Habermas nur als Anstalt denkt, sondern in der Lebens-
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Schlußbetrachtung
welt. Der Staat gilt ihm nicht als die politisch verfaßte, wollende und handelnde Gesellschaft, sondern nur als Verwaltung und Bürokratie, und in deren Gebiet verweist er auch die modernen, repräsentativ verfaßten Parlamente: Es sind Teile des Staatsapparats und seiner sich selbst generierenden Macht. Nur ein solcher Staat, dem die gesellschaftliche Lebenswelt fremd und äußerlich gegenübersteht, kann diese letztere nach einer Marxschen Theorie, die sich Habermas zu eigen macht, kolonisieren (Bd. 2 S. 506 – 522). Nur als weltfremd und gekünstelt kann ich den Begriff von Macht wahrnehmen, den Habermas von Talcott Parsons übernimmt: Macht könne sich in ein Medium verwandeln, das gleich dem Gelde in der Welt im Tauschverkehr, hier speziell: zwischen anstaltsstaatlicher Obrigkeit und Untertanen, zwischen „Machthaber und Machtunterworfenen“ derart umläuft, daß die Machthaber die Folgebereitschaft der Untertanen gegenüber ihren bindenden Entscheidungen eintauschen gegen die von den Untertanen erwartete Verwirklichung kollektiver Ziele: „Als Deckung dient die Disposition über Zwangsmittel, die zur Androhung von Sanktionen oder zur Anwendung direkter Gewalt eingesetzt werden können . . . Unter diesen Bedingungen kann der Machthaber die Stellungnahme des Machtunterworfenen konditionieren, ohne auf dessen Kooperationsbereitschaft angewiesen zu sein“ (Bd. 2 S. 401). Macht ist also nichts, was in den Lebenswelten ursprünglich und existenziell vorhanden ist und nach dem Willen gemeinsam lebender Menschen in verschiedenen Formen verfaßt werden, stets aber nur in Form einer Ermächtigung von den Gemeinden auf Amtsinhaber und Behörden übergehen kann. Habermas stimmt zwar, was den Zusammenhang von Lebenswelt, Gemeinschaftshandeln, Sprache und Sinngebung anlangt, mit Hannah Arendt überein, aber er ist nicht bereit, ihr in der phänomenologischen Methode der Begriffsbildung und speziell in der Definition des Begriffs der Macht beizutreten. Die Arendtsche Auffassung von Macht läßt sich in seine Theorie des Staates nicht einfügen, weil er die Möglichkeit eines von unten her erbauten liberalen Staates nicht in Betracht zieht, obwohl doch nur ein solcher in Wirklichkeit naturwüchsig heißen kann. Vielmehr stellt er das von Hannah Arendt diagnostizierte Phänomen auf den Kopf, wenn er meint, (erst sekundär) werde Macht über die öffentlich-rechtliche Organisation von Ämtern in der Lebenswelt verankert (Bd. 2 S. 404). Mit der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Staatsverfassungen ist diese Meinung unvereinbar. Für sie ist nicht der absolutistische oder obrigkeitliche Rechtsstaat, geschweige denn der rechtlose totalitäre Staat die Norm. Was Macht überhaupt ist und wie sie empirisch oder real zustandekommt, das erfahren wir von Habermas genausowenig wie von Max Weber, und namentlich nicht, was sie in den traditionalen Gesellschaften und Staaten war, wo Habermas sie zuerst, und zwar „in der Gestalt von positionengebundener Amtsautorität“ auftreten läßt, „bevor sie unter modernen Bedingungen legaler Herrschaft und rationaler Verwaltung zu einem begrenzt zirkulierenden Medium ausdifferenziert wird“ (Bd. 2 S. 404).
Schlußbetrachtung
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§ 846. Für den Staat, der den Rahmen traditionaler Gesellschaften bildet, gibt Habermas folgende Definition: „Sobald sich eine politische Gewalt bildet, die ihre Autorität nicht mehr aus dem Prestige führender Abstammungsgruppen, sondern aus der Verfügung über richterliche Sanktionsmittel bezieht, löst sich der Machtmechanismus von den Verwandtschaftsstrukturen ab. Organisationsmacht, die sich auf der Ebene politischer Gewalt konstituiert, wird zum Kristallisationskern einer neuen Institution, nämlich des Staates. Deshalb spreche ich vom Mechanismus staatlicher Organisation; dieser ist mit der Sozialstruktur verwandtschaftlich organisierter Gesellschaften unvereinbar und findet in einer politischen Gesamtordnung, der die sozialen Schichten ein- und untergeordnet werden, die ihm angemessene Sozialstruktur“ (Bd. 2 S. 246 f.). Eine Beteiligung des Volkes, das, indem es sich eint, seinen Lebenswelten die Verfassung gerichtlicher und politischer Gemeinden verleiht, an der Staatsbildung und damit einen Staatsaufbau von unten her zieht Habermas nicht in Betracht. Auf die Frage, woher die politische Gewalt ihre Autorität bezieht, erhalten wir daher keine Antwort. Obwohl es sich nach Habermas dabei um eine Amtsautorität handelt, läßt er sie nicht aus gewollten Handlungen des politisch geeinten Volkes, sondern aus dessen bloßer Duldung entspringen. Ihre Institution ist keine bedingte, dem Volke Mitwirkung und letzte Entscheidung reservierende Ermächtigung, sondern eine (endgültige?) Selbstentmächtigung des Volkes durch etwas wie eine lex regia, von der die Theorie des monarchischen Absolutismus zu träumen pflegt. Habermas erklärt vielmehr auch den vormodernen Staat zum Anstaltsstaat. „Die Verfügung über Sanktionsmittel für bindende Entscheidungen ist die Grundlage einer Amtsautorität, mit der zum ersten Mal Organisationsmacht als solche institutionalisiert wird . . . Im Staat gewinnt eine Organisation, die die Handlungsfähigkeit des Kollektivs im ganzen sichert, unmittelbar institutionelle Gestalt. Die Gesellschaft kann nun insgesamt als Organisation verstanden werden. Die soziale Zugehörigkeit zum Kollektiv wird mit Hilfe der Fiktion einer grundsätzlich kontingenten Mitgliedschaft, und zwar als Staatsangehörigkeit interpretiert. In Familien wird man hineingeboren, während die Staatsbürgerschaft auf einem Rechtsakt beruht . . . Staatsangehörigkeit setzt eine im Prinzip freiwillige Anerkennung der politischen Ordnung voraus; denn Herrschaft bedeutet, daß sich die Staatsbürger mindestens stillschweigend zu einer generalisierten Folgebereitschaft gegenüber den Amtsinhabern verpflichten. Damit treten viele an einige die Kompetenz ab, für alle zu handeln. Sie verzichten auf das Recht, das Teilnehmer an einfachen Interaktionen für sich beanspruchen können: ihr Handeln nur am aktuellen Einverständnis mit Anwesenden zu orientieren“ (Bd. 2 S. 254 f.). „Grundlage der politischen Autorität ist die Verfügung über zentralisierte Sanktionsmittel, die den Entscheidungen der Amtsinhaber bindenden Charakter verleiht. Der Herrscher gewinnt diese Autorität nicht durch die bloß faktische, sondern durch eine von den Rechtsgenossen als legitim anerkannte Sanktionsgewalt. Die legitime Verfügung über Sanktionsmittel, die den Kern der politischen Herrschaft darstellt, geht . . . auf das königliche Richteramt zurück“ (Bd. 2 S. 264).
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Schlußbetrachtung
Bedenkt man, daß Habermas die für die Theoriebildung notwendige Abstraktion von den empirischen Phänomenen nicht zuletzt dadurch erreicht, daß er seine Aussagen in die grammatische Form des Passivs kleidet, so ist es bemerkenswert, daß er hier überhaupt einmal die Staatsbürger ausdrücklich als wollende und, wenn auch nur durch Nichtstun, entscheidende Aktoren nennt. Der Rechtsverzicht, den er ihnen unterstellt, ist freilich nicht empirisch, sondern nur aus der bereits von Rousseau ausgesprochenen und von Marx, Weber und Arendt wiederholten theoretischen Verdammung des Systems repräsentativer Willensbildung heraus zu begründen. Die Völker nämlich haben, wie die historischen Quellen ergeben, weder nach den Regeln dieses noch nach denen des ihm vorausgegangenen Systems identischer Willensbildung jemals die Amtleute und Worthalter, die sie über sich erhoben und bevollmächtigten, aus der Pflicht entlassen, sich dem öffentlichen, konsensorientierten Diskurs zu stellen und sich durch ihn vor ihnen, als ihren Mandanten, zu verantworten. Wie die Begrenzung der königlichen Gewalt gemäß dem Bodinschen Steuerparadox und dem von Montesquieu aufgestellten Prinzip der Untertanenehre (E. Pitz 1987 S. 298 f., 696, oben: § 630) beweist, ist dies nicht einmal dem Absolutismus gelungen, der den Diskurs zwar in der traditionellen Öffentlichkeit der Ständeversammlungen zu ersticken vermochte, ihm damit aber nur eine andere Stätte in der jetzt entstehenden kulturellen Öffentlichkeit erschloß. Wir sahen bereits, daß Habermas die mindestens bis in den Beginn des Mittelalters (oben: §§ 379 – 381) zurückreichende, durch Worthalter ausgeübte Mitregierung des Volkes verkennend, die Einführung demokratischer Formen der diskursiven politischen Willensbildung für aus dem Nichts erschaffene Neuerungen des 18. Jahrhunderts hält. Aber die Ansicht, daß sich erst in modernen Gesellschaften und auf postkonventioneller Stufe der Entwicklung von Moral und Recht eine Öffentlichkeit bilden konnte und daß dies die Kommunikationstechnik des Schriftgebrauchs voraussetzt (Habermas Bd. 2 S. 274), trifft nicht zu (oben: §§ 573, 590, 713, 714, 716). § 847. Ich vermisse in Habermas’ Abhandlung die handlungstheoretische Erklärung dafür, wie aus der Vereinigung archaischer oder stammlicher Lebenswelten zu einem staatlichen Untertanenverbande „die Handlungsfähigkeit des Kollektivs im ganzen“ (Bd. 2 S. 255) hat naturwüchsig bewahrt werden können. Habermas will oder kann ebensowenig wie Weber (oben: § 837) eine Soziologie der Macht oder des Politischen geben, deren Aufgabe es gewesen wäre, Begriffe wie Macht, Herrschaft, Machthaber, Machtunterworfener, staatliche Organisation, Staatsbürger, Autorität, Amt, Rechtsgenosse näher, nämlich bis auf die lebensweltliche Faktizität zurückgreifend, zu bestimmen. Hannah Arendts dahingehende Studien hat er nicht zur Kenntnis genommen oder sich doch nicht nutzbar machen können. Es waltet da eine begriffliche Unklarheit, die Habermas mit der landesgeschichtlichen Schule der Mediävistik (oben: § 337) teilt. Dem Leser fällt es schwer, auch aus Habermas’ weiteren Ausführungen zum Problem zu erschließen, wie er sich den Rückgriff auf die geschichtliche Lebenswelt und Wirklichkeit vorstellen könnte:
Schlußbetrachtung
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„In politisch konstituierten Gesellschaften erweitert die Amtsautorität des Herrschers den Spielraum für generalisierte Wertorientierungen; diese lösen sich in relevanten Handlungsbereichen von den partikularen Verwandtschaftsbeziehungen.“ Wertgeneralisierung bedeutet „Freisetzung kommunikativen Handelns von partikularen Wertorientierungen“. Die bereits in Stammesgesellschaften ausgebildete „Konsens- und Folgebereitschaft gilt hier nicht mehr in erster Linie einflußreichen Familien, sondern der gesetzlichen Autorität des Staates. Politische Herrschaft bedeutet die Kompetenz, Entscheidungen auf der Grundlage bindender Normen durchzusetzen; die staatliche Ordnung ist in dem Maße legitim, wie sie auf der Gesetzestreue der Bürger basiert. Diese Gehorsamspflicht gegenüber Amtsinhabern ist weniger partikularistisch als die Folgebereitschaft gegenüber Angehörigen einer Führungsschicht.“ In modernen Gesellschaften geht schließlich „die Bürde sozialer Integration immer stärker von einem religiös verankerten Konsens auf die sprachlichen Konsensbildungsprozesse über. Die Umpolung der Handlungskoordinierung auf den Verständigungsmechanismus läßt die allgemeinen Strukturen verständigungsorientierten Handelns immer reiner hervortreten.“ Wertgeneralisierung ist „eine notwendige Bedingung für die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials“ (Bd. 2 S. 268 f.). Der Moderne vorher geht die Entwicklungsstufe jener „hochkulturellen Gesellschaften . . . , in denen religiös-metaphysische Weltbilder ideologische Funktionen übernehmen . . . (Hier) muß die Geltung von Gesetzen, in denen sich eine politische Gesamtordnung artikuliert, zunächst durch die Sanktionsgewalt eines Herrschers garantiert werden. Sozialintegrative Kraft hat aber die politische Herrschaft nur in dem Maße, wie die Verfügung über die Sanktionsmittel nicht auf nackter Repression beruht, sondern auf der Autorität eines Amtes, das seinerseits in einer Rechtsordnung verankert ist. Deshalb bedürfen Gesetze der intersubjektiven Anerkennung der Staatsbürger, sie müssen als rechtens legitimiert werden. Damit wächst der Kultur die Aufgabe zu, zu begründen, warum die jeweils bestehende politische Ordnung Anerkennung verdient. Während mythische Erzählungen . . . , haben die religiösen und metaphysischen Weltbilder prophetischen Ursprungs die Form intellektuell bearbeitbarer Lehren, die eine existierende Herrschaftsordnung im Rahmen der von ihnen explizierten Weltordnung erklären und rechtfertigen“ (Bd. 2 S. 279 f.). § 848. In dieser Beschreibung ist die politische Kultur des deutschen Mittelalters, die in der vorliegenden Verfassungslehre entwickelt wird, nicht wiederzuerkennen. So stellt sich mir zuletzt die Frage, ob nicht auch die Theorie der Rationalisierung zu den Sperrgütern Weberscher Provenienz gehört, die heute die empirische Forschung eher behindern als fördern. Sofern diese Theorie nämlich die Entstehung und Entwicklung moderner Gesellschaften durch Rationalisierung erklären will, gerät sie bereits bei Habermas in Widerspruch mit der Theorie des kommunikativen Handelns. Denn dieser Theorie zufolge sind Menschen einerseits als sprach- und handlungsfähige Subjekte immer und überall zur Rationalität disponiert, weil sie das in dem sprachlichen Medium intersubjektiver Verständigung
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Schlußbetrachtung
enthaltene Rationalitätspotential in der Praxis konsensorientierten Gemeinschaftshandelns ständig nutzbar machen. Daher zitiert Habermas zustimmend Webers Auffassung, daß es Rationalisierungen aller Art zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen gegeben habe; so sei bereits das mythische Denken archaischer Stammesreligionen schrittweise durchrationalisiert und schließlich in eine universalistische Gesinnungsethik umgeformt worden, und daher komme es darauf an, davon die Eigenart des okzidentalen sowie, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen Rationalismus erkennend abzuheben (Bd. 1 S. 255, 274). Andererseits läßt Habermas Rationalität als Merkmal archaischer (oder stammlicher) und traditionaler Gesellschaften, die er häufig unter dem Begriff vormodern zusammenfaßt, nicht eigentlich gelten, wie besonders seine Charakteristik des vormodernen Staates zeigt. Dies hat seinen Grund abermals darin, daß die mittelalterliche Realtradition politischen Gemeinschaftshandelns noch immer verschollen ist, so daß sich Habermas von deren konsensorientierter Rationalität keine Vorstellung machen konnte, und daß er die Schrift- oder Hochkultur des Mittelalters wegen ihres religiösen, von Theologen ausgearbeiteten Charakters insofern mit Recht als nur beschränkt rational bezeichnen kann, weil ihr Weltbild zugunsten des Glaubens vor Kritik sowohl in ethischen als auch in wissenschaftlichen Fragen geschützt war: Erst der Fortfall dieses Schutzes zu Beginn der Moderne habe daher das Rationalitätspotential der abendländischen Tradition freigesetzt. Darunter versteht Habermas allerdings (mit Weber) namentlich das kognitive Potential (Bd. 1 S. 296, 299): Das in den Lebenswelten des Volkes und im Leben seiner politischen Einungen und Verbände enthaltene Potential ist nicht gemeint. Habermas’ Lehre kann mich daher nicht dazu bewegen, das oben (§ 831) gewonnene Ergebnis zu korrigieren: Europäische vormoderne Gesellschaften, für die ich die fränkisch-deutsche des Hochmittelalters als beispielhaft betrachte, unterscheiden sich von modernen nicht durch Eigenart und Intensität, sondern lediglich durch Umfang und Menge ihrer Rationalität. In der Kultur des Mittelalters, namentlich in der von einhelliger identischer Willensbildung geprägten politischen Kultur, ist bereits dieselbe Rationalität als modernisierende Kraft am Werke wie in der modernen Kultur der europäischen Neuzeit, wie denn auch umgekehrt die moderne Kultur nicht minder auf konsensorientierte Verständigung und damit auf kulturelle Tradition angewiesen ist, als es die mittelalterliche war. Da es nun eine „empirische Frage“ ist, „ob und in welchem Sinne die Modernisierung einer Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt von kultureller und gesellschaftlicher Rationalisierung beschrieben werden kann“ (Bd. 1 S. 22), muß sich auch eine andere Antwort als die von Weber und Habermas gegebene finden lassen, sobald wir darangehen, den Stand der empirischen Forschung des 19. Jahrhunderts, den Habermas in Gestalt Weberschen Sperrgutes konserviert, durch die Beobachtung der Formen gemeiner politischer Willensbildung zu ergänzen und zu bereichern und damit auch der von Habermas dargestellten Theorie des kommunikativen Handelns ein bis heute unerschlossenes Gebiet, nämlich das der mittelalterlichen Realtradition öffentlichen politischen Lebens, zu ihrer Verifizierung
Schlußbetrachtung
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eröffnen. Wir brauchen die Ausgangslage für die kapitalistische Modernisierung Europas nicht mit Hilfe der Entwicklung primitiver Völker und außereuropäischer Nationen zu rekonstruieren, sondern können sie unmittelbar den Quellen zur politischen Praxis unseres eigenen Mittelalters entnehmen. Angesichts des hohen Grades an Abstraktion, den die Theorie erstrebt und erreicht, ist es im Umgang mit ihr ebenso schwer wie im Umgang mit den Weberschen Idealtypen, genau zu sagen, auf welches empirische Wissen sie sich bezieht, wenn sie über traditionale oder vormoderne Kultur redet; Habermas sieht aber selbst, daß „eine solche, stets der Gefahr der Überverallgemeinerung ausgesetzte Theorie mindestens angeben können (muß), welche Art von Empirie zu ihr paßt“ (Bd. 2 S. 523, 548, 562 f., 588). Daraus folgt aber auch, daß sie solche Arten von Empirie, die ihr widersprechen oder gleichgültig sind, nicht außer Acht lassen darf. Ich sehe in Habermas’ Theorie das bisher fehlende Hilfsmittel, dessen wir bedürfen, um verstehen zu können, wie ein Volk sich selbst seine Rechtsordnung und Verfassung geben kann, ohne auf Gott, auf die Regierung oder auf Experten angewiesen zu sein, um dieses Verstehen dagegen zu schützen, als Idealisierung und Fiktion mißverstanden zu werden, und um zu diesem Zwecke die so leicht mystifizierbare Dialektik empirisch zu erhellen, die es dem Volke gestattet, zugleich souveräner Gesetzgeber und dem Gesetz unterworfener Untertan zu sein. Mit Habermas beharre ich darauf, daß sich alles Geheimnisvolle verflüchtigt, wenn wir von der Rationalität alles argumentativen Redens und seiner zwanglos Menschen einigenden, konsensstiftenden Kräfte ausgehen, einer Rationalität, die zwar immer wieder, stets aber nur vorübergehend, und mochte es einmal auch zwölf oder vierzig Jahre währen, bis die Finsternis weichen mußte, von Unverstand und Bosheit hat verdunkelt werden können. Die Theorie des kommunikativen Handelns taugt zu mehr als dazu, die vom Kapitalismus induzierten Sozialpathologien zu erklären. Das wird sichtbar, sobald man sie über die privaten Lebenswelten hinaus auf die politische Willensbildung und damit auf die soziale Integration ursprünglicher Lebenswelten in eine staatlich verfaßte Gesellschaft erstreckt. Die dazu passende Empirie liefert die Einführung der verfassungsgeschichtlichen Realtradition des deutschen und europäischen Mittelalters in die Verfassungslehre. Möge sie dazu beitragen, eines Tages die systematische Geschichte der Rationalität erkennbar zu machen, von der wir zur Zeit noch so weit entfernt sind!
Nachwort
Über die Entstehung dieses Werkes In der modernen Verfassungslehre spielt die politische Erfahrung des europäischen Mittelalters so gut wie keine Rolle. Im Gegensatz zu den Einrichtungen der antiken Stadtstaaten und des römischen Weltreichs, mit denen die Staatswissenschaft seit dem 16. Jahrhundert vertraut und lange als mit bewunderten Vorbildern umgegangen ist, im Gegensatz auch zu den Staatsformen der Neuzeit, die sich nicht nur im Ringen des Staatensystems um Hegemonie oder Gleichgewicht, sondern auch in der Kritik der Philosophen und Staatslehrer bewähren mußten, – im Gegensatz hierzu erscheint uns das dazwischenliegende Mittelalter als ein Zeitraum, in dem die Völker keinerlei nennenswerte politische Leistungen vollbracht und folglich auch keine wirkliche, nämlich nachwirkende politische Erfahrung angesammelt haben. Dieser Schein freilich trügt, denn er ist lediglich ein Erzeugnis der sehr ungleichmäßigen literarischen Tradition der drei Zeitalter. Während sich die griechisch-römische Antike und das moderne, in der Begegnung mit ihr zu sich selbst gekommene Europa ihre Staatsverfassungen durch empirisch urteilende Historiker, grundsätzlich denkende Philosophen und Gerechtigkeit im Gesetz verbürgende Juristen zum Bewußtsein zu bringen pflegten, klafft zwischen Augustinus und Macchiavelli eine Lücke von tausend Jahren, der die Verfassungslehre glaubt, keine Beachtung zu schulden, weil die humanistische Gelehrsamkeit des 16. Jahrhunderts die moderne Staatslehre scheinbar lückenlos mit der Staatskunde des Altertums verbunden hat. Dazwischen verschwindet das tausendjährige Mittelalter als ein Zeitraum, der deswegen keine politische Erfahrung gezeitigt zu haben scheint, weil sich seine Schriftsteller bei deren Erörterung von theologischen und theokratischen Auffassungen leiten ließen, die dem klassischen Altertum von Hause aus ebenso fremd waren, wie sie es unserer Gegenwart auf neue Weise wegen der Verfallenheit alles menschlichen Daseins an das Vergessen geworden sind. Aber politische Erfahrung, die sich ebenso wie die Eigenart der Nationen in deren Verfassungen niederschlägt, ist etwas anderes als die intellektuelle Reflexion der Philosophen und Gelehrten, die sich das Politische zum Gegenstand ihrer Beobachtung und Beurteilung wählen. Wie sehr solche Reflexionen auch das Denken und Handeln der Staatsmänner beeinflussen mögen, so folgen sie doch dem politischen Geschehen immer nach. Die Völker aber sammeln ihre Erfahrungen unabhängig von ihnen im politischen Erleben, und auch wenn das Vergessen das ausdrückliche Wissen von ihnen vertilgt, so gehen sie ihnen doch niemals völlig ver-
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Nachwort: Über die Entstehung dieses Werkes
loren. Durch Erziehung von Generation zu Generation weitergegeben, bestimmen sie unbewußt die Eigenart der Völker oder, um mit Montesquieu zu reden, den Geist ihrer Gesetze. Verfassungen besaßen und Verfassungsgeschichte erlebten die Völker zu jeder Zeit und unabhängig davon, ob sie zugleich eine Gelehrsamkeit hervorbrachten, die ihnen den Sachverhalt bewußt zu machen verstand. Es gibt daher als prägende Kräfte des politischen Lebens nicht nur eine literarisch-gelehrte, sondern auch eine reale Tradition des politischen Erbes, die etwas anderes ist als die Geschichte des bewußten politischen Denkens. Ihr ist nämlich der spekulative und utopische Einschlag fremd, den bereits Platon jenem Denken eingepflanzt hat. Sie zu erforschen betrachte ich als die Aufgabe der Disziplin der Verfassungsgeschichte. Im Kreise der Fachwissenschaften, die sich mit der Erforschung des Mittelalters befassen, genießt diese Disziplin zur Zeit kein besonderes Ansehen. Viele Historiker betrachten sie voller Mißtrauen. Anstatt sich ihrer Erkenntnisse zu bedienen, soweit sie kritischer Überprüfung standhalten, ziehen sie es vor, sich jeder Berührung mit ihr zu enthalten, um nicht einer veralteten Interpretation des Mittelalters und deren verderblicher Verwendung durch Nationalismus und Nationalsozialismus zum Opfer zu fallen. In dieser schwierigen Situation wird es dem Leser hilfreich sein zu erfahren, auf welchem Wege ich dahin gelangt bin, mich mit ihr zu beschäftigen, und auf welche Fragen die Verfassungslehre, die ich ihm unterbreite, eine Antwort zu geben versucht. Die Fragestellung und die These, die ich dieser Lehre zugrundelege, werden auf diese Weise sogar deutlicher hervortreten, als sie sich innerhalb der Verfassungslehre zu erkennen geben können. Der Grund für das Mißtrauen, dem die Verfassungsgeschichte heutzutage ausgesetzt ist, liegt in ihrem Ursprung aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts und der älteren Germanistik. Als Schüler von Friedrich Christoph Dahlmann und Leopold Ranke entstammte Georg Waitz (1813 – 1886), dessen achtbändiges, in erster Auflage von 1844 bis 1878 erschienenes Werk den Gegenstand und seinen Begriff etablierte, dem Umkreise jener Gruppe von Juristen, Sprachforschern und Historikern, die nicht nur innerhalb der historischen Rechtsschule seit 1839 unter dem Namen der Germanisten in Gegensatz zu den Romanisten getreten waren, sondern auch, als Teil der nationalen und konstitutionellen Bewegung des Vormärz, der Erneuerung der politischen Verhältnisse Deutschlands aus dem Geiste und der Geschichte der Nation heraus das Wort redeten. Das Verfassungsideal der Germanisten erhielt sich daher in unklarer Schwebe zwischen Absolutismus und Republikanismus. Weder dem Monarchen noch dem Volke wollten sie die Souveränität beilegen, von der die Romanisten seit dem 16. Jahrhundert redeten. Vielmehr sollten beide der Verfassung eines Staates unterworfen sein, den sie sich als in der Menschennatur begründetes organisches und sittliches Gemeinwesen vorstellten. Dem deutschen Staate, so meinten sie, sei der revolutionäre Radikalismus aller Republikaner und Demokraten ebenso fremd wie der Gesetzespositivismus der Absolutisten und Romanisten; ihm sei vielmehr ein
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Ausgleich zwischen Königtum und Volksfreiheit eingeboren, den sie zu legitimieren gedachten, indem sie ihn aus der deutschen Geschichte herleiteten, in der Erwartung, daß sich darin alles als germanisch oder nichtrömisch erweisen würde, was der erstrebten Verfassung eigentümlich sein sollte. Es lag nahe, diese in der konstitutionellen Monarchie wiederzuerkennen, als die sich Preußen im Jahre 1850 ebenso wie siebzehn Jahre später der Norddeutsche Bund und das aus ihm hervorgegangene Deutsche Reich verfaßten. Um dies zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß sich damals die Volkssouveränität als konstitutives staatliches Prinzip in Europa noch keineswegs bewährt hatte. Ihr Mutterland Frankreich hatte bereits drei Revolutionen erlebt und zwei Republiken errichtet, die beide nach wenigen Jahren in bonapartistische Militärdiktaturen umgeschlagen waren, woran sich in Deutschland mit Recht niemand ein Beispiel nehmen wollte. In England ruhte die Souveränität noch bei der Krone, auch wenn der König sie nur im Parlament und von diesem beraten ausüben konnte, und das englische Wahlrecht war auch nach der zweiten Reformbill von 1867 noch weit von dem allgemeinen Stimmrecht entfernt, das Otto von Bismarck zu dieser Zeit im Norddeutschen Bunde einführte. Was die englische Nation auszeichnete, das war die Existenz zweier politischer Parteien, die seit langem im Umgang mit der Regierungsverantwortung erfahren waren. Nicht unzutreffend sagte Bismarck daher in einer Rede vor der zweiten Kammer des preußischen Landtags am 24. September 1849: „Die Berufungen auf England sind unser Unglück; geben Sie uns alles Englische, was wir nicht haben, geben Sie uns englische Gottesfurcht und englische Achtung vor dem Gesetze, die gesamte englische Verfassung, aber auch die gesamten Verhältnisse des englischen Grundbesitzes, englischen Reichtum und englischen Gemeinsinn, besonders aber ein englisches Unterhaus, kurz und gut alles, was wir nicht haben, dann will ich auch sagen, Sie können uns nach englischer Weise regieren.“ Da aber diese Voraussetzungen in Preußen und Deutschland fehlten, so müsse hier die Monarchie der tragende Mittelpfeiler des Staatsgebäudes sein und bleiben, während in England die Krone demselben nur noch als zierlicher Kuppelschmuck zu dienen brauchte. Gewiß schaute unter den Germanisten mancher ebenso nüchtern auf die deutschen Zustände wie Bismarck, der Schöpfer des deutschen Bundesstaates und der Organe, durch die sich dieser noch heute regiert, als Bundesrats, Präsidiums, Reichstags und Bundeskanzleramts, wie es heute wieder heißt. Bismarck war sich dessen bewußt, daß das Vertrauen, welches er in die halbwegs absolute Monarchie setzte, auf einer bestimmten politischen Theologie beruhte, auf dem Glauben nämlich an eine göttliche Weltordnung, ohne den er sich als Republikaner bekannt und die Hohenzollern für eine schwäbische Familie gehalten hätte, die nicht besser als die seine gewesen und deren Wille ihn gar nichts angegangen wäre. Da er sogar die unangefochtene Legitimität, mit der das Haus Romanow in Rußland und die hannoversche Dynastie in England herrschten, darauf zurückführte, daß die Nationen beider Länder in den Jahren 1613 bzw. 1688 ihre Herrscher mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität berufen hätten, so fand er in der europäischen
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Nachwort: Über die Entstehung dieses Werkes
Welt seiner Zeit überhaupt kaum noch Staaten vor, deren Existenz nicht in revolutionärem Boden wurzelte. Dies behauptete er auch von dem „Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten teils Kaiser und Reich, teils ihren Mitständen, den Standesherrn, teils ihren eigenen Landständen abgewonnen haben“. Wir sehen, daß das Verfassungsideal der Germanisten zu ihrer Zeit so weltfremd und rückständig nicht war, wie manche ihrer Kritiker uns heute glauben machen wollen, und daher brauchte es auch dort, wo es als leitendes Interesse ihre historische Erkenntnis bestimmte, keineswegs zu abwegigen Resultaten zu führen. Das zentrale und schwerlich jemals vollständig lösbare Problem der älteren deutschen Verfassungsgeschichte besteht in dem Niedergang der königlichen Gewalt und der Ausbildung der Landeshoheit. Im 19. Jahrhundert bewertete man diese Vorgänge, deren Wendepunkt der Thronstreit der Jahre 1198 bis 1212 markiert, als Katastrophe des Deutschen Reiches und Ursache aller Übel, die die Nation in der Neuzeit überwucherten, und die Heilung erwartete man von der Erneuerung des Kaisertums, die man 1848 vergebens – gegen den Widerstand Österreichs – ins Werk zu setzen versuchte, bevor Bismarck schließlich das Problem auf seine Weise zu lösen verstand. Als Ausgangs- und Mittelpunkt der landesherrlichen Gewalt hatte die rechtsgeschichtliche Forschung die hohe Gerichtsbarkeit ausgemacht. In ihr sah sie ein Recht und eine Amtsaufgabe, die ursprünglich allein des Königs gewesen, die der König jedoch seit der fränkischen Zeit durch königliche Beamte, die Grafen, in deren Amtsbezirken, den Grafschaften, hatte ausüben lassen. So stellte sich die Entstehung der Landeshoheit fast mit Notwendigkeit als rechtswidrige und mehr oder weniger gewaltsame Aneignung königlicher Rechte durch die Landesherren dar, in deren Verlauf die erfolgreichen unter diesen nicht nur die Reichsgewalt entmächtigten und zersetzten, sondern auch viele aufstrebende kleinere Hochgerichtsherren unter ihre Herrschaft beugten. Vor allem dynastische Machtentfaltung und partikularistischer Egoismus, kaum jedoch rechtliche Verhältnisse schienen den Vorgang gelenkt zu haben. Das Spätmittelalter stellte sich demnach als ein Zeitalter des Verfalls der alten Reichs- und Kaiserherrlichkeit und des Triumphs von Faustrecht und wilder Usurpation dar. Lediglich für Otto Gierke (1841 – 1921), den Historiker des deutschen Genossenschaftswesens, zeigten sich die Vorgänge in einem anderen Lichte. Gierke dachte sich die Geschichte als dialektischen Prozeß, innerhalb dessen er eine der mächtigsten Bewegungen in dem Kampf zwischen den Prinzipien der staatlichen Einheit aller und der Freiheit des Einzelnen erblickte. „Gleich wie bisher noch alle jene glänzenden Weltreiche zusammengestürzt sind, welche über die Einheit der Freiheit vergaßen, so hat auch kein Volk den Stürmen der Geschichte zu trotzen vermocht, das die Selbständigkeit der Glieder nicht zu Gunsten eines höheren Gan-zen zu beschränken verstand.“ Gestützt auf ausgebreitete Kenntnisse sowohl des römischen als auch des deutschen Rechts und Rechtsdenkens und deren vergleichende Bewertung, hatte er sich davon überzeugt, daß unter allen Völkern wohl „keines seiner innersten Natur nach geeigneter zur Verwirklichung beider Gedanken und deshalb zu ihrer schließlichen Versöhnung“ gewesen sei „als das germa-
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nische. Fast scheint es, als ob dieses Volk allein berufen wäre, Staaten zu schaffen, die zugleich einig und frei sind, als hätten die romanischen Völker nur insoweit daran teil, soweit sie mit dem Bruchteil des in ihnen fließenden germanischen Blutes auch einen Bruchteil germanischer Eigentümlichkeiten überkommen oder die vom germanischen Geiste geschaffenen Institutionen entlehnt haben.“ Vor allen anderen Völkern, und namentlich vor den Römern, deren staats- und rechtspolitische Begabung Gierke ebenso bewunderte, wie alle Juristen des neueren Europa es getan, hätten „die Germanen Eine Gabe“ vorausgehabt, durch welche sie der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine festere Grundlage verliehen haben – die Gabe der Genossenschaftsbildung.“ Unter den zahlreichen Verbänden, zu denen sich die freien Einzelnen nach germanischem Rechte zusammenschlossen, um gemeinsame Bedürfnisse zu befriedigen, und die sie alle mit einer gewissen Hoheit gegenüber den Mitgliedern ausstatteten, sei die umfassendste die Genossenschaft aller Staatsbürger gewesen, welche heute die Grundlage des repräsentativen Verfassungsstaates bilde. Die bittere geschichtliche Notwendigkeit staatlicher Machtentfaltung habe ihr indessen schon in ältester Zeit geboten, sich einem Könige zu unterwerfen, und damit sei die uralte germanische Genossenschaftsidee in Widerstreit getreten zur Herrschaftsidee. Wie aber jede Genossenschaft aus sich heraus eine herrschaftliche Spitze, so brachte auch jede Herrschaft aus sich heraus einen genossenschaftlichen Zusammenschluß ihrer Untertanen hervor. Aus dieser Erfahrung leitete Gierke nicht nur die Überzeugung ab, daß in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte eine Synthese der beiden einander dialektisch widerstreitenden Prinzipien von Einheit oder Herrschaft und Freiheit oder Genossenschaft angelegt sei, sondern auch die Perioden, in deren Abfolge er diese Synthese Wirklichkeit werden sah: Auf ein erstes Zeitalter, in dem die Volksfreiheit in ihrer ursprünglichen Gestalt vorgeherrscht habe, seien seit Kaiser Karl dem Großen zuerst vier Jahrhunderte einer Dominanz des herrschaftlichen Prinzips im Gewande des patrimonial-feudalen Staates, hernach aber seit der Wende des 12. Jahrhunderts drei weitere gefolgt, in denen die Volksfreiheit in Gestalt des aus freien Einungen und deren Föderationen gebildeten Staates dominierte, bevor mit dem 16. Jahrhundert abermals eine Zeit anbrach, in der das herrschaftliche Prinzip, nunmehr in Gestalt des Obrigkeitsstaates, vorwaltete. Mit dessen Untergang im Jahre 1806 jedoch habe das Zeitalter des Ausgleichs zwischen den feindlichen Prinzipien und der sich im konstitutionellen Nationalstaate herausbildenden Staatspersönlichkeit begonnen, in der sich die Genossenschaft der Staatsbürger und die monarchisch-obrigkeitliche Spitze organisch, d. h. nicht als rational-vertraglich zusammengefügte Summe, sondern als lebendige, geschichtlich herangewachsene Einheit, miteinander verbinden sollten. Sowohl der Fürst als auch das Volk stellten sich in Gierkes Auffassung als Organe jener lebendigen Einheit und nicht als voneinander unabhängige Gebilde dar, deren jedes sich die Souveränität des Ganzen hätte zuschreiben und um sie streiten können. Diese Staatspersönlichkeit bedurfte, um zu sich selbst zu kommen, nicht der vernünftelnden Begriffe von Volks- und Herrschersouveränität und
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Staatsvertrag; ihr Wesen und die ihr angemessene Verfassung waren vielmehr an ihrem geschichtlichen Werdegang zu erkennen. Wie der Jurist und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde 1961 in einem wichtigen Buche darlegte, war auch in Gierkes Verfassungsdenken eine politische Metaphysik oder Theologie enthalten, wovon namentlich die vorausgesetzte dialektische Determinierung der Geschichte und Gierkes mystischer Organismusbegriff Zeugnis geben. Mit ihnen verschleierte Gierke die Unwirklichkeit der Kräfte, die aus jeder Herrschaft eine Genossenschaft und aus jeder Einung eine Herrschaft hervorgehen ließen. Den Ausdruck Staatspersönlichkeit benutzte Gierke nicht mehr als Metapher, wie es in der Staatslehre seit jeher üblich gewesen war, sondern als Seinsaussage, kraft deren er von dem genossenschaftlichen Organismus sagen konnte, dieser bekunde sein Leben darin, daß in ihm ein herrschaftliches Organ tätig werde oder daß er sich als eine „wie die Seele den Körper durchziehende Einheit“ erweise. Allein diese Mystik gestattete es dem großen Gelehrten, die bis heute unangefochten herrschende Lehre zu formulieren, der zufolge sich in der spätmittelalterlichen, vom genossenschaftlichen Prinzip dominierten Periode der deutschen Geschichte die Stadträte, wiewohl als Organe der Bürgerschaften entstanden, doch seit den Zunftkämpfen hätten zur Obrigkeit aufschwingen und aus der Abhängigkeit von ihren Erzeugern lösen können. Aber nicht deswegen hat die deutsche Geschichtswissenschaft Gierkes Lehre unbeachtet gelassen, sondern weil sie sich vor deren liberaldemokratischen Zügen verschloß, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter Deutschen überhaupt wenig Anziehendes an sich trugen. Vielmehr setzte sich in der Verfassungsgeschichte des Mittelalters insbesondere unter dem Einfluß Georgs von Below (1858 – 1927) die konservativ-monarchische Herrschaftstheorie durch. Um sie zu verifizieren, setzte von Below alle seine Kräfte daran, die Existenz einer Staatsgewalt mit gesetzgebender Vollmacht bereits für das Fränkische Reich zu erweisen, denn nur wenn dieser Nachweis gelang, war die Lehre gerechtfertigt, nach der die Könige die Grafengewalt an die Großen des Reiches delegieren und diese daraus die Landeshoheit entwickeln konnten, auf der der föderative Staatsaufbau des zweiten Deutschen Reiches beruhte. Ganz unpassend nimmt sich im Verhältnis hierzu das wache Verständnis aus, mit dem Georg von Below als genauer Kenner der Quellen den Aufschwung der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte förderte, eines damals recht jungen Zweiges des historischen Interesses, dessen Anspruch auf akademische Ehren die herrschende neurankeanische Schule zähen Widerstand entgegensetzte. Hermann Aubin (1885 – 1969), der sich als junger Mann in Belows Schule begab, um das große Problem des zweigeschichteten Staatsaufbaus in Deutschland verstehen zu lernen, hat später verständnisvoll darüber gesprochen, wie sein Lehrer einerseits für die neuen historischen Fächer die alleinige Geltung der historisch-induktiven Methode und des Zurückgehens auf die Quellen forderte, andererseits aber auch vom Historiker jene scharfe Begriffsbildung und Strenge der Gedankenentwicklung verlangte, die er an der abstrakt-theoretischen Methode der Juristen und
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Nationalökonomen bewunderte, und wie er im Bewußtsein der Gegensätzlichkeit dieser Anforderungen an Max Webers Versuchen, zwischen ihnen einen Ausgleich zu schaffen, regen Anteil nahm, ohne doch von seinem ausschließlich geschichtlichen Standpunkte aus eine Brücke zu der methodischen Gegenposition schlagen zu können. So entfachte die Kontroverse um den Ursprung der Landeshoheit die historische Kritik an der klassischen Schule der nationalen Rechtsgeschichte, die sich, die Vorliebe des juristischen Positivismus für das Gesetzesrecht teilend, vornehmlich auf die Volksrechte und Kapitularien der fränkischen Zeit und auf die Rechtsspiegel des Spätmittelalters gestützt und, deren Aussagen verallgemeinernd, eine deutsche Staats- und Rechtsgeschichte entworfen hatte, die für regionale Eigenarten weder Raum noch Interesse besaß. Dem setzte nun die um die neuen historischen Fächer bereicherte Geschichtswissenschaft eine Verfassungsgeschichte entgegen, die sich insbesondere auf die urkundlichen Zeugnisse für staatliche Exekutivakte aus dem hohen Mittelalter berief und den Beweis dafür erbrachte, daß das mittelalterliche deutsche Königtum zwar Gesamtreichspolitik und darüber hinaus auch Kaiserpolitik betrieben, außerdem aber genauso wie die Fürsten territorialpolitische Ziele verfolgt habe, denn seine Macht beruhte gleich der fürstlichen auf Grund- und Gerichtsbesitz, allerdings nicht nur in einer bestimmten Region, sondern überall dort, wo es Ansatzpunkte für seine Bestrebungen hatte finden können. Im Jahre 1908 begründete der Göttinger Gelehrte Karl Brandi das „Archiv für Urkundenforschung“, das der Urkundenlehre über die bloße Formaldiplomatik hinaus die Aufgabe stellte, die besondere Lage und die Interessen der Empfänger genau zu untersuchen, da der Quellenwert eines königlichen Diploms nicht allein schon auf Grund des Nachweises seines kanzleigemäßen Ursprungs richtig erfaßt werden könne. Die Lage der Empfänger genau zu bestimmen, dazu war aber nur eine landesgeschichtliche Forschung wirklich imstande, innerhalb deren sich politische Reichsgeschichte und regionale Wirtschafts-, Kultur- und Alltagsgeschichte nicht mehr gleichgültig gegenüberstanden, sondern untrennbar und soweit ineinander übergingen, daß keine mehr ohne die andere verständlich sein konnte. Allein mit den Quellen und Methoden der Landesgeschichtsforschung etwa vermochte Hermann Aubin im Jahre 1912 (1920) nachzuweisen, daß die königlichen Immunitätsprivilegien „in keiner Weise ausreich(en), die wirklichen Zustände der territorialen Gerichtsverfassung zu erklären. Einerseits haben sie selbst bei ein und derselben Kirche die Aufgabe nicht erfüllt, die man ihnen zuschreibt, die tatsächlich ausgeübten Gerichtsrechte sind sehr oft geringer als die verbrieften . . . Andererseits haben die Immunitätsurkunden häufig nicht soviel besagt, als tatsächlich erreicht worden ist.“ So setzte sich allmählich die Einsicht durch, daß der Zusammenhang mittelalterlicher Rechtserzeugung seit jeher das Königtum mit den regionalen Gewalten verknüpft hatte und daher von der Rechtsgeschichte des Königtums alleine nicht richtig erfaßt werden konnte. Namentlich Hans Hirsch, Hermann Aubin und Otto von Dungern waren es, die respective 1912, 1920 und 1927 mit der Entdeckung der (Auto-)Immunität weltlicher Herren und
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deren allmählicher Steigerung zu eigener Landeshoheit die herrschende Lehre gründlich in Frage stellten. Da sich als Quelle dieser adligen Hoheit nirgendwo das Königtum und seine privilegierende Vollmacht erweisen ließ, mußte man nach anderen, vom Königtum unabhängigen oder doch zumindest nicht dessen lenkendem Willen unterworfenen Triebkräften und Rechtsauffassungen suchen, wenn man dem von den Königsurkunden und den lokalen Quellen dokumentierten Befunden gerecht werden wollte. Bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts zogen sich die Auseinandersetzungen der Neuerer mit der älteren rechtsgeschichtlichen Schule hin; erst 1939 und 1941 besiegelten Otto Brunner (1898 – 1982) in Wien und Walter Schlesinger (1908 – 1984) in Leipzig mit ihren seither mehrfach wiederaufgelegten regionalgeschichtlichen Untersuchungen den Erfolg der neuen Lehre. Auf dem von ihnen bereiteten Boden und in der Erörterung ihrer Argumente spielt sich noch heute die verfassungsgeschichtliche Erforschung des Mittelalters ab. Die maßgebliche Fassung verlieh dieser Suche nach neuen Wegen der Verfassungs- und Sozialgeschichte der soeben genannte Wiener Historiker Otto Brunner im Jahre 1939 mit dem Buche „Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands (seit der vierten Auflage von 1959: Österreichs) im Mittelalter“, das als Nachdruck der fünften Auflage von 1965 noch immer im Buchhandel erhältlich ist. Dieses Buch war und ist in doppelter Weise einflußreich. Erstens wirkte es durch die darin herausgearbeiteten Begriffe und Beschreibungen mittelalterlicher politischer Verbände auf die Fachwissenschaft, worüber später noch ausführlich zu reden sein wird. Zweitens aber führte es den Nachweis, daß die Begriffe der allgemeinen Staatslehre des 19. Jahrhunderts (die Brunner allerdings nicht bei Waitz und Gierke, sondern in der Literatur über die Verfassung der Territorialstaaten aufspürte) nicht auf das Mittelalter anwendbar seien, da sie von dem Modell des monarchisch-liberalen Staates ihrer Zeit abgezogen waren und die moderne Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft oder öffentlichem und privatem Recht voraussetzten, die dem Mittelalter ebenso fremd war wie der Begriff der Souveränität, deren Rechtsbereich den modernen Staat konstituierte und alle nicht mit ihm zu verknüpfenden politischen Verbände zu privatrechtlichen Gebilden erklärte. Aus dieser Kritik resultierte Brunners Forderung, daß die politischen Verbände des Mittelalters nicht mit modernen Begriffen und der diesen immanenten Selektion des Wesentlichen, sondern mit einer nach Möglichkeit den Quellen selbst zu entnehmenden, d. h. den Sprachgebrauch des Mittelalters aufnehmenden Terminologie zu beschreiben seien. So hat Otto Brunner als erster die geschichtliche Gebundenheit der verfassungsgeschichtlichen Forschung zum Gegenstande der Reflexion gemacht und damit der seither mächtig aufgeblühten Wissenschaftsgeschichte den Weg gebahnt, namentlich nachdem Ernst-Wolfgang Böckenförde, dessen oben erwähnte Abhandlung von 1961 von dieser Entdeckung maßgeblich bestimmt worden ist, das Verdienst Otto Brunners der Rechts- und Geschichtswissenschaft nachhaltig vor Augen geführt hat.
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Ernsthaft gemindert wurde dieses Verdienst allerdings dadurch, daß der Verfasser, nachdem er die monarchisch-liberale Staatslehre des 19. Jahrhunderts verworfen hatte, seinen Überlegungen keine moderne, dem Gedanken der Volkssouveränität verpflichtete Verfassungslehre zugrundelegte, was doch nach der Revolution von 1918 und nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung immerhin denkbar gewesen wäre, sondern statt dessen den Boden jener unbürgerlichen und undemokratischen Staatslehre betrat, die sich angesichts des notdürftig eingehegten Bürgerkrieges, der die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik ausmachte, auf einen mystischen Begriff des Volkes als homogener Substanz des Staates und auf eine politische Theologie einließ, die der liberal-demokratischen Lösung des Verfassungsproblems jedes Vertrauen versagte und statt ihrer die obrigkeitlich-monarchische Tradition über den Sturz der Dynastien hinwegzuretten versuchte. Denn wenn Otto Brunner in „Land und Herrschaft“ erklärte: „Unter Verfassung soll hier mit Carl Schmitt der ,Gesamtzustand der politischen Einheit und Ordnung‘ verstanden werden“, so berief er sich damit auf einen Gelehrten, der zwar heute als einer der großen deutschen Staatsrechtler seiner Zeit anerkannt ist, gleichwohl aber 1933 bereitwillig in den Dienst des nationalsozialistischen Staates getreten und in dessen ersten Jahren einer der eifrigsten und einflußreichsten Juristen des neuen Regimes geworden war, weil er von der Notwendigkeit des Führerprinzips durchdrungen war und deswegen den für die Gleichschaltung der Länder – diesen Namen hatte die Weimarer Verfassung den nunmehr als Republiken fortlebenden früheren Bundesstaaten gegeben – mit dem Reiche erforderlichen Gesetzen oder dem autoritären Gemeindeverfassungsgesetz vom Dezember 1933 seinen Stempel aufprägen konnte, bevor er noch im August 1934 mit dem infamen Artikel „Der Führer schützt das Recht“ Hitlers erste, noch öffentlich vollzogenen politischen Morde rechtfertigte. Es ist mir zweifelhaft, ob oder inwieweit Otto Brunner diese Konsequenzen des Schmittschen Denkens überblickt und sich die Legitimationsabsicht der Verfassungslehre klargemacht hat, auf die er sich bezog; diskutiert jedenfalls hat er sie nicht – und dadurch doch deutlich wertend abgehoben von der älteren Staatslehre, der er allerdings ebenso wenig die Absicht zuschrieb, die Verfassungsverhältnisse ihrer Zeit zu rechtfertigen. Was ihn erkennbar fesselte, das war Carl Schmitts politische Theologie. Darin weit über Bismarck und Gierke hinausgehend, setzte Schmitt als überzeugter katholischer Christ eine Wahrheit des Glaubens an die Offenbarung voraus, die ihren Erzfeind im Unglauben fand und sich selbst bewährte, indem sie diesem Gegner kämpferisch entgegentrat. An dieser Wahrheit schieden sich Freund und Feind derart, daß kein Drittes, keine Neutralität möglich war. Auf diesen Satz gründete Schmitt seine politische Theologie. Wie Heinrich Meier 1994 dargelegt hat, machte kein anderer politischer Theoretiker des 20. Jahrhunderts den Versuch, Offenbarung und Politik so eng zusammenzusehen und sie nach Kräften zu verbinden, wie Schmitt es tat. War aber die Offenbarung an sich selbst politisch, so war auch ihr Vollzug im geschichtlichen Handeln als konsequente Unterscheidung von Freund und Feind zu verstehen, und zwar in einer triadischen Kon-
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stellation, die überall und jederzeit eintreten konnte, da hierzu bereits zwei Individuen genügten, die sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschlossen, um eine politische Assoziation ins Leben zu rufen: Schon drei Personen reichten hin, um das Politische ins Werk zu setzen. Diese Theorie eignete sich Brunner mit der Schmittschen Verfassungslehre an, um sich das Wesen mittelalterlicher Politik und die eigenartige Verknüpfung von Macht und Recht in einer Zeit zu erklären, der eben jenes Gewaltmonopol noch fremd war, das in der Neuzeit der absolutistische und der liberale Rechtsstaat behaupteten, das aber die totalitären politischen Parteien des 20. Jahrhunderts wieder in Frage stellten. So kommt es, daß Brunner den Leser in die Probleme der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte mittels einer Untersuchung über Frieden, Fehde und Politik einführte, die zu dem Ergebnis gelangte, daß die mittelalterliche „keine friedliche, bürgerliche, zivile Gesellschaft sein“ konnte, wobei er sich ausdrücklich auf Schmitts Begriff des Politischen als Freund-Feind-Verhältnis bezog. Er tadelte es allerdings, daß Schmitt dieses Verhältnis vom Begriff des Feindes her definierte, so daß der Freund als bloßer Nichtfeind erscheint, denn „wir werden . . . das Freund-Feindverhältnis als eine grundlegende Kategorie der germanischen Frühzeit und des Mittelalters kennenlernen und sehen, daß es vom Freund, nicht vom Feind ausgeht“ (3. Aufl. 1943 S. 3 Anm. 3, in der 4. Aufl. 1959 stark verändert). Im einzelnen setzte Brunner die Begriffe Raub und Fehde als unrechte und rechte Gewalttat des Einzelnen einander entgegen und bestimmte Fehde und Blutrache als Formen individueller Feindschaft gegenüber einem für friedlos erklärten Gegner, deren Gegenteil er in dem Frieden erblickte, den der Einzelne in der Form der Freundschaft, als seinen Frieden sichernden Schutzes und Beistands der Freunde, genoß. Fehde sei nicht rohe Gewalt, sondern Kampf des Einzelnen um sein (subjektives) Recht gewesen und habe darin der Klage vor Gericht geglichen, die jederzeit auf das Beweismittel des gerichtlichen Zweikampfes zurückgreifen konnte. Die Alternative zu ihr hätten daher (objektive) Strafgesetze und eine (neutrale) Gerichtsbarkeit der Gemeinschaft gebildet, worauf Kirche und Staat bereits im Mittelalter hinarbeiteten. „Die Fehde abschaffen heißt nicht, eine staatliche Maßnahme ergreifen wie tausend andere auch, sondern heißt, die Struktur von Staat und Recht grundlegend ändern.“ Daher könne erst von der Fehde her der innere Zusammenhang von Politik und Staat, von Macht und Recht im Mittelalter begriffen werden, auch wenn man nur auf Grund „einer sehr genauen Kenntnis des inneren Baus des mittelalterlichen Staates“ sagen könne, welche menschlichen Verbände mittels Fehde Politik zu treiben vermochten und wo Einzelne mit diesem Mittel lediglich alltägliche Rechtsstreitigkeiten entschieden oder Verwaltungsmaßnahmen durchsetzten. Aus dieser Theorie des Mittelalters leitete Brunner die Forderung ab, das Trennungsdenken zu überwinden, das im 19. Jahrhundert Verfassung, Wirtschaft und Gesellschaft zu Gegenständen besonderer Fach- oder Hilfswissenschaften erhoben hatte. Die damit sehr wirkungsvoll angeregte Verschmelzung der Betrachtungswei-
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sen führte allerdings alsbald zu einer ganzheitlichen Auffassung, in der die Sozialgeschichte die Oberhand gewann. Ich sehe in dieser Selbstvernichtung der von Historikern mit Rechtsbegriffen betriebenen Verfassungsgeschichte eine Nachwirkung der in Brunners Darstellung eingekapselten Verfassungslehre Carl Schmitts, die dem alten Deutschen Reiche eine rechtliche Verfassung oder als Recht verstandene Ordnung des öffentlichen Lebens rundheraus abgesprochen hatte, weil das beständige, auf Konsens und Kompromiß gerichtete Paktieren zwischen Großen und Königen, zwischen Hof-, Land- und Stadtgemeinden und deren jeweiligen Herren und schließlich zwischen Ständen und Landesherren der Auffassung von Politik als Freund-Feind-Verhältnis ebenso fremd und unzugänglich entgegenstand wie der davon abgeleiteten Mittelaltertheorie Otto Brunners, in dessen Buch es dem einleitenden, hundertzehn Seiten starken Kapitel über Frieden und Fehde lediglich als fünfzehn Seiten langer Anhang zum letzten Kapitel nicht das Gegengewicht zu halten vermag. Als Vertrag, meinte Schmitt, könne eine positive Verfassung eigentlich überhaupt nicht entstehen, denn dies setze mindestens zwei bereits vorhandene und weiterbestehende Subjekte verfassungsgebender Gewalt voraus; deren Bundesvertrag aber werde ganz zu Unrecht als Verfassung ausgegeben, da er ja die politische Einheit des Ganzen eben in Auflösung übergehen lasse: Habe der Staatsvertrag den Sinn, die verfassungsgebende Gewalt der Gesamtheit zu beschränken oder zu beseitigen, so sei damit die politische Einheit zerstört und der Staat in einen völlig abnormen Zustand versetzt, den juristisch konstruieren zu wollen ein nutzloses Unterfangen bleibe. Das aber sei die Lage des Deutschen Reiches seit dem 16. Jahrhundert gewesen. Unter dieser Voraussetzung mußte es ein Ding der Unmöglichkeit sein, eine Verfassungs- oder politische Volksgeschichte des Mittelalters, aus dem jener Zustand hervorgegangen war, als Rechtsgeschichte zu entwerfen. So mächtig waren diese unter dem Eindruck des sinn- und ziellosen Ersten Weltkriegs, der Revolution von 1918 und des Scheiterns der ersten deutschen Republik entstandenen Auffassungen, daß weder der blutige Untergang des Nazireichs noch die Begründung der zweiten deutschen Republik ihre Vorherrschaft in der Mediävistik zu brechen vermochten. Völlig wirkungslos blieb daher der Nachdruck der Werke von Georg Waitz und Otto Gierke in den Jahren 1953 bis 1955, deren Verfasser zwar keine offenen Vorkämpfer republikanischer Legitimität gewesen waren, aber doch von dem Geiste des alteuropäischen demophilen Liberalismus Zeugnis gaben, aus dem die Weimarer Verfassung und das Bonner Grundgesetz einen wesentlichen Teil ihrer Überzeugungskraft schöpften. Zwar stritten Mediävisten jetzt nicht mehr für Könige und Fürsten und um die Frage, ob das bessere Recht bei jenen oder bei den Landesherren gelegen habe; statt dessen jedoch breitete sich eine adelsherrschaftliche Auffassung der alten Verfassungszustände aus, die die öffentliche Ordnung des Volkes für eine von Anfang an und von den ältesten Zeiten her erkennbare Schöpfung von Herren hielt, gegenüber deren Tatendrang der Wille des Volkes, mochte man dabei nun an die freien Landeigentümer des frühen oder an die Gewerbeleute und Bürgerschaften oder die bäuerlichen
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Landgemeinden des hohen bis späten Mittelalters denken, ganz in den Hintergrund trat. Angesichts der vordergründig die mittelalterlichen Quellen erfüllenden Allgegenwart adliger Machtentfaltung und Geltung konnten das genossenschaftlich verfaßte Gemeinschaftsleben des Volkes und das Geheimnis seiner öffentlichen Willensbildung im Wege der Einung, von dem sich einst Gierke hatte leiten lassen, ohne es jedoch von seiner Konzeption der Verfassungsgeschichte als Dialektik von Herrschaft und Gemeinde her empirisch erhellen zu können, keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. All dies begünstigte die Neigung, vor den schwierigen Problemen des mittelalterlichen Verfassungslebens in die Sozialgeschichte auszuweichen. Seit 1954 durch Karl Bosl in Gebhardts Handbuch vertreten, gelangte eine Lehre zu allgemeiner Anerkennung, die unter Verfassung „nicht nur die politische Grundordnung eines Staates, sondern de(n) Gesamtaufbau der Gesellschaft“ (Hans K. Schulze 1985 – 86) verstand. Daneben trat eine politikwissenschaftliche Interpretation der Verfassungsgeschichte, die sich „nicht als Teil der Rechtsgeschichte oder als Sozialgeschichte“, sondern als „politische Strukturgeschichte“ und vergleichende Regierungslehre verstand, denn „politische Ordnungen“ seien zwar „immer auch rechtlich geprägt . . . und durch soziale Gegebenheiten beeinflußt“, mehr aber noch abhängig von internationalen Konstellationen und von jenen „spezifischen Verhaltensweisen und Auffassungen oder ,Mentalitäten‘, die man in der vergleichenden Regierungslehre zur political culture einer Gesellschaft rechnet“ (Hans Boldt 1984). Daß indessen den Mediävisten diese Vernichtung der alten, bürgerlichen Verfassungsgeschichte doch nicht recht geheuer war, das erkennt man an der verdrießlichen Abrechnung mit ihr, die František Graus im Jahre 1986 in der Historischen Zeitschrift veröffentlichte. Von einem marxistisch geprägten Wirklichkeitsbegriff aus urteilend, ließ Graus den mittelalterlichen Rechtsgedanken lediglich als Ideologie der Herrschenden und als eine soziale Tatsache gelten, die ebenso wie das im Rechtsleben zutagetretende Rechtsgefühl der Menschen erschöpfend von der Mentalitätsgeschichte zu behandeln wäre. Weder „von der Notwendigkeit einer eigenständigen Verfassungsgeschichte“ noch von der Unerläßlichkeit der Forschung auf deren traditionellen Gebieten überzeugt, wollte Graus den Namen des Fachgebietes nur deswegen beibehalten, weil er einmal eingebürgert war. Den älteren Vertretern des Faches nämlich warf er vor, sie hätten sich zwar der Aufgabe nicht entzogen, die Veränderungen in der Gesellschaft historisch zu erfassen, aber dabei doch vor allem das Ziel verfolgt, durch Betonung von Kontinuitäten die Dynamik der mittelalterlichen Gesellschaft samt ihrem Ursprung aus Zwangsgewalt, Willkür und Anarchie nach Möglichkeit zu verschleiern. Diesem Ziel habe vor allem gedient, was Graus als „Germanenrummel“ anprangert, nämlich die Betonung der germanisch-deutschen Kontinuität und die Verherrlichung einer alten germanischen Freiheit. Um dieses Vorgehen empirisch zu stützen, hätten besondere „Quellen zur Verfassungsgeschichte“ konstruiert werden müssen, etwa „in der völlig unbestimmt-
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hybriden Reihe der ,Constitutiones‘ der Monumenta Germaniae historica (der erste Band erschien 1893), in den ,Deutschen Reichstagsakten‘“ oder in Sammlungen ausgewählter Urkunden, wobei stets quellengeschichtlich völlig unterschiedliche Stücke zusammengefaßt und Institutionen in eine Zeit zurückdatiert worden wären, in der sie wohl noch gar nicht existierten. Die endliche Revision dieser Lehren sei einerseits von den Arbeiten Fritz Kerns aus den Jahren 1914 und 1919, andererseits von den landesgeschichtlichen Studien, vor allem aber von der antiliberalen Wende seit 1918, dem Weltkriegserlebnis usw., nicht jedoch vom Marxismus ausgegangen, der vor der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Rolle gespielt habe. Daher seien die Grundlagen der germanischen Reiche nach Maßgabe des Begriffspaares Führer und Gefolgschaft neuentdeckt und jetzt um die germanische Religion erweitert worden: „Die Neuinterpretation der Verfassung . . . äußerte sich einerseits in der Sakralisierung des Königtums, andererseits des Adels . . . Jeder Zwang, geschweige denn Gewalt, verschwand aus dem neuen Bild charismatischen Königtums.“ Neuentdeckt worden sei auch die Kontinuität des Dualismus von Königtum und Adel, die den Abschied von der These der altgermanischen Volksfreiheit nach sich gezogen und die Neubegründung von Freiheit durch Könige und Fürsten an deren Stelle gesetzt habe. Von Otto Brunner übernommen, seien diese neue Konzeption und „die Harmonisierung der Zustände auf das Spätmittelalter“ ausgedehnt worden, das nun „nicht mehr . . . eine Zeit der Willkür und der Anarchie“, sondern einer herrschaftlich verbürgten Ordnung gewesen sein sollte. Steht somit die ältere Verfassungsgeschichte unter dem – im Jahre 1961 von Böckenförde ausführlich begründeten – Verdacht, der undemokratischen Verfassungslehre der konstitutionellen Monarchie verpflichtet gewesen zu sein, so sieht sich die neuere dem Vorwurf ausgesetzt, nationalsozialistisches Gedankengut und eine ebenso irrationale politische Theologie wie jene mit sich zu führen. In beiderlei Form war sie daher schärfster Kritik von Seiten eines Autors ausgesetzt, der sich selbst auf den Boden der marxistischen Geschichtsphilosophie stellte, während die bürgerlichen Verfassungs- und Sozialhistoriker wenig darum bemüht waren, sich der Herkunft ihrer erkenntnisleitenden Interessen zu vergewissern. Sie zogen es vor, sich einfach als Träger des wissenschaftlichen Fortschritts zu betrachten, und sahen sich zudem durch Böckenfördes Erkenntnisse der Mühsal enthoben, die nicht in wenigen Tagen zu bewältigenden Werke von Waitz, Gierke und anderen Rechtshistorikern des 19. Jahrhunderts zu studieren. Sollte dies der Weisheit letzter Schluß sein, oder mag es noch andere Wege geben, die begehen könnte, wer heute weder als Monarchist noch als Marxist Verfassungsgeschichte betreiben will? *** Als ich im Sommer 1947 die Universität zu Hamburg bezog, um alte Sprachen, Literatur und Geschichte zu studieren, stand ich ganz unter dem Eindruck des politischen Umbruchs vom 8. Mai 1945, den ich als Befreiung erlebt hatte. Zwar war ich zu jung gewesen, um mich aus politischer Überzeugung vom Nationalsozialis-
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mus abzuwenden, aber gelitten hatte ich nicht nur unter dem militärischen Gehabe und der Verherrlichung von Leibesübungen, Lagerleben und Draufgängertum, die die Machthaber überall hervorkehrten, sondern auch unter der primitiven Selbstverständlichkeit, mit der sie in mein Privatleben eingriffen, unerschöpflich im Erfinden von Diensten, die ich dem Gemeinwesen leisten sollte und die meinen Gemeinsinn und Verstand für jede Art von Sozialismus für immer ruiniert haben. Kumpenie is Lumperie, diese niederdeutsche Volksweisheit hatte mich durchdrungen, denn ich war von Hause aus ein ängstlicher Individualist und später auch in der Wissenschaft, die ich mir zum Beruf erwählte, stets darauf bedacht, für mich allein zu arbeiten, um mein Tun und Denken verantworten zu können, ohne für die Dummheiten anderer einstehen zu müssen. So empfand ich es als Befreiung, daß am 8. Mai 1945 die irrsinnigen Ansprüche der Volksgemeinschaft an den Einzelnen, zu deren Sprecher sich Hitlers Partei großmäulig aufgeworfen, aus der Welt verschwanden. Von Anfang an war mir die demokratische Staatlichkeit, die nun in Deutschland freie Bahn fand, sympathisch, weil sie sich keinerlei Eingriffe, sei es in meine Lebensplanung im ganzen oder in die Erfüllung meiner Stunden, Tage und Wochen im einzelnen, anmaßte und nicht mehr von mir erwartete als Gesetzesgehorsam und pünktliche Entrichtung der Steuern. Je länger ich die Freiheit der Lebensführung genoß, die der demokratische Rechtsstaat seinen Bürgern gewährt, desto mehr beschäftigte mich dessen Verfassung, die mir die freiheitliche Grundordnung des neuen Staates verbürgte. Unsympathisch dagegen war mir, sobald ich von ihm erfuhr, Otto Gierkes Organismusbegriff, da ich mir unter organischen Verbänden die Hitlerjugend vorstellte, in der Gemeinnutzen stets vor Eigennutz gegangen, aber stets mit dem Nutzen derer zusammengefallen war, die dort das große Wort führten. Ich hatte in dieser Gemeinschaft nicht reussieren können, weil die Fähigkeiten, deren es dazu bedurfte, soweit sie dem Menschen angeboren sein mußten, mir von Natur aus abgingen, soweit sie jedoch erlernbar waren, mich nicht interessierten. Dagegen bewegten mich Sprachen und Geschichten, die mich die Schule lehrte und die in ihrer Fülle und Problematik die dürftige Ideologie der Nationalsozialisten in ein fahles Licht tauchten. Da tat sich ein Gegensatz auf, der mich bedrückte, weil er mir die Entscheidung für mich selbst, für Individualismus und humanistische Bildung erschwerte. Erst als am 8. Mai 1945 der ideologische Spuk über Nacht verwehte, stellte sich die mir natürliche Lebensform, als Einzelner im Schutze der eigenen Familie für die Humaniora und für individuelle Freiheit dazusein, als wirklich erreichbar heraus. An ihrer Gemeinnützigkeit habe ich nie gezweifelt, weil ich sie mir als für jedermann natürlich vorstellte. Ich war aber, auch das wohl eine Folge des Heranwachsens in Hitlers Reich, immer wieder voller Verwunderung darüber, daß es mir glückte, sie in berufliche Arbeit (von 1954 bis 1971 im Archivdienst des Landes Niedersachsen, seit 1971 als Hochschullehrer an der Technischen Universität zu Berlin) umzusetzen und dafür auch noch mit, wie ich fand, erstaunlich hohen Gehältern belohnt zu werden. So konnte mich Otto Gierke auch später, als ich seine Lehre genauer kennenlernte, nicht davon überzeugen, daß politische Personenverbände Organismen oder
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biologische Wesenheiten gleich wirklichen Menschen seien, und wäre es gelungen, ein biologisches Substrat juristischer Personen empirisch nachzuweisen, so hätte mich das sehr verdrossen. Da mir eine Rechtsordnung behagte, die jeden Menschen als Selbstzweck gelten läßt und ihn deswegen zur Person mit unantastbarer Würde erklärt, genügte mir der Nachweis eines teleologischen Substrates, um die Anwartschaft von Personenverbänden auf juristische Persönlichkeit zu begründen, sofern nämlich auch sie Selbstzwecke verfolgten, außerhalb deren sie ihren Mitgliedern die volle persönliche Freiheit zugestanden. Dagegen als organische Einheiten gedacht, wären sie mir als totalitäre Gebilde erschienen, die ihre Mitglieder mit Haut und Haar verschlangen. So dachte ich auch von dem umfassendsten aller Verbände, dem staatsbürgerlichen. Von Anfang an war ich daher ein Anhänger der repräsentativen Demokratie und stets – auch als ich viele Jahrzehnte später, wie noch zu berichten sein wird, das ihr geschichtlich vorangegangene Identitätssystem und dessen hohes Alter entdeckte – gefeit gegen die basisdemokratischen Hoffnungen derer, die das Volk für in Fragen des Rechts und der Moral unfehlbar halten, uneingedenk dessen, daß die europäische Demokratie nicht deswegen ersonnen worden und erfolgreich gewesen ist, weil sie einem Volke die beste Regierung gewährt, sondern weil sie dem Entstehen revolutionärer Situationen und dem Unglück jener Umwälzungen vorbeugt, die außerhalb Englands noch stets verblendeten Ideologen und Demagogen zur diktatorischen Macht verholfen haben. Beizeiten zum Bewunderer sowohl der römischen Republik als auch der Bismarckschen Staatskunst erzogen, teilte ich gefühlsmäßig die Überzeugung von der Verwandtschaft aller direkten Demokratie mit Ochlokratie und Tyrannis; dahin rechnete ich das Verwechseln einer Parteimeinung mit dem Willen der Gesamtheit, wie es Hitlers studierter Paladin am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast demonstrierte, um sich die Zustimmung eines Volkes, das seine Freiheit längst preisgegeben hatte, zur totalen Kriegführung zu erschleichen. Der von frei gewählten und an kein Mandat gebundenen Abgeordneten bestimmte Wille des Volkes dünkte mich die einzige staatskluge Lösung eines Problems zu sein, das mich seither als meine eigene Sache beschäftigte, auch wenn mir seine historische Dimension in ihrer ganzen Tiefe erst langsam und spät zum Bewußtsein kam. Wie Otto von Bismarck es in dem bekannten Satze tut, mit dem er die „Gedanken und Erinnerungen“ einleitet, so konnte ich von mir sagen, „als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts“ die Schule verlassen zu haben „als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen.“ Eine darüber hinausgehende parteipolitische Prägung hatte ich von der Schule nicht mitgebracht. Im Gegenteil: Dort hatte ich gelernt, und manche Studienräte wiesen offen darauf hin, was ohnehin jeder begriff, der dieses oder jenes genauer wissen wollte und deswegen andere Literatur als die Schulbücher zu Rate zog: daß das Programm der Hitlerpartei in seiner „bodenlosen Niveaulosigkeit“ (Hannah Arendt) mit Wissen wenig und gar nichts mit der geistigen Vergangenheit Deutsch-
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lands und Europas, viel dagegen mit Glauben und Wunschdenken zu tun hatte. Mein Bedürfnis, etwas zu glauben, über die Gewißheit hinaus, daß dem Menschen irgendetwas Unsterbliches ein- oder angeboren sei, mochte es nun das Denken sein, wie einst Sokrates gehofft, oder die Liebe, wie Jesus gelehrt hatte, ist stets gering entwickelt geblieben und durch diese Erfahrung meiner Jugend nicht eben bestärkt worden. Es hatte in der Schule auch keine Anleitung zum politischen Denken gegeben, und dies vollends nicht mehr, seit im Jahre 1942 die Ziellosigkeit des fehlschlagenden Krieges gegen Rußland offenbar zu werden begann. Ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie am Schulunterricht jeder Versuch scheiterte, die Hitlersche Politik als vernünftig darzustellen, ist mir gegenwärtig in Gestalt eines schmalen, auf vergilbtem Papier gedruckten und in gelben Karton gekleideten Heftes mit der Aufschrift: „J. R. Seeley, Two Chapters from The Expansion of England. Velhagen & Klasing. Neusprachliche Lesebogen, 150.“ Dieses Heft hatte zur Schullektüre in der Secunda gehört und dem Zwecke gedient, nicht nur die Sprachkenntnisse der Schüler zu erweitern, sondern sie auch über die Verworfenheit und Gefährlichkeit des imperialistischen Raubstaates England zu belehren, dessen Feindschaft sich zugezogen zu haben die erste schwere Niederlage der Hitlerschen Politik bedeutet hatte. Im Nachwort, welches das Lernziel erläutert, ist zu lesen: „Die Wahrheitsliebe Seeleys steht erfreulich hoch über dem, was man sonst von englischer Seite gewohnt ist.“ Neugierig geworden, besorgte ich mir die vollständige Fassung des 1883 erschienenen Buches – und lernte nicht nur eine Art vernünftigen Nachdenkens über Weltgeschichte, sondern auch eine Auffassung von Weltpolitik kennen, die den Erdball umspannte und weder in meinen von Neurankeanismus und Nationalsozialismus bestimmten Schulbüchern noch in dem kontinental beschränkten Weltbilde deutscher Politik irgendwo anzutreffen war. Die von Seeley als auch England bedrohend prognostizierte Unüberwindlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika und Rußlands, der beiden einzigen wahren Weltmächte, die wegen ihrer schieren Größe und als Flügelmächte des europäischen Staatensystems von Europa aus nicht mehr zu beherrschen sein würden – diese Lehre steckte mir ein Licht auf hinsichtlich des Wertes Hitlerscher Politik und Strategie, und so erzielte das kleine gelbe Heft in meinem Kopfe eine ganz andere Wirkung, als sich die Schulbehörde erhofft haben wird, die es in Umlauf gesetzt hatte. Das Buch des englischen Autors stellte mir der Studienrat Dr. Johannes Wilcke (3. 3. 1888 – 29. 3. 1980) zur Verfügung, Altphilologe, Historiker, Fachmann auf dem Gebiete des preußischen Militärwesens und Besitzer eines großbürgerlichen Hauses mit überbordender Bibliothek, dessen öffentlich in Dankbarkeit zu gedenken mir eine angenehme Pflicht ist. Ohne es weiter zu kommentieren, pflegte Dr. Wilcke im Unterricht davon zu sprechen, daß England noch nie mit einer Großmacht Frieden geschlossen, die sich der Rheinmündungen bemächtigt habe. Er fand Gefallen an meiner Denkungsart und Wißbegierde und förderte mich beim Erlernen des Griechischen, das mit manchem anderen Schulfache der Kriegsnot zum Opfer fiel, und er erzog mich zum Bewunderer Bismarckscher Sprach- und
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Staatskunst, von der er die deutsche Politik abgefallen sah, lange bevor sie, gleich der aller anderen Mächte, vor der Aufgabe versagte, den ziellosen Eintritt in den Ersten Weltkrieg zu vermeiden und hernach diesen Krieg rechtzeitig zu beenden. Ich übernahm von ihm manche Überzeugungen, an denen ich bis auf den heutigen Tag festhalte, auch wenn ich mich allmählich, je mehr sich meine liberale, anglophile Einstellung zur Politik verfestigte, von seinen konservativen Ansichten entfernte. Während ich studierte, sorgte er dafür, daß ich über der klassischen Literatur der Alten nicht die des Hellenismus vernachlässigte. Gemeinsam lasen wir des Polybios Universalgeschichte und die Darstellung des römischen Staates, dessen Verfassung der hellenische Staatsmann mit derjenigen aller anderen ihm bekannten Staaten vergleicht, und manche Stunde unterhielten wir uns darüber, wie sehr echte Staatskunst zu allen Zeiten von historischem Wissen über die Ursachen politischen Glanzes und Mißerfolgs der führenden Völker und Staaten bestimmt worden sei. Solchermaßen zu einer Zeit, da Waffenlärm den Ruf der Musen so herrisch zu ersticken drohte wie nur je in Ciceros Tagen, auf ein Studium vorbereitet, von dem ich mir eine Antwort auf die Frage versprach, wie der Einzelne das politische Leben, da er sich ihm schon nicht entziehen könne, beurteilen und wie er sich zu ihm verhalten solle, entschloß ich mich bereits nach zwei Semestern dazu, den Schwerpunkt meines Bemühens auf die Geschichte des Mittelalters zu legen. Zwei Gründe bewogen mich dazu. Den ersten fand ich in der ungeheuerlichen Fremdheit, vermöge deren sich dieses Zeitalter, im Gegensatz sowohl zur Antike wie zur neueren Zeit, meinem Verständnis zu entziehen suchte, in einer auf den ersten Blick nahezu unüberbrückbaren Distanz, die mein am Humanismus des klassischen Altertums und der deutschen Aufklärung geschultes Sprach- und Textverständnis von allem trennte, was im Mittelalter gedacht und geschrieben worden ist. Mit Erstaunen lernte ich im Proseminar und in den Übungen der ersten Semester die Methoden kennen, mittels deren die Wissenschaft die allgemein gültigen Grundsätze philologisch-historischer Arbeit den besonderen Anforderungen angepaßt hatte, die die Erforschung des Mittelalters an sie stellt: Kodikologie, Paläographie, Urkundenlehre, Archivkunde und die ersten Berührungen mit ungedruckten Schriftstücken im Staatsarchiv zu Hamburg beeindruckten mich ebenso tief wie die ersten Einblicke in die Hilfswissenschaften der Wirtschafts-, Sozial- und sowohl römischen wie deutschen Rechtsgeschichte. Geradezu bezaubern ließ ich mich in glücklichen Stunden von der Erfahrung, Jahrhunderte alte Pergamente in der Hand zu halten, und von der Illusion, noch nie habe ein verständiger Blick auf den Buchstaben geruht, deren Sinn mir vielleicht auf einen Schlag alle Geheimnisse der Vergangenheit enthüllen würde. Der zweite Grund lag in der Persönlichkeit des Professors, der das Fachgebiet in Hamburg vertrat. Hermann Aubin zog mich nicht nur als ermunternder Erzähler an, der den Studenten, was ihm wichtig war, in kunstfertig ausgeformten Vorlesungen zu Gehör brachte, ohne mich weder in den Niederungen des Fachwissens noch auf den Höhen jegliche Ereignisse verknüpfender Interpretation jemals zu langwei-
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len, sondern auch als Lehrer, dessen Schule ich mich zum ersten Male in einer Übung zur Geschichte des deutschen Bauerntums aussetzte, um von der dort exerzierten Verbindung der Quellen- und Urkundenforschung mit wirtschafts-, rechtsund sozialgeschichtlicher Sachkunde nie wieder loszukommen. Ich erwähnte bereits, daß sich Aubin seinerseits einst zu der Zeit, als die Kämpfe der neurankeanischen Schule mit den Ideen Karl Lamprechts und Max Webers noch keineswegs ausgefochten waren, bei Georg von Below in die Lehre begeben hatte, um einen Weg zur Erhellung dessen zu suchen, was man das Grundproblem der mittelalterlichen Welt nennen kann, nämlich des Feudalismus und der von ihm bewirkten Auflösung der einheitlichen römischen Staatsgewalt in jenen Dualismus und Antagonismus von Reich und Ländern, dessen Handhabung die deutsche und europäische Geschichte und die Suche der Europäer nach der rechten Verfassung ihrer Staaten auf jeder ihrer Seiten beherrscht. Jetzt lernte ich, auf welche Weise Aubin selbst zur Versöhnung der Standpunkte und der damals schroffen Gegensätze zwischen Staats- und Kulturgeschichte gelangt war und welchen Weg er beschritten hatte, um das Verfassungsproblem als eine Aufgabe, die mit Hilfe der Urkundenforschung und einer weniger von Ideen als von Interessen bewegten Rechtsgeschichte empirisch lösbar wäre, zu formulieren und zu bearbeiten. Ging es hierbei um das hohe und späte Mittelalter, für dessen Ordnungen die Könige aus karolingischem Hause den Grund gelegt hatten, so beruhte Aubins Lehre darüber hinaus auf einer bestimmten Auffassung des Übergangs vom Altertum zum Mittelalter, in dessen Verlauf er sich jene Synthese von (heidnischer) Antike, Christentum und Germanentum anbahnen sah, die sich allmählich zur europäischen Kultur entfaltet hat. Seine Betrachtungsweise war sowohl von Max Weber als auch von Alfons Dopsch (1868 – 1953) beeinflußt; jener hatte die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf den Übergang von der antiken, mit Sklavenarbeit betriebenen und insofern vergleichsweise wenig rationalen Gutswirtschaft zum mittelalterlichen, auf die Arbeit halbfreier Höriger gestützten und insofern vergleichsweise rationaleren Villikationsbetrieb gelenkt, während Dopsch in den Jahren 1918 bis 1920 den traditionellen, von Abbruch und Neubeginn der Kulturentwicklung ausgehenden Katastrophentheorien eine Kontinuitätstheorie entgegensetzte, die Aubin für jede römische Provinz und für jedes Kulturelement besonders überprüft sehen wollte, weil die Güter der materiellen Kultur eine größere Chance hatten, von den Germanen übernommen zu werden, als das geistige, der sprachlichen Übersetzung bedürftige Kulturerbe der Alten. Regionale Unterschiede dagegen erklärte sich Aubin aus der Verschiedenheit der Zeiten und der Intensität, mit der germanische Landnahme und bäuerliche Siedlung die Provinzen erfaßt hatten. Mir ist bekannt, daß Aubin sowohl wegen seines Interesses für das Germanentum und den germanischen Beitrag zur europäischen Geschichte als auch wegen der Aufmerksamkeit, die er Bauerntum und bäuerlicher Siedlung zuwandte, neuerdings vielfach den Wegbereitern des Nationalsozialismus zugerechnet wird, zumal
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er seine wissenschaftliche Arbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Dienst des Grenzlandkampfes gestellt hat, mit dessen Hilfe Konservative und Deutschnationale die Revision der im Versailler Vertrage festgelegten Abtretung deutschen Bodens namentlich an Polen vorbereiten wollten. Mancher, der so urteilt, weiß sich selbst offenbar erhaben über die Zeitgebundenheit alles erkenntnisleitenden Interesses und immun gegen die Gefahren, die jeder Wissenschaft drohen, sobald sie sich in die möglicherweise korrumpierende Abhängigkeit von Sponsoren begibt. Wenn Aubin, die Einheirat germanischer Zuwanderer in die angesessene römische Bevölkerung ins Auge fassend, gerne von der „Zufuhr neuen Blutes in das ersterbende Altertum“ oder vom „Einfließen der frischen germanischen Blutskräfte in die abgebrauchte römische Provinzialbevölkerung“ spricht, so fällt es mir leicht, diese altmodisch gewordene Metapher von der gemeinten Sache zu unterscheiden und sie durch moderne Redeweisen zu ersetzen. Wer der schon 1960 geäußerten Ansicht von Hans Messmer beipflichtet, in Aubins Vorstellung sei der Blutmythus beinahe zum Tic geworden, der setzt sich gleich Frantisˇek Graus, wenn er vom Germanenrummel spricht, bereits durch die Wortwahl dem Verdacht aus, sich seiner Sache nicht völlig gewiß zu sein. Den Studenten von 1947 bereitete es keine Mühe, Aubins Geschichte des deutschen Bauerntums und Siedlungswesens vom nationalsozialistischen Geschwätz zu unterscheiden, denn Aubin lag jede Umdeutung der Vorgänge ins Rassenbiologische und somit jeder Blutmythus fern. Er sah darin ausschließlich kulturgeschichtliche, von historischen Kausalitäten bestimmte Vorgänge, als die sie die empirische Wissenschaft auch heute noch zu behandeln hat. Was aber der Eintritt der germanischen Völker in die Geschichte des europäischen Weltteils bedeutet und welche Neuerungen die Germanen zu dessen materieller und geistiger und speziell zur politischen Kultur beigetragen haben, diese Frage bewegt die europäische Philosophie seit den Tagen des Humanismus und der Aufklärung, die den Untergang des Mittelalters sahen, und zu Recht hat Aubin darauf beharrt, daß sich jeder mit ihr beschäftigen müsse, der in dem Studium der Geschichte mehr sucht als eine oberflächliche Erinnerungskultur. Ich sehe in dieser Frage einen der härtesten Prüfsteine für jeden Menschen, der sich von dreitausend Jahren überschaubarer Geschichte wirklich Rechenschaft geben will. Mich hat sie seit meiner Studienzeit immer wieder gefesselt, aber alle meine Versuche, in der Weltgeschichte irgendetwas mit der römisch-germanischen Konstellation Vergleichbares zu entdecken, sind erfolglos geblieben. Weder die weitausgreifenden Umvolkungen, denen die chinesische Nation ihre Größe, das „Reich der Mitte“ seine universalen Ausmaße und die fernöstliche Kultur ihren Reichtum verdankt, noch das Zusammenleben unzählbarer autochthoner und zugewanderter Völker auf dem indischen Subkontinent, noch die eruptive, den mediterranen Weltteil bis hin zum Hindukusch und zum Atlantik überschichtende Schöpfung des arabisch-muslimischen Weltreichs haben etwas Ähnliches hervorgebracht. Was mir die Überlegungen und Untersuchungen zu diesem Thema im Laufe vieler Jahre an Belehrung erbrachten, das habe ich in einem Buche mit dem Titel „Die
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griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters“ zusammengetragen, welches, wie ich hier mit Vergnügen auszusprechen Anlaß finde, nur dank dem nicht alltäglichen Interesse ans Licht der Öffentlichkeit getreten ist, das der Kollege Michael Borgolte der vergleichenden Betrachtung europäischer Geschichte und dem Beitrag, den ich dazu zu leisten vermochte, entgegenbrachte und entgegenbringt. Dies geschah am 28. Mai 2001 in den Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin in einer Veranstaltung, deren ich in Dankbarkeit für eine schwerlich verdiente, auf jeden Fall aber unerwartete Anerkennung gedenke. Dem Buche ist auf freundlichen Wunsch des Herausgebers ein Nachwort beigegeben, in dem ein Bericht über das spezielle verfassungsgeschichtliche Interesse zu finden ist, das mich bei der Erhellung der römisch-germanischen Konstellation geleitet hat. Ich will dies hier nicht wiederholen, sondern lediglich noch einmal die Überzeugung aussprechen, daß in der vergleichenden Erforschung des römischen und germanischen Rechtsdenkens eine der größten Entdeckungen auf uns gekommen ist, die dem europäischen Historismus jemals geglückt sind, einer Entdeckung freilich auch, die nur einer durch die sprachliche Kultur des Neuhumanismus ermöglichten Gelehrsamkeit gelingen konnte und die mit dem Dahinschwinden dieser Grundlage unseren Händen wieder zu entgleiten droht. Sie mag hier zusammengefaßt werden mit Worten, die im Jahre 1864 Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795 – 1877) drucken ließ, zu einer Zeit, da er als lebendiges Recht in Deutschland ein aus römischer und germanischer Wurzel erwachsenes, jedoch in vier Jahrhunderten zur Selbständigkeit gelangtes Recht vorfand, dessen die Entfaltung zum Rechtssystem leitende Ideen, wie er meinte, nur aus der geschichtlichen Entwicklung heraus begriffen werden konnten. Denn bei Römern und Germanen hatte der Rechtsbegriff auf ganz verschiedenen Weltanschauungen beruht, deren Gegensatz er am klarsten in der römischen Scheidung von öffentlichem und privatem Recht und in der einheitlichen Auffassung des Rechts bei den Germanen hervortreten sah. Denn jene erlaubte es den Römern, das Zivilrecht auf die Willensmacht des Einzelnen und damit auf einen nie wieder überbotenen juristischen Individualismus, das Staatsrecht dagegen auf einen ebenso radikal den Einzelnen der Gesamtheit unterordnenden Kollektivismus zu begründen, wogegen das germanische Recht nicht nur mit genossenschaftlichem Kollektivismus in den Rechtsbeziehungen zwischen den Einzelnen, sondern auch mit subjektiven Rechten des Individuums im Staats- und Verfassungsrecht vertraut und ohne die Einheit beider Sphären nicht denkbar war. Diese so verschiedenen und von so verschieden begabten Völkern unter verschiedenen geschichtlichen Umständen durchgeführten Rechtsauffassungen erforderten es bei Untersuchung des Mittelalters, der germanischen Geistesströmung und ihrem diametralen Gegensatz zur römischen Denkweise nicht nur des Rechtes überhaupt, sondern auch des Rechtsstreites im besonderen Rechnung zu tragen. Gerichtsverfassung und -verfahren, meinte Bethmann-Hollweg, seien nichts einem Volke Äußerliches, wie etwa Posteinrichtungen oder andere technische Vorkehrungen, sondern stünden in engstem Zusammenhange mit seiner Staatsverfassung und dem Zustande seiner Rechtsquellen.
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Der Richtigkeit dieses unter anderen von dem Germanisten Heinrich Brunner (1840 – 1915) bekräftigten Urteils („die Einrichtungen des Staates und des Prozesses stehen in engstem Zusammenhange, letztere bieten ein getreues Spiegelbild der ersteren“) habe ich mich um so weniger entziehen können, als es gerade Heinrich Brunners Forschungen zur Geschichte des römisch-fränkischen Urkundenwesens gewesen sind, die den oben erwähnten Aufschwung der Urkundenforschung in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ermöglichten. Neuerdings, im Jahre 1995, hat François Bougard es noch einmal bestätigt: In der Gerichtsbarkeit finde sich „der harte Kern der Regierungssysteme des hohen Mittelalters“, denn weil sie, soweit es möglich war, der Fehde vorbeugte, gewährte sie eine gewaltfreie Lösung von Konflikten. „Elle est une reconnaissance de l’autorité: accepter le jugement du roi ou de son représentant est une obligation autrement plus concrète que la prestation, fût-elle régulièrement renouvellèe, d’un serment de fidelité.“ Wie die Begriffe Germanismus und Romanismus von der vergleichenden Erforschung der europäischen Sprachen und Rechte definiert worden sind, so haben sie noch heute nur im Rahmen der Sprach- und Rechtsgeschichte einen bestimmten, und wie ich meine, nicht nur berechtigten, sondern sogar notwendigen Sinn. Das mögen diejenigen bedenken, welche meinen, den Gebrauch, den Hermann Aubin davon machte, kritisieren zu müssen. Mich dünkt, sie könnten sich der empirischen Wahrheit seiner Ansichten um so erfolgreicher erwehren, je strenger sie sich einer genaueren Kenntnis der lateinischen und altdeutschen Sprache, jeden Studiums des römischen Rechts und jeder Kontamination ihres Denkens mit der philologischhistorischen Methode enthielten. *** Während des Studiums lernte ich in den Jahren 1947 bis 1953 das Problem der deutschen Verfassungsgeschichte in Gestalt des Gegensatzes zwischen den Lehren von Hermann Aubin und Otto Brunner kennen. Die erstere war damals bereits vier Jahrzehnte alt und zu einer Zeit entworfen, da sich trotz aller Fortbildung und damit Wandlung der von Georg Waitz gelegten Fundamente eine communis opinio eingestellt hatte, von der Aubin bei seinen auf die niederrheinische Landesgeschichte gerichteten und deren Quellen bis in die Neuzeit hinab ausschöpfenden Forschungen als hypothetisch festem Boden hatte ausgehen können. Deren Ergebnisse hielt er im ganzen auch jetzt noch für gesichert. In der neueren Literatur dagegen beobachtete er ein tiefgehendes Gegen- und Durcheinander von Anschauungen, die er als noch sehr der Abklärung bedürftig wahrnahm, und zwar durch Forschungen, die nach seiner Meinung bis in die germanischen Ordnungen hinabsteigen müßten. Zu dem Buche von Otto Brunner pflegte er sich nach meiner Erinnerung nicht besonders zu äußern; ich lernte es in Gesprächen mit Rudolf Buchner kennen, der mir auch dabei behilflich war, ein Exemplar der dritten Auflage von 1943 zu erwerben. Erst in Jahrzehnten und nach mehrfachem Studium sowohl des Buches als auch der darin verwandten Quellen gelangte ich selbst zu einem einigermaßen gut begründeten Urteil über Brunners Lehre.
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Was ich von ihr akzeptieren konnte, hat in der Verfassungslehre an seinem Orte Verwendung gefunden; dazu gehören insbesondere die Beobachtungen über das Wesen der Länder, wie es die Quellen seit dem 12. Jahrhundert erhellen, nämlich als Genossenschaften in Otto Gierkes Sinne oder als Verbände von Personen, die gemeinsam siedelten und rodeten und gemeinsam einem bestimmten, von ihnen selbst überlieferten und fortgebildeten Rechte nachlebten (oben: §§ 213 – 216). Es dürfte richtig sein, daß diese beiden Merkmale ein Land kennzeichneten, nicht aber das Vorhandensein eines Landesherrn, wenn sich auch nur ausnahmsweise einmal Länder ohne einen fürstlichen Herrn auf Dauer zu behaupten vermochten und die Politik dieser Herren häufig imstande war, ältere Land- und Gerichtsgemeinden zu neuen Ländern zusammenzufassen: Von der Landeshoheit her kann das Wesen des Landes nicht erklärt werden. Ich stimmte Brunner auch insofern zu, als er die herrschende Lehre für einseitig erachtete, soweit sie die Landeshoheit aus öffentlichen Rechten herleiten wollte, die letzten Endes von der fränkischen Königsgewalt abstammten, denn diese Lehre läßt den Anteil außer Acht, den die Untertanenverbände der Grafschaften und Immunitätsbezirke an der Formierung der Länder gehabt haben müssen. Als besonders wichtig erschien mir daher die Beobachtung, daß zwar im lateinischen Sprachgebrauch des 12. Jahrhunderts das Wort provincia unüblich und durch terra ersetzt wurde, daß sich damit aber nur die Übersetzungssitte änderte, nicht jedoch der ihr zugrundeliegende deutsche Sprachgebrauch, der sich nach wie vor der Worte Volk und Land alternativ bediente und beider Sinn miteinander identifizierte. Der Identität der Worte aber muß eine solche der Sache vorangegangen sein, und diese tritt am Ende des Mittelalters nur in neuer Gestalt hervor, wenn das Land durch den Mund der Stände mit seinem Herrn verhandelte und dabei die Stände nicht als Repräsentanten des Landes, sondern als es selbst oder mit ihm identisch auftraten. Schwierigkeiten dagegen bereitete mir die Art und Weise, wie Brunner die Fehde behandelte, um sie zum Grundstein seines Lehrgebäudes zuzurichten. Gewiß bestätigte sie auf ihre Weise die alte Auffassung von der engen Verwandtschaft des Prozesses mit der Verfassung des Gemeinwesens überhaupt; als verfehlt aber sehe ich es an, ein einziges verfahrensrechtliches Institut aus dem Gesamtzusammenhange der gerichtlichen Prozeduren herauszulösen, und falls ich in dem oben gegebenen Referat der Brunnerschen Fehdelehre die Epitheta subjektiv und objektiv zu den Nomina Recht und Gesetz in zutreffender Weise hinzugefügt habe, so sieht man nicht nur, wie wenig neu Brunners Auslegung der Quellen war, sondern auch, wie sehr die ältere Auffassung der öffentlichen Funktion der Fehde als vorsozialer, vorrechtlicher und vorstaatlicher Erscheinung und als zu überwindender Etappe urzeitlicher Zustände berechtigt ist. Schon Heinrich Mitteis hatte in einer umfangreichen Rezension des Brunnerschen Buches in der Historischen Zeitschrift von 1941 darauf hingewiesen, wie fragwürdig die These wäre, daß „in der Beseitigung der Fehde . . . eine totale staatliche Umwälzung erblickt werden“ müsse, da in ihrer Zulassung „keine grundsätzliche Verneinung des Staates lag, . . . auch wenn sie
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sich gegen den Staat selbst richtete; gab es doch auch immer Klagen gegen den Staat.“ Nicht recht befreunden konnte ich mich auch mit der adelsherrschaftlichen Auffassung der Verfassungszustände, die aus der Begründung der Verfassungslehre auf das Fehde- und Gewaltmonopol des Adels folgte und gleichzeitig von anderen Neuerern, vor allem von Heinrich Dannenbauer, derart auf das frühe Mittelalter übertragen worden war, daß schon die Grundlagen der ältesten Verfassung als wesentlich herrschaftlich und kaum noch genossenschaftlich geprägt erschienen. Seit Otto Brunner redete zwar niemand mehr vom Staate des Mittelalters, weil dies nun als Anachronismus galt, doch hatte bereits der Rezensent Mitteis gerügt, daß Brunner seinen Staatsbegriff durchaus im Dunkeln belassen habe, obwohl es, nachdem er die Länder als Genossenschaften im Gierkeschen Sinne bestimmt hatte, nahegelegen habe, mit Gierke den konkreten, historischen Begriff des dualistisch verfaßten Landes von dem Staatsbegriff zu unterscheiden, der eine Stände und Landesherrn umgreifende höhere Einheit und damit die Wurzel der Souveränität des mittelalterlichen Staates bezeichnen sollte. Gehör fand Mitteis mit dieser Erwägung nicht. Statt dessen interessierten nun vornehmlich die Formen adliger Herrschaft, der gegenüber dem Volke nur eine passive Rolle zufallen konnte, nämlich die des Trägers von Mentalitäten und Verwalters von rechtlichem Brauchtum. Die Gestaltung der neuen Verfassungsformen und Rechtsinstitute hätte das Volk demnach ganz der adlig-fürstlichen Herrschaft überlassen. Ich jedoch konnte nicht begreifen, wie ein allen Ständen gemeinsames deutsches Recht unter solchen Umständen hätte entstanden sein können. Meine Auffassung vom Ursprung des Rechtes aus der im Gewissen der Menschen verankerten Sehnsucht nach Gleichheit und Frieden und von der Funktion des Rechtes als Bürgen für deren Bewahrung war mit den Konsequenzen jener Ansicht nicht vereinbar. Darin, daß Otto Brunner die Verfassungsgeschichte, deren Theorie er in „Land und Herrschaft“ entwickelte, nicht mehr selbst geschrieben, sondern sich in seinen späteren Arbeiten der Wissenschafts- und Sozialgeschichte zugewandt hat, sehe ich einen Beweis dafür, daß seine Verfassungslehre falsch war und daher mehr zur Tötung als zur Erneuerung der Verfassungsgeschichte beigetragen hat. Die richtige Theorie dagegen wird ausgehen müssen von dem Institut, mit dessen Schilderung Brunner seine Überlegungen in unangebrachter Kürze ein Ende finden ließ, nämlich mit dem auf Bildung eines Konsenses über Rechtsfragen gerichteten Verhandeln zwischen und Zusammenwirken von Landesherrn und Landesvolk, denn dieses Institut regelt ein Verfahren, das sowohl dem fränkischen Gerichtsverfahren als auch der politischen Willensbildung eigentümlich war und jenem dinggenossenschaftlichen Prinzip entsprach, das bereits die von Brunner getadelten älteren Rechtshistoriker gekannt hatten, auch wenn ihm erst der Rechtssoziologe Max Weber den einprägsamen Namen gab. Zu Weber bemerkte Brunner übrigens in einer wichtigen Anmerkung am Schluß des zweiten Kapitels, die er in der vierten Auflage von 1959 sogar in den Text aufrücken ließ, daß er dessen wissenschaftliches Werk in die eigene Auffassung „nur mehr teilweise“ hatte einordnen können.
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Wenig behagte mir auch die Reduktion der Verfassungsgeschichte auf Sozialund Politikgeschichte und damit auf eine bloße Seinswissenschaft, da sie dem sei es wachen, sei es verkümmernden Gewissen und Rechtsgefühl der Menschen, welchem ich einen wesentlichen Einfluß auf den Gang der Geschichte zuschreiben möchte, lediglich die Nebenrolle eines Mentalitätsproblems und einen Platz in den Kulissen des Welttheaters einräumte. Für mein Empfinden verliert der Verfassungsbegriff, wenn man ihn so weitgehend von dem Rechtsgedanken ablöst, zu viel an Bestimmtheit und gewiß mehr, als er es „auch im allgemeinsten Verstande ertragen kann“, wie Dietmar Willoweit im Jahre 1990 schrieb. Am radikalsten verfolgte die marxistische Wissenschaft diese Eliminierung des Rechtsgedankens aus den historischen Vorgängen. Auf ihrem Boden stehend, prägte Eckhard Müller-Mertens 1980 den Begriff der Herrschaftspraxis, dessen sich seither viele Historiker bedienen, um, aus welchen Gründen auch immer, das Wort Verfassung zu vermeiden. Ebenso enthielt sich 1986 Frantisˇek Graus jeder Verknüpfung der sozialen Zustände mit den Vorstellungen des Mittelalters vom Recht. Rätselhaft bleibt dem Leser daher namentlich sein Gewaltbegriff, da er offensichtlich nur die unrechte Gewalt oder den Raub betrifft, ohne daß Graus uns mitteilt, ob es daneben auch eine rechtmäßige Gewalt gab und in welchen Formen sie ausgeübt wurde. Ich dagegen hatte stets mit Heinrich Mitteis dafürgehalten, daß gerade das Mittelalter, so unverhüllt auch der Machttrieb in seiner Geschichte immer wieder hervortritt, doch die Idee einer umfassenden Rechtsordnung niemals aufgegeben hat, daß kein mittelalterlicher Schriftsteller es für denkbar oder möglich hielt, Macht und Recht voneinander zu trennen; vielmehr sollte die Macht überall auf das Recht begründet sein, da jedes für sich unwirklich bleiben müsse, das Recht ohne Macht als bloße Idee, die Macht ohne Recht aber als Gebilde ohne Dauer und Bestand. Äußerste Unsicherheit über den Zusammenhang zwischen dem Rechtsgefühl der Individuen, deren Kämpfen um das Recht und der allgemeinen Anerkennung von Regeln und Gesetzen verrät Graus’ Bemerkung über Fritz Kern (1884 – 1950, oben: §§ 40 – 46, 704 – 708): „Er setzte dieses Recht einem vermeintlichen Volksempfinden gleich, ohne Rücksicht darauf, daß es einen solchen Konsens in der Vergangenheit nur sehr begrenzt und nur in gewissen Bereichen gab. In vielerlei Hinsicht sind in den einzelnen Epochen widersprüchliche Ansichten auf das Recht und die Rechtmäßigkeit festzustellen, und das Postulat eines einheitlichen Volksempfindens gehört in das Reich der Fabel.“ Zwar registriert Graus zustimmend die neuere, namentlich von Karl Kroeschell formulierte rechtsgeschichtliche Kritik an der neuen verfassungsgeschichtlichen Schule, die den „Ansatzpunkt aller Kontinuitätsthesen, das Postulat eines einheitlichen, über der Gesellschaft schwebenden Rechtes,“ grundlegend erschüttert habe, aber daß Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte diese substanzielle Vorstellung vom Recht längst durch eine dynamische oder funktionale ersetzt haben, die den sozialen Konsens nicht mehr als etwas ein für allemal Gegebenes, sondern als ein im Streite der Interessen und Rechtsauffassungen immer wieder neu zu gewinnendes und immer wieder in Frage
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gestelltes Resultat auffaßt, davon ist bei Graus nirgends die Rede, gleichsam als ob das Bemühen mittelalterlicher Politiker und Versammlungen um einen Konsens unter den Interessenten niemals Erfolg gehabt hätte! Gleichwohl erkannte auch Graus eine Aufgabe an, die am besten die Verfassungsgeschichte lösen könne, nämlich die Analyse allgemeiner, die politischen Kleingruppen übergreifender Phänomene wie Volk, Freiheit, Recht, Macht, Herrschaft, Gewalt oder Staat, denn wenn auch „die alte Auffassung von einer Einheitlichkeit des mittelalterlichen Rechtes nicht mehr zu halten ist,“ so seien „doch gleichzeitig allgemeine Rechtsvorstellungen irgendeiner Art vorhanden“ gewesen. Darüber hinaus der Verfassungsgeschichte auch die Frage nach der Funktion, den Institutionen und der Entwicklung mittelalterlicher Rechtserzeugung zuzuweisen, so weit wollte Graus jedoch nicht gehen. So kommt es, daß er, obwohl er die Interessen, die Otto Brunners Suche nach Erkenntnissen leiteten, in keiner Weise teilte, doch keinen Schritt über ihn hinausgelangte. Ebenso wenig wie Brunner wollte er sich auf den Gedanken einlassen, daß aus den freilich weder unfehlbaren noch untrüglichen individuellen Gewissen bestimmte Normvorstellungen eines Volkes zu entstehen pflegen, die die Gestalt seiner staatlichen Verfassung wesentlich mitbestimmen. Damals und noch auf lange Zeit hin ratlos angesichts der kontroversen Diskussionen über Königsgewalt und Landesherrschaft, wandte ich mich in meiner Dissertation einem Thema aus der Geschichte des deutschen Bürgertums und Städtewesens zu, denn auch auf dem Boden der heranwachsenden Städte hatte das hohe Mittelalter bedeutsame Neuerungen im Verfassungs- und im Privatrecht geschaffen, und zwar als Schöpfungen einer Bevölkerungsschicht, die es in den älteren Zeiten noch gar nicht gegeben hatte. Im Gegensatz zur adelsfreundlichen Gesellschaft des frühen Mittelalters, deren Genossenschaften sich vorzugsweise unter monokephaler Führung konstituierten, hielten sich die Stadtleute, auf die ich nun den Blick richtete, nach Möglichkeit an die herrschaftsfreien Formen, die ihnen das germanisch-deutsche Einungsrecht ebenfalls zur Verfügung stellte. Hier traf ich Politik und Rechtsbildung wirklich als Veranstaltungen des Volkes an, das sich von Herrengewalt nicht wesentlich beeinflussen ließ, auch wenn es mit ihr fast überall – am wenigsten noch im niederdeutsch-hansischen Gebiet – in beständigen Konflikten lebte. Derartige Rechtsschöpfungen des Volkes aber hatten in dem Buche von Otto Brunner gar keine Rolle gespielt und dies nach der von Brunner gewählten landesgeschichtlichen Themenstellung auch gar nicht tun können. Die Dissertation von 1952 trug den Titel „Die schriftliche Verwaltung der Reichsstadt Lübeck vom 13. bis 15. Jahrhundert. Beitrag zur Begründung einer Aktenkunde des Spätmittelalters“; sie ist im Jahre 1959, verbunden mit gleichgerichteten Studien über Köln und Nürnberg, unter dem Titel „Schrift- und Aktenwesen im Spätmittelalter. Beitrag zur vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde“ im Druck erschienen. Was die Aktenkunde anlangt, so kam es mir darauf an, die Erforschung der Quellen zur städtischen Geschichte in derselben Weise mit der Geschichte der
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Stadtverwaltung zu verbinden, wie die Diplomatik seit langem mit der Verfassungsgeschichte des hohen Mittelalters zusammenarbeitete, denn da jene Quellen von Beamten erzeugt worden waren, die die Gemeinden eingesetzt hatten, läßt sich ihre äußere und innere Beschaffenheit nur aus den Möglichkeiten und Bedürfnissen erklären, denen jene Amtleute und die städtische Verwaltung überhaupt zu genügen hatten, genauso, wie sich Form und Inhalt von Urkunden nur von der Funktion her erklären lassen, welche die Reichsverfassung den Kanzleien zuwies, deren Notare die Diplome verfaßten. Was aber die vergleichende Städteforschung betrifft, so erwies sich der seit dem 13. Jahrhundert stetig zunehmende Gebrauch der Schrift in der Stadtverwaltung als ein unentbehrliches Hilfsmittel der Stadträte bei dem Vorhaben, die Leistungen der Gemeinde zugunsten der Wohlfahrt sowohl des einzelnen Bürgers als auch der Gesamtheit zu steigern. Von diesem Vorhaben her schien mir ein neues Licht auf die Entstehung der Ratsverfassung zu fallen. Denn in allen drei Städten, die ich untersuchte, sind dem Rate ältere, freilich nur in Köln deutlicher erkennbare Kommunalbehörden eines archaischen, dem älteren deutschen Genossenschaftswesen eigentümlichen Typus vorangegangen, deren administrative Leistung vergleichsweise gering war, da sich die Verfassung der regierenden Kollegien weniger an deren Pflichten als an dem Bedürfnis orientierte, alle Mitglieder der Behörde gleichmäßig, wenn auch nur auf kurze Frist, an den amtlichen Diensten, auf Lebenszeit jedoch am Genuß der damit verbundenen Einkünfte zu beteiligen. Die Ratsverfassung dagegen führte nicht nur die regelmäßige Rückwahl der Ratsherren in den sitzenden Rat und damit eine raschere Akkumulation politischer und administrativer Erfahrung in der Behörde ein, sondern auch eine Verteilung der Aufgaben unter den Ratspersonen nach den Prinzipien der Annuität und Kollegialität, die die Leistungsfähigkeit der Stadtverwaltung vervielfachte, ihre Tätigkeit kontrollierbar machte und zu diesem Zwecke die kontinuierliche Aufzeichnung der Verwaltungsakte beförderte. Ziemlich ratlos wiederum nahm ich allerdings die gelehrte Diskussion um die Entstehung der Ratsverfassung zur Kenntnis. Allgemein galten die italienischen Konsulate als Vorbilder, denen die deutschen Städte gefolgt sein sollten, wobei meistens die Frage offenblieb, ob mit den Heeren der Staufer nach Italien gezogene Bürger sie in ihrer Heimat nachgebildet hätten oder ob, wie 1954 Hans Planitz vermutete, Kaiser Heinrich VI. in den Bischofsstädten am Rheine Selbstverwaltungskörper in der italienischen Rechtsform eingerichtet habe. Meine Erkenntnisse dagegen ließen eine Übertragung fremder Verfassungsformen auf längst bestehende und nach deutschem Rechte gebildete bürgerliche Genossenschaften als ziemlich unwahrscheinlich erscheinen; gegenüber dem Willen der Bürgergemeinde, dachte ich, habe der Wille des Königs in dieser Sache schwerlich etwas ausrichten können. Die Entscheidung darüber, ob man die Frage so oder so beantwortet, hängt aufs engste damit zusammen, ob man den Rat für von der Bürgerschaft abhängig hält oder ihm eine selbständige obrigkeitliche Stellung ihr gegenüber beilegt, aber dar-
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über hatte ich fast nichts in Erfahrung bringen können. Ich weiß nicht mehr zu sagen, ob ich bereits ahnte, daß die Lösung dieser Probleme nur aus gründlicher Beschäftigung mit dem germanisch-deutschen Einungs- und Genossenschaftsrecht gewonnen werden könne, gewiß aber fühlte ich mich nicht imstande, sie in Angriff zu nehmen. Schon die Notwendigkeit, Gierkes dreieinhalbtausend Seiten starkes Genossenschaftsrecht durchzulesen, wird mich davon abgeschreckt haben. Ich hatte den ersten Band zwar benutzt, das Ganze aber überschaute ich nicht, und daher wußte ich noch nicht, daß Gierke die Institution der Einung lediglich insoweit behandelt hatte, als sie es Männern ermöglichte, Personenverbände zu begründen, daß er jedoch ihre Bedeutung für das politische Leben und die öffentliche Willensbildung der Gemeinden und damit den wesentlichen Teil ihrer Rechtsgeschichte nicht erörtert hatte. Erst drei Jahrzehnte später fand ich Anlaß und Muße, um mich in sein Werk als Ganzes zu vertiefen und um festzustellen, daß die von ihm hinterlassene Lücke in unserem Wissen über Stadtgemeinde und Stadtverfassung immer noch nicht geschlossen war. So regten sich, als ich 1953 die Universität verließ, in meinem Kopfe mehr Fragen als Antworten zu den verfassungsgeschichtlichen Problemen, die uns, wie die Kontroverse zwischen Hans K. Schulze (1973) und Michael Borgolte (1984) betreffend die Grafschaftsverfassung zeigt, heute noch in demselben Zustande vorliegen wie damals, und ich sah keinen bestimmten Weg vor mir, auf dem das Ziel hätte erreicht werden können, die einander widersprechenden Lehrmeinungen miteinander zu versöhnen und damit die Verfassungsgeschichte wieder auf das Fundament gesicherter Hypothesen zu gründen. Daß ich dorthin nicht auf den Pfaden landesgeschichtlicher Forschung, namentlich nicht auf denen, die damals der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte beschritt, gelangen würde, dessen war ich mir bereits sicher, als ich mich im Jahre 1967 bei dem Landeshistoriker Hans Patze (1919 – 1995) in Gießen mit einer Abhandlung über „Landeskulturtechnik, Markscheide- und Vermessungswesen im Herzogtum Braunschweig bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“ für das Fach Mittelalterliche Geschichte und Landesgeschichte habilitierte. Wenn ich schließlich, am Ende meines Lebens, einen Weg zu jenem Ziele gefunden zu haben glaube, so kann ich nicht sagen, er habe sich allein infolge rationaler Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze auf den Stoff und seine Probleme oder im Wechselspiel von Versuch und Irrtum vor mir aufgetan, denn auch der Zufall meiner Lebensumstände hat dabei eine Rolle gespielt, und nur deswegen, weil ich mit Glück die Themen aufgriff, die mir der Zufall derart zuwarf, daß sie zugleich meiner Neugierde Nahrung boten und sich nach den mir offenstehenden Möglichkeiten zu wissenschaftlicher Arbeit bewältigen ließen, ist es mir beschieden gewesen, Fortschritte zu machen, die sich im Rückblick wie Abschnitte eines geradlinigen Weges ausnehmen mögen. *** Im Jahre 1953 vermittelte mir Hermann Aubin den Auftrag der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, im Rahmen des
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elften Bandes der „Deutschen Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit“ die Zolltarife der Stadt Hamburg zu bearbeiten. Obwohl sich dieser Auftrag auf wirtschafts- und handelsgeschichtliche Erkenntnisse richtete, stellte er mich auch vor verfassungsgeschichtliche Probleme, weil diejenigen Zölle, welche die Stadt Hamburg seit dem Ende des 13. Jahrhunderts neu aufzulegen sich genötigt sah, nicht auf der reichsrechtlich notwendigen Regalverleihung durch den König beruhten, sondern von der Stadt im Zusammenhange mit der Ausbildung ihrer Stromhoheit auf der Niederelbe via facti hatten durchgesetzt werden müssen. Ich hatte es hier mit einem Sonderfall in der Ausbildung von Landeshoheit zu tun, wobei sowohl das Verhältnis einer Stadtgemeinde zu ihrem Landesherrn als auch dasjenige beider zusammen zum deutschen Könige problematisch waren. Die Beschäftigung mit diesen Rechtsfragen ließ sich nicht umgehen, weil sie insofern Folgen für die Gestaltung der Tarife gehabt hatten, als sie die Stadt Hamburg nachhaltig daran hinderten, die Tarife dem Wandel der Warenwerte und der Münzsorten anzupassen. So hatte ich zum ersten Male selbst mit der problematischen Rechtsgeltung königlicher Privilegien zu ringen, die zwar von dem Petenten und Nutznießer als rechtmäßig verteidigt, von Dritten dagegen als erschlichen angegriffen wurden und daher der Gefahr ausgesetzt waren, vom königlichen Aussteller widerrufen und kassiert zu werden. Am 8. Juni 1628 nämlich hatte die Stadt Hamburg von Kaiser Ferdinand II. die Bestätigung der tatsächlich von ihr ausgeübten Zollrechte erlangt, nachdem sie ihm im einzelnen dargelegt, daß sie den Zoll aus alter Gewohnheit zu Recht besitze und in ihren Privilegien seit jeher vom Reiche derart bestätigt worden sei, daß sie daneben keiner speziellen Zollbestätigung bedürfe; nur deswegen, weil sich einige wenige ausländische Kaufleute dem Zoll widersetzten, sei sie genötigt, eine solche zu erbitten. Zu meiner Verwunderung traf ich im Archiv des Senates zu Hamburg nicht nur die Ausfertigung dieses Privilegs an, sondern auch ein Dutzend säuberlich von der Reichskanzlei auf Pergament ausgefertigte und vollzogene Mandate, die der Kaiser an niederdeutsche Kur- und Fürsten adressiert hatte, um ihnen die Beachtung der hamburgischen, vom Reiche anerkannten Zollrechte zu befehlen. Warum aber befanden sich diese Mandate im Staatsarchiv zu Hamburg, warum waren sie nicht in die Archive der Adressaten gelangt? Der Verdacht drängte sich mir auf, daß die Reichskanzlei weder imstande noch verpflichtet war, derartige Mandate, die die in dem Privileg ausgesprochene Verfügung wiederholten, von Amts wegen den Adressaten zuzustellen, und daß diese ihrerseits als betroffene Dritte jene fremden Kaufleute zu beschützen hatten, welche die hamburgischen Zölle nicht bezahlen wollten, weil sie sie mitsamt der hamburgischen Elbhoheit für rechtswidrig hielten. Die Zustellung mußte das Reich vielmehr dem Begünstigten selbst überlassen haben, der gewiß auch die Ausfertigung der Mandate betrieben und dafür die zweifellos erklecklichen Kanzleigebühren entrichtet hatte. Ich konnte indessen diesen Verdacht nicht erhärten, da die darauf bezügliche Korrespondenz des Senats mit seinem Procurator beim kaiserlichen Hofe nicht erhalten geblieben ist. Aus Gründen, die ich daher nicht erkennen konn-
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te, mußten die Hamburger es für unzweckmäßig gehalten haben, die Mandate zuzustellen. Gewiß argwöhnten sie, daß die Adressaten sich weigern würden, die Mandate aus ihrer Hand entgegenzunehmen, um sie nicht damit als verbindlich anzuerkennen, wie denn schon im Jahre 1630 der König von Dänemark und Herzog von Holstein das hamburgische Zollprivileg als erschlichen und somit ungültig bezeichnete und acht Jahre später der Herzog von Braunschweig-Lüneburg in Celle den Kaiser darum ersuchte, es zu kassieren, da es den Rechten seines Hauses präjudizierte. Auch gibt es keinen Beweis dafür, daß der Senat gewagt habe, das kaiserliche Diplom wenigstens in der eigenen Stadt zu publizieren, da er es auch damit fremdem Widerspruch ausgesetzt hätte. Da ich dies alles nicht erklären konnte, sah ich mich lediglich dazu imstande, die Vorgänge zu regestieren, wobei ich sogar, um Weitläuftigkeiten zuvorzukommen, die Mandate unerwähnt ließ, aber die Frage, in welchem Sinne das Privileg vom 8. Juni 1628 rechtskräftig gewesen sei, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen, ergab sich doch aus der Routine der Vorgänge, daß der Fall keineswegs einmalig, sondern den Juristen der Zeit etwas ganz Gewöhnliches war. Die Schlüsse, die daraus zu ziehen waren, mußten also auf das Privilegienwesen des alten Deutschen Reiches und seines Königtums überhaupt zutreffen. Unversehens war ich auf eine Erscheinungsweise der mittelalterlichen königlichen Gewalt gestoßen, die Georg Waitz zwar bereits als bedeutsam erkannt, über die er aber nicht mehr zu sagen gewußt hatte, als innerhalb seines mehrere tausend Seiten zählenden Werkes im sechsten Bande auf Seite 617 bis 621 zu lesen ist. Eine Verknüpfung zu der beschränkten Gültigkeit königlicher Immunitätsprivilegien, die, wie oben berichtet, von Hermann Aubin erwiesen worden war, stellte ich damals noch nicht her. Wohl aber prägte sich meinem Gedächtnis die Rezension ein, die Ulrich Stutz im 52. Bande der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (germanistische Abteilung) im Jahre 1932 einer Abhandlung des Schweizer Archivars Traugott Schieß über „Die Gültigkeit königlicher Privilegien und de(n) Schwyzer Freiheitsbrief“ gewidmet hatte und die mir der Zufall im Jahre 1967 unterbreitete, denn darin fand ich ausgesprochen, daß die Frage der Gültigkeit königlicher Privilegien bisher nur aufs Geratewohl hin beantwortet worden sei und daß die gelehrte Welt auf einen Rechtshistoriker wartete, der „endlich auf Grund umfassenden Quellenstudiums und mit sicherer Beherrschung sowohl der Urkundenlehre als auch des mittelalterlichen, des deutschen und des kanonischen, aber auch des römischen Rechtes sich daran macht, uns eine ,Rechtsgeschichte des Privilegs‘ oder besser ,eine Geschichte des Rechtes im Zeitalter des Privilegs‘ zu schreiben.“ Diese Aufgabe zu übernehmen, dazu konnte ich mich nicht berufen fühlen; davon aber, daß es ohne eine Beschäftigung mit dem römischen Recht nicht möglich sein würde, wenigstens Beiträge zu ihrer Erfüllung zu leisten, war ich seit der Beschäftigung mit dem Zollrecht des 16. und 17. Jahrhunderts überzeugt, da sich die Kanzlisten und Juristen dieser Zeit in unüberhörbarer Weise der Sprache des ge-
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meinen römischen Rechtes bedienten. Mit dieser Sprache näher vertraut zu werden, fand ich bald darauf Gelegenheit, als meiner Obhut im Staatsarchiv zu Wolfenbüttel – ich stand damals im Archivdienst des Landes Niedersachsen – das Archiv der 1810 aufgehobenen Universität Helmstedt untergeben wurde. Da erregten die Akten eines Prozesses meine Aufmerksamkeit, den die braunschweigische Landesuniversität seit 1745 vor der Justizkanzlei, dem höchsten Gericht des Herzogtums Braunschweig, gegen das Rittergut Groß-Vahlberg geführt hatte, denn in diesem Prozeß spielte das ius archivi eine Rolle, das mir bereits als Argument der Juristen in den Streitigkeiten um die hamburgischen Zollrechte begegnet war, ohne daß ich seine Funktion hatte aufklären können. Aus den Akten ergab sich, wie in den „Beiträge(n) zur Geschichte des Ius archivi“ nachzulesen ist, die im Jahre 1963 im 16. Jahrgang der Zeitschrift Der Archivar veröffentlicht sind, daß das ius archivi dem Gebiete des Zivilprozesses angehörte und einen Grundsatz für die richterliche Würdigung schriftlicher Beweisstücke aufzustellen versuchte: Entstammten nämlich solche Schriftstücke einer Registratur, deren Inhaber des Archivrechtes teilhaftig war, so hätte nach jenem Grundsatze der Richter ihre Echtheit nicht anzweifeln dürfen; bei fehlendem ius archivi dagegen sollte er gezwungen sein, diese entweder gar nicht oder doch nicht ungeprüft vorauszusetzen. Dieses Recht leiteten die Gelehrten aus Kapitel 2 § 2 der 49. Novelle ab, die Kaiser Justinian seinem Codex alter Kaisergesetze hinzugefügt hatte, obwohl sich diese auf die Registerbehörden römischer Städte und auf solche Privaturkunden bezogen hatte, die die Behörden nicht nur beglaubigten, sondern auch selbst in Verwahrung hielten, um sie vor jeder Verfälschung zu schützen. Auf die erst im Mittelalter und aus germanischem Geiste heraus erfundenen Siegelurkunden und auf die daraus von deren Empfängern zusammengesetzten Archive wollte sie gar nicht recht passen, denn diese stellten das genaue Gegenteil zu den Schreinen römischer Behörden dar: Hier befand sich die authentische Überlieferung eben nicht im Besitz des Ausstellers, sondern in den Händen des Begünstigten; daher war sie einer Verfälschung zu dessen Vorteil ohne Schranken preisgegeben, und von dieser Möglichkeit hatte das Mittelalter bekanntlich freimütig Gebrauch gemacht. Da begriff ich, daß die Zeit der großen und für den Historiker so bedeutsamen Urkundenfälschungen als diejenige Periode bestimmt werden kann, die zwischen dem Verfall der spätrömischen Verwaltung nebst ihren Protokollbehörden und dem Wiederaufleben der Ausstellerüberlieferung in den Registerbehörden des Spätmittelalters liegt, und daß man, um sie zu erklären, nicht an abartige Wahrheitsbegriffe oder Mentalitäten des mittelalterlichen Menschen zu glauben, sondern nur des Mangels an bürokratischen Einrichtungen eingedenk zu sein braucht, mit denen die Fälschungen hätten verhindert werden können. Es ist bekanntlich eine offene Frage, ob an der römischen Kurie eine aus dem römischen Registerwesen hervorgegangene Kontinuität in der Ausstellerüberlieferung besteht oder ob die Beamten der Kurie die Ausstellerregistratur im 13. Jahrhundert neu erfunden haben. Zugleich gewann ich eine Anschauung davon, wie das römische Recht als ein Ele-
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ment europäischer politischer Kultur die Spätantike mit dem Mittelalter und der Neuzeit zu einer Einheit zusammenzubinden vermochte. Aus allem, was ich nun über die Widerruflichkeit von Privilegien und den zweifelhaften Beweiswert aller Siegelurkunden gelernt hatte, bildete ich mir eine Vorstellung vom prozessualen Zwecke jener Königsurkunden, um die ein Petent mit rechtlicher Begründung seines Anliegens nachsuchen mußte, die der König auf Grund eines urteilsähnlichen Beschlusses über die Zulässigkeit der Bitte ausfertigen ließ und die von Dritten hernach in einem rechtsförmlichen Verfahren angefochten werden konnten, wenn die Supplikanten sie beim Könige mit unwahren Angaben erworben hatten. Es war ein Verfahren, das von einer Partei, gleichsam als ein Anliegen freiwilliger Gerichtsbarkeit, angestrengt wurde, das sich jedoch, wenn Dritte das Ergebnis anfochten, in ein streitiges Verfahren verwandeln konnte. Was seinen Zweck anlangt, so suchte ich ihn nicht mehr darin, daß der König über den vom Petenten vorgetragenen Einzelfall abschließend zu entscheiden gehabt hätte, da die letzte Entscheidung ja erst im Verfahren vor dem örtlichen Richter fiel, wenn jemand dort die Kassation des Diploms einklagte, sondern eher in der Aufstellung des Rechtssatzes, nach dem der König gegebenenfalls diese letzte Entscheidung getroffen wissen wollte. Diese Vorstellung fesselte mich, denn eingedenk jener alten Lehren, denen zufolge ein enger Zusammenhang zwischen der Verfassung, den Gerichten, dem Prozeß und den Rechtsquellen des mittelalterlichen Staates besteht, glaubte ich mich hier einem zentralen Gegenstande der Verfassungsgeschichte zu nähern. Daraus ergab sich der nächste Schritt, den mich meine Wißbegierde tun ließ. Im Archivdienst war ich mit den Bestrebungen bekanntgeworden, der rechtsgeschichtlichen Forschung die Akten des Reichskammergerichts zugänglich zu machen, die in den Jahren 1821 bis 1925 auf die Archive der deutschen Bundesstaaten aufgeteilt worden waren. Bei der Beschäftigung mit ihnen zeigte sich rasch, daß die zum Inventarisieren erforderliche Bestimmung der streitenden Parteien, ihrer Wohnorte und des anfänglichen Streitgegenstandes nicht hinreichte, um die rechtsgeschichtliche Bedeutung eines Verfahrens erkennbar zu machen, da diese nicht allein von der streitigen Sache, sondern auch vom Verlauf des Prozesses abhängig ist. Oft konnte ich erst aus dessen Fortgang und einer allen Erwartungen widersprechenden Verteilung der Beweislasten ersehen, ob darin etwa Konflikte zwischen deutschrechtlichen Ansprüchen der Parteien und römischrechtlichen Ansichten des Gerichtes eine Rolle spielten oder zu welchen Verschiebungen der Streitsache die Festlegung der Beweispflichten führte. Wenn ferner der Beklagte die Klage für nichtig erklärte, so kam es zu Verhandlungen über die Litiskontestation, deren Argumente und Beweisthemen weit abweichen konnten von der in der Klage aufgeführten Hauptsache, und deren Gegenstand wiederum blieb meistens nicht unbeeinflußt von dem streitbefestigenden Urteil. Ebenso konnten Nebenanträge der Parteien den Prozeß in unerwartete Richtungen lenken, oder es gab um die Beweismittel, etwa die Glaubwürdigkeit von Urkunden und das ius archivi, auf das
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man diese stützte, Auseinandersetzungen, die rechtsgeschichtlich von Interesse sind, ohne doch bei der Inventarisierung der Akten greifbar zu werden. Die Litiskontestation ist eine Institution des ältesten römischen Zivilprozesses, mit der ich bereits als Student in Übungen zur römischen Rhetorik flüchtig bekanntgeworden war; Kaiser Justinian hatte sie zu seiner Zeit wiederzubeleben versucht, und in seinem Gesetzbuch war sie den Romanisten des 16. Jahrhunderts begegnet, die nun einen zweiten Versuch machten, sie wieder in die Praxis einzuführen. Dies alles bewog mich dazu, wenigstens einmal einen Kammergerichtsprozeß vollständig zu analysieren, d. h. jedes in die Akte aufgenommene Schriftstück auf seinen Inhalt und prozessualen Zweck hin zu untersuchen. Ich wählte dazu den ältesten Prozeß, den ich im Staatsarchiv zu Hannover auffinden konnte: einen Rechtsstreit zwischen Bürgern von Hamburg und Lüneburg, in dem bereits die Ratsgerichte zu Amsterdam, Bergen-op-Zoom und Hamburg geurteilt und einer der Beteiligten zum Zwangsmittel der Fehde gegriffen hatte, bevor im Jahre 1525 eine Partei an das Reichskammergericht und die andere an den hansischen Städtetag appellierte. Das im Jahre 1969 veröffentlichte Ergebnis der Untersuchung gewährte mir nicht nur die erhoffte Belehrung über die Reichsverfassung, soweit sie sich im Handeln des Kammergerichts, des Hansetages und der Stadtgerichte widerspiegelte, sondern auch mancherlei Einblick in die Art und Weise, wie die gelehrten Juristen ihre Kenntnisse des gemeinen Rechtes dazu verwandten, die deutschrechtlichen Vertragsverhältnisse und Argumente der streitenden Kaufleute auf Begriffe zu bringen, die zwar den ungelehrten Beteiligten nicht zur Verfügung standen, wohl aber den studierten Richtern die Beurteilung erleichterten. So fühlte ich mich aufs beste auf eine neue Aufgabe vorbereitet, als mir die Niedersächsische Archivverwaltung im Jahre 1967 das Angebot machte, im Rahmen einer dreijährigen Abordnung an das Deutsche Historische Institut in Rom das Repertorium Papst Calixts III. zu erstellen und zu diesem Zwecke Regesten aller im Vatikanischen Archiv befindlichen und auf Deutschland bezüglichen Schriftstücke aus den Jahren 1455 bis 1458 anzufertigen. So bot sich mir die einmalige und gewiß niemals wiederkehrende Gelegenheit, eine der großen Amtsbuch- oder Serienregistraturen des europäischen Mittelalters an einem Orte, wo ich die kontinuierliche Herkunft aus der Spätantike kühn voraussetzte, in eigener zwar gewiß harter, aber um diesen Preis auch ertragreicher Arbeit kennenzulernen. Als ich danach am 19. September 1971 Rom wieder verließ, hatte ich nicht nur das Manuskript des Repertoriums druckfertig abgeliefert (das Deutsche Historische Institut hat es im Jahre 1989 veröffentlicht), sondern auch zur Schriftenreihe des Instituts zwei in den Jahren 1971 und 1972 erschienene Bände beigesteuert, in denen sich die verwaltungs- und rechtsgeschichtlichen Erkenntnisse ausgebreitet finden, die ich während der Archivarbeit gewonnen hatte. Danach wurde die Mehrzahl aller päpstlichen Bullen auf den Antrag eines Petenten oder Supplikanten hin ausgefertigt, daher diese Bullen denselben prozessualen Charakter an sich trugen wie die deutschen Königsurkunden. Dieser Sachver-
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halt schien mir den Gebrauch auszuschließen, den Historiker in der Regel von ihnen zu machen pflegen: als ob nämlich der Papst mit seinen Mandaten frei in die Erhebung von Königen und Bischöfen, in Pfründbesetzungen, Fehden und Konflikte aller Art in ganz Europa habe eingreifen können, obwohl nicht ersichtlich ist, woher ihm jene genauen Kenntnisse des unter den örtlichen Verhältnissen Möglichen zugekommen sein sollten, ohne die niemand ausführbare Befehle erteilen kann. Auf Grund des Studiums der Register stellte sich mir die Frage in einer neuen Form: Wie nämlich konnten der Papst und seine Mitarbeiter die Angaben der Petenten auf ihre Richtigkeit hin überprüfen und sich davor schützen, unwahren Erfindungen aufzusitzen und erschlichene Wohltaten zu bewilligen, die der Supplikant nicht verdient hatte? Die Antwort darauf lautete, daß die auf Supplikation hin gewährten päpstlichen Bullen ihrer rechtlichen Geltung nach Reskripte im Sinne des alten römischen Kaiserrechts waren und daher, wie das im 12. und 13. Jahrhundert nach dessen Normen gebildete kanonische Recht ausdrücklich feststellte, nur unter der Voraussetzung der Wahrheit der Bittschrift (veritas precum) gültig waren. Der Papst und die Referendare, die in seinem Auftrage die Bitten bearbeiteten, waren daher der Pflicht enthoben, deren sachliche Richtigkeit zu prüfen, und konnten sich ganz auf die Rechtsfrage beschränken: Nur darüber hatten sie zu urteilen, ob die Bitte nach kanonischem Rechte und römischem Kanzleigebrauch zulässig und somit erfüllbar oder ob sie, weil gänzlich oder teilweise rechtswidrig, insgesamt oder in einzelnen Teilen zurückzuweisen war. Von der genehmigten Bitte zu ihrem Nachteil betroffene Dritte konnten, wenn sie durch einen ständigen Prokurator an der Kurie vertreten waren, bereits daselbst (in der audientia litterarum contradictarum) Einspruch gegen die darüber ausgefertigte Bulle erheben. Deren Petent und Empfänger aber mußte spätestens dann, wenn er sie in Deutschland dem örtlichen Richter, an den sie adressiert war, präsentierte und wenn sich dann Widerspruch von Seiten Dritter gegen die Vollstreckung erhob, den Beweis führen, daß seine Angaben zur Sache der Wahrheit entsprachen, widrigenfalls der Richter die Bulle für ungültig erklären und ihm die Nutzung des erbetenen Rechtes versagen mußte. Erst die erfolgreiche Publikation einer Papsturkunde vor dem zuständigen Richter begründete also deren Rechtskraft. Zu diesem Ergebnis war ich gelangt, weil ich der Interpretation der pästlichen Register und dem Rückschluß auf die Aufgaben der Registerbehörden die Theorie vom prozessualen Charakter der Dokumente zugrundelegte, die ich mir bereits vor der Reise nach Rom zurechtgelegt hatte, um mir den Zweck und die Geltung deutscher Königsurkunden zu erklären, und da sich die Theorie hier bewährte, sah ich mich in der Annahme bestätigt, daß das Privilegienwesen der fränkisch-deutschen Könige und Kaiser und das der römischen Päpste der gleichen Quelle entsprungen sei, nämlich der justizförmigen Regierungsweise der alten römischen Kaiser und ihrer Reskriptkanzleien. Um mir diese Regierungsweise historisch anschaulich zu machen, sah ich mich nach Beispielen um, die mir außer Diplomen und Bullen auch von den Petenten
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erzeugte oder doch wenigstens in deren Umkreis geschriebene Quellen darboten, aus denen nicht nur die Interessenlagen und politischen Ziele der Bittsteller zu ersehen waren, sondern auch die Wirkungen, die sie erzielten, wenn sie die an der königlichen oder päpstlichen Kurie erworbenen Urkunden in ihrer Heimat publizierten, um die per Reskript erworbenen Anrechte zu realisieren, da es ja in diesem Verfahrensschritt durchaus geschehen konnte, daß der örtlich zuständige Richter das ihm vorgelegte Diplom bzw. die Bulle für ungültig erklärte. Da ich in diesem Sinne geeignete Beispiele aus dem 15. Jahrhundert damals nicht ermitteln konnte, wählte ich zur Probe die päpstlichen und kaiserlichen Urkunden für die baltischpreußische Mission aus den Jahren 1188 bis 1227 aus, zu deren Ergänzung in der Chronik des Missionspfarrers Heinrich von Lettland eine selbständige zeitgenössische örtliche Überlieferung vorliegt. Bereits im Titel der Untersuchung bezeichnete ich die Urkunden jetzt als Reskripte, denn überall bestätigten sich meine Annahmen über die lediglich bedingte und erst im Publikationsverfahren vor dem örtlichen Richter endgültig erweisliche Geltung päpstlicher und königlicher Privilegien. Erst jetzt verstand ich, welche Bedeutung der Frage zukommt, ob die Hamburger es gewagt oder unterlassen hätten, ihr Zollprivileg vom 8. Juni 1628 öffentlich bekanntzumachen, um es damit einem Widerspruchsverfahren sei es vor dem Stadtherrn, sei es vor dem Kaiser auszusetzen. Es überraschte mich nicht, daß die Reskripttheorie nicht alle Fachgenossen zu überzeugen vermochte, verlangt sie doch gegenüber dem früheren, meines Erachtens unkritischen Umgang mit Königs- und Papsturkunden von jedem Benutzer derselben einen erheblich größeren Arbeitsaufwand, da man diese Schriftstücke nun nicht mehr wie Solitäre für sich genommen lesen und als bei richtiger Lesung auch in den Sachangaben unanfechtbare Quellenzeugnisse verwenden kann, sondern zunächst feststellen muß, ob der Erwerber sie einem Publikationsverfahren ausgesetzt hat und ob er sie darin als gültig zu erweisen vermochte. Auch kann man sie nicht mehr ohne weiteres als Zeugnisse für den politischen Willen der Aussteller heranziehen, denn die Rechtsförmlichkeit des Verfahrens konnte die Aussteller durchaus dazu nötigen, politisch unerwünschte Bitten erfüllen oder vorteilhafte ablehnen zu müssen. Heute jedoch, nachdem darüber dreißig Jahre vergangen sind, ist die Theorie im Begriffe, die Mehrheit der Urkundenforscher zu überzeugen. Sie wird dies um so leichter tun können, je häufiger sie an Beispielen aus Zeitaltern überprüft wird, für die uns die Supplikenregister der römischen Kurie zur Verfügung stehen, denn der sicherste Beweis dafür, daß wir in einer Urkunde ein Reskript vor uns haben, besteht in dem Nachweis der Supplikation, auf die der reskribierende Aussteller antwortete. So sehe ich eine Gewähr für die Richtigkeit der Theorie darin, daß es jüngst (im Jahre 1995) dem Kollegen Peter Segl gelungen ist, selbst ein so eminentes Zeugnis vermeintlich freier päpstlicher Rechtssetzung wie die sogenannte Hexenbulle, eine Fakultät, die Papst Innozenz VIII. am 5. Dezember 1484 den Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger bewilligte, als Reskript zu erweisen, indem er sich der Mühe unterzog, die ihr zugrundeliegende Bittschrift des Dominikanerordens im Bande 842 des Supplikenregisters aufzusuchen.
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Konsequenterweise richtete sich nunmehr mein Sinnen und Trachten darauf, mich mit den in der römischen Kaiserzeit gelegten Fundamenten des Reskriptwesens und der justizförmigen Regierungsweise oder Reskripttechnik vertraut zu machen, die meiner Meinung nach auch den Umgang mittelalterlicher Fürsten, Kirchen, Städte und Länder mit päpstlichen oder königlichen Privilegien und Mandaten regulierte. Zu diesem Zwecke mußte ich mich der Sprache der römischen Juristen bemeistern, mit der ich als Student nur im Vorbeigehen zu tun gehabt hatte, und darüber hinaus meine Kenntnisse in alter Geschichte und römischem Recht erheblich vermehren. Viele Jahre lang habe ich beharrlich an dieser Aufgabe gearbeitet, ohne mich ihr jemals mit vollen Kräften widmen zu können. Zeitweise wog ich mich in der überschwenglichen Hoffnung, Quellen und Literatur so vollständig erfassen zu können, daß sich darauf eine abgerundete Darstellung des spätantiken Reskriptenwesens würde errichten lassen, aber niemals vermochte ich die Befürchtung völlig zu verscheuchen, daß dieses Vorhaben über meine Kräfte gehen, zum mindesten weitaus mehr Zeit erfordern würde, als ich für ein Thema erübrigen sollte, das mir zur Erforschung der deutschen Verfassungsgeschichte lediglich ein Hilfsmittel gewährte. So endete dieses Ergänzungs- oder Zweitstudium ohne den erstrebten Abschluß. Trotzdem verdankte ich ihm ein Wissen, das sich rasch als höchst nützlich erwies. Den wichtigsten Teil davon faßte ich in einer Abhandlung über „Erschleichung und Anfechtung von Herrscher- und Papsturkunden vom 4. bis 10. Jahrhundert“ zusammen, die seit 1988 im dritten Bande der „Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.-19. September 1986“ nachzulesen ist. Da nämlich der Vorwurf der Erschleichung oder Subreption vor allem anläßlich der Publikation von Privilegien vor dem lokalen Richter erhoben zu werden pflegte, ist die Subreption besonders gut dazu geeignet, die lediglich bedingte Geltung königlicher und päpstlicher Privilegien und damit deren prozessualen Charakter zu beleuchten. Daher war mir der Nachweis wichtig, daß sich dieser Charakter in kaum veränderten Formen von den Scrinien der römischen Kaiser auf die Kanzleien mittelalterlicher Könige und Päpste vererbt hat. Vor allem fesselte mich der Gedanke, in der Reskripttechnik könne sich eine für das römische Imperium, welches weder Reichstage noch Reichsversammlungen kannte, typische Form der Herstellung gesetzgeberischen Einvernehmens zwischen Herrscher und Untertanen verbergen, die dem Mittelalter vor allem von der römisch-katholischen Kirche überliefert worden sei. Denn sowohl im Römischen Reiche wie in der Kirche der Päpste verband ein nie abreißender Verkehr nach den Regeln des Reskriptwesens die Häupter der großen Untertanen- und Gläubigenverbände mit ihren Völkern, und darin gewährten diese den aus dem Volke kommenden Supplikanten Rechtsbelehrungen und Rechtsmittel, die zwar zunächst nur in deren einzelnem Falle das geltende Recht besserten oder zugunsten eines besseren Rechtes außer Kraft setzten, die danach aber, wenn in ähnlichen Fällen von anderen Bittstellern aufgegriffen und von den Kanzleien als Präzedentien anerkannt, auch allgemeine Geltung erlangen konnten.
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Solange und sofern mittelalterliches Recht im wesentlichen durch Reskripte und Privilegien fortgebildet wurde, war es ein Fallrecht, wie es einst auch das römische Recht gewesen war, wie es in Europa aber nur das englische Recht immer geblieben ist, während sich die kontinentalen Reiche und die katholische Kirche seit dem 13. Jahrhundert der gemeinrechtlichen Idee des Gesetzespositivismus und der Kodifizierbarkeit allen Rechtes ergaben. Fallrecht dagegen bedeutet Juristen- oder Richterrecht: Der Richter gewinnt das Urteil nicht durch Deduktion aus allgemeinen Gesetzen, sondern durch Vergleich des ihm vorgelegten Falles mit bereits entschiedenen ähnlichen Fällen, so daß die Norm oder Regel, die er seiner Entscheidung zugrundelegte, nur dann auch in die Zukunft hineinwirkte, wenn spätere Generationen von Reskribenten, Juristen und Richtern die darin gefundene Lösung allgemein für richtig hielten. Trat dieser Erfolg ein und wurde er den Anwendern schließlich bewußt, so konnten diese die Normen als Gesetze verstehen und sie als solche aus den Reskripten exzerpieren, um sie zu Gesetzbüchern zu versammeln. So waren bereits die Kaiser Theodosius II. und Justinian I. bei der Erstellung ihrer Gesetzescodices vorgegangen, und ebenso verfuhren im Mittelalter die privaten und amtlichen Sammler päpstlicher Dekretalen, die auf diese Weise den Grundstock des römisch-kanonischen Rechts zusammentrugen und Europa mit dem Begriff der Kodifikation vertraut machten. Um Einblick in den Hergang dieser Art von Rechtsbildung und in die Beteiligung des Volkes an ihr zu erlangen, steht uns, da die Archive und Registerserien der alten römischen Kaiser früh zugrundegegangen sind, als ältester einigermaßen geschlossener Quellenbestand das Briefregister Papst Gregors I. aus den Jahren 590 bis 604 zur Verfügung, und so machte ich mich daran, die Briefe dieses Papstes daraufhin zu untersuchen, wieviele Reskripte sich darunter befinden, inwiefern deren Gewährung und Publikation dem kaiserlichen Vorbilde folgte und welche Rolle die päpstlichen Dekrete in der kirchlichen Rechtsbildung ihrer Zeit gespielt haben. Das Ergebnis legte ich im Jahre 1990 unter dem Titel „Papstreskripte im frühen Mittelalter“ der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor. *** Es war ein doppelter Gewinn, den ich aus diesen langwierigen, immer wieder von anderen Arbeiten unterbrochenen, gleichwohl in hohem Grade befriedigenden Studien zur Urkundenlehre und Rechtsgeschichte zog. Ein handfester Ertrag fiel mir mit der Einsicht in den prozessualen Charakter mittelalterlicher Privilegien zu, wonach der Privilegiengeber, wenn keine Supplikationen eingingen, überhaupt nicht tätig werden konnte und das mittels Privilegs gesetzte Recht nicht seinem freien Willen entsprang, sondern nur in Abstimmung mit dem seiner Berater, der Petenten und der örtlichen Richter allmählich zu gesetzesartiger Geltung zu gelangen vermochte. Wegen dieser Beteiligung vieler nicht zum Hofe gehöriger Personen an dem Vorgange konnte ich, um es zu wiederholen, mir vorstellen, daß man in dem Verfahren, wenn nur ein Mindestmaß an Dichte und Intensität königlichen
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oder päpstlichen Reskribierens überschritten wurde, sogar eine bestimmte Art von Mitwirkung des Volkes an der Rechtsbildung erblicken dürfe. Mit dieser Überlegung gelangte ich zu dem wesentlichen Gewinn, den mir die mühevolle Beschäftigung mit dem römischen Recht und seinen Quellen überließ: Je klarer ich die grundlegende, weil zu ihrem Teile die Einheit Europas mitbegründende Rolle wahrnahm, die dem römischen Recht in der Geschichte der mittelalterlichen Königreiche und des Papsttums zugekommen war, desto deutlicher wurde ich mir auch der Institutionen bewußt, die erst das Germanentum in die europäische und deutsche Verfassungsgeschichte eingeführt hat. Der germanische Beitrag dünkte mich hinauszulaufen auf neue und wirksamere Formen der Beteiligung des Volkes am politischen Leben der Königreiche, aber auch der katholischen Kirche, innerhalb deren der Germanismus allerdings antike Einrichtungen wie das auf Gemeindewahlen begründete Bistum und die schließlich reichsweiten Bischofsversammlungen oder Konzilien vorfand, mit denen er sich verbinden konnte. Dies war die Beteiligung eines in genossenschaftliche Partikularverbände gegliederten Volkes, dessen Fürsten, Bischöfe und Große gegenüber den Herrschern nicht nur ihren eigenen, sondern auch den Willen der Gemeinden und Verbände zur Geltung brachten, deren Wort sie hielten. Denn dies drängte sich mir als auffälligstes Kennzeichen der Verfassungen jener Reiche auf, die von germanischen Heeren und Fürsten seit dem 5. Jahrhundert auf dem Boden des Weströmischen Reiches errichtet wurden: daß sie den Konsens zwischen Herrschern und Beherrschten über das, was Recht sein sollte, nicht mehr allein oder auch nur in erster Linie mittels der Reskripttechnik herstellten, die sie von den prätorischen Präfekten des Kaisers für Illyrien, Gallien und Africa übernahmen, sondern daß sie sich zu diesem Zwecke einer Einrichtung bedienten, die dem Römischen Reiche unbekannt gewesen war, nämlich der Reichsversammlungen, auf denen die Bischöfe, Fürsten und Großen der Reiche und Völker mit den Königen verhandelten und jenen auf Einhelligkeit und Einmütigkeit aller hin angelegten Konsens herbeiführten, aus dem alle politische Willensbildung im Mittelalter ihre Kraft und Geltung schöpfte. Der Gegensatz zwischen Romanismus und Germanismus, jener bereichert und verwandelt durch die Verschmelzung mit dem Christentum, aber auch das Zusammenwirken und endliche Einswerden dieser beiden politischen und geistigen Kräfte traten mir immer klarer als das Grundgesetz europäischer und deutscher Verfassungsgeschichte vor Augen. Es ist gewiß kein Bedürfnis empirischer Wissenschaft, die Weltgeschichte auf einfache Prinzipien dieser Art zurückzuführen, wohl aber eines der Philosophen und eines jeden, dem daran gelegen ist, der an sich sinnlosen Mannigfaltigkeit der Geschehnisse einen Sinn einzuhauchen, zumal wenn er zwar von keiner politischen Theologie mehr etwas wissen, aber auch nicht für immer nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde bleiben und unerfahren von Tag zu Tage leben will, wie es bei Goethe heißt. So oft ich mir darüber den Kopf zerbrach – stets gelangte ich zu dem Ergebnis, daß nur die vergleichende Betrachtung und Bewertung des histo-
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risch Gegebenen eine solche Philosophie auf festen Boden stellen könne. Seit ich als Student und Schüler von Hermann Aubin das Werk von Max Weber in Umrissen kennengelernt hatte und lange bevor ich die Muße fand, es mir gründlich und als Ganzes anzueignen, war ich beständig versucht, mir die Besonderheit der europäischen politischen Kultur, die ich aus der zur Synthese drängenden Dialektik von Romanismus und Germanismus herleitete, auch im universalhistorischen Vergleich zu erklären und deutlicher bewußt zu machen. Solcher Neugier immer wieder nachgebend und stets von der Gefahr bedroht, mich zu verzetteln, widmete ich dem Problem viele Stunden, Tage und Wochen, die schließlich nach Jahrzehnten einen, am Anspruch meiner Jugend gemessen, zwar höchst bescheidenen, aber mich selbst doch insofern voll befriedigenden Ertrag zeitigten, als ich mich wenigstens davon überzeugte, daß das historisch beschreibbare und für die europäische Geschichte und Kultur bis auf die Gegenwart folgenreiche Verhältnis zwischen Römern und Germanen schon innerhalb des zirkummediterranen Weltteils keine Parallele findet. Was ich darüber in Erfahrung bringen konnte und wie sich die allmähliche Akkumulation und Formung meines Wissens abgespielt hat, ist in dem erst vor kurzem, im Jahre 2001, erschienenen Buche „Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters“ nachzulesen, von dem oben bereits die Rede war. Was die Verfassungsgeschichte Deutschlands und Europas an sich selbst betrifft, so hat für ihre vergleichende Erforschung und Darstellung der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis (1879 – 1952) mit seinem Buche „Der Staat des hohen Mittelalters“ von 1941 ein Muster vorgelegt, das an Qualität schwerlich zu überbieten ist und das es mir von vornherein verbot, eine deutsche Verfassungsgeschichte als isolierbaren Gegenstand überhaupt für möglich zu halten. Als eine der Lehren, die sich dem Mediävisten wohl nirgendwo so nachhaltig aufdrängen wie im Lesesaal des Vatikanischen Archivs, hatte ich mir die Einheit der abendländischen Welt und ihrer Staaten- und Rechtsgeschichte angeeignet, deren politische Kräfte einerseits sich immer wieder in den Kämpfen um die europäische Geltung des Papsttums bündelten, andererseits aber auch, wiewohl intermittierend, in der Bündnispolitik des westlichen und östlichen Kaisertums ferne Vorboten jenes Gleichgewichtssystems hervorbrachten, das in der Neuzeit zu dauerhaftem Bestande gelangen und das Abendland vor jeder Unterdrückung durch eine Universalmonarchie bewahren sollte. Aus Rom zurückgekehrt, nahm ich mir daher als Fernziel weiterer Arbeit vor, jene Verfassungsgeschichte, die meiner Wißbegierde vorschwebte und die ich mir als eine Geschichte des Volkes und seines Anteils an der politischen Willensbildung der Gemeinden, Untertanenverbände und Königreiche vorstellte, zugleich als vergleichend vorgehende europäische Verfassungsgeschichte zu entwerfen. Auch an dieses Unternehmen habe ich vielerlei ebenso mühsame wie erquickliche Arbeit gesetzt, um mich schließlich davon zu überzeugen, daß es über meine Kräfte ginge, das Ziel zu erreichen. Gleichwohl habe ich ihm einen Schatz an Erkenntnissen zu verdanken, ohne dessen Zinsertrag mir selbst das bescheidene Ziel, dem ich jetzt in der Verfassungslehre nachstrebe, in unerreichbare Fernen entschweben würde.
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Indessen fand ich, belehrt lediglich von der kargen und in ihrer Kargheit ebenso vieler Auslegungen wie das delphische Orakel fähigen Überlieferung des frühen und hohen Mittelalters, keinen Zugang zu den Rechtsgrundlagen jener öffentlichen Willensbildung, die mir in dem Paktieren der Könige mit ihren Reichsversammlungen, in dem rätselhaften, nahezu formlosen oder mir doch so erscheinenden Konsentieren der Paziszenten und in der ebenso geheimnisvollen Polarität von Genossenschaft und Herrschaft entgegentrat. Deutlich faßbar zeigte sich mir das Problem erst in den Quellen jener Zeit, da die romanischen Länder Europas (darunter damals noch das von einem frankophonen Adel regierte Königreich England) zur parlamentarischen und die deutschen Länder zur landständischen Form der Willensbildung übergingen, einer Zeit und einem Vorgange, die Mitteis nicht mehr behandelt hatte, da er sich des Lehnrechts als Vergleichsmaßstabes der europäischen Verfassungsgeschichte bedient und den Ausklang des Lehnszeitalters mit eben jenem Vorgange verknüpft hatte, da Parlamentarismus, Ständewesen und Bürokratie das Lehnrecht als formal öffentliches Recht und Organisationsprinzip des Staates ablösten und bei Staatsmännern und Gelehrten einer neuen Auffassung vom Staate zum Durchbruch verhalfen. Als Führer auf dem Wege in dieses wenig übersichtliche Fachgebiet entdeckte ich zu rechter Zeit Charles-Louis de Secondat Baron de da Brède et Montesquieu (1689 – 1755) und den Essai De l’esprit des lois, deren Leitung ich mich um so lieber anvertraute, als mir daraus das Licht der europäischen Aufklärung entgegenleuchtete, einer Geisteshaltung, die in ihrer Mischung von Pessimismus gegenüber einer Menschheit, deren Individuen doch aus arg krummem Holze geschnitzt sind, und optimistischem Vertrauen auf die dieser Menschheit eingeborene Vernunft mit meinem eigenen Lebensgefühl, wie ich mir gerne eingestand, vollkommen übereinstimmte. Erst nach fast zwei Jahrzehnten gelang es mir herauszufinden, worin der Unterschied zwischen den Parlamenten des romanischen Europa und den Ständeversammlungen des Deutschen Reiches eigentlich, d. h. dem Wesen dieser Institutionen entsprechend, bestand, und wie ich es schon oft beim Grübeln über derartige Probleme erlebt hatte, so nahm ich wiederum wahr, daß mir allein die Rechtsgeschichte diejenige dem Gegenstande angemessene begriffliche Klarheit zu verschaffen vermochte, die der Historiker gewinnen muß, wenn er behaupten will, ein Problem begriffen zu haben. Diese Klarheit gewann ich, nachdem ich endlich die Notwendigkeit erkannt hatte, die 1943 veröffentlichten Abhandlungen des amerikanischen Verfassungshistorikers Gaines Post (1902 – 1986) über die Vollmacht des Repräsentanten sorgfältig zu studieren und mit den darin angeführten Quellen zu vergleichen. Denn kraft ihrer Vollmacht waren Repräsentanten imstande, indem sie den Pakten der Versammlung mit dem Könige oder Fürsten ihren Konsens erteilten, nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinden ihrer Wähler und Mandanten zum Gehorsam gegenüber dem so formulierten Gemeinwillen zu verpflichten, und Gaines Post weist nach, daß es den Staatsmännern der westeuropäischen Länder nur mit Hilfe des gelehrten oder gemeinen römischen Rechts gelingen konnte, aus der formlosen germanistischen Praxis des Paktierens und Konsentie-
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rens die Vollmacht der Konsentienten als juristischen Kern eines politischen Problems herauszufiltern. Nachdem ich mir im Jahre 1987 diese Erkenntnisse des amerikanischen Historikers zu eigen gemacht hatte, schöpfte ich aus dem Buche der Engländerin Evelyn S. Proctor über die spanischen Curien und Parlamente (cortes) von 1980 die historische Anschauung, deren ich bedurfte, um das Gewicht der von Post beschriebenen juristischen Praxis zu erfassen. Deutsche Rechtshistoriker hatten sich mit dem Thema nicht befassen müssen, da in Deutschland das ältere gemeineuropäische Konsenssystem erst im 19. Jahrhundert durch das jüngere parlamentarische Verfahren ersetzt worden ist. Ich aber war nun davon überzeugt, daß es, wenn überhaupt jemals, dann nur von der Frage nach der Bevollmächtigung her, auf Grund deren im frühen und hohen Mittelalter die Großen im Konsentieren und Paktieren mit dem Herrscher die partikularen Untertanenverbände und damit das ganze Volk zum Gehorsam gegenüber ihren Eintrachten und Gesetzen hatten verpflichten können, daß es nur dann, wenn sich diese Frage beantworten ließe, gelingen könnte, über die Rechtsgrundlagen des Konsenssystems und damit über die Formen, in denen das Volk an der gemeinsamen Willensbildung der alten Königreiche mitgewirkt habe, das Licht wissenschaftlicher Aufklärung zu verbreiten. *** Unterdessen hatte in Deutschland, beginnend mit Karl Kroeschells im Jahre 1968 erschienener Abhandlung über Haus und Herrschaft, eine von der Rechtswissenschaft ausgehende grundsätzliche Kritik an der mediävistischen Verfassungsgeschichte eingesetzt, die meinen Auffassungen sehr entgegenkam und mich in meinem Mißtrauen gegenüber manchen Lehren Otto Brunners und seiner Adepten bestärkte. Während für Georg Waitz, so führte Kroeschell aus, der Begriff Verfassung noch ein Rechtsbegriff gewesen sei, setze die neue Lehre Verfassung als etwas Seiendes voraus, das sie mit der sozialen Wirklichkeit schlechthin identifizierte. Zwar hätte man unter Verfassungswirklichkeit auch ein nur erst von unreflektiertem Rechtsgefühl geleitetes öffentliches Leben verstehen können, das die Befugnisse der Beteiligten solange dem freien Spiel der politischen Kräfte überließ, bis der Machtkampf den Gemeinschaftsfrieden bedrohte und eine Mehrheit im Volke darauf drang, jene Kompromisse auszuhandeln, aus denen im Laufe der Zeit ein anerkanntes positives Verfassungsrecht erwachsen mochte, aber das war, wie Kroeschell feststellte, nicht gemeint. Die neue Lehre lehnte vielmehr die herkömmliche rechtshistorische Gleichsetzung von Recht und Frieden ab, die alle Fehde entweder als Unrecht und Friedensbruch oder als vom Rechte erlaubte Selbsthilfe gedeutet hatte; statt dessen betrachtete sie das Haus und die Haus- und Sippengemeinschaft als ursprünglichen Friedensbezirk und damit die Rechte des Hausvaters als Wurzel aller späteren, auch der staatlichen Herrschaft. Außerhalb der Häuser seien folglich Feindschaft, Rache und Fehde die gebotene Form des Kampfes um das Recht gewesen. Auf Grund einer höchst unvollkommenen Rechtsquellenlehre habe diese Lehre angenommen, einzig und allein der
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Herrschaft und deren Machtgebot sei es möglich gewesen, neue friedenstiftende und die soziale Wirklichkeit gestaltende Normen hervorzubringen. So habe sie das Recht durch die Herrschaft ersetzt, in der Annahme, einst sei alles Recht aus der Stärke des haushäbigen und bewaffneten freien Mannes erflossen, der allein, als Herr der Schwachen und Unfreien, zu Schutz und Schirm im Inneren der Verbände und zu Fehde und Feindschaft nach außen hin die Macht besaß. Das Rechtsgefühl des Volkes oder einer Mehrheit der Menschen und seine Konkretisierung in gesetzlichen Normen habe in diesem Bilde keinen Platz mehr gefunden, das Rechtsleben sei zu einer unwirklichen Größe verblaßt, mit deren Maßen messend Otto Brunner zwar die Verwendung anachronistischer Rechtsbegriffe in der älteren Forschung überzeugend habe kritisieren, nicht aber sie durch etwas Besseres ersetzen können, denn unter dem Scheine einer quellennahen Begriffssprache habe er lediglich moderne soziologische Allgemeinbegriffe „der seinswissenschaftlichen Beschreibung des Außerrechtlichen“ propagiert, „die nicht minder anachronistisch“ seien, als die juristischen es gewesen. Auf den weiteren Gang der Forschung übten diese Bedenken keinen Einfluß aus. Vielmehr verstrickte sich die Mediävistik noch einmal um einige Grade tiefer in die Vagheit allgemeiner Begriffe unbestimmten Ursprungs, als sie begann, ihre Hoffnung auf Erlösung von den selbstverschuldeten Übeln, der Mode der Zeit folgend, auf fächerübergreifende Arbeitsweisen zu setzen. Im Jahre 1981 erschien in der Historischen Zeitschrift ein Aufsatz von Hanna Vollrath, der die germanische Kultur zur oralen Kultur erklärte und sich gegen die herkömmliche negative Bewertung des Oralen als bloßer Schriftlosigkeit wandte. Bestimme man jedoch Oralität oder Mündlichkeit des sozialen und religiösen Lebens als konstitutiv für eine Kultur, so müsse der Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit als Kulturbruch verstanden werden, der grundlegende Veränderungen in allen Lebensbereichen zur Folge habe. Als orale Kultur aber könne und müsse das Mittelalter im Kontext anderer oraler Gesellschaften vor allem Afrikas, Asiens und der Indianervölker Amerikas gesehen werden, so daß sich, wenn bestimmte charakteristische Merkmale einer Gesellschaft auf ihre Oralität zurückgeführt werden könnten, eine Typik solcher Gesellschaften erstellen lassen müsse, in die das europäische Mittelalter einzuordnen wäre. Ferner postulierte die Verfasserin eine differenzierte Erfassung der Abstufungen zwischen reiner Mündlichkeit und entwickelter Schriftlichkeit, da das Mittelalter als Epoche begriffen werden müsse, „in der jahrhundertelang zwei ganz verschiedene Weisen der Weltsicht aufeinanderstießen“, nämlich die christlich-kirchliche und die der oralen Laienwelt. Die gesuchte Typik, so hoffte Frau Vollrath, möchte es erlauben, „zur Erschließung der Mentalität des Mittelalters die Ergebnisse der Sozialanthropologie und der Ethnosoziologie heranzuziehen, weil mit der Oralität als einem der Grundphänomene menschlichen Zusammenlebens eine Vergleichsbasis gefunden wäre.“ Die moderne Mediävistik dagegen mache mit ihrer Begrifflichkeit – gemeint ist offensichtlich die mit Hilfe der philologisch-historischen Methode aus den Quellen gewonnene Begriffssprache unseres Faches – das Mittelalter
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unvergleichbar, und damit isoliere sie sich derart gegenüber allen anderen Wissenschaften, daß man nicht einmal fragen könne, worin die radikale Besonderheit der europäischen Entwicklung ihren Grund habe. Diese Überlegungen waren mir damals so fremd, wie sie es bis heute geblieben sind. Sie widersprachen nicht nur allem, was ich als Doktorand über den Ersatz mündlicher durch schriftliche Mnemotechniken in der mittelalterlichen Stadt gelernt hatte, sondern auch allen Erfahrungen, die mir seitdem im Umgang mit den Quellen zugewachsen waren. Ich hätte keinen Hinweis darauf benennen können, daß in der europäischen Geschichte der Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit irgendwann einmal einen Kulturbruch ausgelöst habe; vielmehr war dieser Übergang stets in den innersten und eigensten Bedürfnissen der europäischen Völker begründet, und niemals ist er ihnen von Kolonisatoren aufgenötigt worden, die aus einer fernen, fremden Welt herkommend ihnen den Schriftgebrauch zusammen mit einer materiellen und geistigen Kultur aufgedrungen hätten, von der sie an und für sich niemals etwas hätten wissen wollen. Dies lasse ich auch für die Germanen gelten, die seit jeher den Römern durch eine Kongenialität verbunden waren, um deretwillen sie sich grundlegend von Kelten, Slaven, Arabern und anderen Randvölkern des antiken Kulturkreises, und erst recht natürlich von Bantuvölkern, Polynesiern und Indianern unterschieden: Im Gegensatz zu ihnen allen haben sie sich aus eigenem Antriebe angeeignet, was sie zu jeder Zeit sowohl vom Hellenismus und dessen christlicher Religiosität als auch vom Römertum und dessen profaner Rechtskultur aufzunehmen imstande waren, und wenn sie sich aus Anlaß dieser Rezeption auch den Gebrauch der lateinischen Schrift aneigneten, so liegt darin sowenig ein Kulturbruch wie in irgendeiner der mehreren Renaissancen, die das germanisch-romanische Abendland seit der Karolingerzeit als einzige der drei aus der griechisch-römischen Ökumene hervorgegangenen Kulturen erlebt hat. Kurzum: die Unterschiede zwischen den abendländischen und den für uns nur mit ethnologischen Methoden erkundbaren Völkern, auf die sich Frau Vollrath vergleichend beziehen wollte, schienen mir nach allem, was mir an Wissen zur Verfügung stand, so groß zu sein, daß der Vergleich zwischen ihnen mit den größten Schwierigkeiten zu ringen haben würde. In der Tat habe ich von der ethnosoziologischen Schule, die offenbar ein unter Mediävisten verbreitetes Bedürfnis befriedigte und daher immer mehr Anhänger fand, weiter nichts zu lernen vermocht, als daß zwischen ihr und der an Rechtsgedanken und Rechtsgeschichte orientierten Verfassungsgeschichte keine Verständigung möglich ist (oben: §§ 479, 480, 831, 844 der Verfassungslehre). Wenn ich von sozialer Kommunikation las, wie nun die Politik hieß, und von den Ritualen und Zeremonien, die nun an der Stelle von Recht und Gesetz als Akte nonverbaler Kommunikation die Politik gesteuert haben sollten, so erkannte ich wohl die Höhe dieser fächerübergreifenden Redeweise und die Stumpfheit meines eigenen Methodenbewußtseins, aber auf der anderen Seite fühlte ich mich auch an Bismarcks Worte über den Gedankenschaum erinnert, der ihm gelegentlich im diplomatischen Geschäft wie aus einer geöffneten Flasche entgegenquoll und seine Geduld ermüdete, weil er ihn daran hinderte, zu dem trink-
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baren Stoffe zu gelangen, auf den es ankommt. Zu dieser Zeit ist mir wohl auch zum ersten Male das Wort Mentalität in der Fachliteratur begegnet, dessen Einzug in die Redeweise der Pariser Salons einst Marcel Proust in Erstaunen versetzt hatte, weil ihm niemand zu wissen schien, was damit gemeint war. Erst nach vielen Jahren bemerkte ich fast zufällig, daß die „politische historische Anthropologie von Herrschaftsinstitutionen“, wie Wolfgang Reinhard im Jahre 1999 die neue Wissenschaft nannte, sich anheischig machte, die alte Verfassungsgeschichte an Wahrheit ihrer Erkenntnisse zu übertreffen und sie dadurch überflüssig zu machen. Dies geschah, als ich Gerd Althoffs Buch über „Spielregeln der Politik im Mittelalter“ und das seiner Schülerin Monika Suchan über „Königsherrschaft im Streite“ las, die beide im Jahre 1997 erschienen. Wie bei Otto Brunner die Fehde, so fand ich hier bestimmte Formen der „Konfliktführung“, darunter namentlich die Dedition, mittels deren sich der (geächtete) Feind des Königs mit dem Herrscher wieder versöhnte, aus allen Zusammenhängen prozessualer Rechtsfindung herausgerissen und zum Grundstein einer abermals neuen Lehre erklärt, die sich offensichtlich keine Vorstellung von dem inhaltlichen Reichtum mehr machen konnte, den die klassische Verfassungsgeschichte in den Netzen ihres als solches mißliebig gewordenen Systems eingefangen hatte. Gewiß ist es richtig, daß wir mit mancher Tradition der alten Lehre brechen müssen, um deren zeitgebundene und insofern „deutlich anachronistische Perspektive zu vermeiden“, aber daß ihr „der Blick für die Andersartigkeit der mittelalterlichen Verhältnisse“ verlorengegangen sei bzw. „sich gar nicht erst einstellte“, das kann schwerlich jemand behaupten, der auch nur einen der acht von Georg Waitz verfaßten Bände sorgsam studiert und sich in die dort dargebotenen Quellenanalysen vertieft hat. In der Handhabung der philologisch-historischen Methode ist der alte Meister nicht schon dadurch zu übertreffen, daß wir das Interesse, das unsere Erkenntnis leiten soll, neu bestimmen und uns zu diesem Zwecke der modernen Anthropologie ergeben, einer Menschenkunde, die als schwer definierbares mixtum compositum philosophischer, psychologischer, archäologischer, ethnologischer, soziologischer und anderer Weisheiten einer eigenen Methode gänzlich entbehrt und daher aus eigenen Kräften keine Gewähr dafür zu bieten vermag, daß sie im Mittelalter geschriebene Texte richtig auslegt. Geht nicht von dieser Mixtur und von den fächerübergreifenden Perspektiven, die sich der Herrschaft über die Geisteswissenschaften bemächtigen wollen, eine Disziplinlosigkeit aus, die diese Wissenschaften zu untergraben droht und ihren Teil dazu beigetragen hat, daß jüngst an Europas ältester und bekanntester Universität, der Sorbonne, der Doktortitel für eine astrologische Abhandlung vergeben werden konnte? So erinnert mich der Versuch, die Verfassungsgeschichte durch historische Anthropologie zu ersetzen, an jene jungen Künstler, die sich wünschen, alle Museen verbrennen zu können, damit nichts mehr das Publikum von dem Glanze ihrer Werke ablenke. Aber keine von den neuen Wissenschaften auf verfassungsgeschichtliche Fragen erteilte Antwort kann richtig sein, wenn sie nicht vorweg die
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Bedingung erfüllt, die schriftlichen Quellen richtig verstanden zu haben, und diese Bedingung läßt sich nur mittels einer Kritik der Texte nach den Regeln der philologisch-historischen Methode erfüllen. Denn Verfassung existiert nur als gedachte Ordnung in den Köpfen von Menschen und in deren ständigem Sprachgebrauch, ihre Wahrheit wird in der Sprache aufbewahrt, deren sich die Menschen bedienten, und ohne Liebe zu ihr und zur historischen Grammatik und Lexikographie kann es daher keine wissenschaftliche Verfassungsgeschichte geben. Darin besteht eine besondere Würde dieser Disziplin und erfüllt sie, wie selbst F. Graus zugab, eine ihr eigentümliche Aufgabe bei der Analyse allgemeiner Phänomene, der nur sie und sie nur deswegen gerecht werden kann, weil sie zu den historischen Kernfächern gehört, deren Pflege mit der der philologisch-historischen Methode Hand in Hand geht. Mir jedenfalls wuchs keinerlei tieferes Verständnis des Mittelalters zu, als ich versuchte, mit Althoff die „Regeln und Normen . . . , die das Verhalten mittelalterlicher Menschen gerade in der politischen Öffentlichkeit bestimmten“ und die, „obgleich sie nicht oder erst spät schriftlich fixiert wurden, durchaus eine Gesetzen vergleichbare Verbindlichkeit“ beanspruchten, unter dem Oberbegriff der Spielregeln zusammenzufassen – für mein Sprachgefühl eine contradictio in adiecto, da Spielregeln gerade in ihrer Verbindlichkeit insofern das genaue Gegenteil von Gesetzen sind, als ihr Bruch keinerlei rechtliche Sanktionen der staatlichen Gesamtheit, sondern allenfalls private Reaktionen der Beteiligten zur Folge hat. Für falsch hielt ich auch die Ansicht, im Mittelalter hätten „in der Öffentlichkeit Akte nonverbaler Kommunikation“ dominiert, „die wir mit den Begriffen Ritual oder Zeremoniell belegen, in denen etwas gezeigt, zur Schau gestellt, zur Anschauung gebracht wurde“. Denn diese Meinung kann sich nur darauf berufen, daß die in Stifts- und Klosterschulen internierten Annalisten und Chronisten kaum jemals an den Beratungen der Hoftage und Gerichtsversammlungen teilnahmen, wo „natürlich . . . auch in mittelalterlicher Öffentlichkeit geredet“ wurde, weshalb ihre Schriften uns so gut wie nie über den „verbalen Diskurs“ unterrichten, in dem doch zuerst einmal ein Etwas sprachlich bestimmt werden mußte, bevor man es der Öffentlichkeit rituell zur Anschauung bringen konnte. Eben dieses Etwas versuchen Rechts- und Verfassungsgeschichte aus den Konstitutionen, Gesetzen und Diplomen zu erschließen, welche Althoff zugunsten der Anekdoten vernachlässigt, in denen die Schriftsteller die sogenannten Zeremonien beschreiben. So bleibt es mir unverständlich, warum sich Rituale und alles, was sonst irgend ethnologisch klingt, unter den Fachgenossen so auffälliger Beliebtheit erfreuen. Denn was ist gewonnen, wenn man mit der Rede vom Ritual den Unterschied zwischen dem empirischen Zweck formgebundener juristischer Praxis und den transzendenten Absichten formalisierten religiösen Kultes einebnet und damit ein prinzipielles Merkmal europäischer Kultur, nämlich die Scheidung des Richters vom Priester, des Staates von der Kirche verdunkelt, um das Mittelalter mit fernen Kulturen vergleichbar zu machen, die niemals zu sozialer Vielfalt und Bildung von Großreichen fortgeschritten sind und von denen kein Mediävist etwas Genaueres
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weiß? Auch kann ich der überraschenden und durch unbestimmte „ethnosoziologische Perspektiven“ angeregten Behauptung von Frau Suchan nicht beipflichten, daß „das Unvermögen oder der Unwille zur gemeinsamen Willensbildung . . . von dem grundsätzlichen Mangel der mittelalterlichen Gesellschaft an Normativität“ zeuge: Weil es nämlich „bei der durch Gewohnheit bestimmten politischen Willensbildung . . . keine übergeordneten ,Normen‘ oder ,Institutionen‘ gab, die zur Wahrung bestimmter Verhaltens-, in diesem Falle Konfliktregelungen verpflichteten, verhinderte die Verweigerung der Bereitschaft zum Konsens durch die Betroffenen eine Einigung.“ Wenn Frau Suchan mir also empfiehlt, zwecks Untersuchung der „Spielregeln“ die von Ethnosoziologie und Sozialanthropologie entwickelten Charakteristica oraler Gesellschaften auf das Mittelalter anzuwenden, dabei aber eine Beschränkung „auf die ,verfassungsgeschichtlichen Probleme‘“ zu vermeiden, so werde ich diesem Rate nicht folgen. Meine Bewunderung für die Fertigkeit der Jüngeren, sich eine Mehrzahl von Fächern dienstbar zu machen, während ich schon von den Problemen eines einzigen vollauf in Atem gehalten werde, leidet doch sehr unter der Befürchtung, daß die Normen und Institutionen, deren Existenz Frau Suchan leugnet, lediglich noch der Entdeckung harren. Jedenfalls hoffe ich, sicherer als mit jener Anwendung zu dem Getränk zu gelangen, auf das es mir ankommt, wenn ich mit dem Becher der philologisch-historischen Methode aus den bekannten Quellen schöpfe, um das Wenige weiter auszubauen, was Rechts- und Verfassungsgeschichte bisher über die Regeln der Willensbildung im verbalen Diskurs, über dinggenossenschaftliches Verfahren, Konsentieren, Folgepflicht der Minderheit und Einhelligkeit des Beschließens herausgebracht haben. Gewiß kann man sagen, daß die Verfassungsgeschichte bisher im Übermaße royalistisch angelegt war. Dennoch braucht die Alternative dazu nicht in anthropologischer Verhaltens- und Konfliktforschung aufgesucht zu werden. Mir scheint es näherzuliegen, ihr eine Verfassungsgeschichte entgegenzusetzen, die die im Mittelalter wirklich dagewesenen Untertanenverbände und die Mitwirkung des Volkes an deren gemeinsamer Willensbildung zum Ausgangs- und Mittelpunkte nimmt. *** Seit ich in der Vollmacht der Repräsentanten und ihrer Vorgänger, der Worthalter älterer Untertanenverbände, den Prüfstein für den Wert aller Materialien entdeckt hatte, aus denen ein Lehrgebäude dieser Art errichtet werden könnte, suchte ich nach einer Gelegenheit, um mit ihm an der Überlieferung zu kratzen und namentlich solcher Nachrichten habhaft zu werden, mittels deren sich die alles entscheidende Frage beantworten ließe, in welchen Formen im früheren Mittelalter die Völker ihre Großen dazu ermächtigt haben könnten, mit Verbindlichkeit für alle zu sprechen und zu handeln. Nun war in der Fachliteratur schon seit Jahrhunderten darüber verhandelt worden, was es bedeutete, wenn die Landstände deutscher Territorialstaaten sagten, sie seien das Land, dessen Willen sie dem Fürsten kundtaten. Wenn sich darauf auch keine positive Antwort gefunden hatte (oben: §§ 46 – 49 der
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Verfassungslehre), so war doch allgemein anerkannt, daß die Stände das Land nicht repräsentierten, da sie sich eben nicht im Besitze jener gesetzlichen oder formgerecht erworbenen Vollmacht befanden, die den Repräsentanten kennzeichnet. So lag es nahe, die Antwort auf jene Frage in den Beschlüssen und Akten der Ständetage aufzusuchen. Positive Aussagen freilich oder formgerecht festgestellte Normen waren dort schwerlich anzutreffen, da ja Staatsrechtslehrer und Historiker die Akten danach bereits ebenso eifrig wie erfolglos durchsucht hatten. Daher mußte die Antwort in der Sprache, in der Redeweise und Wortwahl und der damit dokumentierten Denkweise aufgesucht werden, wie denn Rechtsauffassungen und Rechtsgedanken in alten Zeiten immer weit über das positiv Formulierte hinaus in der Art der Menschen zu sprechen und zu denken beschlossen gewesen und mit ihr solange von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden waren, bis die ersten Fachleute oder Gelehrten begannen, die Gedanken aus der Redeweise herauszulösen und sie sich und der Öffentlichkeit als Rechtsnormen zum Bewußtsein zu bringen. Ich rechnete darauf, daß die Suche nach der Antwort mühsam sein und daß Resultate nicht beim ersten Kratzen an der Oberfläche der Dokumente zutagetreten würden, da in diesem Falle die Antwort von meinen Vorgängern längst aufgefunden worden wäre. Diese Aussichten aber schreckten mich ab, und so schob ich es immer wieder hinaus, die Arbeit anzupacken, wobei mir der Umstand zu Hilfe kam, daß nur wenige Länder ihre älteren Ständeakten publiziert hatten und daß unter diesen keines zu finden war, dessen Stände noch im Mittelalter (und das hieß: in dessen letztem Jahrhundert) ihre Verhandlungen in einiger Breite hätten protokollieren lassen. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, wann und wie ich auf den Gedanken verfiel, die gewünschte Aufklärung in den Rezessen und Akten der Hansetage aufzusuchen. Als eines der seltsamsten Gebilde der an Besonderheiten nicht eben armen deutschen Verfassungsgeschichte hatte die niederdeutsche Hanse sehr früh die Aufmerksamkeit der Rechtshistoriker erregt. Bereits die zweite Germanistenversammlung, die im September 1847 im Rathause zu Lübeck zusammengetreten war, wo einst die Ratssendeboten der Hansestädte so oft zu Gaste gewesen, hatte einen Vortrag des Hamburger Historikers Christian Friedrich Wurm (1803 – 1859) über das nationale Element in der Geschichte der Hanse angehört, eines Redners, der damals bekannt war als liberaler Vorkämpfer des Repräsentativsystems, während in Hamburg und Lübeck die Senate ihre Vollmachten noch immer in der undurchschaubaren und unerklärlichen altdeutschen Weise empfingen, deren Geheimnis zu lüften jetzt ich mir angelegen sein ließ. Im ersten Bande seines Deutschen Genossenschaftsrechts hatte dann Otto Gierke im Jahre 1868 die Verfassung der Hanse als Schöpfung des deutschen Einungswesens während seiner dominanten spätmittelalterlichen Phase dargestellt, und bis heute ist Gierke der einzige Rechtshistoriker geblieben, der es unternommen hat, der deutschen Hanse einen Platz im System und in der Geschichte der deutschen Stadt- und Reichsverfassung anzuweisen.
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Nachdem ich mich als Doktorand mit der Geschichte der Hansestadt Lübeck beschäftigt hatte, war ich mit den Hanserezessen zum ersten Male bekanntgeworden, als ich die Veröffentlichung der Zolltarife der Stadt Hamburg vorbereitete und zu diesem Zwecke auch dem an der Elbe erhobenen hansischen Pfundzoll nachging, übrigens mit dem erfreulichen Erfolge, in den Senatsakten einen bis dahin unbekannten Tarif desselben zu entdecken. Bald darauf, im Jahre 1959, veröffentlichte der damalige Archivdirektor zu Lübeck Ahasver von Brandt (1909 – 1977) einen Aufsatz über die Lübecker Knochenhaueraufstände von 1380 / 84; daraus lernte ich eine Urkunde von 1340 kennen, in welcher der Rat von Lübeck die Abhängigkeit seines Willens von dem der Bürgerschaft bezeugt und das Verfahren der gemeindlichen Willensbildung im einzelnen dargelegt hat, ein in dieser Gestalt und Ausführlichkeit einmaliges Verfassungsdokument, das gleichwohl weder Beachtung in der deutschen Rechtsgeschichte noch Aufnahme in eine der speziell der Stadtgeschichte gewidmeten Urkundensammlungen gefunden hat, weil es der von Otto Gierke begründeten und bis heute herrschenden Lehre widerspricht, nach der die Räte im allgemeinen und der Rat zu Lübeck im besonderen im 14. Jahrhundert zu obrigkeitlicher Gewalt gegenüber den Bürgerschaften aufgestiegen wären und alle Abhängigkeit von ihnen abgestreift hätten. Da mich dieser, mit dem rätselhaften Ursprung der Ratsverfassung zusammenhängende Widerspruch, wie oben erzählt worden ist, bereits bei Abfassung meiner Dissertation beunruhigt hatte, behielt ich die Existenz und den Inhalt dieser Urkunde im Gedächtnis, obwohl ich mit ihr, als einem in der Überlieferung völlig einsam dastehenden Zeugnis, ebenso wenig anfangen konnte wie andere Historiker und so wenig, daß ich noch 1995 im Lexikon des Mittelalters im Artikel „Stadt“ die herrschende Lehre referierte, ohne einem Zweifel an ihr Ausdruck zu verleihen. Nachdem mir der hansische Städtetag beiläufig in den Akten des Reichskammergerichts als königsgleiches Berufungsgericht begegnet war, beschäftigten mich die Hanserezesse aufs neue, und nun nachhaltiger als zuvor, seit mir der Hansische Geschichtsverein im Jahre 1975 die Ehre erwiesen hatte, mich in seinen Vorstand zu berufen. Sehr bald wurde ich nun nicht nur auf die höchst problematische Rechtsgeltung aller Beschlüsse der hansischen Ratssendeboten aufmerksam, sondern auch, während ich 1987 und 1988 die Untersuchungen von G. Post und E. S. Procter studierte, auf gewisse ins Auge stechende Parallelen und Differenzen zwischen den Problemen, die sich einerseits beim Übergang zur parlamentarischen Willensbildung in Westeuropa und andererseits bei der gleichzeitig, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, einsetzenden gesamthansischen Willensbildung der Städtetage ergeben hatten. Aber noch mit der Arbeit an den „Papstreskripten im frühen Mittelalter“ beschäftigt, zögerte ich das Weitere hinaus, da mir nicht zweifelhaft war, welche Plage meiner harrte, wenn es galt, sechsundzwanzig Bände Hanserezesse auf den Sprach- und Rechtsgebrauch der Ratssendeboten hin zu untersuchen. Den Anstoß, dessen ich bedurfte, um dieses Zaudern zu überwinden, gaben mir die am 16. Februar 1989 ausgesprochene Einladung des Instituts für vergleichende
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Städteforschung zu Münster, auf einer Arbeitstagung, die im Frühjahr 1990 stattfinden sollte, etwas zu dem Thema „Städtische Leitungsorgane“ beizutragen, und die am 26. Mai 1989 von dem Institut ausgesprochene Annahme meines Vorschlages, über die „Willensbildung auf den Hansetagen“ zu berichten, speziell darüber, wie die Instruktionen der Stadträte für ihre Sendeboten zustandekamen und warum die deutsche Hanse von den Ratssendeboten bloß Vollmachten ad referendum forderte, während die Stadtherren in Westeuropa jetzt von ihren Städten verlangten, die in die Parlamente entsandten Boten mit jenen Vollmachten ad definiendum auszustatten, die seit jener Zeit den Repräsentanten und das repräsentative System öffentlicher Willensbildung kennzeichnen. Erst zehn Jahre später gewöhnte ich mich daran, das unverstandene ältere, in der hansischen Verfassung bewahrte System der Willensbildung als Identitätssystem zu bezeichnen. Der Vortrag, veröffentlicht 1994 im Bande A 34 „Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas“ der Schriftenreihe des Instituts unter dem Titel „Einstimmigkeit oder Mehrheitsbeschluß? Ein heimlicher Verfassungsstreit um die Vollmachten der Ratssendeboten auf den Hansetagen“, ging aus von der vergleichenden Analyse westeuropäischer und hansischer Ladungsschreiben aus der Zeit um das Jahr 1300, darin die Unterschiede zwischen den angeforderten Vollmachten und damit auch zwischen der Rechtsmacht dort der einladenden Könige und hier des Hansehauptes Lübeck zum Ausdruck kommen. Des weiteren zeigte der Vortrag, daß das traditionelle hansische Identitätssystem an politischer Leistungsfähigkeit dem damals eingeführten, moderneren Repräsentativsystem unterlegen war, wie die Ratssendeboten der Hansestädte namentlich als Krieg- oder Fehdeführende erkennen mußten, denn schon 1293 machten sie den Versuch, ihre Willensbildung zu reformieren und zu diesem Zwecke den Ungehorsam einer Stadt gegenüber der Ladung für strafbar zu erklären, und 1369 schlugen sie den Städten sogar vor, für sie alle verbindlich das Beschließen mit Mehrheit auf den Hansetagen einzuführen. Keiner dieser Versuche führte zum Ziele, ohne daß ich den Grund dafür erkennen konnte. Da hieß es also, die Suche fortzusetzen. Hatte ich mich für den Vortrag darauf beschränkt, den ersten Band der Hanserezesse auszuschöpfen, so wußte ich nun, daß ich es dabei nicht bewenden lassen durfte, wenn ich das Ziel erreichen wollte. Zu erneuter Beschäftigung mit den Hanserezessen hielt mich ein Auftrag an, den mir der Vorstand des Hansischen Geschichtsvereins am 27. Mai 1996 erteilte und dessen ich mich am 31. Oktober desselben Jahres mit einem Gutachten entledigte, das sich der Vorstand später zu eigen machte. Der Auftrag betraf die Editionsrichtlinien für das Hansische Urkundenbuch und die Frage, ob sie für dessen letzten, seit Jahrzehnten ausstehenden Band zu überarbeiten wären. Besonders gründlich studierte ich aus diesem Anlaß die Hanserezesse der Jahre 1441 bis 1450 als des Zeitraums, den der noch fehlende Band des Urkundenbuches auszufüllen hat, und hier stieß ich nun unversehens auf zwei Dokumente, die unter meinem Prüfstein erglänzten und mir auf einen Schlag die lange gesuchte Lösung des Verfassungsproblems darboten. Es sind die Berichte beteiligter Ratssendeboten über
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hansisch-englische Verhandlungen, die im März 1449 zu Lübeck stattgefunden hatten und sich zu einem guten Teil um die beiderseitigen Vollmachten und deren gegenseitige Anerkennung drehten. Zum ersten Male verfügte ich damit über mittelalterliche Texte, die das Vollmachtproblem auch aus deutscher und deutschrechtlicher Sicht behandelten! Den aggressiven Part spielten dabei die Engländer. Sie legten eine nach gemeinrechtlichen Regeln ausgefertigte Vollmacht vor, die sie als Repräsentanten ihres Königs auswies, und bedrängten die Hansischen hart, um zu erfahren, kraft welcher Vollmacht und mit welcher Verbindlichkeit sie ihrerseits für die Hansestädte sprechen könnten. Und siehe da: Die Deutschen waren nicht imstande, ihnen darüber Auskunft zu geben. Nun endlich fielen mir, wie die biblische Redewendung sagt, die Schuppen von den Augen: Der vom Studium des römischen Rechts mit klaren Begriffen und geschliffenen Argumenten versehenen Beredsamkeit der Engländer hatten die Deutschen nichts entgegenzusetzen, denn ihr Recht war noch von keinem Gelehrten wissenschaftlich bearbeitet worden, sondern führte sein Leben noch immer allein in der Praxis juristischer Laien und in deren niederdeutscher Sprache, mit der Folge, daß sich von der umgangssprachlichen Ausdrucksweise der Ratspersonen und Sendeboten noch keine fachlich-gerichtliche abgesondert hatte. Die Sprecher der Hanse waren sich daher der Verfassung ihres Bundes nicht bewußt. Obwohl das Hansehaupt in den Ladebriefen die Städte regelmäßig dazu aufforderte, vollmächtige Sendeboten zu den Tagfahrten zu schicken, und obwohl die gemeinen Städte seit 1374 immer wieder Städte aus dem hansischen Bunde ausgeschlossen hatten, deren Gemeinden ihre Räte gestürzt oder auf andere Weise unmächtig gemacht hatten, stand den Lübeckern und den mit ihnen versammelten Ratssendeboten keine Theorie zu Gebote, die das Wesen der damit zitierten Vollmachten durchleuchtet hätte. Offenbar war darüber vor der Begegnung mit den Engländern noch nie ein Streit ausgebrochen und damit der einzige Anlaß ausgeblieben, der unter Laien eine Rechtsfrage aufwerfen und eine Antwort auf sie erzwingen konnte. Endlich begriff ich, daß die Ratssendeboten ihre Vollmacht letzten Endes nicht von den Stadträten empfingen, sondern von den Stadtgemeinden, die ihrerseits zuerst ihre Ratmannen bevollmächtigen mußten, ehe diese imstande waren, Vollmachten an ihre Sendeboten weiterzugeben. Da aber kein Stadtrat seinen Boten mehr Befugnisse überlassen konnte, als er selbst besaß, so nahm in meinen Gedanken das Bild von einem aus Kaufmannschaften als personenbezogenen und Bürgerschaften als ortsbezogenen Verbänden zusammengesetzten hansischen Großverbande Gestalt an, innerhalb dessen der Vollmachtgeber letzten Endes im hansischen Volke als seiner in jene Verbände partikulierten Basis zu suchen war. Dieses Bild freilich trat in Widerspruch zur herrschenden Lehre von der obrigkeitlichen Gewalt der Stadträte. Sofort erinnerte ich mich daher der oben vorgestellten Lübecker Urkunde von 1340, die für sich allein bereits hinreichte, um jene das neue Bild verdunkelnde Lehre zu entkräften. In ihrer vollen, bisher unerkannt gebliebenen Bedeutung freilich konnte diese Urkunde erst ans Licht treten, wenn ich sie in
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dem Sinne interpretierte und in weitere Zusammenhänge einordnete, den mir die Einsicht in den Aufbau des hansischen Großverbandes und in dessen abgestufte Vollmachtgebung nahelegte. Als ich mich später an die Arbeit machte, stellte sich übrigens rasch heraus, daß die Angaben der Urkunde ihre volle Bestätigung in den Bürgerrezessen fanden, mittels deren die Bürgerschaften jedesmal, wenn Aufruhr und Zwietracht eine Gemeinde gesprengt und den Rat entmächtigt hatten, ihre Einung zu erneuern pflegten. Diese Rezesse nämlich berichten darüber, wie eine Stadt, die entweder gar keinen oder nur einen unmächtigen Rat besaß, diesem Mangel abhalf, daher in ihnen die Autonomie der Gemeinde nebst ihrer Befugnis, einen Rat einzusetzen und zu bevollmächtigen, klar zu Tage tritt. Bemerkenswerterweise sind diese Bürgerrezesse vielfach unzulänglich ediert und bisher nur in den Geschichten der einzelnen Städte, nicht aber vergleichend in der allgemeinen Stadtgeschichte behandelt worden. Offensichtlich ist dies von der Obrigkeitslehre und in den letzten Jahrzehnten von dem sozialgeschichtlichen Interesse, das die Forschung an den bürgerlichen Wirren nahm, verhindert worden, denn diese Wirren deutete man entweder als Klassenkämpfe oder doch wenigstens als eine große, das Spätmittelalter kennzeichnende soziale Bewegung, und es hätte den Erwartungen, von denen diese Betrachtungsweise ausging, widersprochen, wenn man die Unterbrechung der Kämpfe und die oft viele Generationen lang anhaltende Befriedung der Gemeinden durch die Bürgerrezesse hätte zur Kenntnis nehmen müssen. Mir dagegen, der ich mich dem Einfluß dieser Lehren entzogen hatte, boten die Rezesse nun die Möglichkeit, nicht nur die Formen städtischer und hansischer Bevollmächtigung ans Licht zu bringen, nach denen die englischen Gesandten im Jahre 1449 in Lübeck vergebens gefragt hatten, sondern auch, mit diesem Wissen ausgerüstet, in der Geschäftssprache der Hanserezesse die Formen ausfindig zu machen, denen die gemeinsame Willensbildung auf den Hansetagen von Rechts wegen gehorchte. Den inneren Zusammenhang, der alle Formelemente des Verfahrens miteinander verknüpft, konnte ich mir nur als Produkt des altdeutschen Einungsrechts erklären. Ich sah mich zu der Annahme gezwungen, daß darin Rechtsgedanken zum Ausdruck kämen, deren Einheit auf dem gemeinsamen Ursprunge beruhte, und daß sie folglich in ihrer Gesamtheit das Wesen der Institution Einung ausmachten, das noch immer als unerforscht angesehen wurde. Als eine seiner Eigenschaften schrieb ich dem Einungsrecht auch die Gewohnheit der Ratssendeboten zu, sich ein jeder für sich mit seiner Heimatstadt und alle gemeinlich mit der Gesamtheit der Hansestädte in derselben Weise zu identifizieren, wie sich an anderem Orte die Landstände als das Land selber bezeichneten, dessen Wort sie führten. Auf Einungsrecht beruhte folglich das System identischer Willensbildung innerhalb der überreich partikulierten, sowohl aus natürlichen als auch aus Verbandspersonen zusammengesetzten und mehrfach gestuften hansischen Einung, von dem ich bereits sagte, daß ich mich nur zaghaft und zaudernd daran gewöhnte, es beim Namen zu nennen und von ihm als dem Identitätssystem zu sprechen.
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Die Verfassungslehre, deren ich als Grundlage für eine auf volkliche Willensbildung ausgerichtete Verfassungsgeschichte bedurfte, hatte ich bereits, wie ich meinte, vollständig ausgearbeitet, als ich mich endlich, und nicht ohne mancherlei Widerwillen gegen die mir bevorstehende Mühsal, am 13. Februar 1998 daran machte, an den Hanserezessen der Jahre 1356 bis 1460 und den Bürgerrezessen dieser Zeit, soweit sie mir zugänglich waren, die speziellen Untersuchungen vorzunehmen, die notwendig waren, um die Vision zu verifizieren, die ich im Sommer 1996 in Gedanken wahrgenommen hatte. Da sie sich als sachgerecht bewährte, bereitete mir die Arbeit weniger Schwierigkeiten, als ich befürchtet hatte. Schon am 12. September 1999 war das Manuskript fertiggestellt, in dem ich das Ergebnis ausbreitete, und der Hansische Geschichtsverein erklärte sich freundlicherweise dazu bereit, es zu veröffentlichen. So liegt es nun seit dem 13. September 2001 als Buch unter dem Titel „Bürgereinung und Städteeinung. Studien zur Verfassungsgeschichte der Hansestädte und der deutschen Hanse“ dem Publikum vor. Je klarer während dieser Arbeiten die im Einungsrechte begründete Eigenart der hansischen Verfassung und des Identitätssystems aus den Quellen ans Licht trat, desto deutlicher kamen mir der Gegensatz, in dem dieses System zu dem Repräsentativsystem stand, und die Bedeutung der politischen Ereignisse zum Bewußtsein, die während des 15. und 16. Jahrhunderts das erstere als unpraktisch und altertümlich, das letztere dagegen als modern und ebenso zweckmäßig wie wirksam erwiesen. Es lag darin aber auch ein Gegensatz zwischen deutschrechtlichen und gemeinrechtlichen Institutionen. Jene beteiligten das in personen- und ortsbezogenen Verbänden gegliederte Volk unmittelbar an der Bildung des Gemeinwillens, dessen Normierung und Fortbildung sich noch immer, als ein von Laien betriebenes Geschäft, in der Volkssprache vollzog; diese dagegen waren längst von Fachgelehrten wissenschaftlich durchdacht, als ratio scripta in das Gewand der lateinischen Sprache gekleidet und in den Dienst mächtiger Könige und Fürsten gestellt worden. Schwerlich wäre ich dem Identitätssystem jemals auf die Spur gekommen, wenn ich den Geist des römischen Rechtes nicht soweit in mich aufgenommen hätte, daß ich am Beispiele der zwischen Engländern und Deutschen strittigen Vollmachten auch diesen Gegensatz hätte auffassen können. Je länger ich die Sprache der Hanserezesse betrachtete und auf meine Weise daran arbeitete, Otto Brunners Forderung nach einer quellennahen Begriffssprache zu erfüllen, und je länger ich an der Darstellung des Identitätssystems feilte, desto hartnäckiger nistete sich in meinem Kopfe der Gedanke ein, daß ich es hier mit einer Erscheinungsform jener uralten Dialektik von Romanismus und Germanismus zu tun hätte, die sich mir längst als eines der Grundgesetze deutscher und europäischer Verfassungsgeschichte aufgedrängt hatte. Dieser Gedanke schließt aber die Vermutung ein, daß das Identitätssystem nicht erst eine Schöpfung des späten Mittelalters und nicht eine Eigenschaft allein der deutschen Hanse, sondern, als Entfaltung des Genossenschafts- und Einungswesens, von Anfang an im Germanismus enthalten gewesen sei und daß es folglich seit der Errichtung der ersten germanischen Königreiche auf römischem Provinzi-
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alboden die Bildung des Gemeinwillens reguliert und dem Volke seinen Anteil daran gewährt habe. Damit leuchtete vor meiner suchenden Phantasie auch die Möglichkeit auf, in dem Identitätssystem einen Wegweiser gefunden zu haben, mit dessen Hilfe sich jener Abstieg bis in die germanischen Ordnungen hinein bewerkstelligen ließe, den Hermann Aubin für notwendig gehalten hatte, um die sich widerstreitenden Ansichten über die deutsche Verfassungsgeschichte zu klären. Darin, daß sich die Untertanenverbände der Frühzeit Individuen als Könige, Herzöge oder Bischöfe zu Häuptern und Sprechern erkoren, während später die Stadtgemeinden und die hansische Einung jährlich wechselnde und stets zu zweit oder dritt auftretende Worthalter bevollmächtigten, kommt gewiß kein rechtlicher, sondern nur ein organisatorischer Unterschied zum Ausdruck. Daß identische Willensbildung des Verbandes und monarchische Verbandsspitze miteinander vereinbar sind, das wird bereits, dessen bin ich mir sicher, aus der Verfassung der deutschen Territorial- und Ständestaaten zur Genüge bewiesen werden können, da ja, wie wir gehört haben, bereits Bismarck die absolute Machtfülle der Landesherren als eine Neuerung ansah, die die Fürsten erst spät „ihren eigenen Landständen abgewonnen hatten“. Dies also ist die These, die ich nunmehr der Verfassungslehre zugrundelege. Sie hat mich dazu genötigt, deren im Jahre 1997 entstandene erste Fassung von Grund auf umzuarbeiten. So beginnt die Lehre jetzt mit einer Darstellung des Identitätssystems und der darin enthaltenen Formen öffentlicher Willensbildung nach Maßgabe des Wissens, das ich jüngst aus den Bürgerrezessen der Hansestädte und den Hanserezessen gewonnen habe. Darauf aufbauend, versucht sie, ein System derjenigen Verfassung zu entwerfen, die dem karolingischen und dem daraus hervorgegangenen Ostfränkisch-Deutschen Reiche bis ins 12. Jahrhundert hinein eigentümlich war, also in jenem Zeitalter, da die Reichsverfassung auf den allmählich verblassenden karolingischen Grundlagen beruhte, denn diese Grundlagen sind schwerlich jemals vollständig zerfallen, sondern waren während der Entstehung des Territorialstaates und der damit verbundenen jüngeren Form der königlichen Gewalt lediglich einem Wandel unterworfen, der sich als Verschiebung der Gewichte innerhalb des seit jeher regional partikulierten und mehrfach gestuften Reichsuntertanenverbandes erklären lassen wird. Denn als solchen stelle ich mir jetzt das fränkische und spätere deutsche Reichsvolk und damit die Summe derjenigen geschichtlichen Kräfte vor, die sich in der Erhebung von Königen und geistlichen oder weltlichen Fürsten äußerten und von diesen zwar geführt und regiert, niemals aber entmündigt werden konnten. Sie denke ich mir als eigentliche Schöpfer der mittelalterlichen Reichs- und Landesverfassung, weil sich zu jeder Zeit in ihnen und in der Sprache des Volkes das Rechtsgefühl und die Rechtsgedanken lebendig erhielten, die der Verfassung die Form gaben und auch den Willen der Fürsten solange banden, wie diesen keine anderen Rechtsgedanken zur Verfügung standen als den ihnen untertänigen Verbänden. Dies aber war bis zur Wende des 15. Jahrhunderts nicht der Fall. Von da an freilich begannen studierte Berater der Fürsten und, so zuerst zu Nürnberg in den Jahren 1479 / 1484, der Stadträte damit, in das damals noch junge, nämlich erst
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vom mittelhochdeutschen Sprachgebrauch geschaffene Wort Obrigkeit den Sinn der altrömischen Magistratur hineinzulegen und damit dem deutschen Rechtsdenken jene Spaltung der Rechtsmaterie in öffentliches und privates Recht aufzudrängen, die ihm, weil römischen Ursprungs, im Mittelalter ganz fremd geblieben war und es noch lange blieb, wie die zähe Verteidigung des Identitätssystems durch die Landstände selbst über ihre im 17. Jahrhundert eingetretene politische Entmachtung hinaus beweist. Dieses deutsche Rechtsbewußtsein setzte dem fürstlichen Absolutismus einen zähen, von keinem Machtwort zu brechenden Widerstand entgegen und rief im Laufe des 18. Jahrhunderts jene rechtshistorische Forschung ins Leben, die sich nicht nur in den zuerst von der Französischen Revolution ausgelösten Verfassungskämpfen zum Fürsprecher der nationalen Rechtseinheit, des Liberalismus und der Demokratie erhob, sondern auch die Rekonstruktion der mittelalterlichen Reichsverfassung und ihrer Geschichte in Angriff nahm, die mit dem Namen Georg Waitz’ verbunden und bis heute nicht vollendet ist. Warum ich mein Unternehmen eine Verfassungslehre nenne, das habe ich im Zwölften Kapitel und in der Schlußbetrachtung darzustellen oder wenigstens anzudeuten versucht. Es genauer zu begründen, dazu fehlen mir, da mein Leben zu Ende geht, die Kräfte. Ich halte an dem Namen fest, weil ich sehr wohl weiß, daß ich dem Leser keine Verfassungsgeschichte biete, sondern lediglich die Grundsätze entwickle, nach denen eine solche geschrieben werden könnte. Ich bin mir dessen bewußt, daß die Brauchbarkeit der Lehre und damit die Richtigkeit der These, die ich ihr zugrundelege, erst dann erwiesen sein wird, wenn sie sich als Grundlage einer Verfassungsgeschichte des Mittelalters bewährt haben wird. Ich nenne mein Unternehmen aber auch deshalb eine Verfassungslehre, weil ich erwarte, daß die Einführung der verfassungsrechtlichen Realtradition des Mittelalters in die europäische Staatslehre und Staatsphilosophie ein neues Licht auf die Geschichtsmächtigkeit der gemeinen Willensbildung in den Formen der Repräsentativverfassung werfen wird, da sie aufzeigen kann, daß das Repräsentativsystem als in politischer Praxis rationalisierter Abkömmling des Identitätssystems ein Geschöpf nicht irgendeiner gelehrten oder gar utopischen Spekulation, sondern der ihre Angelegenheiten selbst verwaltenden und ihre Staaten selbst verfassenden Völker Europas gewesen ist: ein System also, dessen Grund von ihnen in einer Zeit gelegt worden ist, als die Pflege und Fortbildung des Rechts noch in Laienhänden lag und in der Volkssprache vonstatten ging, die jedermann erlaubte, sich an ihr zu beteiligen. Akzeptiert man, was ich meine, wenn ich unter Verwendung einer heute veralteten Sprech- und Denkform sage: das System ist erfüllt von dem Geiste der europäischen Nationen, deren Sprach- und Denkweise den Geist ihrer Gesetze überhaupt bestimmt, so kann man verstehen, warum es sich als so schwierig erweist, die rechtsstaatliche Repräsentativverfassung über die Grenzen Europas und Nordamerikas hinaus in der Welt zu verbreiten.
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