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German Pages 314 Year 2021
Schriften zum Steuerrecht Band 158
Verfassungs- und europarechtliche Grenzen einer Besteuerung des Einkommens unter Berücksichtigung exogener Charakteristika
Von
Rowena Sachsenweger
Duncker & Humblot · Berlin
ROWENA SACHSENWEGER
Verfassungs- und europarechtliche Grenzen einer Besteuerung des Einkommens unter Berücksichtigung exogener Charakteristika
S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 158
Verfassungs- und europarechtliche Grenzen einer Besteuerung des Einkommens unter Berücksichtigung exogener Charakteristika
Von
Rowena Sachsenweger
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.
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Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-18232-9 (Print) ISBN 978-3-428-58232-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Inwiefern können natürliche Unterschiede zwischen den Menschen Abweichungen in der Einkommensbesteuerung rechtfertigen? Wie wird Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht definiert? Und in welchem Zusammenhang stehen Gleichheit, Effizienz und Umverteilungsgerechtigkeit? Diese und weitere Fragen stehen im Fokus vorliegender Arbeit, die sich der verfassungs- sowie europarechtlichen Analyse der Berücksichtigung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht widmet und im Frühjahrs- / Sommersemester 2020 von der Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, Abteilung Rechtswissenschaft, der Universität Mannheim als Dissertationsschrift angenommen wurde. Rechtsprechung wurde bis November 2017 berücksichtigt; die zitierte Literatur konnte größtenteils auf den Stand November 2020 aktualisiert werden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Thomas Fetzer für die Betreuung und Unterstützung während der Erstellung meiner Dissertationsarbeit. Die Zeit an seinem Lehrstuhl hat mich in fachlicher sowie persönlicher Hinsicht sehr bereichert und wird mir stets in guter Erinnerung bleiben. Weiterhin danke ich Herrn Professor Dr. Andreas Engert für die freundliche Übernahme und zügige Anfertigung des Zweitgutachtens. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Andreas Peichl, der das Thema anregte und mit seinem Team von volkswirtschaftlicher Seite her unterstützte. Die Kooperation mit dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim ermöglichte es mir, ein solch interdisziplinäres Thema zu bearbeiten. Eine große Unterstützung während meiner Promotionszeit waren meine Lehrstuhlkollegen, bei denen ich mich für die unvergessliche Lehrstuhlzeit, die unzähligen Diskussionen und die Aufmunterung in schwierigen Phasen bedanke. Insbesondere Florian Ferrenberg und Carsten Zahn danke ich für das sorgfältige und kritische Korrekturlesen meiner Arbeit. Meinen Eltern gilt mein großer Dank für deren Unterstützung und Rückhalt in allen Lebenslagen. Zum Schluss möchte ich meinem Verlobten Laurenz danken – für den wertvollen Gedankenaustausch, die unerlässliche Bestärkung und dass er immer an mich glaubt. Ihm und unserem Sohn Alexander widme ich diese Arbeit. Mannheim, im November 2020
Rowena Sachsenweger
Inhaltsverzeichnis Teil 1
Das „Tagging“-Prinzip 17
A. Die Lehre von der optimalen Einkommensteuer als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . 17 I. Historische Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Inhalt und Zielsetzung der Optimalsteuertheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Zusammenhang zwischen Umverteilung und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Folgerungen für die wohlfahrtsoptimale Steuerausgestaltung . . . . . . . . . . . . 25 B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Exogene und endogene Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Verhaltenswirkungen des Einkommensteuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Einflussfaktoren in der geltenden Einkommensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . 26 2. Verhaltensanpassungen der Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Die Besteuerung exogener Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Steigerung der Wohlfahrt durch „Tagging“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Vorteile einer Beschränkung auf exogene Charakteristika . . . . . . . . . . . . 29 b) Auswirkungen exogener Merkmale auf das Verhältnis „effort“ zu „income“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 c) Gleichzeitige Realisierbarkeit von Umverteilung und Effizienzsteigerung 31 2. Mögliche Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 IV. Maßgebliche Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Genetische Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 b) Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 d) Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Sozialer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Bildungsabschluss der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 c) Einkommen der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
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Inhaltsverzeichnis I. Modellansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. „Regressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Ausgangsmodelle mit Regressionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 aa) Kopfsteuer-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 bb) Kopfsteuer-Modell mit Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 cc) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Einbeziehung exogener Merkmale in die „Regressionsmodelle“ . . . . . . . 50 aa) „Pauschalsteuer“-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 bb) „Pauschalsteuer-Modell“ mit Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 cc) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. „Progressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Ausgangsmodelle mit Progressionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 aa) Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 bb) Modell mit progressivem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Einbeziehung exogener Charakteristika in die „Progressionsmodelle“ . . 57 aa) Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 (1) Variante mit variierendem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 (2) Variante mit variierendem Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (3) Würdigung der Modellvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 bb) Modell mit progressivem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (1) Variante mit variierendem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (2) Variante mit variierendem Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (3) Würdigung der Modellvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Beurteilung der Modellansätze im Kontext der Optimalsteuerlehre . . . . . . . . . . 63 Teil 2
Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten 65
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I. Beurteilung der Modellansätze nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips 66 1. Grundsätzliche Ausführungen zum Leistungsfähigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . 66 a) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Bezugsgrößen der Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 c) Kritik der Literatur am Leistungsfähigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Vorgaben für die Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs . . . . . . . . . . . . . 74 a) Das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . . 74 aa) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 bb) Steuerfreies Existenzminimum als Ausdruck subjektiver Leistungs fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Inhaltsverzeichnis
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(1) Eigenes Existenzminimum des Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . 76 (2) Familienexistenzminimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 cc) Verhältnis zum Sozialhilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 dd) Steuerfreiheit des Existenzminimums nur für Geringverdiener? . . . . 82 ee) Beurteilung der Zulässigkeit des „klassischen“ Kopfsteuermodells . 84 ff) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Maßstäbe des Leistungsfähigkeitsprinzips für den Tarifverlauf . . . . . . . . 85 aa) Vertikale Steuergerechtigkeit als maßgebliches Umverteilungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (1) Sozialstaatliche Prägung der Umverteilungsprämisse . . . . . . . . . 86 (2) Verfassungsrechtliche Einordnung eines regressiven Tarifverlaufs 87 (3) Beurteilung der Zulässigkeit des Kopfsteuermodells mit Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 (4) Beurteilung der Zulässigkeit eines regressiven Grenzsteuersatzes 90 (5) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Zwingendes Erfordernis einer Progression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (1) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (2) Finanzwissenschaftliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (3) Meinungsstand in der juristischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 cc) Flat Tax oder Progression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (1) Verfassungsrechtliche Analyse von Einheits- und Progressions tarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (a) Grenzen der Umverteilung anhand der Einkommenshöhe . . 96 (b) Beurteilung der Zulässigkeit der Tarifarten . . . . . . . . . . . . . 98 (c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (2) Diskussion um die Einführung einer Flat Tax . . . . . . . . . . . . . . . 101 (a) Populäre Reformkonzepte für die Einführung einer „FlatRate-Tax“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (aa) Reformkonzept von Hall / Rabushka . . . . . . . . . . . . . . . 102 (bb) Konzept einer Einfachsteuer von Rose (EFStG) . . . . . 102 (cc) Reformansatz von Mitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (dd) Die „Netto-Einkommensteuer“ (NESt-E) von Elicker . 104 (ee) Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF . 104 (ff) „Bundessteuergesetzbuch“ von Kirchhof . . . . . . . . . . 105 (gg) Zwischenfazit: Wesentliche Elemente der Flat-TaxKonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (b) Vor- und Nachteile eines „Flat-Tax“-Konzepts . . . . . . . . . . . 106
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Inhaltsverzeichnis (c) Proportionale Besteuerung im geltenden Einkommensteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Folgerungen zur Zulässigkeit der Ausgangsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4. Abweichende Beurteilung bei zusätzlicher Einbeziehung exogener Merkmale? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Vergleich der Tarifgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) „Regressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (1) Pauschalsteuer-Modell ohne Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . 114 (2) Pauschalsteuermodell mit Grundfreibetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (3) Modell mit regressivem Grenzsteuertarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (4) Zwischenfazit zur Zulässigkeit der „Regressionsmodelle“ . . . . . 117 bb) „Progressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (1) Folgen einer Einbeziehung exogener Charakteristika . . . . . . . . . 118 (2) Folgerungen im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeit . . 118 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Modifizierung des Grundfreibetrags oder des Einkommensteuertarifs? . . 119 aa) Abweichungen im Verlauf der Durchschnittssteuertarife . . . . . . . . . . 119 bb) Verfassungsrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5. Ausgestaltungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Zulässigkeit der Besteuerung ausgewählter exogener Charakteristika . . . . . . . . 122 1. Rechtlich relevante Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Dogmatische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (1) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (2) Anknüpfung an die Körpergröße als mittelbare Diskriminierung? 126 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Dogmatische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 (1) Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 (2) Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern . . . . . . . . . . . . . . 135 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Dogmatische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Inhaltsverzeichnis
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bb) Benachteiligung im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (1) Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (2) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 cc) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 d) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Dogmatische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Rechtfertigung der Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Festlegung des Prüfungsmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Indikatoren für den Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Verhältnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zu speziellen Gleichheitssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 cc) Prüfungsmaßstab in den vorliegenden Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (1) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (2) Sozialer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (3) Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (4) Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (5) Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Verfolgung eines legitimen Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Zulässigkeit außerfiskalischer Zwecke von Steuernormen . . . . . 155 (a) Arten von Steuernormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (aa) Fiskalzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (bb) Sozialzwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (cc) Vereinfachungszwecknormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (b) Steuerliche Sonderbehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (aa) Steuervergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (bb) Steuerbenachteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (d) „Tagging“-Normen als Steuervorschriften . . . . . . . . . . . . . . 162 (aa) Einordnung als steuerliche Sonderbehandlung? . . . . . . 162 (bb) Einordnung innerhalb der Steuerarten . . . . . . . . . . . . . 163 (e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (2) Für eine Umverteilung maßgebliche Verfassungsprinzipien . . . . 164 (a) Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . 165 (b) Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . 167 (aa) Rechtliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (bb) Faktische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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Inhaltsverzeichnis (cc) Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (c) Gleichberechtigung der Geschlechter nach Art. 3 Abs. 2 GG 173 (d) Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . 174 (e) Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . 175 (f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Eignung zur Zielerreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (1) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (2) Geeignetheit im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 cc) Erforderlichkeit der Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (1) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (2) Diskussion möglicher Alternativmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 179 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 dd) Widerstreitende Positionen im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation 182 (1) Differenzierung nach dem Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (a) Maßstäbe für die Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (aa) Möglichkeit einer Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (bb) Aktuelle Diskussion um Quotenregelungen . . . . . . . . . 185 (cc) Folgerungen für eine Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (b) Beurteilung der Angemessenheit im konkreten Fall . . . . . . . 192 (c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (2) Differenzierung nach dem sozialen Hintergrund . . . . . . . . . . . . . 196 (a) Beurteilung der Angemessenheit im konkreten Fall . . . . . . . 196 (aa) Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (bb) Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern . . . . . . 199 (b) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (3) Differenzierung nach dem Vorliegen einer Behinderung . . . . . . . 203 (a) Kriterium der Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (b) Intensität der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (4) Differenzierung nach dem Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (a) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (b) Schwerpunkt auf europarechtlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . 208 (c) Würdigung im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 (d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (5) Differenzierung nach der Körpergröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Inhaltsverzeichnis
13
(a) Sachgerechte Differenzierungen nach der Körpergröße . . . . 210 (b) Würdigung im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Zwischenfazit zur Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Zwischenfazit zur Verletzung von Gleichheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 I. Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Beeinträchtigung des Schutzes von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Eingriff im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 II. Vereinbarkeit mit Art. 14 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Eingriff durch Auferlegung öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten 221 aa) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 bb) Stand der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 cc) Würdigung der Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Relevanz der Eigentumsgarantie für Umverteilungsnormen . . . . . . . . . . 225 aa) Beurteilung bei Lenkungszwecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 bb) Folgerung für die Verhältnismäßigkeit bei Umverteilungsnormen . . 226 d) Eingriff im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Verhältnismäßigkeitsprüfung bei steuerlichen Belastungswirkungen . . . 227 b) Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 III. Vereinbarkeit mit Art. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Beeinträchtigung der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 b) Steuerliche Regelungen als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . 231 aa) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 bb) Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 cc) Würdigung der Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Eingriff im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Arbeitszwang oder Zwangsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
14
Inhaltsverzeichnis a) Grundsätzliche Abgrenzungsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Arbeitszwang oder Zwangsarbeit durch steuerliche Zusatzbelastung . . . 236 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 IV. Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Subsidiarität im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 V. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
C. Ergebnis zur Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Teil 3
Vereinbarkeit mit Europarecht 239
A. Zusammenhang zwischen Europarecht und Einkommensteuerrecht . . . . . . . . . . . . . 239 I. Begrenzte Einzelermächtigung und Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 II. Einfluss des Unionsrechts auf direkte Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 B. Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I. Sekundärrecht auf dem Gebiet der Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 II. Bedeutung für die nationale Einkommensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 III. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 I. Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Bedeutung für direkte Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Grundfreiheitsverstoß im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4. Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 II. Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Relevanz im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Beihilferecht nach Art. 107 ff. AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Relevanz im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Inhaltsverzeichnis
15
3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 IV. Werte der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Anforderungen an die Einleitung des Sanktionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Relevanz im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 V. Sonstige primärrechtliche Vorschriften und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Gleichheit, Antidiskriminierung und Gleichberechtigung im Primärrecht . . 262 2. Bedeutung für direkte Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3. Relevanz im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 VI. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 D. Ergebnis zur Vereinbarkeit mit Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Teil 4
Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung 267
A. Steuergesetzgebungskompetenz im europarechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 267 B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 I. Kompetenzrechtliche Einordnung von umverteilenden Einkommensteuernormen 269 1. Mögliche Kompetenzgrundlagen im vorliegenden Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Meinungsstand bezüglich Lenkungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Übertragbarkeit der Grundsätze auf Umverteilungsnormen . . . . . . . . . . . . . 272 4. Würdigung der Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 II. Qualifizierung der Modellansätze als einkommensteuerrechtliche Normen . . . . 273 1. Abschließende Ertragszuweisung des Art. 106 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Einordnung der verschiedenen Modellansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 a) „Regressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 aa) Pauschalsteuer-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 bb) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) „Einheitssteuermodelle“ und „Progressionsmodelle“ . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 III. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 C. Ergebnis zur finanzverfassungsrechtlichen Umsetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
16
Inhaltsverzeichnis Teil 5
Fazit und Ausblick 281
Teil 6
Abschließende Thesen 283
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Teil 1
Das „Tagging“-Prinzip Anstoß für die Diskussion vorliegender Thematik in der neueren Debatte gab Akerlof im Jahre 1978.1 In seinem Beitrag führte er den Begriff des „Tagging“ ein, den er von dem englischen Verb „to tag“ ableitet, was wiederum „kennzeichnen“ oder „identifizieren“ bedeutet. Unter „Tagging“ im Einkommensteuerrecht versteht man ein System, in dem die Höhe der Einkommensteuer von bestimmten persönlichen Merkmalen, wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder Körpergröße, abhängig gemacht wird. In die Betrachtung werden solche Eigenschaften einbezogen, von denen sich Rückschlüsse auf das Potenzial zur Erzielung von Einkünften ziehen lassen. Jeder Steuerpflichtige wird anhand dieser bestimmten „tags“ (= Charakteristika) „identifiziert“, um so die Höhe der von ihm zu zahlenden Einkommensteuer zu bestimmen.2
A. Die Lehre von der optimalen Einkommensteuer als Ausgangspunkt Da die „Tagging“-Idee auf dem Grundgedanken der Theorie von der optimalen Einkommensteuer basiert, sind, um vorliegende Fragestellung besser nachvollziehen zu können, deren Idee und Zielsetzung vorab einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
I. Historische Hintergründe Bereits im Jahre 1776 zeigte Smith vier Besteuerungsgrundsätze auf, an denen sich ein Steuersystem orientieren sollte: „Gleichmäßigkeit“, „Bestimmtheit“, „Bequemlichkeit“ und „Billigkeit“ der Steuer.3 Diese renommierten Prinzipien werden bis heute als gültig angesehen4 und wurden in der nachfolgenden Zeit von
1
Akerlof, AER 1978, 8. Zum Ganzen: Akerlof, AER 1978, 8 (8). 3 Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 703 ff. 4 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 12; differenzierter: Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, der eine Konkretisierung der verschiedenen Prinzipien vornimmt. 2
18
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Ökonomen bei dem Versuch, ein „rationales“, „ideales“ oder „optimales“ System staatlicher Einnahmen5 zu entwickeln, wiederholt aufgegriffen und modifiziert. In der deutschen Finanzwissenschaft kamen ebenfalls Denkansätze in diese Richtung auf. So forderte Wagner eine Steuerpolitik, die eine Umverteilung des Wohlstands zur Folge hat.6 Heidrich wagte den Versuch, oberste Gestaltungsprinzipien für die Besteuerung festzulegen.7 Im Zentrum steht für ihn der Besteuerungsvorgang als „rationale Handlung“.8 Auch Mann setzte sich mit dem „Ideal eines rationalen Steuersystems“ auseinander.9 Als „rational“ versteht er eine „natürliche“ und „richtige“ Finanzverfassung, die zugleich systemhaft und praktisch ausgestaltet ist, und hebt in diesem Kontext das Allgemeinheits- und Gleichmäßigkeitspostulat sowie das Gleichheitspostulat hervor.10 Haller beabsichtigt, Leitlinien für die Gestaltung einer „optimalen“ Besteuerung festzulegen.11 Dasselbe Ziel verfolgt Neumark, der die zu Beginn genannten vier Besteuerungsgrundsätze einer genaueren Betrachtung unterzieht.12 Er stellt fest, dass der wichtigste Zweckgegensatz zwischen den Postulaten, die Gerechtigkeit („equity“) fordern und denen, die auf eine ökonomische Rationalität im weiteren Sinne („efficiency“) abzielen, angenommen werde, seiner Auffassung nach dabei jedoch differenzierter vorgegangen werden müsse.13 Im Kontext der Optimalsteuerlehre werden insbesondere die optimale Verbrauchsbesteuerung und die optimale Einkommensteuer diskutiert.14 Für vorliegende Arbeit ist ausschließlich Letztere von Relevanz. Im angelsächsischen Bereich wird Mirrlees mit seinem renommierten Werk15 als Vorreiter der „Optimal income taxation“-Literatur angesehen.16 Die Einkommensumverteilung ist in das Zentrum der Umverteilungsdiskussionen gerückt, da diese zum einen durch Steuern und Transfers politisch viel schneller beeinflusst werden kann als die Verteilung von Chancen und zum anderen Vermögen und Einkommen eindeutig definiert sowie statistisch gut erfasst sind.17
5
Zu diesen Begriffen siehe: Rose / Wiegard, in: Pohmer, Zur optimalen Besteuerung, S. 9 (11). 6 Wagner, Finanzwissenschaft, Bd. II, S. 207 ff. 7 Heidrich, Die Lehre von den obersten Steuerprinzipien. 8 Heidrich, Die Lehre von den obersten Steuerprinzipien, S. 44. 9 Mann, Steuerpolitische Ideale. 10 Mann, Steuerpolitische Ideale, S. 115 ff. 11 Haller, Die Steuern. 12 Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik. 13 Ausführlich: Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, S. 387; so auch: Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 223. 14 Schmidt, in: Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II, S. 119 (156). 15 Mirrlees, REStud 1971, 175. 16 So spricht beispielsweise Diamond, AER 1998, 83 (83) von dem „Mirrlees optimal income tax model“. 17 Felbermayr / Battisti / L ehwald, ifo Schnelldienst 2016, 28 (28).
A. Die Lehre von der optimalen Einkommensteuer als Ausgangspunkt
19
Die Theorie der optimalen Einkommensteuer stellt eine Weiterentwicklung der ökonomischen Denkansätze dar. Zu Beginn dominierten die traditionellen Opfertheorien, nach denen die Einkommensbesteuerung so ausgestaltet sein soll, dass alle Steuerpflichtigen das gleiche Opfer erbringen.18 Diese Ansätze gehen davon aus, dass der Nutzen einer Person allein vom individuellen Einkommen abhängt; im Zentrum steht die Verteilungsproblematik der Besteuerung.19 Sie erscheinen jedoch vor dem Hintergrund problematisch, dass sie negative Anreize auf Steuerpflichtige missachten, die sich in Ausweichreaktionen auf eine umverteilende Besteuerung äußern können.20 Steuerpflichtige passen als Reaktion auf die Auferlegung einer Steuer ihr Verhalten so an, dass die aus der Besteuerung resultierenden Belastungen minimiert werden.21 Der heutige Stand der Optimalsteuerlehre knüpft an diese Überlegungen an, indem er zwar ebenfalls das Verteilungsziel in den Vordergrund stellt, jedoch auch gleichzeitig eine effiziente Besteuerung in die Zielsetzung mit aufnimmt.22 Die Theorie von der optimalen Besteuerung gilt als der „aktuell bedeutendste Entwurf eines rationalen Steuersystems“.23
II. Inhalt und Zielsetzung der Optimalsteuertheorie Zu der Frage, wann ein Steuersystem „optimal“ ausgestaltet ist, werden viele Theorieansätze vertreten. Die Optimalsteuerlehre selbst ist Ausprägung des utilitaristischen Ansatzes der Ökonomie.24 Dieser stellt eine „besondere Spielart des Welfarismus“ („welfare“ = Wohlfahrt) dar, welcher wiederum – wie sich bereits aus dem Namen schließen lässt – das Ziel der Steuerpolitik in der Maximierung einer sozialen Wohlfahrtsfunktion sieht.25 Der Utilitarismus versteht die soziale Wohlfahrt als Summe aller individuellen Nutzen und hat zum Ziel, ein Umverteilungssystem zu finden, das die größte Wohlfahrt hervorbringt.26
18
Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 207, nach dem die Idee des opfertheoretischen Ansatzes wohl auf John Stuart Mill zurückgeht (Mill, Principles of Political Economy, S. 804). 19 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 278 f.; siehe auch: Weinzierl, J. Pub. Econ. 2014, 128 (136 ff.), der die Unterschiede zwischen utilitaristischem Ansatz und der Opfertheorie veranschaulicht. 20 Ramser, Optimale Einkommensteuer, S. 1. 21 Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 99. 22 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 278 ff. 23 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 249. 24 So sprechen beispielsweise Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (174 f.) von „utilitarian social planner“ (174) und „utilitarian approach“ (175). 25 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 209. 26 Mirrlees, in: Sen / Williams, Utilitarianism and beyond, S. 63 (63); Vorwold, Umsteuern!, S. 37; Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 209; hierzu auch: Eckhoff, StuW 2016, 207 (219); Genser, in: Genser / Ramser / Stadler, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, S. 1 (2).
20
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
1. Zusammenhang zwischen Umverteilung und Effizienz Die Theorie der optimalen Besteuerung wurde unter der Prämisse entwickelt, dass sich ein aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive „optimales“ Steuersystem grundsätzlich an zwei Zielkategorien zu orientieren hat: Verteilungsgerechtigkeit („Distributionszielsetzung“) und Effizienz („Allokationszielsetzung“).27 Ausgangspunkt ist die (vereinfachte) Annahme, dass sich die soziale Wohlfahrt („Utility“) aus der Summe aller individuellen Nutzen (Ʃ Ui) zusammensetzt.28 Es ist zudem vorgegeben, dass jeder individuelle Nutzen Ui positiv vom individuellen (Netto-) Einkommen („income“ = i) und negativ vom Arbeitsaufwand („effort“ = e) abhängt. Die erste Ableitung von U nach e ist somit negativ, die nach i dagegen positiv. Jeder Einzelne beschließt für sich, wie viel Freizeit er für ein bestimmtes Nettoeinkommen opfern will.29 Letzteres kann entweder verbraucht oder gespart werden, wobei unterstellt wird, dass nur sein Konsum den individuellen Nutzen steigert. Deshalb ist vorliegend aus Vereinfachungsgründen zusätzlich zu unterstellen, dass das Nettoeinkommen nicht angespart und damit über Perioden hinweg transferiert, sondern immer vollständig konsumiert wird, sodass es in voller Höhe den Nutzen steigert. Nach der Grenznutzentheorie, die unter anderem auch die Opfertheorien ihren Ansätzen zugrunde legen, fällt die Höhe des Nutzenzuwachses mit steigendem Einkommen.30 Daraus folgt, dass der Einzelne nur bis zu einem bestimmten Punkt arbeitet, ab dem ihm das, was er (netto) mehr verdienen würde, die zusätzliche Arbeit, die er hierfür leisten müsste, nicht wert ist. Er maximiert seinen individuellen Nutzen, indem er sich ab diesem Punkt für mehr Freizeit und gegen zusätzliches Einkommen entscheidet. Die Entscheidung, wie viel Arbeitsaufwand erbracht wird, hängt maßgeblich von der Höhe des Nettoeinkommens ab, die ihrerseits von vielen Faktoren, wie zum Beispiel dem Steuersatz, beeinflusst wird. Steuersenkungen führen zu einem Anstieg des Arbeitsangebotes und Steuererhöhungen umgekehrt zu dessen Sinken.31
27
Biene, Die Theorie der optimalen Besteuerung unter wohlfahrtsökonomischen Aspekten, S. 3; Rose / Wiegard, in: Pohmer, Zur optimalen Besteuerung, S. 9 (13 ff.); Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 251. 28 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 209; Houben / Chirvi, Reformnotwendigkeit und Reformalternativen für den Einkommensteuertarif, ifst-Schrift Nr. 517 (2017), S. 10 f. 29 Mirrlees, in: Sen / Williams, Utilitarianism and beyond, S. 63 (63). 30 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 37: Grenznutzentheorie als „Spielart“ der Opfertheorien; so auch: Houben / Chirvi, Reformnotwendigkeit und Reformalternativen für den Einkommensteuertarif, ifst-Schrift Nr. 517 (2017), S. 10. 31 Goolsbee, JPE 2000, 352 (354).
A. Die Lehre von der optimalen Einkommensteuer als Ausgangspunkt
21
Abbildung 1:32 Abnehmender Grenznutzen
Dem progressiven Steuersatz, der im deutschen Einkommensteuerrecht in § 32a EStG geregelt ist, liegt bereits ein Umverteilungsgedanke zugrunde.33 Unter Umverteilung versteht man ein Instrument, durch das eine gewillkürte Zuweisung von Einkommen und Vermögen erfolgt.34 Sie stellt die Ausnahme einer Regelverteilung dar, indem sie dieser Positionen entzieht sowie hinzufügt.35 Die Distributionszielsetzung ist, wie bereits erläutert, eine der Zielkategorien der Optimalsteuerlehre. Da – ausgehend von der Grenznutzentheorie – durch den Anstieg von Einkommen der Grenznutzen sinkt, ist, wenn Einkommen von Vielauf Geringverdiener umverteilt wird, der Nutzenzuwachs bei Letzteren höher als die Nutzeneinbuße, die hierdurch gleichzeitig bei den einkommensstarken Steuerpflichtigen erfolgt.
32
Nachbildung der Darstellung bei: Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 37. Siehe hierzu: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 403 ff.; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 802; Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 33; Schmidt, Die Steuerprogression, S. 58 ff.; Bareis, in: Kube / Mellinghoff / Morgenthaler / Palm / P uhl / Seiler, Leitgedanken des Rechts, Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. II, § 166 Rn. 10; Bareis, DStR 2010, 565 (567); Flockermann, in: Kirchhof / Offerhaus / Schöberle, Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, Festschrift für Franz Klein, S. 393 (396); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 84; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Einkommensungleichheit und soziale Mobilität, Gutachten, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium. de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/ Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/2017-02-28-einkommensungleichheitund-soziale-mobilitaet-anlage.pdf;jsessionid=900C8181F084F8AC7AE2EF577907BF38?__ blob=publicationFile&v=6 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 18. 34 Zacher, DÖV 1970, 3 (4). 35 Zacher, DÖV 1970, 3 (5). 33
22
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Steuersatz
Der Nutzen wäre damit für die gesamte Bevölkerung bei gleichmäßiger Verteilung des Einkommens auf alle Individuen am größten.36 Folglich wird durch Einkommensumverteilung prinzipiell die Wohlfahrt gesteigert.
50 %
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
40 %
30 %
20 %
10 %
50.000 €
100.000 €
150.000 €
200.000 €
250.000 €
z. v. E.
Abbildung 2:37 Progressiver Einkommensteuertarif
Jedoch wirkt der progressive Tarif verzerrend auf das Entscheidungsverhalten des Steuerpflichtigen: Je stärker die Steuerprogression ist, desto geringer fällt das zusätzliche Nettoeinkommen aus, das er durch Mehrarbeit erzielt. Infolgedessen sinkt die Motivation des Steuerpflichtigen, weiteren Aufwand für ein im Ergebnis höheres Nettoeinkommen zu investieren, sodass er der Freizeit viel früher Vorrang vor zusätzlichem Einkommen gewähren wird. Um nicht zu wohlfahrtsökonomisch unsinnigen Ergebnissen zu gelangen, muss ein rationales Steuersystem berücksichtigen, dass steuerpflichtige Personen ihren persönlichen Vorteil über das öffentliche Wohl stellen, also netto „nach Steuern“ planen, indem sie diese Belastungen in ihren Entscheidungen antizipieren (ex-ante-Betrachtung).38 Von dem progressiven Einkommensteuertarif gehen negative Anreize auf die Ausübung von Arbeitsaufwand beziehungsweise die Wahl einer aufwandsintensiven Ausbildung
36
Houben / Chirvi, Reformnotwendigkeit und Reformalternativen für den Einkommensteuertarif, ifst-Schrift Nr. 517 (2017). 37 Nachbildung der Darstellung bei: Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 633. 38 Schanz / Schanz, Business Taxation and Financial Decisions, 2011, S. 3 f. (mit kurzem Rechenbeispiel); Wagner, DStR 2014, 1133 (1136).
A. Die Lehre von der optimalen Einkommensteuer als Ausgangspunkt
23
aus; er wirkt damit „leistungshemmend“.39 Daneben sind weitere unerwünschte Ausweichreaktionen, wie Migration, Steuervermeidung oder sogar Steuerhinterziehung, als Folge eines hohen Steuersatzes denkbar.40
Steueraufkommen
Diese Verhaltenswirkungen lassen sich im Allgemeinen durch die sogenannte „Laffer-Kurve“ veranschaulichen, die parabelförmig verläuft und den Zusammenhang zwischen Steuersatz und Steueraufkommen abbildet.41
Maximales Steueraufkommen
100 % Tarifhöhe
Abbildung 3:42 Laffer-Kurve
Bis zu einer bestimmten Höhe des Steuertarifs hat dessen Anstieg einen posi tiven Effekt auf das Steueraufkommen; er kann also die aus den Ausweichreaktionen resultierenden Einbußen kompensieren. Bei einer bestimmten Tarifhöhe wird das Steueraufkommen schließlich maximiert. Wird dieser Punkt überschritten, so führt eine Steuererhöhung zum Sinken des gesamten Steueraufkommens, da nun der Steuerbasiseffekt den Tarifeffekt dominiert, also die steuerlichen Einbußen infolge eines Rückgangs des Arbeitsangebotes die zusätzlichen Steuereinnahmen, die durch den Tarifanstieg generiert werden, übersteigen.43 39 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803; Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 279; kritisch hierzu: Suttmann, Die Flat Tax, S. 116 ff.; Andel, Finanzwissenschaft, S. 138 ff. 40 Vorwold, WPg 2003, 803 (809). 41 Hierzu beispielsweise: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 17 f.; Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, 2. Teil Rn. 52; Houben / Chirvi, Reformnotwendigkeit und Reformalternativen für den Einkommensteuertarif, ifst-Schrift Nr. 517, S. 12. 42 Teilweise Nachbildung der Darstellung bei: Elicker, Entwurf einer proportionalen NettoEinkommensteuer, 2. Teil Rn. 52. 43 Zu den Auswirkungen hoher Steuersätze auf die Steuerbasis auch: Vorwold, WPg 2003, 803 (809).
24
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Anders als bei der „Laffer-Kurve“, die die Effekte einer allgemeinen Steuererhöhung abbildet, ergibt sich bei einer Umverteilung durch einen progressiven Steuertarif für den Staat zwar kein Vorteil in Gestalt höherer Steuereinnahmen, da die höheren Steuereinnahmen von Mehrverdienern auf Geringverdiener umverteilt werden, indem für Letztere ein vergleichsweise geringerer Steuersatz gilt. Die Ausgestaltung der Einkommensbesteuerung derart, dass zusätzliche Arbeit und der damit einhergehende Anstieg des Einkommens einen höheren Steuertarif zur Folge hat, bewirkt allerdings, wie in der Laffer-Kurve verdeutlicht, einen Rückgang des Arbeitsangebotes. Die Umverteilung durch einen progressiven Steuertarif zieht demnach Effizienzverluste nach sich.44 Da sich Anreizverluste nachteilig auf das vom Haushalt erwirtschaftete Einkommen auswirken, gibt es als Folge weniger Einkommen, das umverteilt werden kann, wodurch wiederum die Wohlfahrt sinkt. Auf sogenannte „lump-sum“-Steuern, also solche, die unabhängig vom Verhalten des Steuerpflichtigen erhoben werden, kann der Steuerpflichtige nicht durch Steuervermeidung in Form von Substitutionseffekten reagieren.45 Somit können hierdurch Verzerrungseffekte vollständig vermieden werden.46 Es wird ein „paretoeffizienter“ Zustand hergestellt, in dem es nicht möglich ist, eine Person besser zu stellen, ohne dass hierdurch gleichzeitig eine andere Person schlechter gestellt wird.47 An solchen allokationsneutralen Modellen wird kritisiert, dass es für den Staat schwierig sei, Bemessungsgrundlagen ohne Ausweichreaktionen zu finden, weshalb dieser auf leichter verifizierbare Sachverhalte, wie beispielsweise das Einkommen, zurückgreifen müsse.48 Pauschalsteuern seien deshalb finanzpolitisch nicht praktikabel, sodass es keine geeigneten allokationsneutralen Steuersysteme gebe.49 Zudem sind diese, auch sogenannte „erstbeste“ Steuern, sowohl verfassungsrechtlicher50 als auch politischer Kritik ausgesetzt.51 Aus diesen Gründen ist für die Optimalsteuerlehre charakteristisch, dass Pauschalsteuern für ihre Theorieansätze a priori nicht zur Disposition stehen.52 Die Theorie von der optimalen 44
So auch: Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 279; Piketty / Saez, in: Handbook of Public Economics, Vol. 5, S. 391 (392, 407): „equity-efficiency trade-off“. 45 Kaiser, Konsumnachfrage, Arbeitsangebot und optimale Haushaltsbesteuerung, S. 16. 46 Rose / Wiegard, in: Pohmer, Zur optimalen Besteuerung, S. 9 (14). 47 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 253. 48 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 255. 49 Kaiser, Konsumnachfrage, Arbeitsangebot und optimale Haushaltsbesteuerung, S. 17 f. 50 Hierauf wird noch im Verlauf der Arbeit eingegangen, siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 2 A. I. 2. a) und 4. a) aa) (1). 51 Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 101; Suttmann, Die Flat Tax, S. 32 ff. 52 Rose / Wiegard, in: Pohmer, Zur optimalen Besteuerung, S. 9 (14); Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 251 f.; Biene, Die Theorie der optimalen Besteuerung unter wohlfahrtsökonomischen Aspekten, S. 125 f.
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
25
Einkommensteuer ist ein Problem der Theorie des „second best“, die sich zum Ziel setzt, eine „zweitbeste“ Lösung zu finden.53 Das Prinzip des „second best“ wurde vor dem Hintergrund geschaffen, dass es realistisch gesehen nicht möglich ist, alle Kriterien zu erfassen, nach denen sich die Fähigkeit einer Person, Einkünfte zu erzielen, bemisst. Aus diesen Gründen wird im Einkommensteuerrecht „hilfsweise“ auf das Einkommen in der Weise zurückgegriffen, dass eine Umverteilung von Steuerpflichtigen mit hohem auf solche mit geringem Einkommen erfolgt. 2. Folgerungen für die wohlfahrtsoptimale Steuerausgestaltung Durch Umverteilung allein kann also eine Maximierung der Wohlfahrt nicht erreicht werden, sondern es müssen zusätzlich Effizienzverluste vermieden werden. Eine völlige Vermeidung von Effizienzverlusten ist jedoch aus verfassungsrechtlichen sowie politischen Gesichtspunkten ebenfalls problematisch. Es gilt, zur Erreichung dieses Ziels einen „optimalen“ Kompromiss zwischen Umverteilungsund Effizienzziel zu finden. Bei der Ausgestaltung eines Umverteilungssystems im Einkommensteuerrecht müssen demnach bei der Bestimmung der maßgeblichen Faktoren mögliche hieraus resultierende Ausweichreaktionen in die Betrachtung mit einfließen. Je weniger negative Verhaltenswirkungen eine Umverteilung zur Folge hat, desto geeigneter ist eine solche zur Wohlfahrtssteigerung. An diese Hintergrundüberlegung knüpft das „Tagging“-Prinzip an und bezweckt, taugliche Anknüpfungspunkte für eine umverteilende Besteuerung zu „identifizieren“.
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips Bei „Tagging“-Einkommensteuermodellen handelt sich in erster Linie um Umverteilungsmodelle, die eine „optimale“ Besteuerung durch Abhängigkeit der Höhe der Einkommensteuer von dem Vorliegen bestimmter exogener Charakteristika erreichen wollen.
I. Exogene und endogene Charakteristika Als persönliche Merkmale eines Menschen lassen sich exogene und endogene Charakteristika unterscheiden. Exogen bedeutet, dass sie grundsätzlich nicht beeinflussbar sind. Hierzu gehören Merkmale wie Alter, Geschlecht, Körpergröße 53
Biene, Die Theorie der optimalen Besteuerung unter wohlfahrtsökonomischen Aspekten, S. 125 f.; Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 255 f.
26
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
und Intelligenz. Diese sind in gewissem Umfang maßgeblich für die Fähigkeiten einer Person (= „abilities“). Die Tatsache, ob bei einer Person eine solche Eigenschaft vorliegt, ist von der Natur gegeben und daher zufallsabhängig. Im Gegensatz dazu liegen endogene Eigenschaften eines Menschen in dessen Einflussbereich, sie hängen also von dessen Präferenzen („tastes“) ab. Hierunter fällt insbesondere der Fleiß, also die Bereitschaft, Leistung („effort“) zu erbringen. Eine Person kann selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang diese Merkmale bei ihr vorliegen. Häufig weisen Charakteristika sowohl exogene als auch endogene Züge auf. So hängen Merkmale wie Ausbildung, Familienstand und Anzahl der Kinder (in unterschiedlichem Umfang) sowohl von „abilities“ als auch „tastes“ ab. Ein weiteres klassisches Beispiel für eine solche Kombination sind die Lohneinkünfte. Während deren Höhe zu einem gewissen Teil im Einflussbereich des Einzelnen liegt, haften diesem zudem gewisse Charakteristika an, die für die Art seines Berufes beziehungsweise die Höhe seiner Einkünfte maßgeblich sind, jedoch von ihm grundsätzlich nicht geändert werden können.54
II. Verhaltenswirkungen des Einkommensteuerrechts Die geltende Einkommensbesteuerung hat eine Umverteilung zum Gegenstand, die sich unter Effizienzgesichtspunkten nachteilig auswirkt.55 Das „Tagging“Prinzip setzt sich zur Aufgabe, derartige Effizienzverluste durch eine Besteuerung exogener Charakteristika zu verringern. Wie dies erreicht werden kann, soll nachfolgend dargestellt werden, wobei zunächst die Rolle exogener sowie endogener Faktoren im Einkommensteuerrecht einer genaueren Betrachtung zu unterziehen ist. 1. Einflussfaktoren in der geltenden Einkommensbesteuerung Bei der Einkommensteuer handelt es sich nach § 2 Abs. 7 Satz 1 EStG um eine Jahressteuer. Sie entsteht gemäß §§ 36 Abs. 1, 25 Abs. 1 EStG mit Ablauf des Kalenderjahres (Veranlagungszeitraum), in dem der Steuerpflichtige Einkünfte erzielt hat. Ihr Zustandekommen lässt sich grob in drei Schritte einteilen: Zunächst wird das „zu versteuernde Einkommen“ nach Maßgabe des § 2 Abs. 3 bis 5b EStG ermittelt, das gemäß §§ 2 Abs. 5 Satz 1 2. Hs., 32a Abs. 1 Satz 1 EStG die Bemessungsgrundlage für die „tarifliche Einkommensteuer“ darstellt. Auf dieses wird der Tarif des § 32a EStG angewendet, um schließlich in einem letzten Schritt die „festzusetzende Steuer“, also den Betrag, den der Steuerpflichtige dem Staat für 54
Zum Ganzen unter Verwendung entsprechender Begrifflichkeiten: Ooghe / Peichl, EJ 2014, 1 (1 ff.). 55 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 A. II. 1.
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
27
einen bestimmten Veranlagungszeitraum schuldet, nach § 2 Abs. 6 EStG zu errechnen. Ein vollständiges Schema mit allen Abzugs- beziehungsweise Hinzurechnungsposten hat das Bundesministerium für Finanzen (BMF) in den Einkommensteuerrichtlinien zu § 2 EStG56 erstellt. Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens wird in erster Linie auf die erzielten Einkünfte abgestellt; darüber hinaus sind jedoch auch diverse Abzüge und Freibeträge vorgesehen. Diese hängen zum Teil von persönlichen Eigenschaften des Steuerpflichtigen ab. So spielen hier Charakteristika wie Alter (§ 24a EStG), Familienstand (§ 24b EStG, § 32a Abs. 5 i. V. m. §§ 26, 26b EStG), Kinder (§§ 24b, 31, 32 Abs. 6 EStG), Behinderung (§ 33b EStG) und daneben auch „außergewöhnliche Belastungen“ (§§ 33, 33a EStG) bei steuerpflichtigen Personen eine Rolle. Zudem sind im EStG, unabhängig von zu versteuerndem Einkommen und Steuertarif, gewisse Transfers, wie zum Beispiel das Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG, vorgesehen, wo persönliche Charakteristika ebenfalls Berücksichtigung finden. Das Prinzip, Steuerpflichtige beim Vorhandensein bestimmter persönlicher Merkmale zu begünstigen, ist somit dem geltenden Recht nicht fremd. Der Steuertarif nach § 32a EStG hingegen orientiert sich nach Festlegung der Bemessungsgrundlage prinzipiell57 lediglich an deren Höhe, was bedeutet, dass für Personen mit gleichem zu versteuerndem Einkommen der gleiche Tarif Anwendung findet, unabhängig von ihren jeweiligen persönlichen Umständen oder Charakteristika. 2. Verhaltensanpassungen der Steuerpflichtigen Da es den Hauptanknüpfungspunkt für den Steuertarif darstellt, wirkt sich ein niedriges zu versteuerndes Einkommen für den Steuerpflichtigen positiv auf die von ihm zu zahlende Steuerschuld aus. Hinzu kommt, dass sein Sinken aufgrund der Progressionswirkung auch einen niedrigeren Steuertarif zur Folge hat, sodass in einem solchen Fall nicht nur absolut, sondern auch prozentual weniger Steuern gezahlt werden müssen. Aus diesen Gründen haben die Steuerpflichtigen ein Interesse daran, dass ihr zu versteuerndes Einkommen möglichst gering ausfällt, was auf mehreren Wegen erreicht werden kann: Eine Möglichkeit ist die Verringerung der Einkünfte, da die „Summe der Einkünfte“ in § 2 Abs. 3 EStG den Ausgangspunkt für die Berechnung der Bemessungsgrundlage darstellt. Das Einkommensteuergesetz unterscheidet diverse Einkunftsarten.58 Es kann angenommen werden, dass diese entweder unmittelbar oder zumindest mittelbar auf den eigenen Arbeitsaufwand sowie die persönlichen
56
Einkommensteuer-Richtlinien 2012, R 2. Umfang der Besteuerung. Vorbehaltlich der §§ 32d, 34 bis 34b EStG, die hier unberücksichtigt bleiben können. 58 Eine Aufzählung der Einkunftsarten findet sich in § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 7 EStG. 57
28
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Fähigkeiten zurückgeführt werden können, sodass nachfolgende Analyse alle Einkunftsarten mit einbezieht. Bis zu einem gewissen Grad kann ein Steuerpflichtiger die Höhe der eigenen Einkünfte selbst beeinflussen, da sie zum Teil von veränderbaren Faktoren, wie beispielsweise Fleiß im Beruf oder Wahl des Ausbildungswegs, also – allgemein gesagt – von seinem Arbeitsaufwand abhängt. Niedrigere Einkünfte lassen sich demnach dadurch erreichen, dass der Steuerpflichtige seine Anstrengungen reduziert, indem er weniger arbeitet oder einen weniger anspruchsvollen Beruf beziehungsweise Ausbildungsweg wählt. Neben einer Verringerung der Einkünfte ist die Änderung anderer persönlicher beeinflussbarer Merkmale eine weitere Möglichkeit, um das zu versteuernde Einkommen zu senken. So kann beispielsweise durch eine Heirat der Familienstand geändert werden, um im Anschluss von der Möglichkeit der Zusammenveranlagung von Ehegatten nach §§ 26, 26b EStG Gebrauch machen zu können. Diese Verhaltensweisen können unter Umständen sogar im Interesse des Gesetzgebers sein, der das Steuersystem dafür einsetzen kann, soziale oder wirtschaftliche Lenkungszwecke zu verfolgen oder gezielte distributive Maßnahmen bei Vorliegen bestimmter sozialer Merkmale vorzunehmen.59 3. Auswirkungen Durch Berücksichtigung endogener Merkmale fördert das geltende Einkommensteuerrecht zum einen ein Verhalten der Steuerpflichtigen dahingehend, beeinflussbare persönliche Merkmale zu ändern, um steuerliche Vergünstigungen, wie zum Beispiel Freibeträge und Abzüge, in Anspruch nehmen zu können. Darüber hinaus besteht für steuerpflichtige Personen ein grundsätzlicher Anreiz zur Erzielung geringerer Einkünfte, da bei niedriger Bemessungsgrundlage die Steuer absolut und prozentual entsprechend geringer ausfällt. Die „klassische“ Anknüpfung an das Einkommen demotiviert damit steuerpflichtige Personen bis zu einem gewissen Grad, Leistung zu erbringen.60 Der progressive Steuersatz verstärkt diese Ausweichreaktionen der Steuerpflichtigen in Gestalt eines Leistungsrückganges.61 Je höher Steuervorteile sind, desto größere Anreize setzen sie.62 Diese Anreizverzerrungen führen dazu, dass das Potenzial von leistungsfähigen Personen nicht vollständig ausgeschöpft wird.63 Sie müssen gegen die Vorteile aus
59
Wagner, DStR 2014, 1133 (1142); Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 6 Rn. 52. Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (174). 61 Siehe hierzu: Suttmann, Die Flat Tax, S. 116 f. 62 Mirrlees, Tax by Design, S. 58. 63 Blum / Kalven, The University of Chicago Law Review 1952, 417 (438): „the tendency of progression is to cause talented persons to prefer leisure more and to shift to work which in its nonmonetary aspects they regard as more attractive but which society, as measured by its monetary rewards, has regarded as less important“. 60
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
29
einer Umverteilung abgewogen werden, worin sich ein „trade-off“ zwischen Umverteilung und Effizienz widerspiegelt.64
III. Die Besteuerung exogener Charakteristika Durch Einbeziehung von „Tagging“-Modellen in das Einkommensteuerrecht sollen bestimmte exogene Eigenschaften der Steuerpflichtigen besteuert werden. 1. Steigerung der Wohlfahrt durch „Tagging“ Durch eine Einbeziehung bestimmter exogener Merkmale als Kriterien für die Bemessung der Einkommensteuerhöhe bezweckt das „Tagging“-Prinzip schließlich eine Steigerung der Gesamtwohlfahrt. a) Vorteile einer Beschränkung auf exogene Charakteristika Die Herausforderung bei einer Anknüpfung an das zu versteuernde Einkommen zwecks Umverteilung liegt darin, dass die Höhe der Einkünfte zum Teil vom Steuerpflichtigen selbst beeinflussbar ist. Betrachtet man zur Verdeutlichung erneut den progressiven Steuersatz im deutschen Einkommensteuerrecht, so setzt dieser für die Steuerpflichtigen Anreize, weniger zu arbeiten (also den „effort“ zu senken), um unter die „Begünstigung“ in Gestalt eines niedrigen Einkommensteuertarifs zu fallen.65 Da der Steuerpflichtige durch Verringerung des zu versteuernden Einkommens auch indirekt auf die Höhe des Einkommensteuertarifs Einfluss nehmen kann, hat das progressive Umverteilungsmodell Effizienzverluste zur Folge. Wenn Personen beeinflussen können, ob sie in den Anwendungsbereich von Steuererleichterungen fallen oder nicht, kann dies zu Ausweichreaktionen führen. Aus diesem Grund erscheint eine Anknüpfung an endogene Charakteristika nicht sinnvoll. Der Ausschluss solcher Merkmale beim „Tagging“ ermöglicht es hingegen, Vorteile aus einer Umverteilung unter gleichzeitiger Vermeidung von Effizienzverlusten zu erzielen.66 Für eine Anknüpfung an ausschließlich exogene Charakteristika spricht auch das allgemeine Verständnis von Fairness, wonach Individuen für Unterschiede in ihren Fähigkeiten, nicht hingegen für abweichende Präferenzen kompensiert werden sollen.67
64
Fleurbaey / Maniquet, REStud 2006, 55 (55); Genser, in: Genser / Ramser / Stadler, Umver teilung und soziale Gerechtigkeit, S. 1 (6). 65 Siehe hierzu bereits unter Teil 1 A. II. 1. und B. II. 2. 66 Weinzierl, HBS Working Paper 2012, 1 (2). 67 Fleurbaey / Maniquet, REStud 2006, 55 (55 f.); Ooghe / Peichl, EJ 2014, 1 (1).
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Es kann somit durch eine solche Konstruktion sichergestellt werden, dass es trotz Umverteilung nicht zu Effizienzverlusten oder anderweitigen unbeabsichtigten Verhaltensänderungen kommt. b) Auswirkungen exogener Merkmale auf das Verhältnis „effort“ zu „income“ Die Grenznutzentheorie besagt, dass jeder nur bis zu der Einkommenshöhe arbeitet, ab der ihm Freizeit wichtiger ist als die zusätzliche Einheit an Nettoeinkommen, die er mit mehr Anstrengung erzielen könnte.68 Bei welcher Einkommenshöhe dieser Punkt erreicht ist, hängt davon ab, wie viel Arbeitsaufwand eine Person für eine zusätzliche Einkommenseinheit erbringen muss. Muss eine Person vergleichsweise wenig „effort“ für zusätzliches Einkommen aufwenden, so wird sie im Ergebnis ein höheres Einkommen erreichen als jemand, der ebenso viel Aufwand bereits für eine niedrige Einkommenshöhe erbringen muss. Diejenigen, die zur Erzielung von Einkünften viel Anstrengung aufwenden müssen, haben bei hohem Arbeitsaufwand ein vergleichsweise niedriges Nettoeinkommen, sodass ihr individueller Nutzen, der positiv vom Nettoeinkommen und negativ vom „effort“ abhängt, eher gering ausfällt. Dies wirkt sich nachteilig auf die soziale Wohlfahrt als Summe der individuellen Nutzenfunktionen aus. Der utilitaristische, wohlfahrtsmaximierende Ansatz fordert daher die Ressourcentransferierung von Hoch- auf Geringqualifizierte hinsichtlich der Erzielung von Einkünften. Ein solches Besteuerungskonzept sieht sich jedoch mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass der Grad der Qualifizierung zur Erzielung von Einkünften nicht direkt beobachtbar ist.69 Aufgrund dieser Problematik knüpfen die klassischen Besteuerungsansätze – entgegen obiger Einwände – für Umverteilungszwecke an das (beobachtbare) Einkommen selbst an, was mit Effizienzeinbußen und einer Privilegierung der weniger ambitionierten Steuerpflichtigen einhergeht.70 Das Tagging-Prinzip löst diesen Konflikt wie folgt: Bei Personen mit verschiedenen exogenen Merkmalen lassen sich Unterschiede in der Einkommenshöhe feststellen. Diese lassen sich beispielsweise Daten des Sozioökonomischen Panels entnehmen, in denen ermittelt wurde, in welcher Höhe das durchschnittliche Einkommen von Personen mit unterschiedlichen exogenen Merkmalen abweicht.71 Unterschiede in der Einkommenshöhe können allerdings auch damit zusammenhängen, dass bestimmte Personengruppen generell eine niedrigere Arbeitsbereitschaft in dem Sinne aufweisen, dass diese nachweislich eine geringere Zeit zum 68
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 A. II. 1. Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (174). 70 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 A. II. 1. und B. II. 2. 71 Siehe hierzu sogleich im Folgenden unter: Teil 1 B. IV. 69
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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Arbeiten aufwenden (endogenes Merkmal) oder eine weniger anspruchsvolle Ausbildung beziehungsweise Berufsstätte wählen (Kombination aus endogenen und exogenen Merkmalen). Demnach lassen sich von der abweichenden Einkommenshöhe nicht zwingend Rückschlüsse auf das Einkünfteerzielungspotenzial der Personengruppen ziehen. Es müssen damit zum einen die Einkommenshöhen verglichen werden, die sich bei gleichem Zeitaufwand ergeben, also das Einkommen pro Stunde. Zum anderen müssen solche Abweichungen in der Einkommenshöhe zwischen den Personengruppen unberücksichtigt bleiben, die sich auf die – beeinflussbaren – Gründe für eine unterschiedliche Ausbildungs- oder Berufswahl zurückführen lassen. Sollten sich gleichwohl Unterschiede feststellen lassen, so kann daraus abgeleitet werden, dass eine Personengruppe bei gleichem „effort“ ein höheres Einkommen erzielt als eine solche, bei der das bezeichnende exogene Charakteristikum nicht vorliegt. Letztere Gruppe muss demnach, wenn sie ein Einkommen in gleicher Höhe verdienen möchte, mehr Arbeitsaufwand erbringen. Von dem Vorliegen exogener Charakteristika bei einer Person lassen sich damit Rückschlüsse auf deren Chance, hohe Einkünfte zu erzielen, ziehen („Erwerbspotenzial“), wodurch die Qualifizierung zur Erzielung von Einkünften indirekt beobachtbar ist. Exogene Charakteristika, von denen sich auf die Fähigkeiten von Personen bezüglich des Erwerbs von Einkünften rückschließen lässt, sollen als Anknüpfungspunkte für das Umverteilungskonzept gewählt werden, um so anhand dieses Potenzials umzuverteilen. c) Gleichzeitige Realisierbarkeit von Umverteilung und Effizienzsteigerung Legt man für das Vorhandensein eines bestimmten unbeeinflussbaren Merkmals eine höhere beziehungsweise niedrigere Steuerlast fest, so führt dies zu einer Umverteilung des Nettoeinkommens zwischen zwei Personengruppen. Eine Verringerung von Wohlfahrtsverlusten lässt sich hierdurch wie folgt erreichen: Die Gruppe mit „starken“ Charakteristika muss für das gleiche Nettoeinkommen wie zuvor ihren „effort“ steigern, während dieser bei der zweiten Gruppe abnimmt. Die Zunahme des Arbeitsaufwandes bei ihr ist jedoch geringer als dessen Abnahme bei der anderen Personengruppe, da sie aufgrund der persönlichen Eigenschaft, anhand der differenziert wird, für das Erzielen gleicher Einkünfte prinzipiell weniger Leistung aufwenden muss. Die soziale Wohlfahrt als Summe aller individuellen Nutzenwerte wird demnach durch diese Art der Umverteilung steigen. Hierin zeigt sich der Charakter des „Tagging“ als Ausprägung des wohlfahrtstheoretischen Ansatzes, der bereit ist, die Verluste einer Personengruppe gegen größere Gewinne einer anderen Gruppe hinzunehmen.72 72
Weinzierl, J. Pub. Econ. 2014, 128 (136).
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Durch eine zusätzliche Anknüpfung an unveränderliche Merkmale haben die umverteilenden „Tagging“-Einkommensteuermodelle nicht nur weniger Ausweichreaktionen zur Folge,73 sondern die Effizienz kann hierdurch sogar noch gesteigert werden: Die derzeitige Rechtslage führt dazu, dass einige Menschen ihr Potenzial nicht voll ausschöpfen, da sie mit vergleichsweise geringer Anstrengung die Nettoeinkommenshöhe erzielen, ab der ihnen Freizeit wichtiger ist als zusätzliches Geld. Aus Gründen wie beispielsweise Faulheit, Reichtum oder Anspruchslosigkeit setzen sie weniger Produktionskraft ein, als sie theoretisch könnten.74 Dem Staat geht hierdurch zusätzliche Arbeitsleistung, die von diesen Menschen eigentlich noch hätte erbracht werden können, verloren. Hieraus folgen geringere Bruttoeinkommen und damit auch sinkende Steuereinnahmen des Staates. Hier setzt der wohlfahrtstheoretische Ansatz an, nach dem sich die Steuerkraft des Einzelnen nicht in der realisierten Leistungsfähigkeit in Gestalt des erzielten Einkommens, sondern in dem potenziellen Wirtschaftsergebnis widerspiegelt.75 Wird diesen Personen durch Berücksichtigung exogener Merkmale eine höhere Steuerlast auferlegt, so ergibt sich für sie bei gleichem Bruttoeinkommen ein niedrigeres Nettoeinkommen als zuvor. Wie bereits beschrieben müssen sie, um wieder die ursprüngliche Nettoeinkommenshöhe zu erreichen, mehr „effort“ erbringen als zuvor. Mehr Arbeitsleistung bedeutet automatisch einen Anstieg der Bruttoeinkünfte, was wiederum zu höheren Steuereinnahmen des Staates führt. Zweifelsohne muss eine Verzerrung des „extensive margin“ verhindert werden, also der Fall, dass sich der Steuerpflichtige aufgrund des hohen Steuersatzes dazu entschließt, überhaupt nicht mehr zu arbeiten. Somit muss die Besteuerung so ausgestaltet sein, dass selbst für Personen in der höchstbesteuerten Kategorie fortan ein Anreiz besteht, arbeiten zu gehen. Ist dies gewährleistet, so führt dieses Umverteilungsmodell nicht zu Effizienzverlusten, sondern kann die Effizienz im Ergebnis sogar noch steigern. Durch diese Optimierung des „trade-off“ zwischen Umverteilung und Effizienz kommt der Charakter des „Tagging“ als Erweiterung der Optimalsteuerlehre zum Ausdruck. 2. Mögliche Anknüpfungspunkte Eine Abhängigkeit der Einkommensbesteuerung von exogenen Merkmalen lässt sich auf mehreren Wegen erreichen: Zum einen könnte man, wie es auch schon im geltenden Einkommensteuerrecht teilweise geschieht, je nach exogenem Merkmal Abzüge beziehungsweise Hinzurechnungen auf die Bemessungsgrundlage vornehmen. Als weitere Möglichkeit könnte man die Höhe des Einkommensteuertarifs 73
Siehe hierzu bereits unter Teil 1 B. III. 1. a). Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 86. 75 Walker, Political Science Quarterly, 1 (14 f.); Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 86. 74
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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von diesen Merkmalen abhängig machen. Möglich wäre auch eine Kombination der verschiedenen Varianten. Aus Umverteilungsperspektive macht es letztlich keinen Unterschied, an welche Größe man anknüpft, um eine Abhängigkeit der Höhe der Einkommensteuer von exogenen Charakteristika zu konstruieren.
IV. Maßgebliche Charakteristika In einem weiteren Schritt sind die exogenen Merkmale festzulegen, die für eine Berücksichtigung im Einkommensteuerrecht zwecks Umverteilung geeignet erscheinen und in vorliegender Arbeit einer genaueren Analyse unterzogen werden sollen. Die Einkommenshöhe ist von einer unbestimmten Vielzahl exogener Merkmale abhängig, von denen einige signifikante, andere dagegen eher geringe Auswirkungen auf die Höhe der Einkünfte haben. Eine umfassende Analyse aller infrage kommender Einflussfaktoren würde zu sehr ins Detail gehen und sich zu kompliziert gestalten. Zudem sind viele exogene Merkmale nur schwer beobachtbar, was auch von Stimmen in der Literatur kritisiert wird, die eine Berücksichtigung aller die Einkommenshöhe beeinflussender Eigenschaften aufgrund zu hoher Steuerverwaltungskosten und Informationsdefizite als praktisch nicht umsetzbar ansehen.76 Demnach erscheint es sinnvoll, die Analyse einer Einführung des „Tagging“Prinzips in das Einkommensteuerrecht auf einige maßgebliche Charakteristika zu beschränken. Hierbei soll zwischen genetischen Merkmalen sowie dem sozialen Hintergrund der Steuerpflichtigen unterschieden werden. 1. Genetische Merkmale Um klassische exogene Charakteristika handelt es sich bei solchen, die genetischer Natur sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie erblich bedingt sind und demnach nicht im Einflussbereich des Einzelnen liegen. Es lassen sich Merkmale, die das äußere Erscheinungsbild einer Person prägen, sowie solche, die deren innere Fähigkeiten betreffen, unterscheiden. Während Merkmale wie angeborener Fleiß, Intelligenz und Auffassungsgabe maßgeblich dafür sind, welche Art und welchen Umfang an Arbeit eine Person ausüben kann, haben solche, die das Aussehen einer Person betreffen, zumindest indirekt ebenfalls Auswirkungen hierauf, da sie beispielsweise beeinflussen, wie 76
So etwa: Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 255; Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 185 (spricht von „mangelnder Information“ und „fehlenden Instrumenten“).
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
man von anderen wahrgenommen und eingeschätzt wird. Charakteristika, die die äußere Erscheinung betreffen, sind in der Regel leicht beobachtbar, wohingegen die zuvor genannten inneren Fähigkeiten eines Menschen nicht ohne Weiteres identifizierbar und auch schwer einzuordnen sind. Demnach konzentriert sich vorliegende Analyse auf leicht beobachtbare Eigenschaften, die ohne größeren Aufwand festgestellt und nachgeprüft werden können. a) Geschlecht Eine Thematik, die auch durch die aktuelle Debatte um die Einführung von Frauenquoten angefeuert ist, stellt eine Unterscheidung anhand des Merkmals „Geschlecht“ dar. In der heutigen Zeit könnte man durchaus anzweifeln, ob das Geschlecht einer Person noch als unveränderlich, also als exogen, angesehen werden kann. So kann beispielsweise nach § 8 Abs. 1 TSG vom Gericht festgestellt werden, dass eine Person „als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist“. Nachdem die Voraussetzungen in § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG durch Beschluss des BVerfG77 als mit Art. 2 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 1 GG unvereinbar erklärt wurden, ist eine solche Feststellung sogar ohne vorherige geschlechtsumwandelnde Operation möglich. Bei einer Änderung des Geschlechts handelt es sich jedoch um eine derart bedeutsame Maßnahme, dass eine solche wohl keiner ohne tiefere Überzeugung durchführen wird. Dies wird auch durch weitere Voraussetzungen des TSG gewährleistet.78 Daher soll das Merkmal Geschlecht als exogen angesehen werden. Eine Anknüpfung an das Geschlecht als „tag“ macht nur dann Sinn, wenn sich zwischen Männern und Frauen bei der Höhe der Lohneinkünfte nicht nur unerhebliche Unterschiede feststellen lassen. Im Global Gender Gap Report 2016 des Weltwirtschaftsforums79 erzielte Deutschland in einem Vergleich von insgesamt 144 Ländern mit einem Ergebnis von 0,76680 den 13. Platz. Bei dem Punkt der Lohngleichheit bei gleichartiger Arbeit schnitt es deutlich schlechter ab und landete hier mit 0,591 auf Platz 95. Dieser Report macht die hohe Lohndiskrepanz zwischen den Geschlechtern deutlich. Im Jahr 2015 betrug diese in Deutschland 22 %.81 Auch nachfolgende Darstellung mit Werten des Sozioökonomischen Panels zeigt die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern: 77
BVerfGE 128, 109. Vgl. hierzu: § 8 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 4, § 4 TSG. 79 Abrufbar unter: http://reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2016/economies/ #economy=DEU (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017). 80 Der Wert 0,00 bedeutet totale Ungleichheit, der Wert 1,00 bedeutet umgekehrt totale Gleichheit. 81 Süddeutsche Zeitung: Gleicher Lohn für Mann und Frau. Nein – es braucht kein Gesetz! vom 03. 03. 2015, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gleicher-lohn-fuermann-und-frau-nein-es-braucht-kein-gesetz-1.2373936 (zuletzt abgerufen am 07. 11. 2020). 78
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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Abbildung 4:82 Durchschnittlicher Stundenlohn Männer und Frauen
Zum Ausgleich dieses deutlichen Unterschiedes wurden bereits eine Vielzahl möglicher Maßnahmen diskutiert. Eine solche stellt beispielsweise das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vom 25. 04. 201583 dar, welches für bestimmte Unternehmen feste Geschlechterquoten beziehungsweise Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Vorstand und den obersten Management-Ebenen vorsieht.84 Als weiteres Beispiel sei an dieser Stelle das am 11. 01. 2017 im Bundeskabinett beschlossene Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen („Entgelttransparenzgesetz“)85 genannt. Nach diesem Gesetz sollen unter anderem Beschäftigte in Unternehmen ab 200 Mitarbeitern einen Anspruch auf Informationen über Kriterien und Verfahren für die Festlegung des Entgelts sowie die Angabe des Entgelts für eine Vergleichstätigkeit haben,86 und Unternehmen ab 500 Mitarbeiter dazu verpflichtet werden, geregelte betriebliche Verfahren zur Überprüfung und Herstellung von Entgeltgleichheit einzuführen.87 Bei der Einkommensbesteuerung wird bislang nicht zwischen Frauen und Männern differenziert. In der Literatur gibt es bereits Stimmen, die eine solche
82
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels). 83 BGBl. I 2015, 642. 84 Siehe hierzu ausführlich im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) dd) (1) (a) (bb). 85 BT-Drs. 18/11133. 86 BT-Drs. 18/11133, S. 11 f. 87 BT-Drs. 18/11133, S. 14 f.
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
sogenannte „gender-based taxation“ (GBT)88 befürworten. Vorgesehen ist hier die Einführung eines ermäßigten Einkommensteuertarifs für Frauen, während dieser für Männer gleichzeitig höher ausfallen soll.89 Hintergrund der GBT ist die Annahme, dass das Arbeitsangebot von Frauen elastischer ist als das von Männern; demnach sollten Einkommensteuersätze für Frauen niedriger sein als für Männer.90 Sie erzeugt Gewinne in Wohlfahrt, Einkommen und Beschäftigung, indem sie den gesellschaftlichen Gesamtverlust minimiert, der aus der verzerrenden Lohnbesteuerung resultiert.91 Folglich erscheint es diskussionswürdig, Frauen im Vergleich zu Männern geringer zu besteuern. b) Behinderung Des Weiteren könnte man das Vorliegen einer Behinderung tarifmindernd berücksichtigen. Bei angeborenen Behinderungen ist der Grad an Beeinflussbarkeit für die betroffenen Personen null, sodass es sich hierbei um ein rein exogenes Charakteristikum handelt.92 Das Merkmal „Behinderung“ wird bereits an einigen Stellen im EStG aufgegriffen. In diesem Kontext ist die Vorschrift des § 33b EStG zu erwähnen, nach der Menschen mit einer Behinderung anstelle einer Steuerermäßigung nach § 33 EStG einen Behinderten-Pauschbetrag geltend machen können. Bei Vorliegen dieses Merkmals kann durch einen Abzug das zu versteuernde Einkommen gemindert werden, was auch eine geringere Einkommensteuer nach sich zieht. Bei dieser Vorschrift werden in Höhe der jeweiligen Pauschbeträge zwangsläufige Aufwendungen unterstellt.93 Hintergrund der Festlegung solcher Pauschbeträge ist die Annahme, dass bei behinderten Menschen typischerweise ein erhöhter Grundbedarf besteht, der nicht vom tariflichen Grundfreibetrag abgedeckt ist.94 Darüber hinaus wird jedoch nicht berücksichtigt, dass Menschen mit Behinderung nicht nur höhere Aufwendungen haben als solche ohne Behinderung, sondern im Vergleich zu diesen auch bei gleicher Anstrengung geringere Einkünfte erzielen.95
88
Zum Begriff siehe: Alesina / Ichino / Karabarbounis, AEJ: Economic Policy 2011, 1 (2); Birk, StuW 2011, 354 (361). 89 So beispielsweise: Birk, StuW 2011, 354 (361): „Wenn man den Steuersatz für Männer nur um einen Prozent erhöhte, ließe sich der Steuersatz der Frauen um 30 % senken […]“. 90 Alesina / Ichino / Karabarbounis, AEJ: Economic Policy 2011, 1 (1 f.). 91 Alesina / Ichino / Karabarbounis, AEJ: Economic Policy 2011, 1 (2). 92 Ooghe / Peichl, EJ 2014, 1 (2). 93 Heger, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 33b EStG Rn. 1. 94 Heger, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 33 EStG Rn. 3. 95 Hierzu genauer im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung unter: Teil 2 A. II. 2. b) dd) (3) (a).
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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Eine Anpassung des Einkommensteuertarifs dergestalt, dass für behinderte Menschen ein niedriger und für nicht behinderte Menschen ein höherer Tarif gilt, könnte in dieser Hinsicht eine gewisse Kompensation erreichen. c) Alter Bereits die fundamentale Arbeit von Mirrlees erwähnte das Alter als mögliches Anknüpfungskriterium für eine optimale Besteuerung.96 Eine spezifische Anknüpfung an dieses Merkmal ist dem EStG bislang weitgehend fremd. Eine Berücksichtigung des Alters lässt sich zwar in § 24a EStG finden, der den Altersentlastungsbetrag regelt. Diese Norm wurde allerdings aus Gründen der Harmonisierung der Besteuerung vor dem Hintergrund, dass Leibrenten und Versorgungsbezüge im Gegensatz zu den anderen im Alter bezogenen Einkünften unterschiedlich steuerlich erfasst werden, eingeführt,97 und steht demnach in keinem Zusammenhang mit vorliegender Thematik. Jedoch variiert in den meisten Ländern das Durchschnittseinkommen mit dem Alter.98 Dies zeigt für Deutschland auch folgendes Schaubild mit Werten des Sozioökonomischen Panels:
Abbildung 5:99 Durchschnittlicher Stundenlohn unterschiedlicher Altersklassen 96
Mirrlees, REStud 1971, 175 (175). Heuermann / Fischer, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. II, § 24a EStG Rn. 1. 98 Blomquist / Micheletto, Scand. J. of Economics 2008, 45 (45). 99 Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels). 97
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Unter Verfolgung des „Tagging“-Gedankens gibt es bereits wohlfahrtstheoretische Analysen dahingehend, ob und wie es durch eine Abhängigkeit der Steuerhöhe von dem Alter der Steuerpflichtigen möglich sein soll, die Effizienz unter gleichzeitiger Beibehaltung der Umverteilung zu steigern.100 Eine Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Alter erscheint aus vielen Gründen sinnvoll: Es handelt sich um ein kaum manipulierbares Merkmal und es ist in den meisten Ländern einfach zu beobachten.101 Zudem scheint die politische Umsetzbarkeit eines Steuersystems, welches nach dem Alter differenziert, im Gegensatz zu einer Unterscheidung nach anderen Eigenschaften weniger umstritten zu sein, da sich weniger Bedenken im Hinblick auf die horizontale Gerechtigkeit anführen lassen.102 Nicht zuletzt hängt dies auch mit der sozialen Akzeptanz zusammen, die aufgrund der Tatsache, dass grundsätzlich jeder ein vorgegebenes Alter zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben erreichen wird, eher hoch sein wird.103 Eine Altersabhängigkeit der Besteuerung hat Potenzial für eine Politikreform, die die Lücke zwischen theoretischen Steuermodellen und praktischer Steuergestaltung schließen kann.104 Es erscheint demnach aus ökonomischer und politischer Sicht sinnvoll, bei der Einkommensbesteuerung nach dem Alter der Steuerpflichtigen zu differenzieren. d) Körpergröße Die Differenzierung der Einkommensbesteuerung anhand der Körpergröße könnte man auf den ersten Blick als „absurd“ oder „höchst unkonventionell“ ansehen.105 Dennoch erzielen größere Menschen in der Regel höhere Einkünfte als solche mit geringerer Größe.106 Dies zeigt auch nachfolgendes Schaubild: 100
Siehe hierzu: Blomquist / Micheletto, Scand. J. of Economics 2008, 45; Bastani / Blomquist / Micheletto, IER 2013, 1219; Weinzierl, REStud 2011, 1490; Banks / Diamond, in: Mirrlees, Dimensions of Tax Design, S. 548 (607 ff.); Lozachmeur, Journal of Public Economic Theory 2006, 697. 101 Huster, in: Alexy, Juristische Grundlagenforschung, S. 202 (207); Breyer / Schultheiss, International Journal of Health Care Finance and Economics 2002, 247 (255); Bastani / Blomquist / Micheletto, IER 2013, 1219 (1219). 102 Bastani / Blomquist / Micheletto, IER 2013, 1219 (1219 mit Fn. 3), die auch auf Schweden verweisen, wo kürzlich eine Differenzierung der Höhe der Lohnsummensteuer anhand des Alters eingeführt wurde; zur Bedeutung der horizontalen Gerechtigkeit für die politische Umsetzbarkeit eines Steuersystems siehe auch: Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (174). 103 Tuomala, Optimal Redistributive Taxation, S. 204, mit Verweis auf: Banks / Diamond, in: Mirrlees, Dimensions of Tax Design, S. 548 (595); Bastani / Blomquist / Micheletto, IER 2013, 1219 (1219 mit Fn. 4). 104 Weinzierl, REStud 2011, 1490 (1491). 105 Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (156). 106 Zum Zusammenhang zwischen Körpergröße und Einkunftshöhe siehe: Judge / Cable, Journal of Applied Psychology 2004, 428; Case / Paxson, JPE 2008, 499; Persico / Postlewaite / Silverman, JPE 2004, 1019.
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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Abbildung 6:107 Durchschnittlicher Stundenlohn in Abhängigkeit von der Körpergröße
Das Charakteristikum der Körpergröße ist sowohl beobachtbar als auch unveränderlich,108 sodass es sich als Anknüpfungspunkt für das „Tagging“ eignet. Dennoch besteht die Gefahr, dass eine Besteuerung der Körpergröße ein „Einfallstor“ für die Regierung darstellt, um die Anknüpfung von Steuern an demographische Merkmale selbstverständlicher erscheinen zu lassen. Dies birgt wiederum die Gefahr, dass die Sammlung persönlicher Informationen durch die Regierung ausgeweitet wird. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass die modernen Steuer systeme bereits heute von vielen persönlichen Merkmalen wie Anzahl der Kinder, Familienstand und Behinderung abhängig sind, sodass diese Befürchtung weitgehend haltlos erscheint.109 2. Sozialer Hintergrund Neben den angeborenen Eigenschaften spielt auch die soziale Herkunft eines Menschen eine Rolle für dessen Chancen, Einkünfte zu erzielen. In die Analyse sollen als soziale Merkmale der Migrationshintergrund der Steuerpflichtigen und Einkommen sowie Bildungsabschluss von deren Eltern mit einbezogen werden.
107
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels). 108 Blumkin / Margalioth / Sadka, J. Pub. Econ., 1027 (1030). 109 Zum Ganzen: Mankiw / Weinzierl, AEJ: Economic Policy 2010, 155 (174).
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
a) Migrationshintergrund Zum einen könnte zur Differenzierung der Migrationshintergrund der Steuerpflichtigen herangezogen werden. In diesem Kontext sollen drei Kategorien gebildet werden: Zum einen Personen, die selbst und deren Eltern in Deutschland geboren sind, weiterhin solche, deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind, und zuletzt solche Fälle, in denen der Steuerpflichtige selbst nicht in Deutschland geboren ist (Migranten). Personen, die mindestens einer der beiden letztgenannten Gruppen angehören, werden als solche mit Migrationshintergrund bezeichnet. Dieses Verständnis entspricht auch der Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wonach Menschen mit Migrationshintergrund „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ sind.110 Mithilfe von Daten des Sozioökonomischen Panels wurden in nachfolgendem Schaubild Unterschiede im Stundenlohn zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund analysiert:
Abbildung 7:111 Durchschnittlicher Stundenlohn in Abhängigkeit vom Geburtsort 110 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Fachserie 1, Reihe 2.2 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bevölkerung nach Migrationsstatus regional – Ergebnisse des Mikrozensus 2011, 2012, S. 6, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Bevoelkerung/MigrationIntegration/BevoelkerungMigrationsstatus5125203117004.pdf?__ blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017). 111 Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels).
B. Inhalt des „Tagging“-Prinzips
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Personen mit Migrationshintergrund verdienen damit bei pro Stunde durchschnittlich ein geringeres Einkommen als Personen ohne Migrationshintergrund. Dies könnte daran liegen, dass Personen mit Migrationshintergrund möglicherweise erschwerten Umständen ausgesetzt sind. Die Gründe hierfür können wiederum vielfältig sein und beispielsweise darauf zurückgeführt werden, dass sich diese in einem fremden Land zurechtfinden und die deutsche Sprache erlernen müssen. Als weiteren Grund könnte man andenken, dass Personen mit Migrationshintergrund häufig nicht die gleiche Sicherheit und Unterstützung erfahren wie Kinder aus Familien, die bereits seit mehreren Generationen in Deutschland leben. Zu diesen Nachteilen kommt wohl noch die Benachteiligung dieser Personen in der Arbeitswelt hinzu, die man auf ein Ausnutzen deren erschwerter Situation sowie auf Vorurteile in der Gesellschaft zurückführen könnte. Aus obigem Schaubild lässt sich ableiten, dass diese Personen – wenn sie ein ebenso hohes Durchschnittseinkommen erzielen wollen wie jemand ohne Migrationshintergrund – tendenziell mehr Anstrengung erbringen müssen. Um dies auszugleichen, sollen Personen mit Migrationshintergrund bei der Einkommensbesteuerung begünstigt werden. b) Bildungsabschluss der Eltern Als weiteres soziales exogenes Merkmal des Steuerpflichtigen kommt der Bildungsabschluss der Eltern in Betracht. Nachfolgende Darstellungen zeigen die Abhängigkeit des Einkommens einer Person von der Bildung des Vaters sowie der Mutter (vgl. Abbildung 8 und 9). Diese Analysen zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Bildungsabschluss der Eltern und dem Einkommen einer Person besteht. Um diesbezüglich einen Ausgleich zu schaffen, könnte man auch die Einkommensbesteuerung dieser Gruppen modifizieren.
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Abbildung 8:112 Durchschnittlicher Stundenlohn in Abhängigkeit vom Schulabschluss des Vaters
Abbildung 9:113 Durchschnittlicher Stundenlohn in Abhängigkeit vom Schulabschluss der Mutter 112
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels). 113 Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Zugrundelegung von Daten des Sozioökonomischen Panels).
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
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c) Einkommen der Eltern Der familiäre Hintergrund wie zum Beispiel die soziale Stellung der Familie, von der eine Person abstammt, stellt einen Faktor dar, auf den diese keinen Einfluss hat.114 Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) kam auf Grundlage von Daten des Sozioökonomischen Panels zu dem Ergebnis, dass sich etwa 40 % der Ungleichheit beim individuellen Arbeitseinkommen auf den Familienhintergrund zurückführen lassen.115 In dieser Untersuchung werden im Rahmen einer „Geschwisterkorrelation“ Faktoren wie Bildung der Eltern, jedoch auch Erziehungsstile und Wertvorstellungen der Eltern, die diese ihren Kindern im Rahmen der Erziehung weitergeben, berücksichtigt.116 Diese Kriterien sind jedoch zum Teil nur schwer messbar und kategorisierbar, sodass sie sich als untaugliche Anknüpfungspunkte erweisen. Als geeignete Bezugsgröße kommt dagegen die Einkommenshöhe der Eltern infrage, deren Effekt auf das Einkommen der Kinder bereits in einigen Studien geschätzt wurde.117
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Anknüpfung an exogene Charakteristika in der Einkommensbesteuerung zu verwirklichen.
I. Modellansätze Nachfolgend werden verschiedene Modellansätze zur Umsetzung der Besteuerung exogener Merkmale vorgestellt, die in diesem Kontext diskussionswürdig erscheinen und auf die im weiteren Verlauf noch genauer eingegangen wird. Wie noch zu zeigen sein wird, entfaltet die Art der Tarifgestaltung auch Bedeutung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung.
114
Schnitzlein, DIW Wochenbericht Nr. 4 (2013), 3 (3 f.). DIW Berlin, Familiärer Hintergrund hat großen Einfluss auf Zukunftschancen, Pressemitteilung v. 23. 01. 2013, abrufbar unter: http://www.diw.de/de/diw_01.c.100319.de/presse/ pressemitteilungen/pressemitteilungen.html?id=diw_01.c.414647.de (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017); Schnitzlein, DIW Wochenbericht Nr. 4 (2013), 3 (6). 116 Schnitzlein, DIW Wochenbericht Nr. 4 (2013), 3 (6). 117 Eine ausführliche Übersicht hierzu findet sich bei: Black / Devereux, in: Ashenfelter / Card, Handbook of Labor Economics, Vol. 4b, S. 1487; kritisch zu diesen Studien: Schnitzlein, DIW Wochenbericht Nr. 4 (2013), 3 (4), für den diese bei der Messung von Chancengleichheit zu kurz greifen. 115
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
1. „Regressionsmodelle“ Bei einem regressiven – auch als „degressiv“ bezeichneten – Steuertarif handelt es sich um das Gegenteil eines progressiven Tarifs.118 Er zeichnet sich dadurch aus, dass er mit zunehmender Bemessungsgrundlage sinkt.119 So wird beispielsweise der Umsatzsteuer sowie vielen weiteren Verbrauchsteuern eine regressive Wirkung zugeschrieben, da mit steigendem Einkommen ein geringerer Anteil hiervon für Konsumzwecke eingesetzt wird und damit die anteilige Steuerbelastung sinkt.120 Auch den Sozialversicherungsbeiträgen wird eine solche Wirkung nachgesagt, da aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze ab einem bestimmten Punkt die anteilige Belastung der Arbeitseinkommen sinkt.121 Weiterhin kann auch bei Steuervergünstigungen, welche die Bemessungsgrundlage mindern, in der Progression ein regressiver Effekt beobachtet werden, da Personen in höheren Steuerklassen überproportional von diesen profitieren.122 a) Ausgangsmodelle mit Regressionswirkung Als Ausgangsmodelle mit regressivem Durchschnittssteuersatz werden nachfolgend das „klassische“ Kopfsteuermodell, eine modifizierte Version davon mit Berücksichtigung eines Grundfreibetrags sowie ein Modell mit regressiv verlaufendem Grenzsteuersatz vorgestellt. aa) Kopfsteuer-Modell Für eine Ausgestaltung der Besteuerung dahingehend, dass Steuervermeidung verhindert wird, gibt es zwei „radikale Lösungswege“: Entweder, die Steuervermeidung ist für den Steuerpflichtigen erst gar nicht möglich, da die Steuerhöhe vom Ergebnis seiner Handlungen unabhängig und daher „unausweichlich“ ist, oder steuerlich bedingte Ausweichreaktionen lohnen sich für ihn nicht, da er sich durch diese selbst schädigen123 würde.124 Bei der Kopfsteuer handelt es sich um
118
Suttmann, Die Flat Tax, S. 60. Andel, Finanzwissenschaft, S. 305 f.; Bankman / Griffith, California Law Review 75 (1987), 1905 (1908). 120 Kruhl, BB 2010, 2798 (2802); Suttmann, Die Flat Tax, S. 61. 121 Bieback, NZS 1994, 193 (196), mit Verweis auf: Sachverständigenrat, Gutachten 1992/93, BT-Drs. 12/3774, S. 156 ff. 122 Jaeger, EuZW 2012, 92 (98). 123 Als Beispiel hierfür nennt Wagner, DStR 2014, 1133 (1138, 1140) die Wirkungsweise der Einkommensteuer, die nur durch Geldeinkommensverzicht und damit durch eine Selbstschädigung vermieden werden kann: „die Koppelung der Besteuerung an das ökonomische Streben nach Geldeinkommen“ führe zu ihrer „Unausweichlichkeit“. 124 Wagner, DStR 2014, 1133 (1136). 119
45
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
erstgenannten Fall, da bei dieser völlig außerhalb des Einflussbereiches des Steuerpflichtigen liegt, ob und in welcher Höhe er besteuert wird. Die Kopfsteuer bezeichnet ein System, in dem jede Person den gleichen Steuerbetrag zahlt – unabhängig davon, ob beziehungsweise für welchen Lohn sie arbeitet.125 Sie kann deshalb auch als „Divisionsprinzip“ bezeichnet werden.126 Personengruppe z. v. E. / Jahr Steuerschuld / Jahr
A
B
C
D
0 €
10.000 €
50.000 €
100.000 €
8.000 €
8.000 €
8.000 €
8.000 €
Abbildung 10a:127 Beispiel für ein Steuersystem mit einer Kopfsteuer in Höhe von 8.000 €/Jahr
Einem Kopfsteuermodell liegt ein regressiver Durchschnittssteuertarif zugrunde, da bei Personen mit einem hohen Einkommen im Vergleich zu Einkommensschwächeren ein vergleichsweise niedrigerer Anteil ihres Einkommens der Besteuerung unterfällt. Durchschnittssteuersatz
z. v. E.
Abbildung 10b:128 Durchschnittssteuertarif bei Kopfsteuermodell
Das Kopfsteuerprinzip hat keine Auswirkungen auf die Entscheidung, ob und wie viel jemand arbeitet, da es nicht an das Einkommen, sondern allein an die 125 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 212; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 272. 126 Siegel, Arbeitsbuch Steuerrecht, S. 17. 127 Eigene Darstellung. 128 Eigene Darstellung.
46
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Existenz als Person anknüpft. Es handelt sich hierbei um die vom Steuerpflichtigen am wenigsten vermeidbare Besteuerungsform, der er nur durch Emigration ausweichen kann.129 Im Hinblick auf das Postulat der Neutralität wird sie demnach als „Idealmodell“ bezeichnet.130 Die Erhebung von Kopfsteuern führt unter dem ökonomischen Gesichtspunkt der Effizienz zu einem sogenannten „first-best“Steuersystem.131 Der Vorteil eines solchen Besteuerungskonzepts liegt darin, dass hierdurch die maximale Wohlfahrt erreicht wird, die eine Volkswirtschaft theoretisch erreichen kann.132 Neben ihrer Entscheidungsneutralität ist ein weiterer Vorteil der Kopfsteuer, dass sie die geringsten Erhebungskosten hat.133 Bei der Einführung einer solchen Steuer in das deutsche Einkommensteuerrecht darf man streng genommen eigentlich nicht mehr von einer „Einkommensteuer“ sprechen, da bei ihr für die Steuerpflicht irrelevant ist, ob und in welcher Höhe eine Person Einkommen erzielt und damit die bisherige Anknüpfung an die Größe „Einkommen“ aufgegeben wird. Es hängt vom Staatsverständnis und seiner verfassungsrechtlichen Konkretisierung ab, welche Sachverhalte vom Steuergesetzgeber als steuerwürdig bestimmt werden. Bei einem Verständnis von der Steuer als Entgelt für den Schutz, den der Staat dem Leben des Einzelnen bietet, ist Steuergegenstand die geschützte Person, was schließlich zu einer Kopfsteuer führt.134 Als Praxisbeispiel wird häufig die Einführung der sogenannten „poll tax“ in Großbritannien unter der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher Anfang der 1990er Jahre angeführt, bei der die Wahlberechtigung an die Zahlung der Steuerpflicht gekoppelt wurde und die zu europaweiten Protesten135 führte, woraufhin sich die britische Regierung bald gezwungen sah, diese wieder abzuschaffen.136 Die Kopfsteuer hat demnach in der Vergangenheit eher eine geringe gesellschaftliche Akzeptanz erfahren. Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es sie in den USA; in ihren Südstaaten teilweise sogar noch länger.137
129
Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 100 f. 130 Osterloh, in: Osterloh / Schmidt / Weber, Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung, Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, S. 875 (882 f.). 131 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 254; Kaiser, Konsumnachfrage, Arbeitsangebot und optimale Haushaltsbesteuerung, S. 16; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 101. 132 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 256. 133 Wagner, DStR 2014, 1133 (1136). 134 Zum Ganzen: Kirchhof, NJW 1987, 3217 (3224). 135 Hierzu: Butler / Adonis / Travers, Failure in British Government. 136 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 48; näher: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 473 f. 137 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 473.
47
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
bb) Kopfsteuer-Modell mit Grundfreibetrag Darüber hinaus könnte man das „klassische“ Kopfsteuermodell dahingehend modifizieren, dass ein bestimmter „Grundfreibetrag“ steuerfrei belassen wird, sodass das Einkommen des Steuerpflichtigen bis zu einer bestimmten Höhe steuerlich verschont bleibt. Das Einkommen, das über diesen Betrag hinausgeht, ist als Einkommensteuer zu zahlen. Dies erfolgt allerdings nur bis zu einem bestimmten Betrag, sodass ab einer bestimmten Einkommenshöhe alle Steuerschuldner wie bei der „klassischen“ Kopfsteuer dieselbe Steuerschuld zu entrichten haben. Der „Grundfreibetrag“ spielt in einem solchen Modell somit nur für die Steuerhöhe der Personen eine Rolle, die entweder überhaupt kein Einkommen verdienen oder bei denen dieses so gering ausfällt, dass sie durch die Zahlung des Kopfsteuerbetrags ganz oder teilweise auf dieses zurückgreifen müssten. Personengruppe z. v. E. / Jahr Steuerschuld / Jahr
A
B
C
D
0 €
10.000 €
50.000 €
100.000 €
8.000 € 0 €
8.000 € 1.000 €
8.000 €
8.000 €
Abbildung 11a:138 Beispiel für ein Steuersystem mit einer Kopfsteuer in Höhe von 8.000 €/Jahr (Grundfreibetrag: 9.000 €)
In diesem Modell entfaltet der Durchschnittssteuertarif zu Beginn eine pro gressive Wirkung. Diese ergibt sich daraus, dass der Betrag, der den Grundfrei betrag übersteigt, bis zum Erreichen einer bestimmten Höhe insgesamt als Kopfsteuer zu zahlen ist, sodass der Steuerpflichtige hieraus keinen Mehrwert erzielt. Erst wenn das Einkommen den Punkt erreicht hat, ab dem es die Summe aus Grundfreibetrag sowie Kopfsteuer übersteigt, verläuft der Durchschnittssteuersatz wie im „klassischen“ Kopfsteuermodell regressiv (vgl. Abbildung 11b). Die „klassische“ Kopfsteuer zeichnet gerade aus, dass sie allein an die Existenz als Person anknüpft. Es sei darauf hingewiesen, dass vorliegende Ausgestaltung mit Grundfreibetrag eigentlich nicht mehr als Kopfsteuermodell bezeichnet werden kann, da hier – wie soeben gezeigt – wieder eine Abhängigkeit von dem konkreten Einkommen des Steuerpflichtigen besteht. Es wird nur das Einkommen, das über einen bestimmten Grundfreibetrag hinausgeht, für die Kopfsteuerpflicht herangezogen, sodass bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze entweder überhaupt keine Kopfsteuer beziehungsweise diese nicht in voller Höhe zu zahlen ist. Das Einkommen ist vom Steuerpflichtigen beeinflussbar, sodass eine solche Modellvariante per definitionem von dem Kopfsteuerprinzip ausgeschlossen ist.
138
Eigene Darstellung.
48
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Abbildung 11b:139 Durchschnittssteuertarif beim Kopfsteuermodell mit Grundfreibetrag
Abgesehen von den Hürden im Hinblick auf die begriffliche Einordnung erscheint die Konzeption eines solchen Modells gleichwohl aus Effizienzgesichtspunkten sinnvoll, da ab einer gewissen Einkommenshöhe die Auswirkungen des Grundfreibetrags auf die Steuerhöhe für die Erbringung zusätzlicher Arbeitsleistung keine Rolle mehr spielen und damit in diesem Bereich von der Besteuerung keine leistungsmindernden Anreize mehr ausgehen. Wie in der rechtlichen Analyse deutlich werden wird, besteht verfassungsrechtlich eine Notwendigkeit für die steuerliche Verschonung eines bestimmten Existenzminimums,140 weshalb sich das sogleich thematisierte Modell mit regressivem Grenzsteuersatz sowie die Darstellung der „Progressionsmodelle“141 jeweils auf eine Gestaltung mit Grundfreibetrag beschränken. cc) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz Die regressive Wirkung der Besteuerung bei den Kopfsteuermodellen ergibt sich daraus, dass ein fester Steuerbetrag ohne Rücksicht auf das tatsächlich erzielte Einkommen geschuldet wird und damit mit steigendem Einkommen die prozentuale Durchschnittssteuerbelastung sinkt. Absolut schulden hier die Steuerpflich-
139
Eigene Darstellung. Siehe hierzu ausführlich im Folgenden unter: Teil 2 A. I. 2. a). 141 Siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 1 C. I. 2. 140
49
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
tigen eine Steuer in derselben Höhe, relativ werden allerdings die Mehrverdiener begünstigt.142 Bei der Anwendung eines regressiven Grenzsteuertarifs erfolgt eine Abhängigkeit der Steuerschuld von der Höhe des erzielten Einkommens. Man könnte den regressiven Tarifverlauf zudem so ausgestalten, dass die Bezieher eines höheren Einkommens – wie bei den Kopfsteuermodellen – prozentual weniger Steuern zahlen müssen, sich jedoch absolut eine höhere Steuerschuld für diese ergibt.
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 12:143 Grenz- und Durchschnittssteuertarif beim Ausgangsmodell mit regressivem Grenzsteuersatz
Eine gewisse „Umverteilung“ des Einkommens erfolgt hier dadurch, dass der Tarif auf das Einkommen als Bemessungsgrundlage angewendet wird, welche bei Mehrverdienern höher ausfällt, sodass in einem Modell mit regressivem Grenzsteuersatz bei diesen im Vergleich Geringverdienern durchaus eine höhere absolute Steuerbelastung denkbar ist. Der Grenzsteuertarifverlauf begünstigt hingegen prozentual gesehen die Mehrverdiener, die hierdurch einen geringeren Anteil ihres Einkommens als Steuer schulden.
142 Bei dem Kopfsteuermodell mit Grundfreibetrag gilt dies erst ab einer bestimmten Einkommenshöhe. 143 Eigene Darstellung.
50
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
b) Einbeziehung exogener Merkmale in die „Regressionsmodelle“ Im Nachfolgenden soll gezeigt werden, wie durch die soeben dargestellten „Regressionsmodelle“ eine Besteuerung exogener Charakteristika verwirklicht werden könnte. aa) „Pauschalsteuer“-Modell Eine „Pauschalsteuer“, auch „lump-sum tax“ genannt, wird als Sonderfall der Kopfsteuer verstanden.144 Obwohl durch sie die größtmögliche Vereinfachung und Effizienz erreicht werden kann, wurde die Einführung einer Kopfsteuer bislang in der Reformdiskussion nicht in Erwägung gezogen, da sie für Umverteilungszwecke ungeeignet sei und damit als ungerecht empfunden würde.145 Dem lässt sich entgegenhalten, dass durch geeignete Differenzierung von Kopfsteuern jedes Umverteilungsziel erreicht werden kann.146 Solche „umverteilenden“ Kopfsteuern, bei denen der Steuerbetrag nach Persönlichkeitsmerkmalen oder sonstigen Merkmalen differenziert wird, werden als „Pauschalsteuern“ bezeichnet.147 In einem solchen Besteuerungsmodell schulden nicht – wie bei der „klassischen“ Kopfsteuer – alle Personen exakt denselben Steuerbetrag, sondern für jede Person gilt ein individueller Steuerbetrag, der von ihren jeweiligen persönlichen Merkmalen abhängt. Während sich die Besteuerung bei der Kopfsteuer an der Existenz als Person orientiert, knüpft die Pauschalsteuer an andere persönliche unveränderliche Merkmale einer Person an. Die Frage, ob und in welcher Höhe der Steuerpflichtige Einkünfte erzielt, ist hier allerdings ebenso wie bei der Kopfsteuer irrelevant für die Höhe des zu zahlenden Steuerbetrags. Aufgrund unterschiedlicher persönlicher Charakteristika der Steuerpflichtigen ergeben sich daher selbst bei gleichem Einkommen jeweils verschieden hohe Steuerbeträge. 144 Kaiser, Konsumnachfrage, Arbeitsangebot und optimale Haushaltsbesteuerung, S. 16; so auch: Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 212 mit Fn. 173, die auf die uneinheitliche Verwendung der Begriffe und die daraus folgenden inhaltlichen Inkonsistenzen aufmerksam machen; siehe aber: Wagner, DStR 2014, 1133, der die Begriffe synonym verwendet. 145 Wagner, DStR 2014, 1133 (1137); Genser, in: Genser / Ramser / Stadler, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, S. 1 (6); Wagner, in: Bitz / Domsch / Ewert / Wagner, Vahlens Kompendium der Betriebswirtschaftslehre, S. 407 (410). 146 Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 223. 147 Zu diesem Begriff siehe: Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 212; Wagner, PWP 2006, 19 (23).
51
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
Schwache Charakteristika Personengruppe
A
z. v. E. / Jahr Steuerschuld / Jahr
B
Starke Charakteristika C
D
10.000 €
100.000 €
0 €
50.000 €
2.000 €
5.000 €
9.000 €
16.000 €
Abbildung 13a:148 Beispiel für ein Pauschalsteuer-Modell
Es ergeben sich damit je nach exogenen Merkmalen für die Steuerpflichtigen unterschiedliche regressiv verlaufende Durchschnittssteuertarife. Durchschnittssteuersatz Starke Merkmale Schwache Merkmale
z. v. E.
Abbildung 13b:149 Durchschnittssteuertarife beim Pauschalsteuer-Modell
In diesem Kontext wird von Teilen der Literatur häufig das Beispiel des „Beach comber“ (= „Strandgutsammler“) herangezogen.150 Dieses bezieht sich auf eine TV-Serie aus den 1960er Jahren, die von „John Lackland“, einer erfolgreichen Führungskraft, handelt. Trotz seines Erfolges fühlt sich dieser derart eingeengt, dass er sein Leben aufgibt, um auf einer Insel Strandgutsammler zu werden. Die Serie wurde zum Aufhänger der Diskussion unter Philosophen und Steuertheoretikern bezüglich der sogenannten „endowment tax“ beziehungsweise „faculty tax“ (= „Begabungs-“, „Fähigkeits-“151 oder „Potenzialsteuer“152), die ein Steuersystem beschreibt, das bei einer Person das Einkommen besteuert, das sie verdienen kann, 148
Eigene Darstellung. Eigene Darstellung. 150 So beispielsweise: Stark, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2005, 47; Shaviro, in: Thorndike, Tax justice, S. 123 (125); Zelenak, Duke Law Journal 2006, 1145 (1178). 151 Zu diesem Begriff: Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 202. 152 Zu diesem Begriff: Bareis, StuW 2000, 81 (83). 149
52
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
und nicht das Einkommen, das sie tatsächlich verdient. Dies würde für den „Beach comber“ bedeuten, dass er auch fortan Steuern wie eine Führungskraft zahlen müsste, was letztlich zur Folge hätte, dass er einen Teil seiner Freizeit aufgeben muss, um die für ihn bemessene Steuerlast aufbringen zu können.153 Im Zentrum steht die Frage, an welche Faktoren man anknüpfen sollte, um eine sachgemäße Umverteilung zu gewährleisten. Dies hängt davon ab, an welchen Merkmalen man eine „Besser-“ beziehungsweise „Schlechterstellung“ festmacht. Die Vertreter der „endowment tax“ führen an, dass kein einleuchtender Grund ersichtlich sei, wieso von zwei Personen mit identischen Begabungen und Berufschancen diejenige mit höherem Einkommen mehr Steuern zahlen soll, nur weil sie sich im Gegensatz zur anderen Person für Arbeit und gegen Freizeit entscheidet.154 Das Einkommen kann sich als unzuverlässiger Indikator erweisen, da dessen Höhe – wie bereits gezeigt – auch von der Konsum-Freizeit-Entscheidung des Einzelnen abhängt, die dieser je nach eigenen Präferenzen wählt.155 Dem wirkt die „endowment tax“ entgegen, indem sie bei der Zuweisung von Steuerlasten Wirkungen, die auf persönliche Entscheidungen ohne verteilungspolitische Relevanz zurückzuführen sind, unberücksichtigt lässt.156 Hierdurch wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass Individuen für ihre Präferenzen und hieraus resultierenden Entscheidungen selbst verantwortlich sind, jedoch für Nachteile in ihren Fähigkeiten kompensiert werden sollen.157 Diese Thematik wird auch unter dem Begriff der sogenannten „Soll-Leistungsfähigkeit“ diskutiert. Bei dieser kommt es für die Leistungsfähigkeit auf die Zeit und Kraft an, die eine Person zum Erzielen wirtschaftlicher Mittel aufwenden muss, sodass auch derjenige als leistungsfähig anzusehen ist, der theoretisch viel verdienen könnte, sich aber dennoch dem Müßiggang hingibt.158 Da die Pauschalsteuer unerwünschte Ausweichreaktionen ausschließt und damit die Effizienz maximiert, erscheint sie vor diesem Hintergrund diskussionswürdig. bb) „Pauschalsteuer-Modell“ mit Grundfreibetrag Darüber hinaus wäre ein weiterer Pauschalsteuer-Modellansatz denkbar, der – wie die geltende Einkommensbesteuerung – einen Grundfreibetrag steuerfrei belässt. Auch ein solches Modell könnte schließlich die Berücksichtigung exogener Charakteristika mit einfließen lassen, indem der Steuerbetrag, den jeder Steuer 153
Zum Ganzen: Stark, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2005, 47 (47). Hierzu: Stark, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2005, 47 (47); Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 201 f. 155 Siehe hierzu Teil 1 A. II. 1. 156 Stark, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2005, 47 (51). 157 Zu diesem Prinzip siehe: Ooghe / Peichl, EJ 2014, 1 (2); Fleurbaey / Maniquet, REStud 2006, 55; Beiser, Steuern, Rn. 15. 158 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 36, mit Verweis auf Haller, Die Steuern, S. 42 ff., der eine Bemessung der Steuerhöhe nach dem sogenannten „Bedürfnisbefriedigungspotenzial“ vorschlägt; hierzu auch: Birk, StuW 2011, 354 (356). 154
53
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
pflichtige nach Abzug des Grundfreibetrags zu zahlen hat, je nach persönlichen Merkmalen variiert. Zu obenstehendem Beispiel zur „klassischen“ Pauschalsteuer ergeben sich folgende Unterschiede: Schwache Charakteristika Personengruppe z. v. E. / Jahr Steuerschuld / Jahr
Starke Charakteristika
A
B
C
D
10.000 €
100.000 €
0 €
50.000 €
2.000 € 1.000 €
5.000 €
9.000 € 0 €
16.000 €
Abbildung 14a:159 Beispiel für ein Pauschalsteuer-Modell (Grundfreibetrag: 9.000 €)
Unter Berücksichtigung eines Grundfreibetrags verlaufen die unterschiedlichen Durchschnittssteuertarife zunächst progressiv; ab einer bestimmten Einkommenshöhe setzt jedoch die regressive Wirkung ein. Durchschnittssteuersatz Starke Merkmale Schwache Merkmale
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 14b:160 Durchschnittssteuertarife beim Pauschalsteuer-Modell mit Grundfreibetrag
Diese Unterschiede zum zuerst dargestellten „Pauschalsteuer-Modell“ äußern sich ökonomisch in Anreizverzerrungen: Zum einen müssen Steuerpflichtige, die nicht arbeiten und damit auch kein Einkommen erzielen, keine Steuer entrichten. Somit wird der „extensive margin“ verzerrt. Weiterhin wird dadurch, dass der Grundfreibetrag von der Einkommenshöhe abhängt, an eine beeinflussbare Größe 159 160
Eigene Darstellung. Eigene Darstellung.
54
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
angeknüpft, was negative Anreize auf die Anstrengung der Steuerpflichtigen haben kann. So könnten sie nun weniger Arbeit bevorzugen, um nicht den „Höchstbetrag“ der für sie jeweils nach ihren exogenen Merkmalen festgelegten Steuerschuld zu erreichen. Ab dem Punkt, an dem das Einkommen die Summe aus Grundfreibetrag und Steuerschuld übersteigt, gilt jedoch für alle Steuerpflichtigen mit denselben exogenen Merkmalen eine Steuerschuld in derselben Höhe, wodurch innerhalb dieses Bereichs Ausweichreaktionen ausgeschlossen werden können. Aus ökonomischer Sicht sprechen für diesen Ansatz die sich daraus ergebenden Effizienzvorteile, sodass eine Analyse seiner rechtlichen Zulässigkeit durchaus sinnvoll erscheint. cc) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz Eine Umverteilung anhand exogener Charakteristika könnte bei einem Modell mit regressivem Grenzsteuersatz derart erfolgen, dass sich für die Personengruppen je nach ihren Merkmalen unterschiedlich hohe Tarifkurven ergeben. Auf einen Steuerpflichtigen mit „starken“ exogenen Charakteristika, der also vergleichsweise wenig „effort“ zur Erzielung von Einkünften erbringen muss, würde demgemäß ein hoher Tarifverlauf Anwendung finden. Für diejenigen, die mehr „effort“ einsetzen müssen, gilt dagegen eine niedriger verlaufende Tarifkurve. Der sinkende Grenzsteuersatz hat eine generell anreizsteigernde Wirkung zur Folge.161
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Starke Merkmale Schwache Merkmale
Grundfreibetrag
Abbildung 15:162 Grenz- und Durchschnittssteuertarife beim Modell mit regressivem Grenzsteuersatz 161 162
Zu den Anreizwirkungen von Steuertarifen siehe bereits unter: Teil 1 A. II. 1. Eigene Darstellung.
z. v. E.
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
55
Wie bei einer „endowment tax“ wird auch bei dieser Modellvariante berücksichtigt, wie viel der Steuerpflichtige aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale theoretisch verdienen kann. Dies spielt allerdings nur bei der Bemessung des Steuertarifs, der zur Festlegung der Steuerschuld in einem weiteren Schritt auf das tatsächlich erzielte Einkommen angewendet werden muss, eine Rolle. Hierin liegt der Unterschied zu den „Pauschalsteuer-Modellen“, in denen das reale Einkommen – bei dem „klassischen“ Pauschalsteuermodell uneingeschränkt, bei dem modifizierten Pauschalsteuermodell ab dem Punkt, an dem der Grundfreibetrag für die Höhe der Steuerschuld irrelevant ist – für die Festlegung der Steuerhöhe außer Betracht bleibt. 2. „Progressionsmodelle“ Neben Modellen mit regressivem sind in vorliegende Betrachtung auch solche mit progres-sivem Durchschnittssteuersatz mit einzubeziehen. a) Ausgangsmodelle mit Progressionswirkung Einen weiteren Ansatz, um Anreizverzerrungen zu minimieren, stellt die unter anderem von Paul Kirchhof in seinem Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches vorgeschlagene Einführung einer „Flat Tax“ (Einheitssteuer) bei der Einkommensbesteuerung dar.163 Ein durchgehend einheitlicher Steuersatz findet sich bereits im geltenden Einkommensteuerrecht bei der Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen, für die nach § 32d EStG – unter Vorbehalt der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG – ein einheitlicher Steuersatz von 25 % gilt. Dagegen liegt einem Modell mit progressivem Grenzsteuersatz folgende Überlegung zugrunde: Durch die progressive Wirkung des Einkommensteuertarifs gemäß § 32a EStG wird im geltenden Einkommensteuerrecht eine Umverteilung erreicht, bei der allerdings unberücksichtigt bleibt, dass exogene Charakteristika, die von Person zu Person divergieren, maßgeblich dafür sind, wie viel „effort“ eine Person zur Erzielung von Einkünften aufwenden muss. aa) Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz Bei einer „Flat Tax“ im Einkommensteuerrecht würde für alle Steuerpflichtigen unabhängig von der jeweiligen Einkommensart und Einkommenshöhe der gleiche Steuertarif gelten. Der Steuerbetrag ergibt sich durch Anwendung des Einheitssteuersatzes auf die jeweilige Bemessungsgrundlage, sodass höhere Einkommen 163 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 374 ff.; siehe hierzu auch: Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 26 f., 48, 120 f.; Spengel, Ubg 2012, 256.
56
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
zwar nicht prozentual, jedoch absolut höher besteuert werden. Dies wird auch als „proportionale Besteuerung“ bezeichnet.164 Ohne Berücksichtigung eines Grundfreibetrags sind bei einem proportionalen Steuertarif sowohl Durchschnitts- als auch Grenzsteuersatz gleich hoch.165 In einem Modell mit Grundfreibetrag verläuft der Durchschnittssteuersatz progressiv und nähert sich mit steigendem Einkommen dem Grenzsteuersatz an; demnach lässt sich hier auch von einer „indirekten Progression“ sprechen.166 Der „intensive margin“, also die Entscheidung, wie viel der Einzelne arbeitet, wird vom (Einheits-)Grenzsteuersatz nicht verzerrt; die Entscheidung, ob er arbeitet („extensive margin“), anders als bei dem Kopfsteuermodell (ohne Grundfreibetrag) dagegen schon (wer nicht arbeitet, muss keine Steuern zahlen).167
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 16:168 Grenz- und Durchschnittssteuersatz beim Ausgangsmodell mit einheitlichem Grenzsteuersatz
bb) Modell mit progressivem Grenzsteuersatz Im geltenden Einkommensteuerrecht ist der Tarif direkt progressiv ausgestaltet. Dies bedeutet, dass die Bezieher eines höheren Einkommens im Vergleich zu solchen, die ein geringeres Einkommen erzielen, sowohl absolut als auch prozentual höher besteuert werden. 164
Siegel, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG / KStG, § 32a EStG Rn. 6. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 62. 166 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 14 f.; Suttmann, Die Flat Tax, S. 58 f.; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 800; Fuest / Peichl / Schäfer, StuW 2007, 22 (22). 167 Zur Unterscheidung der Begriffe des „extensive margin“ und des „intensive margin“ siehe: Blundell / Bozio / L aroque, AER 2011, 482 (482). 168 Eigene Darstellung. 165
57
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
Bis zu einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 9.408 € gilt ein Grundfreibetrag. Danach erfolgt bis 14.532 € ein linear-progressiver Anstieg des Steuertarifs von 14 % bis 23,97 %, zwischen 14.533 € und 57.051 € von 23,97 % bis 42 %. Zwischen einem zu versteuernden Einkommen von 57.052 € und 270.500 € wird der Einkommensanstieg proportional mit einem Steuersatz von 42 % besteuert. Ab 270.501 € gilt als sogenannte „Reichensteuer“ ein proportionaler Steuersatz in Höhe von 45 %. Für Einkünfte aus Kapitalvermögen gilt gemäß § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG ein gesonderter Steuertarif.
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 17:169 Grenz- und Durchschnittssteuersatz beim Ausgangsmodell mit progressivem Grenzsteuersatz
b) Einbeziehung exogener Charakteristika in die „Progressionsmodelle“ Die Besteuerung exogener Merkmale könnte auch durch Steuermodelle, die eine progressive Wirkung entfalten, verwirklicht werden. Dabei soll als weiteres Szenario eine Variierung der Grundfreibeträge nach exogenen Charakteristika mit aufgenommen werden (diese Variante wurde aus Vereinfachungsgründen bei den „Regressionsmodellen“ nicht diskutiert).
169
Vereinfachte Darstellung von Abbildung 2 unter Teil 1 A. II. 1.
58
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Im Folgenden sollen die Modelle mit einheitlichem sowie progressivem Grenzsteuersatz demnach jeweils sowohl mit variierendem Grenzsteuersatz als auch mit variierendem Grundfreibetrag vorgestellt werden. aa) Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz Anhand der zwei Modellvarianten soll zunächst vorgestellt werden, wie die Berücksichtigung exogener Charakteristika in einem Einheitssteuer-Modell erfolgen könnte. (1) Variante mit variierendem Grenzsteuersatz Zum einen besteht die Möglichkeit, das „klassische Einheitssteuer-Modell“ dahingehend zu modifizieren, dass nicht auf alle Steuerpflichtigen dieselbe „flat tax“ angewendet wird, sondern die Höhe des Einheitssteuersatzes für jeden Einzelnen von dem Vorliegen bestimmter persönlicher Merkmale abhängig gemacht wird. In dieser Modellvariante gibt es nicht nur einen, sondern viele verschiedene Steuertarife. Für die Personengruppen ergeben sich damit durchgängig unterschiedliche Durchschnitts- sowie Grenzsteuersätze.
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz Starke Merkmale Schwache Merkmale
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 18:170 Grenz- und Durchschnittssteuersätze bei der Modellvariante mit einheitlichem Grenzsteuersatz und variierenden Grenzsteuersätzen
170
Eigene Darstellung.
59
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
(2) Variante mit variierendem Grundfreibetrag Als weitere Möglichkeit könnte auf alle Steuerpflichtigen eine „flat tax“ in derselben Höhe Anwendung finden, während der Grundfreibetrag je nach exogenen Eigenschaften variiert, sodass eine Umverteilung nach dem „Tagging“-Prinzip durch verschieden hohe Bemessungsgrundlagen verwirklicht wird. In einem solchen Fall existiert nur ein fester Einheitssteuersatz, sodass ab einem bestimmten Punkt (*) der Grenzsteuersatz für alle Steuerpflichtigen identisch ist, während die Durchschnittssteuersätze aufgrund der unterschiedlichen Abzüge und Hinzurechnungen, die sich nach den jeweiligen exogenen Charakteristika bemessen, differieren.
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Starke Merkmale
Schwache Merkmale
*
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 19:171 Grenz- und Durchschnittssteuersätze bei der Modellvariante mit einheitlichem Grenzsteuersatz und variierenden Grundfreibeträgen
171
Eigene Darstellung.
60
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
(3) Würdigung der Modellvarianten Bei Betrachtung der „Flat-Tax-Modelle“ besteht für Personen mit „starken“ Charakteristika in der Variante mit variierenden Grundfreibeträgen ein größerer Anreiz, durch mehr Arbeitsaufwand ein höheres Einkommen zu beziehen, da für diese Personengruppen hier der Verlauf des Grenzsteuersatzes niedriger ausfallen wird als in der Variante, in der unterschiedlich hohe Tarifkurven zugrunde gelegt werden. Bei Steuerpflichtigen mit „schwachen“ Charakteristika tritt hingegen ein gegenteiliger Effekt ein, da deren Tarifkurve bei der Variante mit den variierenden Grundfreibeträgen höher liegen wird als bei der Variante, die anhand der Tarifhöhe umverteilt, sodass diese einen geringeren Anreiz haben, ihren Arbeits aufwand zu erhöhen. Es lässt sich darüber hinaus im Hinblick auf die Entscheidung, überhaupt arbeiten zu gehen („extensive margin“) ein Unterschied dergestalt feststellen, dass in der Modellvariante mit abweichenden Grundfreibeträgen die Schwelle zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit für Personen mit großem Erwerbspotenzial höher und für solche mit geringem Erwerbspotenzial niedriger liegt als in der Modellvariante mit abweichenden Grenzsteuertarifen. Dies ergibt sich daraus, dass hier ein vergleichweise höherer (bei starken Merkmalen) beziehungsweise niedrigerer (bei schwachen Merkmalen) Grundfreibetrag gilt, der deren Entschei dung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit negativ beziehungsweise positiv beeinflusst. Im vorliegenden Fall sollen die Effizienz und damit die Gesamtwohlfahrt gerade dadurch gesteigert werden, dass Menschen mit hohem Potenzial mehr Arbeits leistung erbringen. Da die Modellvarianten sich – wie soeben dargelegt – entweder positiv auf den „intensive margin“ und gleichzeitig negativ auf den „extensive margin“ oder genau umgekehrt auswirken, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht pauschal sagen, welche der beiden Modellvarianten im Hinblick auf die Potenzialausschöpfung zu präferieren ist. bb) Modell mit progressivem Grenzsteuersatz Die Besteuerung des Erwerbspotenzials fließt in das Progressionsmodell mit ein, indem zwar der progressive Steuersatz beibehalten wird, sich jedoch darüber hinaus durch Einbeziehung des „Tagging“ je nach exogenen Merkmalen unterschiedliche Besteuerungsmaßstäbe ergeben.
61
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
(1) Variante mit variierendem Grenzsteuersatz Zum einen könnte man die Tarifverlaufskurve als Anknüpfungspunkt wählen und deren Höhe von dem Vorliegen exogener Merkmale abhängig machen. In dieser Variante wird die Höhe des Steuersatzes zum einen von persönlichen Merk malen des Steuerpflichtigen, zum anderen aufgrund der Progressionswirkung auch von der Einkommenshöhe beeinflusst. Grenz- und Durchschnittssteuersätze sind hier zwischen den Personengruppen niemals gleich. Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz Starke Merkmale
Schwache Merkmale
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 20:172 Grenz- und Durchschnittssteuersätze bei der Modellvariante mit progressivem Grenzsteuersatz und variierenden Grenzsteuersätzen
(2) Variante mit variierendem Grundfreibetrag Wie bei den Modellen mit einheitlichem Grenzsteuertarif kommt auch hier eine zweite Modellvariante dergestalt in Betracht, dass die Höhe der Tarifverlaufskurve für alle Steuerpflichtigen gleich ist, wohingegen die des Grundfreibetrags von exogenen Merkmalen abhängig gemacht wird. Dies bedeutet, dass die jeweiligen Grenz- sowie Durchschnittssteuertarife durch Variierung der Grundfreibeträge je nach exogenen Charakteristika weiter rechts oder links verlaufen und diese zudem für die einzelnen Steuerpflichtigen je nach Einkommenshöhe aufgrund des progressiven Grenzsteuertarifs unterschiedlich hoch ausfallen. Aufgrund der abweichenden Grundfreibeträge sind die Durchschnittssteuersätze niemals gleich; die Grenzsteuersätze ab einer gewissen Einkommenshöhe der „schwachen“ Gruppe (*) hingegen schon. 172
Eigene Darstellung.
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Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
Grenzsteuersatz Durchschnittssteuersatz
Starke Merkmale
Schwache Merkmale
*
Grundfreibetrag
z. v. E.
Abbildung 21:173 Grenz- und Durchschnittsätze bei der Modellvariante mit progressivem Grenzsteuersatz und variierenden Grundfreibeträgen
(3) Würdigung der Modellvarianten Die „Progressionsmodelle“ sind die Modelle mit der insgesamt stärksten Umverteilungswirkung: Da aufgrund der direkten Progression der Grenzsteuersatz mit dem Einkommen steigt, zahlen hier die Bezieher hoher Einkommen absolut sowie prozentual eine höhere Steuerschuld. Hinzu kommt die Umverteilung anhand der jeweiligen exogenen Charakteristika durch unterschiedlich hohe Tarifverläufe beziehungsweise variierende Grundfreibeträge. Ebenso wie in den Ausführungen zu den Modellvarianten mit einheitlichen Grenzsteuersatz174 lassen sich auch bei den beiden Modellvarianten zum progressiven Grenzsteuersatz Unterschiede im Hinblick auf die Potenzialausschöpfung feststellen: In der ersten Variante liegen die Tarifkurven je nach exogenen Merkmalen unterschiedlich hoch, sodass die Unterschiede in der Besteuerungshöhe mit steigendem Einkommen immer größer werden. Bei der Variante mit unterschied lichen Grundfreibeträgen nimmt der Unterschied zwischen den Personengruppen mit verschiedenen Charakteristika dagegen bei steigendem Einkommen in Bezug auf die Besteuerungshöhe ab, da auf das Einkommen der Steuerpflichtigen trotz unterschiedlicher exogener Merkmale ab einer bestimmten Einkommenshöhe der „schwächsten“ Gruppe (*) derselbe Grenzsteuersatz Anwendung findet. Dieser wird 173 174
Eigene Darstellung. Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 2. b) aa) (3).
C. Vorstellung diskussionswürdiger Umsetzungsmöglichkeiten
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niedriger als der Spitzensteuersatz, jedoch höher als der niedrigste Grenzsteuersatz in der anderen Modellvariante ausfallen. In der zweiten Modellvariante mit den variierenden Grundfreibeträgen besteht aufgrund dessen im Vergleich zur ersten Variante für Steuerpflichtige mit „stärkeren“ exogenen Merkmalen eine größere, für solche mit „schwächeren“ exogenen Merkmalen eine geringere Motivation zur Erbringung zusätzlichen „efforts“. Dem steht die Anreizwirkung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gegenüber, die bei der Variante mit unterschiedlichen Grundfreibeträgen für Personen mit hohem Erwerbspotenzial – aufgrund des hohen Grundfreibetrags als „Hemmschwelle“ für die Erwerbsaufnahme – geringer ausfallen wird als bei der mit variierenden Grenzsteuertarifen, während für die Anreizsetzung für Personen mit geringem Erwerbspotenzial genau das Gegenteilige gilt.
II. Beurteilung der Modellansätze im Kontext der Optimalsteuerlehre Die Kopfsteuer und damit auch die Pauschalsteuer maximieren die Effizienz und werden aus diesem Grund auch als „first best“ („erstbeste“) – Lösung bezeichnet.175 Das „Pauschalsteuer-Modell“ kann als „first best“-Lösung begrifflich nicht der Lehre von der optimalen Besteuerung und damit konsequenterweise auch nicht dem „Tagging-Prinzip“ als dessen Ausprägung zugeordnet werden.176 Dennoch darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass Pauschalsteuern die maximale Wohlfahrt zu erreichen imstande sind, weshalb sie einen brauchbaren Referenzpunkt zur Messung anderer Zustände darstellen.177 Die Unerreichbarkeit, die in der Natur von Idealen liegt, sollte nicht zu dem Schluss führen, dass man sich von diesen abwenden sollte, sondern dass man ihnen im Gegenteil gerade möglichst nahe kommen sollte – in diesem Falle durch ein möglichst neutrales Steuersystem.178 Demnach ist die rechtliche Analyse eines „first-best“-Modells durchaus von Relevanz und soll ein Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Ein Modell mit regressivem Grenzsteuersatz hat zur Folge, dass der Grenzsteuersatz für jeden zusätzlichen Arbeitsaufwand sinkt, wodurch Menschen, die ihr Potenzial zur Erzielung von Einkünften noch nicht völlig ausschöpfen, einen größeren Anreiz hätten, ihren „effort“ zu steigern. Folglich wäre es – jedenfalls im Hinblick auf den „intensive margin“ – aus ökonomischer Sicht zweifelsohne effizienter, statt einem einheitlichen oder progressiven Steuersatz einen regressi 175 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 254; Kaiser, Konsumnachfrage, Arbeitsangebot und optimale Haushaltsbesteuerung, S. 16; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 101; siehe hierzu auch bereits unter: Teil 1 C. I. 1. a) aa) und b) aa). 176 Siehe hierzu bereits die Ausführungen unter: Teil 1 A. II. 1. 177 Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 256. 178 Suttmann, Die Flat Tax, S. 33 f.
64
Teil 1: Das „Tagging“-Prinzip
ven anzuwenden. Die Festlegung der Einkommenshöhe als Umverteilungsmaßstab wird hierdurch teilweise aufgegeben, da ein solcher Tarif nicht mehr von Viel- auf Geringverdiener umverteilt, sondern solche mit hohem Einkommen begünstigt. Jedoch kann hier gleichwohl eine Umverteilung nach der Einkommenshöhe dadurch erfolgen, dass der Tarif auf das tatsächlich erzielte Einkommen angelehnt wird, sodass zwar nicht prozentual, jedoch absolut eine höhere Steuerschuld zu zahlen ist.179 Folglich findet auch durch das Modell mit regressivem Steuersatz eine Anknüpfung an die Einkommenshöhe statt, was Ausweichreaktionen mit sich bringt, sodass dieses im Kontext der Optimalsteuerlehre als „second best“-Lösung zu qualifizieren ist. Modelle mit einheitlichem oder progressivem Grenzsteuersatz verteilen anhand der Einkommenshöhe um: Bei den „Einheitssteuermodellen“ gibt es zwar einen beziehungsweise viele verschiedene „starre“ Einheitssteuersätze; betrachtet man allerdings die Durchschnittssteuersätze, so steigen diese mit dem Einkommen an, sodass sich hierdurch eine „indirekte Progression“ ergibt.180 In den Progressionsmodellen steigt bereits der Grenzsteuersatz mit dem Einkommen an. Beide Modelle haben jedoch auch Ausweichreaktionen zur Folge und bewirken eine Verzerrung des „extensive“ sowie des „intensive margin“, wobei erstere wohl schwächer und letztere stärker ausfallen wird als bei den „Regressionsmodellen“. Durch die zusätzliche Umverteilung anhand exogener Charakteristika können diese unerwünschten Verhaltenswirkungen durch die „Tagging“-Modelle zumindest verringert werden. Folglich stellen beide Ansätze „second best“-Lösungen und damit klassische Ausprägungen der Optimalsteuerlehre dar.
179
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 1. a) cc). Feist / Krimmer / Raffelhüschen, in: Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 122 (128).
180
Teil 2
Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten Neben der Diskussion ökonomischer Prinzipien darf nicht übersehen werden, dass Steuern auf gesetzlicher Grundlage erhoben werden und Steuergesetze als Teil der Rechtsordnung die rechtlichen, insbesondere verfassungsrechtlichen Grenzen einzuhalten haben.1 Art. 20 Abs. 3 GG besagt, dass die Gesetzgebung an die „verfassungsmäßige Ordnung“, die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden sind. Neben dem Rechtsstaatsprinzip sowie den Regelungen über das Finanzwesen in Art. 104a ff. GG stellen die einzelnen Grundrechte die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für das Einkommensteuerrecht dar.2 Sie binden nach Art. 1 Abs. 3 GG gesetzgebende, vollziehende sowie rechtsprechende Gewalt als „unmittelbar geltendes Recht“. Der Steuergesetzgeber hat als Teil der Legislative darauf zu achten, dass er diese durch gesetzliche Regelungen nicht verletzt.
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten Da das Gleichheitsgebot im Steuer- und Abgabenrecht die wichtigste verfassungsrechtliche Schranke darstellt, erlangt bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung steuerlicher Regelungen der Allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG herausragende Bedeutung.3 Selbst die ökonomische Literatur zur Optimalsteuerlehre räumt ein, dass die Vereinbarkeit Letzterer mit dem Prinzip der „horizontalen Gleichbehandlung“ problematisch erscheint.4 Vor diesem Hintergrund ist vorab die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit einer Kopfsteuer, Einheitssteuer sowie progressiven Steuer zu prüfen, die Ausgangspunkt für die geplanten Modellansätze darstellen, um sodann auf die Möglichkeit einer Differenzierung der Einkommensteuerhöhe anhand exogener Charakteristika im Rahmen der verschiedenen Modellansätze einzugehen.
1
Hierzu ausführlich: Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 45 (mit Verweis auf Rn. 155 ff.). Weber-Grellet, in: Schmidt, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 2 Rn. 8. 3 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 75. 4 So beispielsweise bei: Schmidt, in: Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II, S. 119 (156); Bastani / Blomquist / Micheletto, IER 2013, 1219 (1219). 2
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
In einem nächsten Schritt ist schließlich die Vereinbarkeit der jeweiligen Differenzierung nach den einzelnen exogenen Merkmalen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz beziehungsweise mit den speziellen Gleichheitsrechten zu prüfen.
I. Beurteilung der Modellansätze nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips Die „Ausgangsmodelle“ der Kopfsteuer, der Einheitssteuer sowie der progressiven Steuer sollen zunächst ohne Berücksichtigung des „Tagging“-Prinzips, also ohne Anknüpfung an exogene Merkmale der Steuerpflichtigen, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden, um hieraus Kriterien für die spätere Konzipierung der „Tagging“-Modelle ableiten zu können. Nach der gleichheitsrechtlichen Analyse der Tarifgestaltungen soll die grundsätzliche Möglichkeit einer Anknüpfung an exogene Merkmale im Rahmen der Modellansätze untersucht werden. 1. Grundsätzliche Ausführungen zum Leistungsfähigkeitsprinzip Bereits Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) besagte: „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei.“ In der Formulierung „im Verhältnis ihrer Mittel“ kommt hier der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Ausdruck.5 a) Rechtsprechung des BVerfG Das BVerfG betont seit dem Jahre 1957 in ständiger Rechtsprechung, dass auf dem Gebiet des Steuerrechts aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein „Grundsatz der Steuergerechtigkeit“ folge, an den der Gesetzgeber gebunden sei.6 Dieser Grundsatz wird durch das Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als Maßstab steuerrechtlicher Lastengleichheit7 konkretisiert.8 Das Leistungs 5
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, S. 616. BVerfGE 6, 55 (70); 13, 331 (338); 26, 302 (310); 43, 108 (118 f.); 61, 319 (343); 66, 214 (223); 67, 290 (297); 68, 143 (152); 68, 287 (310); 74, 182 (199 f.); 105, 17 (46); 117, 1 (30); 120, 1 (44); st. Rspr. 7 Zu diesem Begriff siehe: BVerfGE 84, 239 (269). 8 BVerfGE 43, 108 (123); 66, 214 (223); 81, 228 (236); 82, 60 (86); 89, 346 (352); 105, 73 (125); 107, 27 (46 f.); 116, 164 (180); 117, 1 (30); 122, 210 (231); 127, 224 (245); 135, 126 (154); a. A.: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 286 f., für den diese Herleitung entbehrlich geworden ist, da bereits aufgrund anderer ausdrücklicher Verfassungsaussagen eine Besteuerung von nicht-leistungsfähigen Steuerpflichtigen nicht möglich sei. 6
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
67
fähigkeitsprinzip gibt dem Gesetzgeber ein auf die Leistungsfähigkeit bezogenes Differenzierungsgebot als materielles Gleichheitsmaß.9 Es gilt insbesondere im Einkommensteuerrecht, das auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen angelegt ist.10 Bereits in der Begründung zum Entwurf eines Dritten Steuerreformgesetzes11 wurde es als Verwirklichung des Prinzips der Steuergerechtigkeit verstanden, „jeden Bürger nach Maßgabe seiner finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Steuern zu belasten“.12 Nach der „vertikalen Steuergerechtigkeit“ muss die Besteuerung niedriger Einkommen im Vergleich zur Steuerbelastung höherer Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen,13 wohingegen gemäß „horizontaler Steuergerechtigkeit“ Steuerpflichtige mit gleicher Leistungsfähigkeit gleich hoch belastet werden müssen.14 Darüber hinaus ist das Folgerichtigkeitsgebot zu beachten, nach dem eine Grundentscheidung „folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen“ ist.15 Ausnahmen hiervon bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.16 Als ein solcher wurden außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke sowie Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse anerkannt17; Einnahmeerzielungszwecke hingegen nicht.18 Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit wird vom einfachen Gesetzgeber nach dem objektiven und subjektiven Nettoprinzip bemessen, was bedeutet, dass der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, also der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen / beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits unterliegt.19 Die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Leistungsfähigkeit kommt im Einkommensteuergesetz in den Begriffen „Gesamtbetrag der Einkünfte“ nach § 2 Abs. 3 EStG und „zu versteuerndes Einkommen“ nach § 2 Abs. 5 EStG zum Ausdruck.20
9
BVerfGE 135, 126 (154). BVerfGE 13, 290 (297); 29, 402 (412); 32, 333 (339); 36, 66 (72); 43, 108 (120); 61, 319 (343 f.); 82, 60 (86 f.). 11 BT-Drs. 7/1470, S. 211 f. 12 BVerfGE 61, 319 (344); 66, 214 (223). 13 BVerfGE 107, 27 (46 f.). 14 BVerfGE 105, 73 (126); 112, 268 (279); 116, 164 (180); 126, 268 (278). 15 BVerfGE 105, 73 (126); 107, 27 (47); 110, 412 (433); 123, 111 (120 f.). 16 BVerfGE 107, 27 (47); 122, 210 (231); 127, 224 (245). 17 BVerfGE 120, 1 (29); 122, 210 (231 ff.); 127, 224 (245 f.). 18 BVerfGE 122, 210 (233). 19 BVerfGE 122, 210 (233); 127, 224 (248 f.). 20 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 176. 10
68
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Abbildung 22:21 Leistungsfähigkeit bei der Einkommensteuer
Das BVerfG sieht das objektive Nettoprinzip, nach welchem berufliche Erwerbsaufwendungen die Leistungsfähigkeit mindern, als „das Einkommensteuerrecht prägend“ an,22 hat jedoch bisher offengelassen, ob diesem Prinzip Verfassungsrang zukommt.23 Gleichwohl ist es aufgrund des Folgerichtigkeitsgrundsatzes zu beachten.24 Eine Herausforderung birgt die Frage, welche privaten Abzüge des Steuerpflichtigen nach dem subjektiven Nettoprinzip abziehbar sind. Für die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit kommt es auch auf die „Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits sowie zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits“ an. Die Abzugsfähigkeit privat veranlasster Aufwendungen steht allerdings nicht ohne Weiteres zur Disposition des Gesetzgebers, sondern dieser hat die den Aufwand veranlassenden Gründe, wenn diese der Sphäre der privaten Lebensführung angehören, „im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen“.25 Dies bedeutet, dass sich eine Pflicht des Gesetzgebers zum Abzug privater Aufwendungen nur aus dem Zusammenspiel mit anderen Verfassungsnormen ergeben kann.26 Nach § 2 Abs. 4 und 5 EStG werden Sonderausgaben im Sinne des § 10 EStG, außergewöhnliche Belastungen im Sinne der §§ 33, 33a EStG sowie der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG als abzugsfähig angesehen. Welche privaten Aufwendungen die steuerliche Bemessungsgrundlage darüber hinaus von Verfassungs wegen mindern, ist jedoch „bislang noch nicht abschließend geklärt“.27 Jedenfalls ist die subjektive steuerliche Leistungsfähigkeit anerkannt, sofern die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG oder das Prinzip der Sozialstaatlichkeit nach Art. 20 Abs. 1 GG betroffen sind.28 21
Eigene Darstellung. BVerfGE 126, 268 (280). 23 BVerfGE 127, 224 (248 f.); hierzu auch: Kirchhof, BB 2017, 662 (665). 24 BVerfGE 107, 27 (47); 122, 210 (233); 123, 111 (121); 126, 268 (279); 127, 224 (245 f.). 25 Zum Ganzen: BVerfGE 107, 27 (49); 112, 268 (280). 26 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 150. 27 BVerfGE 107, 27 (48). 28 Lang, StuW 1974, 293 (298). 22
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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b) Bezugsgrößen der Leistungsfähigkeit Es werden grundsätzlich drei Leistungsfähigkeitsindikatoren unterschieden: Vermögen, Einkommen und Konsum.29 Jeder dieser Indikatoren wird durch jede Steuer mindestens mittelbar belastet; so belastet beispielsweise eine Steuer auf den Konsum auch das Einkommen; genauer gesagt seine Verwendung.30 Die Einkommensteuer in Deutschland ist sowohl kapital- als auch konsumorientiert: Zum einen nimmt sie Bezug auf die „Summe der Einkünfte“ (§ 2 Abs. 1 bis 3 EStG) und damit auf das Erwerbseinkommen; auf der anderen Seite grenzt sie den Teil des Einkommens, der auf indisponible Ausgaben des Steuerpflichtigen entfällt und damit der Einkommensverwendung zuzuordnen ist, aus (§ 2 Abs. 4 und 5 EStG).31 In dieser Konzeption spiegeln sich die Begriffe der wirtschaftlichen und steuerlichen Leistungsfähigkeit wider. Während sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vor allem am Erwerbseinkommen orientiert, kommt die steuerliche Leistungsfähigkeit in dem für die Steuerzahlung disponiblen Einkommen des Steuerpflichtigen zum Ausdruck.32 Der Begriff der steuerlichen Leistungsfähigkeit ist damit weiter und umfasst zusätzlich noch das subjektive Nettoprinzip.33 Die Einkommensteuer beruht auf dem Gedanken, dass das Einkommen der beste Indikator für die Fähigkeit, Steuern zu zahlen, und damit für die steuerliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen sei.34 Steuerliche Leistungsfähigkeit meint zudem die Besteuerung nach Maßgabe der Leistungs- im Sinne von Zahlungsfähigkeit.35 Gefordert wird damit „eine Belastung nach den tatsächlichen ökonomischen Ergebnissen einer Finanzquelle“.36 Nach der Rechtsprechung des BVerfG hat der Steuergesetzgeber die Grundsatzentscheidung getroffen, dass der Einzelne nicht in seiner Erwerbsfähigkeit be 29
Reding / Müller, Einführung in die Allgemeine Steuerlehre, S. 49; Wernsmann, in: Menzel / Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 452 (453); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 55; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 32 f.; Wernsmann, Jura 2000, 175 (176). 30 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 56. 31 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 72. 32 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 481; zu einer solchen Begriffsverwendung der „steuerlichen Leistungsfähigkeit“ siehe auch: BVerfGE 99, 216 (233). 33 Lang, StuW 1974, 293 (298). 34 McNulty, StuW 1989, 120 (123). 35 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 480; Reding / Müller, Einführung in die allgemeine Steuerlehre, S. 45 und Kirchhof, BB 2017, 662 (662, 665): „ability to pay“; Kirchhof, StuW 1984, 297 (298 f.); Elicker, StuW 2002, 217 (219 f.); Elicker, StuW 2002, 217 (219 f.); Kirchhof, StuW 1984, 297 (298 f.); Söhn, Finanzarchiv 46 (1988), 154 (161); Vogel / Walter, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. XX, Art. 105 Rn. 68o; kritisch zur Gleichsetzung beider Begriffe: Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 96 („Vergröberung“). 36 Kirchhof, BB 2017, 662 (664).
70
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
lastet wird, sondern nur in dem tatsächlich Erworbenen; derjenige, der sein Talent, durch Arbeit Erträge zu erzielen, ungenutzt lässt, unterliegt damit nicht der Besteuer ung.37 Die Wahl des Potenzials zur Einkommenserzielung als Anknüpfungspunkt für die Einkommensteuer weicht von dieser Grundsatzentscheidung ab. Die vom Einkommensteuerrecht vorgegebene Bezugsgröße zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit ist nicht die „Soll-“, sondern die „Ist-Leistungsfähigkeit“.38 Bei dem Leistungsfähigkeitsprinzip handelt es sich um ein freiheitsschonendes Besteuerungsprinzip, das die Steuerbelastung an das Ergebnis eines freiwilligen Erwerbs knüpft.39 Würde das Steuerrecht die finanzielle Leistungsfähigkeit an dem Potenzial zum Einkommenserwerb messen, so würde letztlich das besteuert, was jemand gegen seinen Willen durch Zwang zur Mehr- oder Weiterarbeit verdienen könnte.40 Als Bezugspunkt für eine Besteuerung kommt somit nur die Erwerbsfähigkeit, die sich tatsächlich realisiert hat, in Betracht.41 Da die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer die steuerliche Leistungsfähigkeit umfassend berücksichtigt, wird diese als gerechteste Steuer angesehen.42 c) Kritik der Literatur am Leistungsfähigkeitsprinzip Bereits in der frühen ökonomischen Literatur gab es Stimmen, die sich gegen das Verfassungsprinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit aussprachen.43 Der Begriff der Leistungsfähigkeit wurde als „nichtssagender“ oder auch „leerer“ Begriff ohne wirkliche Aussagekraft kritisiert.44 Durch die Berufung auf 37
BVerfGE 93, 121 (135). BVerfGE 93, 121 (135); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 290; Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 147 (mit Fn. 64); Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. II, § 4 AO Rn. 486; Birk / Wernsmann, JZ 2001, 218 (221); Kirchhof, StuW 2002, 185 (190); Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 30 (mit Fn. 131), 43, 152, 333, 361; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 497 f.; Vogel / Waldhoff, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. XIV, Vorbemerkungen zu Art. 104a–115 Rn. 525; Kirchhof, in: VVDStRL 39 (1981), S. 213 (226 f.); Jachmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, S. 20. 39 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 361. 40 Bareis, StuW 2000, 81 (83). 41 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 43. 42 Lang, StuW 2016, 101 (107, 109, 116). 43 Siehe hierzu insbesondere: Haller, Die Steuern, S. 42 ff.; Schmoller, ZgS 1863, 1 (57); Littmann, in: Haller / Kullmer / Shoup / Timm, Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Fritz Neumark zum 70. Geburtstag, S. 113 (113 ff.); Pohmer, Finanzarchiv 27 (1968), 139 (143 f.); Wagner, StuW 2010, 24 (24 ff.); Schmidt, Die Steuerprogression, S. 42 ff.; zur finanzwissenschaftlichen Kritik auch: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 39 ff.; Birk, StuW 2011, 354 (356 f.). 44 Schmoller, ZgS 1863, 1 (57); Littmann, in: Haller / Kullmer / Shoup / Timm, Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Fritz Neumark zum 70. Geburtstag, S. 113 (113 f.); Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 91; ausführlich zur Kritik: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 39 ff. m. w. N. 38
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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den Leistungsfähigkeitsgrundsatz werde häufig versucht, sich die ausführliche Auseinandersetzung mit konkreten systematischen Argumenten zu ersparen be ziehungsweise deren Mangel an Überzeugungskraft zu verschleiern.45 Darüber hinaus sei die steuerliche Verteilungsgerechtigkeit in Gestalt des Leistungsfähigkeitsprinzip kein tauglicher Maßstab für die vielfältigen wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen, sodass es sinnvoller sei, sich in solchen Fällen „prinzipiell an dem generellen Postulat der sozialen Redistribution auszurichten“.46 Auch aus rechtswissenschaftlicher Perspektive wurde beanstandet, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip zu vieldeutig sei, sodass sich aus ihm keine konkreten Schlüsse ziehen ließen.47 Bei Definition, dogmatischer Herleitung sowie Bestimmung der konkreten Rechtsfolgen des Leistungsfähigkeitsprinzips falle man in ein „dunkles Loch der Ungewissheit und des Ungefähren“.48 „Aus der wissenschaftlichen Sehnsucht nach der Weltformel“ heraus entstanden, sei es letztlich nicht mehr als eine „Leerformel“, die mit etwas Formulierungsgeschick nahezu beliebige Ergebnisse erlaube.49 Das Leistungsfähigkeitsprinzip vermag es somit nach vielfach vertretener Ansicht nicht, seiner Aufgabe der Konkretisierung des Begriffs der „Steuergerechtigkeit“ hinreichend gerecht zu werden. Dies ist angesichts der Schwierigkeiten, die eine solche Definition mit sich bringt, nicht allzu überraschend. So wird kritisiert, dass bei der Frage der Lastenverteilung Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nahe beieinanderliegen sowie dem Zeitgeist unterliegen würden und zudem leicht vertauschbar seien.50 Weiterhin müsse die Rechtswissenschaft zur Bestimmung dieses Begriffs zwangsläufig in einen Dialog mit anderen Wissenschaften, namentlich der Ökonomie sowie der politischen Philosophie, treten.51 Vollkommen fair wäre ein Steuersystem „frei von Bevorzugungen, unvoreingenommen, objektiv und unparteiisch“.52 Ein solches umzusetzen gestaltet sich allerdings als schwierig, da Gerechtigkeit auch immer etwas mit der gefühlten eigenen Lage, mit dem „individuellen Vergleichen“ zu tun hat.53 Begriffe wie 45
Gassner / L ang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 67. 46 Pahlke, Finanzarchiv 28 (1969), 42 (50 ff.). 47 BVerfGE 43, 108 (120) m. w. N.; 47, 1 (27); Lang, StuW 1990, 107 (112); Gassner / L ang, ÖStZ 2000, 643 (644); Gassner / L ang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 12 f.; Leisner, Der Gleichheitsstaat, S. 191; Birk, StuW 2011, 354 (357); Arndt, in: Damrau / K raft / Fürst, Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag, S. 17 (29 ff.). 48 Kirchhof, BB 2017, 662 (662). 49 Moes, in: Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 141 f. 50 Birk, StuW 2011, 354 (361). 51 Eckhoff, StuW 2016, 207 (215 ff.). 52 Vorwold, WPg 2003, 803 (808). 53 Birk, StuW 2011, 354 (356); grundsätzliche Kritik am Gerechtigkeitsbegriff bei: Rüthers, JZ 2009, 969.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
„Leistungsfähigkeit“ oder „Steuergerechtigkeit“ werden in diesem Kontext allein als Stichworte gesehen, die keinen eigenständigen Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Besteuerungsgrenzen leisten, und schließlich dazu führen, dass unter dem Deckmantel dieser Begriffe Steuerpolitik betrieben wird.54 Die Schwierigkeit zur Festlegung von Kriterien zur Bestimmung des Gleichseins macht das Prinzip zu einem „Manipulationsobjekt“.55 Der Begriff der Leistungsfähigkeit scheint demnach für die Konkretisierung der Steuergerechtigkeit keinen wirklichen Mehrwert zu bringen.56 Gerade das subjektive Leistungsfähigkeitsprinzip sieht sich, insbesondere auf steuerökonomischer Seite, vielfacher Kritik ausgesetzt. Es wird bemängelt, dass private Aufwendungen genau genommen nicht das Einkommen betreffen würden, sondern Einkommensverwendungen seien.57 Es handele sich bei diesem Begriff letztlich um ein Umverteilungswerturteil, mit dessen Hilfe eine Umverteilung der gemessenen Leistungsfähigkeit erfolgen soll, und als Folge nicht mehr das volle wirtschaftliche Einkommen besteuert werde.58 In den hiervon erfassten Fällen werde gerade aus sozialen Zwecken von der Regelbesteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abgewichen. Das subjektive Leistungsfähigkeitsprinzip spiegele demnach nicht die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen wider, sondern stelle vielmehr eine Durchbrechung dieser dar.59 Dem lässt sich wiederum entgegenhalten, dass nicht nur die wirtschaftliche, sondern vielmehr die steuerliche Leistungsfähigkeit für den Leistungsfähigkeitsbegriff maßgeblich sein muss.60 Die steuerliche Leistungsfähigkeit wird durch unvermeidbare Privataufwendungen ebenso geschmälert wie durch Erwerbsaufwendungen, da der Steuerpflichtige das, was er für die eigene Existenz sowie für die seiner unterhaltsberechtigten Familienmitglieder benötigt, nicht gleichzeitig zum Zahlen von Steuern verwenden kann.61 Trotz der Vielzahl kritischer Stimmen ist das subjektive Nettoprinzip damit als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips 54 Moes, in: Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 142. 55 Vorwold, Umsteuern!, S. 19; Lang, StuW 2016, 101 (102 f.). 56 Siehe hierzu auch: Arndt, NVwZ 1988, 787 (791), der sich für eine „herkömmliche Deutung des Gleichheitssatzes als Willkürgebot bzw. als Gebot sachgerechten Differenzierens“ ausspricht. 57 Hierzu: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 785. 58 Schneider, Steuerbilanzen, S. 39 f.; Schneider, StuW 1984, 356 (356 ff.); Bareis, StuW 1991, 38 (42); Bareis, DStR 1991, 1399 (1399): „Forderung nach rein dem Finanzzweck dienender Besteuerung“; Bareis, in: Elschen / Siegel / Wagner, Unternehmenstheorie und Besteuerung, Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Schneider, S. 39 (63 ff.). 59 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 170 ff.; gegen eine verbindliche verfassungsrechtliche Geltung des subjektiven Nettoprinzips auch: Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, der diese These auch auf ökonomische Erkenntnisse stützt. 60 Zu den beiden Begriffen siehe: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 481, 496. 61 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 785.
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in der finanzwissenschaftlichen, rechtsphilosophischen sowie steuerrechtlichen Literatur überwiegend anerkannt.62 Auch wenn das Leistungsfähigkeitsprinzip in der finanzwissenschaftlichen Diskussion weitgehend in den Hintergrund getreten ist,63 wird es vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung bestätigt64 und hat sich als „Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung“65 in der Steuerrechtswissenschaft etabliert. Zum einen hat es den Vorteil, dass es dem Steueraufkommen dient und weitläufig akzeptiert ist, weshalb es wiederum dazu geeignet ist, potentiellen Steuerprotesten und Steuervermeidungsstrategien vorzubeugen.66 Zudem ist es gerade aufgrund seiner Unschärfe und Weitläufigkeit offen für politische Entscheidungen hinsichtlich der „Steuerwürdigkeit“ von Sachverhalten und ermöglicht gleichzeitig durch seine richtungsweisenden Vorgaben der Rationalität und Konsistenz die Korrektur eines unsystematischen und irrationalen Steuersystems.67 Vielfach wird auch angeführt, dass sich zu diesem Verteilungsprinzip keine wirkliche Alternative finden ließe.68 Die Lastenzuteilung richtet sich damit „zumindest für die direkten Steuern“69 nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen.70
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Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 70 ff.; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 319; Kirchhof, StuW 1985, 319 (328); Schneider, DStR-Beih. 2009, 87; Uelner, in: Raupach / Uelner, Ertragsbesteuerung, Festschrift für Ludwig Schmidt zum 65. Geburtstag, S. 21 (26 f.); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 784 ff.; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 176, 626; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 57 ff. m. w. N. 63 Gassner / L ang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 9. 64 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a) sowie die umfassende Darstellung bei: Desens, StuW 2016, 240 (240 ff.). 65 Zu diesem Begriff siehe: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 41; Wagner, StuW 1992, 2 (2). 66 Arndt, in: Damrau / K raft / Fürst, Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag, S. 17 (29); Kirchhof, BB 2017, 662 (667). 67 Kirchhof, BB 2017, 662 (667). 68 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 39; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 491 f.; Vorwold, Umsteuern!, S. 48; Eckhoff, StuW 2016, 207 (209); a. A.: Arndt, in: Damrau / K raft / Fürst, Festschrift für Otto Mühl zum 70. Geburtstag, S. 17 (26 ff.); Kruse, Steuerrecht, S. 44; Kirchhof, BB 2017, 662 (662 ff.). 69 BVerfGE 127, 224 (247). 70 Hierzu insbesondere: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuer normen, S. 155 ff.; Eckhoff, StuW 2016, 207 (208 f.).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
2. Vorgaben für die Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs Die Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips für die Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs sind zunächst im Hinblick auf die Berücksichtigung eines Existenzminimums und sodann in Bezug auf den Tarifverlauf einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. a) Das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums Bei dem Begriff des Existenzminimums lassen sich das „steuerliche Existenzminimum“ als Untergrenze für den steuerlichen Zugriff sowie das „sozialrecht liche Existenzminimum“ als Leistungsanspruch des Einzelnen gegen den Staat zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins unterscheiden.71 Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ergibt sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.72 Während die Menschenwürdegarantie gemäß Art. 1 Abs. 1 GG diesen Anspruch begründet, erteilt Art. 20 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber den Auftrag, jeder Person ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei diesem ein Gestaltungsspielraum bei den Wertungen im Hinblick auf die Festlegung der Höhe des Existenzminimums zukommt.73 Dieses Gewährleistungsrecht ist unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf allerdings einer Konkretisierung sowie einer fortlaufenden Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der sich bei der Bemessung der zu erbringenden Leistungen „an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen“ zu orientieren hat. Bei dem unmittelbar verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch steht ihm ebenfalls ein Gestaltungsspielraum zu und davon erfasst sind nur „diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind“.74 aa) Grundsätzliches Das BVerfG geht in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass „der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein, das heißt zur Sicherung seines Existenzminimums, benötigt wird“.75 Dieser existenznotwendige Bedarf stellt von Verfassungs wegen die Untergrenze für den 71
Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 26. BVerfGE 40, 121 (133); 45, 187 (228); 82, 60 (85); 113, 88 (108 f.); 125, 175 (222 f.). 73 BVerfGE 35, 202 (236); 45, 376 (387); 100, 271 (284); 125, 175 (222 f.). 74 BVerfGE 125, 175 (222 f.). 75 BVerfGE 82, 60 (85); 82, 198 (206 f.); 87, 153 (169); 99, 216 (233); 99, 246 (259); 120, 125 (154 f.). 72
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einkommensteuerlichen Zugriff dar.76 Das BVerfG stellt für die Herleitung dieses steuerlichen Existenzminimums auf Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 1 GG ab.77 Bis zu dem Betrag, in dessen Höhe der Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem Bürger sein Existenzminimum durch Sozialleistungen zu sichern, darf er diesem das selbst erzielte Einkommen nicht entziehen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG muss darüber hinaus das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben („Familienexistenzminimum“).78 Der Bundestag hat am 02. 06. 1995 beschlossen, dass die Bundesregierung alle zwei Jahre einen Bericht über die Entwicklung des Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern vorlegt, an dem sich der Gesetzgeber zu orientieren hat.79 Im Vergleich zu den sozialrechtlichen Regelungen, die sich für die Gewährung von Leistungen an den individuellen Bedürfnissen des Einzelnen orientieren, wird im Steuerrecht der existenznotwendige Bedarf in einem einheitlichen Betrag erfasst.80 Eine solche, die Abwicklung von Massenverfahren, zu denen auch das Steuerrecht gehört, erleichternde Typisierung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, solange in möglichst allen Fällen der existenznotwendige Bedarf abgedeckt wird.81 Dem verfassungsrechtlichen Gebot der Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums wird vom deutschen Steuergesetzgeber durch den Grundfreibetrag entsprochen.82 Dieser umfasst nach Maßgabe des § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG aktuell ein Einkommen in Höhe von 8.820 Euro. Überdies findet dieses Prinzip Ausdruck in der Berücksichtigung von Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 EStG und außergewöhnlichen Belastungen gemäß § 33 EStG.83 Das Existenzminimum von Kindern wird durch Kindergeld außerhalb der Bemessungsgrundlage oder als Abzug durch den Kinderfreibetrag gemäß §§ 31, 32 EStG gewährleistet.84 Steuer 76
BVerfGE 87, 153 (169); 99, 246 (259). BVerfGE 82, 60 (85); 99, 216 (233); 99, 246 (259); in: BVerfGE 87, 153 (169) stellt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, dass Steuergesetze keine „erdrosselnde Wirkung“ haben dürfen, da sie in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG „in ihrer Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifen“. 78 BVerfGE 82, 60 (85); 87, 153 (169); 99, 216 (233); 99, 246 (259); bei: BVerfGE 120, 125 (154) wird zusätzlich noch Art. 3 Abs. 1 GG angeführt. 79 BT-Drs. 13/1558; zuletzt: 11. Existenzminimumsbericht v. 02. 11. 2016 für das Jahr 2018: BT-Drs. 18/10220. 80 Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 28. 81 BVerfGE 82, 60 (91); 85, 264 (317); 87, 153 (172); BFHE 227, 99 (127); FG Nürnberg, Urteil v. 03. 07. 2013 – 3 K 448/13 Rn. 23 (juris). 82 Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 39; Lindberg, in: Frotscher / Geurts, EStG, Kommentar, § 2 Rn. 16; Wernsmann, in: Menzel / Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, S. 452 (454); Lang, StuW 2016, 101 (109). 83 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 134. 84 Lindberg, in: Frotscher / Geurts, EStG, Kommentar, § 2 Rn. 16. 77
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befreiungen und Freibeträge auf der Ebene der Bemessungsgrundlage können nur dann bei der generellen Bemessung des Grundfreibetrags zu berücksichtigt werden, wenn sie allen Steuerpflichtigen ohne weitere Voraussetzungen gewährt werden.85 Nach Berücksichtigung der nach objektivem und subjektivem Nettoprinzip abzugsfähigen Aufwendungen ergibt sich das zu versteuernde Einkommen. Dieses stellt die Bemessungsgrundlage dar, auf die der Einkommensteuertarif angewendet wird. Der Grundfreibetrag wird hingegen erst auf Tarifebene berücksichtigt. Es gibt theoretisch drei Möglichkeiten, das Existenzminimum zu berücksichtigen: Es kann entweder von der Bemessungsgrundlage abgezogen, als Grundfrei betrag auf Tarifebene berücksichtigt oder von der Steuerschuld abgezogen werden. In den zu analysierenden Modellen soll der Grundfreibetrag (entsprechend der Regelung im geltenden Einkommensteuerrecht) stets auf Tarifebene verankert werden. bb) Steuerfreies Existenzminimum als Ausdruck subjektiver Leistungsfähigkeit Es stellt sich die Frage, aus welchen Verfassungsnormen beziehungsweise -prinzipien sich das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums herleiten lässt. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, zwischen dem eigenen Existenzminimum des Steuerpflichtigen sowie dem seiner unterhaltsberechtigten Familienmitglieder zu unterscheiden. (1) Eigenes Existenzminimum des Steuerpflichtigen Bereits im Jahre 1988 fasste der Deutsche Juristentag einen Beschluss, dass nur der disponible Teil des Erwerbseinkommens der Einkommensteuer unterliegen dürfe, sodass „die unvermeidbaren Aufwendungen für die eigene Existenzsicherung und den Unterhalt der Familienangehörigen“ von der Besteuerung ausgenommen sind.86 Die bisherigen Entscheidungen des BVerfG sind schwerpunktmäßig zum Familienexistenzminimum ergangen, während die Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in diesen lediglich als „Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung“ genannt wurde.87 Allerdings hat es bereits ausgeführt, dass nach dem „subjektiven Nettoprinzip“ das „Verfassungsgebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und seiner unterhaltsberechtigten 85
Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 30. Deutscher Juristentag, Sitzungsbericht N zum 57. Deutschen Juristentag, S. 214. 87 So die Formulierung beispielsweise in: BVerfGE 82, 60 (89); 82, 198 (206 f.); 99, 246 (249); hierzu: Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108 f.). 86
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Familie“ zu beachten sei.88 Diese Herleitung der Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen aus dem subjektiven Nettoprinzip bejahen auch weite Teile der Literatur.89 Gleichwohl lässt sich keine völlige Einigkeit dahingehend feststellen, ob sich der Grundsatz der steuerlichen Verschonung des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen auf das subjektive Nettoprinzip und damit auf das Leistungsfähigkeitsprinzip zurückführen lässt.90 So gibt es Stimmen, die bei der Herleitung der Steuerfreiheit des Existenzminimums eine strikte Trennung zwischen dem Existenzminimum des Steuerpflichtigen und dem der unterhaltsberechtigten Familienmitglieder vornehmen, indem sie Ersteres der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 1 GG und Letzteres dem Leistungsfähigkeitsprinzip zuordnen.91 Andere verweisen für die „Steuerfreiheit des Existenzminimums“ allgemein auf Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG, ohne hier eine genauere Konkretisierung vorzunehmen.92 In entsprechender Vorgehensweise verweist das BVerfG in seiner jüngsten Entscheidung hierzu einheitlich auf diese Vorschriften, nach denen der Staat das Einkommen des Bürgers insoweit steuerlich zu verschonen habe, „als dieser es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins für sich und seine Familie benötigt“.93 Gegen eine Herleitung des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen ausschließlich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG spricht, dass nach dem subjektiven Nettoprinzip gerade die privaten existenzsichernden Aufwendungen abzugsfähig sind. Wieso das Existenzminimum des Steuerpflichtigen von dieser Abzugsfähigkeit ausgenommen sein sollte, ist nicht ersichtlich. 88
BVerfGE 110, 412 (433). Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, S. 39 f.; Lindberg, in: Frotscher / Geurts, EStG, Kommentar, § 2 Rn. 13 ff.; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 319; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 44, 136 ff.; Tappe, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 32a Rn. A 60; Esser, in: Bordewin / Brandt, EStG, Bd. VI, § 32a Rn. 79; Tipke, Steuerrecht, S. 63: „Die steuerliche Leistungsfähigkeit beginnt erst jenseits des Existenzminimums“. 90 Eine ausführliche Darstellung der dogmatischen Begründungsansätze findet sich bei: Treisch, Existenzminimum und Einkommensbesteuerung, S. 304 ff. 91 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 153; Siegel, in: Hermann / Heuer / Raupach, § 32a EStG Rn. 10: Präferiert Herleitung nach dem Sozialstaatsprinzip (dies würde jedoch letztlich von der Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips abhängen); umgekehrte Zuordnung bei: Lang, Die einfache und gerechte Einkommensteuer, S. 39 f. 92 So etwa: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 161; Kirchhof, DStR 2013, 1867 (1868); siehe hierzu: Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (107), der drastisch, aber m. E. zutreffend kritisiert, dass Art. 1, Art. 3, Art. 6 und Art. 20 GG „nicht selten zu einem zähen Brei zerkocht“ würden und häufig durch „die Berufung auf das BVerfG“ die „Subsumtion unter die Grundrechts bestimmungen ersetzt“ würde (mit beispielhafter Nennung von: FG Niedersachsen, EFG 1991, 260; FG Saarland, BB 1991, 668). 93 BVerfGE 120, 125 (154). 89
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Erkennt man das subjektive Nettoprinzip als Teil des Leistungsfähigkeitsprinzips an, so muss man diesem konsequenterweise das eigene Existenzminimum des Steuerpflichtigen als unvermeidbare Aufwendungen zuordnen. Ansonsten würde man dem Begriff der steuerlichen Leistungsfähigkeit nicht gerecht werden, der indisponible Aufwendungen bei der Leistungsfähigkeitsbemessung außer Betracht lässt.94 Auch nach Vertretern in der Literatur ergebe sich insbesondere aufgrund des Zusammenspiels mit der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG die Abzugsfähigkeit des Existenzminimums des Steuerpflichtigen nach dem subjektiven Nettoprinzip, welches sich wiederum auf Art. 3 GG zurückführen lasse.95 Daraus lässt sich schließen, dass die Steuerfreiheit des Existenzminimums in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und im Sozialstaatsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 1 GG seinen Ursprung hat und zugleich unter gleichzeitiger Anerkennung des subjektiven Nettoprinzips als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips anzusehen ist. (2) Familienexistenzminimum Wie zuvor erwähnt, wird für die Herleitung der Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums Art. 6 Abs. 1 GG herangezogen. Dieser enthält einen besonderen Gleichheitssatz, der es verbietet, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen.96 Hiernach ist eine Benachteiligung von Ehegatten gegenüber Ledigen,97 von Eltern gegenüber Kinderlosen98 und von ehelichen gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften99 untersagt.100 Nach der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung unterliegen Ehe und Familie dem besonderen Schutz der Familie, sodass die in diesem Kontext anfallenden unvermeidbaren Aufwendungen bei der Bewertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als abzugsfähig anzusehen sind.101 Der Gesetzgeber darf demnach nur das Einkommen der Besteuerung unterwerfen, welches über das Familienexistenzminimum hinausgeht. Dieser Abzug von der Bemessungsgrundlage erfolgt unabhängig von der tatsächlichen Einkommenshöhe der Steuerpflichtigen und demnach auch bei denjenigen, denen nach Abzug der Steuern prinzipiell eine ausreichende Summe hierfür zur Verfügung stünde. Käme es bei der Gewährleistung eines Familienexistenzminimums allein darauf an, dass dem Steuerpflichti 94
Zum Begriff der steuerlichen Leistungsfähigkeit siehe bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a). Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 150; Lindberg, in: Frot scher / Geurts, EStG, Kommentar, § 2 Rn. 13 ff. 96 BVerfGE 76, 1 (72); 99, 216 (232). 97 BVerfGE 28, 324 (347); 69, 188 (205 f.). 98 BVerfGE 82, 60 (80); 87, 1 (37). 99 BVerfGE 61, 319 (355). 100 BVerfGE 99, 216 (232). 101 BVerfGE 82, 60 (86); 107, 27 (47). 95
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gen nach Begleichung der Steuerpflicht ein entsprechender Betrag hierfür zur Verfügung stehen muss, so würde die Abzugsmöglichkeit Familien mit unterhaltsbedürftigen Kindern verwehrt werden, bei denen nach Steuern noch ein entsprechend hoher Betrag verbliebe, und sie so gegenüber sonstigen (einkommensschwächeren) Familien, gegenüber kinderlosen Ehepaaren und gegenüber kinderlosen Alleinstehenden benachteiligen.102 In den Entscheidungen zur Abzugsfähigkeit von Unterhaltsverpflichtungen103 und Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung bei Ehegatten104 verdeutlichte das BVerfG, dass die „Vermeidbarkeit“ von Kindern beziehungsweise der Entscheidung zur gemeinsamen Lebensführung dem Steuerpflichtigen nicht in entsprechender Weise entgegengehalten werden darf wie die anderer privater Lebensführungskosten.105 Demnach sind die diesbezüglichen Aufwendungen nicht als beliebig disponibel anzusehen. So werden beispielsweise Steuerpflichtige wegen ihrer Betreuungspflichten, die sich auf ihre Arbeitskraft oder ihre Zahlungsfähigkeit auswirken, im Vergleich zu kinderlosen Steuerpflichtigen als weniger leistungsfähig betrachtet; zusätzliche Unterhaltsverpflichtungen, die dem Steuerpflichtigen obliegen, würden eine unvermeidbare Sonderbelastung darstellen, durch die seine Leistungsfähigkeit gemindert wird.106 Das zu den privaten Aufwendungen des Steuerpflichtigen zählende Familienexistenzminimum wird demnach aufgrund der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie nach dem subjektiven Nettoprinzip von der Besteuerung verschont. Ob das Prinzip der Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums neben dem Leistungsfähigkeitsprinzip zusätzlich auf die Menschenwürdegarantie und den Sozialstaatsgrundsatz gestützt werden kann, geht allerdings aus den Entscheidungen des BVerfG nicht eindeutig hervor: So wird zwar zum einen davon gesprochen, dass dieses „aus den genannten Verfassungsnormen“ (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG), „zusätzlich aber auch aus Art. 6 Abs. 1 GG“ folgen würde. Dann wiederum wird betont, dass Art. 3 Abs. 1 GG unter zusätzlicher Beachtung der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung Prüfungs maßstab sei.107 Im Anschluss erfolgt eine Gleichheitsprüfung unter Bezugnahme auf das Leistungsfähigkeitsprinzip, da „aus den grundlegenden Entscheidungen der Verfassung in Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG“ durch Unterhaltsaufwendungen für Kinder die steuerliche Leistungsfähigkeit gemindert sei.108
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BVerfGE 82, 60 (86). BVerfGE 82, 60. 104 BVerfGE 107, 27. 105 BVerfGE 82, 60 (87); 107, 27 (53). 106 BVerfGE 68, 143 (152 f.); 82, 60 (89 f.). 107 Siehe hierzu auch: Schmidt-Liebig, in: BB 1992, 107 (115): „Anwendung des Art. 3 GG, nicht der Art. 1, 20 GG“). 108 Zum Ganzen: BVerfGE 82, 60 (87). 103
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Demzufolge werden Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG generell zur Begründung der Abzugsfähigkeit disponibler Aufwendungen im Sinne des subjektiven Leistungsfähigkeitsprinzips herangezogen, wobei im Hinblick auf das Familienexistenzminimum eine Konkretisierung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG erfolgt. (3) Zwischenfazit Sowohl die Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums als auch die des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen lassen sich aus dem subjektiven Nettoprinzip und damit aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip herleiten. Die Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen stützt sich zudem auf Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Bei der steuerlichen Berücksichtigung des Familienexistenzminimums sind darüber hinaus Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 1 GG maßgeblich. cc) Verhältnis zum Sozialhilferecht Im Weiteren ist die Frage zu diskutieren, ob die steuerliche Verschonung des Existenzminimums entbehrlich ist, sofern bereits ein Ausgleich in ausreichender Höhe durch staatliche Leistungen erfolgt. Während der Staat durch das Sozialrecht Leistungen erbringt, verschafft er sich durch das Einkommensteuerrecht die finanziellen Mittel, um unter anderem diese Leistungen zu bewirken.109 Ein „menschenwürdiges Dasein“ wird in Deutschland sowohl durch die steuerliche Verschonung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht als auch durch die Sozialhilfe im Sozialrecht gewährleistet.110 Bei der Bemessung der Höhe des steuerfreien Existenzminimums orientiert man sich an dem Leistungsniveau des Sozialhilferechts, da dem Einzelnen durch Besteuerung seines Einkommens nicht das entzogen werden darf, was der Staat ihm voraussetzungslos aus den allgemeinen Haushaltsmitteln zur Verfügung zu stellen hat.111 Das Steuerrecht nimmt den wirtschaftlich Leistungsfähigen Mittel, wohingegen das Sozialrecht wirtschaftlich Bedürftigen Mittel gewährt, sodass Bedürftigkeit auch als „negative Leistungsfähigkeit“ bezeichnet werden kann.112
109
Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108). So auch: Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 9 f., der darüber hinaus betont, dass im Sozialhilferecht anders als im Steuerrecht ausdrücklich die verfassungsrechtliche Zielsetzung der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aufgenom men ist. 111 BVerfGE 82, 60 (85 f., 94); 87, 153 (169 f.); 99, 246 (259); 120, 125 (155). 112 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 41; so auch: Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (108). 110
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Das BVerfG geht davon aus, dass der Gesetzgeber die Wahl hat, Umstände, die die persönliche Leistungsfähigkeit mindern, ausnahmsweise nicht im Steuerrecht oder hier nur am Rande zu berücksichtigen, sondern sie stattdessen als „förderungswürdigen Tatbestand im Sinne des Sozialrechts“ zu definieren.113 In diesem Kontext wird auch vom „Problem der Alternativität zwischen sozialer Leistung und steuerlicher Verschonung“ gesprochen.114 So werden Steuerverschonungen und Sozialleistungen als „Techniken einseitigen Gebens beziehungsweise Nehmens“ und damit als „funktional vertauschbar“ angesehen, da sie dem Betroffenen den gleichen Dienst erweisen.115 Dies wirft die Frage auf, ob dem Einzelnen durch Besteuerung sein Existenzminimum entzogen werden darf, wenn zugleich ein Ausgleich durch steuerfreie Leistungen der Sozialhilfe erfolgt.116 Nach § 2 Abs. 1 SGB XII erhält keine Sozialhilfe, „wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält“. Hieraus wird ersichtlich, dass sich der Gesetzgeber für eine subsidiäre Sozialhilfe entschieden hat;117 die individuelle Selbsthilfe hat Vorrang vor der Gemeinschaftshilfe.118 Es kommt darauf an, ob der Steuergesetzgeber diesem Grundsatz Folge leisten und das Existenzminimum von der Besteuerung ausnehmen muss. Als Argument hierfür wird teilweise der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung119 angeführt.120 Nach diesem Prinzip müssen die rechtssetzenden Organe die Regelungen so aufeinander abstimmen, dass für die Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen gelten, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.121 Andere argumentieren damit, dass ein Rückgriff auf den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit nicht erforderlich sei, da sich die Steuerfreiheit des Existenzminimums unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG und eventuell in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG ergebe und somit die Frage, ob der Staat Sozialhilfe gewäh 113
BVerfGE 61, 319 (321 ff., 354); siehe hierzu beispielsweise: BVerfGE 43, 108 (125): Ersetzung der steuerlichen Kinderfreibeträge durch das Kindergeld. 114 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 51. 115 Zacher, DÖV 1970, 3 (6); Zacher, in: Müller, Sozialrecht in Wissenschaft und Praxis, Festschrift für Horst Schieckel, S. 371 (371); Zacher, in: Lüke / Ress / Will, Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration, Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco, S. 943 (956); Zacher, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, S. 11 (30). 116 Ausführlich hierzu: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 273 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 51 f. 117 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 4. 118 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 82 f. 119 Ausführlich zu diesem Prinzip: Sodan / Kluckert, NVwZ 2013, 241 (245 f.); Sodan, JZ 1999, 864 (866 ff.). 120 Kirchhof, StuW 2000, 316 (323); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 161. 121 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); 98, 265 (301); vgl. ferner: BVerfGE 108, 169 (181 f.).
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ren würde, für diese Verpflichtung keine Rolle spiele.122 Das Existenzminimum müsse schließlich auch ohne Gewährung von Sozialhilfe einkommensteuerrechtlich verschont werden.123 Es wäre inkonsequent, dem Steuerpflichtigen zunächst das von ihm selbst erzielte, für das Existenzminimum erforderliche Einkommen durch Besteuerung zu entziehen, sodass infolgedessen der Staat die Unterstützung des Bedürftigen übernehmen müsste.124 Das Einkommensteuergesetz dürfe keine Sozialhilfeempfänger schaffen.125 Was der Einzelne für seine Existenzsicherung benötigt, darf der Staat nicht wegbesteuern.126 Es widerspräche der Würde des Individuums, ihm eine Hilfe aufzuzwingen, die er nicht benötigt.127 Das subjektive Nettoprinzip korrespondiert insofern mit der Zielsetzung des sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatzes.128 Unabhängig davon, ob man mit der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung oder der unmittelbaren Herleitung aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG argumentiert, kommt man schließlich zu dem Ergebnis, dass die steuerliche Verschonung des Existenzminimums unabhängig von der Gewährung von Sozialhilfe zu beurteilen ist. dd) Steuerfreiheit des Existenzminimums nur für Geringverdiener? In diesem Kontext stellt sich überdies die Frage, ob die steuerliche Verschonung des Einkommens in Höhe des Existenzminimums nur bei solchen Personen verfassungsrechtlich zwingend geboten ist, die ohne eine solche für die Begleichung ihrer Steuerschuld tatsächlich auf ihr Existenzminimum zurückgreifen müssten, oder ob sie unabhängig hiervon auf alle Steuerpflichtigen Anwendung finden muss. Stimmen in der Literatur leiten aus Art. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines jeden Steuerpflichtigen ab.129 Das zur persönlichen Existenzsicherung erforderliche Einkommen sei „von Verfassungs wegen“ indisponibel und damit für die Steuergewalt „tabu“.130
122
Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 137; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 273. 123 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 273. 124 BVerfGE 82, 60 (85 f.); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuer normen, S. 137. 125 Kirchhof, in: VVDStRL 39 (1981), S. 419 (420). 126 Wendt, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, S. 47 (51); Söhn, Finanzarchiv 46 (1988), 154 (170); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 402; Wernsmann, Jura 2000, 175 (176). 127 Pohmer, in: Nörr / Oppermann, Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, S. 131 (133, 156). 128 Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 154; Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 111 f. 129 Lang, StuW 1983, 103 (121); Söhn, Finanzarchiv 46 (1988), 154 (167 f.); Traxel, Anm. zu: FG Köln, DStZ 1989, 126 (128). 130 Söhn, Finanzarchiv 46 (1988), 154 (163).
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Gegen die Herleitung eines Grundfreibetrags unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG für Steuerpflichtige, deren Existenzminimum auch ohne einen solchen gesichert wäre, könnte man allerdings anführen, dass umgekehrt auf Sozialhilfe auch nur derjenige einen Anspruch hat, der sein Existenzminimum nicht selbst bestreiten kann. Gerade die Aussage des BVerfG, es sei inkonsequent, dem Einzelnen durch Besteuerung etwas wegzunehmen, das ihm das Sozialamt im Anschluss daran wieder zahlen müsste, greift denklogisch nicht bei den Steuerpflichtigen, denen auch nach Abzug der Steuer die zur Sicherung ihres Existenzminimums erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen.131 Würde man aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ein zwingendes Erfordernis zur Gewährung eines allgemeinen Grundfreibetrags ableiten, so müsste man hieraus konsequenterweise auch einen Anspruch ausnahmslos jeder Person auf Sozialhilfe herleiten. Solange das Existenzminimum des Steuerpflichtigen durch die Steuerlast nicht angetastet wird, tangiert der Wegfall eines Grundfreibetrags nicht die Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG.132 Demnach wäre den Anforderungen der Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG bereits durch eine Besteuerung Genüge getan, die sicherstellt, dass nach Abzug der Steuerschuld bei jedem Steuerpflichtigen die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet sind. Ebenso wie bei der Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums handelt es sich jedoch bei dem Existenzminimum des Einzelnen um „indisponible Aufwendungen“ im Sinne des subjektiven Nettoprinzips.133 Aufwendungen in Höhe des typisierten Grundfreibetrags werden damit bei allen Steuerpflichtigen, also bei Gering- und Vielverdienern gleichermaßen angenommen, sodass eine Abzugsfähigkeit allein bei Personen, deren Existenzminimum nach Abzug betroffen wäre, einen Verstoß gegen die steuerliche Leistungsfähigkeit und damit eine Benachteiligung zur Folge hätte.134 Obgleich ein Wegfall der steuerlichen Freistellung des Einkommens in Höhe des Existenzminimums für den oberen Teil der Einkommensbezieher keine Verletzung der Menschenwürdegarantie zur Folge hätte und damit nicht per se unzulässig wäre, liefe er somit dem subjektiven Nettoprinzip zuwider. Demnach wäre eine solche Ungleichbehandlung zwar nicht per se als unzulässig zu betrachten, jedoch nur schwer rechtfertigbar. 131
Schmidt-Liebig, BB 1992, 107 (109). Tipke, FR 1990, 349 (350); Martens, StVj 1989, 199 (209); in diese Richtung auch: Klein, in: Deutscher Juristentag, Sitzungsbericht N zum 57. Deutschen Juristentag, S. 172. 133 Esser, in: Bordewin / Brandt, EStG, Bd. VI, § 32a Rn. 79; Dziadkowski, BB 1991, 805 (809). 134 Dziadkowski, BB 1991, 805 (809); Tipke, FR 1990, 349 (349); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 134; Lang, StuW 1983, 103 (121); Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 306; anders: FG Köln, DStZ 1989, 126: Stellt allein auf das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab, gegen das nicht verstoßen werde, solange zur Erfüllung der Steuerschuld nicht das realistische Existenzminimum angetastet werden muss. 132
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ee) Beurteilung der Zulässigkeit des „klassischen“ Kopfsteuermodells Aufgrund der Tatsache, dass die Kopfsteuer die Existenz einer Person als Anknüpfungspunkt wählt und die Höhe des Einkommens vollkommen außer Acht lässt, werden Fälle eintreten, in denen eine Person zur Zahlung einer bestimmten (Kopf-)Steuerschuld verpflichtet ist, durch Erfüllung dieser Verpflichtung jedoch ihr Existenzminimum angetastet würde. Direkte Steuern wie die Einkommensteuer dürfen dort nicht zugreifen, wo keine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besteht.135 Wie bereits gezeigt, kommt in der Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums die Besteuerung nach der (subjekti ven) Leistungsfähigkeit zum Ausdruck.136 Eine Kopfsteuer verpflichtet auch Personen, die nur wenig oder überhaupt kein Einkommen erzielen und verstößt damit gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip. Ein solches Steuermodell hat weiterhin den problematischen Effekt, dass die Steuerfreiheit des Existenzminimums nicht gewährleistet werden kann. Um eine solche sicherzustellen, müsste für jeden Steuerpflichtigen anhand der individuellen Einkommenshöhe überprüft werden, ob dieser den Kopfsteuerbetrag vollständig, nur zum Teil oder gar überhaupt nicht zu zahlen verpflichtet ist. Für die Festlegung eines Grundfreibetrags wäre daher ein Bezug zur Einkommenshöhe der Steuerpflichtigen unumgänglich. Eine solche Anknüpfung ist dem „klassischen“ Kopfsteuermodell allerdings definitionsgemäß gerade fremd, da dieses von jeder Person voraussetzungslos und unabdingbar dieselbe Steuerschuld fordert. Somit tangiert die Kopfsteuer die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Diese Normen schreiben objektiv-rechtlich die absolute Legitimitätsgrenze für einen Eingriff durch Abgaben erhebung vor.137 Mit der Menschenwürdegarantie ist ein absoluter Achtungsanspruch verbunden, sodass sie immer dann, wenn sie nachteilig betroffen ist, auch gleichzeitig verletzt ist.138 So stellte das BVerfG in seinem „Hartz-IV-Urteil“139 fest, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „dem Grunde nach unverfügbar“ sei und „eingelöst werden“ müsse.140 Wenn ein Eingriff in die Menschenwürde zwangsläufig zu dessen Verletzung führt, so muss konsequenterweise Entsprechendes für einen Eingriff in das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums gelten, welches nach dem sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz141 vorrangig zu berücksichtigen ist. 135 BVerfGE 99, 216 (232); hierzu auch: Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. II, § 4 Rn. 485. 136 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. a) bb) (1). 137 Enders, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 50 ff. 138 Enders, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 1 Rn. 37. 139 BVerfGE 125, 175. 140 BVerfGE 125, 175 (222 f.). 141 Siehe hierzu bereits ausführlich unter: Teil 2 A. I. 2. a) cc).
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ff) Zwischenfazit Daraus folgt, dass das „klassische“ Kopfsteuermodell eine Verletzung der Steuerfreiheit des Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG darstellt und damit verfassungsrechtlich unzulässig ist. Bei den weiteren zu analysierenden Einkommensteuermodellen wird demnach zwingend ein Grundfreibetrag mitberücksichtigt. b) Maßstäbe des Leistungsfähigkeitsprinzips für den Tarifverlauf Für die Konzeption der Steuermodelle ist zudem von Interesse, welche Vorgaben sich aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip für den Verlauf des Einkommensteuertarifs ableiten lassen. aa) Vertikale Steuergerechtigkeit als maßgebliches Umverteilungsprinzip Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG muss der Normgeber wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandeln.142 Im Einkommensteuerrecht orientiert sich die Belastung der Steuerpflichtigen an den Maßstäben des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleiteten Leistungsfähigkeitsprinzips.143 Der Gesetzgeber hat im Bereich des Steuerrechts bei der Auswahl des Steuergegenstands sowie bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum.144 Dieser wird jedoch durch das Leistungsfähigkeitsprinzip und das Gebot der Folgerichtigkeit begrenzt.145 Dies bedeutet, dass im Einkommensteuerrecht eine Umverteilung anhand der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen, die sich nach der jeweiligen Einkommenshöhe bemisst, geboten ist. So betonte das BVerfG, dass „die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen“ müsse.146 Im Hinblick auf die Lastenverteilung folgt aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip die Prämisse der vertikalen Steuer gerechtigkeit, wonach die Besteuerung der wirtschaftlich Leistungsfähigeren im
142
BVerfGE 98, 365 (385); 130, 240 (252); st. Rspr. BVerfGE 6, 55 (67); 127, 224 (247 f.). 144 BVerfGE 93, 121 (136); 105, 73 (111); 107, 27 (47); 117, 1 (30); 120, 1 (29); 122, 210 (230); 123, 1 (19); 126, 400 (416); 127, 224 (245). 145 BVerfGE 116, 164 (180); 117, 1 (30); 121, 108 (119); 122, 210 (230 f.); 126, 400 (416); 127, 224 (245). 146 BVerfGE 82, 60 (89). 143
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Vergleich zu der Steuerbelastung wirtschaftlich weniger leistungsstarker Personen angemessen ausgestaltet sein muss.147 (1) Sozialstaatliche Prägung der Umverteilungsprämisse In der in der vertikalen Steuergerechtigkeit enthaltenen Forderung nach einer Umverteilung von Mehr- auf Geringverdiener spiegelt sich der Charakter des Leistungsfähigkeitsprinzips als „grundlegendes Steuerverteilungsprinzip des sozialen Rechtsstaats“148 wider. Ergänzend wird das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG herangezogen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist selbst sozialstaatlich geprägt, was sich beispielsweise darin äußert, dass es die Steuerfreiheit des Existenzminimums149 gewährleistet.150 Im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit als Maßstab für die Lastenverteilung spielt das Sozialstaatsprinzip eine Rolle.151 Der Begriff der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist ein sozialer Begriff, der einen Ausfluss sozialer Wertvorstellungen darstellt.152 Dies bedeutet, dass dort, wo eine Besteuerung an die Leistungsfähigkeit anknüpft – also nach dem Prinzip der vertikalen Steuergerechtigkeit umverteilt wird – die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte nicht nur zulässig, sondern sogar geboten ist.153 Aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich, dass die Steuerpolitik auf die Belange der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsschichten Rücksicht zu nehmen hat.154 Dieses Gebot fließt im Steuerrecht auch bei der Beurteilung dessen, was als „wesentlich gleich“ beziehungsweise „wesentlich ungleich“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG anzusehen ist, mit ein.155
147
BVerfGE 82, 60 (89); 99, 246 (260); 107, 27 (46 f.); 115, 97 (116 f.); 116, 164 (180); Seiler, JZ 2004, 481 (482); siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a). 148 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 484; Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 83. 149 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. a). 150 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I., S. 403, 405, 415; Birk, StuW 1983, 293 (294 f.); kritisch zur Umverteilungszielsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips: Elschen, StuW 1991, 99 (111 f.) und Schneider, StuW 1984, 356 (360): Leistungsfähigkeitsprinzip als „Fehlbezeichnung für das Umverteilungs-Werturteil“. 151 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 139 f. 152 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 168. 153 BVerfGE 29, 402 (412); 32, 333 (339); 36, 66 (72); 43, 108 (125); 135, 126 (154). 154 BVerfGE 13, 331 (346); 29, 402 (412); 43, 108 (119); 61, 319 (343 f.). 155 Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1406.
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(2) Verfassungsrechtliche Einordnung eines regressiven Tarifverlaufs Zunächst soll die Zulässigkeit eines regressiven Einkommensteuertarifverlaufs, insbesondere im Hinblick auf die vertikale Steuergerechtigkeit, untersucht werden. Als Ausprägung des sozialstaatlich beeinflussten Leistungsfähigkeitsprinzips verkörpert die vertikale Steuergerechtigkeit die Vorstellung eines „Ideals solidarischer Lastentragung“.156 Wer – nach Maßgabe bestimmter Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit – über mehr finanzielle oder geldwerte Mittel verfügt als andere, ist deshalb dazu verpflichtet, auch einen größeren Beitrag zur Bestreitung der Kosten des Gemeinwesens zu leisten.157 Ein regressiver Steuertarif belastet weniger leistungsfähige Steuerschuldner prozentual höher als wirtschaftlich leistungsfähigere.158 Seine Einführung würde damit dazu führen, dass der wirtschaftlich Schwache für die Steuerzahlung einen großen Teil seiner Arbeitszeit aufbringen müsste, wodurch für ihn die Möglichkeit der Mitwirkung am Gemeinwesen geringer wäre als für den wirtschaftlich Starken, für den die Steuer kaum eine Beeinträchtigung der Mitwirkungsmöglichkeit bedeutet.159 Wenn Geringverdiener einen höheren Anteil ihres Einkommens als Steuer abführen müssen als Bezieher eines höheren Einkommens, führt dies nach dem Maßstab der vertikalen Steuergerechtigkeit zu einer steuerlichen Ungleichbehandlung, da dies eine gewisse Umverteilung von „Schwach“ zu „Stark“ impliziert.160 Zudem liegt in der Abweichung von der steuergesetzlichen Belastungsentscheidung nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit ein Verstoß gegen den Folgerichtigkeitsgrundsatz. Der Gesetzgeber ist jedoch nicht ausnahmslos zu einer reinen Verwirklichung des Leistungsfähigkeitsprinzips verpflichtet.161 Das Leistungsfähigkeitsprinzip gibt keinen konkreten Steuertarif vor.162 Dies bedeutet, dass regressive Steuertarife nicht von vornherein unzulässig sind, sondern dass die hierdurch hervorgerufenen Ungleichbehandlungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können.163 Da mit solchen Tarifen jedoch eine Abweichung vom Leistungsfähigkeitsprinzip verbunden ist, unterliegt der Normgeber bei ihrer Rechtfertigung über das bloße Willkürverbot hinausgehenden strengeren Bindungen.164 156
Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, S. 577 ff. Englisch, DStR-Beih. 2009, 92. 158 BVerfGE 135, 126 (154) (im Hinblick auf § 4 Abs. 1 der kommunalen Zweitwohnungsteuersatzungen). 159 Zum Ganzen: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 131. 160 Hierzu: BVerfGE 135, 126 (154). 161 BVerfGE 27, 58 (68); 43, 108 (120 f.); 135, 126 (154). 162 BVerfGE 135, 126 (154). 163 BVerfGE 127, 224 (248); 135, 126 (154). 164 BVerfGE 135, 126 (154). 157
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(3) Beurteilung der Zulässigkeit des Kopfsteuermodells mit Grundfreibetrag Die Auferlegung einer einheitlichen Steuerschuld für jeden Steuerpflichtigen bewirkt einen regressiven Durchschnittssteuertarif, da solche mit hohem Einkommen einen niedrigeren Anteil ihres Einkommens als Steuer abführen müssen als solche mit geringerem Einkommen. Eine Kopfsteuer sorgt demnach dafür, dass die Steuerpflicht nicht mehr für jede Person nach dem jeweiligen Einkommen bemessen, sondern vielmehr typisierend festgelegt wird. Als legitime Zwecke von Steuernormen erkennt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung neben außerfiskalischen Förder- und Lenkungszwecken auch Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse an.165 Der Gesetzgeber hat dabei einfache, für den Betroffenen verständliche sowie verlässlich und effizient vollziehbare Regelungen zu erlassen.166 Allerdings darf die hieraus resultierende wirtschaftlich ungleiche Belastung der Steuerzahler ein gewisses Maß nicht überschreiten. Die steuerlichen Vorteile der Typisierung müssen „im rechten Verhältnis“ zu der mit ihr verbundenen Ungleichbehandlung stehen.167 Eine solche Abwägung verlangt auch das Prinzip der vertikalen Steuergerechtigkeit, nach dem die Besteuerung leistungsfähiger im Verhältnis zu weniger leistungsfähigen Steuerpflichtigen „angemessen“ ausgestaltet sein muss und kommt mithin auf Rechtfertigungsebene zum Ausdruck. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Rechtfertigung eines regressiven Einkommensteuertarifs als so schwach angesehen wird, dass die Einführung eines solchen bislang nicht ernsthaft diskutiert wurde.168 Das Kopfsteuerprinzip erfordert weder Differenzierungen zwischen den Steuerpflichtigen, noch können bei ihm – abgesehen von den Auswirkungen der steuerlichen Verschonung eines Grundfreibetrags – Ausweichreaktionen auftreten. Ein solches Steuersystem bezweckt im Wesentlichen eine Steigerung der ökonomischen Effizienz sowie eine Vereinfachung des Steuersystems, womit auch geringere Erhebungskosten einhergehen.169 Abzuwägen ist, ob die soeben genannten Vorteile des Kopfsteuermodells in einem angemessenen Verhältnis zu der hieraus resultierenden Ungleichbehandlung und Durchbrechung des Folgerichtigkeitsgrundsatzes stehen. 165
BVerfGE 120, 1 (29); 122, 210 (231 ff.); 127, 224 (245). BVerfGE 96, 1 (7); 99, 280 (290). 167 BVerfGE 96, 1 (6); 99, 280 (290); 105, 73 (127); 110, 274 (292); 116, 164 (182 f.); 117, 1 (31); 120, 1 (30). 168 Suttmann, Die Flat Tax, S. 60 f., mit Verweis auf: Blum / Kalven, The University of Chicago Law Review 1952, 417 (419): „a regressive tax on income is not a serious alternative“ und Bankman / Griffith, California Law Review 75 (1987), 1905 (1911): „The theoretical case for a regressive tax, such as one that requires equal contributions from each taxpayer, is though so weak that it is rarely discussed“. 169 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 1. a) bb). 166
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Das zu versteuernde Einkommen spiegelt die steuerliche Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen wider. Durch Beseitigung eines an die Einkommenshöhe anknüpfenden Steuertarifs würde die Einführung einer Kopfsteuer einen Systemwechsel hin zu einer vollständigen Abschaffung des Leistungsfähigkeitsprinzips im Einkommensteuerrecht bewirken. Zwar würde das eigene Existenzminimum durch die Anwendung eines Grundfreibetrags zumindest bei den Steuerpflichtigen steuerlich verschont bleiben, die zur Begleichung der Steuer auf dieses zurückgreifen müssten. Darüber hinaus spielen indes weder die tatsächlich erzielten Einkünfte noch erwerbsbezogene oder indisponible Aufwendungen eine Rolle für die Höhe der Steuerschuld, sodass bei Anwendung eines einheitlich hohen Steuerbetrags auf alle Steuerpflichtigen deren finanzielle Leistungsfähigkeit außer Betracht bleibt. Eine solche Berücksichtigung eines Grundfreibetrags allein bei den einkommensschwachen Personengruppen brächte wiederum das zuvor diskutierte Problem170 mit sich, dass sie einen Verstoß gegen das subjektive Nettoprinzip darstellt, da bei allen Steuerpflichtigen grundsätzlich in Höhe des Existenzminimums Aufwendungen unterstellt werden, die nach dem Kopfsteuermodell mit Grundfreibetrag allerdings nur bei den in ihrer Existenzsicherung bedrohten Personen abzugsfähig sind. Da die Kopfsteuer auf jeden Menschen anwendbar ist, ist von der mit dieser Typisierung gleichzeitig auftretenden Ungerechtigkeit eine sehr große Personenzahl betroffen. Zudem haben die Steuerpflichtigen keinen Einfluss darauf, die Höhe der von ihnen geschuldeten Steuer zu verringern, ausgenommen die Fälle, dass sie überhaupt kein Einkommen mehr erzielen beziehungsweise dieses so gering ausfällt, dass die Steuerschuld zum Teil oder sogar ganz dem Grundfreibetrag unterfällt. Die Maßgeblichkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips wird auch durch die ständige Rechtsprechung des BVerfG deutlich, nach der das Gebot der Steuergleichheit zumindest für die direkten Steuern eine Belastung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit fordert.171 Es handelt sich hier nicht um einen Einzelfall, von dem nur eine geringe Personengruppe betroffen ist, sondern vielmehr um eine komplette Änderung dieses für das Einkommensteuerrecht grundlegenden Prinzips. Es wird gewissermaßen in den „Kernbereich“ des Leistungsfähigkeitsprinzips eingegriffen, wenn die Einkommensteuer unabhängig von der Einkommenshöhe bemessen wird. Darüber hinaus war die Differenzierung der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuerpflichtigen bislang für den Staat finanziell tragbar und durchführbar, sodass eine Vereinfachung und Effizienzsteigerung im geltenden Einkommensteuersystem nicht zwingend notwendig erscheinen. Wägt man Zweck und Mittel dieses Prinzips ab, so sind Effizienz, Vereinfachungszwecke und die Ersparnis von Erhebungskosten zwar legitime Ziele, erscheinen jedoch 170
Siehe hierzu bereits unter Teil 2 A. I. 2. a) dd). BVerfGE 43, 1 (8 ff.); 61, 319 (343); 66, 214 (222); 82, 60 (86); 89, 346 (352); 99, 216 (232 f.).
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vor dem Hintergrund, dass hierdurch das Leistungsfähigkeitsprinzip als „Steuergerechtigkeitspostulat“172 im Einkommensteuerrecht im Grunde abgeschafft wird, nicht mehr angemessen. Folglich kann der Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht gerechtfertigt werden, sodass die Festlegung eines einheitlichen Steuerbetrags auch bei Berücksichtigung eines Grundfreibetrags für die durch eine Kopfsteuer in ihrer Existenz bedrohten Steuerpflichtigen das Prinzip der Steuergerechtigkeit verletzt. (4) Beurteilung der Zulässigkeit eines regressiven Grenzsteuersatzes Während bei den Kopfsteuermodellen die von der Einkommenshöhe losgelöste Festlegung der Steuerschuld zu einem regressiven Durchschnittssteuersatz führt, könnte sich eine Regressionswirkung auch durch einen regressiven Grenzsteuertarif ergeben. Der Unterschied besteht bei einem solchen darin, dass sich die Steuerschuld durch Anwendung eines Tarifs auf die Bemessungsgrundlage „Einkommen“ ergibt, sodass hier Mehrverdiener zwar nicht prozentual, jedoch (bei entsprechender Ausgestaltung) absolut zur Zahlung einer höheren Steuerschuld verpflichtet werden können. So stellen beispielsweise 30 % von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 1.000 € (= 300 Euro) einen absolut geringeren Steuerbetrag dar als 10 % von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 10.000 € (= 1.000 €). Diese absolut stärkere Belastung der Mehrverdiener hätte demnach eine gewisse Umverteilung von dieser Personengruppe auf Geringverdiener zur Folge. Für die Beurteilung der Zulässigkeit eines solchen Modells ist entscheidend, ob eine solche Umverteilung von „Stark“ nach „Schwach“ für eine Rechtfertigung der mit einem regressiven Tarif einhergehenden Ungleichbehandlung ausreicht. Auch bei einem regressiven Grenzsteuertarif ist zu beachten, dass dieser – aufgrund der prozentual höheren Belastung der Geringverdiener – von der vertikalen Steuergerechtigkeit abweicht und daher zusätzlich einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden muss. Steuertarife dienen in erster Linie fiskalischen Zwecken, indem durch ihre Anwendung auf die Bemessungsgrundlage die Steuerschuld bemessen wird. Regelungen, die zulässige Lenkungsziele verfolgen, können unter bestimmten Voraussetzungen Abweichungen vom Leistungsfähigkeitsprinzip rechtfertigen; hierfür kommen aus wirtschafts-, sozial-, umwelt- oder gesellschaftspolitischen Gründen außerfiskalische Ziele in Betracht.173 Darüber hinaus können auch Umverteilungs 172
Zu diesem Begriff: Birk, StuW 2011, 354 (357). BVerfGE 135, 126 (151); siehe hierzu auch im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (a) (bb).
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zwecke hinzutreten, wie beispielsweise bei einem progressiven Steuertarif, die jedoch ihrerseits einer Rechtfertigung bedürfen.174 Der Zweck der regressiven Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs liegt auf der Hand: Durch eine sinkende Tarifkurve wird für die Steuerpflichtigen Anreize gesetzt, mehr Arbeitsleistung zu erbringen, was zu einer Effizienzsteigerung führt. Neben Vorteilen für die gesamte Volkswirtschaft kann hierdurch die Bemessungsgrundlage, auf die der Steuertarif Anwendung findet, vergrößert werden. Allerdings können ungleiche Belastungen, die sich aus einer konkretisierenden Aus gestaltung der steuerrechtlichen Grundentscheidungen ergeben, nicht allein mit dem finanziellen Bedarf des Staates oder einer knappen Haushaltslage gerechtfertigt werden.175 Zudem stehen dem hieraus resultierenden Aufkommensgewinn auch Aufkommensverluste aufgrund des sinkenden Tarifverlaufs gegenüber; so dominiert bei einer Erhöhung des Steuersatzes bis zu einer gewissen Grenze der Tarifeffekt den Steuerbasiseffekt.176 Der regressive Steuertarif führt daher nicht ohne Weiteres zur Erzielung höherer Einnahmen.177 Selbst wenn durch den regressiven Tarif eine Effizienzsteigerung erreicht werden kann, werden gleichwohl Geringverdiener im Vergleich zu Mehrverdienern anteilsmäßig höher belastet. Eine solche prozentuale Umverteilung von „Schwach“ auf „Stark“ kann nicht mit dem Sozialstaatsprinzip gerechtfertigt werden, da diesem durch die Ausgestaltung des Tarifs gerade zuwidergelaufen wird. Darüber hinaus sind grundsätzlich Typisierungs- und Vereinfachungserforder nisse als sachliche Gründe für Einschränkungen der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit anerkannt.178 Jedoch ist ein insgesamt regressiv ausgestalteter Steuertarif für die Steuerverwaltung nicht einfacher zu handhaben als ein progressiver.179 Dem verfolgten Zweck der Effizienzsteigerung stehen demnach überzeugende Gegenargumente gegenüber. Zudem können bei einem Modell mit regressivem Grenzsteuersatz – anders als bei einem Kopfsteuermodell – keine Vereinfachungserfordernisse angeführt werden. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass man mit einem regressiven Tarif nur schwer das bisherige Steueraufkommensniveau halten könnte, wird dessen Sinn und Zweck zu einem großen Teil die Grundlage entzogen. Ein regressiv verlaufender Steuertarif kann demnach im Einkommensteuerrecht nicht gerechtfertigt werden.
174
Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 212. BVerfGE 6, 55 (80); 19, 76 (84 f.); 82, 60 (89); 105, 17 (45); 116, 164 (182); 135, 126 (150). 176 Zum Zusammenhang zwischen Steuertarif und Steueraufkommen siehe bereits die Ausführungen zur „Laffer-Kurve“ unter: Teil 1 A. II. 1. 177 So auch: BVerfGE 135, 126 (150). 178 BVerfGE 127, 224 (245); 135, 126 (149). 179 So auch: BVerfGE 135, 126 (149). 175
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(5) Zwischenfazit Zum einen lässt sich festhalten, dass es eines Grundfreibetrags für alle Steuer pflichtigen bedarf, um dem subjektiven Nettoprinzip sowie dem Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums Genüge zu tun. Zudem kann die regressive Tarifwirkung der Kopfsteuer vor dem Umverteilungsgebot der vertikalen Steuergerechtigkeit nicht gerechtfertigt werden. Eine Bemessung der Steuerschuld unabhängig von der Einkommenshöhe ist daher unzulässig, sodass es einen Steuertarif geben muss, der an die tatsächliche Höhe des Einkommens anknüpft. Ein Tarif, der zwar diese Abhängigkeit vorsieht, jedoch darüber hinaus regressiv ausgestaltet ist, läuft allerdings, selbst wenn Mehrverdiener absolut eine höhere Steuerschuld entrichten müssen, nach vorliegend vertretener Ansicht ebenfalls dem Umverteilungsgebot der vertikalen Steuergerechtigkeit zuwider und kann damit auch nicht gerechtfertigt werden. Der Einkommensteuertarif darf somit nicht derart ausgestaltet sein, dass die Bezieher eines höheren Einkommens prozentual eine geringere Steuerschuld entrichten müssen. bb) Zwingendes Erfordernis einer Progression? Aufgrund der sozialstaatlichen Prägung des Leistungsfähigkeitsprinzips ist eine Umverteilung von Mehr- auf Geringverdiener anhand des Einkommensteuertarifs geboten. Dies wirft die Frage auf, ob die vertikale Steuergerechtigkeit zwingend eine Umverteilung durch einen Anstieg der prozentualen Steuerbelastung mit zunehmendem Einkommen fordert, oder ob auch ein proportionaler Steuertarif als zulässig qualifiziert werden kann. (1) Rechtsprechung des BVerfG In seinem Urteil zur steuerlichen Absetzbarkeit von Spenden an politische Parteien aus dem Jahre 1958180 betonte das BVerfG, dass „im Bereich des Steuerrechts eine formale Gleichbehandlung von Reich und Arm durch Anwendung desselben Steuersatzes dem Gleichheitssatz widersprechen“ würde und „die Gerechtigkeit“ verlange, dass „im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seines Einkommens zu zahlen hat als der wirtschaftlich Schwächere“.181 Es forderte somit eine Besteuerung nach 180
BVerfGE 8, 51. BVerfGE 8, 51 (68 f.), siehe hierzu auch: Moebus, Die verfassungsrechtliche Begründung der progressiven Einkommensteuer und ihre systemgerechte Durchführung, S. 16 f.
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der vertikalen Steuergerechtigkeit in dem Sinne, dass aufgrund der unterschied lichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen auf diese verschieden hohe Steuersätze Anwendung finden sollen, was im Grunde einem progressiven Tarifverlauf entspreche. Dieser Standpunkt wurde hingegen in den Folgeentscheidungen des BVerfG nicht bestätigt. Dieses betonte vielmehr in ständiger Rechtsprechung den weitgehenden Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers im Hinblick auf die Ausgestaltung des Tarifs, wobei dieser eine einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen habe.182 Darüber hinaus gelte der Grundsatz, dass die Ausgestaltung des Tarifs der verfassungsrechtlich gebotenen Lastengleichheit auch in vertikaler Richtung zu entsprechen hat, was bedeutet, dass die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Besteuerung niedriger Einkommen angemessen ausgestaltet sein muss.183 In seinem Beschluss zur Frage der Verbindlichkeit des Halbteilungsgrundsatzes, lehnte das BVerfG hinsichtlich Einkommen- und Gewerbesteuer eine aus dem Eigentumsrecht des Art. 14 Abs. 1 GG abgeleitete, allgemein verbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung ab184 und wies zudem ausdrücklich darauf hin, dass weder das Gebot vertikaler Steuergerechtigkeit nach Art. 3 Abs. 1 GG noch das Verbot übermäßiger Steuerbelastung nach Art. 14 Abs. 1 GG einen konkreten Tarifverlauf vorgeben würden.185 Die steuerliche Belastung dürfe nicht zu einer grundlegenden Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Erfolgs des Steuerpflichtigen führen.186 Zudem sei bei Vorliegen eines Grundfreibetrags im Tarif zu beachten, dass, wenn durch die Tarifgestaltung die Entlastungswirkung „schrittweise kompensiert wird“, es zu einem gleichmäßigen Belastungsanstieg komme und „gleichheitswidrige Progressionssprünge“, durch die die vertikale Gleichheit im Verhältnis geringerer zu höheren Einkommen außer Acht gelassen wird, vermieden würden.187 Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss der Einkommensteuertarif somit nicht zwingend progressiv ausgestaltet sein.
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BVerfGE 84, 239 (271); 93, 121 (136); 99, 88 (95); 101, 132 (138); 101, 151 (155). BVerfGE 82, 60 (89); 99, 236 (260); 107, 27 (47); 112, 268 (279); 115, 97 (117). 184 BVerfGE 115, 97 (114). 185 BVerfGE 115, 97 (117). 186 BVerfGE 14, 221 (241); 82, 159 (190); 93, 121 (137). 187 BVerfGE 87, 153 (170). 183
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(2) Finanzwissenschaftliche Ansätze In der Finanzwissenschaft bildeten sich zwei maßgebliche Theorieansätze188 heraus, die einen progressiven Einkommensteuertarif als vom Leistungsfähigkeitsprinzip gefordert ansahen: Vertreter der Opfertheorien189 führen im Wesentlichen an, dass der Nutzen des Einkommens mit dessen Anstieg abnehme. Bezieher höherer Einkommen seien daher steuerlich leistungsfähiger, was durch die Progression ausgeglichen werden müsse.190 An diesen Theorien wird kritisiert, dass die Bewertung des Nutzens, den eine zusätzliche Einkommenseinheit mit sich bringe, als subjektive Empfindung des Einzelnen keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Leistungsfähigkeit darstellen könne.191 Zudem sei die Messbarkeit des Nutzes quasi unmöglich.192 Im Weiteren wird angeführt, dass Steuerpflichtige mit höherem Einkommen wohl relativ weniger Nutzen aus den Ausgaben des Staates ableiten würden als Steuerpflichtige mit geringerem Einkommen, sodass bereits hierdurch ein gewisser Ausgleich erfolge.193 Der zweite Theorieansatz argumentiert mit einer Notwendigkeit eines Ausgleichs der „regressiven“ Wirkung indirekter Steuern. Steuern wie die Umsatzsteuer würden die Steuerpflichtigen regressiv belasten, da Bezieher niedrigerer 188
Ausführlich zu beiden Theorieansätzen: Elicker, in: StuW 2000, 3 (11 ff.); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 56 ff.; Steuerreformkommission, Gutachten der Steuerreformkommission 1971, S. 30 (mit Rn. 40 und 41). 189 Es lassen sich die „Theorie des gleichen absoluten Opfers“, die „Theorie des gleichen relativen Opfers“ sowie die „Theorie des gleichen marginalen Opfers“ unterscheiden; ausführliche Darstellung bei: Suttmann, Die Flat Tax, S. 160 ff.; Gassner / L ang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 8 f.; Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 87. 190 Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, S. 176 ff.; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 89 f.; Haller, Die Steuern, S. 15; hierzu auch: Papier, Der Staat 11 (1972), 483 (504); zur Theorie des abnehmenden Grenznutzens siehe bereits unter: Teil 1 A. II. 1. 191 Elicker, in: StuW 2000, 3 (11), der auf die frühere Argumentation hinweist, nach der die hinzukommenden Einkommenseinheiten weniger dringlich für ein menschenwürdiges Dasein sowie die freiheitliche Entfaltung seien, je höher das Einkommen sei (siehe hierzu: Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, S. 177 f.; Laule, Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in der Rechtsprechung der Steuergerichte, S. 20; Haller, Die Steuern, S. 15, der jedoch darauf hinweist, dass dies vor dem Hintergrund des geltenden Einkommensteuerrechts, das den Grundbedarf steuerfrei stellt, überholt ist); Siegel, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG / KStG, § 32a Rn. 6. 192 Schmidt, in: Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II, S. 119 (147); Gassner / L ang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 9; Moebus, Die verfassungsrechtliche Begründung der progressiven Einkommensteuer und ihre systemgerechte Durchführung, S. 76 f.; Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 89, der allerdings auf S. 103 eine überproportionale Zunahme der Steuerfähigkeit jenseits der Erreichung des physischen Existenzminimums befürwortet (Wahl des Progressionsverlaufs sei „gerechtfertigter als das völlig willkürliche Ausweichen auf den ‚eindeutigen‘ proportionalen Tarif). 193 Siegel, in: Herrmann / Heuer / Raupach, EStG / KStG, § 32a Rn. 6.
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Einkommen einen höheren Anteil ihres Einkommens für den privaten Konsum aufwenden würden, wodurch die Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr gewährleistet sei und durch die Progression im Einkommensteuerrecht ausgeglichen werden müsse.194 Dem wird entgegengehalten, dass jede Steuer im Hinblick auf ihren eigenen Belastungsgrund einer sachgerechten Ausgestaltung bedürfe und damit ein solcher „Ausgleich“ einer Steuerart durch eine andere nicht möglich sei.195 (3) Meinungsstand in der juristischen Literatur Auf Seiten der Rechtswissenschaft gab es ebenfalls Befürworter einer Herleitung des progressiven Steuertarifs aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip, nach denen dieser die vertikale Steuergerechtigkeit verwirkliche.196 Nach dem Wandel in der Auffassung des BVerfG besteht mittlerweile auch in der Literatur weitgehende Einigkeit dahingehend, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht zwingend einen progressiven Tarifverlauf fordert.197 Das Leistungsfähigkeitsprinzip lässt dem Gesetzgeber einen weitgehenden Gestaltungsspielraum, ob er einen (nur) proportional verlaufenden oder einen progressiven Tarif wählt, sodass beide Tarife als zulässig zu qualifizieren sind.198 Gestaltet er den Steuersatz progressiv aus, so folgt allerdings aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip, dass der Leistungswille nicht vernichtet werden darf und deshalb der Steuersatz im oberen Bereich proportional verlaufen muss.199
194
Moebus, Die verfassungsrechtliche Begründung der progressiven Einkommensteuer und ihre systemgerechte Durchführung, S. 71 f.; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, S. 174 ff.; Huber, Rechtsgleichheit und Progression, S. 161 f.; Schmidt, Die Steuerprogression, S. 2, 63, 100 f., 117, 147 ff.; siehe auch: BT-Drs. 7/1470, S. 212. 195 Elicker, in: StuW 2000, 3 (12 f.). 196 Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 56 ff.; Birk, StuW 1983, 293 (297 f.); Vogel, DStZ / A 1975, 409 (411); Blumenstein / L ocher, System des schweizerischen Steuerrechts, S. 358 f. (in Bezug auf die Schweiz); Klett, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, S. 599 (600, 604 f.); Papier, Der Staat 11 (1972), 483 (504); Huber, DÖV 1956, 172 (175). 197 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 269; Tappe, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 32a Rn. A 112; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 802; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 94 ff.; Kirchhof, StuW 1985, 319 (329); Neumann, in: Kirchhof / Neumann, Freiheit, Gleichheit, Effizienz, S. 23 (26): „unzulässig verkürzend als Synonym für progressive Besteuerung verwendet“; Suttmann, Die Flat Tax, S. 46. 198 Kritisch zur Zulässigkeit eines direkt progressiven Einkommensteuertarifs: Elicker, StuW 2000, 3. 199 Birk, StuW 1983, 293 (298); Kirchhof, StuW 1985, 319 (329); hierzu auch: Suttmann, Die Flat Tax, S. 288 f., der zutreffend darauf hinweist, dass diese „indirekte Progression“ im oberen Tarifverlauf erforderlich sei, da ansonsten der Grenzsteuersatz ab einem gewissen Punkt 100 % übersteigen würde.
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(4) Zwischenfazit Es lässt sich somit festhalten, dass dem Leistungsfähigkeitsprinzip kein zwingendes Gebot eines progressiven Einkommensteuertarifverlaufs zu entnehmen ist. cc) Flat Tax oder Progression? Die Abkehr von der mittlerweile überholten Ansicht, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip zwingend einen progressiven Einkommensteuertarif fordere, wirft schließlich die Frage auf, welche Vorgaben sich aus diesem Prinzip, vor allem aus der vertikalen Steuergerechtigkeit, im Hinblick auf die proportionale sowie progressive Ausgestaltung des Tarifs im Einkommensteuerrecht ableiten lassen, also in welchem Umfang diese Tarifgestaltungen gerechtfertigt werden können. (1) Verfassungsrechtliche Analyse von Einheits- und Progressionstarif Zunächst gilt es zu analysieren, inwieweit die „Ausgangsmodelle“ der Einheitssteuer und der Steuerprogression verfassungsrechtlich zulässig sind. (a) Grenzen der Umverteilung anhand der Einkommenshöhe Legt man bei der Einkommensbesteuerung das Einkommen als Leistungsfähig keitsindikator zugrunde, so stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie dieses zu bewerten ist, also in welchem Umfang es die Leistungsfähigkeit widerspiegelt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gibt dem Gesetzgeber „ein auf die Leistungsfähigkeit bezogenes Differenzierungsgebot als materielles Gleichheitsmaß“ vor.200 Fest steht, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip aufgrund seiner sozialstaatlichen Prägung eine gewisse Umverteilung anhand der Einkommenshöhe fordert.201 Eine solche darf jedoch nicht unbegrenzt erfolgen, sodass bei einer bestimmten Grenze eine „Überreizung“ eintritt, die über die von der vertikalen Steuergerechtigkeit geforderte Umverteilung hinausgeht und infolgedessen aufgrund des Sozialstaatsprinzips gerechtfertigt werden muss. Wo genau diese Grenze liegt, lässt sich allerdings nur schwer aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip ersehen. Die Tatsache, dass die Rechtsprechung bislang im Hinblick auf genaue inhaltliche Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips für die Gestaltung des Einkommensteuertarifs eine tiefgreifende Auseinandersetzung missen lässt, hängt nicht zuletzt mit den bereits dargestellten Herausforderungen bei der Konkretisierung 200 201
BVerfGE 135, 126 (148). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) aa) (1).
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des Leistungsfähigkeitsprinzips202 zusammen. Aufgrund der Ungenauigkeit dieses Begriffs lässt sich nur schwerlich begründen, ob beziehungsweise weshalb eine bestimmte Tarifgestaltung diesem Grundsatz entspricht. Insbesondere ergeben sich bei der Frage, wann eine solche „überreizende“, rechtfertigungsbedürftige Umverteilung vorliegt, im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG prüfungstechnische Herausforderungen: So darf nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gemäß diesem „wesentlich Gleiches“ nicht ungleich behandelt, und „wesentlich Ungleiches“ nicht gleich behandelt werden.203 Betrachtet man die horizontale Leistungsfähigkeit, bei der sich Sachverhalte von Steuerpflichtigen in identischen ökonomischen Verhältnissen gegenüberstehen, so kann hier eine „übliche Gleichheitsprüfung“, also ob die wesentlich gleichen Sachverhalte ungleich behandelt wurden, ohne weitere Schwierigkeiten erfolgen.204 Anders gestaltet sich der Fall der vertikalen Steuergerechtigkeit: Nimmt man eine wesentliche Ungleichheit der Steuerpflichtigen aufgrund ihrer unterschied lichen Einkommenshöhe an, so müssen diese ungleich behandelt – also unterschiedlich hoch besteuert – werden. Eine solche Ungleichbehandlung wäre jedoch bei jeder Umverteilungsintensität gegeben, sodass auch eine maximal starke Umverteilung definitionsgemäß zu einer ungleichen Behandlung von Ungleichem und damit eigentlich nicht zu einem Gleichheitsverstoß führen würde. So prüft das BVerfG in seiner Rechtsprechung konsequenterweise nicht die Gleichheit, sondern die Angemessenheit einer Tarifbelastung.205 Dies zeigt deutlich die Schwierigkeit der Abgrenzung einer Schutzbereichsbeeinträchtigung von der Rechtfertigungsebene bei Art. 3 Abs. 1 GG. Wenn das BVerfG davon spricht, dass „wesentlich Gleiches gleich“ beziehungsweise „wesentlich Ungleiches ungleich“ behandelt werden muss, so bezieht es sich damit nicht, wie häufig irrtümlich vertreten wird,206 auf die Festlegung der Vergleichspaare im Schutzbereich; die Frage der „Wesentlichkeit“ von Unterschieden beziehungsweise Gemeinsamkeiten ist vielmehr Ausdruck der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen.207 Je nachdem, ob die zu überprüfende Maßnahme des Staates unterschiedliche oder gleiche Rechtsfolgen vorsieht, kommt es für eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung allein darauf an, ob sich für die betroffenen Personen, Personengruppen oder Sachverhalte ein gemeinsamer Oberbegriff oder Bezugspunkt findet beziehungsweise ob sich zwischen diesen Unterschiede feststellen lassen. Ob die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede als „wesentlich“ angesehen 202
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. c). BVerfGE 79, 1 (17); 126, 400 (416); 131, 239 (255); st. Rspr. 204 Kirchhof, BB 2017, 662 (666): „wir befinden uns auf gesichertem verfassungsrechtlichen Terrain“. 205 Kirchhof, BB 2017, 662 (667) mit Verweis auf: BVerfGE 124, 282 (295); 126, 268 (278); 127, 1 (28); 135, 126 (145). 206 Pietzcker, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 125 Rn. 39; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 518 ff. 207 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 17. 203
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werden können, ist vielmehr bei der Frage, ob die rechtlich relevante Ungleichbehandlung im diskutierten Fall zulässig ist und damit auf Rechtfertigungsebene zu diskutieren.208 Wählt man die Gruppe der Steuerpflichtigen als Oberbegriff, so stellt eine Festlegung unterschiedlicher Steuersätze prinzipiell eine Ungleichbehandlung dar, die einer Rechtfertigung bedarf. Da die vertikale Steuergerechtigkeit gerade gebietet, dass Steuerpflichtige entsprechend ihrem Einkommen unterschiedlich besteuert werden, ergibt hier eine Rechtfertigungsprüfung, dass sie nicht als „wesentlich“ gleich angesehen werden können und demnach eine unterschiedliche Besteuerung gerechtfertigt ist. Umgekehrt wäre die Festlegung einer Kopfsteuer die gleiche Behandlung von – aufgrund unterschiedlicher Einkommenshöhen ungleichen – Steuerpflichtigen, die aufgrund deren „wesentlicher“ Ungleichheit nicht gerechtfertigt werden kann. Die Frage, ob und in welcher Intensität eine Ungleichbehandlung anhand des Steuertarifs erfolgen kann, ist daher gerade keine Frage des Schutzbereichs des Art. 3 Abs. 1 GG, sondern dogmatisch besser auf Rechtfertigungsebene anzusiedeln. Es bietet sich deshalb an, sich im Rahmen einer Zulässigkeitsprüfung von dem „klassischen“ Aufbau zu lösen. Dies meint, dass sich bei der Überprüfung eines von „stark“ auf „schwach“ umverteilenden Tarifverlaufs die Frage erübrigt, ob hier eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung vorliegt, sondern es ist vielmehr durch Abwägung im Rahmen der Rechtfertigung festzustellen, ob die Umverteilungswirkung des konkreten Tarifverlaufs zum einen ausreichend hoch ist und ob andererseits die „Überreizung“ aufgrund des Sozialstaatsprinzips gerechtfertigt werden kann oder nicht. Dieses „Spannungsverhältnis zwischen sozialer Gleichheit und sozialstaatlicher Effizienz“ im Rahmen des Leistungsfähigkeitsprinzips wurde bereits von Birk als wesentliche „verfassungsrechtliche Fragestellung“ erkannt.209 Ist das Minimum der von dem Leistungsfähigkeitsprinzip geforderten Umverteilungsgrenze erreicht, so stellt jede stärkere Umverteilung bis zur gerade noch zulässigen Grenze eine zusätzlich aufgrund sozialer Gründe gerechtfertigte „Überreizung“ dar, ab der die soziale Gleichheit hinter der „sozialstaatlichen Effizienz“ zurücktreten muss. Je leichter eine solche Rechtfertigung der Umverteilung aufgrund sozialer Zwecke möglich ist, umso eher wird den Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips entsprochen. (b) Beurteilung der Zulässigkeit der Tarifarten Die überwiegenden Stimmen in der Literatur vertreten, dass allein der gleichmäßige Steueranstieg durch eine „flat tax“ dem Leistungsfähigkeitsprinzip und 208 209
So auch: Kirchhof, BB 2017, 662 (663). Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 168 f.
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damit dem Gleichheitssatz unmittelbar zu entnehmen sei, während ein progressiver Tarifverlauf dessen Durchbrechung bewirke, die jedoch durch das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden könne.210 Die gleichmäßige Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fordere eine proportional mit der individuellen Leistungsfähigkeit steigende absolute Steuerbelastung.211 Hierdurch werde der Forderung des BVerfG nach einer „angemessenen“ Besteuerung höherer im Vergleich zu niedrigeren Einkommen hinreichend Rechnung getragen, wohingegen der progressive Steuertarif bereits zu den über das Leistungsfähigkeitsprinzip hinausgehenden sozialen Steuervergünstigungen zähle, die einer besonderen Rechtfertigung bedürften.212 Die Umverteilung durch den progressiven Tarif könne gerechtfertigt werden, solange keine wesentliche Schwächung des Leistungswillens erfolge und in Richtung derer umverteilt werde, die nicht fähig sind, sich durch eigene Anstrengung den erforderlichen Entfaltungsspielraum zu verschaffen; sonst käme es zu einer „Ausbeutung der Leistungswilligen durch die Leistungsunwilligen“.213 Die Anwendung eines einheitlichen Tarifs nach Abzug eines Grundfreibetrags stelle eine sachgerechte Differenzierung dar und gewährleiste eine formale Gleichbehandlung.214 Teilweise wird auch zurückhaltender davon gesprochen, dass ein proportionaler Tarifverlauf im Vergleich zu einem progressiven eher eine „verfassungsrechtliche Rechtfertigung“ finde.215 Es wird zwar angeführt, dass gerade der proportionale Steuertarif die von dem Leistungsfähigkeitsprinzip geforderten Anforderungen erfülle, sodass alle Tarifverschärfungen, die darüber hinausgehen, nicht mehr diesem Prinzip dienen, jedoch zumindest einer Rechtfertigung aufgrund sozialer Zwecke zugänglich sind. Welche „sozialen Zwecke“ für die Rechtfertigung solcher Verschärfungen, zu denen auch der progressive Tarif gehören soll, in Betracht kommen, wird aller-
210 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 403 ff., Bd. II S. 838; Siegel, in: Herrmann / Heuer / Raupach, § 32a EStG Rn. 6; Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch 2011, § 43 Rn. 36; Kirchhof, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff, EStG, § 2 Rn. A 602; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 802: „Instrument sozialstaatlicher Umverteilung“, § 3 Rn. 212; Jachmann, StuW 1998, 293 (295 f.); Bareis, DStR 2010, 565 (567 ff.); Becker, in: Kirchhof / Offerhaus / Schöberle, Steuerrecht, Verfassungsrecht, Finanzpolitik, Festschrift für Franz Klein, S. 379 (382 ff.); Suttmann, Die Flat Tax, S. 169 ff., 283 ff.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 113; Beiser, Steuern, Rn. 15; vereinzelt wird aus dem Sozialstaatsprinzip sogar die Pflicht zu einer progressiven Tarifgestaltung hergeleitet: Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 97 ff.; Tipke, in: Fürst / Herzog / Umbach, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. I, S. 717 (722); grundsätzlich gegen einen progressiven Steuertarif: Elicker, StuW 2000, 3 (10 ff.); Lang, StuW 1990, 107 (118); kritisch zu den Herleitungsansätzen: Suttmann, Die Flat Tax, S. 160 ff.; Lang, StuW 2016, 101 (105). 211 Jachmann, StuW 1998, 293 (295); Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 33. 212 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 403. 213 Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 99. 214 Elicker, StuW 2000, 3 (11). 215 Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 33.
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dings in der Literatur nicht hinreichend konkretisiert.216 So wird die Progression zwar als ein „Akt allgemeiner – über das Steuerrecht hinausgreifender – sozialer Gerechtigkeit“, in dem die „Solidarität der Leistungsstarken mit den Leistungsschwachen im Sinne der Sozialstaatlichkeit“ zum Ausdruck komme, verstanden.217 Allerdings wählt der progressive Einkommensteuertarif ebenso wie die „flat tax“ das Einkommen des Steuerpflichtigen als Anknüpfungspunkt. Zudem wirkt eine proportionale Steuer mit Grundfreibetrag ebenfalls indirekt progressiv und damit zusätzlich umverteilend. Die direkte Progression verfolgt demnach neben der – bereits vom proportionalen Steuertarif218 verfolgten – Umverteilungszielsetzung keine weiteren sozialen Zwecke. Aus den bisherigen Entscheidungen des BVerfG ließ sich bislang nicht ersehen, welche Tarifgestaltung den „Idealfall“ darstellt, welche also in gleichheitsrechtlich erforderlichem Maße umverteilt und noch keine rechtfertigungsbedürftige Überreizung darstellt. Selbst wenn sowohl ein proportionaler als auch progressiver Tarifverlauf den Zulässigkeitsanforderungen im Hinblick auf die Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs entspricht, bleibt die Frage offen, ob diese noch als aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgend angesehen werden können.219 Da eine „Flat Tax“ jedoch einen weitgehend gleichmäßigen Anstieg der Steuerschuld bewirkt, soll eine solche Ausgestaltung des Steuertarifs als der von dem Leistungsfähigkeitsprinzip geforderte Umverteilungsmaßstab angesehen werden. Aus einer Gesamtschau der Entscheidungen des BVerfG sowie deren Grund tendenz lässt sich zumindest ableiten, dass Art. 3 Abs. 1 GG eine im Idealfall möglichst gleichmäßig ansteigende steuerliche Belastung durch den Einkommensteuertarif fordert.220 Sieht man den proportionalen Steuertarif als Ausdruck der Leistungsfähigkeit an, so bedeutet dies nicht automatisch, dass dieser keine Ungleichbehandlung darstellt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist vielmehr eine Vorgabe im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Ist eine bestimmte Gestaltung vom Leistungsfähigkeitsprinzip geboten, so bedeutet dies, dass ein Gleichheitsverstoß unter Berufung hierauf gerechtfertigt werden kann und es keiner darüber hinausgehenden Rechtfertigungsgründe bedarf. In dieser Weise wird der Gleichheitssatz von dem Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert, das im Rahmen der Ab
216 Siehe hierzu auch: Elicker, StuW 2000, 3 (14 ff.), der ebenfalls sozialstaatlich motivierte Begründungsansätze ablehnt. 217 Beiser, Steuern, Rn. 15; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 97 f. 218 Der proportionale Tarif ist ebenfalls sozialstaatlich geprägt; siehe hierzu: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 403; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 837. 219 Siehe hierzu bereits: Vogel, DStZ / A 1975, 409 (411), der diese Frage aufwirft, jedoch unbeantwortet lässt, sowie: Schmidt, Die Steuerprogression, S. 41 ff., der den Zusammenhang zwischen Steuerprogression und Leistungsfähigkeitsprinzip aus ökonomischer Perspektive beleuchtet. 220 Wagner, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 32a EStG Rn. 33.
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101
wägung auf Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen ist. Ein solches Verständnis hat den Vorteil, dass es zu keiner „Doppelfunktion“ des Sozialstaatsprinzips als Teil des Schutzbereiches sowie bei der Rechtfertigung von dessen Durchbrechungen kommt, sondern allein im Bereich der Rechtfertigung alle Umstände, Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten abgewogen werden um hieraus folgern zu können, ob eine bestimmte Umverteilung noch als gleichheitsrechtlich zulässig betrachtet werden kann. (c) Zwischenfazit Es lässt sich festhalten, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip einen Rechtfertigungsmaßstab vorgibt, an dem sich Ungleichbehandlungen zu orientieren haben. Sowohl die proportionale als auch die progressive Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs sind nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips als zulässig zu erachten, wobei der proportionale Einkommensteuersatz den Vorgaben des Leistungsfähigkeitsprinzips entspricht, während der stärker umverteilende progressive Tarif einer darüber hinausgehenden Rechtfertigung durch das Sozialstaatsprinzip bedarf. (2) Diskussion um die Einführung einer Flat Tax Obige Ausführungen machen deutlich, dass einem proportionalen Steuertarif prinzipiell keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen. Es erscheint daher nicht allzu überraschend, dass die Einführung einer Flat Tax bereits eingehend diskutiert wurde. Um Möglichkeiten der Umsetzung eines solchen Konzepts im Einkommensteuerrecht aufzuzeigen, sollen die populärsten Ansätze hierzu im Folgenden kurz vorgestellt werden. (a) Populäre Reformkonzepte für die Einführung einer „Flat-Rate-Tax“ Zur Verwirklichung der Implementierung einer „Flat Tax“ oder auch „Flat-RateTax“ 221 in die Einkommensbesteuerung wurden verschiedene Steuerreformkonzepte entwickelt.
221
Diesen Begriff verwenden beispielsweise: Fuest / Peichl / Schäfer, StuW 2007, 22.
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(aa) Reformkonzept von Hall / Rabushka222 Das Reformkonzept von Hall / Rabushka aus dem Jahre 1996 gilt als der bekannteste Vorschlag einer Flat Tax.223 Häufig wird bei Verwendung des Begriffs „Flat Tax“ genau von diesem Modell gesprochen.224 Dieser Ansatz schlägt einen prinzipiell niedrigeren Steuertarif und eine breitere Bemessungsgrundlage bei gleichzeitiger Vereinfachung vor.225 Hall / Rabushka ordnen sämtliches Einkommen entweder dem „Betriebseinkommen“ oder dem „Lohneinkommen“ zu.226 Für Unternehmen soll dabei ein einheitlicher Steuertarif in Höhe von 19 % gelten, wobei die an Mitarbeiter ausbezahlten Löhne, Gehälter und Pensionen, die von anderen Unternehmen gekauften Waren und Dienstleistungen sowie die erworbenen Anlagen und die Betriebsausstattung von der Bemessungsgrundlage abzuziehen sind.227 Weil sämtliche Investitionsausgaben von der Steuerbasis ausgenommen werden, handelt es sich hierbei im Grunde um eine Verbrauchsteuer.228 Einzelne Personen oder Haushalte werden mit einem Steuersatz von 19 % auf ihr Lohn-, Gehalts- und Pensionseinkommen besteuert, abzüglich eines Familienfreibetrags, der sich nach Familienstand und Anzahl der Kinder richtet.229 Aufgrund dieses Freibetrags ist das Steuersystem progressiv ausgestaltet.230 Darüber hinaus gibt es kein steuerbares Einkommen und keine Abzüge. Da die Lohnsteuer Löhne, Gehälter und Pensionen, und die begleitende Betriebsteuer alle anderen Einkommenskomponenten besteuert, bilden die beiden zusammen ein „wasserdichtes Steuersystem“.231 (bb) Konzept einer Einfachsteuer von Rose (EFStG)232 Der Heidelberger Entwurf einer Einfachsteuer sieht gemäß § 1 EFStG die „lebenszeitliche Einmalbelastung“ aller Gewinne und Einkünfte vor. Steuerobjekt soll der lebenszeitliche Konsum sowohl auf der Haushalts- (§ 5 Abs. 1 EFStG), als auch auf der Unternehmensseite (§ 5 Abs. 3 EFStG) sein. Aufgrund seines konsumorien 222
Hall / Rabushka, Flat Tax. Fuest / Peichl / Schäfer, StuW 2007, 22 (22). 224 Gale, The Encyclopedia of Taxation and Tax Policy 1999, 155 (155); so beispielsweise: Quantschnigg, RdW 1998, 701 (701 ff.). 225 Hierzu ausführlich: Gale, The Encyclopedia of Taxation and Tax Policy 1999, 155. 226 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 85. 227 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 85 ff., 91 ff. 228 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 63 f., 85. 229 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 86, 90 f., 139: $ 16.500 für ein Ehepaar und $ 4.500 pro Kind. 230 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 90. 231 Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 85, 91. 232 Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland. 223
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tierten Systems weist dieser Entwurf einen starken Bezug zur zuvor dargestellten „Flat Tax“ von Hall / Rabushka auf.233 Durch die konsumorientierte Einkommensteuer werden heute konsumierte sowie heute gesparte und erst morgen konsumierte Einkommensteile steuerlich nur einmal belastet, was zu Effizienzgewinnen führt, da so mehr Anreize zur Arbeitssteigerung gesetzt werden.234 Der Steuersatz soll nach § 8 Abs. 1 Satz 1 EFStG einheitlich bei 25 % liegen, wobei auch ein „mäßig progressiver Tarif“ mit wenigen Stufen, beispielsweise drei Steuersatzstufen von 15 %, 25 % und 35 %, in Erwägung gezogen wird.235 Der Grundfreibetrag soll nach § 24 Abs. 2 EFStG für jede Person 10.000 € betragen. Dieser und weitere Ausgaben der privaten Lebensführung sind nach § 24 Abs. 1 EFStG als persönliche Abzüge abziehbar. Da Unternehmensgewinne entweder beim Einzelunternehmer oder bei der Gesellschaft besteuert werden, werden Dividenden zur Vermeidung einer Doppelbelastung beim Empfänger steuerfrei gestellt.236 (cc) Reformansatz von Mitschke237 Im Jahre 2004 entwickelte Mitschke einen Entwurf zur Neugestaltung des Einkommensteuergesetzes. Er schlägt in § 26 des Entwurfs einen Grundfreibetrag in Höhe von 7.500 €, im Fall der Familienbesteuerung in Höhe von 15.000 € vor.238 Dieser wird nicht mehr als Steuertarifvorschrift eingeordnet, sondern bereits bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens abgezogen.239 Die Einkommensteuer wird nach § 27 errechnet, indem auf ein zu versteuerndes Einkommen des Steuerpflichtigen bis zu 4.000 € ein Steuertarif in Höhe von 20 %, auf ein 4.000 € übersteigendes zu versteuerndes Einkommen ein Tarif in Höhe von 30 % angewendet und zusätzlich ein Betrag von 800 € hinzugerechnet wird.240 Für die Familienbesteuerung und getrennte Veranlagung von Ehegatten wird in § 28 ein Splittingverfahren eingeführt.241 Die Senkung des Steuersatzes soll auch hier durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ermöglicht werden.242 Zudem sollen gemäß § 6 Abs. 2 auf alle Einkunftsarten beide Ermittlungsmethoden von Einkünften anwendbar sein.243 Die Körperschaftsteuer sowie die einkommensteuerlichen Bestimmungen des AStG sind aus Gründen der Rechts-
233
Suttmann, Die Flat Tax, S. 111. Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 5 (5 f.). 235 Rose, in: Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 15 (16, 22 f.). 236 Rose, in: Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 146 (185). 237 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts. 238 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 78. 239 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 184. 240 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 79. 241 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 80. 242 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 45. 243 Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 58, 158. 234
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
formneutralität und Investitionsförderung ersatzlos aufzuheben.244 Hiermit sollen Transparenz und Praktikabilität gewährleistet werden.245 (dd) Die „Netto-Einkommensteuer“ (NESt-E) von Elicker246 In seinem Entwurf einer „Netto-Einkommensteuer“ schlägt Elicker neben einem Grundfreibetrag in Höhe von 8.000 € gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 NESt-E einen proportionalen Steuertarif vor. Dieser sei Voraussetzung für ein einfaches und neutrales Steuerrecht.247 Im Hinblick auf die Höhe des Steuersatzes wird bewusst keine Vorgabe gemacht, um sicherzustellen, dass das Konzept jederzeit aufkommensneutral umgesetzt werden kann.248 Eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Einkunftsarten soll entfallen.249 Von der Einkommensteuer soll das erfasst werden, was von der Erwerbs- in die Privatvermögenssphäre verschoben wird (= „Entnahme“).250 Nach § 1 Satz 2 NESt-E sind vom steuerlich relevanten Einkommen persönliche Freibeträge (§ 8 NESt-E), abziehbare Sonderbedarfe (§ 9 NESt-E), Verlustvorträge (§ 10 NESt-E) und abziehbare Ausgaben für mildtätige Zwecke (§ 11 NESt-E) abzuziehen. Durch diese Abzüge kommt es zu einer indirekten Progression des Steuertarifs.251 Da die Netto-Einkommensteuer alle bisherigen Ertragsteuern ersetzt, sollen Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz sowie zahlreiche Nebengesetze außer Kraft treten.252 (ee) Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF253 Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (BMF) befasste sich im Juli 2004 neben dem Konzept einer Dualen Einkommensteuer auch mit der – von ihm bevorzugten – Einführung einer Flat Tax. 244
Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 234. Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 51. 246 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer. 247 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 5. 248 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 2, 65. 249 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 117 ff. 250 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 131 ff. 251 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 266. 252 Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 328. 253 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_ Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_Duale_Einkommensteuer. pdf;jsessionid=0AB4D1F2AB7222C4F0B4475A40A1C53F?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020). 245
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Auch hier wird das wirtschaftliche Einkommen möglichst vollständig, also ohne Ausnahmen, erfasst, und dieses mit einem vergleichsweise niedrigen, einheitlichen Steuersatz besteuert. Jedoch lehnt der Beirat die Freistellung gesparter Einkommensteile ab. Weiterhin schlägt er einen einheitlichen Einkommensteuersatz in Höhe von 30 % vor. Die „Verteilungsaufgabe“ des Einkommensteuerrechts soll auch hier durch erhebliche Freibeträge erfüllt werden, wobei ein Grundfreibetrag in Höhe von 10.000 € Anwendung finden soll.254 Auch im Bereich der Unternehmensbesteuerung sollen steuerliche Begünstigungen und Gestaltungsmöglichkeiten weitgehend beseitigt werden. Beabsichtigt ist unter anderem, Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften mit einem einheitlichen Tarif zu besteuern und Ausschüttungen steuerfrei zu stellen. Darüber hinaus soll die Methode der steuerlichen Gewinnermittlung vereinheitlicht und der Dualismus der Einkunftsarten aufgegeben werden. Das Entstehen von Einkommen wird hierbei generell an den Zufluss von Zahlungsmitteln gebunden.255 (ff) „Bundessteuergesetzbuch“ von Kirchhof 256 Einen der in Deutschland bekanntesten und meistdiskutierten Vorschläge einer „Flat Tax“ stellt das „Bundessteuergesetzbuch“ (BStGB) von Kirchhof dar, in dem er unter anderem eine grundlegende Umgestaltung des Einkommensteuerrechts fordert. In dem Entwurf wird auf die Unterscheidung von Einkunftsarten verzichtet.257 Nach § 43 Abs. 4 Satz 1 BStGB soll ein einheitlicher Grenzsteuersatz von 25 % gelten. Dieser findet nach Abzug eines Grundfreibetrags von 8.000 € (§ 47 Abs. 1 BStGB) sowie einer Vereinfachungspauschale von bis zu 2.000 € (§ 46 BStGB) Anwendung. Berücksichtigt man im Grenzsteuertarif zusätzlich den in § 48 BStGB geregelten „Sozialausgleichsbetrag“, beginnt er de facto bei 15 %,
254
Zum Ganzen: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium. de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_ Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_ Duale_Einkommensteuer.pdf;jsessionid=0AB4D1F2AB7222C4F0B4475A40A1C53F?__ blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 3 ff. 255 Zum Ganzen: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium. de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_ Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_ Duale_Einkommensteuer.pdf;jsessionid=6E9ABCA35A78D5BFAF77580A719CD2BE?__ blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 19 ff. 256 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch. 257 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 14 Rn. 47; Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 17.
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steigt danach auf 20 % an und endet schließlich bei 25 %.258 Durch den Verzicht auf Ausnahmetatbestände wird ein erhebliches Mehraufkommen erzielt, mit dem höhere Freibeträge und niedrigere Steuersätze finanziert werden können.259 Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Rechtsformen soll beseitigt werden, indem jede Erwerbsgemeinschaft zu einem Steuersubjekt verselbständigt wird, in dem die Steuer erklärt, selbst veranlagt, gezahlt und vollstreckt wird. Der Gewinn wird nur einmal besteuert: Bei der Gewinnausschüttung beim jeweiligen Unternehmen, beim Lohn beim empfangenden Arbeitnehmer. Darüber hinaus wird die Körperschaftsteuer vollständig abgeschafft.260 (gg) Zwischenfazit: Wesentliche Elemente der Flat-Tax-Konzepte Die Flat-Tax-Konzepte wurden im Wesentlichen aus der Motivation heraus entwickelt, ein einfacheres, transparenteres und effizienteres Steuersystem zu schaffen. Des Weiteren verfolgen sie das Ziel, die Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort zu verbessern. Aus diesem Grund sollen Unternehmensgewinne nur einmal besteuert werden und ein einheitlicher beziehungsweise abgestufter, vergleichsweise niedriger Einkommensteuersatz angewendet werden. Um hieraus resultierende Aufkommensverluste des Staates zu kompensieren, sollen steuerliche Vergünstigungen und Gestaltungsmöglichkeiten weitgehend abgeschafft werden. Daneben sehen alle Modelle einen Grundfreibetrag sowie weitere Freibeträge vor, wodurch der proportionale Steuertarif indirekt-progressiv wirkt. Zudem wird eine Gleichbehandlung der Einkunftsarten befürwortet. (b) Vor- und Nachteile eines „Flat-Tax“-Konzepts Auch neben den soeben dargestellten Reformentwürfen spricht sich ein großer Teil der Literatur dafür aus, dass im Einkommensteuerrecht statt dem, wie derzeit in Deutschland geltenden, progressiven Steuertarif eine „Flat Tax“ eingeführt werden sollte.261
258 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 48 Rn. 4; Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 18 f. 259 Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 18. 260 Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 17 f., 38 ff. 261 So etwa: Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 360, 374; Suttmann, Die Flat Tax; Vorwold, Umsteuern!, S. 229 ff.; Vorwold, WPg 2003, 803 (804 ff.); Hall / Rabushka, The Flat Tax; Hall / Rabushka, in: Hall / Rabushka / A rmey / Eisner / Stein, Fairness and Efficiency in the Flax Tax, S. 3 (3 ff.); Elicker, StuW 2000, 3; Feist / Krimmer / Raffelhüschen, in: Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 122 (126 ff.); Rose, in: Rose, Reform der Einkommensbesteuerung in Deutschland, S. 146 (157, § 8 Abs. 1 des Entwurfs).
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Als größter Kritikpunkt an der direkten Progression wird ihre leistungshemmende Wirkung und der damit einhergehende nachteilige Effekt auf die Effizienz angeführt.262 Des Weiteren verkompliziere sie das Einkommensteuersystem, was wiederum Reaktionen wie Steuerplanung, Steuerflucht und Steuerhinterziehung zur Folge habe.263 Sie setze damit ökonomisch unsinnige Anreize zu Steuergestaltungen.264 Ihre Komplexität benachteilige diejenigen Steuerzahler, die nicht über ausreichende Kenntnisse und Möglichkeiten verfügen, um sich durch Ausnutzung aller Optionen „arm zu rechnen“, wodurch es schließlich zu einem „Dummensteuereffekt“265 komme.266 Die Progression führe zu unwirtschaftlichen, allein aus Steuerersparnisgründen getroffenen Investitionen.267 Die Einführung eines einheitlichen Einkommensteuertarifs würde Effizienzverluste minimieren, da höhere Einkommen im Vergleich zu niedrigeren nicht mehr prozentual, sondern nur noch absolut höher besteuert würden. Durch die (nur) indirekte Progressionswirkung eines proportionalen Grenzsteuersatzes fallen tarifbedingte Ausweichreaktionen schwächer aus, was geringere Effizienzverluste zur Folge hat. Hierin besteht der maßgebliche Unterschied – und auch Vorteil – zur progressiven Besteuerung nach der geltenden Rechtslage. Die Anwendung nur noch eines Steuertarifs trage zur Vereinfachung bei und reduziere den Steuerwiderstand.268 Weiterhin könnte durch einen solchen Tarif die „Spreizung zwischen Einkommen- und Körperschaftsteuersatz“ beseitigt beziehungsweise deutlich reduziert werden.269 Im internationalen Steuerwettbewerb könnte eine Verlagerung von Investitionen oder Buchgewinnen ins Ausland verhindert werden, da die inländische Besteuerung durch einen geringeren Tarif wieder an Attraktivität gewinnt.270 Darüber hinaus wird an der direkten 262
Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803; Lang, StuW 2016, 101 (108); Blum / Kalven, The University of Chicago Law Review 1952, 417 (437 f.); zu den Anreizverzerrungen aufgrund des progressiven Steuertarifs siehe auch bereits unter: Teil 1 A. II. 1. und B. II. 2. und 3.; kritisch hierzu: Suttmann, Die Flat Tax, S. 116 ff., Andel, Finanzwissenschaft, S. 138 ff. 263 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803; Blum / Kalven, The University of Chicago Law Review 1952, 417 (434 f.); Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 43 Rn. 40; Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 120 f.; ausführliche Darstellung der Folge regelungen, die eine direkte Progression erforderlich macht: Suttmann, Die Flat Tax, S. 130 ff.; Seer, BB 2004, 2272 (2276); Elicker, Entwurf einer proportionalen Netto-Einkommensteuer, S. 271 f. 264 Seer, BB 2004, 2272 (2276). 265 Zu diesem Begriff: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 14; Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 23; Rose, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 65. Geburtstag, S. 153 (154 ff.). 266 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803; Hall / Rabushka, in: Hall / Rabushka / A rmey / Eisner / Stein, Fairness and Efficiency in the Flat Tax, S. 3 (4); Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Rn. 48; Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, § 43 Rn. 51. 267 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803. 268 Heinemann / Kocher, Tax Public Finance 2013, 225 (243); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 86; Seer, BB 2004, 2272 (2276); Gale, The Encyclopedia of Taxation 1999, 155 (157). 269 Seer, BB 2004, 2272 (2276); dem wurde für die Kapitaleinkünfte inzwischen durch Einführung der Abgeltungsteuer in § 32d EStG nachgekommen. 270 Fuest / Peichl / Schäfer, StuW 2007, 22 (23).
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Progression kritisiert, dass bei ihr eine Erhöhung von persönlichen Freibeträgen die Privilegierung von Spitzenverdienern zur Folge habe, da diese hierdurch stärker entlastet werden als Geringverdiener.271 Eine proportionale Besteuerung würde dies zwar beseitigen, zusätzlich allerdings auch eine Privilegierung der Geringverdiener des geltenden Einkommensteuerrechts aufgeben, da ein einheitlicher Steuertarif weniger Umverteilung bedeutet. Im Vergleich zum Progressionsmodell wird der Grenzsteuersatz für Besserverdiener niedriger, für Geringverdiener jedoch höher sein.272 Demnach würde die Einführung einer Flat Tax zwar eine Bevorzugung der Spitzenverdiener beseitigen, eine der Geringverdiener allerdings auch. Zudem stellt auch die gerechte Ausgestaltung von Flat-Tax-Konzepten eine Herausforderung dar.273 Da darüber hinaus nur schwer absehbar ist, ob ein Wechsel hin zu einem Flat-Tax-Konzept auch tatsächlich aufkommensneutral erfolgt, wirft die mit der Ersetzung des progressiven durch einen proportionalen Tarif einhergehende Abschwächung der Umverteilung weitere Schwierigkeiten auf: Nach der Datensammlung zur Steuerpolitik des Bundesfinanzministeriums trugen im Jahre 2019 die oberen 10 % der Steuerpflichtigen (Einkünfte ab 89.632 €) 54,8 % des Einkommensteueraufkommens, wie nachfolgende Abbildung zeigt (vgl. Abbildung 23). Die Einführung einer niedrigen, wettbewerbsfähigeren Flat Tax274 hätte ein im Vergleich zum geltenden Tarifmodell niedrigeres Steuersatzniveau bei einkommensstarken Personen zur Folge, sodass hierdurch ein wichtiger Teil des Aufkommens wegfiele. Aufgrund des enormen Finanzbedarfs war die Einführung eines progressiven Steuertarifs zur Verhinderung enormer wirtschaftlicher und sozialer Probleme im 20. Jahrhundert unvermeidbar; für die Progression sprechen demnach auch Aspekte der Vernunft.275 Erhebliche Ausfälle beim Einkommensteueraufkommen hätten zur Folge, dass ein Ausgleich an anderer Stelle, wie beispielsweise durch Ausgabenkürzungen oder die Erhöhung anderer Steuern, erfolgen müsste.276 Auch heute wäre die Einführung eines proportionalen Tarifs für den „Sozialstaat
271
Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 803; Schlick, Wirtschaftsdienst 2005, 582 (585); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 137. 272 Vorwold, WPg 2003, 803 (808); Gale, The Encyclopedia of Taxation and Tax Policy 1999, 155 (155 f.). 273 Suttmann, Die Flat Tax, S. 115, 151, 140 ff.; kritisch hierzu: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/ Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/ Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_Duale_Einkommensteuer.pdf;jsessionid=0 AB4D1F2AB7222C4F0B4475A40A1C53F?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 5; Fuest / Peichl / Schäfer, StuW 2007, 22 (23); Hall / Rabushka, Flat Tax, S. 143 f. 274 Hierzu ausführlich: Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Spengel, Ubg 2012, 256. 275 Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 99. 276 Bach / Haan / Rudolph / Steiner, DIW Wochenbericht Nr. 16 (2004), 185 (200); Spengel, Ubg 2012, 256 (256).
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A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten Beitrag der Steuerpflichtigen zum Einkommensteueraufkommen 20191) obere … % der Steuerpflichtigen2) 1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
Einkünfte ab … € 3)
untere … % der Steuerpflichtigen2) 20 25 30 35 40 45 50
Einkünfte bis … € 3)
239.039 120.250 89.632 73.884 63.302 55.238 49.021 43.981 39.559 35.685 32.062
11.494 14.992 18.996 21.638 25.060 28.555 32.062
an der Einkommensteuer 21,5 41,7 54,8 64,0 71,1 76,8 81,6 85,6 88,9 91,7 94,0
kumulierter Anteil in % am zu veram Gesamt steuernden betrag der Einkünfte Einkommen 11,5 12,5 25,4 26,3 36,8 37,2 45,8 46,0 53,4 53,5 60,0 60,0 65,7 65,8 70,9 70,9 75,5 75,5 79,7 79,6 83,5 83,4
am verfüg baren Einkommen4) 9,4 21,7 32,2 40,7 48,2 54,7 60,6 65,9 70,8 75,2 79,3
an der Einkommensteuer 0,2 0,4 1,0 1,7 2,8 4,2 6,0
kumulierter Anteil in % am zu veram Gesamt betrag der steuernden Einkünfte Einkommen 2,1 2,2 3,5 3,6 5,8 5,9 7,6 7,7 10,2 10,3 13,2 13,3 16,5 16,6
am verfüg baren Einkommen4) 3,5 5,4 8,2 10,4 13,5 16,9 20,7
1) Ergebnis der Fortschreibung einer Stichprobe aus der Einkommensteuerstatistik 2014; gezählt werden nur Steuerpflichtige mit positivem Gesamtbetrag der Einkünfte. 2) Zusammen veranlagte Ehepaare oder eingetragene Lebenspartner werden als ein Steuerpflichtiger betrachtet. 3) Die Spalte „Einkünfte ab … €“ gibt den jeweiligen Gesamtbetrag der Einkünfte wieder. Es handelt sich somit weder um die (Brutto-) Einnahmen noch um das zu versteuernde Einkommen, sondern um die Einnahmen abzüglich der Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben. 4) Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit zuzüglich anderer Einkünfte, Lohnersatzleistungen und Kindergeld abzüglich Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Vorsorgeaufwendungen (Sozialabgaben und sonstige Versicherungsleistungen).
Abbildung 23:277 Beitrag der Steuerpflichtigen zum Einkommensteueraufkommen 2019 277 Bundesministerium der Finanzen, Datensammlung zur Steuerpolitik, Ausgabe 2019, S. 20, Schaubild 2.2 (Quelle: Berechnung und Fortschreibung für das Jahr 2019 auf der Grundlage der Steuerstatistiken durch das Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT)), abrufbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Downloads/Broschueren_Bestellservice/2020-01-30-datensammlung-zur-steuerpolitik-2019. pdf?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Deutschland“ fiskalisch kaum verkraftbar, was ihre Umsetzbarkeit vor nur schwer lösbare Herausforderungen stellt.278 Dem kann zwar entgegengehalten werden, dass in den Flat-Tax-Modellen die durch den niedrigeren Einheitssteuertarif eintretenden Aufkommensverluste zum einen durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ausgeglichen werden sollen279 und zum anderen von Kritikern übergangen werde, dass durch die Abschaffung unberechtigter Besteuerungsausnahmen sowie die Entziehung der Geschäftsgrundlage von vielen Steuersparmodellen nicht unerhebliche „Selbstfinanzierungseffekte“ ausgelöst werden.280 Ob das hierdurch erzielte zusätzliche Steueraufkommen in ausreichendem Maße zur Gegenfinanzierung der Tarifentlastung beitragen kann, ist gleichwohl zweifelhaft.281 Hinzu kommt, dass die fiskalischen Effekte und das Erreichen der beabsichtigten Ziele solcher Konzepte nur schwer abzuschätzen und mit Risiken verbunden sind.282 Auch könnte sich hier mit der Zeit unter politischem Druck wieder eine gewisse Komplexität entwickeln.283 (c) Proportionale Besteuerung im geltenden Einkommensteuerrecht Obwohl die Einführung einer „Flat Tax“, wie bereits gezeigt, in der Vergangenheit ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, konnte sich ein solches Konzept bislang in der deutschen Einkommensbesteuerung nicht durchsetzen. Gleichwohl ist dem geltenden Einkommensteuerrecht ein proportionaler Steuertarif nicht fremd: In seinem Jahresgutachten 2003/04284 sprach sich der Sachverständigenrat zur 278 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 7 Rn. 75, 86, § 8 Rn. 804; Hey, JZ 2006, 851 (853 f.); Spengel, Ubg. 2012, 256 (256); Schön / Schreiber / Spengel / Wiegard, Für ein wettbewerbsgerechtes Steuerrecht, Expertenvorschlag, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 04. 08. 2005, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/expertenvorschlagfuer-ein-wettbewerbsgerechtes-steuerrecht-1253238.html (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020). 279 Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, S. 378; Kirchhof, Das Bundessteuergesetzbuch in der Diskussion, S. 18; Schlick, Wirtschaftsdienst 2005, 582 (588); Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Ministerium/ Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/Ausgewaehlte_ Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_Duale_Einkommensteuer.pdf;jsessionid=0AB4D1F2AB722 2C4F0B4475A40A1C53F?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 8 (Fn. 7). 280 Schlick, Wirtschaftsdienst 2005, 582 (588). 281 Hey, JZ 2006, 851 (854); Bach / Haan / Rudolph / Steiner, DIW Wochenbericht Nr. 16 (2004), 185 (199), die dies für die dort untersuchten Reformvorschläge (u. a. für das Konzept der Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch 2004 um Paul Kirchhof) verneinen. 282 Bach / Haan / Rudolph / Steiner, DIW Wochenbericht Nr. 16 (2004), 185 (201); Gale, The Encyclopedia of Taxation, 155 (157). 283 Vorwold, Umsteuern!, S. 250. 284 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/2004, S. 352
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Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für die Einführung einer „Dualen Einkommensteuer“ aus, bei der die Einkunftsarten in zwei Kategorien unterteilt werden: Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen. In dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen285 wurde neben dem vom Beirat favorisierten Konzept einer „Flat Tax“, bei dem das Einkommen nicht nur teilweise, sondern vollständig einem einheitlichen Steuersatz unterworfen wird, alternativ ebenfalls die Idee eines dualen Systems aufgeworfen.286 Im Zuge des Unternehmenssteuerreformgesetzes 2008287 wurde ein solches Modell durch die Einführung eines dualen Systems (auch „Abgeltungsteuer“) in § 32d EStG im deutschen Einkommensteuerrecht eingeführt. In § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG ist für bestimmte Einkünfte aus Kapitalvermögen ein einheitlicher Steuertarif in Höhe von 25 % vorgesehen, während die Besteuerung der Arbeitseinkommen anhand eines progressiven Steuersatzes erfolgt. Ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 54.058 € gilt auch hier ein proportionaler Tarif von 42 %, der ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 256.304 € auf 45 % ansteigt.288 Das im oberen Bereich liegende Arbeitseinkommen, und damit ein nicht unerheblicher Teil des steuerpflichtigen Einkommens, unterliegt damit bereits einer proportionalen Besteuerung.289
(Rn. 640 ff.), abrufbar unter: https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/ dateiablage/download/gutachten/03_ges.pdf (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 308 ff.; Weiterentwicklung in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung / Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht / Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW, Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer. Expertise im Auftrag der Bundesminister der Finanzen und für Wirtschaft und Arbeit v. 23. Februar 2005, abrufbar unter: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Expertisen/Reform_der_ Einkommens-_und_Unternehmensbesteuerung_durch_die_Duale_Einkommensteuer.pdf (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 1 ff. 285 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_ Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_Duale_Einkommensteuer. pdf;jsessionid=0AB4D1F2AB7222C4F0B4475A40A1C53F?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020). 286 Hierzu auch: Seer, BB 2004, 2272. 287 BGBl. I 2007, 1912. 288 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 2. a) bb). 289 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen: Flat Tax oder Duale Einkommensteuer – Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensteuer, Gutachten, Berlin, Juli 2004, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Standardartikel/Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_ Stellungnahmen/Ausgewaehlte_Texte/Gutachten_Flat_Tax_oder_Duale_Einkommensteuer. pdf;jsessionid=0AB4D1F2AB7222C4F0B4475A40A1C53F?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 6.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(3) Zwischenfazit Der von den Reformansätzen geforderten Erhöhung der Standortattraktivität und Förderung von Investitionen wurde in Deutschland im Jahre 2009 durch die Einführung einer „Abgeltungssteuer“, die für Kapitaleinkünfte abweichend von der progressiven Besteuerung der übrigen Einkünfte einen einheitlichen Tarif von 25 % vorsieht, nachgekommen. Andere Kritikpunkte am Einkommensteuer system, wie dessen Kompliziertheit, fehlende Transparenz und nachteilige Auswirkungen auf die Effizienz des Einkommensteuerrechts, wurden hingegen bislang nicht beseitigt. Obgleich durch die Einführung eines proportionalen Einkommensteuertarifs in das Einkommensteuerrecht und die damit einhergehende Verringerung von Ausweichreaktionen und Vereinfachung die Kritikpunkte an dem progressiven Steuersatz weitgehend ausgeräumt werden könnten, so würde dies den Staat wegen der aus der Umgestaltung des Tarifs resultierenden Aufkommenseinbußen vor haushaltspolitische Herausforderungen stellen. Dies zeigt, dass zwar gewichtige Gründe für die Abkehr von einem progressiven hin zu einem proportionalen Steuertarif sprechen, eine solche Umgestaltung des Einkommensteuerrechts wiederum andere Auswirkungen haben würde, die nur schwer abzuschätzen sind. Die Herausforderungen im Hinblick auf die Ausgestaltung eines Flat-Tax-Konzepts sind neben politischem sowie gesellschaftlichem Widerstand wohl der Grund dafür, dass sich eine solche Änderung des deutschen Einkommensteuersystems bislang noch nicht konkret abgezeichnet hat. dd) Zwischenfazit Als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips fordert die vertikale Steuergerechtigkeit eine Umverteilung anhand der Leistungsfähigkeit. Leistungsfähigkeitsindikator ist hierbei das Einkommen des jeweiligen Steuerpflichtigen, sodass eine Umverteilung des Einkommens von Mehr- auf Geringverdiener geboten ist. Kopfsteuermodelle und ein regressiver Grenzsteuertarif sind demnach als unzulässig, ein proportionaler sowie progressiver Tarifverlauf hingegen als zulässig zu beurteilen. 3. Folgerungen zur Zulässigkeit der Ausgangsmodelle Aus soeben erfolgter Prüfung lassen sich folgende verfassungsrechtliche Erkennt nisse für die anschließende Konzeption der Einkommensteuermodelle ableiten: Einerseits hat die Einkommensbesteuerung die steuerliche Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen zu gewährleisten. Das Kopfsteuermodell ohne Grundfreibetrag ist daher als verfassungsrechtlich unzulässig zu beurteilen.
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Des Weiteren müssen die Einkommensteuermodelle den Grundsatz der Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit beachten und das Einkommen von Mehr- auf Geringverdiener umverteilen. Eine Nichtanknüpfung der Besteuerung an das Einkommen des Steuerpflichtigen führt zu einem regressiven Durchschnittssteuertarif, der einen Eingriff in den Kernbereich des Leistungsfähigkeitsprinzips darstellt, völlig systemfremd ist und nicht mit dem geltenden Verfassungsrecht vereinbar ist. Ein Kopfsteuermodell ist daher auch unter Berücksichtigung eines Grundfreibetrags als verfassungswidrig anzusehen. Ein regressiver Grenzsteuersatz würde die – zuvor noch bei den Kopfsteuermodellen als fehlend kritisierte – Abhängigkeit des Einkommensteuertarifs vom tatsächlich erzielten Einkommen gewährleisten. Für die Zulässigkeit einer derartigen Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs sprechen allerdings keine überzeugenden Argumente, weshalb der damit einhergehende Verstoß gegen die vertikale Steuergerechtigkeit aufgrund der prozentualen Mehrbelastung von Geringverdienern ebenfalls nicht gerechtfertigt werden kann. Den Einheitssteuer- und Progressionsmodellen stehen hingegen keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Während ein proportionaler Tarif dem Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit entspricht, stellt die Progression einen Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit dar, der jedoch aufgrund des Sozialstaatsprinzips gerechtfertigt werden kann. Es lassen sich gleichwohl gegen beide Tarifarten Kritikpunkte anführen: Beim progressiven Steuertarif werden insbesondere dessen negative Effekte auf die Effizienz sowie dessen Komplexität kritisiert. Die Einführung einer Flat Tax würde zwar in diesen Punkten eine Verbesserung bewirken, bei der konkreten Ausgestaltung von Flat-Tax-Modellen muss hingegen gewährleistet werden, dass das Aufkommen des Staates auch künftig sichergestellt wird. 4. Abweichende Beurteilung bei zusätzlicher Einbeziehung exogener Merkmale? Im Anschluss an die Analyse der grundsätzlichen Zulässigkeit verschiedener Tarifarten stellt sich die Frage, inwiefern sich bei einer Einbeziehung exogener Charakteristika in die Besteuerungsmodelle Abweichungen zu soeben Gesagtem ergeben. Die Zulässigkeit einer grundsätzlichen Besteuerung exogener Merkmale soll zunächst im Hinblick auf die verschiedenen Tarifverläufe untersucht werden. Sodann soll in einem nächsten Schritt der Frage nachgegangen werden, ob sich zwischen den Modellvarianten der „Progressionsmodelle“, namentlich der Variierung des Steuertarifs und der Variierung des Grundfreibetrags, Unterschiede im Hinblick auf die rechtliche Zulässigkeit feststellen lassen.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
a) Vergleich der Tarifgestaltungen Zunächst sollen Aussagen im Hinblick auf die Verwirklichung der Anknüpfung an exogene Merkmale innerhalb der Tarifgestaltungen getroffen werden. Dabei sind die bei der Analyse der „Ausgangsmodelle“ herausgearbeiteten Grundsätze insbesondere mit den Vor- und Nachteilen bestimmter Tarifgestaltungen zugrunde zu legen. aa) „Regressionsmodelle“ Die Zulässigkeit der drei (Ausgangs-) Modellansätze mit regressivem Durchschnittssteuertarif scheitert bereits an ihrer jeweiligen Unvereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip.290 Fraglich ist, ob sich durch die zusätzliche Berücksichtigung exogener Charakteristika eine abweichende Beurteilung ergibt. (1) Pauschalsteuer-Modell ohne Grundfreibetrag Aufgrund der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit der Kopfsteuer liegt es nahe, zwangsläufig auch die Pauschalsteuer als deren Spezialfall als verfassungswidrig zu erachten. Im Gegensatz zur Kopfsteuer sieht die Pauschalsteuer jedoch nicht für alle Personen dieselbe Steuerschuld vor, sondern bemisst diese nach den jeweiligen exogenen Charakteristika des Einzelnen, von denen auf das Potenzial zur Erzielung von Einkünften rückgeschlossen werden kann. Es gilt zu prüfen, ob dieser hinzutretende Umverteilungsaspekt etwas an der Verfassungsmäßigkeit ändert. Bei einem Pauschalsteuer-Modell ohne Grundfreibetrag, der sogenannten „endowment tax“, sind die exogenen, also unveränderlichen Merkmale der Steuerpflichtigen die einzigen Anknüpfungspunkte für die Besteuerung. Es können daher Fälle auftreten, dass jemand völlig mittellos ist, jedoch „starke“ Charakteristika hat, sodass sich dennoch für ihn eine hohe Steuerschuld ergibt – wie das Beispiel des „Beachcomber“ veranschaulicht.291 Bei diesen Personen greift eine Pauschalsteuer demnach auf das Existenzminimum zu. Hierin liegt ebenso wie beim „klassischen“ Kopfsteuermodell ein Eingriff in die Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen gemäß Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Ein Verstoß gegen das Prinzip der Steuerfreiheit des eigenen Existenzminimums kann aufgrund dessen Bezugs zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG 290
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. a) ee) (zum „klassischen“ Kopfsteuermodell), Teil 2 A. I. 2. b) aa) (3) (zum Kopfsteuermodell mit Grundfreibetrag) sowie Teil 2 A. I. 2. b) aa) (4) (zum Modell mit regressivem Grenzsteuersatz). 291 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 1. b) aa).
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nicht gerechtfertigt werden, sodass eine Pauschalsteuer, die die Steuerschuld allein anhand exogener Charakteristika bemisst, ebenfalls verfassungswidrig ist.
(2) Pauschalsteuermodell mit Grundfreibetrag Man könnte auch bei der „endowment tax“ eine Modifikation dahingehend vornehmen, dass ein bestimmter Grundfreibetrag von der Besteuerung verschont bleibt, um so die Steuerfreiheit des Existenzminimums des Steuerpflichtigen zu gewährleisten. In einem solchen Fall wäre die Steuer nicht völlig losgelöst von dem Einkommen, jedoch würden ab einer gewissen Einkommenshöhe alle Personengruppen mit den gleichen exogenen Merkmalen zur Zahlung einer Steuerschuld in gleicher Höhe verpflichtet sein. Es existieren somit auch hier keine Steuersätze, sondern nur festgelegte Steuerbeträge. Diese Unabhängigkeit der Höhe der Einkommensteuer vom tatsächlich erzielten Einkommen der Steuerpflichtigen stellt ebenfalls eine Abkehr vom Leistungsfähigkeitsprinzip dar. Es stellt sich die Frage, ob dieser Eingriff in Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden kann. Wie die Kopfsteuer-Modelle bezwecken auch Pauschalsteuer-Modelle durch die Vermeidung von Ausweichreaktionen eine Effizienzsteigerung. Während jedoch das Kopfsteuermodell zusätzlich eine Verwaltungsvereinfachung und damit auch eine Einsparung von Erhebungskosten bezweckt, indem es bei der Besteuerung die Differenzierung zwischen Personengruppen anhand verschiedener Kriterien aufgibt, soll durch das Pauschalsteuermodell gerade eine Differenzierung erfolgen, die sich sogar komplizierter gestaltet als die übliche Anknüpfung an das Einkommen. Demnach greift hier das Vereinfachungsargument nicht. Es tritt allerdings ein anderes Ziel hinzu: Durch die Anknüpfung an exogene Charakteristika sollen Personen mit geringem Potenzial zur Erzielung von Einkünften kompensiert werden. Die Pauschalsteuer dient somit – im Gegensatz zur Kopfsteuer – auch Umverteilungszwecken. Zur Verfolgung dieses Umverteilungsziels unter weitgehendem Ausschluss von Effizienzverlusten ist die Pauschalsteuer geeignet, da sie beide Ziele fördert. Durch die Aufgabe der Anknüpfung an beeinflussbare Merkmale, wie beispielsweise das Einkommen, werden Ausweichreaktionen minimiert und so die Effizienz maximiert. Durch die Festlegung einer hohen Steuerschuld für Personen mit viel Potenzial zur Erzielung von Einkünften und einer geringen Steuerschuld für solche mit wenig Potenzial wird wiederum eine Umverteilung anhand exogener Charakteristika bezweckt. Eine solche wäre zwar auch durch eine andere Ausgestaltung des Steuersatzes möglich, bei der nicht feste Steuerbeträge geschuldet sind, sondern bestimmte Steuersätze auf das Einkommen angewendet werden, die sich nach exogenen Merkmalen bemessen. Das Einkommen wird bei solchen (von der Pauschalbesteuerung abweichenden) Steuermodellen als Leistungsfähig-
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
keitsindikator zumindest mitberücksichtigt; gleichzeitig wird eine Umverteilung zwischen Personengruppen mit unterschiedlichen exogenen Charakteristika gewährleistet. Solche Alternativmodelle hätten allerdings negative Auswirkungen auf die Effizienz, da hier durch die Mitberücksichtigung des Einkommens bei der Umverteilung wieder Ausweichreaktionen auftreten. Daraus lässt sich schließen, dass eine Maximierung der Effizienz bei gleichzeitiger maximaler Umverteilung nur unter Ausschluss der Besteuerung des Einkommens erfolgen kann und demnach auch erforderlich ist. Es stellt sich schließlich die Frage der Angemessenheit eines solchen Besteuerungsmodells. Nach oben vertretener Ansicht kann ein Systemwechsel vom Leistungsfähigkeitsprinzip hin zu einem Kopfsteuerprinzip selbst bei steuerlicher Verschonung des Existenzminimums verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden.292 Eine Einkommensteuer, die an exogene Merkmale anknüpft, um so das Potenzial zur Erzielung von Einkünften mit einzubeziehen, besteuert dagegen die sogenannte „Soll-Leistungsfähigkeit“293 oder auch das „Erwerbspotenzial“294. Eine solche Ausgestaltung der Besteuerung widerspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Allgemeinheit, nach dem beispielsweise ein Multimillionär mehr Steuern zahlen sollte als ein Obdachloser.295 Hinzu kommt, dass eine „Fähigkeitssteuer“, die allein an die „Soll-Leistungsfähigkeit“ anknüpft, ebenso wie die Kopfsteuer eine Abkehr von der Besteuerung der „Ist-Leistungsfähigkeit“ und damit auch vom Leistungsfähigkeitsprinzip bewirkt, für deren Rechtfertigung – wie bei der Kopfsteuer gezeigt – Effizienzgründe nicht ausreichen. Daraus folgt, dass die Einführung einer Pauschalsteuer als „Fähigkeitssteuer“ in das geltende Einkommensteuerrecht selbst mit einem Grundfreibetrag nach hier vertretener Ansicht eine nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung darstellt und somit verfassungswidrig ist. (3) Modell mit regressivem Grenzsteuertarif Die Loslösung der Steuerschuld von der Höhe des tatsächlich erzielten Einkommens kann, wie zuvor angesprochen, durch Anwendung eines Einkommensteuertarifs auf das Einkommen als Bemessungsgrundlage beseitigt werden. Durch eine regressive Ausgestaltung des Grenzsteuertarifs können auch hier Anreize für Mehrarbeit gesetzt werden. Exogene Merkmale werden im Modell mit regressivem 292
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) aa) (3). Zu diesem Begriff siehe: Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 35; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 290 ff. 294 Hiervon spricht: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 290 ff. 295 Hierzu: Stark, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2005, 47 (47), der in diesem Zusammenhang auch die Formulierung „inadequately discriminating“ verwendet. 293
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Grenzsteuersatz durch Anwendung verschieden hoch verlaufender Einkommensteuertarifkurven mitberücksichtigt.296 Die Änderung durch die Einbeziehung einer Besteuerung exogener Charakteristika liegt demnach allein darin, dass die regressiven Tarifverlaufskurven in ihrer Höhe differieren. Die jeweiligen Tarifkurven sind jedoch ebenso ausgestaltet wie im Ausgangsmodell mit regressivem Grenzsteuersatz. Demzufolge ergeben sich hinsichtlich der Zulässigkeit einer solchen Tarifausgestaltung keine Abweichungen zu bereits erfolgter Beurteilung des Ausgangsmodells.297 Daraus folgt, dass die Berücksichtigung exogener Merkmale in einem Einkommensteuermodell mit regressivem Grenzsteuersatz nach vorliegend vertretener Ansicht ebenfalls als verfassungswidrig zu beurteilen ist. (4) Zwischenfazit zur Zulässigkeit der „Regressionsmodelle“ Die Verfassungswidrigkeit einer Pauschalsteuer ergibt sich aus deren Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Verschonung des eigenen Existenzminimums des Steuerpflichtigen nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Somit scheitert die Besteuerung exogener Charakteristika anhand einer Pauschalsteuer als „first-best“-Lösung an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines solchen Besteuerungsmodells. Berücksichtigt man dies bei der Ausgestaltung des Modells, indem man einen Grundfreibetrag steuerfrei belässt, so läge dennoch eine Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips vor, da die Maximierung der ökonomischen Effizienz nicht ausreicht, um ein System, das die Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen generell abschafft, zu rechtfertigen. Ein Systemwechsel, der eine Abkehr vom Leistungsfähigkeitsprinzip bewirkt, ist nach geltendem materiellen Recht nicht mit der deutschen Verfassung vereinbar. Vor diesem Hintergrund scheitert damit auch die Rechtfertigung eines Modells mit regressivem Grenzsteuertarif. bb) „Progressionsmodelle“ Bei den Ausgangsmodellen mit einheitlichem und progressivem Grenzsteuersatz, die einen progressiven Durchschnittssteuersatz bewirken, wurde dagegen die Zulässigkeit der jeweiligen Tarifausgestaltung bejaht. Während der Einheitssteuersatz grundsätzlich durch das Leistungsfähigkeitsprinzip gerechtfertigt werden kann, bedarf es zur Rechtfertigung einer progressiven Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs zusätzlich einer Heranziehung des Sozialstaatsprinzips.298 296
Siehe hierzu bereits unter Teil 1 C. I. 1. a) cc). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) aa) (4). 298 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) bb) und cc). 297
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(1) Folgen einer Einbeziehung exogener Charakteristika Bezieht man nun zusätzlich exogene Merkmale in diese Modelle mit ein, treten diese als weitere Bezugsgrößen für die Bemessung der Einkommensteuerhöhe neben das zu versteuernde Einkommen. Im geltenden Einkommensteuerrecht spielen bei der Bemessung des zu versteuernden Einkommens zwar auch persönliche Merkmale eine Rolle für die Steuerhöhe,299 was die Frage aufwerfen könnte, ob exogene Charakteristika ebenfalls als Ausdruck der subjektiven Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen anzusehen sind. Dies lässt sich allerdings mit dem Argument widerlegen, dass das subjektive Nettoprinzip zusätzlich entstehende indisponible Aufwendungen ausgleicht,300 während durch die Differenzierung nach exogenen Merkmalen keine privaten Aufwendungen, sondern ein geringeres Erwerbspotenzial ausgeglichen werden soll.301 Diese „Soll-Leistungsfähigkeit“ stellt keine Bezugsgröße für die steuerliche Leistungsfähigkeit dar.302 Dies hat zur Folge, dass durch eine Einbeziehung exogener Charakteristika in die Bemessung der Höhe der Einkommensteuertarifkurve teilweise von der Besteuerung nach der Ist-Leistungsfähigkeit abgewichen wird, was zu einer Vertiefung der Rechtfertigungsbedürftigkeit der Modellansätze führt. (2) Folgerungen im Hinblick auf die Rechtfertigungsmöglichkeit Zur Möglichkeit einer Rechtfertigung der „Progressionsmodelle“ lassen sich folgende Aussagen treffen: Die Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an exogene Merkmale stellt eine rechtfertigungsbedürftige Abweichung von dem Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit dar. Die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch andere Verfassungsprinzipien ist jedoch nicht per se ausgeschlossen, wie das Beispiel des progressiven Steuertarifs zeigt.303 Anzumerken ist, dass ein einheitlicher Grenzsteuertarif als Ausdruck des Leistungsfähigkeitsprinzips angesehen wird und demnach geringeren Rechtfertigungsanforderungen unterliegt als ein progressiver Steuersatz, für dessen Rechtfertigung zusätzlich das Sozialstaatsprinzip heranzuziehen ist.304 Daraus lässt sich schließen, dass die Realisierung einer Besteuerung exogener Merkmale durch das Modell mit progressivem Grenzsteuersatz in zweifacher Hinsicht ein Abweichen vom Leistungsfähigkeitsprinzip bewirkt, während beim Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz allein die Einbeziehung exogener Merkmale nicht mehr durch dieses gerechtfertigt werden kann. 299
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. II. 1. Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a). 301 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. III. 1. 302 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. b). 303 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) cc) (1). 304 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) bb) und cc). 300
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Es bietet sich demnach an, die Grenzsteuertarife im Sinne der Leistungsfähigkeit möglichst flach auszugestalten, um die durch die Steuerprogression zusätzlich bewirkte Umverteilungswirkung möglichst gering zu halten. Die – rechtfertigungsbedürftige – Umverteilung anhand des tatsächlich erzielten Einkommens soll schließlich durch eine – ebenfalls rechtfertigungsbedürftige – Umverteilung nach exogenen Charakteristika ersetzt werden. Die zuvor an einem einheitlichen Steuertarif kritisierten drohenden Aufkommensverluste können bis zu einem gewissen Grad durch die Einbeziehung exogener Merkmale abgeschwächt werden, da nicht für alle Steuerpflichtigen ein einheitlicher (niedrigerer) Grenzsteuertarif gilt, sondern dieser für manche Steuerpflichtige höher und für andere niedriger ausfällt. Hierdurch kann trotz Einheitssteuer eine Umverteilung anhand des Grenzsteuersatzes gewährleistet werden. cc) Zwischenfazit Es lässt sich folgern, dass sich die Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht am ehesten durch ein Modell mit einheitlichem Grenzsteuersatz verfassungsgemäß verwirklichen lässt. Der einheitlich verlaufende Steuertarif steht bei diesem – anders als ein progressiver Grenzsteuertarif – im Einklang mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip, sodass hier allein die zusätzliche Anknüpfung an exogene Merkmale einer über dieses Prinzip hinausgehenden Rechtfertigung bedarf. b) Modifizierung des Grundfreibetrags oder des Einkommensteuertarifs? Bei der Einbeziehung der Besteuerung exogener Charakteristika in die Modelle mit einheitlichem und progressivem Grenzsteuersatz wurden zudem jeweils eine Modellvariante mit variierendem Steuersatz und eine solche mit variierendem Grundfreibetrag unterschieden.305 Es stellt sich die Frage, ob sich zwischen den beiden Varianten Unterschiede im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben. aa) Abweichungen im Verlauf der Durchschnittssteuertarife Während die Varianten mit unterschiedlichen Grundfreibeträgen und die mit variierenden Grenzsteuersätzen im Hinblick auf den „extensive“ sowie den „intensive margin“ abweichende Anreizwirkungen aufweisen,306 lassen sich aus rechtlicher Perspektive auf den ersten Blick keine Unterschiede feststellen: Für die Höhe der 305 306
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 2. b). Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 2. b) aa) (3) und bb) (3).
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Steuerschuld ist sowohl der Steuertarif als auch die Bemessungsgrundlage maßgeblich, sodass man zwecks Umverteilung nach exogenen Charakteristika beide Größen entsprechend modifizieren kann.307 Bei genauerer Betrachtung der jeweiligen Verläufe der Durchschnittssteuersätze fällt jedoch Folgendes auf: In den Varianten mit verschiedenen Grenzsteuertarifen ist die Diskrepanz zwischen den Durchschnittssteuertarifen der Personengruppen mit unterschiedlichen Charakteristika in den niedrigen Einkommenskategorien gering und wird mit Anstieg des Einkommens immer stärker. In den Modellvarianten mit variierenden Grundfreibeträgen ist es genau umgekehrt, sodass die Durchschnittssteuertarife am Anfang stark voneinander abweichen, sich jedoch in den höheren Einkommenskategorien immer weiter annähern. Allein bei einer bestimmten Einkommenshöhe in der Mitte sind bei beiden Varianten die Abstände zwischen den verschiedenen Personengruppen gleich hoch. bb) Verfassungsrechtliche Würdigung Die Ungleichbehandlung fällt damit im Fall mit den variierenden Grenzsteuertarifen in den hohen Einkommensgruppen stärker aus als in den niedrigen, während sich die Situation im Fall mit den variierenden Grundfreibeträgen umgekehrt darstellt. Fraglich ist, wie dieser Unterschied im Hinblick auf die vertikale Steuergerechtigkeit zu bewerten ist. Bei unterschiedlich hohen Grenzsteuersätzen sind die Steuerpflichtigen mit hohem zu versteuernden Einkommen und starken Charakteristika die „Verlierer“, während diejenigen mit hohem zu versteuernden Einkommen und schwachen Charakteristika besonders profitieren. Bei unterschiedlich hohen Grundfreibeträgen verlieren die Steuerpflichtigen, die ein geringes zu versteuerndes Einkommen und starke Charakteristika haben; umgekehrt profitieren hier diejenigen mit niedrigem zu versteuernden Einkommen und schwachen Charakteristika. Ein Bezug zur vertikalen Steuergerechtigkeit lässt sich hier nur schwer herstellen, da hier weder von hohen auf geringe Einkünfte noch umgekehrt von geringen auf hohe Einkünfte umverteilt wird, sondern von starken auf schwache Potenziale. Die zentrale Frage ist vielmehr, ob sich die durch das „Tagging“ bewirkte Umverteilung verstärkt auf der Seite der Geringverdiener oder der Mehrverdiener abspielen sollte. Eine Umverteilung durch variierende Grundfreibeträge würde dazu führen, dass die Steuerpflichtigen mit hohem Erwerbspotenzial und geringen Einkünften am stärksten benachteiligt werden. Dies hätte zwar zur Folge, dass für Personen mit starken Charakteristika ein Anreiz gesetzt wird, mehr Arbeitsleistung zu erbringen und damit in höhere Einkommenskategorien aufzusteigen, was wiederum zu einer
307
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. III. 2.
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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Effizienzsteigerung führt.308 Sozialstaatlich wäre es jedoch problematisch, wenn die Hauptleidtragenden einer solchen Umverteilung den Geringverdienern in der Gesellschaft angehören würden. In der Variante mit variierenden Grenzsteuertarifen nehmen diese Position gerade die Besserverdiener (mit starken Charakteristika) ein. Die Gewinner sind hier zwar ebenfalls Besserverdiener (mit schwachen Merkmalen). Gleichwohl ist nicht hinwegzudenken, dass nach dem Sozialstaatsprinzip auf die Belange schwächerer Bevölkerungsschichten Rücksicht zu nehmen ist,309 was gegen eine übermäßige Belastung des Teils der Geringverdiener mit starken Charakteristika und damit für die Grundfreibetragsvariante spricht, bei dem die durchschnittliche Steuerbelastung im unteren Einkommenssegment insgesamt geringer ausfällt. Demgegenüber lässt sich wiederum anführen, dass im Modell mit den variierenden Grundfreibeträgen die Mehrverdiener allesamt einen hohen Durchschnittssteuertarif aufweisen – sowohl diejenigen mit starken als auch die mit schwachen Merkmalen. Dies könnte mit dem Argument untermauert werden, dass Steuerpflichtige mit schwachem Einkünfteerzielungspotenzial im Bereich der hohen Einkünftegruppen weniger schützenswert seien und somit eine Angleichung in der durchschnittlichen Steuerbelastung zu denjenigen mit starken Merkmalen erfolgen sollte. Es lassen sich demnach für beide Modellvarianten gute Gründe anführen. cc) Zwischenfazit Demzufolge führt die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht zum Ausschluss einer der beiden Modellvarianten. 5. Ausgestaltungsempfehlungen Aus soeben erfolgter Analyse der verschiedenen Modellansätze lassen sich bestimmte verfassungsrechtliche Empfehlungen für die Rahmenbedingungen einer Verwirklichung der Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht ableiten, die nachfolgend dargestellt werden: Zum einen ist die steuerliche Verschonung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen zu gewährleisten, sodass die Modelle auch bei Einbeziehung exogener Charakteristika einen Grundfreibetrag aufzuweisen haben, der in keinem Fall von der Einkommensteuer tangiert wird. Des Weiteren soll für die Umverteilung ein 308
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 2. b) aa) (3) und bb) (3). BVerfGE 29, 402 (412); 32, 333 (339); 36, 66 (72); 43, 108 (125); 135, 126 (154); zur Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für die vertikale Steuergerechtigkeit siehe bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) aa) (1). 309
122
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Modell mit einheitlichem Grenzsteuertarif gewählt werden, da ein solcher Tarifverlauf grundsätzlich den geringsten Rechtfertigungsanforderungen unterliegt. Zwischen einer Modellvariante mit abweichend hoch verlaufenden Grenzsteuertarifen oder einer solchen mit unterschiedlich hohen Grundfreibeträgen lässt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht kein signifikanter Unterschied feststellen.
II. Zulässigkeit der Besteuerung ausgewählter exogener Charakteristika Für die gleichheitsrechtliche Beurteilung der Besteuerung exogener Merkmale im Einkommensteuerrecht ist darüber hinaus von Relevanz, anhand welcher konkreten Merkmale differenziert wird. Zu beachten sind neben dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG auch die speziellen Gleichheitsrechte. Sofern diese einen Gleichheitsverstoß abschließend regeln, bleibt für eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG kein Raum mehr.310 Dies gilt allerdings nur im Hinblick auf die in den besonderen Gleichheitssätzen explizit genannten Differenzierungskriterien; soweit es auch um andere Vergleichsfälle geht, ist eine Anwendung des allgemeinen Gleichheits satzes auf denselben Sachverhalt gleichwohl möglich.311 Im Rahmen der folgenden gleichheitsrechtlichen Prüfung ist daher, wenn durch die Differenzierung anhand eines exogenen Merkmals ein besonderes Gleichheitsrecht betroffen ist, die Verletzung dieses Rechts in Bezug auf das jeweilige Merkmal vorrangig zu prüfen. 1. Rechtlich relevante Ungleichbehandlung In der Berücksichtigung exogener Charakteristika bei der Bemessung der Steuerschuld liegt eine unterschiedliche Behandlung der jeweiligen Personengruppen. Es finden je nach exogenem Merkmal, anhand dessen unterschieden wird, entweder der allgemeine Gleichheitssatz oder spezielle Gleichheitssätze, also unterschiedliche Regelungen und Maßstäbe, Anwendung. Im Folgenden ist daher zunächst festzustellen, welche Gleichheitssätze jeweils einschlägig sind.
310
BVerfGE 6, 55 (71, 82); 9, 237 (248, 249); 13, 290 (296); 16, 203 (208); 59, 128 (156). Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 78, mit Verweis auf: BVerfGE 78, 38 (53); 109, 96 (123 f.). 311
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
123
a) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG In Art. 3 Abs. 2 GG sowie in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau geregelt. Wie sich unzweifelhaft aus dem Wortlaut ergibt, sind vom persönlichen Schutzbereich sowohl Frauen als auch Männer erfasst, wenngleich die Norm nach der Entstehungsgeschichte vornehmlich auf den Schutz von Frauen vor Diskriminierung abzielt.312 aa) Dogmatische Grundfragen Art. 3 Abs. 2 GG gilt unter allen Gleichheitssätzen als die politisch und juristisch umstrittenste Regelung.313 Bereits in der Vergangenheit wurde der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in Art. 3 Abs. 2 GG ein über den Regelungsgehalt des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG hinausgehendes Gleichberechtigungsgebot entnommen, welches sich durch Abzielung auf die Angleichung der Lebensverhältnisse auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstrecken sollte.314 Diese Verfassungsaussage sollte nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die an Geschlechtsmerkmale Vor- und Nachteile anknüpfen, sondern vielmehr für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen.315 Frauen sollten die gleichen Erwerbschancen gewährt werden wie Männern.316 Überkommene Rollenverteilungen, durch die Frauen verstärkt belastet oder sonst benachteiligt werden, dürfen nicht durch staatliche Maßnahmen vertieft werden.317 Zudem dürfen faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden.318 Die Diskussion, ob das Gleichberechtigungsgebot tatsächlich in diesem Sinne erweiternd ausgelegt werden kann, gilt nach Einfügung des Satzes 2 als überholt.319 Letzterer bestätigt die Rechtsprechung und stellt ausdrücklich klar, dass Art. 3
312
BVerfGE 31, 1 (4); 113, 1 (15); BVerwGE 40, 17 (24); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 102; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 107. 313 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 98. 314 BVerfGE 85, 191 (207); Friauf, Gleichberechtigung der Frau als Verfassungsauftrag, S. 26 ff. („wesentliche sozialstaatliche Dimension“); Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 121 S. 1626. 315 BVerfGE 15, 337 (345); 48, 327 (339 f.); 57, 335 (345 f.); 85, 191 (207). 316 BVerfGE 6, 55 (82); 85, 191 (207). 317 BVerfGE 15, 337 (345); 57, 335 (344); 85, 191 (207). 318 BVerfGE 74, 163 (180); 85, 191 (207). 319 BT-Drs. 12/6000, S. 49 ff.; ausführlich hierzu: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 306; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 263.
124
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Abs. 2 GG einen solchen Verfassungsauftrag zur Gleichstellung normiert.320 Dabei wird dieser Aussagegehalt nach wie vor direkt der Formulierung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG entnommen, sodass dem Satz 2 eine allein klarstellende Funktion zukommt.321 Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird in Art. 3 Abs. 2 GG positiv und in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG negativ statuiert.322 Beide Regelungen enthalten ein inhaltsgleiches Diskriminierungsverbot, wonach keiner „wegen seines Geschlechts“ benachteiligt oder bevorzugt werden darf.323 Diese inhaltliche Überschneidung lässt sich aus der Entstehungsgeschichte heraus erklären.324 Art. 3 Abs. 2 GG sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG haben ein strenges Differenzierungsverbot zum Inhalt.325 Dies bedeutet, dass Ungleichbehandlungen von Männern und Frauen grundsätzlich unzulässig sind, es sei denn, es können besondere Gründe dafür vorgebracht werden.326 Im Hinblick auf die Frage, ob eine Regelung eine unrechte Benachteiligung aufgrund des Geschlechts bewirkt, enthält Art. 3 Abs. 2 GG im Vergleich zu Art. 3 Abs. 3 GG keine weitergehenden oder spezielleren Anforderungen.327 320 BVerfGE 92, 91 (109); 104, 373 (393); 109, 64 (89); 113, 1 (15); Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 102; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 311; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 262. 321 BVerfGE 92, 91 (109); 104, 373 (393); 109, 64 (89); 113, 1 (15); BT-Drs. 12/6000, S. 49 f.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 183; Ebsen, in: Benda / Mai hofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 8 Rn. 30; a. A.: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 309 ff.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 115, 162 und Ossen bühl, NJW 2012, 417 (418), die allein Satz 2 den Förderauftrag entnehmen. 322 BVerfGE 6, 389 (420). 323 BVerfGE 39, 169 (185); 43, 213 (225); 74, 163 (179); Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 16, 27; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 162; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 82; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 305; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 121 S. 1624 ff.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 183; Hergenröder, in: Henssler / Willemsen / Kalb, Arbeitsrecht, Kommentar, Art. 3 GG Rn. 64; a. A.: Ramm, JZ 1968, 41 (43); Sacksofsky, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, Art. 3 II, III 1 Rn. 332; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 103: Art. 3 Abs. 2 GG als „individualrechtliches Dominierungsverbot“; Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, S. 77 ff.; Slupik, JR 1990, 317 (320); Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 24. 324 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 305; hierzu auch: Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, S. 77. 325 BVerfGE 3, 225 (239 f.); 21, 329 (343 f.); 39, 169 (186); 48, 346 (365 f.); 52, 369 (374). 326 BVerfGE 52, 369 (374); 68, 384 (390); 85, 191 (206); Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 25 ff.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 304; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 108. 327 BVerfGE 85, 191 (193).
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
125
Der soeben dargestellte inhaltliche Gleichlauf beider Absätze wirft bei Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts die Frage nach dem Verhältnis beider Regelungen zueinander auf. Der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich in diesem Zusammenhang keine klare Linie entnehmen: Zuweilen stellt es allein auf Abs. 2328 oder auf Abs. 3 Satz 1329 als Prüfungsmaßstab ab, in anderen Fällen330 zitiert es wiederum beide Absätze nebeneinander. Aus jüngeren Entscheidungen leitet die Literatur zum Teil eine Tendenz des BVerfG ab, Absatz 2 auf mittelbare331 und Absatz 3 auf unmittelbare Diskriminierungen332 anzuwenden.333 Aufgrund des Regelungsgehalts des Art. 3 Abs. 2 GG als Instrument zur Angleichung der Lebensverhältnisse erscheint es naheliegend, mittelbare Ungleichbehandlungen, also Fälle, in denen eine „geschlechtsneutral formulierte Regelung überwiegend Personengruppen betrifft, die durch das Vorliegen des Merkmales, insbesondere eines Geschlechts, bestimmt sind“,334 nicht unter Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, sondern allein unter Art. 3 Abs. 2 GG zu fassen.335 Eine solche Auffassung steht auch im Einklang mit der Interpretation der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Anknüpfungsverbote.336 Art. 3 Abs. 2 GG darüber hinaus vollumfänglich als Verbot unmittelbarer Diskriminierungen zu verstehen, ist nach Einfügung des Satzes 2 dagegen als überholt anzusehen. Es erscheint vielmehr sinnvoll, in diesem Zusammenhang den Satz 2 auszuklammern.337 Es ist darüber hinaus kein überzeugender Grund ersichtlich, weshalb Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht zusätzlich zu Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG auf unmittelbare rechtliche Ungleichbehandlungen anwendbar sein, sondern dahinter zurücktreten sollte, zumal Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG, wie soeben dargestellt, ein zu Abs. 3 Satz 1 inhaltsgleiches Differenzierungsverbot normiert.338 Demnach ist 328
BVerfGE 3, 225 (240); 43, 213 (225); 52, 369 (374); 74, 163 (179). BVerfGE 97, 35 (43); 104, 373 (393); 121, 241 (253). 330 BVerfGE 6, 389 (420); 21, 329 (343); 39, 169 (186); 48, 346 (365 f.). 331 BVerfGE 109, 64 (89); 113, 1 (15); 126, 29 (53); anders dagegen in: BVerfGE 97, 35 (43); 104, 373 (393); 121, 241 (254 f.). 332 BVerfGE 85, 191 (207); 87, 1 (42); 92, 91 (109); 114, 357 (370 f.). 333 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 259 f. 334 BVerfGE 121, 241 (253). 335 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 28 ff.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 163; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 104; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 260. 336 Siehe hierzu im Folgenden ausführlich unter: Teil 2 A. II. 1. b) aa); zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Hinblick auf Differenzierungen wegen des Geschlechts siehe: BVerfGE 3, 225 (240 f.); 5, 9 (12); 6, 389 (422); 15, 337 (343); 26, 265 (277); 52, 369 (374); 85, 191 (206); 97, 35 (43); 97, 186 (197); 104, 373 (393); 114, 357 (364); 121, 241 (254 f.). 337 So auch: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 309 ff. 338 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 16, 27, Abs. 3 Rn. 102; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 183; Boysen, 329
126
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als „einheitliches Abwehrrecht“ zu verstehen.339 Dieses ist streng auszulegen und lässt nur unter engen Kriterien Ausnahmen zu.340 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall Es stellt sich die Frage, inwiefern in der Anknüpfung an bestimmte exogene Merkmale eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG liegt. (1) Geschlecht Nach dem geplanten Besteuerungskonzept sollen Männer prinzipiell einer höheren Besteuerung unterliegen als Frauen. In dieser Differenzierung liegt eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts. Diese verstößt gegen das besondere Differenzierungsverbot nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. (2) Anknüpfung an die Körpergröße als mittelbare Diskriminierung? In der Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an die Körpergröße der Steuerpflichtigen könnten Männer mittelbar wegen ihres Geschlechts benachteiligt werden. Wie bereits gezeigt, sind mittelbare Diskriminierungen nach dem Geschlecht von Art. 3 Abs. 2 GG geschützt.341 Männer weisen im Durchschnitt eine deutlich höhere Körpergröße auf als Frauen, wie nachfolgende Tabelle für das Jahr 2013 zeigt:
in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 162.; a. A.: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 306 in Verbindung mit Rn. 305, für den Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG allein eine klarstellende Funktion für Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG hat. 339 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 121 S. 1624; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 305; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 162. 340 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 304; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 259; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 162; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 108, dessen Formulierung als „absolutes Differenzierungsverbot“ vor diesem Hintergrund allerdings irreführend erscheint; zu den Ausnahmen im Einzelnen siehe im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. a) cc) (1). 341 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. a) aa).
127
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
Alter von … bis unter … Jahren
Körpergröße (in m) Frauen
Männer
Insgesamt
18 bis 20
1,68
1,81
1,75
20 bis 25
1,68
1,81
1,75
25 bis 30
1,67
1,81
1,74
30 bis 35
1,67
1,80
1,74
35 bis 40
1,67
1,80
1,74
40 bis 45
1,67
1,80
1,74
45 bis 50
1,67
1,80
1,74
50 bis 55
1,66
1,79
1,73
55 bis 60
1,65
1,78
1,72
60 bis 65
1,64
1,77
1,70
65 bis 70
1,64
1,76
1,70
70 bis 75
1,64
1,75
1,69
75 und mehr
1,62
1,73
1,67
Insgesamt
1,65
1,78
1,72
Abbildung 24:342 Durchschnittliche Körpergröße Frauen und Männer in Deutschland
Sofern eine Regelung eine Mindestgröße vorsieht, werden von der Rechtsfolge prozentual mehr Männer erfasst, was zu einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts führt.343 Durch eine steuerliche Begünstigung kleinerer Personen würden damit typischerweise Männer benachteiligt, was zu einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts führt. Der natürliche Größenunterschied zwischen Männern und Frauen wird bereits in der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Geschlecht automatisch mitberücksichtigt. Durch die Anknüpfung an die Körpergröße ohne Rücksicht hierauf würde die daraus resultierende verminderte Erwerbsfähigkeit somit in zwei Differenzierungsvarianten erfasst werden. Um diesbezügliche Überschneidungen zu vermeiden, müssen demnach die geschlechtsspezifischen Größenunterschiede und deren Auswirkungen auf das Erwerbspotenzial bei der Differenzierung nach der Körpergröße außer Betracht bleiben.
342
Statistisches Bundesamt, Körpermaße nach Altersgruppen und Geschlecht (2013), abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Gesundheits zustandRelevantesVerhalten/Tabellen/Koerpermasse.html (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017). 343 Eine mittelbare Beeinträchtigung im Sinne des AGG sehen darin beispielsweise: VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 10. 2007 – 2 K 2070/07 Rn. 41 f. (juris); LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 29. 04. 2016 – 19 Sa 45/15 Rn. 37 (juris); ArbG Köln, Urteil v. 28. 11. 2013 – 15 Ca 3879/13 Rn. 37 ff. (juris).
128
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Allerdings gibt es nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb des jeweiligen Geschlechts Größenunterschiede, die durch eine unterschiedliche Besteuerung von Männern und Frauen gerade nicht erfasst werden. Für deren Kompensation soll die Größe einer Person stets nur im Vergleich zu der Durchschnittsgröße innerhalb ihres Geschlechts bewertet werden. Unter Ausblendung der Auswirkungen der übrigen exogenen Merkmale schuldet danach eine Frau, deren Körpergröße genau dem Durchschnitt entspricht, dieselbe Steuerschuld wie ein durchschnittlich großer Mann mit gleichem Einkommen, obgleich sie tatsächlich kleiner als dieser ist. Die Festlegung höherer Größenwerte für Männer stellen vielmehr einen „Vorteilsausgleich“ dar, der den natürlichen Größenunterschieden der Geschlechter sowie Art. 3 Abs. 2 GG Rechnung trägt.344 Durch eine solche Vorgehensweise kann verhindert werden, dass durch die Einführung einer körpergrößenabhängigen Einkommensteuerhöhe Frauen im Ergebnis besser stehen als Männer, sodass in diesem Fall keine mittelbare Diskriminierung von Männern anzunehmen ist. cc) Zwischenfazit In der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Geschlecht liegt eine unmittelbare Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. In der Anknüpfung an die Körpergröße als Differenzierungsmerkmal ist dagegen keine mittelbare Ungleichbehandlung nach dem Geschlecht zu sehen. b) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Des Weiteren könnte eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vorliegen. aa) Dogmatische Grundfragen Der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbietet die Benachteiligung oder Bevorzugung eines Menschen „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen“.
344
In diesem Sinne zur Festlegung unterschiedlicher Mindestkörpergrößen für Beamtenbewerber zum Polizeivollzugsdienst: VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14. 03. 2016 – 1 K 3788/14 Rn. 54 (juris); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 27. 01. 2017 – OVG 4 S 48.16 Rn. 13 (juris).
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
129
Die speziellen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisten ebenso wie Art. 3 Abs. 1 GG subjektive Abwehrrechte.345 Sie werden von überwiegenden Teilen der Literatur346 und der Rechtsprechung des BVerfG347 als „Anknüpfungsverbote“ verstanden. Nach diesem Verständnis liegt dann ein Gleichheitsverstoß vor, wenn an eines der in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufgeführten Merkmale unabhängig von den vorgebrachten Motiven oder Zwecken angeknüpft wird.348 Die Formulierung „wegen“ soll auf das Erfordernis einer Anknüpfung an eines dieser Merkmale hinweisen.349 Eine andere Auffassung in der Literatur versteht die Diskriminierungsverbote als „Begründungsverbote“.350 Danach liegt kein Gleichheitsverstoß im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vor, wenn eine Ungleichbehandlung nicht mit den verpönten Merkmalen selbst, sondern mit anderen Argumenten begründet wird.351 Dies wird aus dem Wortlaut („wegen“) abgeleitet, wonach die Merkmale ursächlich für die Differenzierung sein sollen („Kausalität“).352 Auch der früheren Rechtsprechung des BVerfG lässt sich zum Teil eine solche Interpretation der Diskriminierungsverbote entnehmen.353 An einem solchen Verständnis wird kritisiert, dass so der Schutzzweck der Diskriminierungsverbote viel zu leicht umgangen werden könnte; so wäre es dem Gesetzgeber anheimgestellt, trotz Differenzierung nach den in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmalen durch vorgeschobene Gründe eine Ungleichbe-
345
Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 14. Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 259; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 131; Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 421 ff.; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 69, 73; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 122 S. 1755 ff.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 131; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 212; Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 6; Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 164; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 446; kritisch hierzu: Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 433. 347 BVerfGE 75, 40 (69); 85, 191 (206); 89, 276 (288 f.); 96, 288 (302); 97, 35 (43); 102, 41 (53 f.); 107, 257 (269); 121, 241 (254). 348 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, S. 428 ff.; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 73. 349 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 126. 350 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 369. 351 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 369, 379. 352 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 369, 379; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 128. 353 BVerfGE 2, 266 (286); 3, 225 (241). 346
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
handlung nach dieser Vorschrift auszuschließen.354 Dieser Kritik halten Vertreter des Begründungsverbotes wiederum entgegen, dass dies durch eine genaue Nachprüfung der Ungleichbehandlungen dahingehend, ob eine Begründung nur als Vorwand vorgeschoben wird, verhindert werden könne.355 Hierdurch gehe es sogar weiter als das rein „formale“ Anknüpfungsverbot, welches solche Fälle der „verdeckten“ oder „mittelbaren“ Diskriminierung356 nicht erfasse. Der Rechtsprechung des BVerfG kann, wie bereits erwähnt, mittlerweile die Tendenz zur Einordnung als Anknüpfungsverbote entnommen werden.357 Auch in der Literatur wird das Verständnis der Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote vielfach mit dem Argument kritisiert, dass ein solches zu einer unselbstän digen negativen Formulierung des allgemeinen Gleichheitssatzes führe.358 Die Möglichkeit des Ausschließens mancher Anknüpfungen an verpönte Merkmale aus dem Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG hätte zur Folge, dass die Warnfunktion des Tatbestandes entfallen würde.359 Zur Gewährleistung der „Effektivität des Schutzzweckes der Norm“ müsse der Tatbestand möglichst frei von Relativierungsmöglichkeiten gehalten und gleichzeitig jedoch eine gewisse Flexibilität des Gesetzgebers ermöglicht werden.360 Es ist damit mit der herrschenden Auffassung von einem Charakter dieser Vorschrift als Anknüpfungsverbot auszugehen. Wie bereits weiter oben gezeigt, ist die begriffliche Einordnung der Diskriminierungsverbote für die Frage von Bedeutung, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch vor mittelbaren Diskriminierungen schützt. Bei einer Qualifizierung als Anknüpfungsverbote ist dies abzulehnen, da mittelbare Diskriminierungen gerade nicht an ein verpöntes Merkmal im Sinne dieser Vorschrift anknüpfen und damit bereits
354
Nußberger, in Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 252; Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 6; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 23. 355 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125. 356 Die Unterscheidung zwischen „verdeckten“ und „mittelbaren“ Diskriminierungen, überzeugt hingegen nicht; so aber beispielsweise bei: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 145; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 124. 357 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 129; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 212; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 25 jeweils mit Nachweisen zur Rechtsprechung (siehe zu dieser bereits unter Fn. 347). 358 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 131. 359 Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 6. 360 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 25; nicht als vom Diskriminierungsverbot erfasst werden jedoch zum Teil solche Maßnahmen angesehen, die Teil einer generellen Förderpolitik sind (wie beispielsweise Minderheitenschulen), hierzu beispielsweise: Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 30; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 136; Faisst, Minderheitenschutz im Grundgesetz und in den Landesverfassungen, S. 124 f.
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begrifflich nicht von diesen Diskriminierungsverboten erfasst sind.361 Nach den Befürwortern dieser Auffassung besteht hierfür auch keine Notwendigkeit, da in solchen Fällen auf Art. 3 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden könne, welchem entsprechend strengere Maßstäbe zugrunde gelegt würden.362 Dagegen erscheint die Herleitung eines Verbots der mittelbaren Diskriminierung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bei gleichzeitiger Interpretation dieser Vorschrift als Anknüpfungsverbot durch das BVerfG363 widersprüchlich.364 In der Literatur gibt es daher inzwischen Bestrebungen dahingehend, den Schutzumfang dieser Vorschrift auch auf mittelbare Diskriminierungen zu erstrecken.365 Diese Ansicht verkennt allerdings, dass das BVerfG einen Schutz (auch) vor mittelbaren Diskriminierungen bislang nur im Hinblick auf das Geschlecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG abgeleitet hat.366 Hinzu kommt, dass das BVerfG in seinen jüngeren Entscheidungen häufig bei mittelbaren Diskriminierungen allein Art. 3 Abs. 2 GG heranzieht.367 Art. 3 Abs. 2 GG enthält gerade im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht, ebenso wie Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in Bezug auf das Merkmal Behinderung, besondere Anhaltspunkte im Text für ein mittelbar-faktisches Diskriminierungsverbot.368 Folglich geht die generelle Erstreckung der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch auf mittelbare Ungleichbehandlungen zu weit. Im Hinblick auf die Rechtfertigung entsprechen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG anderen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, 361
Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 479 ff.; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 37; hierzu auch: Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 433. 362 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 483 f.; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 122 S. 1759; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 95 f.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 215; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 145; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 38; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125; Rüfner, in: Wendt / Höfling / Karpen / Oldiges, Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, S. 331 (331 ff.); Sacksofsky, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, Art. 3 II, III 1 Rn. 315. 363 BVerfGE 97, 35 (43 f.); 104, 373 (393); 121, 241 (254 ff.); anders noch bei: BVerfGE 64, 135 (156 f.). 364 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 37. 365 So etwa: Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 255 f.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 137; ebenfalls für eine Anwendbarkeit auf mittelbare Diskriminierungen: Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 15 mit dem Argument, dass ansonsten „die spezifische Warnfunktion der besonderen Diskriminierungsverbote“ verloren ginge. 366 Dies erkennen zutreffend: Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 37; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 215. 367 BVerfGE 109, 64 (89 f.); 113, 1 (15 f.); 126, 29 (53). 368 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 38.
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sodass die Zulässigkeit der Ungleichbehandlungen nach Maßgabe verfassungsimmanenter Grenzen im Rahmen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Norm zu bestimmen ist.369 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall Für eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG müsste durch die geplanten Modelle eine Differenzierung anhand eines oder mehrerer in dieser Vorschrift aufgezählten Merkmale, also eine Unterscheidung anhand von Geschlecht,370 Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaube sowie religiösen und politischen Anschauungen, erfolgen. (1) Migrationshintergrund Die Anknüpfung der Höhe der Einkommensteuer an das Merkmal „Migrationshintergrund“ könnte eine Differenzierung nach den Merkmalen „Abstammung, Heimat und Herkunft“ der Steuerpflichtigen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG implizieren. Diese drei Merkmale überschneiden und ergänzen sich gegenseitig. Das Merkmal „Abstammung“ umfasst „die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“.371 Zu beachten ist, dass der Begriff nicht nur auf die biologische Abstammung beschränkt ist, sondern umfassend an Eigenschaften der Eltern anknüpft.372 Es wird vornehmlich die Verhinderung von Sippenhaft und Vetternwirtschaft bezweckt.373 In Abgrenzung hierzu beinhaltet das Merkmal „Heimat“ eine örtliche und das Merkmal „Herkunft“ eine schichtenspezifische Komponente.374 „Heimat“ bezieht sich auf Geburt oder Ansässigkeit einer Person im Sinne der emotionalen Beziehung375 zu einem geografisch eingegrenzten, den Einzelnen mit 369
Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 254; Sachs, in: Stern, das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 122 S. 1762. 370 Bezüglich dieses Merkmals siehe bereits unter: Teil 2 A. II. 1. a). 371 BVerfGE 9, 124 (128 f.). 372 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 128; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 175. 373 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 225; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 43; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 128; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 43. 374 BVerfGE 5, 17 (22); Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 43. 375 Gegen den Zusatz der „emotionalen Bindung“: abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, in: BVerfGE 102, 41 (63 ff.); dem zustimmend: Nuß-
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prägenden Raum und bezweckt der Entstehungsgeschichte nach insbesondere den Schutz von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg.376 Von Bedeutung ist in diesem Kontext, dass eine bestimmte Umgebung auf eine Person persönlichkeits- beziehungsweise identitätsprägende Wirkung während Kindheit und Jugend entfaltet.377 Von dem Begriff der Heimat ist nicht die Staatsangehörigkeit einer Person erfasst.378 Wegen seiner Bezugnahme auf die örtliche Herkunft379 schließt er Differenzierungen nach dem Wohnsitz und nach dem gewöhnlichen Aufenthalt nicht aus.380 Unter „Herkunft“ versteht man die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung und gerade nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, die in den eigenen Lebensumständen begründet ist.381 Herkunft kann hingegen einer von vielen Faktoren sein, der die gegenwärtige Einkommens- und Vermögenslage beeinflusst.382 Sie wird als „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ definiert.383 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund dieses Merkmals zielt auf die Durchlässigkeit der Gesellschaft und damit auf die Sicherung von Chancengleichheit ab.384 Untersagt werden Diskriminierungen der Kinder aus privilegierten sowie aus nicht privilegierten Schichten.385 Die Staatsangehörigkeit wird von keinem der Anknüpfungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erfasst.386 Im Rahmen der vorliegenden Analyse wurde das Charakteristikum „Migrationshintergrund“ so definiert, dass entweder der Steuerpflichtige selbst oder dessen Eltern nicht in Deutschland geboren sind.387 Es gilt festzustellen, ob diese
berger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 295; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 180. 376 BVerfGE 102, 41 (64 f.); 107, 257 (269). 377 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 295; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 46; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 142; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 57; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 394. 378 BVerfGE 90, 27 (37); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 297; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 131; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 58. 379 BVerfGE 5, 17 (22). 380 BVerfGE 48, 281 (287 f.). 381 BVerfGE 9, 124 (129). 382 Zum Ganzen: BVerfGE 9, 124 (129). 383 BVerfGE 5, 17 (22); 48, 281 (287 f.). 384 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 60. 385 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 132. 386 BVerfGE 51, 1 (30); Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 58; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 225 f.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 131. 387 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. IV. 2. a).
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Eigenschaften sich den Merkmalen „Abstammung“, „Heimat“ oder „Herkunft“ zuordnen lassen. Da Herkunft allein die Abstammung dem sozialen Stand nach erfasst, fallen Migranten und Zuwanderer nicht ohne Weiteres hierunter.388 Bei dem Verbot der Diskriminierung nach der „Herkunft“ geht es um die Angleichung der Schichten und gerade nicht darum, wo eine Person oder deren Eltern geboren sind. In den Anwendungsbereich des Begriffs „Heimat“ fallen zwar zweifelsohne Zuwanderer der ersten Generation. Die nächste, in Deutschland geborene Generation würde hingegen nicht mehr erfasst sein. Demnach würde es zu weit gehen, die Eigenschaft als „Migrant“ unter das Merkmal „Heimat“ zu fassen.389 Umgekehrt gestaltet sich die Betrachtung des Merkmals „Abstammung“. Dieses knüpft gerade an die Eigenschaften der Eltern einer Person an. Gemeinsam mit den Merkmalen „Rasse“ und „Sprache“ bezweckt es auch einen verfassungsrechtlichen Schutz ethnischer Minderheiten.390 Die Frage, wo jemand geboren ist, hat zweifelsohne den von „Heimat“ geforderten örtlichen Bezug. Indem man an einem bestimmten Ort einen Teil seines Lebens, insbesondere seine Kindheit und Jugend verbringt, manifestiert sich bei einer Person eine gewisse emotionale Beziehung zu diesem, die für ihre Persönlichkeits- und Identitätsprägung maßgeblich ist. Liegt diese Situation bei den Eltern vor, so würde das Merkmal „Abstammung“ den Bezug einer Person zu diesen herstellen. Das Merkmal „Migrationshintergrund“ lässt sich damit als „Zusammenschau“ von Abstammung und Heimat verstehen.391 „Heimat“ bringt den örtlichen Bezug zum Ausdruck, „Abstammung“ dagegen die Beziehung zu den Vorfahren, wenn diese im Ausland geboren sind. Bei den geplanten Besteuerungskonzepten besteht die Besonderheit, dass Personen mit Migrationshintergrund gerade steuerlich begünstigt, also nicht benachteiligt werden. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG besagt allerdings explizit, dass niemand aufgrund der genannten Merkmale benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Die steuerliche Bevorzugung von Personen mit Migrationshintergrund bewirkt zugleich eine Benachteiligung derer, bei denen dieses Kriterium nicht erfüllt ist, die also ebenso wie ihre Eltern in Deutschland geboren sind. Diese werden somit durch das „Tagging“-Konzept aufgrund ihrer Heimat und Abstammung diskriminiert. Mithin liegt durch die Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Merkmal „Migrationshintergrund“ eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vor. 388
Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 227. Zum Ganzen: Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 226. 390 Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 24, 53. 391 Ziekow, DÖV 2014, 765 (767). 389
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(2) Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern Des Weiteren machen die Einkommensteuermodelle die Höhe der Einkommensteuer von Einkommen sowie Bildungsabschluss der Eltern der Steuerpflichtigen abhängig. Hierin könnte ebenfalls eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen der Merkmale „Abstammung“, „Heimat“ und „Herkunft“ liegen. Obgleich sich aus dem Ansässigkeitsort während Kindheit und Jugend, also der „Heimat“ des Steuerpflichtigen, in gewisser Weise Rückschlüsse auf den Bildungsabschluss und Einkommen von dessen Eltern ziehen lassen, so ist eine solche Abhängigkeit keinesfalls zwingend. Ein örtlicher Bezug, wie ihn beispielsweise das Merkmal des Migrationshintergrundes aufweist, liegt hier gerade nicht vor. Bildungsabschluss und Einkommen der Eltern werden damit unabhängig von der Heimat der Steuerpflichtigen als Unterscheidungsmerkmal erfasst. Das Verbot der Diskriminierung wegen der „Heimat“ erfasst solche Differenzierungen, die gezielt an Geburts- oder Ansässigkeitsort und nicht an mögliche Folgeeigenschaften anknüpfen. Selbst wenn man so weit gehen, und in der Anknüpfung der Einkommensteuer an Einkommen oder Bildungsabschluss der Eltern eine mittelbare Diskriminierung wegen der Heimat sehen würde, so würde eine Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG jedenfalls daran scheitern, dass diese Vorschrift nur unmittelbare Diskriminierungen erfasst.392 Demnach ist eine Ungleichbehandlung wegen der Heimat vorliegend nicht einschlägig. Es könnte jedoch eine Differenzierung anhand der „Abstammung“ oder der „Herkunft“ vorliegen. Beide Merkmale beziehen sich auf Eigenschaften der Eltern, was eine Abgrenzung beider Begriffe zunächst schwierig erscheinen lässt. Zudem wohnt sowohl der „Herkunft“ als auch der „Abstammung“ die Eigenschaft inne, dass sie zwar in die Gegenwart hineinwirken, jedoch unabhängig von der gegenwärtigen Lage einer Person sind.393 Jedoch weist „Herkunft“ einen „sozialen, sozial-ökonomischen, ständischen“ Bezug auf, während sich „Abstammung“ auf die „natürlich-biologische“ Herkunft beschränkt.394 Dies bedeutet, dass in Fällen, in denen die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung betroffen ist, nicht das Merkmal der „Abstammung“, sondern das der „Herkunft“ unmittelbar einschlägig ist.395 Beruf sowie sozialer Stand der Eltern dürfen etwa nicht ausschlaggebend für Ausbildungs- oder Berufsmöglichkeiten der Abkömmlinge sein. So ist es verbo 392
Zum Ausschluss mittelbarer Diskriminierungen aus dem Anwendungsbereich siehe bereits unter: Teil 2 A. II. 1. b) aa). 393 BVerfGE 9, 124 (129). 394 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 401; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 128, 132; Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 514, 544; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 43, 57. 395 BVerfGE 9, 124 (129); Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 401.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
ten, Akademikerkinder beim Zugang zum Beruf zu bevorzugen. Umgekehrt dürfen jedoch Arbeiterkinder ebenfalls nicht bevorzugt behandelt werden, da Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht nur die Benachteiligung von Personen verbietet, die von ihren Vorfahren eine schwache soziale Verwurzelung ableiten, sondern auch umgekehrt die von Personen aus privilegiertem Elternhaus.396 Der Bildungsabschluss der Eltern ist ein Merkmal, das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht zum Ausdruck bringt. Werden Steuerpflichtige, deren Eltern einen hohen Bildungsabschluss aufweisen, durch eine Regelung einer höheren Einkommensteuer unterworfen als Arbeiterkinder, so werden sie hierdurch benachteiligt. In der Anknüpfung der Steuermodelle an den Bildungsabschluss der Eltern liegt somit eine unmittelbare Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Das Einkommen der Eltern spielt ebenfalls eine Rolle für die soziale Herkunft. So hat die Einkommenshöhe der Eltern ebenfalls wie deren Bildungsabschluss Auswirkungen auf die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Schicht. Durch die Differenzierung anhand dieses Kriteriums wird nicht an die gegenwärtige soziale Lage des Steuerpflichtigen angeknüpft, sondern an ein Kriterium, das in die Gegenwart hineinwirken kann. Daraus ergibt sich, dass die höhere Einkommensbesteuerung von Personen, deren Eltern ein überdurchschnittlich hohes Einkommen erzielen, ebenfalls eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Herkunft nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt. cc) Zwischenfazit Durch die Anknüpfung der Steuermodelle an das Merkmal Migrationshintergrund für die Bemessung der Einkommensteuerhöhe erfolgt eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen Heimat und Abstammung. Die Differenzierung der Einkommensteuerhöhe nach den Merkmalen Bildungsabschluss der Eltern sowie Einkommen der Eltern stellt eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen der Herkunft der Steuerpflichtigen dar. c) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Durch die Anknüpfung an das Merkmal „Behinderung“ könnte eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gegeben sein.
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Zum Ganzen: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 401.
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aa) Dogmatische Grundfragen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthält ein Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung. Diese Regelung bezweckt „die Stärkung der Stellung behinderter Personen in Recht und Gesellschaft“.397 Es handelt sich hierbei in erster Linie um ein subjektives Abwehrrecht, das die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung verbietet.398 Darüber hinaus werden mittelbare Diskriminierungen weitgehend als von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasst angesehen.399 Des Weiteren hat die Regelung objektiv-rechtliche Schutzfunktionen, die Ausstrahlungswirkung auf das Privatrecht entfalten.400 Im Gegensatz zu den Diskriminierungsverboten des Satzes 1 enthält der Wortlaut in Satz 2 kein Verbot der Bevorzugung wegen des Merkmals Behinderung.401 Das BVerfG geht von einem weiten Begriff der Benachteiligung aus; so kann eine solche auch in einem „Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt“ liegen.402 Benachteiligungen wegen einer Behinderung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung zwingender Gründe.403 Es bedarf einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne von verfassungs- sowie verbotsimmanenter Grenzen.404 Dies ist gemäß einer umfassenden Würdigung im Einzelfall zu ermitteln, die regelmäßig von
397
BT-Drs. 12/1865, S. 29. Uerpmann-Wittzack, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 128 Rn. 64; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417. 399 BVerfGE 96, 288 (312 f.); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 311; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 165: „indirekte“ Ungleichbehandlungen; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommen tar, Bd. I, Art. 3 Rn. 138; Buch, Das Grundrecht der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), S. 130 ff.; zweifelnd: Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 235; zur Anwendbarkeit von Satz 1 GG auf mittelbare Diskriminierungen siehe bereits unter: Teil 2 A. II. 1. b) aa). 400 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 139; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 307; siehe hierzu auch: BT-Drs. 12/6000, S. 52 ff.; 12/6323, S. 11 f.; 12/8165, S. 28 f.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 197. 401 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 135; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 160; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 312. 402 BVerfGE 96, 288 (303); hierzu auch: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 198 f.; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 313. 403 BVerfGE 99, 341 (357); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 169; Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 568; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 314. 404 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 314. 398
138
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
„Wertungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie prognostischen Einschätzungen“ abhängt.405 bb) Benachteiligung im vorliegenden Fall Die „Tagging“-Einkommensteuermodelle knüpfen für die Bemessung der Höhe der Einkommensteuer unter anderem an das Merkmal „Behinderung“ sowie „Alter“ an, worin eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegen könnte. (1) Behinderung Menschen gelten gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX dann als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Nach § 3 Behindertengleichstellungsgesetz sind Menschen mit Behinderung im Sinne dieses Gesetzes „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Als langfristig gilt ein Zeitraum, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert.“ Diese Definitionen lassen einen dreiteiligen Behindertenbegriff erkennen: Zum einen muss eine regelwidrige Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes vorliegen. Weiterhin muss dieser Zustand langfristig, also mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vorliegen. Zudem ist Voraussetzung, dass die Funktionsbeeinträchtigung die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt.406 Obgleich der verfassungsrechtliche Behindertenbegriff des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht durch das einfache Recht festgelegt ist, orientiert er sich weitgehend daran.407 405
BVerfGE 96, 288 (303); hierzu: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 200. 406 Ausführlich: Neumann, NVwZ 2003, 897 (897 ff.). 407 BVerfGE 96, 288 (301), wo ausdrücklich auf den Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 1 des damaligen Schwerbehindertengesetzes verwiesen wird; 99, 341 (356 f.); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 309 ff.; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 121; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 122 S. 1769; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 136; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 418; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 164; Kingreen, in: Kahl / Walter / Waldhoff, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 565; Kischel, in: Epping / Hillgruber,
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
139
Auf die soeben beschriebene Personengruppe beziehen sich auch die Steuer modelle, welche die Höhe der Einkommensteuer nach dem Merkmal „Behinderung“ bemessen. Es erscheint hier daher auf den ersten Blick eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG naheliegend. Wie zuvor dargestellt, erfasst dieses spezielle Diskriminierungsverbot allerdings nur Fälle, in denen Personen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Im vorliegenden Fall werden Steuerpflichtige mit diesem Merkmal bei der Bemessung der Steuerschuld sogar begünstigt. Wenn Personen mit Behinderung gegenüber anderen Personen bevorzugt werden, werden Letztere zwar benachteiligt. Solche Ungleichbehandlungen sind jedoch nicht von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasst. Diese Regelung enthält sogar einen Verfassungsauftrag für ausgleichende Fördermaßnahmen, sodass eine Ungleichbehandlung zugunsten behinderter Personen in einem gewissen Umfang sogar von ihr gefordert wird. Mithin stellt die Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Merkmal „Behinderung“ keine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar. (2) Alter Darüber hinaus wird die Höhe der Einkommensteuer in Abhängigkeit von dem Alter des jeweiligen Steuerpflichtigen festgelegt. Gewisse Einschränkungen im körperlichen und geistigen Bereich können nicht nur infolge einer Behinderung im klassischen Sinne, sondern auch als Alterserscheinung auftreten. Es gilt zu prüfen, ob in einem Anstieg der Einkommensteuerhöhe mit dem Alter eine Ungleich behandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu sehen ist. Einschränkungen als Folge des Alters halten in den meisten Fällen länger als sechs Monate an und beeinträchtigen zudem die Teilhabe dieser Menschen an der Gesellschaft. Jedoch wird für das Vorliegen einer Behinderung darüber hinaus ein regelwidriger Zustand vorausgesetzt. Zum Teil wird vertreten, dass Beeinträchtigungen, die typischerweise bei allen alten Menschen, also „altersbedingt“ auftreten, keine Abweichung vom Normalzustand und damit keine Behinderung darstellen.408 Es handele sich hierbei um „regelgemäße Zustände“, sodass gerade keine Regelwidrigkeit vorliege.409
BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 233; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 86; Buch, Das Grundrecht der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), S. 67 f.; Neumann, NVwZ 2003, 897 (897). 408 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 136; Buch, Das Grundrecht der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), S. 66 f.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 233. 409 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 233.
140
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lassen sich jedoch keine Anhaltspunkte dahingehend entnehmen, dass Beeinträchtigungen infolge des Alterungsprozesses nicht von dem Begriff der Behinderung erfasst sein sollen.410 Zudem lassen sich alterstypische Einschränkungen häufig nicht eindeutig von altersuntypischen abgrenzen.411 Es spricht somit einiges dafür, altersbedingte Beeinträchtigungen nicht per se vom verfassungsrechtlichen Begriff der Behinderung auszuschließen.412 Wenn ihre Folgen so schwer wiegen, dass sie bei jüngeren Personen ebenfalls als Behinderung angesehen würden, so sind auch alterstypische Einschränkungen als Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu qualifizieren.413 Im vorliegenden Fall wird jedoch an das Alter selbst als Differenzierungsgrund angeknüpft, nicht an altersbedingte Beeinträchtigungen. Es stellt sich die Frage, ob bereits das Alter selbst als „Vorstufe“ der soeben beschriebenen Folgen unter den verfassungsrechtlichen Begriff der Behinderung fällt. Nicht bei allen alterstypischen Erscheinungen kann davon ausgegangen werden, dass diese zwingend jede Person treffen. So gibt es durchaus Personen, die auch im hohen Alter körperlich beziehungsweise geistig nicht derartigen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind.414 Obgleich manche altersbedingte Beeinträchtigungen als Behinderung angesehen werden können, fällt das Alter selbst nicht hierunter.415 Es stellt keine Abweichung vom Normalzustand, sondern vielmehr einen typischen Zustand dar, der ausnahmslos jeden Menschen trifft.416 Es wäre daher zu weit gegriffen, eine Differenzierung wegen des Alters als Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu qualifizieren. Folglich ist in der Differenzierung der Höhe der Einkommensteuer nach dem Alter ebenfalls keine unmittelbare Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu sehen.
410 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 309 ff.; Neumann, NVwZ 2003, 897 (898). 411 Neumann, NVwZ 2003, 897 (898). 412 Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 98; Neumann, NVwZ 2003, 897 (898); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 309 ff.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 194. 413 Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 98; a. A.: Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 47. 414 Neumann, NVwZ 2003, 897 (898). 415 Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 98; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 233. 416 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 233; siehe hierzu auch im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. a) cc) (4).
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
141
cc) Zwischenfazit Eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird folglich durch die „Tagging“-Steuermodelle nicht bewirkt. d) Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG Bei der Einführung der im Raum stehenden Regelungen muss im Weiteren der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG beachtet werden. Bei den Charakteristika „Geschlecht“, „Einkommen der Eltern“, „Bildungs abschluss der Eltern“ sowie „Migrationshintergrund“ sind bereits spezielle Gleichheitssätze einschlägig.417 Bei der rechtlichen Überprüfung der Steuermodelle ist der allgemeine Gleichheitssatz somit noch im Hinblick auf die Merkmale „Alter“, „Körpergröße“ und „Behinderung“ relevant. aa) Dogmatische Grundfragen Art. 3 Abs. 1 GG besagt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Es stellt ein subjektives Abwehrrecht gegen Rechtsverletzungen durch den Staat dar.418 In der rechtlichen Gleichheit kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass alle Menschen von Natur aus gleich und frei sind, es mithin keiner faktischen Gleichmachung dieser bedarf.419 Als Voraussetzung der Freiheit sollen durch die rechtliche Gleichheit künstliche Unterscheidungen abgeschafft werden, die aus einer diskriminierenden Gesetzgebung resultieren.420 Durch diesen abwehrrechtlichen Charakter wird der Hauptfunktion von Grundrechten als „Abwehrrechte des Bürgers“ gegen den Staat421 Rechnung getragen. Im Unterschied zu den Freiheitsrechten wehrt Art. 3 Abs. 1 GG keinen Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre des Einzelnen, sondern eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ab.422 Ein Gleichheitsverstoß muss nicht zwingend durch die Besserstellung des Benachteiligten beseitigt werden, sondern kann auch durch Entzug der Begünstigung bei der bevorzugten Gruppe ausgeräumt werden.423 417
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. a) und b). Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 38; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 18; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 229; Kirchhof, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 1 Rn. 292. 419 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 3. 420 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 3; Kirchhof, NJW 1987, 2354 (2355). 421 Hierzu: BVerfGE 7, 198 (204 f.); 13, 318 (325 f.); 21, 362 (369); 68, 193 (205). 422 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 18. 423 Kirchhof, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 1 Rn. 292. 418
142
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Darüber hinaus entfaltet Art. 3 Abs. 1 GG objektiv-rechtliche Komplementärfunktionen, insbesondere im Zusammenwirken mit den Freiheitsgrundrechten und dem Sozialstaatsprinzip.424 Die Herleitung „originärer“ oder auch „primärer“ Ansprüche auf staatliche Leistungen, wie beispielsweise Geldleistungen, Dienstleistungen, Sachleistungen, Nutzung einer öffentlichen Einrichtung, aus dem allgemeinen Gleichheitssatz wird mehrheitlich verneint.425 Gewährt der Staat hingegen Leistungen, so können in vergleichbaren Fällen „sekundäre“ („derivative“) Leistungsansprüche gegen den Staat abgeleitet werden.426 Dies bedeutet, dass der Staat, wenn er bestimmte Leistungen zur Verfügung stellt, hiervon bestimmte Bürger nicht in gleichheitswidriger Weise ausschließen darf.427 Auf die Frage, inwiefern sich aus dem Gleichheitssatz Schutzpflichten, also eine Pflicht des Staates zur Angleichung faktischer Unterschiede428 ableiten lässt, wird im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ausführlich eingegangen.429 bb) Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall Eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG liegt vor, wenn sich ein gemeinsamer Oberbegriff findet, unter den bestimmte Personengruppen vollständig und abschließend fallen, und diese gleichwohl unterschiedlich behandelt werden.430 Vorliegend stellt die Eigenschaft als Steuerpflichtiger den gemeinsamen Bezugspunkt der Personengruppen dar. Diese lassen sich damit unter den Oberbegriff der „Steuerpflichtigen“ fassen. Innerhalb dieser Vergleichsgruppe werden je nach exogenen Charakteristika unterschiedlich hohe Einkommensteuerbeträge festgelegt, worin eine Ungleichbehandlung der Gruppen zu sehen ist.
424
Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 65. Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 88; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 141; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 55; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 82; zum gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss siehe: BVerfGE 60, 16 (42 f.). 426 Murswiek, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, § 192 Rn. 73 ff.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 141; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 82; kritisch: Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 88 ff. 427 Hierzu ausführlich: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 141 ff. 428 Ausführlich zu dieser Definition: Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 67. 429 Siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (b). 430 Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 518 ff. 425
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
143
Daraus folgt, dass eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Vorliegen einer Behinderung, dem Alter sowie der Körpergröße der Steuerpflichtigen eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG darstellt. 2. Rechtfertigung der Differenzierungen Die soeben dargestellten Ungleichbehandlungen durch die Festlegung einer unterschiedlich hohen Einkommensbesteuerung nach Maßgabe exogener Charakteristika könnten verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. a) Festlegung des Prüfungsmaßstabs Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung muss zunächst der Prüfungsmaßstab, an dem die Ungleichbehandlungen gemessen werden, bestimmt werden. aa) Indikatoren für den Prüfungsmaßstab Bei Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG handelt es sich um besondere Diskriminierungsverbote431, die prinzipiell Ungleichbehandlungen aufgrund der in diesen Regelungen genannten Merkmale verbieten.432 Eine Rechtfertigung ist nur für bestimmte Ausnahmen mit besonderer Begründung möglich.433 Dies bedeutet, dass solche Ungleichbehandlungen nur unter Zugrundelegung eines strengen Prüfungsmaßstabs nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und allein in einzelnen Ausnahmefällen zulässig sind. Demgegenüber reicht der Prüfungsmaßstab für Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 1 GG je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal von einem reinen Willkürverbot bis hin zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse.434 Die Anforderungen an den Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG haben sich im Laufe der Rechtsprechung des BVerfG gewandelt.
431 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 304, 312, 366 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 108, 123. 432 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 108, 119 ff.; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 250, 314. 433 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 125. 434 BVerfGE 97, 169 (180 f.); 110, 274 (291); 117, 1 (30); 121, 108 (119); 121, 317 (370); 126, 400 (416).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Ursprünglich wurden die Voraussetzungen für eine Verletzung des Gleichheitssatzes nach der sogenannten „Willkürkontrolle“435 bemessen. Nach dieser verbietet Art. 3 Abs. 1 GG „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln“. Dies bedeutet, dass die Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erst dann überschritten werden und damit der Gleichheitssatz erst dann verletzt ist, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für eine Differenzierung nicht finden lässt“.436 Eine getroffene Regelung darf nicht evident unsachlich sein.437 In der Entscheidung des Ersten Senats im Jahre 1980438 wurde dieses Willkürverbot durch die sogenannte „Neue Formel“439 ergänzt. Nach dieser ist Art. 3 Abs. 1 GG insbesondere dann verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.440 Dieser Prüfungsmaßstab wird in ständiger Rechtsprechung des BVerfG bestätigt.441 Die Anforderungen an den Prüfungsmaßstab lassen sich nicht abstrakt und allgemein bestimmen, sondern richten sich nach dem jeweils betroffenen Sach- und Regelungsbereich.442 Die Bindung des Gesetzgebers ist insbesondere dann strenger, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft und die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich umso mehr, je weniger diese Merkmale für den Einzelnen verfügbar sind443 beziehungsweise je mehr sie sich den in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Merkmalen annähern.444 Liegen lediglich verhaltensbezogene Differenzierungen vor, so kommt es darauf an, inwieweit die Betroffenen die Verwirklichung der Unterscheidungskriterien durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen können; darüber hinaus wird der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso mehr eingeschränkt, je stärker grundrechtlich geschützte Freiheiten von der Ungleichbehandlung betroffen sind.445 435
Zu dieser Bezeichnung siehe etwa: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 103. 436 Zum Ganzen: BVerfGE 1, 14 (52); 46, 55 (62); 49, 260 (271); 61, 138 (147); 68, 237 (250); 83, 1 (23); 89, 132 (141). 437 BVerfGE 23, 135 (143). 438 BVerfGE 55, 72. 439 Zu dieser Bezeichnung siehe etwa: Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 13; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 103. 440 BVerfGE 55, 72 (88). 441 BVerfGE 55, 72 (88); 84, 197 (199); 100, 195 (205); 107, 205 (213); 109, 96 (123); 124, 199 (219). 442 BVerfGE 75, 108 (157); 101, 275 (291); 103, 310 (318); 105, 73 (111); 110, 412 (431); 121, 108 (119); 126, 400 (416); 129, 49 (68 f.); 130, 131 (142). 443 BVerfGE 88, 87 (96); 129, 49 (68 f.). 444 BVerfGE 124, 199 (220); 129, 49 (69). 445 BVerfGE 88, 87 (96); 129, 49 (68 f.).
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
145
Dem weitreichenden Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers im Bereich des Steuerrechts446 sind nicht nur im Hinblick auf die Gestaltung des Tarifverlaufs, sondern auch bei der Auswahl des Steuergegenstandes Grenzen durch das Leistungsfähigkeits- und Folgerichtigkeitsgebot gezogen.447 Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung einer einmal getroffenen Belastungsentscheidung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes.448 Bei der Ordnung von Massenerscheinungen hat der Gesetzgeber die Befugnis, die Vielzahl der Einzelfälle in einem Gesamtbild zu erfassen, das die regelungsbedürftigen Sachverhalte nach den ihm vorliegenden Erfahrungen zutreffend wiedergibt.449 Der Steuergesetzgeber darf somit „generalisieren“, „typisieren“ oder „pauschalieren“, ohne dass allein schon wegen den mit solchen Regelungen unvermeidlich verbundenen Härten ein Verstoß gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz angenommen wird.450 Die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten dürfen allerdings nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen, der Verstoß gegen den Gleichheitssatz darf nicht zu intensiv sein und es muss berücksichtigt werden, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären.451 Für letztere Voraussetzung sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht.452 Die steuerlichen Vorteile einer Typisierung müssen im angemessenen Verhältnis mit der damit verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen.453 Der dem Gesetzgeber bei Typisierungen zustehende Spielraum ist umso enger, je dichter die verfassungsrechtlichen Vorgaben außerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG sind454 und endet dort, wo Art. 3 Abs. 2 und 3 GG betroffen sind.455
446
BVerfGE 93, 121 (136); 105, 73 (111); 107, 27 (47); 117, 1 (30); 120, 1 (29); 122, 210 (230); 123, 1 (19); 126, 400 (416); 127, 224 (245). 447 BVerfGE 116, 164 (180); 117, 1 (30); 121, 108 (119); 122, 210 (230 f.); 126, 400 (416); 127, 224 (245). 448 BVerfGE 99, 88 (95); 107, 27 (47); 120, 1 (29). 449 BVerfGE 11, 245 (254); 78, 214 (227); 84, 348 (359); 122, 210 (234). 450 BVerfGE 84, 348 (359); 113, 167 (236). 451 BVerfGE 45, 376 (390); 63, 119 (121); 84, 348 (359); 126, 233 (263 f.); 133, 377 (413). 452 BVerfGE 9, 20 (31 ff.); 63, 119 (128); 84, 348 (360); 87, 234 (255 f.). 453 BVerfGE 110, 274 (292); 117, 1 (31); 96, 1 (6); 99, 280 (290); 105, 73 (127); 116, 164 (182 f.); 120, 1 (30); 127, 224 (245 f.); 133, 377 (413). 454 BVerfGE 28, 324 (356); 133, 377 (413). 455 BVerfGE 39, 169 (194 f.); 121, 241 (261 f.); 133, 377 (413); Isensee, Die typisierende Verwaltung, S. 169 f.; Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 478 ff.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
bb) Verhältnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zu speziellen Gleichheitssätzen Die Besonderheit liegt vorliegend darin, dass die zu analysierenden Steuer modelle zum Teil nach Charakteristika differenzieren, die in speziellen Gleichheitssätzen enthalten sind. Das im Einkommensteuerrecht maßgebliche Leistungsfähigkeitsprinzip wird hingegen in der Rechtsprechung des BVerfG aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet.456 Daraus könnte man schließen, dass dieses allein im Rahmen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes Anwendung findet. Da die speziellen Gleichheitssätze gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG vorrangig zu prüfen sind,457 würde dies dazu führen, dass bei solchen Ungleichbehandlungen das Leistungsfähigkeitsprinzip unberücksichtigt bliebe. Im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG hat das BVerfG bereits sowohl die Verletzung dieses speziellen Gleichheitssatzes als auch die des Leistungsfähigkeitsprinzips, also eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG angenommen.458 Daraus könnte man ableiten, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip neben allen besonderen Gleichheitsrechten Anwendung findet. Im Gegensatz zu den anderen speziellen Gleichheitssätzen hat Art. 6 Abs. 1 GG allerdings gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz keine verdrängende Wirkung. Mit seiner besonderen Wertentscheidung beschränkt Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere im Steuer- und Sozialrecht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Wahl von Sachgründen zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung.459 In das subjektive Leistungsfähigkeitsprinzip, nach dem allein indisponible Aufwendungen abzugsfähig sind, fließt die grundlegende Entscheidung der Verfassung in Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG mit ein, wonach der Staat den Menschen als höchsten Rechtswert ansieht und Ehe und Familie unter seinen besonderen Schutz stellt.460 Dies kommt im Steuerrecht beispielsweise in der Steuerfreiheit des sogenannten „Familienexistenzminimums“ zum Ausdruck.461 Abgesehen von diesen Fällen ist jedoch keine parallele Anwendung von Leistungsfähigkeitsprinzip sowie speziellen Gleichheitssätzen durch das BVerfG ersichtlich. Bei genauerer Betrachtung besteht hierfür auch kein Bedarf. So verbieten spezielle Gleichheitssätze die Differenzierung anhand bestimmter Merkmale und sehen hohe Hürden für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlungen vor. Das Leistungsfähigkeitsprinzip bewirkt letztlich ebenfalls eine Verschärfung auf Rechtfertigungsebene, indem es die Hinzuziehung anderer Besteuerungsmaßstäbe neben der steuerlichen Leistungsfähigkeit nur in begrenztem Umfang zulässt. 456
BVerfGE 112, 268 (279); 135, 126 (144). BVerfGE 6, 55 (71, 82); 9, 237 (248, 249); 13, 290 (296); 16, 203 (208); 59, 128 (156). 458 BVerfGE 112, 268 (281 ff.). 459 Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 6 Rn. 32. 460 BVerfGE 82, 60 (87). 461 Siehe hierzu bereits ausführlich unter: Teil 2 A. I. 2. a) bb) (2). 457
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Ebenso, wie Art. 3 Abs. 1 GG gegenüber den speziellen Gleichheitssätzen subsidiär ist, hat das Leistungsfähigkeitsprinzip als „materielles Gleichheitsmaß“462 hinter den besonderen Anforderungen an die Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen zurückzutreten, die nach Maßgabe der besonderen Gleichheitssätze zu prüfen sind. Da in beiden Fällen ein tendenziell strenger Rechtfertigungsmaßstab zugrunde zu legen ist, besteht zudem auch keine zwingende Notwendigkeit für eine zusätzliche Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips auf die Prüfung von speziellen Gleichheitsrechten. cc) Prüfungsmaßstab in den vorliegenden Fällen Die geplanten Regelungen sollen ausschließlich an Merkmale anknüpfen, die in der Person der Steuerpflichtigen liegen und zudem von diesen nicht beeinflusst werden können. Manche der maßgeblichen Charakteristika stellen Merkmale des Absatzes 2 beziehungsweise des Absatzes 3 Satz 1 dar. Da es sich bei den Regelungen um Normen des Einkommensteuerrechts handelt, müssen bei Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 1 GG die Grenzen des Leistungsfähigkeitsgrundsatzes sowie des Folgerichtigkeitsgebots berücksichtigt werden. (1) Geschlecht Aufgrund der strengen Anforderungen ist eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts nur in wenigen anerkannten Ausnahmefällen zulässig.463 Solche sind zum einen an bestimmten Stellen im Grundgesetz selbst vorgesehen, wo dieses ausdrücklich zwischen den Geschlechtern differenziert; in diesem Zusammenhang sind die Wehrpflicht nach Art. 12a Abs. 1 GG464 sowie die Verpflichtung zum Dienst an der Waffe nach Art. 12a Abs. 4 GG465 zu nennen. Art. 6 Abs. 1 GG stellt dagegen keine Ausnahme von dem Gleichberechtigungsgebot dar, welches somit auch in Ehe und Familie gilt.466 Auch eine Rechtfertigung durch das Sozialstaatsprinzip kommt aufgrund der spezielleren Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 GG von vornherein nicht in Betracht.467 462
BVerfGE 135, 126 (148). Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 108 (unter Rn. 110 ff. ausführliche Darstellung zu den einzelnen Ausnahmen). 464 BVerfGE 12, 45 (52 f.). 465 Siehe hierzu: Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12a Rn. 36 ff. 466 BVerfGE 3, 225 (242); 10, 59 (67); BVerwGE 42, 133 (135). 467 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 280; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 88; eine solche verneinend: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 335; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 121. 463
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Darüber hinaus kann nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG eine Differenzierung, die an das Geschlecht anknüpft, dann gerechtfertigt werden, wenn sie „zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich ist“.468 Unter der Formulierung „ihrer Natur nach“ versteht die herrschende Ansicht ausschließlich biologische Unterschiede,469 weshalb die Ausnahme auch bei Mutterschutzvorschriften gemäß Art. 6 Abs. 4 GG greift, die dementsprechend einer Rechtfertigung zugänglich sind.470 Sind zwingende Gründe zum Ausgleich biologischer Eigenschaften nicht gegeben, so kann eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau noch im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht gerechtfertigt werden.471 In diesem Zusammenhang wird insbesondere das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG herangezogen,472 welches begünstigende Regelungen zum Ausgleich faktischer Nachteile, die typischerweise bei einem Geschlecht auftreten, legitimiert.473 Das „Tagging“-Prinzip begründet seine Differenzierung der Höhe der Einkommensteuer nach dem Geschlecht damit, dass Frauen pro Einheit Arbeitsaufwand weniger Einkommen verdienen als Männer, also im Vergleich zu diesen ein geringeres Potenzial zur Erzielung von Einkünften aufweisen. Dies bedeutet, dass ein Mann mit exakt denselben persönlichen Charakteristika wie eine Frau aufgrund seines Geschlechts ein höheres Erwerbspotenzial aufweist und sich demnach zur Einkommenserzielung weniger anstrengen muss. Die Gründe, aufgrund derer Frauen typischerweise bei gleichem Arbeitsaufwand weniger verdienen als Männer, hängen nicht allein mit biologischen Eigenschaften, sondern vor allem mit äußeren Umständen, wie beispielsweise dem gesellschaft-
468 BVerfGE 85, 191 (207); 92, 91 (109); zuvor wurde auf „objektive biologische und funk tionale (arbeitsteilige) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses zwischen Männern und Frauen“ abgestellt, vgl. hierzu: BVerfGE 3, 225 (242); 5, 9 (12); 10, 59 (74); 15, 337 (343); 21, 329 (343 f.); 31, 1 (4 f.); 37, 217 (249 f.); 43, 213 (225); 52, 369 (374); 63, 181 (194). 469 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 112; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 192; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 274. 470 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 274; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 111 (sieht allerdings bereits den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 2 GG als nicht eröffnet an); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 278 f. stellt zutreffend fest, dass auch diese Vorschriften in diesem Kontext nur insoweit von Bedeutung sind, als sie an biologische Eigenschaften wie Schwangerschaft, Geburt sowie Stillzeiten anknüpfen, sodass „rollenspezifische Sondervorschriften“ insoweit auszuklammern sind. 471 BVerfGE 85, 191 (209); 92, 91 (109). 472 BVerfGE 92, 91 (109); 114, 357 (370). 473 BVerfGE 74, 163 (180); 85, 191 (207); 92, 91 (109).
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lich geprägten Rollenverständnis, zusätzlichen Belastungen im familiären Bereich oder Vorurteilen zusammen.474 Demnach ist die Eigenschaft des Erwerbspotenzials als rein biologisches Merkmal abzulehnen, sodass vorliegend nur eine Rechtfertigung durch Gründe der faktischen Angleichung im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG als kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht kommt. (2) Sozialer Hintergrund Nach überwiegender Ansicht können auch Ungleichbehandlungen, die nicht an das Geschlecht, sondern an ein anderes verbotenes Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG anknüpfen, nach Maßgabe einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden.475 Im Gegensatz zu einer Differenzierung nach dem Geschlecht lässt sich dem Grundgesetz für die sonstigen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG kein besonderer Förderauftrag entnehmen, sodass zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG herangezogen werden muss. Durch die Bevorzugung von Personen, deren Eltern ein niedriges Einkommen oder eine geringe Bildung aufweisen oder solchen, die einen Migrationshintergrund haben, soll deren geringere Erwerbsfähigkeit kompensiert werden. Es soll ein sozialer Ausgleich zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit erfolgen, der grundsätzlich vom Sozialstaatsprinzip geboten ist.476 Das Grundgesetz enthält – anders als in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 4 und 5, Art. 19 Abs. 3, Art. 14 Abs. 2 und 3 GG – für die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Merkmale keine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips zum Ausgleich benachteiligter Bevölkerungsgruppen.477 Hinzu kommt, dass nicht nur eine Benachteiligung, sondern auch explizit eine Bevorzugung von Personen wegen der in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Merkmale verboten ist. Dies verdeutlicht, dass die Verfassung für diese Kriterien Ausgleichsmaßnahmen prin 474 Zu den schwer greifbaren Faktoren, die sich insbesondere nachteilig auf die Einstellung von Frauen auswirken, siehe beispielsweise: Ossenbühl, NJW 2012, 417 (418); Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 107. 475 Sachs, Anm. zu: BVerfG, Beschluss v. 26. 10. 2005 – 2 BvR 524/01, JuS 2006, 364 (365); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 254; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 214; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 152 f.; Ebsen, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 8 Rn. 23 ff.; Huster, AöR 118 (1993), 109 (111); verwiesen wird dabei zum Teil auf: BVerfGE 85, 191 (207); 92, 91 (109) und 114, 357 (364), wo allerdings wiederum nur auf das Merkmal „Geschlecht“ Bezug genommen wird. 476 Siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (a). 477 Hierzu: Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 Rn. 208.
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zipiell nicht vorgesehen hat. Wenn nun durch Regelungen faktische Unterschiede zwischen Personengruppen beseitigt werden sollen, so unterliegen diese konsequenterweise hohen Anforderungen. Folglich ist an die Differenzierung nach dem sozialen Hintergrund ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen. (3) Behinderung Die Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG enthält eine Staatszielbestimmung im Sinne eines Auftrags zur Förderung der gleichberechtigten Teilhabe von Personen mit Behinderung.478 Der Förderungs- und Integrationsauftrag des Art. 20 Abs. 1 GG zur Kompensation der Nachteile behinderter Menschen479 wird hierdurch ergänzt und verstärkt.480 Sofern durch staatliche Leistungen zur Vermeidung von Benachteiligungen Behinderter eine Ungleichbehandlung bewirkt wird, ist eine Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG) möglich.481 Dies kommt durch die Ausstrahlungswirkung auch in Gebieten des Zivilrechts zum Ausdruck: So sind beispielsweise gemäß § 5 AGG unterschiedliche Behandlungen, die durch geeignete und angemessene Maßnahmen Nachteile wegen einer Behinderung verhindern oder ausgleichen, als zulässig zu erachten.482 Durch eine steuerliche Begünstigung von Steuerpflichtigen mit Behinderung werden solche ohne Behinderung benachteiligt. Die Benachteiligung wegen des Merkmals „Nichtvorliegen einer Behinderung“ ist von keinem besonderen Gleichheitssatz geschützt, sodass Art. 3 Abs. 1 GG heranzuziehen ist. Hier ist im Bereich des Einkommensteuerrechts der Folgerichtigkeitsgrundsatz zu beachten, für des-
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Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 160; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 197; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 124; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 237: „Ausdruck der besonderen Verantwortung des Staates“. 479 BVerfGE 40, 121 (133). 480 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 162; Schmidt, in: Müller-Glöge / Preis / Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Art. 3 GG Rn. 77; BT-Drs. 12/8165, S. 29: „Signalwirkung“; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 293; Hergenröder, in: Henssler / Willemsen / Kalb, Arbeitsrecht, Kommentar, Art. 3 Rn. 109. 481 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 197; BVerfGE 96, 288 (301 ff.); BVerfG, Beschluss v. 01. 10. 2004 – 1 BvR 2221/03, NJW 2005, 737 (737); Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 261; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 434 f. 482 Hierzu: Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 31.
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sen zulässige Durchbrechung jedoch Typisierungserfordernisse anerkannt sind.483 Überdies besteht hier keine Annäherung zu den in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG enthaltenen Merkmalen, sodass bei der Rechtfertigungsprüfung ein weniger strenger Maßstab zugrunde zu legen ist. Verstärkt wird dies zusätzlich durch den Förderauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Demnach sind an die Rechtfertigung einer Differenzierung nach dem Merkmal „Behinderung“ vergleichweise geringe Anforderungen zu stellen. (4) Alter Für einen weiten Spielraum des Gesetzgebers hinsichtlich einer Differenzierung nach dem Alter wird in der Literatur angeführt, dass es sich bei diesem Merkmal um kein in Art. 3 Abs. 3 GG genanntes Merkmal handelt, sodass es kein per se verdächtiges Differenzierungskriterium darstellt.484 Zudem kann eine Differenzierung nach dem Alter in vielen Fällen sachgerecht sein.485 Im Gegensatz zu den besonders geschützten persönlichen Merkmalen handelt es sich bei dem Alter um ein dynamisches Kriterium, da ausnahmslos alle Menschen altern und damit jede Person – ausgenommen Fälle eines frühzeitigen Todes durch Krankheit oder Unfall – im Verlauf ihres Lebens die verschiedenen Altersstufen durchläuft.486 So wird beispielsweise eine Begünstigung der Älteren den Jüngeren nicht endgültig vor enthalten, sondern wird für diese lediglich zurückgestellt, was für den Charakter des Alters als gerechtes Unterscheidungsmerkmal spricht.487 Für eine Begünstigung von jüngeren Steuerpflichtigen lässt sich umgekehrt anführen, dass diese im Alter ebenso den verschäften Regelungen unterfallen werden, sodass ein gewisser Ausgleich der Ungleichbehandlung durch die Zeit stattfindet. Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, dass das Lebensalter ebenso wie die besonders geschützten persönlichen Merkmale von der Natur vorgegeben und für den Einzelnen nicht beeinflussbar ist.488 So ändert es sich zwar stetig durch die Zeit, jedoch nicht durch den Betroffenen selbst. Zudem hat das Alter persönlichkeits- sowie identitätsprägende Wirkung, sodass hier eine gewisse Nähe zur 483
BVerfGE 120, 1 (29); 122, 210 (231 ff.); 127, 224 (245 f.). Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 140; Huster, EuR 2010, 325 (337). 485 Mager, in: Joost / Oetker / Paschke, Festschrift für Franz Jürgen Säcker zum 70. Geburtstag, S. 1075 (1076, 1091). 486 Huster, in: Alexy, Juristische Grundlagenforschung, S. 202 (211); Huster, EuR 2010, 325 (336 f.); Waltermann, NZA 2005, 1265 (1269); Mager, in: Joost / Oetker / Paschke, Festschrift für Franz Jürgen Säcker zum 70. Geburtstag, S. 1075 (1075). 487 Waltermann, NZA 2005, 1265 (1269); Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1402); a. A.: Brors, in: Däubler / Bertzbach, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Handkommentar (1. Auflage 2007), § 10 Rn. 56. 488 König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (358). 484
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG besteht,489 was ebenfalls für einen strengen Prüfungsmaßstab spricht. Weiterhin hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung bereits die Prüfung einer Altersdiskriminierung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß der „neuen Formel“ befürwortet.490 Darüber hinaus liegt kein spezieller Förderauftrag zur Kompensation faktischer altersbezogener Unterschiede vor, sondern zur Rechtfertigung muss auf das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. Zwar ist der Aussage zuzustimmen, dass das Alter prinzipiell jeden Menschen gleichermaßen betrifft und damit eine daran anknüpfende Ungleichbehandlung weitgehend durch die Zeit ausgeglichen würde, was zunächst für geringe Anforderungen spricht. Vertritt man allerdings eine solche Gesamtbetrachtung über die Zeit, so kann dieses Argument auch für die gegenteilige Position angeführt werden: Gerade bei einer solchen Betrachtungsweise sind die faktischen Unterschiede, die sich allein bei einer punktuellen Momentaufnahme ergeben würden, nahezu vernachlässigbar. Bei Regelungen, die nicht nur einmalig gelten sollen oder nicht aus anderen Gründen die Berücksichtigung des gegenwärtigen Alters für eine bestimmte Situation als notwendig erscheinen lassen, besteht damit kein dringendes Bedürfnis zum Ausgleich, da ein solcher bereits über die Zeit hinweg erfolgt, sodass bei kompensierenden Ungleichbehandlungen wegen des Alters ein strenger Maßstab anzulegen ist. Vorherige Ausführungen verdeutlichen, dass sich für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Differenzierung nach dem Alter keine allgemeingültigen Vorgaben ableiten lassen. Die Bedeutung des Alters bestimmt sich vielmehr nach dem jeweiligen Sachzusammenhang und kann damit nicht losgelöst von diesem betrachtet werden.491 Demnach lassen sich nur schwer pauschale Aussagen zu der Strenge des Prüfungsmaßstabs treffen. Die Anwendung eines bloßen Willkürverbots würde jedenfalls die Personenbezogenheit und Unbeeinflussbarkeit des Lebensalters verkennen. Somit ist im Rahmen einer Prüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall die Bedeutung des Alters mit dem verfolgten Zweck in Einklang zu bringen. (5) Körpergröße Bei der Körpergröße liegt ebenfalls eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG vor, sodass sich auch hier die Frage stellt, ob ein sachlicher Grund ausreicht oder ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen ist. 489
Huster, in: Alexy, Juristische Grundlagenforschung, S. 205. BVerfGE 103, 172 (193 f.). 491 So auch: Mager, in: Joost / Oetker / Paschke, Festschrift für Franz Jürgen Säcker zum 70. Geburtstag, S. 1075 (1075 f.). 490
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Wie bereits gezeigt, verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger das Merkmal, nach dem differenziert wird, für den Einzelnen verfügbar ist, wenn es sich um ein personenbezogenes Merkmal handelt und wenn sich dieses denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähert.492 Bei der Körpergröße handelt es sich um ein personenbezogenes Merkmal, das genetisch bedingt, also nicht beeinflussbar ist und eine Nähe zu den in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltenen Kriterien aufweist.493 Somit ist hier ein strenger Prüfungsmaßstab anzuwenden. Demnach richtet sich die Rechtfertigungsprüfung bei der Ungleichbehandlung nach der Körpergröße streng nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. dd) Zwischenfazit Festzustellen ist, dass in den vorliegenden Fällen ein sachlicher Grund allein nicht ausreicht, um die im Raum stehenden Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen. Es ist demnach bei der Rechtfertigungsprüfung ein Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrunde zu legen, wobei bei jedem zu prüfenden Gleichheitsrecht die jeweiligen Besonderheiten und Anforderungen bei der Abwägung zu berücksichtigen sind. Bei der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes ist das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab zu berücksichtigen. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung bei den speziellen Gleichheitssätzen spielt dieses aufgrund der Subsidiarität des Art. 3 Abs. 1 GG keine Rolle.494 Allerdings unterliegen diese den besonderen Anforderungen, die im Hinblick auf die Differenzierung anhand des jeweiligen Merkmals zu beachten sind. b) Verhältnismäßigkeitsprüfung Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss eine staatliche Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgen, zu dessen Erreichung geeignet und erforderlich sein und im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation als angemessen beurteilt werden.495 Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der geplanten Steuervorschriften stehen im Wesentlichen zwei Problempunkte im Raum: Zum einen stellt sich die Frage, ob es überhaupt verfassungsrechtlich möglich ist, die Einkommensbesteuerung nach exogenen Merkmalen zu differenzieren. Sollte dies bejaht werden können, so gilt es, in einem nächsten Schritt das „Wie“, also die Frage, in welchem Umfang dies möglich ist, zu prüfen. 492
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. a) aa). So auch: Detterbeck, Öffentliches Recht, Rn. 347. 494 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. a) bb). 495 BVerfGE 65, 1 (54); 67, 157 (173); 70, 278 (286); 92, 262 (273). 493
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Konkrete Aussagen im Hinblick auf letzteren Punkt zu treffen gestaltet sich im vorliegenden Fall als schwierig, da die maßgeblichen Steuervorschriften bislang (nur) abstrakte Modelle und noch keine konkreten Regelungen darstellen. So können im Rahmen der nachfolgenden Zulässigkeitsprüfung zwar über die Frage des „Obs“ hinaus Aussagen darüber getroffen werden, wie hoch die Anforderungen an eine Rechtfertigung im Hinblick auf das jeweilige exogene Merkmal sind, um so gewisse Tendenzen vorzugeben. Eine verbindliche, abschließende Beurteilung muss jedoch mangels einer konkreten Ausgestaltung der zu im Raum stehenden Regelungen unterbleiben. Die nachfolgende Prüfung der Verhältnismäßigkeit gestaltet sich wie folgt: In einem ersten Schritt wird für jedes exogene Merkmal untersucht, ob die beabsichtigte Differenzierung der Einkommensbesteuerung ein legitimes Ziel verfolgt. Sodann wird die Geeignetheit sowie die Erforderlichkeit der Steuermodelle geprüft. Abschließend wird im Rahmen einer Angemessenheitsprüfung, unter wiederum getrennter Betrachtung der einzelnen Charakteristika, die Schwere des Eingriffs mit dem verfolgten Ziel abgewogen. aa) Verfolgung eines legitimen Ziels Mit der Einführung der „Tagging“-Steuernormen müsste der Gesetzgeber zunächst ein legitimes Ziel verfolgen. Dies bedeutet, dass er sich bei der Festlegung von Gesetzeszwecken innerhalb der durch das Verfassungsrecht gezogenen Grenzen befinden muss.496 Der Gesetzgeber darf mithin nur solche Zwecke verfolgen, die mit dem Grundgesetz, insbesondere mit den Grundrechten, im Einklang stehen.497 Die in der Diskussion stehenden Steuermodelle verfolgen das Ziel der Wohlfahrtssteigerung.498 Bei dem Begriff der Wohlfahrt handelt es sich um einen ökonomischen Begriff, der anhand von Variablen konkretisiert werden kann und muss, woraus sich eine Herausforderung für die verfassungsrechtliche Beurteilung ergibt. Das „Tagging“-Prinzip beabsichtigt im Wesentlichen, die Steigerung der Wohlfahrt durch Umverteilung bei gleichzeitiger Maximierung der Effizienz zu erreichen. In erster Linie handelt es sich um ein Umverteilungskonzept – die Effizienz soll aufgrund einer aus der Umverteilung resultierenden Verhaltensreaktion der Steuerpflichtigen gesteigert werden.499 Die Frage, ob eine solche Zielsetzung im Einklang mit der Verfassung steht, wirft zwei Problempunkte auf: Zum einen 496
Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VII Rn. 111. 497 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 20 Rn. 149; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 181; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 331. 498 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. III. 1. 499 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. III. 1. c).
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ist fraglich, ob es überhaupt grundsätzlich möglich ist, solche außerfiskalischen Ziele durch Steuernormen zu verfolgen. Sofern dies der Fall sein sollte, gilt es in einem nächsten Schritt zu klären, ob es sich bei der Gleichstellung um ein von dem Grundgesetz legitimiertes Ziel handelt, was insbesondere am Maßstab des Art. 20 Abs. 1 GG sowie der Gleichheitssätze beurteilt werden soll. (1) Zulässigkeit außerfiskalischer Zwecke von Steuernormen Die Zielsetzung der „Tagging“-Steuernormen stünde nur dann im Einklang mit der Verfassung, wenn Steuernormen Umverteilungszwecke verfolgen dürfen. Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen, indem zunächst der Steuerbegriff des Grundgesetzes vorgestellt wird und anschließend eine Einordnung der Modelle vorgenommen wird. (a) Arten von Steuernormen Der verfassungsrechtliche Steuerbegriff steht „im Funktionszusammenhang der bundesstaatlichen Finanzverfassung“.500 In den Art. 105 ff. GG wird er jedoch nicht näher definiert. Obgleich der Steuerbegriff des Grundgesetzes mit dem des § 3 AO nicht identisch ist,501 geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das Grundgesetz diesbezüglich an die Definition in der Abgabenordnung anknüpft.502 Wenn deren Voraussetzungen gegeben sind, so liegt prinzipiell auch eine „Steuer“ im Sinne des Grundgesetzes vor.503 Nach § 3 Abs. 1 AO sind Steuern „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein“. Inhaltlich knüpft diese Norm an den traditionellen Steuerbegriff des § 1 Abs. 1 RAO (Reichsabgabenordnung) an.504 In 500
BVerfGE 55, 274 (299); 67, 256 (282). Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 36; Kube, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 105 Rn. 3; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 101. 502 BVerfGE 3, 407 (435); 7, 244 (251); 29, 402 (408 f.): alle drei noch mit Verweis auf die RAO; 36, 66 (70): Anknüpfung an den Begriff des „allgemeinen Steuerrechts“; 38, 61 (79 f.); 42, 223 (228); 49, 343 (353); 55, 274 (299); 67, 256 (282); 93, 319 (346); so auch: BVerwGE 32, 257 (259). 503 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 36; Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. I, § 3 Rn. 37: „Interpretationshilfe“. 504 Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 100; Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 36. 501
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Anlehnung an die vorangehende Rechtsprechung des BVerfG505 stellte der Gesetzgeber der AO 1977506 durch Einfügung des 2. Halbsatzes ferner ausdrücklich klar, dass die Einnahmeerzielung nicht zwingend Hauptzweck einer Steuer sein muss. Dass eine Norm nicht primär der Einnahmeerzielung dient, schadet ihrem Charakter als Steuernorm grundsätzlich nicht. Erst wenn die Verwirklichung des Tatbestandes einer Abgabe generell vermieden werden soll, sie also keine Erträge erzielen soll, ist sie per Definition keine Steuer mehr.507 Da steuerliche Regelungen unterschiedliche Zwecke verfolgen können, lassen sie sich – entsprechend ihrem Hauptzweck – in verschiedene Kategorien einteilen. (aa) Fiskalzwecknormen Bei dem überwiegenden Teil der Steuernormen handelt es sich um Fiskalzwecknormen, auch Finanz- oder Ertragszwecknormen genannt.508 Diese Regelungen verfolgen in erster Linie das Ziel, den Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte zu decken.509 Das Kriterium der „Erzielung von Einnahmen“ des § 3 Abs. 1 AO stellt damit ihren Hauptzweck dar. Aus der Erhebung von Steuern resultieren Belastungswirkungen. Aufgabe des Steuergesetzgebers ist es, durch Fiskalzwecknormen die Steuerbelastungen nach bestimmten Gerechtigkeitsmaßstäben zu verteilen, indem eine konkrete „Steuerwürdigkeitsentscheidung“ getroffen wird, weshalb sie auch als „Lastenausteilungsnormen“ bezeichnet werden.510 Bei der Frage, welche Kriterien hierbei zugrunde gelegt werden können, wird im Grunde auf das Leistungsfähigkeitsprinzip abgestellt.511 Auch Regelungen, die eine Besteuerung nach der subjektiven Leistungsfähigkeit gewährleisten, wie beispielsweise die des Grundfreibetrags, des 505
BVerfGE 3, 407 (435 f.); 16, 147 (161 f.); 36, 66 (70 f.); 38, 61 (79); auch nach Erlass der AO 1977 st. Rspr.: BVerfGE 55, 274 (299); 67, 256 (282); 98, 106 (117 f.); 105, 73 (112 f.); 110, 94 (113); 110, 274 (296 f.); 116, 164 (182); 117, 1 (31); 122, 210 (231); 126, 268 (278); 127, 224 (245 f.). 506 Abgabenordnung (AO) v. 16. 03. 1976, BGBl. I, S. 613; BT-Drs. VI/1982, S. 98 f. 507 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 56. 508 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20. 509 Koenig, in: Koenig, Abgabenordnung, Kommentar, § 3 Rn. 25; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20. 510 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 83; Vogel, StuW 1977, 97 (99); siehe auch: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 75 f., der Bezeichnungen wie „Lastenzuteilungsnorm“ oder „Lastenverteilungsnorm“ als „eingängigere Bezeichnung“ ansieht und auf die uneinheitliche Begriffsverwendung hinweist. 511 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20; Traxel, Anm. zu: FG Köln, Urteil v. 14. 07. 1988 – 5 K 424/88, DStZ 1989, 126; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 9 ff.; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 57; siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1.
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Kindergeldes und des Kinderfreibetrags,512 sind konsequenterweise nicht als Sozialzwecknormen, sondern als Fiskalzwecknormen zu qualifizieren.513 Fiskalzwecknormen haben zwar auch wirtschaftliche oder soziale Auswirkungen; so beeinflussen sie beispielsweise im Einkommen- oder Umsatzsteuerrecht zwangsläufig die Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit oder Sparen und Konsum. Derartige Gestaltungswirkungen einer Steuervorschrift stehen ihrer Einordnung als Fiskalzwecknorm allerdings nicht entgegen, wenn diese Wirkungen nur Folge und nicht Zweck der Norm darstellen.514 (bb) Sozialzwecknormen Darüber hinaus enthalten die Steuergesetze eine Vielzahl an Sozialzwecknormen. Ein Beispiel stellt der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende nach § 24b EStG dar.515 Sozialzwecknormen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht oder nicht überwiegend fiskalisch, sondern beispielsweise sozial-, wirtschafts-, kultur-, gesundheits- oder berufspolitisch motiviert sind.516 Sie weichen vom Leistungsfähigkeitsprinzip ab.517 Für Sozialzwecknormen gilt das Sozialstaatsprinzip als „allgemeiner Orientierungs- und Rechtfertigungsmaßstab“.518 Durch sie werden keine Steuerwürdigkeitsentscheidungen getroffen.519 Das BVerfG stellt in seiner Rechtsprechung ausdrücklich klar, „dass die Steuer in der modernen Industriegesellschaft zum zentralen Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geworden ist, wobei der Zweck, Einkünfte für die Bestreitung allgemeiner Staatsaufgaben zu erzielen, sogar als Nebenzweck nicht selten völlig in den Hintergrund tritt“.520 Es tritt der „austeilenden“ die „gestaltende“ Gerechtigkeit entgegen.521 Sozialzwecknormen können Steuerentlastungen, Steuerbelastungen oder selbständige Sondersteuern sein.522
512
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a) sowie unter: Teil 2 A. I. 2. a) bb). So auch: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 8 Rn. 77 ff. 514 Zum Ganzen: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 20; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 77. 515 Seiler, in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, § 24b Rn. 1. 516 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 21; Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 61; Fellinger, in: Wöhle / Augeneder / Urnik, Rechtsphilosophie, Festschrift für Michael Fischer, S. 365 (369). 517 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 131. 518 Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 167; so auch: Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 62 f. 519 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 78; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 21, § 6 Rn. 52. 520 BVerfGE 55, 274 (299). 521 Vogel, DStZ / A 1975, 409 (413). 522 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 78. 513
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Teile der Literatur setzen den Begriff der Sozialzwecknormen mit Lenkungsnormen gleich,523 wohingegen ihn andere524 differenzierter als Oberbegriff für Lenkungsnormen einerseits und Umverteilungsnormen andererseits verstehen. Zur Beantwortung der Frage, ob Umverteilungsnormen ein eigener Anwendungsbereich zuerkannt werden kann, ist eine trennscharfe Abgrenzung erforderlich. Dabei sind insbesondere ihre Unterschiede zu Fiskalzweck- sowie Lenkungs normen herauszuarbeiten. Eine Herausforderung besteht darin, dass Fiskalzwecknormen ebenfalls eine gewisse Umverteilung bewirken können, da die Belastungsgleichheit im Rahmen der fiskalischen Zielsetzung der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit eine Steuerverteilung vorsieht.525 Auch wenn es ein im Sozialstaatsprinzip angelegtes Differenzierungskriterium für die proportionale Besteuerungsgleichheit darstellt, sind dem Leistungsfähigkeitsprinzip gleichwohl keine Umverteilungszwecke von selbständiger Relevanz zuzuschreiben.526 Eine solche beginnt erst jenseits von der gleichmäßigen Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sodass nur dann von Umverteilungsnormen gesprochen werden kann, wenn aus sozialen Aspekten von der Regelbesteuerung abgewichen wird (= „Sozialzwecknorm“).527 Es würde zu Widersprüchen und Abgrenzungsschwierigkeiten führen, wenn der das Leistungsfähigkeitsprinzip beinhaltende Fiskalzweck einer Norm sowohl Einnahmeerzielungs- als auch Umverteilungsabsicht in sich vereinen würde.528 Umverteilung durch Besteuerung bedeutet gerade, dass eine Begünstigung und eine Belastung in Abweichung von der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bewirkt wird.529 Dies ist beispielsweise bei dem progressiven Steuertarif der Fall, der über die vom Leistungsfähigkeitsprinzip gebotene Umverteilung hinausgeht,530 sodass die Regelung dieses Tarifverlaufs konsequenterweise den Umverteilungsnormen zuzuordnen ist. 523 Koenig, in: Koenig, Abgabenordnung, Kommentar, § 3 Rn. 25; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 191 ff.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 78, 80. 524 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 21, § 19 Rn. 1; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 13, 33, 74; Traxel, Anm. zu: FG Köln, Urteil v. 14. 07. 1988 – 5 K 424/88, DStZ 1989, 126 (127); Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 83 f. (der allerdings den Oberbegriff „Sozialzwecknormen“ ablehnt); Vogel, Die Einflussnahme steuerlicher Lenkungsnormen auf Entscheidungen von Wirtschaftssubjekten, S. 10; Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 84; siehe auch: Bareis, DStR 1991, 1399 (1399), der begrifflich zwischen Finanzzweck-, Sozialzweck- und Lenkungsnormen unterscheidet. 525 Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, S. 92, 121; Elschen, StuW 1991, 99 (111); J achmann, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, S. 19 f.; siehe hierzu bereits unter Teil 2 A. I. 2. b) aa) bis cc) (1). 526 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 795, im Hinblick auf das unvermeidbare, für die Steuerzahlung indisponible Einkommen. 527 Jachmann, StuW 1998, 293 (294 f.); die Existenz einer „Regelbesteuerung“ ist jedoch höchst zweifelhaft; eine solche ablehnend: Suttmann, Die Flat Tax, S. 179, der die Existenz einer „Regelbesteuerung“ ablehnt. 528 Elschen, StuW 1991, 99 (111 f.). 529 Jachmann, StuW 1998, 293 (294). 530 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) bb) und cc) (1).
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Auch steuerliche Lenkungsnormen haben – als Nebenwirkung – eine gewisse Umverteilung zur Folge.531 Sie lassen jedoch – im Gegensatz zu Umverteilungs normen – dem Einzelnen die Wahl, ob er sich der steuerlich überbrachten Verhaltensempfehlung unterwirft oder stattdessen die Steuer zahlt beziehungsweise auf die Steuerentlastung verzichtet.532 Sie basieren auf der Mitwirkung des (nutzenmaximierenden) „Homo Oeconomicus“, der bei seinem Bestreben nach Steuervermeidung die gesetzten Anreize erkennen und nutzen soll.533 Das klassische Beispiel für eine Lenkungsteuer ist der Zoll, der der Warenstromregulierung dient.534 Auch mit der Tabaksteuer soll das Verhalten des Einzelnen beeinflusst werden.535 Während Lenkungsnormen durch gezielte Steuerentlastung beziehungsweise Steuerbelastung ein bestimmtes Gemeinwohlverhalten des Steuerpflichtigen fördern wollen, bezwecken Umverteilungsnormen Wohlstandskorrektur im Interesse eines sozialen Ausgleichs.536 Eine Umverteilung auf Seite der Steuererhebung wird so verstanden, dass ein Steuerpflichtiger mehr Steuern zahlt, damit – bei gleichbleibendem Steueraufkommen des Staates – ein anderer weniger Steuern zahlen muss.537 Der Unterschied zwischen beiden Normgruppen ist demnach darin zu sehen, dass Lenkungsnormen dem Steuerpflichtigen eine Steuerbelastung beziehungsweise Steuerentlastung im Gegenzug für ein bestimmtes Verhalten in Aussicht stellen, während bei Umverteilungsnormen derartige Belastungen oder Entlastungen unmittelbar und ohne vorangehende Verhaltensänderung bei den Steuerpflichtigen eintreten sollen. Lenkung bezweckt eine Verhaltensänderung, Umverteilung eine Zustandsänderung.538 Folglich erscheint es sinnvoll, Umverteilungsnormen als selbständige Unterkategorie der Sozialzwecknormen neben Lenkungsnormen anzuerkennen. (cc) Vereinfachungszwecknormen Durch Vereinfachungszwecknormen soll die Besteuerung erleichtert, vereinfacht, praktikabler oder ökonomischer gestaltet werden.539 Sie beabsichtigen, Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung durch Typisierung beziehungsweise Pauschalierung zu erreichen.540 Da Vereinfachungszwecknormen sowohl Fiskalzweck- als auch Sozialzwecknor men vereinfachen können, stellen sie streng genommen keine selbständige Normen 531
Jachmann, StuW 1998, 293 (294). Kirchhof, NJW 1987, 3217 (3226). 533 Wagner, DStR 2014, 1133 (1142). 534 Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 11. 535 Wernsmann, NVwZ 2004, 819 (820). 536 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 21. 537 Jachmann, StuW 1998, 293 (294). 538 Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 81. 539 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 80; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 23. 540 Koenig, in: Koenig, Abgabenordnung, Kommentar, § 3 Rn. 66. 532
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
kategorie neben diesen dar.541 Jedenfalls sind Vereinfachungszwecke als legitime Ziele im Sinne der Verfassung grundsätzlich anerkannt. (b) Steuerliche Sonderbehandlungen Wenn für verschiedene Personengruppen die Steuerschuld entweder höher oder niedriger als zuvor ausfällt, so folgt hieraus gewissermaßen für die einen eine „begünstigende“, für andere wiederum eine „belastende“ Wirkung. Von Interesse ist demnach vorliegend auch die Frage, wie sich die Begriffe Steuervergünstigung und Steuerbenachteiligung in das System der Steuernormen einordnen lassen. Für einen widerspruchsfreien Umgang mit den Begrifflichkeiten soll nachfolgend eine kurze Erläuterung und Abgrenzung erfolgen. (aa) Steuervergünstigungen Der Begriff „Steuer“ darf nicht so verstanden werden, dass jede einzelne Vorschrift eines Steuergesetzes die Erzielung von Einnahmen bezweckt und damit für sich isoliert unter die Definition des § 3 AO subsumiert werden kann. So stellen Steuervergünstigungen vielmehr einen „unselbständigen Annex“ der Ertragstatbestände dar und modifizieren beziehungsweise ergänzen diese. Ausschlaggebendes Kriterium ist, dass eine Verknüpfung von Belastungs- und Begünstigungstat beständen ersichtlich sein muss.542 „Verkleidete“ Leistungsgewährungen, bei denen kein sachlicher steuerlicher Bezug erkennbar ist, fallen nicht mehr in den Anwendungsbereich des Art. 105 GG.543 Steuervergünstigungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Ausnahme von der Regelbesteuerung darstellen.544 Sie lassen sich je nach ihrem Zweck entweder den Fiskalzweck- oder den Sozialzwecknormen zuordnen, stellen also keine eigenständige Steuernormgruppe neben diesen dar. Wenn eine Norm bestimmte Beträge ausgrenzt, um insoweit dem Prinzip der Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen, wie beispielsweise die Regelung des Freibetrags für Kinder nach § 32 Abs. 6 EStG, so handelt es sich bei dieser um eine „technische“ („unechte“) Steuervergünstigung, die als Fiskalzwecknorm zu qualifizieren ist.545 Hiervon sind die steuerentlastenden Sozialzwecknormen546 als „echte“ Steuervergünstigungen abzugrenzen. Diese – auch „interventionistische“ Steuervergüns 541
Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 74, 80. Zum Ganzen: Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 130. 543 Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 132. 544 Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 85. 545 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 89; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 92. 546 Zum Begriff siehe: Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 22. 542
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tigungen genannten – Regelungen lassen sich wiederum in Vergünstigungen, die ein bestimmtes Verhalten des Steuerpflichtigen motivieren oder belohnen wollen, also Lenkungszwecke verfolgen, und solche, die eine bestimmte Wohlstandsverteilung korrigieren wollen und damit eine Umverteilung bezwecken, unterteilen.547 Unter den Begriff der Subvention fallen allein die lenkenden Vergünstigungen.548 Wenn eine Steuernorm an feststehende personenbezogene Merkmale, wie beispielsweise das Alter, und nicht an ein bestimmtes Verhalten anknüpft, so handelt es sich bei dieser um eine Umverteilungsnorm.549 Die umverteilende Wirkung ergibt sich hier aus der Nichtbegünstigung der nicht vom Anwendungsbereich der Steuervergünstigungsnorm erfassten Steuerpflichtigen, die gleichwohl anteilig die Gemeinlasten zu tragen haben.550 (bb) Steuerbenachteiligungen Neben Steuervergünstigungen können innerhalb einer bestimmten Steuer auch steuerliche Sonderbehandlungen in Form einer Belastungserhöhung auftreten.551 Sie sind von solchen Steuern abzugrenzen, die insgesamt lenkungspolitisch motiviert sind (sogenannte „Lenkungssteuern“), wie beispielsweise die Tabak-, Bieroder Hundesteuer.552 Steuerbenachteiligungen553 treten erheblich seltener auf als Steuervergünstigungen, was sich damit erklären lässt, dass es politisch einfacher ist, bestimmte Wählergruppen mit Privilegierungen zu befriedigen, statt mit Sonderbelastungen bei den Betroffenen auf Widerstand zu treffen.554 Trotz geringerer Akzeptanz in der Bevölkerung haben steuerliche Sonderbelastungen den Vorteil, dass durch sie ein Steueraufkommen entsteht, das zur Senkung anderer Steuern verwendet werden kann, während Steuervergünstigungen umgekehrt durch Belastung anderer
547
Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 80 ff.; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 92; anders: Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 92, die sich auf eine Abgrenzung von technischen und subventiven Steuervergünstigungen beschränken. 548 Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 51; a. A.: Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, S. 593, der die Begriffe synonym verwendet; für eine generelle Abschaffung von Steuersubventionen: Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 180 f. 549 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 92. 550 Jachmann, StuW 1998, 293 (294); ausführlich hierzu: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 122 ff. 551 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 78. 552 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 151. 553 Zu dieser Bezeichnung siehe: Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 6 Rn. 53, der hier ein Pendant zu Steuervergünstigungen sieht; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, verwendet die Begriffe „Sonderbelastung“ (S. 149) und „Steuerverschärfung“ (S. 150). 554 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 149.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
ausgeglichen werden müssen.555 Die Unterscheidung von Steuervergünstigungen und Steuerverschärfungen ist jedoch in vielen Fällen nur ein „Spiel mit Worten“, da eine Benachteiligung häufig das „Spiegelbild der Bevorzugung“ darstellt und umgekehrt.556 Für eine trennscharfe Abgrenzung muss das Steuergesetz deutlich machen, worin die Regelbelastung bestehen soll.557 (c) Zwischenfazit Als Steuernormen sind sowohl Fiskalzwecknormen als auch Sozialzwecknormen (Lenkungs- und Umverteilungsnormen) zu qualifizieren, sofern durch sie (auch) ein Steueraufkommen erzielt werden soll. Bei all diesen Regelungen richtet sich die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich nach Art. 105 GG. Dasselbe gilt für Steuervergünstigungen und Steuerbenachteiligungen, die sich je nach ihrem Zweck einer dieser Normkategorien zuordnen lassen. (d) „Tagging“-Normen als Steuervorschriften Im Rahmen einer Beurteilung der geplanten Regelungen ist zunächst deren Funktion herauszuarbeiten. (aa) Einordnung als steuerliche Sonderbehandlung? In der Modifizierung der Einkommensbesteuerung dahingehend, dass für Personen die Steuerhöhe je nach bestimmten exogenen Charakteristika abgemildert oder verschärft wird, könnte man zunächst Steuervergünstigungen beziehungsweise -benachteiligungen sehen. Steuersatzermäßigungen sind nur dann als Steuervergünstigung zu qualifizieren, wenn sie eine Ausnahme von einem Regelsteuersatz darstellen. Differenziert ein Steuergesetz von vornherein ohne Festlegung eines Regelsteuersatzes, dann stellt ein niedriger Steuersatz keine Steuervergünstigung dar. So handelt es sich beispielsweise bei keinem der über dreißig Steuersätze der Kraftfahrzeugsteuer um eine Steuervergünstigung.558 Bei einem differenzierten System kann eine Steuervergünstigung nur bei Regelungen bejaht werden, die aus diesem System heraus fallen.559 Eine Variierung des Grundfreibetrags nach bestimmten Eigenschaften 555
Homburg, Allgemeine Steuerlehre, S. 181 f., der diesen Unterschied anhand des Vergleichs einer „Pigou-Steuer“ mit einer „Pigou-Subvention“ verdeutlicht; Wernsmann, Verhaltens lenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 151. 556 BVerfGE 17, 1 (23). 557 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 151. 558 Zum Ganzen: Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 174 f. 559 Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 177.
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der Steuerpflichtigen – die dem deutschen Einkommensteuerrecht bislang fremd ist –560 lässt ebenfalls keinen regulären Grundfreibetrag erkennen. In den vorliegenden Modellvarianten wird für jeden Steuerpflichtigen individuell in Abhängigkeit von dessen Charakteristika eine bestimmte Steuerhöhe festgelegt – durch Modifizierung des Steuersatzes oder durch Anpassung des Grundfreibetrags. Damit fehlt es an einem für Steuervergünstigungen sowie Steuerbelastungen typischen „Regel-Ausnahme-Verhältnis“. Durch „Tagging“ soll nicht von der Regelbesteuerung abgewichen, sondern es soll diese gerade geändert werden. Somit ist eine differenzierende Besteuerung aufgrund exogener Charakteristika nicht den steuerlichen Sonderbehandlungen zuzuordnen. (bb) Einordnung innerhalb der Steuerarten Mithilfe einer Anknüpfung des Einkommensteuertarifs an bestimmte „tags“ und die damit einhergehende Umverteilung soll eine Steigerung der Gesamtwohlfahrt erreicht werden. Bei „Tagging“ handelt es sich um ein „Wohlfahrtssystem“,561 bei dem fiskalische Interessen nicht im Fokus stehen, sondern das vielmehr sozialpolitische Ziele anstrebt. Demzufolge sind die geplanten Modelle den Sozialzwecknormen zuzuordnen. Innerhalb dieser Kategorie lassen sich wiederum Lenkungs- und Umverteilungsnormen unterscheiden. Die geplanten „Tagging“-Normen zielen darauf ab, Steuerpflichtige mit geringem Potenzial zur Erzielung von Einkünften steuerlich zu entlasten, indem die Personengruppe mit besseren Fähigkeiten entsprechend stärker belastet werden soll, und bezwecken hierdurch einen sozialen Ausgleich. Sie stellen damit einen klassischen Fall der Umverteilungsnormen dar. Darüber hinaus soll die Gesamtwohlfahrt neben der Herstellung einer solchen sozialen Gleichstellung zusätzlich durch eine „Potenzialausschöpfung“ gesteigert werden. Durch die Einführung eines erhöhten Steuertarifs für Menschen, die aufgrund ihrer exogenen Charakteristika mit geringer Anstrengung hohe Einkünfte erzielen, sollen diese dazu motiviert werden, mehr Arbeitsaufwand zu erbringen, um die Effizienz und damit das Steueraufkommen des Staates zu erhöhen. Aufgrund dieser beabsichtigten Verhaltensbeeinflussung könnte man annehmen, dass es sich vorliegend auch um Lenkungsnormen handelt. Jedoch stellt sich der typische Fall einer Lenkungsnorm wie folgt dar: Durch Steuerentlastungen und -belastungen werden für die Steuerpflichtigen gezielt Anreize gesetzt, sich „sozial erwünscht“ beziehungsweise „nicht sozial unerwünscht“ zu verhalten;562 sie „lenken“ somit deren Verhalten in eine bestimmte Richtung. 560
Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 160. Akerlof, AER 1978, 8 (8): „system of welfare“. 562 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 21. 561
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Der Einzelne hat dabei selbst in der Hand, ob er eine Steuerentlastung in Anspruch nehmen kann oder einer zusätzlichen Belastung unterliegt, da er dies durch sein eigenes Verhalten steuern kann. Bei den „Tagging“-Modellen wird dagegen die Höhe des Steuertarifs beziehungsweise des Grundfreibetrags von dem Vorliegen bestimmter exogener Charakteristika beim Steuerpflichtigen und gerade nicht von dessen Entscheidungen abhängig gemacht. Knüpft eine Steuer an unveränderliche Merkmale, also an das „So-Sein“ einer Person an, sodass diese die Einbeziehung in den steuerentlastenden Tatbestand beziehungsweise die Vermeidung der Steuerbelastung nicht erreichen kann, so kann nicht mehr von Verhaltenslenkung gesprochen werden, sondern vielmehr von personenbezogenen Diskriminierungen.563 Die Erhöhung der Ein-kommensteuer für bestimmte Personengruppen selbst soll dazu führen, dass diese ihren Arbeitsaufwand steigern. Der Unterschied zur Wirkungsweise einer „klassischen“ Lenkungsnorm besteht hier darin, dass die Steuererhöhung nicht als Abschreckung für ein bestimmtes Verhalten eingesetzt wird, sondern dass die betroffene Gruppe ohne eigene Einflussnahme direkt der Belastung unterfällt. Im Anschluss erfolgen als Reaktion auf die Belastungsmaßnahme die von ihr bezweckten Verhaltensweisen. Die geplanten Regelungen stellen demnach keine Lenkungsnormen dar. (e) Zwischenfazit Abschließend kann gefolgert werden, dass die zu analysierenden „Tagging“Normen den Umverteilungsnormen als Subkategorie der Sozialzwecknormen zuzuordnen sind. Da sie keine Ausnahme von einem bestimmten Besteuerungssystem darstellen, sondern gerade die Regelbesteuerung des Einkommensteuerrechts modifizieren sollen, handelt es sich um keine Steuervergünstigungen beziehungsweise -benachteiligungen. Bei Umverteilungsnormen handelt es sich ebenfalls um Steuernormen im Sinne des Grundgesetzes. Folglich ist es grundsätzlich legitim, die vorliegenden Umverteilungszwecke durch Steuernormen zu verfolgen. (2) Für eine Umverteilung maßgebliche Verfassungsprinzipien Des Weiteren gilt es herauszuarbeiten, welche Verfassungsprinzipien in welchem Ausmaß eine Umverteilungszielsetzung gebieten. Der Gedanke der Umverteilung kommt zum einen im Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG zum Ausdruck. 563
Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 46; ähnlich auch: Jochum, Die Steuervergünstigung, S. 84, für den eine Lenkung ein Verhalten des Begünstigten in der Vergangenheit oder Zukunft voraussetzt.
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Darüber hinaus könnten auch die Gleichheitssätze des Grundgesetzes in einem gewissen Umfang den Gleichstellungsbegriff und damit eine gewisse Umverteilung implizieren. (a) Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG In Art. 20 Abs. 1 GG enthält das Grundgesetz ein „Bekenntnis zum Sozialstaat“.564 Das Sozialstaatsprinzip stellt eine Staatszielbestimmung dar,565 die dem Staat einen Verfassungsauftrag verbindlich vorgibt.566 Dieser Auftrag enthält keine genauen Vorgaben dahingehend, wie das vorgegebene Ziel im Einzelnen zu errei chen ist und erlaubt beziehungsweise erfordert in hohem Maße eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber.567 Letzterem steht bei der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips ein weiter Gestaltungsspielraum zu.568 Zwingend ist, dass von dem Sozialstaat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger gesichert werden.569 Darüber hinaus wird der Gesetzgeber im Rahmen seines erheblichen politischen Gestaltungsspielraums sowie nach Maßgabe der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen tätig.570 Zudem hat jeder die Pflicht, einen Verlust, den die Allgemeinheit zu tragen hat, zunächst selbst zu mindern, soweit ihm dies zumutbar ist („Vorrang der Selbsthilfe“).571 Aus dem Sozialstaatsprinzip lassen sich grundsätzlich keine subjektiven Rechte des Einzelnen auf ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte soziale Leistung ableiten.572 Es dient auch nicht als Grundlage sonst unmittelbarer Rechtsfolgen.573 564
BVerfGE 1, 97 (105). Ipsen, Über das Grundgesetz, S. 8; Badura, DÖV 1989, 491 (493); Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 20 Rn. 103; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VIII Rn. 18. 566 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 20 Rn. 47. 567 BVerfGE 1, 97 (105); 22, 180 (204); 59, 231 (263); 65, 182 (193); 82, 60 (80); 100, 271 (284). 568 BVerfGE 18, 257 (273); 29, 221 (235); 59, 231 (263). 569 BVerfGE 40, 121 (133); 82, 60 (80); 110, 412 (446). 570 Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VIII Rn. 18; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 56 (im Hinblick auf soziale Hilfen). 571 BVerfGE 17, 38 (56); Zacher, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts des Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 28 Rn. 33; Enders, in: Der Sozialstaat in Deutschland und Europa, VVDStRL 64 (2005), S. 7 (48); Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 18; Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 20 Abs. 1 Rn. 112: „Hilfe zur Selbsthilfe“. 572 BVerfGE 27, 253 (283); 39, 302 (315); 41, 126 (153 f.); 69, 272 (314); 82, 60 (80); 94, 241 (263); 110, 412 (445); st. Rspr.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, § 21 S. 916; Zacher, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 28 Rn. 121; Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 20 Rn. 50; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VIII Rn. 19; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 Rn. 209. 573 BVerfGE 65, 182 (193). 565
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Das Sozialstaatsprinzip soll insbesondere für eine gerechte Sozialordnung sorgen,574 soziale Gegensätze ausgleichen575 und die soziale Sicherheit der Bürger gewährleisten.576 Der soziale Ausgleich, die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit gelten als „Leitgedanken“ dieses Prinzips, die sich gegenseitig ergänzen und konkretisieren.577 Insbesondere die Begriffe des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit stehen in einem wechselbezüglichen Verhältnis. So führt das BVerfG aus, „dass der Staat die Pflicht hat, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“.578 Durch den Bezug der Gerechtigkeit auf den sozialen Ausgleich erfolgt eine Abkehr von einem absoluten Gerechtigkeitsverständnis, sodass man unter Gerechtigkeit eine Ordnungsaufgabe versteht, die im politisch-kommunikativen Prozess und in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation zu erfüllen ist.579 Der soziale Rechtsstaat muss die tatsächlichen infrastrukturellen und gesamtwirtschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine angemessene Nutzung der Freiheitsrechte gewährleistet ist.580 Der soziale Ausgleich im Sinne des Sozialstaatsprinzips strebt damit eine Chancengleichheit und gerade keine Ergebnisgleichheit an.581 Der Sozialstaat beseitigt ungleiche Startchancen aufgrund ungleicher gesellschaftlicher Bedingungen, also die einem Gebrauch der Freiheitsgrundrechte entgegenstehenden tatsächlichen Hindernisse.582 Obgleich die Chancengleichheit weitergeht als der Begriff der rechtlichen Gleichheit, der aufgrund faktischer Ungleichheit keine gleichen Startbedingungen sichert, gebietet sie keine
574 BVerfGE 5, 85 (198); 22, 180 (204); 27, 253 (283); 59, 231 (263); 93, 121 (163); 94, 241 (263); 97, 169 (185); 110, 412 (445). 575 BVerfGE 22, 180 (204); 94, 241 (263); 97, 169 (185); 110, 412 (445). 576 BVerfGE 21, 362 (375); 28, 324 (348): „Schutz der sozialen Existenz gegen die Wechselfälle des Lebens“. 577 Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 37; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VIII Rn. 21. 578 BVerfGE 22, 180 (204); ebenso, nur mit anderem Wortlaut: BVerfGE 94, 241 (263); 97, 169 (185); 110, 412 (445). 579 Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 52; siehe hierzu auch: Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 20 Rn. 104, der den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ aufgrund von dessen Subjektivität als überflüssig ansieht. 580 BVerfGE 33, 303 (331); Kirchhof, in: Ruland / von Maydell / Papier, Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, S. 323 (329 f.); Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 20 Abs. 1 Rn. 111; Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1412; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 21; Ramm, JZ 1972, 137 (145). 581 Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 20 Abs. 1 Rn. 111; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 40; Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1412. 582 Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 40.
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
167
Herstellung faktischer sozialer Gleichheit im Sinne einer Zielgarantie, sondern veranlasst vielmehr eine Angleichung der von Natur aus ungleichen Verhältnisse.583 Faktische Ungleichheiten dürfen bei Berufung auf das Sozialstaatsprinzip nur unter Beachtung der Grundrechte angeglichen werden.584 Obwohl unter dem Sozialstaatsprinzip kein umfassendes Egalisierungsgebot zu verstehen ist, welches den Gesetzgeber von der Beachtung des Gleichbehandlungsgebots freistellt, ist jedenfalls eine Rechtfertigung von rechtlichen Ungleichbehandlungen als kollidierendes Verfassungsrecht zum Ausgleich sozialer Nachteile möglich.585 Dies bedeutet, dass das Sozialstaatsprinzip als Rechtfertigungsgrund für Ungleichbehandlungen in Betracht kommt. Zudem hat das Sozialstaatsprinzip maßgeblichen Einfluss auf die Auslegung der Gleichheitssätze und spielt eine Rolle bei der Festlegung dessen, was als wesentlich „gleich“ oder „ungleich“ zu qualifizieren ist.586 Somit ist eine durch Umverteilung bewirkte Angleichung tatsächlicher Unterschiede ein von Art. 20 Abs. 1 GG gebotenes Ziel. (b) Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Des Weiteren stellt sich die Frage, inwiefern dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG ein Umverteilungsgebot entnommen werden kann. (aa) Rechtliche Gleichheit Wie bereits gezeigt, verwirklicht der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in erster Linie rechtliche Gleichheit.587 Nach dieser sind alle Menschen von Natur aus gleich und frei. Dahinter steht der Gedanke, dass völlige Gleichheit nur durch Abschaffung der künstlichen Unterscheidungen erreicht werden kann. Es bedarf hiernach keiner staatlichen Maßnahmen, um rechtliche Gleichheit herzustellen, da eine solche bereits von selbst vorliegt.588 Gleichheit wird auch in Zu-
583
Kirchhof, NJW 1987, 2354 (2356). Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 335. 585 BVerfGE 94, 241 (263); 99, 367 (395); Axer, in: Erosion von Verfassungsvoraussetzungen, VVDStRL 68 (2009), S. 177 (213); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 20 Rn. 165. 586 Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1405 ff.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 20 Rn. 166; zur Berücksichtigung sozialer Aspekte im Steuerund Abgabenrecht: BVerfGE 13, 331 (347). 587 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. d) aa) und 2. b) aa) (2) (b) (aa). 588 Zum Ganzen: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 3. 584
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
sammenhang mit der Freiheit gesehen, wobei Freiheit nur dann vorliegen soll, wenn rechtliche Gleichheit besteht.589 (bb) Faktische Gleichheit Im Gegensatz hierzu geht die Idee der „faktischen“ Gleichheit, auch „mate rielle“ 590 oder „soziale“ 591 Gleichheit genannt, davon aus, dass Menschen von Natur aus ungleich sind. Gleichheit kann danach erst durch aktive Maßnahmen des Staates hergestellt werden, mit denen er wegnimmt und neuverteilt.592 Der frei handelnde Mensch bedroht stets die faktische Gleichheit der Menschen.593 Die Frage, inwieweit der allgemeine Gleichheitssatz im Rahmen der von ihm verwirklichten Rechtsgleichheit den Ausgleich vorhandener, insbesondere wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede fordert, wird kontrovers diskutiert. Der zentrale Konflikt besteht darin, dass sich rechtliche und faktische Gleichheit gegenseitig ausschließen, da rechtliche Gleichheit zugleich faktische Ungleichheit bedeutet und umgekehrt faktische Gleichheit nur durch rechtliche Ungleichheit erreicht werden kann.594 Die Herstellung einer völlig faktischen, materiellen Gleichheit unter den Menschen im Sinne einer Ergebnisgleichheit kann den Verfassungsbestimmungen vernünftigerweise nicht entnommen werden. Diese verfolgt das Ziel der tatsächlichen Gleichheit der Menschen, unabhängig von den Eignungen und Fähigkeiten einer einzelnen Person.595 Ein solches Verständnis von Gleichheit steht im Widerspruch 589
Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 21 ff. Zippelius, in: VVDStRL 47 (1989), S. 8 (14); abweichende Meinung des Richters Böcken förde zum Beschluss des Zweiten Senats v. 22. 06. 1995, BVerfGE 93, 121 (163); Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 27: „materiale Gleichheit“. 591 Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 430; Zacher, AöR 93 (1968), 341 (371). 592 Starck, in: Link, Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, Symposion zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, S. 51 (55 f.); Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 4. 593 Abweichende Meinung des Richters Böckenförde zum Beschluss des Zweiten Senats v. 22. 06. 1995, BVerfGE 93, 121 (163); Böckenförde, in: Ehmke / Schmid / Scharoun, Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, S. 53 (67 f.); Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 151; Heckel, in: Maurer, Das akzeptierte Grundgesetz, Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, S. 241 (252 f.). 594 Ähnlich: BVerfGE 12, 354 (367): „Einzelne Gruppen fördern heißt bereits, andere ungleich behandeln“; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 378; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 68 f.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 4 f.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 98: „Paradox der Gleichheit“; Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 151 f.; Schweizer, Der Gleichberechtigungssatz – neue Form, alter Inhalt?, S. 191 f. 595 Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 152. 590
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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zu den Freiheitsgrundrechten.596 In diesem Zusammenhang lässt sich des Weiteren lässt sich die Existenz anderer Verfassungsbestimmungen, wie beispielsweise das in Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip anführen, in denen sich das Grundgesetz mit sozialen Lebensbedingungen befasst hat und die zwar keine vollständige faktische Gleichheit, jedoch gewisse soziale Ausgleichsmaßnahmen vorsehen.597 Würde man in der von dem Gleichheitssatz gebotenen rechtlichen Gleichheit eine strikte Ablehnung der faktischen Gleichheit sehen, so würde hingegen völlig außer Acht gelassen, dass der Staat bei seinen Maßnahmen die Einflüsse anderer Verfassungsgarantien, insbesondere der Sozialstaatsgarantie, zu beachten hat, aufgrund derer die von Art. 3 Abs. 1 GG gebotene rechtliche Gleichheit in manchen Fällen eingeschränkt werden kann.598 Wird der Staat tätig, so hat er über die von ihm gewährleistete Rechtsgleichheit hinaus nach Maßgabe anderer Verfassungsgarantien auch faktische Unterschiede von Personen zu berücksichtigen. Bei dieser Bildung von „Gattungen“ spielen faktische Ungleichheiten im Zusammenspiel mit anderen Verfassungsnormen eine Rolle.599 Insbesondere das Sozialstaatsprinzip, das eine verfassungsrechtliche Aufforderung zur Herstellung eines sozialen Ausgleichs enthält und dessen Wertungen Differenzierungserlaubnisse im Hinblick auf den Gleichheitssatz vorsehen, ist in diesem Kontext von Bedeutung.600 Faktische Ungleichheiten erhalten demnach als Ausprägung anderer Verfassungsbestimmungen bei Gleichheitsverstößen auf Rechtfertigungsebene Bedeutung.601
596
Starck, in: Link, Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, Symposion zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, S. 56; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommen tar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 4; Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 312. 597 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 6; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 69; Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art 3 Rn. 312. 598 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 6, 27 f., 31 f.; Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, S. 432; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 67 (im Hinblick auf die Möglichkeit einer Rechtfertigung). 599 Ähnlich: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 16 ff. („Differenzierungsverbote“, „Differenzierungsgebote“ und „Differenzierungserlaubnisse“); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 380 f.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 101. 600 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 67; Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 27 f. 601 Zur Frage, welchen Verfassungsbestimmungen sich ein solches Gebot in welchem Umfang entnehmen lässt, siehe im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(cc) Chancengleichheit Neben den Begriffen der rechtlichen und faktischen Gleichheit wird häufig noch der Begriff der „Chancengleichheit“ genannt. Unter dieser wird „Startgleichheit“, also die Herstellung gleicher Ausgangsbedingungen, verstanden.602 In diesem Kontext ist zum einen die „Chancengleichheit der politischen Parteien“ von Bedeutung. Diese wird zum Teil aus Art. 21 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG,603 teilweise jedoch auch aus Art. 21 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip604 abgeleitet. Sie besagt, dass dem Ermessen der öffentlichen Gewalt im Parteienwettbewerb besonders enge Grenzen gesetzt sind.605 Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber zwar nicht zum Ausgleich bestehender faktischer Unterschiede zwischen den Parteien verpflichtet ist, jedoch derartige Ungleichheiten nicht verschärfen darf.606 Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien findet unter Heranziehung der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere im Bereich der Wahlen als sogenannte „wahlrechtliche Chancengleichheit“ Anwendung. Diese gilt für die Wahlvorbereitung,607 für den Wettbewerb zur Erlangung von Spenden,608 für die Wahlwerbung im Rundfunk609 sowie im gesamten „Vorfeld“ der Wahlen610.611 Obgleich das BVerfG die Wahlrechtsgleichheit in der Vergangenheit als Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 1 GG ansah,612 hat es diese Auffassung nunmehr ausdrücklich aufgegeben.613 Hierdurch schloss es sich der mehrheitlichen Auffassung in der Literatur an.614 602
Schoch, DVBl. 1988, 863 (880 f.); Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 33; Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 152; siehe auch: BVerfGE 111, 54 (105) im Hinblick auf die Chancengleichheit politischer Parteien. 603 BVerfGE 6, 273 (280); 7, 99 (107); 47, 198 (225); 104, 14 (19 f.); 111, 54 (104); 111, 382 (398). 604 BVerfGE 44, 125 (145); 91, 262 (269). 605 BVerfGE 11, 351 (360); 20, 56 (116); 44, 125 (146); 52, 63 (89); 82, 322 (337); 85, 264 (297); 95, 408 (417); 104, 14 (19 f.); st. Rspr. 606 BVerfGE 42, 53 (59); 52, 63 (89); 73, 40 (89); 78, 350 (358); 85, 264 (297); st. Rspr. 607 BVerfGE 3, 19 (26 f.); 3, 383 (392 f.); 4, 375 (382 f.). 608 BVerfGE 6, 273 (280); 8, 51 (64 f.); 52, 63 (89). 609 BVerfGE 7, 99 (107 f.); 14, 121 (132 f.). 610 BVerfGE 8, 51 (64 f., 68); 14, 121 (132); 47, 198 (225); 52, 63 (89). 611 BVerfGE 104, 14 (19 f.). 612 BVerfGE 1, 208 (242); 3, 383 (390 f.); 4, 31 (39); 4, 375 (382); 6, 84 (91); 11, 266 (271); 11, 351 (360); 12, 10 (25); 12, 73 (76); 13, 1 (12); 13, 243 (246); 18, 172 (180); 24, 300 (340); 28, 220 (225); 34, 81 (98); 41, 399 (413); 47, 253 (269); 48, 64 (79); 51, 222 (232); 57, 43 (56); 58, 177 (190); 69, 92 (106); 71, 81 (94); 78, 350 (357); 85, 148 (157). 613 BVerfGE 99, 1 (8 ff.); 121, 108 (120 ff.). 614 Frowein, AöR 99 (1974), 72 (81); Trute, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 38 Rn. 55; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 38 Rn. 9; Magiera, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 38 Rn. 92; Murswiek, JZ 1979, 48 (50); a. A.: Roth, DVBl. 1998, 214 (216 f.); mit Einschränkungen: Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 95 und 142.
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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Sofern jedoch Art. 38 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG nicht anwendbar sind, er folgt für die wahlrechtliche Chancengleichheit ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz.615 Gemäß Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG gilt im Prüfungsrecht ebenfalls ein Grundsatz der Chancengleichheit. Dieser fordert eine strenge (formale) Gleichbehandlung der Prüflinge.616 Bei berufsbezogenen Prüfungen darf der Gestaltungsraum des Gesetzgebers nicht weiter sein als bei solchen Übergangsregelungen, die allein am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu prüfen sind.617 Im Rahmen des Möglichen müssen auf vergleichbare Prüfungskandidaten vergleichbare Bewertungskriterien und Prüfungsbedingungen Anwendung finden.618 Darüber hinaus wird die Chancengleichheit durch besondere Verfassungs bestimmungen wie Art. 6 Abs. 5 GG geboten.619 Im Einzelfall wird dem allgemeinen Gleichheitssatz durch Zusammenspiel mit anderen Verfassungsnormen eine Angleichung faktischer Lebensverhältnisse entnommen.620 So wird beispielsweise Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 3 GG in seiner Ausprägung des Art. 19 Abs. 4 GG ein „Gebot der Rechtsschutzgleichheit“ entnommen, welches bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten fordert.621 Es besteht weitgehende Einigkeit, dass dem allgemeinen Gleichheitssatz allein keine Pflicht zur Kompensation sozialer Ungleichheiten entnommen werden kann.622 Doch auch deren Herleitung aus Art. 3 Abs. 1 GG in Kombination mit an 615 Siehe hierzu insbesondere: BVerfGE 30, 227 (246): Wahlen der sozialversicherungsrechtlichen Selbstverwaltung; 60, 162 (169 ff.); 71, 81 (94 f.): Wahlen der Personalvertretung und Arbeitnehmerkammern; 111, 289 (300 ff.): Wahlen der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat; 51, 222 (234 f.); 129, 300 (317 f.): Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments. 616 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 58; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 37. 617 BVerfGE 37, 342 (352 ff.); 79, 212 (218 ff.). 618 BVerfGE 84, 34 (50 ff.); ausführlich hierzu: Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 37 ff. 619 Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 91. 620 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 99. 621 BVerfGE 81, 347 (356 f.). 622 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 385; Kirchhof, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 181 Rn. 6, 10 ff.; Osterloh, EuGRZ 2002, 309 (310 f.); Pietzcker, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, § 125 Rn. 15; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 3 ff., 33 ff.; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grund gesetz, Art. 3 Rn. 99; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 64; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 69; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 5 f.; Götz, Recht der Wirtschaftssubventionen, S. 263 f.; Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 200 ff.; Schoch, DVBl. 1988, 863 (869).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
deren Verfassungsnormen ist kritisch zu beurteilen. Es erscheint widersprüchlich, dem Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes sowohl ein Gebot der Rechtsgleichheit als auch zugleich eine Pflicht zur faktischen Angleichung, die gerade mit der rechtlichen Gleichheit in Widerspruch steht, zu entnehmen.623 Die besonderen Ansprüche auf Chancengleichheit weisen jeweils einen konkreten Bezug zu besonderen Gewährleistungen außerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG auf, die dieser selbst prinzipiell nicht begründen kann.624 Ob hierfür neben der Heranziehung anderer Verfassungsnormen ein zusätzliches Abstellen auf den Gleichheitssatz erforderlich ist, erscheint daher zweifelhaft.625 Die Ausdehnung des Gewährleistungsumfangs des Art. 3 Abs. 1 GG auf die Chancengleichheit führt zudem zwangsläufig zu Abgrenzungsschwierigkeiten. So muss bei jeder Maßnahme sozialer Angleichung vorab die Frage gestellt werden, ob diese von Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit einem anderen Verfassungsprinzip, beispielsweise dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG, gewährleistet wird, oder ob sie vielmehr eine Ungleichbehandlung darstellt, während das Sozialstaatsprinzip auf Rechtfertigungsebene zu verankern ist. Solche Unsicherheiten bei der Abgrenzung könnten vermieden werden, wenn man dem allgemeinen Gleichheitssatz ausnahmslos eine rein formelle, rechtliche Gleichheit entnehmen würde und konsequenterweise alle Verfassungsprinzipien, die Maßnahmen zur Herstellung einer Chancengleichheit verwirklichen, sodann im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung heranzieht. (dd) Zwischenfazit Festzuhalten ist, dass der allgemeine Gleichheitssatz erster Linie ein Gebot rechtlicher Gleichheit enthält. Die Gewährleistung einer faktischen Angleichung der Lebensverhältnisse durch Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit anderen Verfassungsnormen ist kritisch zu beurteilen und sollte daher nur äußerst restriktiv und allein in den anerkannten Fällen bejaht werden. Darüber hinaus ist die Berücksichtigung tatsächlicher Ungleichheiten bei anderen Verfassungsbestimmungen, wie beispielsweise dem Sozialstaatsprinzip, zu verankern, die einen Verstoß gegen die von Art. 3 Abs. 1 GG gewährte Rechtsgleichheit rechtfertigen können. Dabei ist zu beachten, dass die Herstellung faktischer Gleichheit im Sinne einer „Ergebnisgleichheit“ im Widerspruch zur Verfassung steht; allein die Herbeifüh-
623
Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 69; Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 5 f.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 49; a. A.: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 378 ff.; Hesse, AöR 77 (1951/52), 167 (208 ff.). 624 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 64. 625 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 6; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 99.
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rung gleicher Ausgangsbedingungen im Sinne einer „Chancengleichheit“ kommt als legitimes Ziel in Betracht. (c) Gleichberechtigung der Geschlechter nach Art. 3 Abs. 2 GG Der Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 GG ist neben einem abwehrrechtlichen Diskriminierungsverbot ein Gebot der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu entnehmen.626 Für die Charakterisierung des Gleichberechtigungsgebots werden unterschiedliche Begriffe herangezogen. So wird dieses unter anderem als „Verfassungsauftrag“,627 „Schutzpflicht“,628 „Dominierungsverbot“,629 „unspezifische Begrenzungsbestimmung“,630 überwiegend jedoch als „Staatszielbestimmung“631 bezeichnet. Ungeachtet dessen lässt sich zumindest eine weitgehende Einigkeit dahingehend feststellen, dass es Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG rechtfertigen kann.632 Auch der Rechtsprechung des BVerfG ist ein solches Verständnis des Gleichberechtigungsverbots des Art. 3 Abs. 2 GG als Rechtfertigungsgrund zu entnehmen.633 Das Gleichberechtigungsgebot wird auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt und legitimiert den Ausgleich tatsächlicher, faktischer Nachteile.634 Es wird demnach auch die Gleichstellung erfasst, die auf die Schaffung rechtlicher Vorteile gerichtet ist, was auch in der Formulierung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG 626
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. a) aa). Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 105; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 56 ff. 628 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 261 mit Verweis auf den ausdrücklichen Wortlaut in: BVerfGE 89, 276 (286). 629 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 103; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 322. 630 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 168. 631 BT-Drs. 12/6000, S. 50 f.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 311 ff.; Di Fabio, AöR 122 (1997), 404 (412); Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 93; Ossenbühl, NJW 2012, 417 (418); König, DÖV 1995, 837 (840). 632 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 264 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 103, 105; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 57 f.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 118 ff.; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 168: „unspezifische Begrenzungsbestimmung gegenüber einem ausnahmslosen Verbot geschlechtsspezifischer Differenzierungen“; Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824); a. A.: Sachs, ZG 2012, 52 (57 ff.); Hergenröder, in: Henssler / Willemsen / Kalb, Arbeitsrecht, Kommentar, Art. 3 Rn. 87; François-Poncet / Deilmann / Otte, NZG 2011, 450 (454). 633 BVerfGE 74, 163 (180); 85, 191 (207); 89, 276 (285); 92, 91 (109, 112); 114, 357 (370). 634 BVerfGE 74, 163 (179 f.); 85, 191 (207); 89, 276 (286); 92, 91 (109). 627
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(„Der Staat […] wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“) zum Ausdruck kommt.635 Bei der Verwirklichung des Gleichberechtigungsgebots hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.636 Art. 3 Abs. 2 GG begründet für den Einzelnen keine subjektiven Rechte, also keinen individuellen Anspruch auf ein bestimmtes staatliches Handeln oder bestimmte staatliche Leistungen.637 Im Rahmen der strengen Rechtfertigungsprüfung von Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts wird Art. 3 Abs. 2 GG in einer Abwägung „mit kollidierendem Verfassungsrecht“ berücksichtigt und beide Positionen werden so zu einem Ausgleich gebracht.638 Dabei ist zu beachten, dass Art. 3 Abs. 2 GG eine individuelle Chancengleichheit der Geschlechter und keine kollektive Ergebnis- oder Erfolgsgleichheit bezweckt.639 Folglich lässt sich dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG in einem gewissen Umfang ein Gebot zur faktischen Angleichung im Hinblick auf die Geschlechter entnehmen. (d) Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 2 GG wird der Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, ebenso wie dem allgemeinen Gleichheitssatz, keine Verpflichtung zur Kompensation faktischer Nachteile, sondern allein die Garantie einer rechtlichen Gleichheit entnommen.640 Würde man dieser Regelung zusätzlich ein solches Gebot „positiver Diskriminierung“641 zuschreiben, so bestünde für den Staat eine Pflicht zur Durchbrechung 635
Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 269 f. BVerfGE 109, 64 (90). 637 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 262; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 311; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 105; Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824). 638 BVerfGE 92, 91 (109 ff.); 114, 357 (368 ff.); Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 105, 113; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 168; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 266. 639 Huster, AöR 118 (1993), 109 (109 ff.); Di Fabio, AöR 122 (1997), 404 (412 f.); Hirte, Der Konzern 2013, 367 (377); Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (318); Spindler / Brandt, NZG 2011, 401 (402); Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419); Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824); Sachs, NJW 1989, 553 (556). 640 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 18; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 372; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 117, 139; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 134 f.; a. A.: Frowein, in: Ruland / von Maydell / Papier, Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, S. 157 (160); Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 235. 641 Zu diesem Begriff: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 134. 636
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des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.642 Zudem ist es letztlich unmöglich, den Inhalt faktischer Gleichheit überhaupt festzulegen beziehungsweise eine solche vollständig zu erreichen.643 Darüber hinaus besagt der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, dass niemand wegen der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Es wäre mithin widersprüchlich, dieser Regelung ein Gebot zum Ausgleich tatsächlicher Nachteile zu entnehmen, wenn sie gleichzeitig Maßnahmen der Bevorzugung verbietet.644 Zwar ist Art. 3 Abs. 2 GG sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG645 ein solcher „Doppelcharakter“ zu entnehmen; anders als bei Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG finden sich bei diesen Normen jedoch im Wortlaut Anhaltspunkte für einen solchen Förderauftrag.646 Es würde jedenfalls zu weit gehen, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Rechtfertigungsgrund zum Ausgleich faktischer Nachteile bei Minderheiten zu verstehen.647 Vor diesem Hintergrund stellen Maßnahmen, die durch Anknüpfung an eines der verpönten Merkmale die Rechtsstellung eines Einzelnen unmittelbar betreffen, eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG dar. Die Verneinung eines Gebots zum Ausgleich tatsächlicher Nachteile hieraus erscheint daher nur konsequent. Abgesehen von dem Merkmal Geschlecht, das von dem speziellen Förderauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG erfasst ist, folgen kompensatorische Maßnahmen, die eine Bevorzugung wegen der übrigen in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale bewirken, aus dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG.648 Die Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG selbst bieten dagegen keine Grundlage für den Ausgleich faktischer Nachteile. (e) Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Anders als die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbietet die Regelung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dem Wortlaut nach nur eine Benachteiligung, nicht hingegen eine Bevorzugung wegen des Merkmals „Behinderung“.649 642
Langenfeld, in: Rektor der Universität Augsburg, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, Ansprachen und Materialien zur Verleihung des Augsburger Wissenschaftspreises für Interkulturelle Studien 2001 an Prof. Dr. Christine Langenfeld am 16. Mai 2001 an der Universität Augsburg, S. 31 (44); Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 18; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 372. 643 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 18. 644 Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 372. 645 Zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG siehe sogleich im Folgenden unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (e). 646 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 3 Rn. 18. 647 So aber wohl: Ziekow, DÖV 2014, 765 (768). 648 Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 372. 649 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 135; Jarass, in: Jarass /
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Bevorzugungen, die eine Angleichung der tatsächlichen Verhältnisse von Menschen mit und ohne Behinderung bezwecken, sind nach dieser grundsätzlich erlaubt.650 Durch diese Vorschrift wird insbesondere bezweckt, die Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft zu stärken.651 Dogmatisch sowie inhaltlich weist sie eine Ähnlichkeit zu Art. 3 Abs. 2 GG auf.652 Ob das Benachteiligungsverbot originäre subjektive Leistungsansprüche begründet, wurde vom BVerfG bislang offengelassen.653 Die herrschende Ansicht in der Literatur lehnt dies jedoch ab.654 Gleichwohl stellt Art. 3 Abs. 2 Satz 3 GG Ausdruck der besonderen Verantwortung des Staates dar655 und kann im Einzelfall eine behindertengerechte Ausgestaltung von staatlichen Leistungen fordern.656 Dabei steht dem Staat allerdings ein weiter Einschätzungsspielraum zu, der unter dem Vorbehalt des Möglichen und finanziell Vertretbaren steht.657 Bei Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG handelt es sich um eine Staatszielbestimmung, die als verfassungsrechtliche Basis für die Stärkung der Behinderten in der Gesellschaft dient.658 Diese Vorschrift konkretisiert das Sozialstaatsprinzip im Hinblick auf das Merkmal Behinderung.659 In diesem Sinne können Ungleichbehandlungen gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, die sich durch Bevorzugungen von Behinderten ergeben, durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als spezielle Differenzierungserlaubnis gerechtfertigt werden.660
Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 160: „mit einseitig (relativem) Charakter“; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 312. 650 BVerfGE 96, 288 (312 f.). 651 BT-Drs. 12/8165, S. 28 f. 652 Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 135. 653 BVerfGE 96, 288 (304). 654 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 305; Sachs, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 182 Rn. 124; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 139; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 198; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 237; Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 122 S. 1784; a. A.: Beaucamp, DVBl. 2002, 997 (1000 ff.). 655 BVerfGE 96, 288 (304). 656 Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 198. 657 BVerfGE 34, 165 (183 f.); 96, 288 (305 f.). 658 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 307. 659 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 305; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 3 Rn. 162. 660 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 417, 28.
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(f) Zwischenfazit Es lässt sich folgern, dass das Grundgesetz Bestimmungen enthält, die eine Angleichung faktischer Unterschiede und damit auch eine gewisse Umverteilung gebieten. An erster Stelle ist hier das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG zu nennen. Daneben enthalten die besonderen Gleichheitssätze nach Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG – nicht dagegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG – Gleichstellungsaufträge, die gegenüber Art. 20 Abs. 1 GG Vorrang haben. Zu berücksichtigen ist, dass diese Vorschriften keine vollständige faktische Gleichheit, also keine Ergebnisgleichheit fordern, sondern lediglich eine Chancengleichheit im Sinne gleicher Startbedingungen. In wenigen Einzelfällen hat das BVerfG diese auch aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit weiteren Verfassungsnormen hergeleitet. Demnach steht eine Umverteilung, die eine gewisse Angleichung tatsächlicher Unterschiede bewirkt, im Einklang mit diversen Verfassungsprinzipien und ist damit von der Verfassung geboten. bb) Eignung zur Zielerreichung Des Weiteren müssten die Steuermodelle zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein. (1) Grundsätzliches Eine Maßnahme ist dann geeignet, wenn sie den beabsichtigten Erfolg fördert.661 Die (abstrakte) Möglichkeit, dass der verfolgte Zweck zumindest teilweise erreicht wird, reicht hierfür bereits aus.662 Es bedarf keiner optimalen, bestmöglichen Erreichung des Ziels, sondern es genügt, wenn dieses auf irgendeine Art und Weise gefördert wird.663 Bei der Beurteilung der Geeignetheit der von ihm gewählten Mittel steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu.664
661
BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187); 63, 88 (115); 96, 10 (23). BVerfGE 67, 157 (173 ff.); 96, 10 (23 ff.); 113, 167 (234). 663 BVerfGE 113, 167 (234); Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 20 Rn. 150; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 Rn. 194.1; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 20 Rn. 118; Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Rn. 1916; Schulze / Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 182. 664 BVerfGE 104, 337 (347 f.). 662
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(2) Geeignetheit im konkreten Fall Die Anknüpfung an exogene Charakteristika zur Bemessung der Einkommensteuer bewirkt, dass Personen mit „starken“ persönlichen Merkmalen eine höhere Einkommensteuer zu zahlen verpflichtet werden als solche mit „schwachen“ Merkmalen. Hierdurch erfolgt eine Umverteilung von Personen mit hohem auf solche mit geringem Erwerbspotenzial. Durch diese Umverteilung werden faktische Unterschiede ausgeglichen, die in den exogenen Merkmalen der Steuerpflichtigen begründet liegen und Einfluss darauf haben, wie viel Arbeitsaufwand die Personengruppen jeweils zur Erzielung einer bestimmten Einkommenshöhe benötigen. Nun könnte man die Eignung der „Tagging“-Modelle mit dem Argument anzweifeln, dass Reaktionen Dritter zu einem gegenteiligen Effekt führen könnten. So könnten Fälle eintreten, in denen Arbeitgeber den Personen mit „schwachen“ exogenen Charakteristika weniger Gehalt zahlen mit dem Hintergedanken, dass diese bei der Einkommensbesteuerung begünstigt werden. Die Besteuerung exogener Merkmale könnte so zu einer Vertiefung der faktischen Ungleichheit zwischen den Personengruppen führen und damit sogar den gegenteiligen Effekt bewirken. Dem lässt sich allerdings entgegenhalten, dass sich für Arbeitgeber durch die beabsichtigte Anpassung keine Nachteile ergeben, da der Ausgleich allein zwischen den Steuerpflichtigen erfolgt. Es gibt im Übrigen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass solche Reaktionen eintreten werden. Wenngleich derartige Verhaltensweisen vereinzelt möglich erscheinen, so können diese nicht maßgeblich sein, um die generelle Geeignetheit infrage zu stellen. Es kommt schließlich nicht auf die tatsächliche Zweckerreichung an, sondern es genügt die bloße Möglichkeit, dass der Erfolg eintritt. Zudem steht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative dahingehend zu, ob eine Maßnahme die Zweckerreichung tatsächlich begünstigt. Daraus folgt, dass die Eignung der geplanten Steuermodelle nicht an diesem Argument scheitert. (3) Zwischenfazit Die Berücksichtigung exogener Merkmale bei der Festlegung der Einkommensteuer fördert das Ziel der Angleichung faktischer Unterschiede und ist damit zu dessen Verfolgung geeignet. cc) Erforderlichkeit der Regelungen Überdies setzt die Verhältnismäßigkeit eines Mittels dessen Erforderlichkeit voraus.
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(1) Grundsätzliches Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn es kein milderes, also das Grundrecht des Betroffenen weniger einschränkendes Mittel gibt, welches den Zweck mindestens gleich wirksam verfolgt.665 Auch hier steht dem Gesetzgeber ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.666 Beanstandet werden allein solche Fälle, in denen die gesetzgeberischen Erwägungen vernünftigerweise keine Grundlage für derartige Maßnahmen abgeben können.667 Maßgeblich ist eine Beurteilung aus ex-ante-Perspektive.668 (2) Diskussion möglicher Alternativmaßnahmen Das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG hat Auswirkungen auf das Steuerrecht, sodass auch diesem eine gewisse Umverteilungsfunktion zukommt.669 Wie bereits dargestellt, bezwecken die geplanten Steuernormen eine Umverteilung von Steuerpflichtigen mit hohem auf solche mit geringem Potenzial zur Erzielung von Einkünften und fallen in die Kategorie der Umverteilungsnormen.670 Es stellt sich die Frage, ob der Ausgleich von Unterschieden bei der Erwerbsfähigkeit durch weniger beeinträchtigende und gleichzeitig mindestens ebenso wirksame Maßnahmen erreicht werden kann als durch die Berücksichtigung bestimmter exogener Merkmale bei der Bemessung der Einkommensteuerhöhe. Dabei ist insbesondere die Frage von Bedeutung, in welchem Maße eine faktische Angleichung der Lebensverhältnisse durch Steuernormen sinnvoll ist. Man könnte alternativ in Erwägung ziehen, eine Umverteilung anhand der Erwerbsfähigkeit durch das Sozialrecht zu erreichen. Dies könnte derart erfolgen, dass je nach exogenen Merkmalen bestimmte Leistungen gewährt beziehungsweise nicht gewährt werden. Der Vorteil hiervon wäre, dass nicht nur bei den Steuer 665
BVerfGE 19, 330 (337); 25, 1 (17 f.); 30, 292 (316); 63, 88 (115); 67, 157 (173, 176); 90, 145 (172); 91, 207 (222); 102, 197 (217); siehe hierzu auch: Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 20, Abschnitt VII Rn. 113; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 336; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepu blik Deutschland, Kommentar, Art. 20 Rn. 119; Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 20 Rn. 196. 666 BVerfGE 102, 197 (218); 104, 337 (347 f.); 120, 274 (321); 126, 112 (145). 667 BVerfGE 110, 141 (157 f.); 117, 163 (189); st. Rspr. 668 BVerfGE 113, 167 (252 f.); Ossenbühl, Jura 1997, 617 (618); Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 20 Rn. 183. 669 BVerfGE 93, 121 (163); Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 7; Fellinger, in: Wöhle / Augeneder / Urnik, Rechtsphilosophie, Festschrift für Michael Fischer, S. 365 (367 ff.); zur Umverteilungswirkung von Steuern siehe auch: Kammer, Die Politische Ökonomie der Umverteilung, S. 23 ff., 59 ff.; bezogen auf die Erbschaftsteuer: Brunner, in: Genser / Ramser / Stadler, Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, S. 113 (114 ff.). 670 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (d) (bb).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
pflichtigen, sondern bei generell allen Personen anhand des Potenzials zur Erzielung von Einkünften differenziert wird. Eine solche Ausgestaltung wäre eine Art umgekehrte Pauschalsteuer. Obgleich diese Maßnahme effektiver wäre, wirft sie folgende Schwierigkeiten auf: Zum einen gewährt das Sozialrecht den wirtschaftlich Bedürftigen Mittel und knüpft damit an die „negative Leistungsfähigkeit“ an.671 Ebenso wenig, wie das Erwerbspotenzial die Leistungsfähigkeit widerspiegelt, bildet es die Bedürftigkeit einer Person ab. Ungeachtet der Tatsache, dass ein solches Konzept ebenso wie eine Pauschalsteuer nur schwer rechtfertigbar wäre, würde es jedenfalls durch seine völlige Loslösung vom tatsächlich erzielten Einkommen der Personen einen intensiveren Eingriff in die Gleichheitsrechte der Betroffenen und damit kein milderes Mittel darstellen. Zum anderen würde der Umverteilungscharakter der Maßnahme verloren gehen, da nicht zwischen den Steuerpflichtigen umverteilt wird, sondern nur von Seiten des Staates Leistungen erbracht würden. Bei einer Verwirklichung durch das Einkommensteuerrecht kann dieser dagegen in Gestalt der Eingriffsverwaltung durch Variierung der Belastungshöhen eine Umverteilung unter den Steuerpflichtigen bewirken. Eine Umverteilung durch die Einkommensteuer ist aus mehreren Gründen sinnvoll: Zum einen ermöglicht diese einen weiten Anwendungskreis, da prinzipiell jeder, der Einkünfte erzielt, hierauf eine Steuer zu zahlen hat. Die Besteuerung ist demnach in gewisser Weise unausweichlich. Zum anderen wird durch die Anknüpfung des Steuertarifs an das tatsächlich erzielte Einkommen die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen mitberücksichtigt. Vor diesem Hintergrund könnte man wiederum anführen, dass durch die derzeit geltende progressive Einkommensbesteuerung anhand des erzielten Einkommens, für dessen Höhe auch das Erwerbspotenzial der Steuerpflichtigen maßgeblich ist, umverteilt wird, die somit ein milderes Mittel darstellt, mit dem das verfolgte Ziel erreicht werden kann. Hier muss jedoch beachtet werden, dass nach der Grenznutzentheorie jeder Mensch nur so viel arbeitet, bis er den Punkt erreicht, ab dem ihm Freizeit wichtiger ist als zusätzliches Einkommen. Personen mit hohem Erwerbspotenzial erreichen diese Grenze zwar entsprechend schneller als solche mit geringem Potenzial. Es ist darüber hinaus jedoch nicht gesagt, dass jeder mit einer hohen Fähigkeit zur Erzielung von Einkommen sein Potenzial voll ausschöpft, also tatsächlich derart hohe Einkünfte bezieht, wie er erzielen könnte. Wie bereits bei den ökonomischen Hintergründen dargestellt, sind neben den persönlichen Fähigkeiten auch endogene Merkmale wie der Arbeitsaufwand einer Person für die Höhe des Einkommens maßgeblich.672 Macht man die Höhe der Einkommensteuer von dem tatsächlich erzielten Einkommen abhängig, so erfolgt hierdurch auch eine gewisse Umverteilung anhand des Fleißes der Steuerpflichtigen. Demnach lassen sich von der Höhe des tatsächlich erzielten Einkommens nur bedingt Rückschlüsse auf die Fähigkeit zur Erzielung von Einkünften schließen. 671 672
Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 41. Siehe hierzu bereits unter Teil 1 B. I. und II.
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Die Bemessung der Einkommensteuer nach dem Vorliegen exogener Merkmale vermag demnach das Ziel des Ausgleichs von Unterschieden bei dem Erwerbs potenzial effektiver zu verfolgen. Daraus folgt, dass, obgleich Personen mit höherem Erwerbspotenzial wohl in der Regel auch ein höheres Einkommen erzielen, das Ziel des Fähigkeitsausgleichs durch eine Umverteilung anhand der Einkommenshöhe nicht gleich wirksam erreicht werden kann wie eine solche nach Maßgabe exogener Charakteristika. Als weitere Möglichkeit könnte man an eine Angleichung der Einkommenshöhen der nach exogenen Merkmalen divergierenden Personengruppen denken. Als aktuelles Beispiel im Hinblick auf das Merkmal „Geschlecht“ kann der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Männern und Frauen (Entgelttransparenzgesetz – EntgTranspG)673 angeführt werden, der am 11. 01. 2017 vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Nach diesem haben Beschäftigte von Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten bei dem selben Arbeitgeber (§ 12 Abs. 1 EntgTranspG) einen individuellen Anspruch auf Auskunft über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung (§§ 10, 11 Abs. 1 und 2 EntgTranspG) und über das Vergleichsentgelt Beschäftigter des anderen Geschlechts, welche in der gleichen Entgelt-/Besoldungsgruppe arbeiten (§§ 10, 11 Abs. 1 und 3 Nr. 1, 14 EntgTranspG) beziehungsweise eine vergleichbare Tätigkeit ausüben (§§ 10, 11 Abs. 1 und 3 Nr. 2, 15 EntgTranspG). Darüber hinaus haben gemäß § 21 EntgTranspG Arbeitgeber mit in der Regel mehr als 500 Beschäftigten, die in den Anwendungsbereich der §§ 264 und 289 HGB fallen, alle drei (§ 22 Abs. 2 EntgTranspG) beziehungsweise fünf Jahre (§ 22 Abs. 1 EntgTranspG) einen Bericht zur Gleichstellung und Entgeltgleichheit zu erstellen. Wenngleich der Gesetzesentwurf ein Angleichen der Gehälter von Männern und Frauen für gleichwertige Arbeit zum Ziel hat, so sieht er in erster Linie Auskunfts- sowie Veröffentlichungspflichten und keine konkrete Umverteilung vor. Es handelt sich bei einer solchen Regelung zwar um ein deutlich weniger einschneidendes Mittel, da durch diese nicht unmittelbar auf die Höhe des Gehalts Einfluss genommen wird. Aufgrund dieser Tatsache bleibt sie jedoch weit hinter der Effektivität direkter Umverteilungsmaßnahmen zurück. An diese Folgerungen anknüpfend könnte man über bloße Auskunfts- und Veröffentlichungspflichten hinaus eine direkte Angleichung der Gehälter für gleichwertige Arbeit unabhängig von exogenen Charakteristika gesetzlich verpflichtend regeln. Eine solche Angleichung der Gehälter für vergleichbare Tätigkeiten hätte ebenfalls eine geringere Beeinträchtigung des Gleichberechtigungsverbots zur Folge. Im Hinblick auf das verfolgte Ziel der Kompensation von Unterschieden 673
Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen, abrufbar unter: https://www.bvdm-online.de/fileadmin/user_ upload/2017-01-11_Entgelttransparenzgesetz_Kabinettsbeschluss.pdf (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020).
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bei der Erwerbsfähigkeit wäre eine solche Umverteilung allerdings nicht gleich wirksam. Dies ergibt sich deshalb, weil sich die Unterschiede im Hinblick auf das Potenzial zur Erzielung von Einkünften nicht allein darin widerspiegeln, dass Personen mit „schwachen“ exogenen Charakteristika für gleichwertige Arbeit weniger Einkommen erzielen, sondern auch darin, dass diese häufig erst gar nicht die Möglichkeit erhalten, in bestimmte Tätigkeitspositionen aufzusteigen, um die gleiche Arbeit auszuüben wie jemand mit „starken“ Charakteristika. Letzteren Aspekt ließe die bloße Angleichung der Gehälter innerhalb der Tätigkeitsgruppen unberücksichtigt. Auch darüber hinaus sind keine weniger einschneidenden Maßnahmen ersichtlich, mit denen das Ziel der Angleichung von Unterschieden im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit der Steuerpflichtigen gleich wirksam verfolgt werden könnte. Im Weiteren ist zu beachten, dass dem Gesetzgeber bei der Auswahl des Mittels, mit dem er das beabsichtigte Ziel verfolgt, eine weite Einschätzungsprärogative zusteht. Anhaltspunkte dafür, dass es vorliegend offensichtlich an der Erforderlichkeit der geplanten Steuermodelle fehlt, sind nicht ersichtlich. (3) Zwischenfazit Die Erforderlichkeit der geplanten Steuernormen ist damit ebenfalls zu bejahen. dd) Widerstreitende Positionen im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit läuft schließlich auf eine Angemessenheitsprüfung hinaus. Das Gebot der Angemessenheit wird auch als „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“674 oder als Übermaßverbot675 verstanden. Die Schwere der aus einer Maßnahme folgenden Beeinträchtigungen wird der Dringlichkeit der diese rechtfertigenden Gründe im Rahmen einer Gesamtabwägung gegenübergestellt, wobei die Grenze der Zumutbarkeit, also die Proportionalität der Maßnahme, gewahrt bleiben muss.676 Auch hier kommt dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu.677 Für die Feststellung der Schwere des Eingriffs und den sich daraus ergebenden Anforderungen an die Rechtfertigung kommt es darauf an, welche Art von Ungleichbehandlung im konkreten Fall vorliegt. Wie bereits gezeigt, sind bei den Differenzierungen nach exogenen Merkmalen unterschiedliche Gleichheitsrechte
674
BVerfGE 51, 60 (75); 67, 157 (178); 77, 84 (111); 83, 1 (19); 90, 145 (173). BVerfGE 48, 396 (402); 90, 145 (173). 676 BVerfGE 30, 292 (316); 67, 157 (178); 77, 84 (111); 81, 70 (92); 83, 1 (19); 90, 145 (173). 677 BVerfGE 77, 84 (111). 675
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betroffen.678 Darüber hinaus ergeben sich hier Unterschiede im Hinblick auf die Rechtfertigungsgründe. Folglich bietet es sich an, im Rahmen der Angemessenheitsprüfung zwischen den verschiedenen Merkmalen zu trennen. (1) Differenzierung nach dem Geschlecht Bei der Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Geschlecht der Steuerpflichtigen ist die daraus resultierende Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG mit dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG, das eine Angleichung von Mann und Frau bezweckt, abzuwägen. (a) Maßstäbe für die Angemessenheit Dabei stellt sich in einem ersten Schritt die Frage, welche Kriterien für eine Beurteilung der Angemessenheit maßgeblich sind. (aa) Möglichkeit einer Typisierung Bei Ungleichbehandlungen nach dem Geschlecht stellt sich im Wesentlichen die Frage nach den Grenzen der Typisierungsbefugnis, also ob der Gesetzgeber eine Unterscheidung nach dem Geschlecht auf statistische Unterschiede, die nicht in jedem Einzelfall gegeben sind, stützen darf.679 Wie bereits gezeigt, hat der Steuergesetzgeber eine Typisierungsbefugnis, der allerdings bei Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG strenge Grenzen gesetzt sind.680 In solchen Fällen stellt sich die Frage, inwiefern Gruppenparität in dem Sinne gefördert werden darf, als das Gleichbehandlungsgebot hinter dem Gebot zur Herstellung faktischer Chancengleichheit der Geschlechter nach Art. 3 Abs. 2 GG zurückzutreten hat.681 Bezüglich einer Beschränkung der Feuerwehrdienstpflicht und einer daran anknüpfenden Abgabepflicht auf Männer führte das BVerfG aus, dass Frauen wegen ihrer schwächeren Konstitution den gesundheitlichen Gefährdungen sowie körperlichen Belastungen im Allgemeinen zwar weniger gewachsen seien als Männer, diese Besonderheiten jedoch nicht deren grundsätzlichen Ausschluss von 678
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 197, 195. 680 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. a) aa). 681 Zu diesem Verhältnis: Sachs, NJW 1989, 553 (557 f.); Huster, AöR 118 (1993), 109 (124 ff.); für einen prinzipiellen Vorrang des Förderauftrags gegenüber dem Abwehrrecht aus Art. 3 Abs. 2 GG bei Frauenquoten unter bestimmten Voraussetzungen: König, DÖV 1995, 837 (844); Pfarr, NZA 1995, 809 (812); Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 374 ff. 679
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der Dienstpflicht rechtfertigen würden; vielmehr werde auf individuelle Tauglichkeitsuntersuchungen verwiesen.682 Auch Kompensationsmaßnahmen nach Art. 3 Abs. 2 GG müssen in einem „unmittelbaren Zusammenhang“ mit dem Nachteil stehen.683 So dürfen die typischerweise ein Geschlecht treffenden Belastungen durch Hausarbeit, Kinderbetreuung und Beruf nur durch Maßnahmen ausgeglichen werden, die geschlechtsunabhängig an diese anknüpfen.684 Dahinter steht der Gedanke, dass Belastungen ebenso alleinerziehende Männer oder, in abgemilderter Form, Männer, die sich solche Tätigkeiten mit ihren Frauen teilen, treffen können.685 Aus dieser Rechtsprechung des BVerfG lässt sich schließen, dass der Gesetzgeber bei Unterschieden, die zwar regelmäßig, jedoch nicht zwingend mit dem Merkmal Geschlecht verbunden sind, für eine Differenzierung nicht typisierend an die Kategorien Mann und Frau, sondern an die Belastung selbst anzuknüpfen hat. Eine solche Vorgehensweise führt dann zwangsläufig zu einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts, die ihrerseits ebenfalls einer Rechtfertigung bedarf.686 Demgegenüber stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bezüglich der Förderung von Frauen für selbstständige Betriebsgründungen fest, dass zwar keine Probleme, die ihrer Natur nach entweder nur bei Männern oder nur bei Frauen auftreten können, gegeben seien, jedoch gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG die deutlich geringere Neigung von Frauen zur Selbstständigkeit im Handwerk die mit der bezweckten Anreizsetzung einhergehende Ungleichbehandlung rechtfertigen könne.687 Dieses Urteil lässt erkennen, dass eine Rechtfertigung von Fördermaßnahmen, die einen Ausgleich faktisch struktureller Benachteiligungen eines Geschlechts vorsehen, möglich ist. Selbst wenn festgestellt werden kann, dass Männer grundsätzlich bei gleichem Aufwand mehr verdienen als Frauen, so schließt dies nicht aus, dass durchaus Fälle eintreten können, in denen eine Frau ein höheres Potenzial zur Erzielung von Einkünften aufweist als ein Mann in derselben Situation. Damit dürfte die Höhe der Einkommensteuer genau genommen nicht typisierend an das Geschlecht anknüpfen, sondern es sollte eine Differenzierung der Besteuerung nach der Erwerbsfähigkeit erfolgen. Dies wirft jedoch die Schwierigkeit auf, dass das Potenzial einer Person zur Erzielung von Einkünften nur schwer messbar ist. Noch schwieriger festzustellen
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BVerfGE 92, 91 (109). BT-Drs. 12/6000, S. 50. 684 BVerfGE 85, 191 (208 f.); 92, 91 (112 f.). 685 BVerfGE 85, 191 (208). 686 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 195. 687 BVerwG, Urteil v. 18. 07. 2002 – 3 C 54/01, NVwZ 2003, 92. 683
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ist, ob die Eigenschaft als Frau oder Mann sich im konkreten Fall nachteilig auf dieses ausgewirkt hat oder nicht. Aus diesen Gründen ist für Ausgleichsmaßnahmen hilfsweise auf das Kriterium des Geschlechts zurückzugreifen. (bb) Aktuelle Diskussion um Quotenregelungen Anhaltspunkte für die Angemessenheit der steuerlichen Differenzierungen nach dem Geschlecht können auch aus der aktuellen Debatte688 um die Einführung von (Frauen-)Quoten gewonnen werden. Auch bei diesen handelt es sich um Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, bei denen sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung durch Art. 3 Abs. 2 GG stellt.689 Zum Teil werden Quotenregelungen im Hinblick auf das Geschlecht in der Literatur als grundsätzlich unzulässig erachtet.690 Dies wird mit einer Interpretation des Diskriminierungsverbotes des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als „striktes Anknüpfungsverbot“ begründet.691 Eine solche Auffassung geht allerdings nicht mit der – auch in vorliegender Arbeit vertretenen – Ansicht einher, dass das Diskriminierungsverbot einer Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 2 GG zugänglich ist.692 Demnach sind Quotenregelungen nicht als generell unzulässig zu beurteilen, sondern es ist vielmehr zwischen dem Eingriff in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und dem Gebot der Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 GG abzuwägen, um die Verfassungsmäßigkeit beziehungsweise -widrigkeit der jeweiligen Regelung festzustellen.693 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Quotenregelungen ist zwischen Quoten im öffentlichen Dienst und solchen in der Privatwirtschaft zu unterscheiden. 688 Zu den kritischen Stimmen in der Presse siehe beispielsweise: Creutzburg / Jahn, Gleich stellungsgesetz. Gutachter zerreißen Gesetzentwurf zur Frauenquote, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. 02. 2015, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/ gutachter-verreissen-gesetzentwurf-zur-frauenquote-13443363.html (zuletzt abgerufen am 07. 11. 2020); Deutscher Bundestag, Expertenkritik an Frauenquote, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend / Öffentliche Anhörung – 23. 02. 2015 (hib 090/2015), abrufbar unter: https://www.bundestag.de/presse/hib/2015_02/-/362428 (zuletzt abgerufen am 04. 11. 2017). 689 Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 92, 106; Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824). 690 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 121 S. 1681 f.; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 315; Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 95. 691 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 312 f. 692 Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (317); zur Möglichkeit einer Rechtfertigung durch Art. 3 Abs. 2 GG siehe bereits unter Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (c). 693 Habersack / Kersten, in: BB 2014, 2819 (2822).
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Im öffentlichen Dienst ist vorrangig Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten, der Frauen davor schützt, beim Zugang zu einem öffentlichen Amt gegenüber Männern benachteiligt zu werden, darüber hinaus jedoch keinen Förderauftrag des Staates zum Ausgleich tatsächlicher Nachteile enthält und in dieser Hinsicht somit keine verdrängende Wirkung auf Art. 3 Abs. 2 GG entfaltet.694 Art. 33 Abs. 2 GG enthält den sogenannten „Grundsatz der Bestenauslese“, wonach eine vorrangige Einstellung weiblicher Bewerber nur bei gleichwertiger Qualifikation zulässig sein kann.695 Es darf nur eine Chancen- und gerade keine Ergebnisgleichheit angestrebt werden, sodass Quotenregelungen, die nicht den Ausgleich geschlechtsspezifischer Benachteiligungen, sondern allein gleichwertige Repräsentanz bezwecken, unzulässig sind.696 Auf Frauenquoten im privaten Sektor findet Art. 33 Abs. 2 GG keine Anwendung, sodass durch diese wiederum eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erfolgt. Die Einführung einer solchen Quote wurde bislang insbesondere im Hinblick auf Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften sowie die Vorstände börsennotierter Unternehmen diskutiert. Nach dem Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vom 25. 04. 2015697 gilt seit dem 01. 01. 2016 in börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen Unternehmen eine feste Geschlechterquote von 30 % für neu zu besetzende Aufsichtsratsposten (§ 96 Abs. 2 und 3 AktG). Wird bei einer Wahl in den Aufsichtsrat gegen das Mindestanteilsgebot verstoßen, so ist diese nichtig und die für das unterrepräsentierte Geschlecht vorgesehenen Sitze bleiben nach § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG rechtlich unbesetzt (sogenannter „leerer Stuhl“). Eine Härtefallklausel für solche Fälle, in denen nachweisbar nicht ausreichend qualifizierte Frauen zur Verfügung stehen, fehlt; ebenso wie eine Öffnungsklausel für Familienunternehmen.698 Darüber hinaus müssen in entweder börsennotierten oder mitbestimmungspflichtigen Unternehmen verbindliche Zielgrößen für den Frauenanteil in Auf 694
Kunig, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 33 Rn. 34. Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 173; Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 287; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 96. 696 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 288; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 201.1; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 100. 697 BGBl. I 2015, 642. 698 Kritisch hierzu: Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 116; zur Gebotenheit solcher Regelungen: Stiftung Familienunternehmen, Gesetzliche Frauenquote in Unternehmen, Gutachten, abrufbar unter: http://www.familienunternehmen. de/media/public/pdf/publikationen-studien/studien/Studie_Stiftung_Familienunternehmen_ Gutachten_Frauenquote_ebook.pdf (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 32 ff. (Lange), 67 ff. (Windthorst). 695
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sichtsrat, Vorstand und den obersten Management-Ebenen festgelegt werden, die – sofern der Frauenanteil unter 30 % liegt – den bisher erreichten Anteil nicht unterschreiten dürfen, wobei Fristen von maximal fünf Jahren für die Erreichung der Zielgrößen festzulegen sind (§§ 76 Abs. 4, 111 Abs. 5 AktG, §§ 36, 52 Abs. 2 GmbHG, § 9 Abs. 3 und 4 GenG). Über die Höhe der Zielgrößen sowie deren Erreichung ist nach § 289a Abs. 2 Nr. 4 und 5, Abs. 3 und 4 HGB öffentlich Bericht zu erstatten. Mit dem Gesetz soll durch Verpflichtung der Großunternehmen als „Zug pferde“699 eine Signalwirkung für eine ausgeglichene Geschlechterverteilung erreicht werden.700 Es wird davon ausgegangen, dass Quotenregelungen eine gewisse „Sogwirkung“ auch für die Besetzung künftiger Leitungspositionen entfalten werden.701 Während die Einführung dieser Regelungen für Anteilseigner und Unternehmen eine vorliegend nicht weiter diskutierte Beeinträchtigung von Eigentums-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit darstellt,702 bewirkt sie wiederum bei den Bewerberinnen und Bewerbern neben einem Eingriff in deren Berufsfreiheit auch eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, die es im Folgenden näher zu analysieren gilt. Das BVerfG hat sich bislang zur gleichheitsrechtlichen Zulässigkeit solcher Regelungen nicht explizit geäußert.703 Gleichwohl lassen sich nach Auswertung der Stimmen hierzu folgende Grundvoraussetzungen ableiten: Zum einen müssen diese geschlechtsneutral ausgestaltet sein, damit von der Regelung Frauen und Männer gleichermaßen erfasst sind.704 Des Weiteren muss eine erwiesene Unterrepräsentation als gesicherte Basis gegeben sein.705 Eine ungleiche Verteilung von Männern und Frauen stellt ein Indiz für eine systematische individuelle Benachteiligung dar.706 Allerdings muss diese zugleich aus strukturellen Gründen bestehen.707 Dies bedeutet, dass der Aufstieg
699
Redenius-Hövermann / Strenger, Der Konzern 2014, 373 (375). Teichmann / Rüb, BB 2015, 259 (260); Teichmann / Rüb, BB 2015, 898 (898). 701 Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (320). 702 Siehe hierzu ausführlich: Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2822 f.). 703 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, § 121 S. 1681 f. 704 BAGE 114, 119 (133); Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824, 2827). 705 Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419 f.); Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (318); siehe aber: Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2828), die diese Voraussetzung für den Aufsichtsrat ablehnen, da dieser kein „Repräsentationsorgan des Unternehmens“ sei. 706 Hanau, in: Hanau / Müller / Wiedemann / W lotzke, Festschrift für Wilhelm Herschel zum 85. Geburtstag, S. 191 (212); Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419): „Indiz für eine individuelle Benachteiligung der Frauen“. 707 Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 458. 700
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eines Geschlechts in Führungspositionen in einem Unternehmen an der sogenannten „gläsernen Decke“ scheitern muss.708 Zudem ist zu beachten, dass das Gleichberechtigungsgebot nach Art. 3 Abs. 2 GG nur die Herstellung einer Chancen-, nicht die einer Ergebnisgleichheit gewährleistet.709 Berufliche Chancengleichheit bedeutet Gleichheit im Sinne gleicher beruflicher Qualifikation.710 Darüber hinaus müssen alle möglichen geschlechtsneutralen Maßnahmen zur Herstellung einer solchen Chancengleichheit erfolglos bleiben, sodass eine unmittelbare Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als letzter Ausweg für deren Erreichung in Betracht kommt.711 Zum Teil wird vertreten, dass bereits die Festlegung starrer Quoten für Fälle, in denen ein Geschlecht im Vergleich zu den übrigen Ebenen auf der Führungsebene erwiesenermaßen unterrepräsentiert ist, eine Chancengleichheit bezwecke.712 Diese Ansicht verkennt jedoch, dass die uneingeschränkte Erfüllung einer vorgeschriebenen Quote durch Einstellung sogenannter reiner „Quotenfrauen“, denen ohne weitere Bedingungen allein aufgrund ihres Geschlechts Vorrang eingeräumt wird, auch in solchen Fällen über die Gewährung gleicher Chancen hinausgeht. So führt eine starre Quote dazu, dass, obgleich ein Bewerber deutlich qualifizierter ist als ein dem unterrepräsentierten Geschlecht angehörender Bewerber, Letzterem Vorrang zu gewähren ist.713 Eine solche Vorgehensweise führt zu einer Ergebnisgleichheit, da Chancengleichheit nicht bedeuten kann, einen bestimmten Anteil an Plätzen in Führungspositionen für ein Geschlecht uneingeschränkt zu reservieren714 und heute lebende Frauen zu bevorzugen, um die Benachteiligung von Frauen in der Vergangenheit zu kompensieren.715 Solche „kollektivierende Politiken der ausgleichenden Ungerechtigkeit“ werden als unserer Verfassungsordnung fremd angesehen.716 Diese positiven Diskriminierungen („affirmative action“) können nicht mehr durch Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden.717 Anders gestaltet sich hingegen der Fall, wenn das unterrepräsentierte Geschlecht bei gleicher Eignung Vorrang erhält. Bei einer solchen Ausgestaltung handelt es sich zwar ebenfalls um eine Bevorzugung; allerdings ist in einem solchen Fall zumindest sichergestellt, dass es keinen qualifizierteren Bewerber als einen des 708
Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (318). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (c). 710 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 3 Rn. 287; Ossenbühl, NJW 2012, 417 (418). 711 Pfarr / Fuchsloch, NJW 1988, 2201 (2203 f.); Sachs, NJW 1989, 553 (557). 712 Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (318 ff.). 713 Sachs, NJW 1989, 553 (558). 714 Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2828). 715 Huster, AöR 118 (1993), 109 (125). 716 Habersack / Kersten, in: BB 2014, 2819 (2824). 717 Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419). 709
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unterrepräsentierten Geschlechts gibt. Eine solche „ergebnisorientierte Chancengleichheit“ soll noch als von Art. 3 Abs. 2 GG gedeckt angesehen werden.718 Hier verbleibt noch ein Entscheidungsspielraum, der es im Einzelfall ermöglicht, die freie Position aus Eignungsgesichtspunkten mit einem Bewerber des überrepräsentierten Geschlechts zu besetzen.719 Zur Sicherung ausgleichender Gerechtigkeit kann eine Ungleichbehandlung durch Bevorzugung einer faktisch wegen ihres Geschlechts benachteiligten Personengruppe erlaubt sein.720 Sofern gleiche Eignung vorliegt, ist ein Bewerber des unterrepräsentierten Geschlechts zu bevorzugen, bis die vorgegebene Quote erreicht ist. Nur so kann sichergestellt werden, dass ein Geschlecht nicht systematisch benachteiligt wird und dennoch beiden Geschlechtern gleiche Startchancen ermöglicht werden. Es überrascht daher nicht, dass in der Literatur weitgehende Einigkeit dahingehend besteht, dass starre, leistungsunabhängige Frauenquoten unzulässig sind.721 Die bereits eingeführte Quote für den Aufsichtsrat erscheint vor dem Hintergrund problematisch, dass es sich bei dieser um eine „starre“ Quote handelt, die unabhängig von Eignung und Befähigung anzuwenden ist. Obgleich sie geschlechtsneutral ausgestaltet ist und damit für Frauen und Männer gleichermaßen gilt, hat sie in Anbetracht der derzeitigen Besetzung von Aufsichtsratspositionen zur Folge, dass aktuell jede frei werdende Stelle zwingend mit einer Frau zu besetzen ist, sodass deutlich qualifiziertere Personen des anderen Geschlechts keine Berücksichtigung finden.722 Eine solche fixe Quote fördert leistungsunabhängig ein Geschlecht „um seiner selbst willen“ und schafft damit eine Ergebnisgleichheit.723 Auch eine Quote von „nur“ 30 %, die also im Ergebnis keine völlige Ergebnisgleichheit von 50 % fordert, ändert hieran nichts, da bei Nichterfüllung auch dieser Quote im Einzelfall gezielt Frauen bevorzugt werden, was die Gewährung gleicher Chancen übersteigt. Die für den Aufsichtsrat eingeführte Quote setzt weder eine erwiesene Unter repräsentation voraus, noch stellt sie auf die Eignung der infrage kommenden Kandidaten/-innen ab. Zwar wird berechtigterweise kritisiert, dass sich nur schwer Kri 718
Schweizer, Der Gleichberechtigungssatz – neue Form, alter Inhalt?, S. 141 ff., 244; Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 271. 719 Ähnlich wohl: Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419), der im Rahmen einer „Chancen wahrenden Auswahlbeeinflussung“ die Einräumung „adäquater Entscheidungsspielräume“ vorsieht. 720 Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 272. 721 BT-Drs. 12/6000, S. 50; Schweizer, Der Gleichberechtigungssatz – neue Form, alter Inhalt?, S. 218; Schumann, Faktische Gleichberechtigung, S. 131 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 113; Langenfeld, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 2 Rn. 90; Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 199; Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 312; Ossenbühl, NJW 2012, 417 (419); Teichmann / Rüb, BB 2015, 259 (261 f.); Haber sack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824); Sachs, NJW 1989, 553 (553 ff.); Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 272. 722 So zutreffend: Teichmann / Rüb, BB 2015, 259 (261 f.). 723 Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2827); Papier / Heidebach, ZGR 2011, 305 (318).
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terien finden lassen, nach denen sich eine Unterrepräsentation eines Geschlechts bemisst; so kämen hierfür unter anderen dessen Anteil an der Belegschaft eines Unternehmens oder die Zahl der Absolventen in der jeweiligen Branche in Betracht.724 Denkbar wäre jedoch zumindest eine Ausnahmeklausel für Fälle, in denen es im Unternehmen an ausreichend grundsätzlich qualifizierten Bewerbern oder Bewerberinnen fehlt.725 Weiterhin liegt eine Schwierigkeit in dem Vergleich der Eignung der verschiedenen Kandidaten, da es insoweit an einem klaren Qualifikationsprofil fehlt.726 Dessen ungeachtet erscheint die Festsetzung einer pauschalen, bedingungslosen Quote von 30 % aus oben genannten Gründen aus verfassungsrechtlicher Perspektive mehr als zweifelhaft. Im Gegensatz dazu ermöglicht die Verpflichtung zur Festlegung verbind licher Zielgrößen für den Frauenanteil in Aufsichtsrat, Vorstand und den obersten Management-Ebenen den Unternehmen, individuell und flexibel das Ziel der Chancengleichheit zu verfolgen.727 Demnach ist der Eingriff in Art. 3 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG weniger intensiv als bei der Vorgabe starrer Quoten.728 Allerdings sind die Zielgrößen für den „Frauenanteil“ festzulegen, sodass die Regelung nicht geschlechtsneutral gefasst ist. Da Art. 3 Abs. 2 GG jedoch gerade eine geschlechtsneutrale Formulierung fordert,729 sind auch diese Regelungen verfassungsrechtlich problematisch.730 (cc) Folgerungen für eine Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 2 GG Im Zentrum der Diskussion um Quotenregelungen steht die Frage, inwiefern die aus einer Typisierung nach dem Geschlecht resultierenden Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG durch das Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden können. Dieses lässt unter strengen Voraussetzungen auch die Anknüpfung direkt an das Geschlecht zu, um faktische Unterschiede zwischen Mann und Frau auszugleichen. Dies muss schon deshalb möglich sein, zumal er neben der Rechtfertigungsmöglichkeit von Differenzierungen aufgrund biologischer Unterschiede zwischen den Geschlechtern sonst ohne Anwendungsbereich wäre. Nach vorliegend vertretener Auffassung hat der Gesetzgeber mit dem Erlass des „Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an 724
Papier / Heidebach, in: ZGR 2011, 305 (319). Habersack / Kersten, BB 2015, 2819 (2828). 726 Papier / Heidebach, in: ZGR 2011, 305 (321). 727 Habersack / Kersten, BB 2015, 2819 (2828). 728 Ossenbühl, NJW 2012, 417 (421): Selbstbestimmte Frauenquote als „denkbar weichste Form einer Quote“. 729 BAGE 114, 119 (133); Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2824, 2827). 730 Habersack / Kersten, BB 2014, 2819 (2828), die sich für eine Verfassungswidrigkeit aussprechen. 725
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Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“ sowie die damit verbundene Einführung starrer Quoten den Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen überschritten. Über die von ihm gewährleistete Chancengleichheit hinaus wird Art. 3 Abs. 2 GG dort im Sinne einer Gruppenparität verstanden, was auf eine Ergebnisgleichheit hinausläuft. Infolgedessen werden Personen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Geschlecht vorrangig behandelt. Nun könnte man so weit gehen, und aus der Einführung derartiger Quoten eine Tendenz ableiten, dass der Förderauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG bis zu einem gewissen Grad auch auf die Ergebnisgleichheit ausgeweitet wird. Vor einer dahingehenden Äußerung durch das BVerfG sollten jedoch diesbezüglich keine voreiligen Schlüsse gezogen und die Grenzen der Verfassung eingehalten werden. Es lässt sich damit festhalten, dass eine reine Anknüpfung an das Geschlecht ohne Abstellen auf weitere Kriterien eine nicht mehr rechtfertigbare Ungleich behandlung darstellt. Von Art. 3 Abs. 2 GG ist nur die Herstellung einer Chancengleichheit erfasst und gerade nicht die einer Ergebnisgleichheit. Eine Rechtfertigung von Regelungen, die anhand des Geschlechts differenzieren, soll erst dann ernsthaft zur Diskussion stehen, wenn – unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Anforderungen bezüglich Typisierungen – folgende Voraussetzungen gegeben sind: Zunächst müssen wesentliche faktische Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachgewiesen werden, die auf vertrauenswürdiger Basis ermittelt wurden. Die Ursachen für diese Unterschiede müssen des Weiteren nur äußerst schwer identifizierbar beziehungsweise schwer änderbar sein, sodass allein ein Rückgriff auf das Geschlecht selbst als Differenzierungskriterium erfolgsbringend erscheint. Im Weiteren darf die Ungleichbehandlung nicht zu intensiv sein. Dies ist anhand der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Dafür darf eine Regelung insbesondere keine „starre“ Erfolgsgleichheit in dem Sinne vorsehen, dass eine Person durch die bevorzugende Maßnahme im Ergebnis besser steht als eine solche des anderen Geschlechts, sondern es sollen für die Geschlechter lediglich gleiche Startbedingungen im Sinne einer Chancengleichheit gewährleistet werden. Dies bedeutet, dass die Bevorzugung nur dann erfolgen darf, wenn die sich gegenüberstehenden Gruppen eine vergleichbare Qualifikation aufweisen. Ein Geschlecht darf nicht zwangsläufig im Ergebnis besser stehen, sondern es müssen noch weitere Kriterien maßgeblich sein, die gewährleisten, dass lediglich gleiche Ausgangsbedingungen gewährt werden, die sich jedoch nicht zwingend auch verwirklichen müssen. Zudem ist zu gewährleisten, dass eine Kompensation nur so lange erfolgt, wie die maßgeblichen Ungleichheiten tatsächlich bestehen, indem im Rahmen einer fortlaufenden Überprüfung in regelmäßigen Abständen nachgeprüft wird, ob die faktischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die durch bestimmte Maßnahmen kompensiert werden, noch bestehen, oder ob es einer Anpassung bedarf.
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Im Interesse einer Geschlechtsneutralität ist darüber hinaus sicherzustellen, dass ein entsprechender Ausgleich auch bei dem anderen Geschlecht erfolgen kann, sollte der umgekehrte Fall eintreten, dass dort grundsätzliche tatsächliche Nachteile im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit nachgewiesen werden. (b) Beurteilung der Angemessenheit im konkreten Fall Die Erwerbsfähigkeit stellt, wie bereits erwähnt, kein biologisches Merkmal dar, jedoch könnte die Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Geschlecht durch Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt sein. Die Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit einer Anknüpfung der Einkommensteuerhöhe an das Geschlecht gestaltet sich deshalb als schwierig, weil das BVerfG bislang keine eindeutigen Grenzen für eine Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 2 GG vorgegeben hat. Die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigung ist daher vor dem Hintergrund der soeben herausgearbeiteten Grenzen der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers zu analysieren. An diese sind im vorliegenden Fall besonders strenge Anforderungen zu stellen, da der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG betroffen ist. Die durch eine Typisierung entstehenden Härten und Ungerechtigkeiten dürfen zum einen nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Personen betreffen.731 Dies bedeutet, dass die zwangsläufig durch eine Typisierung entstehende Einzelfallungerechtigkeit nur in vergleichsweise wenigen Fällen eintreten darf. Bei der Anknüpfung der Einkommensteuerhöhe an das Geschlecht darf es sich bei den Fällen, in denen eine Person trotz Zugehörigkeit zu der Gruppe des „starken“ Geschlechts ein niedriges Erwerbspotenzial aufweist, nur um wenige Einzelfälle handeln. Daraus folgt, dass signifikante Unterschiede zwischen Mann und Frau im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit durch verlässliche Methoden nachgewiesen werden müssen, um sicherzustellen, dass Einzelfallungerechtigkeiten nur die Ausnahme darstellen. Das „Tagging“-Prinzip knüpft nicht an die tatsächlichen Belastungen, sondern an das Geschlecht selbst an. Es gilt zu prüfen, ob die durch diese Pauschalierung entstehenden Härten nur schwer zu vermeiden wären, wofür auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Bedeutung sind.732 Eine Beurteilung, inwiefern sich das Geschlecht jeder einzelnen Person auf deren Potenzial zur Erzielung von Einkünften auswirkt, um die daraus resultierende individuelle Verminderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen, wäre praktisch nicht durchführbar. Für den Einfluss der Geschlechtseigenschaft auf das Erwerbspotenzial ist nicht das Geschlecht selbst, sondern sind verschiedene damit verknüpfte Ursachen wie Vorurteile, Zusatzbelastungen, unterschiedliche Berufswahl und schlechtere Kar 731 732
BVerfGE 45, 376 (390); 63, 119 (121); 84, 348 (359); 126, 233 (263 f.); 133, 377 (413). Vgl. BVerfGE 63, 119 (128); 84, 348 (360).
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rierechancen durch festgefahrene Rollenbilder in der Gesellschaft maßgeblich.733 Diese sind jedoch nur schwer messbar. Ferner waren die bisherigen jahrelangen Bemühungen hin zu einer Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere in den Führungspositionen, nicht ausreichend erfolgsbringend.734 So wird die Einführung einer zwingenden Quotenregelung auch als Ausdruck einer „Symbolpolitik“ oder auch einer gewissen „Hilflosigkeit“ angesehen.735 Es ist nicht möglich, bei jeder Person die konkrete Belastung in Gestalt der Verminderung ihres Erwerbspotenzials aufgrund des Geschlechts festzustellen und auszugleichen. Den hier bestehenden Unterschieden kann demnach realistisch gesehen allein durch Anknüpfung an das Geschlecht selbst Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund bleibt schließlich als Ausweg, dem Gleichstellungsauftrag durch Anknüpfung an das Geschlecht selbst auf wirksame Weise nachzukommen. Wie bereits in den Ausführungen zu Geschlechterquoten gezeigt, ist vom Gewährleistungsumfang des Art. 3 Abs. 2 GG nur die Herstellung gleicher Startchancen erfasst. Eine Ergebnisgleichheit dergestalt, dass eine Person allein aufgrund ihres Geschlechts bevorzugt wird, ist nicht mehr rechtfertigbar. Für eine Chancengleichheit muss zunächst der Bildungsstand der Gruppen verglichen werden, da sie nur dann gewährleistet werden kann, wenn beide Geschlechter ein vergleichbares Qualifikationsniveau aufweisen. Zwar ist auch ein unterschiedlicher Bildungsstand Teil der Erwerbsfähigkeit, wenn beispielsweise Frauen nicht dieselben Möglichkeiten eröffnet werden wie Männern oder sie aufgrund eines traditionellen Rollenverständnisses bestimmte Chancen nicht wahrnehmen. Lässt sich ein unterschiedlich hohes Einkommen auch auf Unterschiede in der Bildung zurückführen, so müssen diese erst durch diesbezügliche Fördermaßnahmen ausgeglichen werden. Das Erwerbspotenzial darf nur solche Unterschiede widerspiegeln, die sich aufgrund nicht leicht änderbarer Umstände ergeben. Darunter fällt nicht der Bildungsstand von Personen. Nachfolgende Grafik aus dem Jahr 2016 zeigt deutlich, dass in Deutschland eine weitgehende Annäherung der schulischen Bildung von Frauen und Männern erfolgt ist. Zwar bestehen nach wie vor Unterschiede bezüglich des höchsten Schulabschlusses, jedoch sind diese nur geringfügig, sodass vorliegend noch von einer gleichen Qualifikation ausgegangen werden kann.
733 Zu den Ursachen siehe auch: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Hintergrundmeldung: Lohngerechtigkeit, abrufbar unter: https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt/lohngerechtigkeit/80398 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020). 734 BT-Drs. 18/3784 S. 42. 735 Teichmann / Rüb, BB 2015, 259 (259).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Abbildung 25:736 Vergleich der Schulbildung von Frauen und Männern
Für eine Chancengleichheit müssen darüber hinaus noch weitere Bedingungen erfüllt werden. Eine „starre“ Regelung in Gestalt einer Pauschalsteuer, die unterschiedliche Steuerbeträge für Männer und Frauen festlegt, verfolgt – ebenso wie starre Geschlechterquoten–737 die Herstellung einer solchen Ergebnisgleichheit, da Personen eines Geschlechts im Ergebnis stets eine höhere Steuerschuld zahlen müssen als solche des anderen Geschlechts. Auch vor diesem Hintergrund scheitert die Zulässigkeit von Pauschalsteuern. Bei den Einheitssteuer-Modellen sowie den Progressionsmodellen wird dagegen nicht die Höhe der Steuerschuld, sondern die des Steuertarifs beziehungsweise des Grundfreibetrags von dem Geschlecht abhängig gemacht. Eine Ergebnisgleichheit könnte man hier darin sehen, dass durch das „Tagging“-Verfahren zwei Personen verschiedenen Geschlechts bei identischem Bruttoeinkommen ein unterschiedlich hohes Nettoeinkommen erzielen. Da eine Anknüpfung an das tatsächlich erzielte Einkommen erfolgt, ist jedoch nicht gesagt, dass Personen eines Geschlechts, das als „starkes“ Charakteristikum gilt, generell eine absolut höhere Steuerschuld zu zahlen verpflichtet sind. Bei Erzielung eines geringeren Bruttoeinkommens kann sehr wohl der Fall eintreten, dass diese absolut zur Entrichtung einer geringeren Steuerschuld verpflichtet sind als Steuerpflichtige des anderen Geschlechts, die ein 736 737
Statistisches Bundesamt (Statista). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) dd) (1) (a) (bb).
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höheres Bruttoeinkommen erzielen. Aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit verdienen Frauen bei gleichem Arbeitsaufwand prinzipiell weniger als Männer. Indem auf sie ein geringerer Tarif Anwendung findet, werden ihnen dieselben Chancen ermöglicht, da sie nun fähig sind, mit genauso viel „effort“ ein Nettoeinkommen in gleicher Höhe erzielen. Das Geschlecht darf gerade nicht „um seiner selbst willen“ gefördert werden. Dies kann bei Frauenquoten dadurch sichergestellt werden, indem zusätzlich auf die Qualifikation der zur Auswahl stehenden Bewerber abzustellen ist. Beim „Tagging“ nach dem Geschlecht wird dies dadurch erreicht, dass zum einen der Bildungsstand von Männern und Frauen vergleichbar ist und zum anderen rechnerisch gewährleistet ist, dass Unterschiede in der Erwerbshöhe, die sich auf unterschiedliche Präferenzen der Geschlechter zurückführen lassen, unberücksichtigt bleiben. Zudem muss durch die Anknüpfung des modifizierten Steuersatzes an das tatsächlich erzielte Einkommen eine gewisse Leistungsabhängigkeit gegeben sein, sodass keine absolute Bevorzugung von Frauen „um jeden Preis“ im Sinne einer Erfolgsgleichheit gegeben ist. Um eine zu intensive Ungleichbehandlung zu vermeiden, dürfen die Unterschiede bei den Steuertarifen zudem nicht zu hoch ausfallen. Die progressiven Tarifkurven beziehungsweise die proportionalen Tarife für Männer und Frauen müssen demnach eng beieinanderliegen, sodass die Abweichungen hier nur marginal sind. Des Weiteren ist fortlaufend zu überprüfen, ob die faktischen Unterschiede im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit bei Männern und Frauen noch bestehen. Zudem muss die Regelung ermöglichen, dass, wenn bei Männern eine verminderte Erwerbsfähigkeit aufgrund ihres Geschlechts festgestellt wird, auch auf diese ein geringerer Steuersatz Anwendung finden kann. (c) Zwischenfazit Allzu konkrete Vorgaben im Hinblick auf die mögliche Reichweite einer Bevorzugung von Frauen bei der Einkommensbesteuerung lassen sich derzeit noch nicht treffen. Für eine diesbezügliche Klarheit ist letztlich eine Äußerung des BVerfG erforderlich. Aus obigen Ausführungen lässt sich schließen, dass die Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Merkmal „Geschlecht“ nicht a priori verfassungsrechtlich unzulässig ist, sondern in engen Grenzen durch Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zu beachten, dass eine durch fortwährende und durch verlässliche Kontrollen nachgewiesenes deutlich niedrigeres Erwerbspotenzial bei Frauen vorliegen muss. Darüber hinaus muss eine vergleichbare Qualifikation der beiden Gruppen sowie eine zusätzliche Abhängigkeit der Steuerhöhe von dem tatsächlich erzielten Einkommen bestehen. Trotz signifikanter Unterschiede bei der Er-
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
werbsfähigkeit darf kein völliger Ausgleich, sondern lediglich eine Annäherung der faktischen Unterschiede durch geringfügige Abweichung der Steuertarife von Mann und Frau erfolgen, da der Eingriff nicht zu intensiv sein darf. Zudem soll der Ausgleich nur solange erfolgen, wie die Unterschiede in der Erwerbsfähigkeit tatsächlich bestehen und die Regelung muss eine Option enthalten, dass theoretisch auch Männern ein geringerer Tarif gewährt werden kann, sollten deren Geschlecht als „schwaches“ exogenes Merkmal nachgewiesen werden können. Über diese Vorgaben hinaus sind für die konkrete Regelung der Gleichstellungsauftrag mit dem Gleichberechtigungsgebot durch Abwägung in Ausgleich zu bringen. (2) Differenzierung nach dem sozialen Hintergrund Die Differenzierungen nach den Merkmalen „Migrationshintergrund“, „Einkommen der Eltern“ sowie „Bildungsabschluss der Eltern“ stellen wiederum Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG dar,738 die je nach Merkmal mit dem Ziel des Ausgleichs faktischer Unterschiede im Hinblick auf das Erwerbspotenzial abzuwägen sind. Dabei sind die Maßstäbe bezüglich einer Typisierungsbefugnis zugrunde zu legen. Hier ist ein strenger Prüfungsmaßstab anzusetzen, da mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein spezieller Gleichheitssatz betroffen ist. (a) Beurteilung der Angemessenheit im konkreten Fall Vor diesem Hintergrund sind die konkreten Differenzierungen auf ihre Angemessenheit zu prüfen. (aa) Migrationshintergrund Es stellt sich die Frage, ob der mit der vorliegenden Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bezweckte Ausgleich gemäß Art. 20 Abs. 1 GG noch angemessen ist. Sofern sich signifikante Unterschiede im Hinblick auf die Erwerbsfähigkeit bei den Gruppen mit sowie ohne Migrationshintergrund feststellen lassen, wird es in geringen Fällen zu Ungerechtigkeiten und Härten kommen. Im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht wurde festgestellt, dass die Ursachen für Unterschiede im Erwerbspotenzial nur schwer bekämpfbar sind und demnach eine Typisierung ausnahmsweise zulässig sein kann. Die Unterschiede, die sich auf gesellschaftliche
738
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. b) bb).
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Einflüsse wie Vorurteile sowie Stereotypen zurückführen lassen, lassen sich nur schwer feststellen, sodass die durch die Differenzierung nach dem Vorliegen eines Migrationshintergrundes entstehenden Härten ebenfalls nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären. Weiterhin erfolgt hier ebenfalls eine Anknüpfung an das tatsächlich erzielte Einkommen, sodass die Höhe des Steuertarifs beziehungsweise die des Grundfreibetrags nicht allein von dem Migrationshintergrund abhängt. Legt man zusätzlich niedrige Tarifabweichungen fest, so spricht dies zunächst für eine Angemessenheit der Maßnahme. Problematisch ist jedoch auch hier die vom Sozialstaatsprinzip geforderte Chancengleichheit, welche eine vergleichbare Qualifikation der Gruppen voraussetzt. Ein wesentlicher Grund für die Unterschiede im Einkommen zwischen den Personen mit und ohne Migrationshintergrund liegt auch in den Bildungsunterschieden begründet, wie nachfolgendes Schaubild zeigt:
Abbildung 26:739 Vergleich der beruflichen Bildungsabschlüsse von Personen mit und ohne Migrationshintergrund
739
Statistisches Bundesamt (Statista).
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Auch in einer Studie des Berlin-Instituts aus dem Jahre 2014 wurde Bildung als „Schlüssel“ zur Lösung der Integrationsprobleme angesehen.740 Zur Herstellung gleicher Chancen bietet es sich demnach an, direkt im Bereich der Bildungsmaßnahmen anzuknüpfen, wie etwa durch spezielle Sprachkurse. Auch darüber hinaus könnte man zusätzliche Förderprojekte vorsehen. Ein Beispiel dafür ist ein Projekt des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in dem durch familienorientierte Maßnahmen der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gefördert werden soll.741 Weiterhin existieren in Deutschland mehr als 450 Jugendmigrationsdienste (JMD).742 Durch solche Maßnahmen erfolgt eine generelle Förderung von Minderheiten, die nicht unmittelbar die Rechtsstellung eines Einzelnen beeinträchtigt und deshalb von der objektiven Grundentscheidung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gedeckt ist.743 Es existieren damit diverse Möglichkeiten, um die aus externen Umständen resultierenden Bildungsunterschiede bei Personen mit Migrationshintergrund auszugleichen. Nun lässt sich anführen, dass die Einkommensunterschiede, die auf Bildungsunterschieden beruhen, ebenso wie diejenigen, die sich aufgrund unterschiedlicher Bereitschaft der Gruppen zur Erbringung von Arbeitsanstrengung (soweit vorhanden), herausrechnen lassen. Infolge dessen unterliegen allein die Abweichungen einer Kompensation, die sich auf darüber hinausgehende Ursachen, wie beispielsweise Vorurteile, zurückführen lassen. Sollten sich nach dieser Berücksichtigung gleichwohl gravierende Unterschiede zwischen den Personengruppen feststellen lassen, so wäre eine Chancengleichheit in diesem Sinne gegeben. Gegen eine Angemessenheit lässt sich jedoch anbringen, dann diese Analysen einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand verursachen würden. Zudem können Fälle von enormen Einzelfallungerechtigkeiten eintreten, wie wenn beispielsweise Spezialisten aus bestimmten Fachbereichen gezielt aus dem Ausland abgeworben und ebenfalls einer geringen Besteuerung unterworfen werden. Nicht zu vergessen ist vor diesem Hintergrund auch der strenge Differenzierungsmaßstab bei Art. 3
740
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Neue Potenziale, Zur Lage der Integration in Deutschland, abrufbar unter: https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/ Neue_Potenziale/Neue_Potenziale_online.pdf (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017), S. 5, 30, 43. 741 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Working Paper 24 der Forschungsgruppe des Bundesamtes, Förderung des Bildungserfolgs von Migranten: Effekte familienorientierter Projekte, Abschlussbericht zum Projekt Bildungserfolge bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch Zusammenarbeit mit den Eltern, abrufbar unter: http:// www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp24-foerderungbildungserfolge.pdf%3F__blob%3DpublicationFile (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017). 742 Weitere Informationen hierzu auf der Seite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Integration und Chancen für junge Menschen, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/integration-und-chancen-fuerjunge-menschen (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020). 743 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (d).
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Abs. 3 Satz 1 GG sowie das Fehlen eines Förderauftrags im Grundgesetz, wie er beispielsweise für das Merkmal „Geschlecht“ in Art. 3 Abs. 2 GG geregelt ist. Daher sind steuerliche Maßnahmen zum Ausgleich von Abweichungen im Erwerbspotenzial bei Personen mit sowie ohne Migrationshintergrund nicht als angemessen zu beurteilen. (bb) Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern Bei dem Einkommen sowie dem Bildungsabschluss der Eltern des Steuerpflichtigen gelten aufgrund der Differenzierung nach Herkunft im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG für die Angemessenheitsprüfung ebenso strenge Maßstäbe. Auch bei diesen Modellen ergibt sich das Problem, dass sich Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern auf die Bildung des Steuerpflichtigen auswirken. So hat beispielsweise ein hoher Prozentsatz der Gymnasiasten Eltern mit Hochschulabschluss, während sich der Fall bei Hauptschülern umgekehrt darstellt:
Abbildung 27:744 Verteilung der Schüler auf Gymnasien nach höchstem Bildungsabschluss der Eltern
744
Statistisches Bundesamt (Statista).
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Abbildung 28:745 Verteilung der Schüler auf Hauptschulen nach höchstem Bildungsabschluss der Eltern
Der Bildungsabschluss einer Person ist wiederum überwiegend maßgeblich für deren Einkommenshöhe (vgl. Abb. 29).746 Aufgrund dieser Auswirkung des Bildungsabschlusses von Personen auf deren Einkommen lässt sich aus beidem Rückschlüsse auf die Bildung des Kindes ziehen. Diese wiederum hat Einfluss auf dessen Einkommen. Vergleicht man Steuerpflichtige mit hohem und niedrigem Einkommen bezieungsweise Bildungsabschluss der Eltern, so lassen sich zwischen den Personen gruppen Qualifikationsunterschiede feststellen. Zur Gewährung von Chancengleichheit muss sozialstaatliche Kompensation früher ansetzen und mit Bezugnahme auf die gegenwärtige soziale Situation einer Person bereits diese aus dem Familienhintergrund resultierenden Unterschiede durch generelle Fördermaßnahmen ausgleichen.747 745
Statistisches Bundesamt (Statista). Siehe hierzu auch: Schmillen / Stüber, in: IAB-Kurzbericht 1/2014, 1. 747 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 401; ebenfalls für eine Priorität des Abbaus von Bildungsbarrieren und die damit einhergehende Erhöhung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Einkommensungleichheit und soziale Mobilität, Gutachten, abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/ Ministerium/Geschaeftsbereich/Wissenschaftlicher_Beirat/Gutachten_und_Stellungnahmen/ 746
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Abbildung 29:748 Durchschnittliche Lebensverdienste in Deutschland nach Bildungsabschluss
Eine Maßnahme zur Sicherung gleicher Chancen stellt beispielsweise das Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) dar. Dieses wird als „zentrales staatliches Instrument zur Sicherung von Chancengleichheit bei der individuellen Bildungsfinanzierung“ gesehen.749 Es findet seine Grundlage in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und bewirkt ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ durch ein staatlich organisiertes Ausbildungsförderungssystem.750 Nach § 1 BAföG ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Ausbildungsförderung, dass dem Einzelnen die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel nicht anderweitig zur Verfügung stehen. Gemäß § 11 Abs. 2 bis 4 BAföG sowie nach Maßgabe der §§ 21 ff. BAföG und §§ 26 ff. BAföG sind das Einkommen beziehungsweise Vermögen der sich in Ausbildung befindenden Person, der Eltern und des Ehegatten anzurechnen. Das „Ob“ sowie das „Wie“ der Förderung bemessen sich damit unter Ausgewaehlte_Texte/2017-02-28-einkommensungleichheit-und-soziale-mobilitaet-anlage.pdf; jsessionid=900C8181F084F8AC7AE2EF577907BF38?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 36 ff. 748 Statistisches Bundestamt (Statista). 749 BT-Drs. 18/2663, S. 1. 750 Lackner, NVwZ 2013, 912 (913).
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anderem nach dem Einkommen der Eltern, sodass dieser Fall auf den ersten Blick mit dem vorliegenden vergleichbar ist. Ein Unterschied besteht hier jedoch darin, dass durch die Gewährung von Berufsausbildungsförderung an die Belastung selbst angeknüpft wird. Eine Abhängigkeit von dem Einkommen der Eltern besteht in diesem Fall nur deshalb, weil diese nach § 1601 ff. BGB grundsätzlich dazu verpflichtet sind, ihrem Kind das Studium zu finanzieren. Erst wenn ihnen das finanziell nicht möglich ist, kann der Anspruch auf Ausbildungsförderung greifen. Gerade die ungleichen Chancen in Bezug auf die Bildung sollen ausgeglichen werden, indem jedem finanziell die Möglichkeit eröffnet wird, eine Ausbildung oder ein Studium aufzunehmen und auch abzuschließen. Es besteht demnach ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Förderung und den studienbedingten Aufwendungen. Bei der Anknüpfung der Einkommensteuer an das Einkommen der Eltern soll dagegen keine konkrete Gewährleistung gleicher Ausbildungschancen erfolgen, sondern es sollen die Unterschiede in der Erwerbsfähigkeit durch Modifizierung der Einkommensteuerhöhe ausgeglichen werden. Dies bewirkt schließlich keine Chancengleichheit mehr, da zwischen den Gruppen keine vergleichbare Qualifikation besteht und somit gezielt ein Merkmal bevorzugt wird. Die Bildungsunterschiede der Steuerpflichtigen aufgrund von Abweichungen in Einkommen und Bildung der Eltern sind demnach auch für diese Merkmale zur Gewährleistung von Chancengleichheit bei der Ausgestaltung der Steuermodelle herauszurechnen. Sollten sich gleichwohl bei der Betrachtung Abweichungen ergeben, sind allein diese durch die „Tagging“-Modelle zu kompensieren. Allerdings lässt sich, ebenso wie bei dem Merkmal „Migrationshintergrund“, auch hier der dadurch bewirkte zusätzliche Verwaltungsaufwand anführen. Zudem kann der Verfassung ebenfalls kein auf diese Kriterien bezogener Gleichstellungsauftrag entnommen werden. Aufgrund der Schwere des Eingriffs in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist demnach die Angemessenheit einer Einkommensbesteuerung in Abhängigkeit von den Merkmalen „Einkommen der Eltern“ und „Bildungshintergrund der Eltern“ abzulehnen. (b) Zwischenfazit Eine Ungleichbehandlung durch Anknüpfung an Merkmale des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG unterliegt besonders strengen Anforderungen, da die Verfassung bei diesen Kriterien nicht auf eine positive Diskriminierung angelegt ist. Eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach Migrationshintergrund sowie Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern ohne Berücksichtigung der bestehenden Qualifikationsunterschiede zwischen den Gruppen läuft schließlich auf eine unzulässige Ergebnisgleichheit hinaus. Selbst wenn man die Bildungsunterschiede bei den Gehaltsunterschieden herausrechnet, so bleibt fraglich, ob dann – wie bei-
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spielsweise bei dem Merkmal „Geschlecht“ –751 noch signifikante Abweichungen festgestellt werden können, die einen Ausgleich der unterschiedlichen Erwerbsfähigkeit rechtfertigen können, wobei mangels Förderauftrag im Grundgesetz ein strenger Maßstab gilt. Solange keine solchen gravierenden Unterschiede nachgewiesen werden können, ist somit aufgrund der Schwere des Eingriffs dem Sozialstaatsprinzip kein Vorrang zu gewähren. Demnach ist davon auszugehen, dass die Einführung des „Tagging“ im Einkommensteuerrecht bei den Merkmalen Migrationshintergrund sowie Einkommen und Bildungsabschluss der Eltern nach dem nationalen Verfassungsrecht unzulässig ist. (3) Differenzierung nach dem Vorliegen einer Behinderung Im Unterschied zu den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG stellt „Behinderung“ eine Eigenschaft dar, die die Lebensführung unabhängig von Auffassungen in der Gesellschaft zu diesem Merkmal prinzipiell schwieriger gestaltet.752 Bereits das geltende Einkommensteuerrecht knüpft mit § 33b EStG an das exogene Merkmal „Behinderung“ an, indem es an dieser Stelle den Abzug eines Pauschbetrags für Personen mit Behinderung zulässt. Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass behinderte Menschen typischerweise einen erhöhten Grundbedarf haben, der nicht vom tariflichen Grundfreibetrag berücksichtigt wird, sodass die Abzugsmöglichkeit dieser indisponiblen Aufwendungen das subjektive Nettoprinzip und damit die steuerliche Leistungsfähigkeit verwirklicht.753 Es sollen die außergewöhnlichen Belastungen vereinfacht berücksichtigt werden, die sich unmittelbar auf die Behinderung zurückführen lassen.754 Subjektive und objektive Leistungsfähigkeit sehen eine Verringerung der Steuerschuld für solche Fälle vor, in denen erwerbsbezogene beziehungsweise indisponible private Aufwendungen Berücksichtigung finden müssen.755 Wie bereits erwähnt, kann nur die „Ist-“ und nicht die „Soll-Leistungsfähigkeit“ Indikator für die steuerliche Leistungsfähigkeit sein.756 Ein Ausgleich der verminderten Erwerbsfähigkeit von Personen mit Behinderung weist keinen Bezug zu erhöhten Aufwendungen der Betroffenen auf, sondern bezieht sich allein auf das Potenzial zur Erzielung von Einkünften und mithin auf die „Soll-Leistungsfähigkeit“ einer 751
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) dd) (1). BVerfGE 96, 288 (302); zum Begriff der „Behinderung“ ausführlich: Kingreen, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 3 Rn. 561 ff.; Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 98. 753 Heger, in: Blümich, EStG / KStG / GewStG, Kommentar, Bd. III, § 33b EStG Rn. 3. 754 BFHE 142, 377 (379). 755 Siehe hierzu bereits unter Teil 2 A. I. 1. a). 756 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. b). 752
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Person. Somit ist die Berücksichtigung des verminderten Erwerbspotenzials von Personen mit Behinderung nicht Ausdruck der (subjektiven) Leistungsfähigkeit, sondern widerspricht dieser. Damit stellt sich die Frage, inwiefern über die Berücksichtigung von erhöhten Aufwendungen hinaus die Kompensation faktischer Nachteile bei Personen mit Behinderung gerechtfertigt werden kann, wobei die damit einhergehende Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG mit der Staatszielbestimmung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG abzuwägen ist. (a) Kriterium der Chancengleichheit Während die Zulässigkeit bei Frauenquoten umstritten ist, werden Behindertenquoten als zulässig erachtet.757 So haben beispielsweise nach § 71 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen zu mindestens 5 % schwerbehinderte Personen zu beschäftigen. Die Zulässigkeit einer solchen starren Quote ist jedoch vor dem Hintergrund kritisch zu betrachten, dass, ebenso wie bei dem Merkmal „Geschlecht“, auch hier eine Ungleichbehandlung nur soweit möglich ist, als hierdurch eine Chancengleichheit und gerade keine Ergebnisgleichheit bewirkt wird.758 Die im öffentlichen Dienst regelmäßig vorgesehene Bevorzugung von Personen mit Behinderung wird dagegen bei Vorliegen gleicher Qualifikation gemäß Art. 33 Abs. 2 GG als von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gedeckt angesehen.759 Auch bei der Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Merkmal „Behinderung“ besteht durch Anwendung eines Steuertarifs eine gewisse Abhängigkeit vom tatsächlich erzielten Einkommen. Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Qualifikation von behinderten sowie nicht behinderten Personen ergeben sich allerdings zu den anderen Charakteristika Unterschiede: Bei dem Vorliegen einer Behinderung kann eine verminderte Qualifikation zum einen auf die zusätzlichen Erschwernisse zurückgeführt werden. Diese Zusatzbelastungen lassen sich wie bei den anderen Merkmalen durch Förderprogramme sowie Nachteilsausgleiche kompensieren. Als Beispiel seien an dieser Stelle §§ 64 ff. des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) zu nennen, nach denen die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen Berücksichtigung finden. Jedoch kann auch eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung vorliegen, die sich unmittelbar auf das Arbeitsergebnis solcher Personen auswirkt oder diese daran hindert, einen körperlich beziehungsweise geistig anspruchsvolleren Beruf zu
757
Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 239; BVerfG, Beschluss v. 01. 10. 2004 – 1 BvR 2221/03, NJW 2005, 737 (737). 758 Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, S. 276 f. 759 Englisch, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 3 Rn. 101.
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ergreifen. Solche Abweichungen in der Eignung sind nur schwer änderbar, sodass Maßnahmen zu deren Behebung wenig erfolgsversprechend sind. Zu diesen Erschwernissen hinzu kommen Vorurteile in der Gesellschaft. Beispielsweise sind nach einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus dem Jahr 2013 behinderte Menschen häufiger von Dauerarbeitslosigkeit betroffen als nicht behinderte Menschen, obgleich 55 % der arbeitslosen Personen mit Schwerbehinderung einen Studien- oder Berufsabschluss haben, während dies nur bei 40 % der nicht behinderten Personen ohne Arbeit der Fall ist.760 Dies zeigt, dass Personen mit Behinderung auch bei gleicher Qualifikation im Arbeitsleben diskriminiert werden. (b) Intensität der Ungleichbehandlung Zum Ende des Jahres 2015 lebten circa 7,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland, was 9,3 % der Gesamtbevölkerung in diesem Jahr entspricht.761 Dies bedeutet, dass die Bevorzugung einen verhältnismäßig kleinen Anteil an der Bevölkerung erfassen würde, zumal zu berücksichtigen ist, dass die Mehrzahl der Behinderungen erst im fortgeschrittenen Alter auftreten, sodass ein Großteil dieser Personen nicht mehr erwerbstätig ist und damit nicht mehr den begünstigenden Besteuerungsregelungen unterfällt (vgl. Abb. 30). Dementsprechend wird von den durch die Typisierung eintretenden Härten sowie Ungerechtigkeiten nur eine geringe Personenzahl betroffen sein. Werden dagegen beispielsweise Frauen gegenüber Männern bei der Bemessung der Einkommensteuerhöhe bevorzugt, so müssen alle steuerpflichtigen Männer die zusätzliche Steuerlast tragen, die durch Entlastung aller steuerpflichtigen Frauen entsteht. Der Ausgleich erfolgt hier in ähnlich großen Gruppen. Bei einer Anknüpfung an das Vorliegen einer Behinderung müssen alle Steuerpflichtigen ohne Behinderung die Lasten für die Bevorzugung derjenigen mit Behinderung, die weniger als 10 % aller Steuerpflichtigen ausmachen, tragen. Dies bedeutet, dass in letzterem Fall die Zusatzbelastung für den einzelnen durch die Umverteilungsmaßnahme Benachteiligten deutlich geringer ausfällt und die Ungleichbehandlung damit weniger intensiv ist.
760
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Ausgabe 160 v. 16. 10. 2013, „Zu Unrecht benachteiligt“, S. 2, abrufbar unter: http://www.berlin-institut.org/newsletter/160_16_ Okt_20013.html.html#Artikel0 (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017). 761 Statistisches Bundesamt, 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/ Behinderte/BehinderteMenschen.html (zuletzt abgerufen am: 04. 11. 2017).
206
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Abbildung 30:762 Verteilung von Schwerbehinderungen nach Altersgruppen und Geschlecht
(c) Zwischenfazit Demnach ist es nach nationalem Verfassungsrecht möglich, die Unterschiede im Erwerbspotenzial, die sich sowohl auf nicht änderbare Abweichungen in der Qualifikation als auch auf Verhaltensweisen der Gesellschaft zurückführen lassen, im Sinne einer „ausgleichenden Gerechtigkeit“ durch Bevorzugung von behinderten Personen zu kompensieren. (4) Differenzierung nach dem Alter Bei der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Alter der Steuerpflichtigen ist die hierdurch bewirkte Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG mit dem verfolgten Ziel einer Gleichstellung nach Art. 20 Abs. 1 GG abzuwägen. Da auch hier Unterschiede im Erwerbspotenzial ausgeglichen werden sollen, wird ebenfalls gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip sowie den Folgerichtigkeitsgrundsatz verstoßen. 762
Statistisches Bundesamt (Statista).
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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Kompensiert werden soll die verminderte Erwerbsfähigkeit bei jüngeren Perso nen, sodass hier der ungewöhnliche Fall vorliegt, dass durch eine gesetzliche Regelung zu Ausgleichszwecken gerade ältere Personen benachteiligt werden. Von einer sogenannten „Altersdiskriminierung“ können jedoch sowohl ältere als auch jüngere Menschen betroffen sein,763 sodass dies nicht weiter von Relevanz ist. (a) Rechtsprechung des BVerfG In seiner früheren Rechtsprechung bezog das BVerfG zur gleichheitsrechtlichen Problematik einer Differenzierung nach dem Alter nicht klar Stellung, sondern problematisierte die Altersdiskriminierung schwerpunktmäßig bei einer Beeinträchtigung der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG.764 Sofern ein Verstoß von Altersgrenzen gegen die Berufsfreiheit gerechtfertigt werden konnte, unterlag die gleichheitsrechtliche Zulässigkeitsprüfung keiner davon abweichenden Beurteilung.765 In seiner Entscheidung zur Zulässigkeit einer Altersgrenze von 55 Jahren für den Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit766 betonte das BVerfG erstmals einen strengen Prüfungsmaßstab bei Ungleichbehandlungen wegen des Alters.767 Dass es im selben Zuge bereits die Vermeidung höherer Kosten, die dem Gesamtsystem durch später zugelassene Vertragsärzte entstehen, als ausreichenden Rechtfertigungsgrund anerkennt, erscheint widersprüchlich.768 Obgleich das BVerfG prinzipiell von hohen Anforderungen für die Zulässigkeit von Altersgrenzen spricht, werden seiner Rechtsprechung tatsächlich eher geringe Maßstäbe entnommen.769 Demzufolge lassen sich aus der Rechtsprechung des BVerfG keine genauen Leitlinien für die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Altersdiskriminierungen ableiten.
763 König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (341, 345). 764 Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 139; Sachs, JuS 2001, 909 (910); Grünberger, EuZA 2011, 171 (172); König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (356 ff.). 765 BVerfGE 1, 264 (274 f.); 9, 338 (345 ff.); 78, 155 (164); BVerfG, NJW 1998, 1776 (1778). 766 BVerfGE 103, 172 (193 f.). 767 König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (358). 768 Sachs, JuS 2001, 909 (910). 769 So beispielsweise: König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (358).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(b) Schwerpunkt auf europarechtlicher Ebene Das Verbot der Altersdiskriminierung stellt einen „allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts“ dar, sodass eine Ungleichbehandlung nach dem Alter vorrangig in diesem Gebiet diskutiert wird.770 Altersdiskriminierung entfaltet insbesondere auf dem Arbeitsmarkt Relevanz.771 Der EuGH wird inzwischen zum Teil sogar als „vierte arbeitsrechtliche Instanz“ angesehen.772 Zur Vermeidung von Diskriminierungen aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale wurden von der Europäischen Kommission vier EU-Antidiskriminierungs richtlinien773 erlassen. Zu deren Umsetzung wurde das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als einheitliches Gesetz eingeführt.774 Gemäß § 1 AGG sollen Benachteiligungen unter anderem wegen des Alters verhindert oder beseitigt werden.775 Gegen eine völlige Ablehnung einer Anknüpfung an das Alter lässt sich jedoch einwenden, dass es – anders als zum Beispiel das Merkmal der sexuellen Identität – sich zu einem gewissen Grad auf das Arbeitsverhältnis auswirkt.776 Gerade für das Alter sieht das AGG in § 10 Satz 3 AGG diverse Ausnahmen für eine Anknüpfung von Regelungen an das Alter vor, wie beispielsweise eine Berücksichtigung in Sozialplänen gemäß § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG. Es erfolgt bei der Frage nach der Zulässigkeit altersbezogener Regelungen eine weitgehende Überlagerung durch das Europarecht, worauf im Rahmen der europarechtlichen Prüfung genauer eingegangen wird.777 Somit verwundert es nicht, dass sich nur wenige Aussagen zur Vereinbarkeit altersbezogener Regelungen mit nationalem Verfassungsrecht, insbesondere zur Frage der gleichheitsrechtlichen Zulässigkeit, finden.
770
BVerfGE 139, 19 (50); Kischel, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 3 Rn. 139. 771 Huster, EuR 2010, 325 (337); König, in: Gaitanides / Kadelbach / Iglesias, Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, S. 341 (342). 772 Straube / Hilgenstock, ArbRAktuell 2010, 567 (567). 773 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. 06. 2000, Abl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/ EG des Rates v. 27. 11. 2000, Abl. 2000 L 303/16, Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23. 09. 2002, Abl. 2002 L 269/15 (aufgehoben durch Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 05. 07. 2006, Abl. 2006 L 204/23) und Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13. 12. 2004, Abl. 2004 L 373/37. 774 BT-Drs. 16/1780, S. 2. 775 Hierzu: Schlachter, in: Müller-Glöge / Preis / Schmidt, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 1 AGG Rn. 12 f. 776 Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1400); ebenfalls gegen eine generelle Ablehnung des Alters als Differenzierungsmerkmal: Huster, EuR 2010, 325 (337). 777 Siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 3 C. V. 1.
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
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(c) Würdigung im konkreten Fall Angesichts der Tatsache, dass das Problem der Altersdiskriminierung weitgehend auf europäische Ebene verlagert wurde, wird die Frage nach den Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts für deren Angemessenheit in Literatur und Rechtsprechung eher stiefmütterlich behandelt. Dessen ungeachtet soll im Folgenden die Zulässigkeit einer Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Alter vor dem Hintergrund nationaler Gleichheitsrechte analysiert werden. Es stellt sich die Frage, ob für eine Kompensation der nach dem Lebensalter variierenden Einkommensunterschiede und die damit einhergehende Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG besondere Gründe sprechen. Mangels einer Einschlägigkeit von spezielleren Gleichheitssätzen unterliegt die Rechtfertigung den (weniger hohen) Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes. Da auch hier nicht nur das Alter, sondern insbesondere das erzielte Einkommen für die Höhe der Einkommensteuer maßgeblich ist, besteht weiterhin eine gewisse Leistungsabhängigkeit der beabsichtigten Regelung, was für einen weniger intensiven Eingriff spricht. Allerdings lassen sich die Bildungsstände der verschiedenen Gruppen nur schwer in Relation setzen. Obgleich jüngere Steuerpflichtige eine Nähe zur theoretischen Ausbildung aufweisen, können ältere in der Regel auf eine längere Lebensarbeitszeit zurückblicken und weisen damit mehr Berufserfahrung auf. Diese Erfahrung im Arbeitsumfeld sowie die Treue zu einem bestimmten Fachgebiet beziehungsweise Unternehmen schlägt sich in den Einkommensunterschieden nieder. Damit scheitert es an der Vergleichbarkeit der Qualifikation der verschiedenen Personengruppen. Auch wenn man dies bei der Ausgestaltung der Steuermodelle berücksichtigen würde, so wäre die Bejahung einer Angemessenheit höchst zweifelhaft. Anders als beispielsweise beim Geschlecht gibt es beim Alter nicht nur zwei Gruppen, in die steuerpflichtige Personen unterteilt werden können, sondern dieses variiert nach Jahren. Eine Anknüpfung an das genaue Alter einer Person führt damit zu einem hohen Verwaltungsaufwand. Dies könnte man dadurch umgehen, indem man nicht nach jedem einzelnen Lebensalter differenziert, sondern die Personen in verschiedene Altersgruppen unterteilt. Eine solche Vorgehensweise hätte allerdings eine zusätzliche Pauschalierung zur Folge, welche im Hinblick auf die beschränkte Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers problematisch erscheint. Zudem wäre aufgrund des stetigen Fortschreitens des Alters einer jeden Person eine fortlaufende Anpassung der Einkommensbesteuerung erforderlich. Darüber hinaus ist kein Grund ersichtlich, aus dem die faktischen Einkommensunterschiede der Personengruppen einen sofortigen Ausgleich erfordern, sondern es erscheint vielmehr sachgerecht, dass eine Angleichung über die Zeit erfolgt.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
(d) Zwischenfazit Eine Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an das Alter der Steuerpflichtigen kann somit nach dem nationalen Verfassungsrecht nicht mehr als angemessen beurteilt werden. Anzumerken ist, dass für Altersdiskriminierung insbesondere europarechtliche Grundsätze maßgeblich sind, sodass für die Beurteilung der Zulässigkeit einer nach dem Alter differenzierenden Einkommensbesteuerung auch auf die Ausführungen hierzu verwiesen wird.778 (5) Differenzierung nach der Körpergröße Eine Ungleichbehandlung wegen der Körpergröße entfaltete in der Rechtsprechung bislang bei berufsbezogenen Mindestgrößen im Hinblick auf eine mittelbare Beeinträchtigung wegen des Geschlechts Bedeutung.779 Eine solche kann im vorliegenden Fall ausgeblendet werden, da bei der geplanten Besteuerung nach der Körpergröße die geschlechtsspezifischen Größenunterschiede bereits mitberücksichtigt werden sollen.780 Der Verhältnismäßigkeit einer hier insoweit gegebenen unmittelbaren Ungleichbehandlung wegen der Körpergröße wurde dagegen noch keine nennenswerte Beachtung geschenkt. Bei der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach der Körpergröße der Steuerpflichtigen ist im Rahmen einer Abwägung zu prüfen, ob der damit einhergehende Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip hinter den damit bezweckten Ausgleich im Erwerbspotenzial zurücktreten muss. (a) Sachgerechte Differenzierungen nach der Körpergröße Regelungen, die nach der Körpergröße differenzieren, sind eher selten. Bedeutung entfalten sie insbesondere bei Mindestgrößen für die Zulassung zu bestimmten Berufen. Obgleich von den Gerichten in diesem Zusammenhang allein die Zulässigkeit einer damit einhergehenden mittelbaren Diskriminierung von Frauen nach § 3 Abs. 2 AGG thematisiert wurde, lassen sich hieraus Maßstäbe für die Rechtfertigung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung wegen der Körpergröße ableiten. Gemeinsam ist den gängigen Regelungen dabei, dass sie eine effektive Gefahrenabwehr gewährleisten sollen. So ist beispielsweise die Festlegung von Mindestkörpergrößen bei Polizeivollzugsbeamten grundsätzlich sachlich gerechtfertigt, um eine störungsfreie Wahr 778
Siehe hierzu im Folgenden unter: Teil 3 C. V. VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 10. 2007 – 2 K 2070/07 Rn. 41 f. (juris); LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 29. 04. 2016 – 19 Sa 45/15 Rn. 37 (juris); ArbG Köln, Urteil v. 28. 11. 2013 – 15 Ca 3879/13 Rn. 37 ff. (juris). 780 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 1. a) bb) (2). 779
A. Vereinbarkeit mit Gleichheitsrechten
211
nehmung der Aufgaben sicherzustellen.781 Die Festlegung einer Mindestgröße muss unzweifelhaft den praktischen Anforderungen der polizeilichen Dienstausübung entsprechen.782 Aus einer geringeren Körpergröße können sich beispielsweise Nachteile im Hinblick auf die effektive Anwendung von Halte- und Hebeltechniken gegenüber polizeipflichtigen Personen ergeben.783 Polizeilichen Aufgaben kommt eine große Bedeutung zu, da es um die Abwehr von Gefahren für teilweise hochrangige Rechtsgüter wie Leib oder Leben geht.784 Es darf daher eine Beschränkung auf Bewerber erfolgen, bei denen aufgrund ihrer Körpergröße garantiert wird, dass sie den Anforderungen der polizeilichen Tätigkeit nachkommen können.785 Mindestkörpergrößen für Flugzeugführer sollen die Flugsicherheit gewährleisten.786 Die Person, die das Flugzeug fliegt, muss eine ausreichende Körpergröße aufweisen, um alle Schalter und Pedale bedienen zu können und einen freien Blick aus dem Cockpitfenster zu haben.787 Im vorliegenden Fall spielen derartige Sicherheitsaspekte keine große Rolle, sondern es geht insbesondere darum, dass die Körpergröße aufgrund ihrer Prägung des äußeren Erscheinungsbildes Einfluss auf die Einkommenshöhe hat. Es gilt zu prüfen, ob die daraus resultierenden Unterschiede im Potenzial zur Erzielung von Einkünften ebenfalls eine Ungleichbehandlung wegen der Körpergröße rechtfertigen können. (b) Würdigung im konkreten Fall Das Sozialstaatsprinzip kann Regelungen zugunsten einzelner Bevölkerungsgruppen rechtfertigen, wenn vernünftige, sachgerechte Gründe für die Begünstigung sprechen, wobei Art und Ausmaß, Wirkungsbereich und die Intensität der angewandten Mittel in jedem Einzelfall zu prüfen sind.788 Da es sich bei der Körpergröße um ein unveränderliches persönliches Merkmal handelt, liegt eine intensive Ungleichbehandlung vor.789 Dem steht das Ziel gegen 781
VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 10. 2007 – 2 K 2070/07 Rn. 42 ff. (juris); VG Schleswig, Urteil v. 26. 03. 2015 – 12 A 120/14 Rn. 22 ff. (juris); VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14. 03. 2016 – 1 K 3788/14 Rn. 24 f. (juris). 782 VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14. 03. 2016 – 1 K 3788/14 Rn. 54 (juris). 783 VGH Kassel, Beschluss v. 25. 08. 2016 – 1 B 976/16 Rn. 20, 22 (juris); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 27. 01. 2017 – OVG 4 S 48.16 Rn. 9 (juris). 784 VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 10. 2007 – 2 K 2070/07 Rn. 49 (juris); VG Gelsenkirchen, Urteil v. 14. 03. 2016 – 1 K 3788/14 Rn. 46 (juris). 785 VG Düsseldorf, Urteil v. 02. 10. 2007 – 2 K 2070/07 Rn. 49 (juris). 786 ArbG Köln, Urteil v. 28. 11. 2013 – 15 Ca 3879/13 Rn. 43 (juris); LAG Köln, Urteil v. 25. 06. 2014 – 5 Sa 75/14 Rn. 66 (juris). 787 ArbG Köln, Urteil v. 28. 11. 2013 – 15 Ca 3879/13 Rn. 43 (juris). 788 Robbers, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. VII, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1409. 789 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. a) cc) (5).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
über, die positivere Wahrnehmung größerer Menschen im Arbeitsleben, die sich auf das Einkommen auswirkt, zu kompensieren. Nach Art. 20 Abs. 1 GG hat die Steuerpolitik auf die Belange der schwächeren Bevölkerungsschichten Rücksicht zu nehmen.790 Die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers lässt zwar zu, dass soziale Ausgleichsleistungen nicht nur dort erfolgen, wo im Einzelfall Bedarf besteht, sondern es steht dem Gesetzgeber offen, die typischen Fälle des Bedarfs festzustellen.791 Aufgrund der Nähe zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers vorliegend jedoch eingeschränkt. Selbst wenn sich bei verschieden großen Menschen Unterschiede in der Qualifikation feststellen lassen, so können diese bei der Ausgestaltung der Regelungen unberücksichtigt bleiben, sodass allein ein Ausgleich von Unterschieden im Erwerbspotenzial erfolgt. Allerdings lässt sich die Körpergröße – ebenso wie das Alter – nicht nur in die Gruppen „groß“ und „klein“, sondern in viele verschiedene Größenwerte unterteilen, was zu einem enormen Verwaltungsaufwand führt. Für den Ausgleich von Nachteilen wegen der Körpergröße enthält das Grundgesetz zudem keinen gesonderten Förderauftrag. Dies zeigt, dass dieses Merkmal von der Verfassung nicht als besonders schützenswert angesehen wird. Art. 20 Abs. 1 GG gewährleistet zwar ebenfalls eine Chancengleichheit.792 Durch die im Grundgesetz enthaltenen Sozialzwecknormen wurde jedoch bislang immer nur eine Wohlstandskorrektur bezweckt; auf Unterschiede im Potenzial zur Erzielung von Einkünften wurde dagegen nicht abgestellt. Würde man die Rechtfertigung einer Differenzierung nach der Körpergröße durch das Sozialstaatsprinzip zulassen, so würde dessen Gewährleistungsumfang zu weit ausgedehnt werden. Auch wurden bislang durch die Rechtsprechung der Verwaltungs- und Arbeitsgerichte mittelbare Diskriminierungen wegen der Körpergröße allein im Hinblick auf das gewichtige öffentliche Interesse der Gefahrenabwehr als rechtfertigbar angesehen. Hier steht aber eine unmittelbare Diskriminierung im Raum, welcher ein – im Vergleich zur Gefahrenabwehr weniger gewichtiges – sozialstaatliches Interesse gegenübersteht. Es erscheint daher vorzugswürdig, den einkommensteuerlichen Ausgleich von Nachteilen in der Erwerbsfähigkeit aufgrund der Körpergröße nicht als rechtfertigbar anzusehen. (c) Zwischenfazit Eine Anknüpfung an die Körpergröße kann somit nicht mehr als angemessen beurteilt werden.
790
BVerfGE 13, 331 (346 f.); 29, 402 (412). BVerfGE 17, 1 (11); 26, 16 (37). 792 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (2) (a). 791
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c) Zwischenfazit zur Rechtfertigung Es kann damit allein eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach den Charakteristika Geschlecht und Behinderung gerechtfertigt werden. 3. Zwischenfazit zur Verletzung von Gleichheitsrechten Es lässt sich festhalten, dass durch eine Berücksichtigung der Merkmale Migrationshintergrund sowie Bildungsstand und Einkommen der Eltern bei der Einkommensbesteuerung der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt wird. Durch eine Anknüpfung an Alter und Körpergröße der Steuerpflichtigen wird wiederum der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Eine Differenzierung nach dem Geschlecht hat eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zur Folge, die durch das Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zu beachten, dass zwischen Männern und Frauen ein signifikanter Einkommensunterschied bestehen muss, was durch eine fortlaufende Überprüfung sicherzustellen ist. Weiterhin müssen zur Gewährleistung von Chancengleichheit beide Gruppen gleich qualifiziert sein. Dies bedeutet, dass die Unterschiede im Einkommen, die sich auf Abweichungen bei dem Bildungshintergrund und der Ausbildungswahl zurückführen lassen, nicht ausgeglichen werden können. Zudem muss die Regelung geschlechtsneutral ausgestaltet werden. Darüber hinaus darf der Gleichheitsverstoß nicht zu intensiv sein, sodass eine zusätzliche Abhängigkeit der Einkommens besteuerung vom tatsächlich erzielten Einkommen sowie lediglich eine Annäherung und kein völliger Ausgleich der Unterschiede erfolgen darf. Ähnlich ist die Zulässigkeit einer Anknüpfung an das Merkmal „Behinderung“ zu beurteilen. Die damit einhergehende Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG kann durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gerechtfertigt werden. Jedoch muss auch hier Chancengleichheit gewährleistet bleiben, sodass erhebliche Einkommensunterschiede trotz vergleichbarer Qualifikation nachgewiesen werden müssen. Darüber hinaus muss zur Gewährleistung der Angemessenheit ebenfalls zusätzlich eine Abhängigkeit der Einkommensteuer von dem tatsächlich erzielten Einkommen erfolgen. Eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach den Merkmalen „Geschlecht“ sowie „Behinderung“ ist folglich nach deutschem Verfassungsrecht grundsätzlich möglich.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten Gleichheitsrechte und Freiheitsrechte stehen in keinem Ausschließlichkeitsverhältnis,793 sodass vorliegend auch die Verletzung von Freiheitsrechten zu prüfen ist.
I. Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 GG Zunächst soll geprüft werden, ob durch die Bemessung der Einkommenshöhe nach exogenen Merkmalen das Freiheitsrecht des Art. 6 Abs. 1 GG verletzt wird. 1. Beeinträchtigung des Schutzes von Ehe und Familie Es stellt sich dafür zunächst die Frage, ob die Regelungen eine Beeinträchtigung des von Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutzes von Ehe und Familie in seiner Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts der Ehegatten darstellen. a) Grundsätzliches Art. 6 Abs. 1 GG stellt zunächst ein klassisches Abwehrrecht dar, durch das der Lebensbereich der Ehe und Familie vor äußerem Zwang durch den Staat geschützt werden soll.794 Ihm kann zudem ein besonderer Gleichheitssatz entnommen werden.795 Weiterhin enthält dieses Grundrecht eine Institutsgarantie, die Ehe und Familie als Institutionen im Staat und in der Gesellschaft garantiert.796 Darüber hinaus stellt Art. 6 Abs. 1 GG eine Grundsatznorm in dem Sinne dar, dass sie eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des privaten und öffentlichen Rechts, der Ehe und Familie betrifft, beinhaltet.797 Daraus folgt wiederum, dass es dem Staat zum einen verboten ist, Ehe und Familie zu schädigen oder sonstwie zu beeinträchtigen und dass dieser zum anderen dazu verpflichtet ist, diese Positionen vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen sowie geeignete Fördermaßnahmen zu ergreifen.798 Im Steuerrecht entfaltet die Regelung insbesondere im Hinblick auf die in §§ 26, 26b EStG geregelte Zusammenveranlagung der Ehegatten, bei der sich die tarifliche Einkommensteuer nach dem „Splitting-Verfahren“ gemäß § 32a Abs. 5 EStG 793
Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 140. BVerfGE 6, 386 (688); 105, 313 (342). 795 BVerfGE 76, 1 (72); 99, 216 (232); siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. a) bb) (2). 796 BVerfGE 6, 55 (72). 797 BVerfGE 6, 55 (72); 24, 119 (135); 31, 58 (67); 55, 114 (126); 131, 239 (259); 132, 179 (191); 137, 273 (342). 798 BVerfGE 6, 55 (72); 133, 377 (412). 794
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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bemisst, Bedeutung. Ein Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften vom Ehegattensplitting ist nach der Rechtsprechung des BVerfG799 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und damit verfassungswidrig. Nach Rechtsprechung des BVerfG ist das Ehegattensplitting „keine beliebig veränderbare Steuer-‚Vergünstigung‘, sondern – unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers – eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Art. 3 Abs. 1 GG) orientierte sachgerechte Besteuerung“.800 Hieran anknüpfend bejaht der wohl überwiegende Teil in der Literatur die verfassungsrechtliche Gebotenheit des Ehegattensplittings.801 Diese wird jedoch nicht dem Förderungsgebot der Ehe, sondern dem abwehrrechtlichen Charakter des Art. 6 Abs. 1 GG, namentlich dem verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in eheinternen Entscheidungen, entnommen.802 Zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung der Ehepartner gehört auch die Vereinbarung über die Arbeitsteilung innerhalb der Familie sowie die Entscheidung über die Art und Weise der Sicherung des gemeinsamen Familieneinkommens durch Erwerbsarbeit.803 Die Abschaffung des Ehegattensplittings unter Einführung einer Individual besteuerung würde die Selbstbestimmung der Eheleute über die Führung ihrer Ehe und die Rollenverteilung in dieser beeinträchtigen, da so durch den sich aufgrund des progressiven Steuertarifs ergebenden Anreiz zu einer möglichst homogenen Verteilung des Erwerbseinkommens die Doppelverdienerehe gegenüber der Ehe mit nur einem Erwerbstätigen tendenziell begünstigt würde.804 Bei der Zusammen 799
BVerfGE 133, 377. BVerfGE 61, 319 (345). 801 Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 6 Rn. 86; Uhle, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 6 Rn. 40; Robbers, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 6 Rn. 110; Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 100 S. 434 f.; Wendt, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 70. Geburtstag, S. 47 (63 ff.); Merten, in: Isensee / Lecheler, Freiheit und Eigentum, Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, S. 615 (625); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 Rn. 36; Kirchhof¸ ZRP 2003, 73 (75 f.); Klein, DStZ 1997, 105 (108); a. A.: Coester-Waltjen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 6 Rn. 54; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 6 Rn. 32: „jedenfalls bei kinderlosen Ehen nicht verfassungsrechtlich geboten“; Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1897 ff.); Söhn, in: Kirchhof / Lehner / Raupach / Rodi, Staaten und Steuern, Festschrift für Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, S. 639 (645); Grönert, DStZ 1998, 895 (897); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 391: „Was verfassungsrechtlich vertretbar ist, ist nicht verfassungsrechtlich geboten“. 802 Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 6 Rn. 86; Kube, StuW 2016, 332 (335 f.); Spangenberg, StuW 2016, 343 (347); Seiler, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 6 Abs. 1 Rn. 208. 803 BVerfGE 61, 319 (347); 66, 84 (94); 68, 256 (268); 105, 1 (10). 804 BVerfGE 6, 55 (72); BFHE 64, 432 (435 f.); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 6 Rn. 86; Kube, StuW 2016, 332 (336); Sandweg, DStR 2014, 2097 (2100); Broer, BB 2013, 2208 (2210, 2212), der dies durch folgende Formel verdeutlicht: T (1,5y) + T (0) > T (y) + T (0,5y), wobei T der Steuertarif und y das erzielte Einkommen ist. 800
216
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
veranlagung macht es dagegen keinen Unterschied, welcher der beiden Ehepartner sein Einkommen um einen bestimmten Betrag erhöht, wodurch verdeutlicht wird, dass das Splitting-Verfahren nicht bezweckt, die Alleinverdienerehe zu fördern, sondern diese der Doppelverdienerehe steuerlich gleichzustellen.805 Andererseits wird am derzeitigen System der Ehegattenbesteuerung kritisiert, dass dieses negative Arbeitsanreize für den Zweitverdiener in einer Ehe, und damit in der Regel für Frauen, setze.806 Sie greife damit mittelbar in die Gleichberechtigung von Männern und Frauen nach Art. 3 Abs. 2 GG ein.807 Dies erscheint vor dem Hintergrund widersprüchlich, dass Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG die Ehe als „eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner“ schützt,808 also grundsätzlich im Einklang mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau ausgelegt werden muss.809 Jedoch darf nicht vernachlässigt werden, dass sich die mittelbare Beeinträchtigung von Frauen durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht auch beziehungsweise gerade wegen des progressiven Steuersatzes ergibt.810 Aus diesem Grund würde es zu weit gehen, das nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotene Ehegattensplitting als solches infrage zu stellen, da es nicht der einzige Grund für den Konflikt der geltenden Einkommensbesteuerung mit Art. 3 Abs. 2 GG ist. b) Eingriff im konkreten Fall Im vorliegenden Fall könnte die Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach dem Merkmal „Geschlecht“ einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG darstellen. Rechnet man in ein Modell, in dem für Männer und Frauen unterschiedlich hohe Grenzsteuertarife beziehungsweise Grundfreibeträge Anwendung finden, die zu versteuernden Einkommen der beiden Ehepartner zusammen, um auf die Hälfte dieses Betrags den Einkommensteuertarif anzuwenden, so kommt zwangs 805
Sandweg, DStR 2014, 2097 (2100); a. A.: Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 6 Rn. 84, 95: „Diskriminierung der Doppel- gegenüber der Alleinverdiener ehe“. 806 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/2004, abrufbar unter: https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/gutachten/03_ ges.pdf (zuletzt abgerufen am: 07. 11. 2020), S. 352 (Rn. 640 ff.); Sacksofsky, NJW 2000, 1896 (1898); Spangenberg, StuW 2016, 343 (349 f.); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 6 Rn. 95; Englisch / Becker, Reformbedarf und Reformoptionen beim Ehegattensplitting, ifst-Schrift Nr. 510 (2016), S. 57 f., 76. 807 Siehe hierzu insbesondere: Spangenberg, in: StuW 2016, 343 (349 f.), die das Ehegattensplitting aufgrund seines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 2 GG als verfassungswidrig ansieht. 808 BVerfGE 3, 225 (242); 10, 59 (67); 35, 382 (408); 42, 64 (77); 53, 257 (296); 76, 1 (45); 103, 89 (101); 105, 1 (10 f.); BVerwGE 42, 133 (135). 809 Starck, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 3 Rn. 331; Spangenberg, StuW 2016, 343 (349). 810 Kube, StuW 2016, 332 (338).
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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läufig die Frage auf, welcher Tarif in diesem Fall gilt. Anders als in der geltenden Einkommensbesteuerung gibt es hier nicht nur einen Grenzsteuertarif beziehungsweise Grundfreibetrag, sondern deren Höhe variiert nach Geschlecht. Die Einbeziehung des Geschlechts als Faktor bei der Bestimmung der Einkommensteuerhöhe führt mithin dazu, dass die Zusammenveranlagung der Ehegatten in ihrer derzeitigen Gestalt praktisch nicht mehr umsetzbar ist, denn hier gelten für Männer und Frauen unterschiedliche Grenzsteuertarife. Darüber hinaus setzt die Regelung Anreize, dass der einer grundsätzlich geringeren Besteuerung unterfallende Ehepartner bevorzugt arbeiten geht, und nimmt damit Einfluss auf die Arbeitsteilung innerhalb der Ehe.811 Wie in den vorherigen Ausführungen deutlich wurde, beeinträchtigt eine Abschaffung des Ehegattensplittings in einem Einkommensteuersystem mit progressivem Steuersatz die nach Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Selbstbestimmung in eheinternen Entscheidungen. Bei den Modellvarianten mit progressivem Grenzsteuersatz würde damit die mit der Anknüpfung an exogene Merkmale zwingend einhergehende Einzelveranlagung zu einem Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG führen. Betrachtet man dagegen das Ausgangsmodell mit proportionalem Grenzsteuertarif,812 so wäre es aus Tarifgesichtspunkten indifferent, ob beide Ehepartner gleich viel oder einer viel und der andere nichts (oder nur wenig) verdient. Die Zusammenveranlagung der Ehegatten bei der Einkommensbesteuerung würde zu derselben Steuerhöhe führen wie eine Einzelveranlagung, da sich durch die Geltung nur eines einheitlichen Tarifs ein Splitting im Ergebnis nicht tarifmindernd auswirkt.813 Die Abschaffung des Ehegattensplittings sähe sich in einem Modell mit proportionalem Steuertarif somit nicht der Kritik ausgesetzt, dass es Doppelverdienerehen begünstigen würde. Die Einbeziehung exogener Charakteristika würde zudem neben einer Abkehr von der Zusammenveranlagung bewirken, dass Frauen einer geringeren Einkommensbesteuerung unterliegen als Männer, worin eine Beeinflussung der freien Entscheidung in einer Ehe, welcher Ehepartner wieviel arbeitet, zu sehen ist. Diese Kritik lässt sich sowohl den Modellvarianten mit proportionalem sowie mit progressivem Grenzsteuertarif entgegenhalten. Selbst bei den Modellvarianten mit proportionalem Grenzsteuertarif würde damit die Bemessung der Einkommensteuerhöhe nach dem Geschlecht einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG bewirken.
811
Soeben Gesagtes gilt selbstverständlich nicht für die Fälle der gleichgeschlechtlichen Ehe, welche daher auch bei den weiteren Ausführungen ausgeklammert wurden. 812 Zu diesem Modell siehe bereits unter: Teil 1 C. I. 2. a) aa). 813 Kube, StuW 2016, 332 (338).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Es stellt sich damit sowohl bei der Modellvariante mit progressivem als auch in der Variante mit proportionalem Tarif die Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG. Art. 6 Abs. 1 GG steht unter keinem Eingriffsvorbehalt, jedoch kann der Eingriff durch verfassungsimmanente Schranken in Gestalt kollidierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt werden. Im vorliegenden Fall könnte eine Rechtfertigung durch den Förderauftrag nach Art. 3 Abs. 2 GG in Betracht kommen. Zu prüfen ist die Rechtfertigungsmöglichkeit der mit einer Besteuerung des Geschlechts einhergehenden Beeinträchtigung der freien geschlechtsunabhängigen Arbeitsteilung innerhalb der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG. Dabei ist der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG mit dem Gebot der tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2 GG im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen. Mit dem Ausgleich der Nachteile aus dem verminderten Erwerbspotenzial bei Frauen verfolgt die Regelung ein legitimes, von Art. 3 Abs. 2 GG gebotenes Ziel. Da Frauen durch eine geringere Einkommensbesteuerung ein höheres Nettoeinkommen erzielen, fördert ein solches Besteuerungsmodell dieses Ziel und ist damit geeignet. Im Weiteren müsste die Regelung erforderlich sein. Um gleichzeitig der freien, geschlechtsunabhängigen Arbeitsteilung in der Ehe sowie einer nach dem Geschlecht differenzierenden Einkommensbesteuerung Rechnung zu tragen, könnte man in diesem Zusammenhang die Einführung eines modifizierten Splitting- Verfahrens andenken. Dieses könnte derart ausgestaltet werden, dass die Einkünfte beider Eheleute zusammengerechnet werden, anschließend gleichmäßig auf diese verteilt werden und bei beiden ein Tarif beziehungsweise Grundfreibetrag Anwendung findet, der genau in der Mitte der für Männer und Frauen festgelegten Tarife beziehungsweise Grundfreibeträge verläuft. Durch ein solches Modell könnte darüber hinaus bei den Modellvarianten mit progressivem Grenzsteuertarif die verfassungsrechtlich problematische Begünstigung der Doppelverdiener- gegenüber der Alleinverdienerehe beseitigt werden. Dieses wäre jedoch nicht zielführend, da es sich zum einen gegenüber der Einzelveranlagung in solchen Fällen nachteilig auswirken würde, in denen die Frau mehr verdient, denn diese unterläge bei einer Einzelveranlagung einem geringeren Tarif. Um eine solche mögliche Benachteiligung der Ehe zu vermeiden, müsste man demnach auch hier ein Wahlrecht zur Einzelveranlagung vorsehen, womit wiederum Anreize dahingehend gesetzt werden, dass in einer Ehe die einem niedrigeren Grenzsteuertarifverlauf beziehungsweise Grundfreibetrag unterliegende Frau (mehr) arbeitet. Darüber hinaus sind keine milderen Maßnahmen ersichtlich, die das verfolgte Ziel gleich wirksam oder sogar effektiver verfolgen. Damit ist die Regelung auch erforderlich.
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
219
Im Rahmen einer Angemessenheitsprüfung stellt sich sodann die Frage, ob Art. 3 Abs. 2 GG gegenüber dem Art. 6 Abs. 1 GG überwiegt. Bislang räumt die geltende Einkommensbesteuerung dem Gebot der Entscheidungsneutralität in einer Ehe durch Regelung des Ehegattensplittings einen hohen Rang ein. Durch die unterschiedliche Besteuerung von Männern und Frauen wird die freie Arbeitsverteilung in einer Ehe beeinflusst. Grundsätzlich soll durch die Besteuerung des Geschlechts der Arbeitsaufwand bei Männern gesteigert werden, die wieder ihr vorheriges (Netto-) Einkommensniveau erreichen wollen.814 In Ehen könnte gerade der umgekehrte Effekt eintreten, indem sich die Eheleute dazu entschließen, dass hier die Person, die im Schnitt weniger Steuern zahlen muss (also die Frau), bevorzugt arbeiten geht. Allerdings darf bei der Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben, dass Männer nach wie vor mehr verdienen als Frauen und bessere Karrierechancen als diese haben, sodass auch fortan in vielen Fällen ein Mann seinen Arbeitsaufwand steigern wird, wenngleich er in einer Erwerbsgemeinschaft mit einer Ehepartnerin verbunden ist, die einer geringeren Besteuerung unterliegt. Zudem wird zwar das Ehegattensplitting als Ausdruck des Art. 6 Abs. 1 GG angesehen, dessen Konsens mit Art. 3 Abs. 2 GG vielfach proklamiert wird. Allerdings werden durch dieses Konzept in Verbindung mit der Steuerprogression strukturell bedingt Frauen benachteiligt, worin eine mittelbare Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 GG zu sehen ist.815 Damit nimmt die derzeitige Ausgestaltung der Einkommensbesteuerung zumindest indirekt ebenfalls Einfluss auf die Arbeitsaufteilung in einer Ehe und ist diesbezüglich ebenfalls nicht neutral ausgestaltet. Gerade vor dem Hintergrund, dass derzeit eine arbeitshemmende Wirkung für Frauen als klassische Zweitverdiener ausgeht, erscheint nicht überzeugend, dass diese strukturelle Benachteiligung von Ehefrauen verfassungsgemäß sein soll, während die mit einer geringeren Besteuerung von Frauen einhergehende (Mehr-) Arbeit von Ehefrauen an dem Neutralitätsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG scheitern sollte. Aufgrund der derzeitigen Unterrepräsentanz von Frauen im Erwerbsleben könnte eine solche Angleichung vielmehr einen weiteren Schritt in Richtung freie Entscheidung über die Arbeitsaufteilung in der Ehe bewirken. Demnach ist dem Fördergebot des Art. 3 Abs. 2 GG Vorrang zu gewähren und die Besteuerung des Geschlechts als angemessen zu beurteilen. Zusätzlich ist bei der Einführung der Modellvarianten mit progressivem Grenzsteuersatz zu berücksichtigen, dass die mit der Besteuerung des Geschlechts einhergehende Abschaffung der Zusammenveranlagung in ihrer derzeitigen Form nur dann verfassungsmäßig wäre, wenn gleichzeitig die Gleichstellung der Allein verdiener- mit der Mehrverdienerehe gewährleistet wäre. Das „Tagging“ kann somit nur unter dieser Bedingung als zulässig erachtet werden.
814 815
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. III. 1. c). Spangenberg, StuW 2016, 343 (349 f.).
220
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
3. Zwischenfazit Es lässt sich damit festhalten, dass bei den Modellvarianten mit proportionalem Grenzsteuersatz der Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertigbar ist. Bei den Modellvarianten mit progressivem Grenzsteuertarif kann aufgrund des Progressionseffekts der Eingriff nur dann gerechtfertigt werden, wenn gleichzeitig gewährleistet ist, dass die Mehrverdiener- nicht gegenüber der Alleinverdienerehe begünstigt wird.
II. Vereinbarkeit mit Art. 14 Abs. 1 GG Die Modifizierung der Einkommensbesteuerung durch zusätzliche Anknüpfung an exogene Charakteristika der Steuerpflichtigen könnte die Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG verletzen. 1. Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie Dafür müsste zunächst ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG vorliegen. a) Grundsätzliches Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG schützt nach ständiger Recht sprechung des BVerfG „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass dieser die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf“.816 In den Schutzumfang werden nur solche Positionen einbezogen, die einem Rechtssubjekt bereits zustehen, sodass in der Zukunft liegende Chancen und Verdienstmöglichkeiten grundsätzlich nicht von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt werden.817 Der sogenannte „moderne Eingriffsbegriff“ versteht unter einem Eingriff grundsätzlich „jedes staatliche Verhalten, das dem Einzelnen die Ausübung einer 816
BVerfGE 45, 142 (179); 51, 193 (216 f.); 78, 58 (71); 83, 201 (208 f.); 89, 1 (6); 91, 294 (307); 95, 267 (300); 97, 350 (370 f.); 112, 93 (107); 115, 97 (110 f.); Depenheuer, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 14 Rn. 113; Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 113 S. 2184; Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 Rn. 23. 817 BVerfGE 20, 31 (34); 28, 119 (142); 30, 292 (335); 45, 272 (296); 68, 193 (223); 78, 205 (211); 95, 173 (188); 105, 252 (277); st. Rspr.; so auch: Dederer, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 14 Rn. 196, 203; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 14 Rn. 19; mit Einschränkungen: Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 Rn. 44.
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
221
grundrechtlich geschützten Freiheit rechtlich oder tatsächlich unmöglich macht beziehungsweise erschwert“.818 Bei Eingriffen in die Eigentumsgarantie lassen sich Inhalts- und Schrankenbestimmungen sowie Enteignungen unterscheiden. Während es sich bei einer Inhalts- und Schrankenbestimmung um die „generellabstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber“ handelt,819 ist die Enteignung auf die „vollständige oder teilweise Entziehung konkreter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben“ gerichtet.820 Eine Enteignung kann entweder durch Gesetz („Legalenteignung“)821 oder durch behördlichen Vollzugsakt („Administrativenteignung“)822 erfolgen. b) Eingriff durch Auferlegung öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten Die Frage, ob Art. 14 Abs. 1 GG das Vermögen als solches schützt, ist umstritten. Demzufolge lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten, ob beziehungsweise in welchem Umfang Geldleistungspflichten, namentlich Steuern und Abgaben, von dem Schutzbereich der Eigentumsgarantie erfasst sind. Nachfolgend sollen die Positionen von Verfassungsrechtsprechung sowie Literatur dargestellt werden. aa) Rechtsprechung des BVerfG Bei der Rechtsprechung des BVerfG zum Gewährleistungsgehalt des Art. 14 Abs. 1 GG ist zwischen dem ersten und zweiten Senat zu unterscheiden. Der erste Senat betonte bislang in ständiger Rechtsprechung, dass die Eigentumsgarantie an konkrete Rechtspositionen gebunden sei, sodass das Vermögen als „Inbegriff aller geldwerten Güter einer Person“ nicht unter den Eigentumsbegriff des Art. 14 Abs. 1 GG falle.823 Demgemäß lasse die Auferlegung von Geldleistungspflichten die Eigentumsgarantie in der Regel unberührt und sei allein an dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.824 Eine andere Beurteilung 818
Axer, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 14 Rn. 69; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 294; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, § 51 Rn. 31; Peine, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, § 57 Rn. 29 ff.; Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Rn. 60; siehe hierzu insbesondere: BVerfGE 105, 279 (300). 819 BVerfGE 52, 1 (27); 58, 300 (330 f.); 72, 66 (76); 100, 226 (239 f.); 102, 1 (15 f.); 115, 97 (111 f.). 820 BVerfGE 56, 249 (270 ff.); 70, 191 (199 f.); 72, 66 (76); 101, 239 (259); 102, 1 (15 f.); 104, 1 (9 f.); 112, 93 (109); 114, 1 (59); 115, 97 (112). 821 BVerfGE 24, 367 (395 f.); 45, 297 (325 f.); 52, 1 (27); 58, 300 (330 f.); 100, 226 (239 f.); 102, 1 (15). 822 BVerfGE 58, 300 (330 f.); 100, 226 (239 f.); 102, 1 (15). 823 BVerfGE 65, 196 (209); 72, 175 (179); 78, 232 (243); 91, 207 (220); 95, 267 (300). 824 BVerfGE 4, 7 (17); 6, 290 (298); 8, 274 (330); 10, 89 (116); 10, 354 (371); 11, 105 (126); 14, 221 (241); 18, 441 (452); 19, 119 (128 f.); 23, 288 (314 f.); 26, 327 (338); 27, 111 (131); 28, 119
222
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
gelte nur für solche Fälle, in denen Geldleistungspflichten den Betroffenen übermäßig belasten und dessen Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen, also eine „erdrosselnde“ Wirkung entfalten.825 Der zweite Senat wies zunächst darauf hin, dass Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit „gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und beruflichen Bereich“ eingreifen würden, ohne dies jedoch näher zu spezifizieren.826 Schließlich führte er im Beschluss zur Frage der Geltung des sogenannten Halbteilungsgrundsatzes aus, dass bei der Anknüpfung von Geldleistungspflichten an den Erwerb vermögenswerter Rechtspositionen der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG berührt sei, sodass wiederum Einkommenund Gewerbesteuer, bei denen der tatbestandliche Anknüpfungspunkt für die belastende Rechtsfolge der Hinzuerwerb von Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG sei, in die Eigentumsgarantie eingreifen würden.827 Durch die „generell-abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber“ handele sich dabei nicht um eine Enteignung, sondern um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung.828 Art. 14 Abs. 1 GG schütze zwar nicht den Erwerb, jedoch den „Bestand des Hinzuerworbenen“.829 Ob darüber hinaus das „Vermögen als Ganzes“ von dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst sein soll, also Abgaben generell einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG darstellen, wurde dagegen bewusst offengelassen.830 bb) Stand der Literatur Die Mehrzahl der Stimmen in der Literatur sahen das Vermögen als solches bislang nicht als vom Gewährleistungsumfang des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst an.831 (142); 29, 402 (413); 30, 250 (271 f.); 38, 61 (102); 63, 312 (327); 75, 108 (154); 78, 249 (277); 81, 108 (122); 91, 207 (220); 95, 267 (300); 96, 375 (397); 105, 17 (32); 115, 97 (112 f.). 825 BVerfGE 14, 221 (241); 19, 119 (128 f.); 23, 288 (315); 30, 250 (271 f.); 38, 61 (102); 63, 312 (327); 70, 219 (230); 76, 130 (141); 78, 232 (243); 82, 159 (190); 95, 267 (300). 826 BVerfGE 87, 153 (169), mit Anm. Starck, JZ 1993, 311; 93, 121 (137 ff.). 827 BVerfGE 115, 97 (112 f.). 828 BVerfGE 115, 97 (112); siehe hierzu auch: Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1170) mit Verweis auf: BVerfGE 58, 137 (144 f.); dagegen für eine Qualifizierung von Steuern als Enteignung: Forsthoff, in: VVDStRL 12 (1954), S. 8 (32). 829 BVerfGE 115, 97 (112). 830 BVerfGE 115, 97 (112). 831 Bryde, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 14 Rn. 23; Depenheuer, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 14 Rn. 160; Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 Rn. 38; Papier / Shirvani, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 14 Rn. 277; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 14 Rn. 53; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 1039; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 14 Rn. 5; Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 113 S. 2200 ff.; Dederer, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 14 Rn. 166 ff.; a. A.: Sieckmann, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, Art. 14 Rn. 53.
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
223
Der Eigentumsgarantie wurde daher lange Zeit in Bezug auf Geldleistungspflichten keine Bedeutung zugeschrieben.832 Entsprechend dem Wandel der Verfassungsrechtsprechung lässt sich jedoch auch hier eine Tendenz dahingehend beobachten, Steuern als Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie zu verstehen.833 Es wird unter anderem angeführt, dass es wenig überzeugend sei, die Steuerbelastung erst ab einer bestimmten Intensität (also im Falle der Erdrosselungswirkung) in eine Eigentumsverletzung umschlagen zu lassen.834 Der Steuerpflichtige müsse zur Begleichung der Steuerschuld unzweifelhaft eigentumsrechtlich geschützte Geldmittel hingeben.835 Wenn eine Steuer an Bestand, Verwendung oder Verfügung des Eigentums anknüpfe und in ihrer Intensität einem klassischen Eingriff gleichkomme, so sei eine Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie anzunehmen.836 Für eine Eröffnung des Schutzbereichs nicht nur für konkrete Vermögenspositionen, sondern auch für derartige „wirtschaftliche Handlungsspielräume“837 spräche zudem, dass die Eigentumsgarantie auch den Zweck verfolge, Anreize zur Erwirtschaftung von Werten zu fördern, sodass gegenläufige Maßnahmen des Gesetzgebers am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 GG zu messen seien.838 Da die Tätigkeit des Erwerbs von Eigentumspositionen gerade nicht von Art. 14 Abs. 1 GG, sondern vielmehr von Art. 12 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 2 Abs. 1 GG erfasst ist,839 kann eine Beeinträchtigung der Eigentumsgarantie durch Geldleistungspflichten nur dadurch begründet werden, dass entsprechend der Auffassung des zweiten Senats an den „Bestand des Hinzuerworbenen“ angeknüpft 832
Hettlage, in: VVDStRL 14 (1956), S. 2 (4 f.); Forsthoff, in: VVDStRL 12 (1954), S. 8 (32); Hösch, Eigentum und Freiheit, S. 142 f. 833 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 190; Papier / Shirvani, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 14 Rn. 282 f.; Kirchhof, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, § 59 Rn. 50; Michael / Morlok, Grundrechte, Rn. 386; Starck, AöR 92 (1967), 449 (462); Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (21 ff.); Leisner, in: Kirchhof / Leisner, Bodengewinnbesteuerung, S. 180 f.; Wendt, NJW 1980, 2111 (2113 f.); Kirchhof, in: VVDStRL 39 (1981), S. 214 (227 ff.); kritisch: Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1170 ff.); eine ausführliche Darstellung des Meinungsstandes in der Literatur findet sich bei: Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, S. 365 ff. m. w. N. 834 Herzog, in: Der Präsident des Bundesfinanzhofs, 75 Jahre Reichsfinanzhof – Bundes finanzhof, Festschrift, S. 105 (110); Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (22); Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 98. 835 Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 190. 836 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 14 Rn. 29; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, S. 85; Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1172); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 190 (bezieht zusätzlich den „Erwerb“ mit ein). 837 Hierzu: Kirchhof, in: VVDStRL 39 (1981), S. 213 (233 ff.). 838 Michael / Morlok, Grundrechte, Rn. 386. 839 BVerfGE 31, 8 (32); 65, 237 (248); 77, 84 (117); 81, 70 (96); 82, 209 (234); 84, 133 (157); 85, 360 (383); 88, 366 (377); Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1170); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 14 Rn. 17; Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 Rn. 43; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 14 Rn. 61; kritisch: Vogel, in: Geis / Lorenz, Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, S. 297 (301 ff.).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
wird. Durch diese – auch als „Anknüpfungstheorie“ bezeichnete – Vorgehensweise soll der Objektbezug dadurch gewahrt bleiben, dass es darauf ankommt, an welches Gut die Last anknüpft und nicht, aus welchem sie zu tragen ist.840 Dies wird wiederum auf der anderen Seite als „nicht konsistent“ kritisiert, da auch Einkommen- und Gewerbesteuer unzweifelhaft aus dem Vermögen zu begleichen seien, sodass konsequenterweise deren Belastungswirkungen nur dann in Art. 14 Abs. 1 GG eingreifen könnten, wenn das Vermögen als Ganzes dem Schutz der Eigentumsgarantie unterfällt.841 cc) Würdigung der Auffassungen Konnte in der Vergangenheit die Anwendbarkeit des Art. 14 Abs. 1 GG auf die Belastungswirkungen von Steuern mit Verweis auf den ersten Senat des BVerfG abgelehnt werden, so ist dies aufgrund der Rechtsprechung des zweiten Senats nicht mehr ohne Weiteres möglich. Ob damit nun ein Wandel hin zu einer Erstreckung der Eigentumsgarantie auf das Vermögen als solches verbunden ist, bleibt allerdings unbeantwortet und hat zu kontroversen Diskussionen in der Literatur geführt. Das Argument, dass Einkommen- sowie Gewerbesteuer aufgrund ihres Anknüpfens an den „Bestand des Hinzuerworbenen“ als Eingriffe in Art. 14 Abs. 1 GG zu qualifizieren seien, wirkt vor dem Hintergrund, dass die Steuerlast schließlich das Vermögen des Betroffenen beeinträchtigt, konstruiert. Eine generelle Erstreckung der Eigentumsgarantie auf das Vermögen als Ganzes würde wiederum zu einer Ausuferung des Anwendungsbereichs führen. Da Gegenstand der vorliegenden Analyse die Einkommensbesteuerung ist, muss hier auf die Frage eines grundsätzlichen Schutzes vor öffentlich-rechtlichen Geldleistungspflichten nicht weiter eingegangen werden, da das BVerfG zumindest hinsichtlich der Einkommensteuer explizit die Anwendbarkeit bejaht hat, die damit als Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG in Gestalt einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums zu verstehen ist.
840 Leisner, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 173 Rn. 205 f. 841 Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1170 ff.), der zwischen „Belastungswirkungen“ und „Gestaltungswirkungen“ unterscheidet; ähnlich: Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 98.
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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c) Relevanz der Eigentumsgarantie für Umverteilungsnormen Aufgrund der Qualifizierung der im Raum stehenden Regelungen als Umverteilungsnormen842 stellt sich darüber hinaus die Frage, ob Gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung allein der Umverteilungszweck ist, oder ob auch der – im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG relevante – Fiskalzweck einer Überprüfung unterliegen soll. aa) Beurteilung bei Lenkungszwecken Diese Thematik wurde bereits im Hinblick auf Lenkungssteuern diskutiert. Der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich insofern keine eindeutige Linie entnehmen.843 Nach überwiegender Ansicht in der Literatur bedarf ein Steuergesetz, sofern es zusätzlich Gestaltungswirkungen auslöst, einer doppelten Rechtfertigung sowohl des Fiskal- als auch des Lenkungszwecks.844 Dies bedeutet, dass zum einen der Fiskalzweck auf seine Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie Angemessenheit zu überprüfen ist, was grundsätzlich zu bejahen ist, wenn die Steuer nicht erdrosselnd wirkt und zugleich ein Mehraufkommen erzielt wird.845 Darüber hinaus ist der Lenkungszweck auf seine Verhältnismäßigkeit zu überprüfen.846 Für dessen verfassungsrechtliche Überprüfung soll – anders als beim Fiskalzweck – insbesondere der Gleichheitssatz und nicht Art. 14 Abs. 1 GG maßgeblich sein.847 Wenn eine Lenkungsnorm keinerlei Verhaltensänderungen bewirkt, so bedarf die beabsichtigte, aber ausgebliebene, Gestaltungswirkung keiner Rechtfertigung.848 842
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (d) (bb). Ausführliche Darstellung der diesbezüglichen Rechtsprechung des BVerfG: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 387 ff. 844 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 386 ff.; Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1173 f.); Bryde, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 14 Rn. 65 („Steuer- und Abgabenrecht“); Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 100; Friauf, DStJG 21 (1998), 85 (87 f.); Herzog, in: Der Präsident des Bundesfinanzhofs, 75 Jahre Reichsfinanzhof – Bundesfinanzhof, Festschrift, S. 105 (112); Jachmann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, Art. 105 Rn. 31; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, S. 86 (Fn. 32), S. 88 (Fn. 46, 89); Kirchhof, in: Wendt / Höfling / Karpen / Oldiges, Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, S. 669 (680); Selmer / Brodersen, DVBl. 2000, 1153 (1165). 845 BVerfGE 16, 147 (161 f.); 38, 61 (79 ff.); siehe hierzu auch die Ausführungen bei: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 383 ff. 846 BVerfGE 16, 147 (172 ff.); 38, 61 (85 ff.). 847 Bryde, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 14 Rn. 65 („Steuerund Abgabenrecht“). 848 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 390 f.; Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. I, § 3 AO Rn. 105. 843
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
bb) Folgerung für die Verhältnismäßigkeit bei Umverteilungsnormen Es stellt sich die Frage, inwiefern sich diese Grundsätze auf Umverteilungs normen im Bereich des Steuerrechts übertragen lassen. Wie bei Lenkungsnormen lassen sich auch bei Umverteilungsnormen Gestaltungswirkungen (hier in Gestalt einer unterschiedlichen Ressourcenzuteilung) sowie Belastungswirkungen unterscheiden.849 Da ihre Umverteilungswirkung zwangsläufig eintritt und nicht zusätzlich vom Verhalten der Steuerpflichtigen abhängt,850 bedarf es bei der Einführung von Umverteilungsnormen regelmäßig einer Rechtfertigung auch der Umverteilungswirkung. Von Interesse ist im vorliegenden Kontext die Frage, ob bei der nachträglichen Einfügung von Umverteilungsnormen in eine bereits bestehende Besteuerung im Rahmen der Rechtfertigung neben der Umverteilungswirkung auch der Fiskalwir kung Bedeutung zukommt. So könnte man anführen, dass hier die bereits existente Fiskalwirkung keinen Änderungen unterliegt, sondern sie lediglich durch eine umverteilende Ausgestaltung modifiziert wird. Damit soll allein die (gestaltende) Umverteilungswirkung einer gleichheitsrechtlichen Prüfung unterzogen werden, sodass der Eigentumsgarantie in einem solchen Fall keine weitere Relevanz zukommt. Allerdings hat die Einfügung von Umverteilungsnormen zur Folge, dass die damit einhergehende Entlastung einer Gruppe zwangsläufig zur stärkeren Belastung einer anderen Gruppe führt. Die umverteilende Wirkung einer Steuernorm bringt somit für einen Teil der Steuerpflichtigen eine zusätzliche Belastungswirkung mit sich. Wenn in eine bereits existente Steuer nachträglich eine Umverteilungsnorm eingefügt wird, so ist nicht nur die umverteilende Gestaltungswirkung einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen. Auch die für manche Steuerpflichtige zusätzlich entstehende belastende Fiskalwirkung ist auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen, sodass in diesem Zusammenhang auch Art. 14 Abs. 1 GG maßgebliche Bedeutung zukommt. d) Eingriff im konkreten Fall Die Einkommensteuer soll im vorliegenden Fall dahingehend modifiziert werden, dass bei gleichbleibendem Steueraufkommen zusätzlich anhand exogener Merkmale umverteilt wird. Dies hat zur Folge, dass Personen, die überwiegend „starke“ exogene Charakteristika aufweisen, steuerlich stärker belastet werden als
849
Für die Verhältnismäßigkeit sind bei präziser Betrachtung die Wirkungen und nicht die Zwecke maßgeblich, siehe hierzu: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 390. 850 Zu den diesbezüglichen Unterschieden siehe bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (a) (bb).
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zuvor. Es gilt zu prüfen, ob in dieser zusätzlichen Belastung ebenfalls ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG gesehen werden kann. Bei der Einkommensteuer selbst wird zwar ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG bejaht, jedoch weicht die Besteuerung exogener Merkmale gerade von der des zu versteuernden Einkommen ab. Es stellt sich damit die Frage, ob die inzwischen anerkannte Eingriffsqualität der Einkommensteuer in die Eigentumsgewährleistung auch für die Fälle gilt, in denen sich eine zusätzliche Steuerbelastung aufgrund von außerhalb der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit liegenden Umständen ergibt. Eine Beeinträchtigung der Eigentumsfreiheit wurde vom zweiten Senat des BVerfG dann bejaht, wenn das Einkommensteuergesetz tatbestandlich an das Innehaben von konkreten Eigentumspositionen, wie zum Beispiel an zivilrechtliche Lohnansprüche, anknüpft, und so den privaten Nutzen dieser erworbenen Rechtspositionen zugunsten der Allgemeinheit mindert.851 Entscheidend ist somit, auf welche Position eine Steuer zugreift und gerade nicht, welche Kriterien für ihre Höhe maßgeblich sind. Wenn ein Steuerpflichtiger aufgrund seiner „starken“ Charakteristika im Ergebnis eine höhere Einkommensteuer zahlen muss als zuvor, so wird dieser „Mehrbetrag“ ebenfalls von seinem erzielten Einkommen – und damit von seinem „Hinzuerworbenen“ – abgezogen. Damit wird sein privater Nutzen an dieser Rechtsposition gemindert, sodass nach der Rechtsprechung auch für diesen Fall ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit vorliegt. In der zusätzlichen Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an exogene Merkmale liegt damit ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG in Gestalt einer Inhalts- und Schrankenbestimmung. 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Im Weiteren ist zu prüfen, ob der Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. a) Verhältnismäßigkeitsprüfung bei steuerlichen Belastungswirkungen Die materielle Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen ist insbesondere nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beurteilen.852 Steuern sind zur Einnahmeerzielung zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs regelmäßig geeignet sowie erforderlich.853 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird 851
BVerfGE 115, 97 (111 f.). Siehe hierzu: Michael / Morlok, Grundrechte, Rn. 605 ff. 853 BVerfGE 115, 97 (115); Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 189; Papier, DVBl. 1980, 787 (793); Papier, Gesetzesvorbehalte, S. 78 f.; Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1173). 852
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
daher oftmals als „stumpfes Schwert“ gegen die Belastungswirkungen von Steuern angesehen.854 Jenseits „erdrosselnder“ Belastungen können sich allenfalls aus einer Angemessenheitsprüfung Obergrenzen für Steuerbelastungen ergeben.855 Allerdings steht man vor der Herausforderung, dass nicht klar abgrenzbar ist, ab wann eine steuerliche Belastung als unangemessen zu beurteilen ist. Das BVerfG stellte jedenfalls fest, dass sich aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 GG „keine allgemeinverbindliche, absolute Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung“ ableiten lasse und dass, wenngleich dem Übermaßverbot keine konkrete Obergrenze der Besteuerung entnommen werden kann, die steuerliche Belastung nicht so weit gehen dürfe, dass es zu einer grundlegenden Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Erfolgs komme.856 Unter Heranziehung dieser Maßstäbe ist demnach im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit einer Steuer im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG zu prüfen. b) Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im konkreten Fall Ein umverteilender Zweck von Steuernormen ist als legitim anzusehen.857 Vorliegend geht es jedoch um die Rechtfertigung der daraus entstehenden zusätzlichen Belastung. Diese erfolgt deshalb, um bei hinzutretender Umverteilung ein gleichbleibendes Steueraufkommen zu gewährleisten. Der Zweck der Einnahmeerzielung stellt, nicht zuletzt aufgrund der Existenz der Art. 105 ff. GG, ebenfalls ein legitimes Ziel dar. Die Geeignetheit sowie Erforderlichkeit sind ebenfalls zu bejahen, sodass sich die Frage nach der Angemessenheit stellt. Da die Einkommensteuermodelle erst im Anschluss entwickelt werden, lassen sich an dieser Stelle lediglich verfassungsrechtliche Vorgaben für die Höhe der steuerlichen Zusatzbelastung treffen. Prinzipiell steht die Eigentumsgarantie einer zusätzlichen Besteuerung exogener Merkmale nicht entgegen. Eine andere Beurteilung ergibt sich nur dann, wenn es zu einer übermäßig hohen Belastung von Steuerpflichtigen kommt. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Einkommensteuerrechts lässt auch für hohe Einkommen keine übermäßige Steuerbelastung und damit keine Verletzung der Eigentumsgarantie erkennen.858 Es erscheint sinnvoll, diese Maßstäbe auf die Steuermodelle zu übertragen. Nach dem aktuellen 854 Wernsmann, NJW 2006, 1169 (1173); ähnlich: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 189; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 78 f.; Papier, Der Staat 11 (1972), 483 (485); Papier, DVBl. 1980, S. 787 (788); Isensee, in: Stödter / T hieme, Hamburg, Deutschland, Europa, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum siebzigsten Geburtstag, S. 409 (434); Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 286; Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, S. 137 f.; von Arnim, in: VVDStRL 39 (1981), S. 286 (312); ebenfalls kritisch: Wendt, NJW 1980, 2111 (2117). 855 BVerfGE 115, 97 (112). 856 BVerfGE 115, 97 (114, 117). 857 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (a) (bb). 858 BVerfGE 115, 97 (117).
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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Steuerrecht tragen diejenigen Personen mit dem höchsten zu versteuernden Einkommen auch die größte Steuerlast. Bei den „Flat Tax“- beziehungsweise den „Progressionsmodellen“ sind neben Höhe des zu versteuernden Einkommens auch bestimmte exogene Charakteristika maßgeblich für die Höhe der Einkommensteuer. Die Grundfreibeträge beziehungsweise die Steuertarife sind für die Besteuerung exogener Merkmale so anzupassen, dass auf steuerpflichtige Personen, bei denen nur „starke“ Charakteristika vorliegen, kein wesentlich höherer Grenzsteuersatz Anwendung findet als auf die Höchstverdiener aktuell. So kann durch Anlegen einer Grenze für den Grenzsteuersatz bei etwa 45 % verhindert werden, dass die angemessene Höchstgrenze überschritten wird. 3. Zwischenfazit Die Anknüpfung der Einkommensteuer an exogene Charakteristika ist grundsätzlich mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar. Sie stellt nur dann eine Verletzung der Eigentumsgarantie dar, wenn sie dazu führt, dass manche Personengruppen eine unangemessen hohe Steuerlast zu tragen haben. Mangels konkreter Vorgaben für eine verfassungsrechtliche Höchstgrenze der einkommensteuerlichen Belastung soll hierfür eine Orientierung an den Maßstäben des geltenden Einkommensteuerrechts erfolgen. Dies bedeutet, dass der Durchschnittssteuersatz bei keinem Steuerpflichtigen über circa 45 % hinausgehen darf.
III. Vereinbarkeit mit Art. 12 GG Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit der Steuermodelle mit Art. 12 GG. 1. Beeinträchtigung der Berufsfreiheit Zunächst könnten die geplanten Steuernormen einen Eingriff in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG darstellen. a) Grundsätzliches Art. 12 Abs. 1 GG wird als einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit in dem Sinne verstanden, dass sowohl die Berufswahl als auch die Berufsausübung seinem Schutzumfang sowie dem Regelungsvorbehalt nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen.859 Während die Berufswahl den Beginn der Berufsausübung markiert, 859
BVerfGE 7, 377 (401 f.); 33, 303 (329 f.); 92, 140 (151); 103, 172 (183).
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bestätigt die Berufsausübung kontinuierlich die vorangegangene Berufswahl.860 Von der Berufsfreiheit ebenfalls umfasst ist die freie Wahl des Arbeitsplatzes861 sowie die Freiheit der berufsbezogenen Ausbildung.862 „Beruf“ im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG ist „jede auf eine gewisse Dauer angelegte Tätigkeit, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient“.863 Darüber hinaus ist umstritten, ob die Tätigkeit zusätzlich erlaubt sein muss864 oder stattdessen nicht sozial- oder gemeinschaftsschädlich sein darf.865 Art. 12 Abs. 1 GG schützt nur vor solchen Maßnahmen, die entweder einen unmittelbaren Bezug zur Berufstätigkeit aufweisen oder eine „objektiv berufs regelnde Tendenz“ haben.866 Die Art des Eingriffs in die Berufsfreiheit und damit die Frage, ob die Berufsausübung oder die Berufswahl (objektiv oder subjektiv) geregelt wird, ist nach der sogenannten „Dreistufentheorie“ maßgeblich für die Anforderungen an seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung.867
860
Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 14. BVerfGE 85, 360 (372 f.); 92, 140 (151); 97, 169 (175); 108, 150 (165). 862 BVerfGE 33, 303 (329); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 93; Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 91; Ruffert, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 12 Rn. 45 f.; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 64; für eine Beschränkung auf die Wahl der Ausbildungsstätte: Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 60 ff. 863 BVerfGE 102, 197 (212); 105, 252 (265); 110, 304 (321); 111, 10 (28); 115, 276 (300); 119, 59 (78). 864 BVerfGE 7, 377 (397); 32, 311 (317); 48, 376 (388); 68, 272 (281); 81, 70 (85); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12 Rn. 27; Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 937. 865 BVerfGE 115, 276 (300 f.); 117, 126 (137); BVerwGE 22, 286 (289); 96, 293 (297); Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, § 51 Rn. 15, § 70 Rn. 30; Bachof, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 155 (190 f.); für eine Ablehnung der Schutzbereichseröffnung allein bei solchen Tätigkeiten, die evident dem Menschenbild der Verfassung widersprechen: Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 53 f.; Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 42; Ruffert, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 12 Rn. 42; grundsätzlich kritisch hinsichtlich eines zusätzlichen Schutzbereichserfordernisses: Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 111 S. 1791 ff.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 8; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 43; Kämmerer, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 17. 866 BVerfGE 13, 181 (186); 16, 147 (162); 22, 380 (384); 52, 42 (54); 70, 191 (214); 95, 267 (302); 97, 228 (254); 98, 218 (258); st. Rspr. 867 BVerfGE 7, 377 (402); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 33 ff.; Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 125 ff.; Breuer, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VIII, § 171 Rn. 17; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 92 ff.; Kämmerer, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 59 ff.; Winkler, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 92 ff. 861
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b) Steuerliche Regelungen als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG Es besteht Uneinigkeit bezüglich der Frage, ob Steuervorschriften als Eingriff in die Berufsfreiheit zu werten sind. aa) Rechtsprechung des BVerfG Ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG kann auch durch solche Vorschriften erfolgen, die zwar keinen unmittelbaren Bezug zu einem Beruf aufweisen, jedoch infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Berufsfreiheit mittelbar zu beeinträchtigen geeignet sind.868 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG greift die Erhebung von Steuern und Abgaben dann in die Berufsfreiheit ein, „wenn sie in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes steht und eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lässt“.869 Eine solche enge Verbindung mit der beruflichen Betätigung und damit ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG wurde beispielsweise bei der Schankerlaubnissteuer mit der Begründung bejaht, dass diese die Berufszulassung als Beginn der Berufsausübung – hier den Betrieb einer Gast- oder Schankwirtschaft – mit wirtschaftlichen Nachteilen belege.870 Bei der Sonderbesteuerung des Werkfernverkehrs wurde eine Berufsausübungsregelung angenommen, da zwar kein einzelner Beruf, jedoch das Betreiben des Werkfernverkehrs als „ein den verschiedensten Berufen – der Urproduktion, der Weiterverarbeitung jeder Art, des Groß- und Einzelhandels – gemeinsamer Teil der Berufstätigkeit“ geregelt werde.871 Eine berufsregelnde Tendenz wurde zudem bei Abfallabgaben durch ihre Belastung der „erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit der Güterproduktion in der Nebenwirkung der Abfallerzeugung“ bejaht.872 Eine spezielle Abgabepflicht für Notare sei ebenfalls als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG zu qualifizieren, da sie an das im Beruf des Notars erwirtschaftete Gebührenaufkommen anknüpfe und gestaltend auf deren Berufsausübung Einfluss nehme.873 Zur Forstabsatzfondsabgabe wurde entschieden, dass diese tatbestandlich unmittelbar Bezug auf die Tätigkeit von Betrieben der Forstwirtschaft, die inländisches Rohholz handeln, be- oder verarbeiten, nehme.874 Die Vergnügungssteuer wurde ebenfalls – wenngleich auch ohne nähere Begründung – als Berufsausübungsregelung qualifiziert.875 868
BVerfGE 13, 181 (186). BVerfGE 13, 181 (186); 14, 76 (100); 16, 147 (162); 26, 1 (12); 37, 1 (17); 38, 61 (79); 42, 374 (384 ff.); 47, 1 (21); 75, 108 (153 f.); 81, 108 (121); 98, 83 (97); 98, 106 (117); 110, 274 (288); BVerfGE 111, 191 (214); 113, 128 (145); 123, 132 (139); 126, 268 (284). 870 BVerfGE 13, 181 (186). 871 BVerfGE 16, 147 (162); 38, 61 (85). 872 BVerfGE 98, 83 (97); ebenfalls für die Abfallausfuhrabgabe bejahend: BVerfGE 113, 128 (145). 873 BVerfGE 111, 191 (214). 874 BVerfGE 123, 132 (139). 875 BVerfGE 31, 8 (26 f.); noch zweifelnd: BVerfGE 14, 19 (22); 14, 76 (100 f.). 869
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Eine durch eine Abgabe verursachte Belastung ist dann an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, wenn ihre Verwendung erheblich auf die Berufsausübung zurückwirkt.876 Die Berufswahl ist nur dann betroffen, wenn eine Steuer es aufgrund ihrer Gestaltung und Höhe nach den Berufsbewerbern grundsätzlich unmöglich macht, den jeweiligen Beruf zur Grundlage ihrer Lebensführung zu machen („Erdrosselungssteuer“ beziehungsweise „Erdrosselungsabgabe“).877 In den Fällen, in denen ein Steuergesetz allgemein gilt, also einen unspezifischen Personenkreis trifft und an generelle Kriterien wie Gewinn, Ertrag, Umsatz oder Vermögen anknüpft, wird dagegen ein Eingriff verneint.878 Dies soll auch für das Einkommensteuergesetz gelten, das „undifferenziert unter anderem Einkünfte aus erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit und sonstige Einkünfte“ erfasst.879 bb) Meinungsstand in der Literatur Der früher in der Literatur vertretene Ansatz, dass steuerliche Regelungen grundsätzlich keinen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellen,880 gilt inzwischen als überholt.881 Entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG ist vielmehr auf die Wirkung einer Regelung abzustellen, sodass Steuernormen, die unmittelbar (Lenkungs normen) oder mittelbar nicht nur unerheblich auf die berufliche Betätigung einwirken, als Eingriff in die Berufsfreiheit zu qualifizieren sind.882 Inwiefern bei allgemeinen Steuervorschriften, wie bei der Einkommen- und Umsatzsteuergesetzgebung, darüber hinaus ein Eingriff in die Berufsfreiheit angenommen werden kann, ist umstritten. Ein Teil der Literatur folgt der Rechtsprechung des BVerfG und verneint bei allgemeinen Steuergesetzen die berufsregelnde Tendenz und damit auch einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG.883 876
BVerfGE 111, 191 (214). BVerfGE 13, 181 (186 f.); 14, 76 (101); 16, 147 (163 ff.); 29, 327 (333 f.); 31, 8 (29); 38, 61 (81 ff.). 878 BVerfGE 47, 1 (21). 879 BVerfGE 47, 1 (21). 880 So beispielsweise: Bachof, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 155 (196 f.). 881 Hohmann, DÖV 2000, 406 (409). 882 Ausführlich hierzu: Hohmann, DÖV 2000, 406 (409 ff.); ebenso: Scholz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 12 Rn. 428 f.; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 71; Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 94; siehe aber wiederum: Papier, Der Staat 11 (1972), 483 (494) und Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 78, die für einen Eingriff allein die Anknüpfung an eine berufliche Tätigkeit voraussetzen. 883 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 16; Kämmerer, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 48. 877
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Daneben gibt es eine Vielzahl an Stimmen, die diese Wertung für die Einkommensbesteuerung als zu restriktiv ansehen und dieser berufsrechtliche Relevanz zuschreiben.884 Der Einkommensbesteuerung fehle ohne die Berufstätigkeit das Substrat.885 Das Einkommen aus selbständiger sowie unselbständiger Arbeit sei gerade unmittelbarer Bestandteil der beruflichen Betätigung, weshalb eine Gesetzgebung, die diesen Bereich besteuere, auch die Berufsfreiheit berühre.886 Art. 12 Abs. 1 GG schütze neben Wahl und Ausübung einer beruflichen Tätigkeit auch deren ökonomischen Erfolg, sodass Steuern, die sich auf das Ergebnis der Erwerbstätigkeit auswirken, als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG zu werten seien.887 Dieser wirtschaftliche Hintergrund werde vom BVerfG zu Unrecht ausgeblendet, wenn es den Schutz der Berufsfreiheit allein auf fachbezogene Tätigkeiten erstrecke.888 Nach dieser Auffassung ist nicht erforderlich, dass eine Steuer eine bestimmte berufliche Tätigkeit betrifft, sondern es reicht bereits aus, wenn sie Auswirkungen auf die Berufstätigkeit generell hat. cc) Würdigung der Auffassungen Überzeugend erscheint, dass Lenkungssteuern sowie Lenkungsnormen einen Eingriff in den Beruf darstellen können, sofern sie sich unmittelbar auf ein konkretes Berufsfeld beziehen, vor dem Hintergrund, dass sie gestaltend Einfluss auf bestimmte Berufsbereiche nehmen. Einer differenzierenden Betrachtung bedürfen dagegen solche Steuern, die in erster Linie Fiskalzwecke verfolgen, jedoch einen mittelbaren Zusammenhang mit beruflicher Betätigung aufweisen. Wirken sich diese nicht nur unerheblich auf eine bestimmte Berufstätigkeit aus, so ist aufgrund dieses konkreten Bezugs ebenfalls von einer Beeinträchtigung der Berufsfreiheit auszugehen. Allgemeinen Steuern, die jede Berufsgruppe treffen und damit nicht in Zusammenhang mit einem bestimmten Beruf stehen, soll dagegen nach vorliegend vertretener Auffassung entgegen den wohl überwiegenden Stimmen in der Literatur keine Eingriffsqualität in Art. 12 Abs. 1 GG zugestanden werden. So geht es zu weit, bei der Einkommensteuer, deren Belastungswirkungen sich auf das Ergebnis jeglicher beruflichen Be 884 Scholz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 12 Rn. 426; Papier, in: Der Staat 11 (1972), 483 (495 ff.); Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25); Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 188; Sondervotum Simon, BVerfGE 47, 1 (38 f.); Wagner, Steuergleichheit unter Standortvorbehalt, S. 67; Kirchhof, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 118 Rn. 146 f.; Kirchhof, StuW 2002, 185 (194); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 432 ff. 885 Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25). 886 Scholz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 12 Rn. 426; Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25). 887 Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (25); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 434: Berufsfreiheit als „Freiheit zum Mittelerwerb“; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 3 Rn. 188. 888 Friauf, DStJG 12 (1989), 3 (26).
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
tätigung auswirken, einen ausreichend konkreten Berufsbezug anzunehmen, denn es besteht ohnehin kein Bedürfnis für eine derart weite Auslegung: Bei genauerer Betrachtung kommt Art. 12 Abs. 1 GG erst, wenn eine konkrete Berufsgruppe betroffen ist, im Steuerrecht eine eigenständige Bedeutung zu. So bewirken beispielsweise Lenkungsnormen eine Verhaltensänderung in bestimmten beruflichen Bereichen. Für Beeinflussungen der beruflichen Tätigkeit im Allgemeinen ist eine Kontrolle am Maßstab der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ausreichend. Knüpft eine Steuer gleichermaßen an alle beruflichen Tätigkeiten an, so besteht kein Raum für eine an Art. 12 GG orientierte Differenzierung, da eine konkrete am Berufsbild orientierte Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht möglich ist. Die allgemeine Lastengleichheit wird über Art. 3 Abs. 1 GG und die ausdifferenzierten Grundsätze des Leistungsfähigkeitsprinzips ohnehin ausreichend gewährleistet.889 Eine verfassungsrechtliche Kontrolle von erdrosselnden Steuern wird durch die Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 GG sichergestellt.890 Einen inhaltlichen Mehrwert für eine Zulässigkeitskontrolle gewinnt man im Steuerrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG nur, wenn die Regelungen – wie etwa bei bezweckten Lenkungswirkungen – an bestimmte Berufsgruppen anknüpfen. Demnach ist der Rechtsprechung des BVerfG zu folgen und ein darüber hinausgehender grundsätzlicher Eingriff der Einkommensbesteuerung in Art. 12 Abs. 1 GG abzulehnen. c) Eingriff im konkreten Fall Durch die geplanten Regelungen werden keine Lenkungszwecke, sondern Fiskalsowie Umverteilungszwecke verfolgt. Es stellt sich damit die Frage, ob sie sich mittelbar auf die Berufsfreiheit auswirken. Die Differenzierung erfolgt nach exogenen Merkmalen der Einkommensteuerpflichtigen, die in keinem Zusammenhang mit einer bestimmten beruflichen Tätigkeit stehen. Von daraus resultierenden eventuellen Zusatzbelastungen sind alle berufstätigen Personen und damit alle Berufsgruppen gleichermaßen betroffen. Damit fehlt es an einem konkreten Berufsbezug der Regelungen. d) Zwischenfazit Die Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht stellt damit keinen Eingriff in die Berufsfreiheit dar.
889 890
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. a). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 B. II. 1. b).
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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2. Arbeitszwang oder Zwangsarbeit Des Weiteren könnte es sich bei der Besteuerung exogener Merkmale um Arbeitszwang im Sinne des Art. 12 Abs. 2 GG beziehungsweise um Zwangsarbeit gemäß Art. 12 Abs. 3 GG handeln. a) Grundsätzliche Abgrenzungsschwierigkeiten Bislang hat sich noch keine klare Abgrenzung der Begriffe des Arbeitszwanges und der Zwangsarbeit durchgesetzt. Zum Teil wird angeführt, dass Arbeitszwang auf bestimmte Tätigkeiten beschränkt sei, während Zwangsarbeit zur Bereitstellung der gesamten Arbeitskraft für allgemeine und unbegrenzte Tätigkeiten verpflichte.891 Andere sehen den Unterschied darin begründet, dass Arbeitszwang zeitlich begrenzt sei, während Zwangsarbeit einen besonders schweren Unterfall von diesem darstelle.892 Wiede rum andere unterscheiden nach der Zweckrichtung und machen geltend, dass Zwangsarbeit einen bestrafenden oder pädagogischen Charakter aufweise, während Arbeitszwang der Erfüllung staatlicher Pflichten diene.893 Zum Teil wird für Zwangsarbeit vorausgesetzt, dass die Arbeit unter Bewachung oder dem Einsatz ähnlicher Kontrollinstrumente erfolgt.894 Des Weiteren ist umstritten, ob es sich bei Art. 12 Abs. 2 und 3 GG um ein einheitliches895 oder zwei voneinander zu trennende Grundrechte896 handelt. 891
Bachof, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 155 (256); Nolte, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 12 Rn. 44, 47, 54; Hofmann, in: SchmidtBleibtreu / Hofmann / Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12 Rn. 97; Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 295; a. A.: Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 105 S. 1060 f. 892 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 117. 893 Gusy, in: JuS 1989, 710 (712, 715); Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 68 f.; differenzierender: Scholz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 12 Rn. 503 f. 894 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 117; hierzu auch: Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 105 S. 1061 f. 895 BVerfGE 74, 102 (115 ff.); 83, 119 (125 ff.); Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 12 Rn. 113; Scholz, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 12 Rn. 490; Kämmerer, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 85; Umbach, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. I, Art. 12 Rn. 132; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, § 70 Rn. 3, 107 f. 896 Ruffert, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 12 Rn. 137 ff.; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 68; Manssen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 294; Gusy, JuS 1989, 710 (715); Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 179, 189; Nolte, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommen
236
Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
b) Arbeitszwang oder Zwangsarbeit durch steuerliche Zusatzbelastung Wenn die Einkommensbesteuerung zusätzlich an das Potenzial zum Einkommenserwerb anknüpft, müssen Personen mit „starken“ exogenen Merkmalen mehr Arbeitsaufwand als zuvor erbringen, um ihre ursprüngliche Einkommenshöhe beizubehalten. Derartige Verhaltenswirkungen sind auch von den Regelungen beabsichtigt, sodass man in ihnen einen Zwang zur Mehrarbeit im Sinne von Arbeitszwang oder Zwangsarbeit sehen könnte. Zwang bedeutet „jede staatliche Veranlassung zur Arbeitsaufnahme, die auf physischer oder psychischer Willensbeugung beruht.“.897 Umstritten ist, ob es sich bei dem sogenannten „mittelbaren Arbeitszwang“ um einen Fall von Art. 12 Abs. 2 GG handelt. Dem modernen Eingriffsbegriff folgend wird inzwischen überwiegend vertreten, dass nicht nur Maßnahmen, die final auf die Erzwingung von Arbeit gerichtet sind,898 sondern auch vorhersehbare Nebenfolgen als Arbeitszwang zu qualifizieren sind.899 Zum Teil wird noch zusätzlich danach differenziert, ob bei der betroffenen Person Raum für einen freien Willensentschluss verbleibt, sodass in der bloßen Auferlegung finanzieller Nachteile noch kein Zwang im Sinne des Art. 12 Abs. 2 und 3 GG gesehen werden kann.900 Mit der Besteuerung exogener Charakteristika sollen Personen dazu veranlasst werden, mehr Arbeitsleistung zu erbringen, sodass vorliegend sogar Finalität gegeben ist. Allerdings werden die Steuerpflichtigen nicht zwingend dazu verpflichtet, Arbeitstätigkeiten zu erbringen, sodass es an einer dahingehenden Willensbeugung bei dem Betroffenen fehlt. Selbst wenn man der Ansicht folgt, die bereits in der Androhung des Entzugs von Begünstigungen oder der Auferlegung finanzieller Nachteile bei Nichtarbeit einen Eingriff in Art. 12 Abs. 2 GG sieht,901 so besteht der Unterschied vorliegend darin, dass die betroffenen Personen nicht dazu veranlasst werden sollen, überhaupt zu arbeiten. Es wird vielmehr nur ein Anreiz zur Mehrarbeit geschaffen. Dass ein Steuerpflichtiger, wenn er mehr arbeiten würde, auch mehr verdienen könnte, reicht für die Bejahung des Arbeitszwanges nicht tar, Art. 12 Rn. 45; für eine Qualifizierung als Schrankenregelungen für bestimmte Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit: Kingreen / Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 996. 897 Nolte, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 12 Rn. 91. 898 Für ein solches Finalitätserfordernis: Göppel, Die Zulässigkeit von Arbeitszwang nach Art. 12 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes, S. 89. 899 Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 302; Mann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 12 Rn. 183; Sachs, in Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 105 S. 1030. 900 OVG Berlin, DÖV 1983, 516 (517); Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 105 S. 1030 f. mit Verweis auf: BVerfG, NStZ-RR 1999, 255; Kämmerer, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 12 Rn. 89; Gusy, JuS 1989, 710 (714); a. A.: Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 302. 901 BSGE 44, 71 (76); VG Hannover, Beschluss v. 25. 09. 1985 – 3 VG D 115/85, NVwZ 1986, 417 (418); Friehe, NVwZ 1983, 382 (387); Manssen, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, Art. 12 Rn. 302.
B. Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten
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aus, da zum einen der Bezug auf eine bestimmte Arbeit fehlt, und zudem sonst jede arbeitsanreizende steuerliche Belastung zwangsläufig als Arbeitszwang zu qualifizieren wäre.902 c) Zwischenfazit Daraus folgt, dass die Besteuerung exogener Merkmale nicht als Arbeitszwang oder Zwangsarbeit zu qualifizieren ist. 3. Zwischenfazit Die Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht ist demnach mit der Berufsfreiheit vereinbar.
IV. Vereinbarkeit mit Art. 2 Abs. 1 GG Im Weiteren könnten die geplanten Steuerregelungen Art. 2 Abs. 1 GG verletzen. 1. Grundsätzliches Wenngleich der Wortlaut von einem Schutz der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ spricht, schützt Art. 2 Abs. 1 GG nach nunmehr herrschender Ansicht als „allgemeine Handlungsfreiheit“ jede Form menschlichen Handelns, unabhängig davon, welches Gewicht diesem für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt.903 Aufgrund dieses weiten Schutzbereichs wird unter Art. 2 Abs. 1 GG ein subsidiäres „Auffanggrundrecht“ verstanden, das nur dann als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist, wenn nicht bereits der Schutzbereich eines spezielleren Freiheitsrechts beeinträchtigt ist.904 902
So wohl auch: Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, § 105 S. 1030 f. 903 Grundlegend: BVerfGE 6, 32 (36); seither st. Rspr.: BVerfGE 20, 150 (154 f.); 54, 143 (146); 55, 159 (165); 59, 275 (278); 63, 88 (108 f.); 65, 196 (210); 70, 1 (25); 74, 129 (151 f.); 75, 108 (154 f.); 80, 137 (152); 90, 145 (171); 91, 335 (338); 97, 332 (340 f.); Di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12; Kunig, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Rn. 12; Lang, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 2 Rn. 2 ff.; Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 2 Rn. 10, 42 ff., 52 ff.; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 26. 904 BVerfGE 6, 32 (37); 21, 227 (234); 67, 157 (171); 70, 1 (23); 77, 84 (118); Kunig, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Rn. 12; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 2 Rn. 3; Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 2 Rn. 10; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 2 Abs. 1 Rn. 22, Vorb. Rn. 97.
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Teil 2: Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten
Die Auffassung, dass bei der Auferlegung von Geldleistungspflichten grundsätzlich Art. 2 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist, gilt seit der Entscheidung des Zweiten Senats905 jedenfalls für Einkommen- und Gewerbesteuer als überholt.906 2. Subsidiarität im konkreten Fall Vorliegend bewirken die „Tagging“-Steuermodelle, dass manche Steuerpflichtigen stärker belastet werden als zuvor. In dieser Zusatzbelastung ist bereits ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG zu sehen.907 Dies bedeutet, dass bereits ein Eingriff in ein spezielleres Freiheitsrecht vorliegt, sodass für eine verfassungsrechtliche Prüfung der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG als subsidiäres Auffanggrundrecht kein Raum besteht. 3. Zwischenfazit Demnach ist im vorliegenden Fall eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG zu verneinen.
V. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Freiheitsrechten Festzuhalten ist, dass die geplanten Steuerregelungen, sofern sie keine übermäßige Belastung einzelner Steuerpflichtiger zur Folge haben, im Hinblick auf Freiheitsrechte als verfassungsrechtlich unproblematisch zu qualifizieren sind.
C. Ergebnis zur Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten Zur Vereinbarkeit mit nationalem Verfassungsrecht lässt sich abschließend folgern, dass die Besteuerung exogener Charakteristika zwar freiheitsrechtlich als unproblematisch zu beurteilen ist, ihr jedoch erhebliche gleichheitsrechtliche Bedenken entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund erscheint allein die Differenzierung anhand der Merkmale „Geschlecht“ sowie „Behinderung“ grundsätzlich als verfassungsrechtlich möglich, wobei anzumerken ist, dass dies keiner Prüfung der konkreten Ausgestaltung der beabsichtigten Steuernormen im Einzelfall entbehrt. 905
BVerfGE 115, 97 (112). Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 B. II. 1. b) aa). 907 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 B. II. 1. d). 906
Teil 3
Vereinbarkeit mit Europarecht Die geplanten einkommensteuerrechtlichen Vorschriften sind neben der Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit nationalem Verfassungsrecht zusätzlich auf ihre Europarechtskonformität hin zu überprüfen. Dabei erfolgt nach Darstellung der Bedeutung von Europarecht für die Einkommensbesteuerung eine Prüfung anhand der sekundärrechtlichen Regelungen sowie des Europäischen Primärrechts.
A. Zusammenhang zwischen Europarecht und Einkommensteuerrecht Vor Betrachtung der relevanten Regelungen gilt es zunächst, das Verhältnis von Unionsrecht zu nationalem Steuerrecht näher zu beleuchten.
I. Begrenzte Einzelermächtigung und Anwendungsvorrang In Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV ist der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung geregelt. Nach diesem wird die Union nur innerhalb der Grenzen der ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen (EUV und AEUV) übertragenen Zuständigkeiten tätig. Ihre Handlungsfreiheit wird durch diese Kompetenzverteilung beschränkt. Darüber hinaus verfügt die Europäische Union nicht über eine „Kompetenz-Kompetenz“, hat also nicht die Befugnis, neue Kompetenzen zu begründen.1 Es wird zwischen ausschließlicher und geteilter Zuständigkeit der Union im Sinne der Art. 2 bis 4 AEUV unterschieden. Diese Zuständigkeiten werden wiederum nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV unter Wahrung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ausgeübt. Gleichwohl kann Unionsrecht auch in solchen Bereichen Bedeutung entfalten, in denen die alleinige Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liegt.2 Dies kann durch
1 Streinz, Europarecht, Rn. 139; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 1 AEUV Rn. 18 ff. 2 EuGH, Urteil v. 24. 11. 1998 – C-274/96, Slg. 1998, I-7637 Rn. 17 – Bickel und Franz; Urteil v. 23. 11. 2000 – C-135/99, Slg. 2000, I-10409 Rn. 33 – Elsen; Urteil v. 02. 10. 2003 – C-148/02, Slg. 2003, I-11613 Rn. 25 – Garcia Avello; Urteil v. 12. 07. 2005 – C-403/03,
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
eine Abgrenzung des „Kompetenzbereichs“ von einem „Anwendungsbereich“ verdeutlicht werden: Während der Kompetenzbereich die Gesamtheit der der Union aufgrund der Verträge zugewiesenen Regelungsbefugnisse bezeichnet, bezieht sich der sogenannte Anwendungsbereich auf alle von der Union aktuell geregelten Fallgestaltungen, die entweder Folge primärrechtlicher Regelungen oder sekundärrechtlicher Rechtsetzung sein können.3 Unmittelbar anwendbare (primärrechtliche) Vertragsbestimmungen bedürfen keiner weiteren Umsetzung,4 weshalb sich dort nicht die Frage nach einer Abgrenzung der Kompetenzen stellt. Auch im Bereich des sekundären Unionsrechts kann der Fall eintreten, dass die Europäische Union auf Grundlage der ihr zugewiesenen Kompetenzen Rechtsakte erlässt, die sich auch auf andere – nicht von ihrer Zuständigkeit erfasste – Bereiche auswirkt. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für ein Rechtsgebiet schließt nicht aus, dass diesem Gebiet angehörende nationale Vorschriften in von Unionsrecht erfassten Situationen dieses Recht zu beachten haben.5 Im Verhältnis zu nationalem Recht genießt das Unionsrecht Anwendungsvorrang.6 Dies gilt sowohl für das Primär- als auch das Sekundärrecht.7 Anwendungsvorrang bedeutet nicht Geltungsvorrang, sodass im Falle einer Kollision des Unionsrechts mit nationalem Recht – sollte eine europarechtskonforme Auslegung nicht in Betracht kommen – das nationale Recht zwar unanwendbar, aber gleichwohl wirksam bleibt.8 Während der EuGH den Anwendungsvorrang mit den in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV (ehemals Art. 5 Abs. 2 EUV) enthaltenen Zielen sowie dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV (ehemals Art. 7 EWGV beziehungsweise Art. 12 EGV) begründet und durch die Verordnungsregelung in Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV (ehemals Art. 189 EGV) bestätigt sieht,9
Slg. 2005, I-6435 Rn. 19 – Schempp; Urteil v. 18. 12. 2007 – C-341/05, Slg. 2007, I-11767 Rn. 87 f. – Laval; Urteil v. 02. 03. 2010 – C-135/08, Slg. 2010, I-1449 Rn. 41 – Rottmann. 3 Bast, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 5 EUV Rn. 9a. 4 Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 13. 5 EuGH, Urteil v. 24. 11. 1998 – C-274/96, Slg. 1998, I-7637 Rn. 17 – Bickel und Franz; Slg. 1998, I-7637; Urteil v. 02. 10. 2003 – C-148/02, Slg. 2003, I-11613 Rn. 25 – Garcia Avello; Urteil v. 12. 07. 2005 – C-403/03, Slg. 2005, I-6435 Rn. 19 – Schempp; Urteil v. 02. 03. 2010 – C-135/08, Slg. I 2010, 1467 Rn. 41 – Rottmann. 6 Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 196 ff.; Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 1 ff.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 1 AEUV Rn. 16 ff.; Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 4 Rn. 4.18 ff.; erstmals: EuGH, Urteil v. 15. 07. 1964 – C-6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa / ENEL. 7 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 1 AEUV Rn. 20; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 769. 8 EuGH, Urteil v. 22. 10. 1998 – C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 Rn. 21 – IN.CO. GE.’90 Srl u. a.; Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 3 („Kollisionsregel“); Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rn. 67; Streinz, Europarecht, Rn. 225; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 774. 9 EuGH, Urteil v. 15. 07. 1964 – C-6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.) – Costa / ENEL.
A. Zusammenhang zwischen Europarecht und Einkommensteuerrecht
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leitet das BVerfG diesen aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (ehemals Art. 24 Abs. 1 GG) in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ab.10
II. Einfluss des Unionsrechts auf direkte Steuern Abgesehen von der Besteuerung des Einkommens ihrer Bediensteten11 steht der Europäischen Union kein Recht zur Einführung und Erhebung eigener Steuern zu; sie ist keine „Steuerrechtsunion“.12 Insbesondere für die direkten Steuern verbleibt die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten.13 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten, wenngleich ihnen die Gesetzgebungskompetenz für die direkten Steuern zusteht, ihre Befugnisse in diesem Bereich allerdings unter Wahrung des Unionsrechts ausüben.14 Die direkten Steuern werden durch sämtliches Primärrecht, hauptsächlich aber durch Grundfreiheiten sowie das europarechtliche Beihilfenregime unionsrechtlich begrenzt.15 Vorschriften speziell zum Steuerrecht stellen die Art. 110 bis Art. 113 AEUV dar. Obwohl die Kommission im Jahre 1976 eine umfassende Harmonisierung
10
BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (374 f.); 123, 267 (397): „Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung“. 11 Siehe hierzu: Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 260/68 des Rates v. 29. 02. 1968 zur Festlegung der Bestimmungen und des Verfahrens für die Erhebung der Steuer zugunsten der Europäischen Gemeinschaften, ABl. Nr. L 56/8. 12 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 113; Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 1 Rn. 1.1; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 756; Weber-Grellet, StuW 1995, 336 (336 f.); Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 22 Rn. 1; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 1 Rn. 4. 13 Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 1 Rn. 4; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S. 4 ff. 14 Urteil v. 14. 02. 1995 – C-279/93, Slg. 1995, I-225 Rn. 21 – Schumacker; Urteil v. 28. 04. 1998 – C-118/96, Slg. 1998, I-1897 Rn. 21 – Safir; Urteil v. 29. 11. 2001 – C-17/00, Slg. 2001, I-9445 Rn. 25 – De Coster; Urteil v. 12. 12. 2002 – C-385/00, Slg. 2002, I-11819 Rn. 75 – De Groot; Urteil v. 13. 11. 2003 – C-209/01, Slg. 2003, I-13389 Rn. 22 – Schilling und Fleck-Schilling; Urteil v. 04. 03. 2004 – C-334/02, Slg. 2004, I-2229 Rn. 21 – Kommission / Frankreich; Urteil v. 18. 01. 2007 – C-104/06, Slg. 2007, I-671 Rn. 12 – Kommission / Schweden; Urteil v. 17. 01. 2008 – C-152/05, Slg. 2008, I-39 Rn. 16 – Kommission / Deutschland; Urteil v. 20. 01. 2011 – C-155/09, Slg. 2011, I-65 Rn. 39 – Kommission / Griechenland; Urteil v. 16. 06. 2011 – C-10/10, Slg. 2011, I-5389 Rn. 23 – Kommission / Österreich; Urteil vom 01. 12. 2011 – C-250/08, Slg. 2011, I-12341 Rn. 33 – Kommission / Belgien; Urteil v. 01. 12. 2011 – C-253/09, Slg. 2011, I-12407 Rn. 42 – Kommission / Ungarn; Urteil v. 12. 07. 2012 – C-269/09, EWS 2012, 335 Rn. 47 – Kommission / Spanien; st. Rspr. 15 Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 113 AEUV Rn. 19; Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 22 Rn. 1.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
der direkten Steuern anstrebte,16 ist bislang lediglich die in Art. 113 AEUV geregelte Harmonisierung der indirekten Steuern relativ weit fortgeschritten.17 Die Vorschrift des Art. 114 AEUV ist aufgrund ihres Absatzes 2 nicht auf Steuern anwendbar, sodass bei direkten Steuern wie der Einkommensteuer allenfalls ein punktueller Rückgriff der EU auf die allgemeine Harmonisierungskompetenz aus Art. 115 AEUV erfolgt.18 Mangels der Möglichkeit zu einer Vollharmonisierung der direkten Steuern ist die Europäische Union in diesem Bereich auch fortan durch einen „Wettbewerb der Steuersysteme“ geprägt.19 Die verschiedenen Steuerrechte der Mitgliedstaaten stehen sich als gleichrangige, nicht vereinheitlichte Regelungswerke gegenüber.20
III. Zwischenfazit Es lässt sich festhalten, dass, obgleich im Bereich der direkten Steuern die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liegt, das Unionsrecht in Gestalt sowohl primärrechtlicher als auch sekundärrechtlicher Regelungen Einfluss auf direkte Steuern, und damit auch auf das nationale Einkommensteuerrecht, nehmen kann. Im Falle einer Kollision nationaler Steuervorschriften mit unionsrechtlichen Regelungen genießen Letztere Anwendungsvorrang.
B. Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht Nach Art. 288 AEUV erlässt die Europäische Union Rechtsakte in Gestalt von „Verordnungen, Richtlinien, Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen“. Wie sogleich gezeigt wird, existieren in Bezug auf Diskriminierungen diverse sekundärrechtliche Maßnahmen der Union, die es genauer zu betrachten gilt. Sodann ist zu prüfen, inwiefern diese für das nationale Einkommensteuerrecht von Relevanz sind.
16 Kommission, Programm für die Harmonisierung der direkten Steuern, abgedruckt in: Sonderbeilage zum EG-Bulletin 8/1967, S. 3 ff. 17 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 66. 18 Seiler, in Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 113 AEUV Rn. 52; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 68. 19 Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 1 Rn. 1.18. 20 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 756.
B. Vereinbarkeit mit sekundärem Unionsrecht
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I. Sekundärrecht auf dem Gebiet der Gleichbehandlung Gemäß Art. 8 AEUV wirkt die Union bei allen ihren Tätigkeiten auf die Beseitigung von Ungleichheiten sowie auf die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau hin. Diese „Querschnittsklausel“ verfolgt das Ziel, das Handeln der Union so zu beeinflussen, dass sich gesellschaftliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen ausgleichen.21 Daneben ist Art. 10 AEUV als weitere Querschnittsklausel zu nennen, wonach die Europäische Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen auf die Bekämpfung von Diskriminierungen „aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ abzielt. Während Art. 8 AEUV eine Verpflichtung der Union zu einer Gleichstellungspolitik der Geschlechter vorsieht, soll durch Art. 10 AEUV „die Politik der Nichtdiskriminierung“ gestärkt werden.22 Beide Regelungen haben bereits Konkretisierungen durch Sekundärrecht erfahren. Im Hinblick auf Art. 8 AEUV sind zum einen diverse Richtlinien, die auf Gleichberechtigung und Gleichstellung abzielen, wie etwa die „Richtlinie zur Gleichbehandlung selbständig tätiger Frauen und Männer“,23 die „neue Gender-Richtlinie 1“24 und die „Gender-Richtlinie 2“25 zu nennen. Darüber hinaus wurde eine Verordnung zur Einrichtung des Programms „Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft“ für den Zeitraum 2014 bis 2020 erlassen.26 Art. 10 AEUV wird wiederum durch die „Antirassismusrichtlinie“27 sowie die „Rahmenrichtlinie Beschäftigung“28 konkretisiert. Während nach Art. 288 Abs. 2 AEUV Verordnungen insgesamt verbindlich sind und in jedem Mitgliedstaat unmittelbare Geltung entfalten, sind Richtlinien gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich und bedürfen einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, die bei der Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung des Ziels frei sind. Weder Art. 8 noch Art. 10 AEUV beinhalten eine Ermächtigung zum Erlass unionsrechtlicher Maßnahmen, sodass in diesem Zusammenhang auf spezielle
21
Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 8 AEUV Rn. 11. 22 Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 10 AEUV Rn. 22. 23 Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 07. 07. 2010, Abl. 2010 L 180/1. 24 Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 05. 07. 2006, Abl. 2006 L 204/23. 25 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13. 12. 2004, Abl. 2004 L 373/37. 26 Verordnung (EU) 1381/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 12. 2013, Abl. 2013 L 354/62. 27 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. 06. 2000, Abl. 2000 L 180/22. 28 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. 11. 2000, Abl. 2000 L 303/16.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
Kompetenzvorschriften, insbesondere auf Art. 19,29 Art. 15130 beziehungsweise Art. 157 AEUV31 zurückzugreifen ist.32
II. Bedeutung für die nationale Einkommensbesteuerung Zu beachten ist, dass die Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 AEUV nur innerhalb der ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen verliehenen Zuständigkeiten tätig wird.33 Da im Bereich der direkten Steuern die Gesetzgebungskompetenz bei den Mitgliedstaaten verbleibt und in diesem Bereich Harmonisierungsmaßnahmen nur in äußerst begrenztem Umfang möglich sind,34 kann die Europäische Union im Einkommensteuerrecht keine direkten Regelungen zur Vermeidung von Diskriminierungen erlassen. Die soeben vorgestellten sekundärrechtlichen Maßnahmen35 zielen auf den Bereich des Arbeitsrechts ab: Die jeweiligen Anwendungsbereiche der im Raum stehenden Richtlinien machen deutlich, dass diese für den Bereich der Beschäftigung und des Berufs36 beziehungsweise den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen37 gelten. Gemäß Art. 4 Abs. 2 b) AEUV besteht in dem Bereich der Sozialpolitik eine geteilte Zuständigkeit der Europäischen Union mit den Mitgliedstaaten. Näher geregelt ist die Sozialpolitik in den Art. 151 bis 164 29
Auf dieser Grundlage erlassen: Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. 06. 2000, Abl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. 11. 2000, Abl. 2000 L 303/16; Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13. 12. 2004, Abl. 2004 L 373/37; Verordnung (EU) 1381/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 12. 2013, Abl. 2013 L 354/62; zum Charakter als Ermächtigungsnorm siehe auch: Grabenwarter, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 19 AEUV Rn. 6; Streinz, in: Streinz, EUV / A EUV, Art. 19 AEUV Rn. 19; Epiney, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 19 AEUV Rn. 1; Dieball, EuR 2000, 274 (279); Hailbronner, ZAR 2001, 254 (256); Mahlmann, ZEuS 2002, 407 (408). 30 Zum Charakter als Ermächtigungsnorm siehe auch: Benecke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 151 AEUV Rn. 1; Eichenhofer, in: Streinz, EUV / A EUV, Art. 151 AEUV Rn. 3. 31 Auf dieser Grundlage erlassen: Richtlinie 2006/54/EG, Abl. 2006 L 204/23; zum Charakter als Ermächtigungsnorm siehe auch: Langenfeld, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 79 ff. AEUV; Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 88 ff.; Eichenhofer, in: Streinz, EUV / A EUV, Art. 157 AEUV Rn. 2 ff. 32 Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 8 AEUV Rn. 12, Art. 10 AEUV Rn. 7. 33 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 A. I. 34 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 A. II. 35 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 B. I. 36 Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 07. 07. 2010, Abl. 2010 L 180/1; Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 05. 07. 2006, Abl. 2006 L 204/23; Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. 06. 2000, Abl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. 11. 2000, Abl. 2000 L 303/16. 37 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13. 12. 2004, Abl. 2004 L 373/37.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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AEUV. Mit der Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Jahre 2006 wurden die bis dahin ergangenen Gleichbehandlungsrichtlinien38 im Bereich des Arbeitsrechts in nationales Recht umgesetzt.39 Die – aufgrund von Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar geltende – Verordnung zur Einrichtung des Programms „Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft“ weist ebenfalls keinen Bezug zum Steuerrecht auf, sondern sieht allgemeine Maßnahmen wie beispielsweise Studien, Analysen, Seminare, Schulungstätigkeiten und Konferenzen vor.40 Aufgrund fehlender Zuständigkeit der Union wurden zur Förderung der Gleichberechtigung beziehungsweise zur Vermeidung von Diskriminierung im Bereich des Einkommensteuerrechts keine Richtlinien oder Verordnungen der Union erlassen. Zudem entfalten die bisher ergangenen sekundärrechtlichen Regelungen, die sich mit der Gleichberechtigungsthematik befassen, keine mittelbare Wirkung auf das Einkommensteuerrecht.
III. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Sekundärrecht Es lässt sich festhalten, dass Gleichberechtigung im Regelungsbereich der direkten Steuern nicht Gegenstand sekundären Unionsrechts ist. Sekundärrechtliche Maßnahmen der Union stehen demnach vorliegender Thematik aktuell nicht entgegen.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht Im Weiteren könnte die Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht einen Verstoß gegen primäres Unionsrecht bewirken. Eine Prüfung anhand primärem Unionsrecht ist vorzunehmen, sofern der betreffende Sachverhalt nicht bereits durch sekundäres Unionsrecht abschließend ge 38
Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. 06. 2000, Abl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/ EG des Rates v. 27. 11. 2000, Abl. 2000 L 303/16; Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13. 12. 2004, Abl. 2004 L 373/37; Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23. 09. 2002, Abl. 2002 L 269/15 (aufgehoben durch Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 05. 07. 2006, Abl. 2006 L 204/23); zur später ergangenen Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 07. 07. 2010, Abl. 2010 L 180/1 siehe: BT-Drs. 17/9615, S. 53: „Die Umsetzung der Richtlinie 2010/41/EU löst in Deutschland keinen Umsetzungsbedarf aus, da deren Anforderungen bereits durch das geltende nationale Recht erfüllt werden“ (Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Hermann Kues v. 07. 05. 2012). 39 BT-Drs. 16/1780, S. 1. 40 Art. 5 der Verordnung (EU) 1381/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 12. 2013, Abl. 2013 L 354/62.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
regelt ist.41 Das Primärrecht der Europäischen Union umfasst die Regelungen der Verträge (inklusive der Protokolle und Anhänge), die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sowie über Art. 6 Abs. 1 EUV die GRCh.42
I. Grundfreiheiten In einem ersten Schritt soll die Vereinbarkeit der geplanten Regelungen mit den in dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelten Grundfreiheiten geprüft werden. 1. Grundsätzliches Wie Art. 26 Abs. 2 AEUV verdeutlicht, dienen die Grundfreiheiten der Europäischen Union der Verwirklichung des Binnenmarktziels des Art. 3 Abs. 3 EUV.43 Sie richten sich ihrem Wortlaut nach in erster Linie direkt an die Mitgliedstaaten und verpflichten diese zur Vermeidung grenzüberschreitender Diskriminierungen.44 Als Grundfreiheiten lassen sich die sogenannten „Marktfreiheiten“, namentlich die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 28 ff. AEUV, die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 ff. AEUV, die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 ff. AEUV, die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV, die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV sowie die Freiheit des Zahlungsverkehrs nach Art. 63 Abs. 2 AEUV, und daneben die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV unterscheiden.45 Sie sind nur dann einschlägig, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt innerhalb der Europäischen Union gegeben ist.46 Die Grundfreiheiten stellen in erster Linie spezifische Diskriminierungsverbote dar, die das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV konkreti
41 Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 45 AEUV Rn. 354 ff. 42 Streinz, Europarecht, Rn. 3; Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 4; Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 3 Rn. 3.4 f. 43 Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 40; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 787; Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.2.; Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 1. 44 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 36 AEUV Rn. 104. 45 Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 1; Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.4, 7.110, 7.112 (bezieht noch das Allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV mit ein). 46 Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 846; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 16; Streinz, Europarecht, Rn. 829; Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 11.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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sieren.47 Erfasst werden sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen.48 Nach überwiegender Ansicht wirken Grundfreiheiten darüber hinaus auch als sogenannte „Beschränkungsverbote“.49 Demzufolge können nationale Maßnahmen auch dann gegen diese verstoßen, wenn sie zwar unterschiedslos anwendbar und damit diskriminierungsfrei sind, aber gleichwohl die Ausübung einer Grundfreiheit erschweren beziehungsweise unmöglich machen.50 Ist eine Grundfreiheit beeinträchtigt, so stellt sich im Anschluss die Frage nach der Rechtfertigung. Es lassen sich geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe unterscheiden.51 Darüber hinaus muss die Beeinträchtigung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.52 2. Bedeutung für direkte Steuern Die Grundfreiheiten und ihr Einfluss auf die direkten Steuern werden als „Funktionszentrum des Europäischen Steuerrechts“ angesehen.53 Die grenzüber schreitende Tätigkeit innerhalb der Europäischen Union darf nicht durch die unterschiedlichen Steuersysteme und Steuerbelastungen beeinträchtigt werden.54 Das Fehlen einer Harmonisierung schwächt die rechtliche Bedeutung der Grundfreiheiten nicht ab.55 47
Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 24 ff.; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 24; Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 4 Rn. 4.27; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 1. 48 Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 818 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 837. 49 EuGH, Urteil v. 11. 07. 1974 – C-8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville; Urteil v. 20. 02. 1979 – C-120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon (Warenverkehrsfreiheit); Urteil v. 21. 11. 2002 – C-436/00, Slg. 2002, I-10829 – X und Y (Niederlassungsfreiheit); Urteil v. 15. 12. 1995 – C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman (Arbeitnehmerfreizügigkeit); Urteil v. 21. 11. 2002 – C-436/00, Slg. 2002, I-10829 – X und Y (Kapitalverkehrsfreiheit); Urteil v. 03. 12. 1974 – C-33/74, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen (Dienstleistungsfreiheit); Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 825; Streinz, Europarecht, Rn. 834 ff.; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 7; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 30 ff.; kritisch: Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 36 AEUV Rn. 57 ff.; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 853 ff.; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 3; Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 13. 50 Siehe hierzu beispielsweise die Formulierung in: EuGH, Urteil v. 30. 11. 1995 – C-55/94, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37: „behindern oder weniger attraktiv machen“. 51 Hierzu ausführlich: Streinz, Europarecht, Rn. 855 ff. 52 Streinz, Europarecht, Rn. 877. 53 Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.1; WeberGrellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 1; Kokott / Dobratz, in: Schön / Heber, Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, S. 25 (25). 54 Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 27. 55 Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.21 ff.
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Die Grundfreiheiten sind nach herrschender Ansicht auch im Steuerrecht als Beschränkungsverbote zu qualifizieren.56 Daran anknüpfend sollen auch solche Fälle als grundfreiheitsrelevant anzusehen sein, in denen Einheimische mit grenzüberschreitenden Tätigkeiten gegenüber solchen mit entsprechenden Inlandstätigkeiten steuerlich benachteiligt werden („Outbound-Fall“).57 Da sich direkte Steuern nicht auf einzelne Transport- oder Veräußerungsvorgänge aus dem Gebiet des Umlaufvermögens beziehen, kommt der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV in diesem Zusammenhang keine wesentliche Bedeutung zu.58 Die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 ff. AEUV entfaltet große Bedeutung für die Unternehmensbesteuerung und damit auch für die direkten Steuern.59 Sie gilt für den Bereich der Besteuerung von Betrieben und Betriebsstätten60 sowie für die Besteuerung von Einkünften aus unternehmerischen Beteiligungen oder aus Vorgängen zwischen verbundenen Unternehmen.61 Auf die Besteuerung von Finanzanlagen und sonstigen Investitionen sowie von grenzüberschreitenden Erbschaften, Schenkungen und Spenden findet die Kapitalverkehrsfreiheit Anwendung.62 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 ff. AEUV, an 56
EuGH, Urteil v. 14. 10. 1999 – C-439/97, Slg. 1999, I-7041 – Sandoz; Urteil v. 14. 12. 2000, C-141/99, Slg. 2000, I-11619 – AMID; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 825; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 12 ff.; Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.35 f.; Hahn, DStZ 2005, 433 (440 f.). 57 EuGH, Urteil v. 27. 09. 1988 – C-81/87, Slg. 1988, 5483 Rn. 16 – Daily Mail; Urteil v. 16. 07. 1998 – C-264/96, Slg. 1998, I-4695 Rn. 21 – Imperial Chemical Industries; Urteil v. 13. 04. 2000 – C-251/98, Slg. 2000, I-2787 Rn. 28 – Baars; Urteil v. 11. 03. 2004 – C-9/02, Slg. 2004, I-2409 Rn. 42 – De Lasteyrie du Saillant; Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.34 f.; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 9 Rn. 12 ff. 58 Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.64; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 799; Bahns / Brinkmann / Gläser / Sedlaczek, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Vorbemerkungen zu Art. 110– 113 AEUV Rn. 29. 59 Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.71 mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 26. 01. 1993 – C-112/91, Slg. 1993, I-429 – Werner, mit Anm. Dautzenberg, FR 1993, 368; Urteil v. 27. 06. 1996 – C-107/94, Slg. 1996, I-3089, mit Anm. Waterkamp-Faupel, FR 1996, 666; Urteil v. 15. 05. 1997 – C-250/95, Slg. 1997, I-2471 mit Anm. Dautzenberg, FR 1997, 567; Urteil v. 21. 09. 1999 – C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – SaintGobain; Urteil v. 27. 11. 2008 – C-418/07, Slg. 2008, I-8947 – Papillon; Urteil v. 25. 02. 2010 – C-337/08, Slg. 2010, I-1215 – X Holding; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 802. 60 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 80, mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 28. 01. 1986 – C-270/83, Slg. 1986, 273 – Kommission / Frankreich; Urteil v. 29. 04. 1999 – C-311/97, Slg. 1999, I-2651 – Royal Bank of Scotland; Urteil v. 13. 04. 2000 – C-251/98, Slg. 2000, I-2787 – Baars; Urteil v. 12. 12. 2002 – C-324/00, Slg. 2002, I-11779 – LankhorstHohorst. 61 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 80, mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 13. 03. 2007 – C-524/04, Slg. 2007 I-2107 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation. 62 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 80, mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 06. 06. 2000 – C-35/98, Slg. 2000, I-4071 – Verkooijen; Urteil v. 15. 07. 2004 – C-315/02, Slg. 2004, I-7063 – Lenz; Urteil v. 06. 03. 2007 – C-292/04, Slg. 2007, I-1835 – Meilicke u. a.; Urteil v. 14. 09. 2006 – C-386/04, Slg. 2006, I-8203 – Centro di Musicologia Walter Stauffer;
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der typischerweise die Besteuerung von Arbeitnehmern zu messen ist,63 nimmt zunehmend Einfluss auf das in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegende Einkommensteuerrecht.64 Die Besteuerung selbständiger beziehungsweise unternehmerischer Erwerbstätigkeit mit vorübergehendem Charakter wird wiederum von der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV erfasst.65 3. Grundfreiheitsverstoß im vorliegenden Fall Es gilt schließlich zu prüfen, ob die Besteuerung exogener Charakteristika im deutschen Einkommensteuerrecht gegen europäische Grundfreiheiten verstößt. Vorab ist festzuhalten, dass, wie auch der EuGH in seiner Rechtsprechung66 klarstellt, Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen, nicht harmonisierten Steuerrechtssystemen der Mitgliedstaaten keine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten bewirken können.67 Wenn die deutsche Einkommensbesteuerung die Höhe der Steuer zusätzlich von bestimmten exogenen Charakteristika abhängig macht, so betrifft dies grundsätzlich allein das deutsche Steuersystem und weist damit keinen grenzüberschreitenden Bezug auf. Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten, die in Deutschland steuerpflichtig sind, können demnach nicht geltend machen, dass sie in ihrem Herkunftsland einer geringeren Einkommensteuerschuld unterfallen würden. Demzufolge werden allein durch die Einführung einer Besteuerung exogener Merkmale im deutschen Einkommensteuergesetz und die Urteil v. 11. 10. 2007 – C-451/05, Slg. 2007, I-8251 – ELISA; Urteil v. 23. 02. 2006 – C-513/03, Slg. 2006, I-1957 – van Hilten-van der Heijden; Urteil v. 17. 01. 2008 – C-256/06, Slg. 2008, I-123 – Jäger; Urtiel v. 22. 04. 2010 – C-510/08, Slg. 2010, I-3553 – Mattner; Urteil v. 27. 01. 2009 – C-318/07, Slg. 2009, I-359 – Persche. 63 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 80 mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 14. 02. 1995 – C-279/93, Slg. 1995, I-225 – Schumacker; Urteil v. 18. 07. 2007 – C-182/06, Slg. 2007, I-6705 – Lakebrink und Peters-Lakebrink. 64 Streinz, Europarecht, Rn. 946 mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 01. 07. 2004 – C-169/03, Slg. 2004, I-6443; Urteil v. 21. 02. 2006 – C-152/03, Slg. 2006, I-10633; Urteil v. 18. 01. 2007 – C-104/06, Slg. 2007, I-677; Urteil v. 18. 07. 2007 – C-182/06, Slg. 2007, I-6705; siehe auch: Reimer, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 7 Rn. 7.66 mit Verweis auf die „wegweisenden Entscheidungen“ des EuGH: EuGH, Urteil v. 08. 05. 1990 – C-175/88, Slg. 1990, I-1779 – Biehl; EuGH, Entscheidung v. 26. 10. 1995 – C-151/94, Slg. 1995, I-3685; Urteil v. 14. 02. 1995 – C-297/93, Slg. 1995, I-225, mit Anm. Waterkamp-Faupel, FR 1995, 224; Urteil v. 14. 09. 1999 – C-391/97, Slg. 1999, I-5451, mit Komm. Stapperfend, FR 1999, 1076. 65 Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 80 mit Verweis auf: EuGH, Urteil v. 26. 10. 1999 – C-294/97, Slg. 1999, I-7447 – Eurowings Luftverkehr; Urteil v. 12. 06. 2003 – C-234/01, Slg. 2003, I-5933 – Gerritse; Urteil v. 03. 10. 2006 – C-290/04, Slg. 2006, I-9461 – FKP Scorpio Konzertproduktionen; Urteil v. 06. 10. 2009 – C-153/08, Slg. 2009, I-9735 – Kommission / Spanien. 66 EuGH, Urteil v. 23. 10. 2008 – C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 48 ff. – Krankenheim Ruhesitz; Urteil v. 12. 07. 2005 – C-403/03, Slg. 2005, I-6421 Rn. 34 ff. – Schempp. 67 Terra / Wattèl, European Tax Law, S. 69; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 91; Haase, Europäisches Steuerrecht, Rn. 796.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
sich daraus ergebenden Unterschiede zu der Einkommensbesteuerung der übrigen Mitgliedstaaten keine Grundfreiheiten berührt. Der für die grundfreiheitliche Relevanz erforderliche grenzüberschreitende Zusammenhang könnte sich bei vorliegender Thematik jedoch daraus ergeben, dass im Rahmen der Besteuerung exogener Charakteristika unter anderem eine Differenzierung nach dem Merkmal „Migrationshintergrund“ erfolgt. Wenn in Deutschland Personen einkommensteuerpflichtig sind, die – beziehungsweise deren Eltern – in einem anderen EU-Mitgliedstaat geboren sind, so erfüllen sie die Voraussetzungen dieses Merkmals. Betroffen sein könnten bei diesen insofern die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit beziehungsweise die Niederlassungsfreiheit. Die in diesen Grundfreiheiten zum Ausdruck kommende Freiheit des Personenverkehrs erstreckt ihren persönlichen Anwendungsbereich auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten.68 Diese dürfen nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit schlechter behandelt werden als Inländer, wobei auch verdeckte Diskriminierungen, also die Anknüpfung an Merkmale wie Sprache oder Ansässigkeit, die typischerweise Rückschlüsse auf die Staatsangehörigkeit ziehen lassen, erfasst werden.69 Fraglich ist, ob die Differenzierung nach dem Vorliegen eines Migrations hintergrundes für einen grenzübergreifenden Bezug ausreicht. Zwar weisen Personen ohne Migrationshintergrund in der Regel die deutsche Staatsangehörigkeit auf. Es ist jedoch nicht gesagt, dass Personen mit Migrationshintergrund prinzipiell eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit aufweisen. Demnach bedeutet der Migrationshintergrund einer Person nicht zwangsläufig, dass diese eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit hat, sondern kann allenfalls ein Indiz hierfür sein, weshalb keine offene, sondern allenfalls eine verdeckte Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit vorliegen könnte. Selbst wenn man eine mittelbare Diskriminierung als zu fernliegend ablehnt, so liegt in einer steuerlichen Benachteiligung von Personen mit Migrationshintergrund jedenfalls eine Maßnahme, welche für Personen anderer Staatsangehörigkeit die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit in Deutschland weniger attraktiv macht. Dies führt somit zumindest zu einer Beeinträchtigung der Personen- und Kapitalverkehrsfreiheit. Geht man allerdings von einem geringen Erwerbspotenzial bei Personen mit Migrationshintergrund aus, so sind diese bei der Bemessung der Einkommensteuerhöhe zu begünstigen.70 In diesem Fall wird der grenzüberschreitende Personen- und Kapitalverkehr innerhalb der Europäischen Union durch die Anknüpfung der Einkommensbesteuerung an dieses Merkmal nicht beeinträchtigt, sondern es werden sogar Anreize dafür gesetzt. Bürger aus anderen Ländern der Europäischen Union werden hier bei der Besteuerung besser behandelt als Inländer. Dies deutet auf einen Fall der sogenannten „Inländerdiskriminierung“ hin. 68
Streinz, Europarecht, Rn. 827. Streinz, Europarecht, Rn. 830. 70 Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. IV. 2. a). 69
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Der Begriff der Inländerdiskriminierung beschreibt eine Konstellation, in der eine nationale Vorschrift, die eine Verletzung von Grundfreiheiten bewirkt und demnach als unanwendbar erklärt wurde, im Inland weiterhin Anwendung findet.71 Aus unionsrechtlicher Perspektive ist eine Inländerdiskriminierung grundfreiheitlich nicht zu beanstanden, da hier kein zwischenstaatlicher Sachverhalt gegeben ist, und ist vielmehr eine Frage nationalen Verfassungsrechts.72 Vorliegend ist der Fall zwar so gelagert, dass sich die Benachteiligung der Inländer nicht aufgrund der Unanwendbarkeit nationaler Vorschriften auf grenzüberschreitende Zusammenhänge ergibt, sondern der Staat benachteiligt aktiv Personen ohne Migrationshintergrund, sodass hier – selbst bei Annahme einer Diskriminierung oder Beschränkung aufgrund der Staatsangehörigkeit – streng genommen keine Inländerdiskriminierung im „klassischen Sinne“ vorliegt. Die Maßnahme entfaltet jedoch, wie im Fall der Inländerdiskriminierung, allein im Verhältnis zwischen Staat und Inländern und daher nicht grenzüberschreitend Eingriffsqualität. Somit stellt auch die steuerliche Begünstigung von Personen mit Migrationshintergrund im Einkommensteuerrecht keine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten dar. Es sind jedoch Fälle denkbar, in dem das „Tagging“ eine Benachteiligung von Personen mit Migrationshintergrund nach sich zieht. Dies wäre beispielsweise dann gegeben, wenn eine zusätzliche Differenzierung nach einzelnen Ländern erfolgt und bestimmte (angeworbene) Migrationsgruppen aus qualifizierten Herkunftsländern im Schnitt ein höheres Erwerbspotenzial aufweisen als deutsche Arbeitskräfte. Jedenfalls abstrakt gedacht könnte auch darüber hinaus der Fall vorliegen, dass Personen mit Migrationshintergrund generell ein höheres Erwerbspotenzial aufweisen. Für diese Personengruppe müsste dann im Vergleich zu anderen Personen in Deutschland eine ungünstigere Einkommensbesteuerung gelten. Aufgrund dieser Regelung haben sie damit einen geringeren Anreiz, in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sodass eine Beschränkung der oben genannten Grundfreiheiten vorliegt. 4. Rechtfertigungsprüfung Die „Tagging“-Modelle, die eine Benachteiligung von Steuerpflichtigen mit Migrationshintergrund und damit eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten bewirken, sind mithin einer Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen. Als geschriebene Rechtfertigungsgründe führen Art. 45 Abs. 3 AEUV (für Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 52 Abs. 1 AEUV (für Be 71
EuGH, Urteil v. 28. 01. 1992 – C-332/90, Slg. 1992, I-341 Rn. 12 – Steen; Urteil v. 26. 01. 1993 – C-112/91, Slg. 1993, I-429 Rn. 17 – Werner. 72 Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 11; Streinz, Europarecht, Rn. 852; siehe hierzu auch die in der vorangehenden Fn. genannten Urteile.
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schränkungen der Niederlassungsfreiheit) und Art. 62 AEUV in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 AEUV (für Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit) „Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ an. Die im Raum stehenden Regelungen dienen nicht der Gefahrenabwehr oder der Vermeidung von Gefahren für die Gesundheit. Sie bezwecken vielmehr eine Kompensation von Unterschieden in der Erwerbsfähigkeit unter gleichzeitiger Effizienzsteigerung. Auch die weiteren, in Art. 65 AEUV genannten Rechtfertigungsgründe sind vorliegend nicht einschlägig. Demnach ist auf die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung Cassis de Dijon des EuGH zu nennen, in der er „zwingende Erfordernisse“ als Rechtfertigungsgründe anerkannte und hierzu „insbesondere“ eine wirksame steuerliche Kontrolle, den Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Lauterkeit und den Verbraucherschutz zählte.73 Darüber hinaus hat er in Bezug auf die direkten Steuern die Kohärenz des Steuersystems74 sowie die Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerflucht, die ausgewogene Aufteilung der Steuerbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten und die Verhinderung doppelter Verlustberücksichtigung75 anerkannt.76 Die Verfolgung rein wirtschaftlicher Ziele soll dagegen keinen Rechtfertigungsgrund im Sinne eines zwingenden Allgemeininteresses darstellen.77 Ein sozialstaatlicher Ausgleich der unterschiedlichen Erwerbsfähigkeit bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund, wie im vorliegenden Fall bezweckt, ist keinem der explizit anerkannten Rechtfertigungsgründe zuzurechnen. Der Begriff der „zwingenden Erfordernisse“ ist allerdings entwicklungsoffen.78 Für eine Rechtfertigung der Regelung müsste diese somit von einem den oben genannten Fällen vergleichbaren Interesse geboten sein. Ein solches lässt sich für den (hier betrachteten) Fall, dass Personen mit Migrationshintergrund ein höheres Erwerbspotenzial aufweisen und demnach eine Kompensation der übrigen Steuerpflichtigen zu erfolgen hat, nur schwerlich erkennen. Selbst wenn der (eher unwahrscheinliche) Fall eintritt, dass gravierende Unterschiede im Hinblick auf das Potenzial zur Einkünfteerzielung nachgewiesen werden können, so wird im deutschen Einkommensteuerrecht durch die Anknüpfung der Einkommensteuer an das tatsächlich erzielte Einkommen und durch die Steuerfreiheit des Existenzminimums bereits gewährleistet, dass keine Person übermäßig benachteiligt wird. Das „Tagging“ bezweckt damit mit seiner Umverteilung eine über das Erforderliche hinausgehende Wohlfahrtssteigerung. Insofern fehlt es an der „zwingenden“ Notwendigkeit eines 73
EuGH, Urteil v. 20. 02. 1979 – 120/78, Slg. 1979, 649 Rn. 8 – Cassis de Dijon. EuGH, Urteil v. 28. 01. 1992 – C-204/90, Slg. 1992, I-249, Rn. 28 – Bachmann. 75 EuGH, Urteil v. 13. 12. 2005 – C-446/03, Slg. 2005, I-10837 Rn. 43 ff. – Marks & Spencer. 76 Hierzu ausführlich: Bahns / Brinkmann / Gläser / Sedlaczek, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. 3, Vorbemerkungen zu Art. 110 – 113, Rn. 57 ff. 77 EuGH, Urteil v. 06. 06. 2000 – C-35/98, Slg. 2000, I-4071 Rn. 48 – Verkooijen. 78 Leible / Streinz, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 34 AEUV Rn. 120. 74
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Ausgleichs. Zudem könnte eine solche Regelung sogar ins Gegenteil umschlagen und qualifizierte EU-Ausländer davor abschrecken, eine Tätigkeit in Deutschland zu ergreifen, sodass sie sich sogar nachteilig auf das Steueraufkommen auswirken könnte. Im Vergleich zu den bereits anerkannten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen mangelt es daher bei dem vorliegenden Umverteilungsziel an der zwingenden Notwendigkeit. Sofern das „Tagging“ eine steuerliche Benachteiligung von Personen mit Migrationshintergrund vorsieht, liegt somit eine Verletzung der europäischen Grundfreiheiten vor. Die steuerliche Bevorzugung dieser Personengruppe durch die Modelle ist vor diesem Hintergrund dagegen als unproblematisch zu beurteilen. 5. Zwischenfazit Mit der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach exogenen Charakteristika geht somit allein dann eine Verletzung der europäischen Grundfreiheiten einher, sofern dabei Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund steuerlich benachteiligt werden.
II. Allgemeines Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV Darüber hinaus ist zu prüfen, ob eine Verletzung des allgemeinen Diskriminierungsverbots nach Art. 18 AEUV gegeben ist. 1. Grundsätzliches Dem allgemeinen Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV kommt unter anderem deshalb herausragende Bedeutung zu, weil es zur Begründung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts mit herangezogen wurde.79 Art. 18 AEUV wird auch als besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes verstanden.80 Er verbietet jede Diskriminierung aus Gründen der 79 Von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 1; zur Begründung des Anwendungsvorrangs siehe bereits unter: Teil 3 A. I. 80 EuGH, Urteil v. 08. 10. 1980 – C-810/79, Slg. 1980, 2747 Rn. 16 – Überschär; Urteil v. 16. 10. 1980 – C-147/79, Slg. 1980, 3005 Rn. 7 – Hochstrass; Urteil v. 23. 01. 1997 – C-29/95, Slg. 1997, I-285 Rn. 14 – Pastoors und Trans-Cap; Urteil v. 19. 03. 2002 – C-224/00, Slg. 2002, I-2965 Rn. 22 – Kommission / Italien; Urteil v. 27. 10. 2009 – C-115/08, Slg. 2009, I-10265 Rn. 89 – ČEZ; unter gleichzeitiger Heraushebung der Unterschiede: Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 747; Epiney, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 8; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 5.
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Staatsangehörigkeit in der Europäischen Union. Erfasst werden sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit.81 Daneben handelt es sich bei dieser Vorschrift nach bisheriger Rechtsprechung des EuGH jedoch um kein Beschränkungsverbot.82 Soweit es sich um rein innerstaatliche Sachverhalte handelt, verbietet Art. 18 AEUV ebenfalls nicht die sogenannte Inländerdiskriminierung.83 Die Formulierung „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge“ macht deutlich, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot im Verhältnis zu den Grundfreiheiten als spezielle Diskriminierungsverbote subsidiär ist.84 2. Relevanz im konkreten Fall Im vorliegenden Fall sind die Grundfreiheiten des freien Personenverkehrs als einschlägige Grundfreiheiten vorrangig zu prüfen,85 sodass das allgemeine Diskriminierungsverbot als subsidiär dahinter zurückzutreten hat. 3. Zwischenfazit Daraus folgt, dass eine Verletzung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des Art. 18 AEUV nicht in Betracht kommt.
III. Beihilferecht nach Art. 107 ff. AEUV Weiterhin könnten die geplanten einkommensteuerlichen Vorschriften nach den beihilferechtlichen Regelungen nach Art. 107 ff. AEUV unzulässig sein. 81
EuGH, Urteil v. 14. 07. 1981 – C-155/80, Slg. 1981, 1993 Rn. 8 – Oebel; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 10 ff.; Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 17. 82 EuGH, Urteil v. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6097 Rn. 8 – Keck und Mithouard; Holoubek, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 20; Streinz, in: Streinz; EUV / A EUV, Art. 18 AEUV Rn. 57; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 19; zu diesem Begriff siehe bereits unter: Teil 3 C. I. 1. 83 Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 20; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 757; Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 10 Rn. 11; Holoubek, in: Schwarze / Becker / Hatje / Schoo, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 28. 84 Streinz, Europarecht, Rn. 831; Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 17; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 58; Epiney, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 6; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, Rn. 747; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 811. 85 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 C. I. 3.
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1. Grundsätzliches Regelungen zu staatlichen Beihilfen sind in den Art. 107 bis 109 AEUV enthalten. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen, durch deren Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige der Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht und die den zwischenstaatlichen Handel in der Union beeinträchtigen, grundsätzlich mit dem Binnenmarkt unvereinbar. Als Beihilfen gelten nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „staatliche Maßnahmen gleich welcher Art, die unmittelbar oder mittelbar Unternehmen begünstigen oder als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte“.86 Unter den Unternehmensbegriff fällt „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“.87 Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist eine Tätigkeit mit dem Inhalt, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.88 Der Begriff der Beihilfe umfasst sowohl positive Leistungen als auch Verminderungen von Belastungen, die von einem Unternehmen regelmäßig zu tragen sind.89 86
EuGH, Urteil v. 03. 04. 2014 – C-559/12 P; EuGH, Urteil v. 24. 07. 2003 – C-280/00, Slg. 2003, I-7747; EuGH, Urteil v. 08. 09. 2011 – C-279/08 P, Slg. 2011, I-7671. 87 EuGH, Urteil v. 13. 04. 1991 – Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979; Urteil v. 17. 02. 1993 – C-159/91 und C-160/91, Slg. 1993, I-637; Urteil v. 19. 01. 1994 – Rs. C-364/92, Slg. 1994, I-43; Urteil v. 16. 11. 1995 – Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-4013; Urteil v. 18. 06. 1998 – Rs. C-35/96, Slg. 1998, I-3851; Urteil v. 12. 09. 2000 – Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451; Urteil v. 16. 03. 2004 – Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-2493; Urteil v. 10. 01. 2006 – Rs. C-222/04, Slg. 2006, I-289; Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 16 Rn. 8, § 15 Rn. 14; Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 107 AEUV Rn. 27; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.9; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 116. 88 EuGH, Urteil v. 18. 06. 1998 – Rs. C-35/96, Slg. 1998, I-3851; Urteil v. 12. 09. 2000 – Rs. C-180/98, Slg. 2000, I-6451; EuGH, Urteil v. 25. 10. 2001 – Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089; Urteil v. 19. 02. 2002 – C-309/99, Slg. 2002, I-1577. 89 EuGH, Urteil v. 23. 02. 1961 – C-30/59, Slg. 1961, 3 (42 f.) – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg; Urteil v. 15. 03. 1994 – C-387/92, Slg. 1994, I-877 Rn. 13 – Banco Exterior de España; Urteil v. 01. 12. 1998 – C-200/97, Slg. 1998, I-7907 Rn. 34 – Ecotrade; Urteil v. 17. 06. 1999 – C-75/97, Slg. 1999, I-3671 Rn. 23 – Belgien / Kommission; Urteil v. 19. 09. 2000 – C-156/89, Slg. 2000, I-6857 Rn. 25 – Deutschland / Kommission; Urteil v. 08. 11. 2001 – C-143/99, Slg. 2001, I-8365 Rn. 38 – Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke; Urteil v. 20. 11. 2003 – C-126/01, Slg. 2003, I-13769 Rn. 28 – GEMO; Urteil v. 15. 07. 2004 – C-501/00, Slg. 2004, I-6717 Rn. 90 – Spanien / Kommission; Urteil v. 15. 12. 2005 – C-66/02, Slg. 2005, I-10901 Rn. 77 – Italien / Kommission; Urteil v. 10. 01. 2006 – C-222/04, Slg. 2006, I-289 Rn. 131 – Cassa di Risparmio di Firenze; Urteil v. 15. 06. 2006 – C-393/04, Slg. 2006, I-5293 Rn. 29 – Air Liquide Industries Belgium; Urteil v. 22. 06. 2006 – C-182/03 und C-217/03, Slg. 2006, I-5479 Rn. 86 – Belgien / Kommission; Urteil v. 01. 07. 2008 – C-341/06 P und C-342/06 P, Slg. 2008, I-4777 Rn. 123 – Chronopost und La Poste; Urteil v. 17. 11. 2009 – C-169/08, Slg. 2009, I-10821 Rn. 56 – Presidente del Consiglio die Ministri; Urteil v. 08. 09. 2011 – C-78/08 bis C-80/08, Slg. 2011 I-7611 Rn. 45 –
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
Auch Steuervergünstigungen können demnach Beihilfen darstellen.90 Der Vorteil muss darüber hinaus aus staatlichen Mitteln gewährt werden, darf also nicht unmittelbar von anderen privaten Wirtschaftsteilnehmern stammen.91 Bei steuerlichen Beihilfen liegt die Finanzierung aus staatlichen Mitteln grundsätzlich in einem Verzicht auf Steuereinnahmen.92 Darüber hinaus dürfen nach dem Kriterium der sogenannten „Selektivität“ oder „Spezifität“93 nur „bestimmte“ Unternehmen oder Produktionszweige begünstigt werden. Demnach fallen Maßnahmen „allgemeiner Art“ nicht unter die Vorschrift des Art. 107 Abs. 1 AEUV.94 Allerdings reicht es aus, wenn die Anwendung einer „allgemeinen“ Steuerregelung zur Folge hat, dass zwei Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern unterschiedlich behandelt werden, wobei nicht zwingend festgelegt werden muss, welche Unternehmen konkret unter die Begünstigung fallen.95 Eine Steuerentlastung ist dann potenziell selektiv, wenn sie eine Verschonung von der Regelbesteuerung beinhaltet, wobei die Wirkung der Maßnahme entscheidend ist.96 Die Selektivität ist dann nicht gegeben, wenn die
Paint Graphos; Urteil v. 15. 11. 2011 – C-106/09 P und C-107/09 P, Slg. 2011, I-11113 Rn. 71 – Kommission und Spanien; Urteil v. 24. 01. 2013 – C-73/11 P, EU:C:2013:32 Rn. 69 – Frucona Košice; Urteil v. 19. 03. 2013 – C-399/10 P, EuZW 2013, 393 Rn. 101 – Bouygues und Bouygues Télécom / Kommission u. a.; Urteil v. 03. 04. 2014 – C-559/12 P, EuZW 2014, 422 Rn. 94 – Frankreich / Kommission; Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 16 Rn. 7; Streinz, Europarecht, Rn. 1116. 90 EuGH, Urteil v. 15. 03. 1994 – C-387/92, Slg. 1994, I-877 Rn. 14 – Banco Exterior de España; Urteil v. 15. 06. 2006 – C-393/04, Slg. 2006, I-5293 Rn. 30 – Air Liquide Industries Belgium; Urteil v. 22. 06. 2006 – C-182/03 und C-217/03, Slg. 2006, I-5479 Rn. 87; Urteil v. 17. 11. 2009 – C-169/08, Slg. 2009, I-10821 Rn. 57 – Presidente del Consiglio die Ministri; Urteil v. 10. 01. 2006 – C-222/04, Slg. 2006, I-289 Rn. 132 – Cassa di Risparmio di Firenze; Urteil v. 08. 09. 2011 – C-78/08 bis C-80/08, Slg. 2011 I-7611 Rn. 46 – Paint Graphos; Urteil v. 15. 11. 2011 – C-106/09 P und C-107/09 P, Slg. 2011, I-11113 Rn. 72 – Kommission und Spanien; Urteil v. 24. 01. 2013 – C-73/11 P, EU:C:2013:32 Rn. 72 – Frucona Košice; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.4; Herdegen, Europarecht, § 22 Rn. 49; Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 16 Rn. 7; Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, § 7 Rn. 8; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 115. 91 EuGH, Urteil v. 13. 03. 2001 – C-379/98, Slg. 2001, I-2099 Rn. 58 – PreussenElektra; Urteil v. 05. 03. 2009 – C-222/07, Slg. 2009, I-1407 Rn. 43 – UTECA; Urteil v. 08. 09. 2011 – C-279/08 P, Slg. 2011, I-7671 Rn. 103 – Kommission / Niederlande; Streinz, Europarecht, Rn. 1116; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.35. 92 So etwa in: EuGH, Urteil v. 19. 09. 2000 – C-156/98, Slg. 2000, I-6857 Rn. 26 – Deutschland / Kommission; Urteil v. 01. 12. 1998 – C-200/97, Slg. 1998, I-7907 Rn. 43 – Ecotrade; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.37. 93 Diese Begriffe verwenden beispielsweise: Herdegen, Europarecht, § 22 Rn. 48; Streinz, Europarecht, Rn. 1117. 94 EuGH, Urteil v. 29. 06. 1999 – C-256/97, Slg. 1999, I-3913 Rn. 28 – DMT. 95 EuGH, Urteil v. 21. 12. 2016 – C-20/15 P, C-21/15 P, EuZW 2017, 219 Rn. 74 ff. – World Duty Free Group. 96 EuGH, Urteil v. 22. 12. 2008 – C-487/06, Slg. 2008, I-10515 Rn. 85, 89 – British Aggregates / Kommission; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 117; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.19.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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Maßnahme „durch das Wesen oder die allgemeinen Zwecke des Systems, zu dem sie gehört, gerechtfertigt ist“.97 Eine Beihilfe ist gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV nur dann nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn sie den Wettbewerb verfälscht oder zumindest zu verfälschen droht und geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Darüber hinaus enthält Art. 107 AEUV diverse Ausnahmen in seinen Absätzen 2 („Legalausnahmen“) und 3 („Ermessensausnahmen“),98 nach denen bestimmte Arten von Beihilfen als ausnahmsweise zulässig anzusehen sind. 2. Relevanz im konkreten Fall Für die Anwendbarkeit der Art. 107 ff. AEUV müsste es sich bei den im Raum stehenden Regelungen um Beihilfen handeln. Dies könnte man deshalb in Betracht ziehen, weil durch die geplanten Einkommensteuermodelle gezielt bestimmte Personengruppen steuerlich begünstigt werden sollen. Bereits die Frage, ob „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV begünstigt werden, erscheint im vorliegenden Fall zweifelhaft, da der Einkommensteuerpflicht gemäß §§ 1 f. EStG allein natürliche Personen unterliegen. Private Haushalte sind nicht vom Anwendungsbereich des Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst.99 Es können allerdings auch natürliche Personen, die Güter oder Dienstleistungen auf einem Markt anbieten, wie zum Beispiel die Angehörigen freier Berufe, dem (rechtsformunabhängigen) Unternehmensbegriff des Art. 107 Abs. 1 AEUV unterfallen.100 Zudem kann sich durch steuerliche Entlastungen von beispielsweise Arbeitnehmern eine mittelbare Begünstigung der Wettbewerbsposition bestimmter Unternehmen ergeben.101 97
EuGH, Urteil v. 08. 11. 2001 – C-143/99, Slg. 2001, I-8365 Rn. 42 – Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke; Urteil v. 15. 12. 2005 – C-148/04, Slg. 2005, I-11137 Rn. 51 – Unicredito Italiano; Urteil v. 06. 09. 2006 – C-88/03, Slg. 2006, I-7115 Rn. 52 – Portugal / Kommission; Urteil v. 22. 12. 2008 – C-487/06 P, Slg. 2008, I-10515 Rn. 76 – British Aggregates / Kommission; Urteil v. 08. 09. 2011 – C-279/08 P, Slg. 2011, I-7671 Rn. 77 – Kommission / Niederlande; Urteil v. 15. 11. 2011 – C-106/09 P und 107/109 P, Slg. 2011, I-11113 Rn. 145 – Kommission und Spanien; Urteil v. 21. 06. 2012 – C-452/10 P, EU:C:2012:366 Rn. 120 f. – BNP Paribas und BNL / Kommission; Urteil v. 18. 07. 2013 – Rs. C-6/12, EuZW 2013, 867 Rn. 22 – P Oy. 98 Diese Begriffe verwendet beispielsweise: Haag, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 16 Rn. 15 ff. 99 Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 107 AEUV Rn. 27. 100 EuGH, Urteil v. 12. 09. 2000 – C-180/98 bis C-184/98, Slg. 2000, I-6451 Rn. 119 – P avlov u. a.; Cremer, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 107 AEUV Rn. 27; von Wallenberg / Schütte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 107 AEUV Rn. 39. 101 EuGH, Urteil v. 23. 02. 1961 – C-30/59, Slg. 1961, 3 (54 ff.) – De gezamenlijke Steenkolenmijnen in Limburg; Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 9 Rn. 9.10.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
Bei der Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht könnte man eine Beihilfe darin sehen, dass – nehme man als Beispiel das Merkmal „Geschlecht“ – fortan weibliche Einzelunternehmer gegenüber solchen des männlichen Geschlechts unmittelbar steuerlich begünstigt werden. Auch Personengesellschaften, hinter denen privilegierte Gruppen stehen, werden erkennbar bevorzugt. Des Weiteren werden Unternehmen mit überwiegend weiblichen Beschäftigten infolge der bei diesen steigenden Nettoeinkommen im Gegensatz zu solchen mit niedrigerem Frauenanteil unter geringerem Zugzwang zur Gehaltserhöhung stehen und erhalten hierdurch mittelbar einen Vorteil. Es stellt sich die Frage, ob allein die Eigenschaft als „weibliche Unternehmerin“ beziehungsweise als „Unternehmen mit überwiegend weiblichen Beschäftigten“ für eine hinreichende Abgrenzung ausreicht. Bei Unternehmen verschiedener Branchen ist maßgeblich, dass eine Gemeinsamkeit den Maßstab für die Gewährung der Beihilfe darstellt.102 Bei einer stärkeren Ermäßigung des Arbeitgeberbeitrags zur Krankenversicherung für weibliche Arbeitnehmer durch den Staat aufgrund der damit einhergehenden Begünstigung von Unternehmen mit einem hohen Anteil weiblicher Arbeitskräfte (wie insbesondere die Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie) wurde von der Kommission die Bestimmtheit, also die Selektivität, bejaht.103 Hiervon könnte man eine Parallele zu vorliegendem Fall ziehen und auch in der Festlegung von einkommensteuerlichen Ermäßigungen bei Frauen eine selektive Maßnahme sehen. Zwar knüpft die Differenzierung unabhängig von der Art der Tätigkeit von Personen beziehungsweise von deren Bezug zu einem bestimmten Unternehmen an exogene Charakteristika an, sodass die Begünstigung allgemein für das gesamte Einkommensteuerrecht gilt. Wirkt die Maßnahme jedoch gleichzeitig dergestalt, dass es zu einer Bevorzugung bestimmter Unternehmen kommt, so ist gleichwohl das Kriterium der Selektivität erfüllt. In diesem Zusammenhang kann es auch keinen Unterschied machen, ob nachträglich einzelne bevorzugende Normen eingeführt werden oder ob – wie vorliegend – ein System und damit auch die Belastungsentscheidungen grundlegend geändert werden.104 Demnach ist im vorliegenden Fall eine selektive Begünstigung bestimmter Unternehmen anzunehmen. Eine Einschlägigkeit der Legal- oder Ermessensausnahmen gemäß Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV ist ebenfalls nicht ersichtlich. Daraus folgt, dass der beihilferechtliche Charakter des „Tagging“-Konzepts nicht ausgeschlossen werden kann. Nach Art. 108 Abs. 3 AEUV ist die Kommission vor jeder beabsichtigten Einführung von Beihilfen rechtzeitig zu unterrichten, um ihr Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Sofern sie eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe bejaht, so besteht gleichwohl die Möglichkeit, dass gemäß 102
Von Wallenberg / Schütte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 107 AEUV Rn. 44. 103 Kommission, Entscheidung v. 15. 09. 1980, 80/932/EWG, Abl. Nr. L 264/28. 104 Vgl. hierzu: EuGH, Urteil v. 15. 11. 2011 – C-106/09, ECLI:EU:C:2011:732 – Gibraltar.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 und 4 AEUV der Rat beziehungsweise die Kommission die Regelung als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklären. 3. Zwischenfazit Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht um eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV handelt. Das Beihilferecht kann demnach vorliegend eine Grenze des „Tagging“-Konzepts darstellen, sodass die Kommission über das geplante Gesetzesvorhaben unterrichtet werden sollte. Selbst bei Annahme einer Beihilfe besteht die Möglichkeit, dass die Regelung ausnahmsweise genehmigt wird. Dies erscheint angesichts des mit den beabsichtigten Regelungen verfolgten Zwecks des Ausgleichs ungleicher Chancen zumindest nicht ausgeschlossen.
IV. Werte der Union Darüber hinaus ist die Vorschrift des Art. 2 EUV zu beachten, in der die grundlegenden Werte, auf die sich die Europäische Union gründet, niedergelegt sind. 1. Grundsätzliches In Art. 2 Satz 1 EUV sind „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“, aufgeführt. Nach Satz 2 haben die Mitgliedstaaten diese Werte in einer Gesellschaft einzuhalten, die durch „Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen“ geprägt ist. Art. 2 EUV richtet sich nicht nur an die Organe der Union, sondern mit Satz 2 auch ausdrücklich an die Mitgliedstaaten und bezieht deren Verfassungsstrukturen mit ein.105 An die Werte gebunden sind auch mitgliedstaatliche Maßnahmen, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Europäischen Union liegen.106 Es handelt sich bei Art. 2 EUV um ein Homogenitätsgebot.107 Homogenität meint in 105
Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 9. 106 Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 18; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 7 EUV Rn. 4. 107 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 7; Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 3.
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diesem Kontext, dass die Rechtsprinzipien der Mitgliedstaaten sowohl unterein ander als auch mit den Grundsätzen der Europäischen Union übereinzustimmen haben.108 Die Wahrung dieser Grundsätze ist gemäß Art. 49 Abs. 1 EUV Bedingung für einen Beitritt zu der Europäischen Union;109 auch nach einem Beitritt haben die Mitgliedstaaten diese einzuhalten.110 In der Vorschrift des Art. 2 EUV kommt der Charakter des Staatenverbundes der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ zum Ausdruck.111 Eine schwerwiegende Verletzung der in Art. 2 Satz 1 EUV enthaltenen Werte kann nach Art. 7 EUV in Verbindung mit Art. 354 AEUV sanktioniert werden, wofür jeweils ein Drittel der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission vorschlagsberechtigt sind. Die in Art. 2 Satz 2 EUV aufgeführten Merkmale stellen hingegen keinen ausreichenden Maßstab für Sanktionen dar.112 2. Anforderungen an die Einleitung des Sanktionsverfahrens Die Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten nach Art. 7 EUV erfordert „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Werte des Art. 2 EUV. Eine solche ist jedoch angesichts der Tatsache, dass die Vorschrift des Art. 2 EUV keine konkret ausgestalteten Vorgaben enthält, sondern sich auf eine Darstellung allgemeiner Merkmale beschränkt, nur schwer feststellbar.113 Zudem steht den Mitgliedstaaten zur Erhaltung der „Vielfalt Europas“ ein weiter Spielraum zu.114 Bloße Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der in Art. 2 EUV enthaltenen Rechtsgüter reichen für die Auferlegung der Sanktionsmaßnahmen nicht aus; es ist vielmehr erforderlich, dass sich das politische oder gesellschaftliche System eines Mitgliedstaates im Kern von den Werten des Art. 2 EUV und damit von dem „Vorbild des westlichen Verfassungsstaats“ abwendet.115 Im Wesentlichen muss durch 108
Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 9. 109 Streinz, Europarecht, Rn. 99; Epiney, in: Bieber / Epiney / Haag / Kotzur, Die Europäische Union, § 2 Rn. 67; Jacqué, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. I, Art. 2 EUV Rn. 18. 110 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 10. 111 Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 10; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 10; Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 4; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, § 4 Rn. 30. 112 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 7 EUV Rn. 4. 113 Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 12. 114 Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 8. 115 Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 7 EUV Rn. 10.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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den Verstoß die europäische Integration als solche infrage gestellt werden.116 Im Übrigen ist bei der Union eine große Zurückhaltung im Hinblick auf die Anwendung des Sanktionsverfahrens zu beobachten.117 3. Relevanz im konkreten Fall Es stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Fall eine Verletzung der in Art. 2 Satz 1 EUV enthaltenen Grundprinzipien vorliegt, sodass mit der Einleitung eines Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV in Verbindung mit Art. 354 AEUV zu rechnen wäre. Die Einführung einer Besteuerung exogener Charakteristika in das Einkommensteuergesetz könnte insbesondere mit dem dort genannten Prinzip der Gleichheit in Konflikt geraten. Wie zuvor dargestellt, bestehen hohe Anforderungen an die Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten im Sinne des Art. 7 EUV. Es kommt demnach nur dann zu einem Sanktionsverfahren, wenn ein Mitgliedstaat in seiner Verfassung grundlegend von den Grundprinzipien der Europäischen Union abweicht beziehungsweise diese zwar konstitutionell gewährleistet, jedoch ihre Maßnahmen nicht (mehr) konsequent hieran misst. In der deutschen Verfassung werden die in Art. 2 Satz 1 EUV aufgeführten Werte jedoch durch Verfassungsprinzipien, insbesondere durch die dort enthaltenen Freiheits- und Gleichheitsrechte, das Rechtsstaatsprinzip sowie das Demokratieprinzip garantiert. Die Einführung steuerlicher Regelungen ist stets am deutschen Verfassungsrecht zu messen.118 Ist nicht ersichtlich, dass die deutsche Verfassung oder deren Anwendung im konkreten Fall evident von den Grundprinzipien der Europäischen Union abweicht, so kommt es zu keinem Sanktionsverfahren im Sinne des Art. 7 EUV. Es würde daher zu weit gehen, in der Einführung einer Besteuerung exogener Charakteristika in das Einkommensteuergesetz eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung der Werte des Art. 2 EUV und damit eine drohende Einleitung des Sanktionsverfahrens nach Art. 7 EUV zu sehen. 4. Zwischenfazit Daraus folgt, dass ein Verstoß gegen Art. 2 EUV und ein drohendes Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommen. 116
Voet van Vormizeele, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. I, Art. 7 EUV Rn. 10. 117 Jacqué, in: von der Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Bd. I, Art. 2 EUV Rn. 18. 118 Zur verfassungsrechtlichen Prüfung siehe bereits unter: Teil 2.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
V. Sonstige primärrechtliche Vorschriften und Grundsätze Im Folgenden gilt es zu prüfen, ob die übrigen Regelungen in den Verträgen, die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beziehungsweise sonstige Rechtsgrundsätze des Europarechts als Teil des europäischen Primärrechts einer Besteuerung exogener Charakteristika im Einkommensteuerrecht entgegenstehen. 1. Gleichheit, Antidiskriminierung und Gleichberechtigung im Primärrecht Art. 20 GRCh regelt den allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts.119 Dieser wird als „wesentlicher Grundsatz“ des Unionsrechts angesehen.120 Der allgemeine Gleichheitssatz ist gegenüber den besonderen Gleichheitsrechten der Grundrechte-Charta sowie den Diskriminierungsverboten des AEUV121 subsidiär.122 Art. 21 GRCh enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot, das die Diskriminierung aufgrund bestimmter personengebundener Merkmale, namentlich „wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ gemäß Absatz 1 sowie aufgrund der Staatsangehörigkeit gemäß Absatz 2 verbietet.123 Die darin aufgeführten Merkmale haften dem Betroffenen unveränderlich an beziehungsweise können von diesem nur unter Schwierigkeiten geändert werden.124 Die Gleichheit von Frauen und Männern ist darüber hinaus in Art. 23 GRCh geregelt. Durch dieses Unionsgrundrecht werden Art. 1 GRCh, Art. 2 EUV, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV sowie Art. 8 AEUV konkretisiert.125 Sein Anwendungsbereich umfasst, wie der Wortlaut in Absatz 1 explizit besagt, „alle Bereiche“ und 119
Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 20 Rn. 2; Rossi, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 20 GRCh Rn. 1. 120 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 3195. 121 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 C. I. und II. 122 Rossi, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 20 GRCh Rn. 17; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 20 Rn. 5. 123 Rossi, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 21 GRCh Rn. 1; Hölscheidt, in: Meyer / Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 21 Rn. 30; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 3255; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 21 Rn. 2. 124 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 3259; Rossi, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 21 GRCh Rn. 3; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 21 Rn. 2. 125 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 23 Rn. 2.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
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ist nicht auf das Arbeitsrecht beschränkt.126 Auch Art. 23 Abs. 2 GRCh, nach dem die Gleichheit von Frauen und Männern Maßnahmen positiver Diskriminierung nicht entgegensteht, gilt umfassend.127 Über die Regelung des Art. 23 GRCh hinaus findet sich in Art. 157 AEUV eine Regelung zur Gleichheit der Geschlechter. Art. 157 Abs. 1 AEUV beinhaltet einen Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Diese Vorschrift enthält im Hinblick auf die Entgeltgleichheit ein an die Mitgliedstaaten gerichtetes Gleichbehandlungsgebot.128 Ob darüber hinaus ein allgemeines primärrechtliches arbeitsrechtliches sowie sozialrechtliches Gleichbehandlungsgebot angenommen werden kann, erscheint hingegen zweifelhaft.129 Eine Verwirklichung erfolgt auf diesem Gebiet vielmehr durch sekundärrechtliche Maßnahmen.130 Art. 157 Abs. 4 AEUV ermöglicht den Mitgliedstaaten die Ergreifung von Maßnahmen positiver Diskriminierung zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts. Diese Vorschrift gilt – im Gegensatz zu Art. 157 Abs. 1 AEUV – allgemein für den Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik,131 jedoch – anders als der umfassend geltende Art. 23 Abs. 2 GRCh – nicht darüber hinaus.132 Im Hinblick auf Quotenregelungen entschied der EuGH, dass starre Quoten unzulässig seien, während flexible Quoten, die bei gleicher Qualifikation der Bewerber eine Einzelfallabwägung vorsehen, dagegen als zulässig zu beurteilen seien.133 Art. 25 GRCh, der die Rechte älterer Menschen regelt, enthält kein Grundrecht, sondern nur einen Grundsatz im Sinne von Art. 52 Abs. 5 GRCh und verpflichtet damit nur die Union;134 dasselbe gilt für Art. 26 GRCh, der die Integration von 126
Streinz, in: Streinz, EUV / A EUV, Art. 23 GRCh Rn. 5; Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 23 GRCh Rn. 3. 127 Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 23 GRCh Rn. 4. 128 Langenfeld, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 7. 129 Dafür: Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 72; Rademacher, Diskriminierungsverbot und „Gleichstellungsauftrag“, S. 271; dagegen: Langenfeld, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 157 Rn. 7. 130 Langenfeld, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 157 Rn. 7; Oetker, in: Richardi / Wißmann / W lotzke / Oetker, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. I, § 12 Rn. 31 ff.; zu den diesbezüglichen sekundärrechtlichen Maßnahmen siehe bereits unter: Teil 3 B. I. 131 Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 73; Langenfeld, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 157 AEUV Rn. 84; Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 170. 132 Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 23 GRCh Rn. 4. 133 EuGH, Urteil v. 11. 11. 1997, Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363; zu dieser Thematik ausführlich: Boysen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 3 Rn. 171 ff. 134 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 3493; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 25 Rn. 3; Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 25 GRCh Rn. 1 f.
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
Menschen mit Behinderung zum Inhalt hat.135 Jedoch hat der EuGH einen allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung entwickelt, der im Geltungsbereich des Unionsrechts auch von den Mitgliedstaaten zu beachten ist.136 2. Bedeutung für direkte Steuern Fraglich ist, inwiefern die zuvor dargestellten primärrechtlichen Bestimmungen Einfluss auf das nationale Einkommensteuerrecht nehmen können. Steuervorteile werden nicht vom Arbeitgeber gewährt und stellen damit kein „Entgelt“ im Sinne des Art. 157 Abs. 1 AEUV dar.137 Somit können nationale Steuervorschriften, die bestimmte Personengruppen bevorzugen, keinen Verstoß gegen diese Regelung darstellen. Eine Einbeziehung des Art. 157 Abs. 4 AEUV kommt wiederum deshalb nicht in Betracht, weil es sich vorliegend um keine arbeits- oder sozialpolitische Maßnahme handelt. Gemäß Art. 6 Abs. 1 1. Hs. EUV erkennt die Europäische Union die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an. Nach Art. 6 Abs. 1 2. Hs. AEUV sind die Grundrechtecharta sowie die Verträge rechtlich gleichrangig. Jedoch richten sich die Unionsgrundrechte in erster Linie an die Union und ihre Organe; die Mitgliedstaaten haben diese nach Art. 51 GRCh „ausschließlich bei Durchführung des Unionsrechts“ zu beachten. Nationale Rechtsvorschriften sind nur dann an den Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu messen, wenn sie in den Geltungsbereich von Unionsrecht fallen.138 Auf Fälle der sogenannten „Inländer diskriminierung“ als rein innerstaatliche Sachverhalte finden die Bestimmungen der Grundrechtecharta keine Anwendung.139 Demnach haben die Bestimmungen der Grundrechtecharta Auswirkungen auf die nationale Steuerrechtsordnung bei Durchführung und Anwendung des steuerlichen Sekundärrechts sowie im Falle einer Beschränkung von Grundfreiheiten.140 Dasselbe gilt für die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts 135 Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 26 GRCh Rn. 4; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 26 Rn. 3; Hölscheidt, in: Meyer / Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 25 Rn. 14. 136 EuGH, Urteil v. 22. 11. 2005 – C-144/04, Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 – Mangold. 137 EuGH, Urteil v. 21. 07. 2005 – C-207/04, Slg. 2005, I-7453 Rn. 23 – Vergani. 138 EuGH, Urteil v. 26. 02. 2013 – C-617/10, EuR 2013, 446 Rn. 19 – Åkerberg Fransson. 139 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, Art. 20 Rn. 8a; Rossi, in: Callies / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 20 GRCh Rn. 15. 140 Kokott / Dobratz, in: Schön / Heber, Grundfragen des Europäischen Steuerrechts, S. 26 f., 30 f.; Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 3, 36.
C. Vereinbarkeit mit primärem Unionsrecht
265
zu beachten sind.141 Bei der Ausgestaltung und dem Vollzug des harmonisierten Steuerrechts müssen Unionsgesetzgeber sowie die Mitgliedstaaten die Gleichmäßigkeit der Besteuerung beachten.142 Im Hinblick auf das von ihm entwickelte unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung143 entschied der EuGH, dass dieses bei der Durchführung nationaler Steuervorschriften ebenfalls nicht zur Anwendung komme.144 3. Relevanz im konkreten Fall Ein Verstoß gegen Art. 157 Abs. 1 AEUV scheitert bereits daran, dass es sich bei steuerlichen Regelungen um keine Entgeltregelungen des Arbeitgebers handelt. Mangels der arbeits- und sozialpolitischen Relevanz der Thematik kommt auch eine Anwendung von Art. 157 Abs. 4 AEUV nicht in Betracht. Bei der Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach exogenen Charakteristika soll das nationale Einkommensteuerrecht geändert werden. Wie soeben dargestellt, haben die Bestimmungen der Grundrechtecharta der Europäischen Union sowie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts keine Bedeutung für den Bereich der direkten Steuern. Zudem liegt weder eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten vor, noch befindet man sich hier im Bereich der Durchführung und Anwendung sekundärrechtlicher Maßnahmen. 4. Zwischenfazit Daraus folgt, dass auch die sonstigen primärrechtlichen Bestimmungen im Hinblick auf Gleichheit, Antidiskriminierung sowie Gleichstellung der Besteuerung exogener Charakteristika im deutschen Einkommensteuerrecht keine Grenzen setzen können.
VI. Zwischenfazit zur Vereinbarkeit mit Primärrecht Sofern die im Raum stehenden einkommensteuerrechtlichen Regelungen Personen mit Migrationshintergrund benachteiligen, bewirken sie eine Verletzung der Personenverkehrsfreiheiten. Weiterhin sollte aufgrund ihrer beihilferechtlichen Relevanz eine Unterrichtung der Kommission erfolgen. Darüber hinaus steht den Regelungen kein Primärrecht entgegen.
141
Englisch, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 3, 36. Englisch, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 12 Rn. 12.20. 143 EuGH, Urteil v. 22. 11. 2005 – C-144/04, Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 – Mangold. 144 EuGH, Urteil v. 02. 06. 2016 – C-122/15, NZS 2016, 618 Rn. 30. 142
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Teil 3: Vereinbarkeit mit Europarecht
D. Ergebnis zur Vereinbarkeit mit Europarecht Der Besteuerung exogener Charakteristika im deutschen Einkommensteuerrecht steht sekundäres Unionsrecht nicht entgegen. Im Hinblick auf primäres Unionsrecht gilt es festzuhalten, dass eine Differenzierung nach dem Merkmal „Migrationshintergrund“ nur dann keine Grundfreiheitsverletzung bewirkt, sofern dieser Personenkreis bevorzugt wird. Zudem ist eine beihilferechtliche Relevanz der geplanten Regelungen gegeben, sodass vor deren Einführung die Europäische Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV zu unterrichten ist.
Teil 4
Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung Steuerliche Maßnahmen gehören zum Eingriffsrecht und müssen nach der sogenannten „Gesetzmäßigkeit der Besteuerung“ auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen.1 Als Ausprägung der „Optimal Income Taxation“ bezweckt das „Tagging“-Prinzip, Normen in das Einkommensteuergesetz einzufügen beziehungsweise bestehende Regelungen dieses Gesetzes zu modifizieren. Es stellt sich vorab die Frage, ob beziehungsweise in welchem Umfang der Bund als Gesetzgeber des Einkommensteuergesetzes zum Erlass derartiger Normen überhaupt kompetenzrechtlich ermächtigt ist.
A. Steuergesetzgebungskompetenz im europarechtlichen Kontext Wie bereits gezeigt, verbleibt die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich der direkten Steuern grundsätzlich bei den einzelnen Mitgliedstaaten. Zwar hat der Rat nach Art. 115 AEUV die Möglichkeit, Regelungen der Mitgliedstaaten zu den direkten Steuern durch den Erlass von Richtlinien harmonisieren. Sowohl der restriktive Tatbestand des Art. 115 AEUV, nach dem sich die maßgeblichen Steuervorschriften „unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes“ auswirken müssen als auch das Einstimmigkeitserfordernis dieser Vorschrift haben allerdings dazu geführt, dass Harmonisierungsmaßnahmen in Bezug auf direkte Steuern bislang seltene Ausnahmen geblieben sind.2 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die „Mutter-Tochter-Richtlinie“3, die „Fusionsrichtlinie“4, das „Schiedsübereinkommen“5, die „Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie“6 sowie die „Beitreibungsrichtlinie“7 als Harmonisierungsmaßnahmen.8 1
Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 157. Seiler, in Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 113 AEUV Rn. 52. 3 Richtlinie 90/435/EWG, ABl. 1990 Nr. L 225/6. 4 Richtlinie 90/434/EWG, ABl. 1990 Nr. L 225/1. 5 Übereinkommen 90/436/EWG, ABl. 1990 Nr. L 225/10. 6 Richtlinie 2003/49/EG, ABl. 2003 Nr. L 157/49. 7 Richtlinie 2010/24/EU, Abl. 2010 Nr. L 84/1. 8 Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Kommentar, Art. 113 AEUV Rn. 19; Seiler, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 113 2
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
Zum einen existieren bezüglich der im Raum stehenden Regelungen keine auf Grundlage des Art. 115 AEUV erlassenen Richtlinien.9 Abgesehen davon ändern europäische Einwirkungen auf das nationale Steuerrecht formal nichts an der innerstaatlichen Kompetenzzuweisung und damit auch an dem Regelungsgegenstand des Art. 105 GG.10 Damit richtet sich die Gesetzgebungskompetenz im vorliegenden Fall nach wie vor nach dem nationalen Recht.
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht Das Grundgesetz setzt die Möglichkeit zur Besteuerung des Bürgers stillschweigend voraus.11 Nach Art. 105 Abs. 1 GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Zölle und Finanzmonopole. Gemäß Art. 105 Abs. 2 GG hat er die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder teilweise zusteht oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG gegeben sind. Das Aufkommen der Einkommensteuer steht nach Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich dem Bund und den Ländern gemeinsam zu („Gemeinschaftsteuer“). Demnach hat der Bund nach Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz über die Einkommensteuer, von welcher er durch Erlass des Einkommensteuergesetzes Gebrauch gemacht hat.12 Es wurde in vorliegender Arbeit bereits verdeutlicht, dass die vorrangige Ziel setzung der Umverteilung und Effizienzsteigerung der Qualifizierung der geplanten Vorschriften als Steuernormen nicht entgegensteht.13 Ihre Anknüpfung an exogene Charakteristika wirft jedoch darüber hinaus kompetenzrechtliche Schwierigkeiten auf, die im Folgenden diskutiert werden.
AEUV Rn. 53; Schaumburg, in: Schaumburg / Englisch, Europäisches Steuerrecht, Kapitel 11 Rn. 11.41 f. 9 Siehe hierzu bereits unter: Teil 3 B. II. 10 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 114; zur Unverbindlichkeit von europäischen Rechtsakten, die nicht vom deutschen Zustimmungsgesetz gedeckt sind: BVerfGE 89, 155 (188). 11 BVerfGE 55, 274 (301). 12 Hierzu auch: Kube, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 106 Rn. 16. 13 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1).
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht
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I. Kompetenzrechtliche Einordnung von umverteilenden Einkommensteuernormen Häufig weisen Vorschriften zu mehr als einem Sachgebiet einen erkennbaren Bezug auf, was zu Abgrenzungsproblemen und Kompetenzkonflikten führen kann.14 Die Frage nach der Abgrenzung ist insbesondere für Länder und Kommunen von Interesse, da deren ohnehin schon geringe Steuerkompetenzen Gefahr laufen, aufgrund von Sachkompetenzen des Bundes noch eine weitere Schmälerung zu erfahren.15 Es ist jedoch auch darüber hinaus von Interesse, nach welchen Regelungen und damit nach welchen Maßstäben sich die kompetenzrechtliche Zuweisung richtet. Soll in das Einkommensteuergesetz eine Regelung neu eingeführt werden, die neben dem Fiskalzweck noch einen (umverteilenden) Sachzweck verfolgt, so stellt sich die Frage, ob sich das Recht zur Gesetzgebung nach Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG richtet, oder ob (zusätzlich) auf eine Sachkompetenz nach Art. 70 ff. GG zurückgegriffen werden muss. 1. Mögliche Kompetenzgrundlagen im vorliegenden Fall Bei den „Tagging“-Normen kommt neben der Anwendung der Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG auch eine Sachkompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG in Betracht, die die „öf fentliche Fürsorge“ der konkurrierenden Gesetzgebung zuweist. Unter der „öffentlichen Fürsorge“ versteht man nicht nur die öffentliche Hilfe bei wirtschaftlicher Notlage, sondern es sind auch neue Lebenssachverhalte erfasst, wenn sie zumindest in wesentlichen Strukturelementen dem Bild entsprechen, das durch die „klassische Fürsorge“ geprägt ist.16 Bei Anwendung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG hätte der Bund – anders als bei der Kompetenzzuweisung nach Art. 105 Abs. 2 GG – gemäß Art. 72 Abs. 2 GG nur dann das Gesetzgebungsrecht, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“. Ob das „Tagging“ hierunter fällt, kann allerdings dahinstehen, wenn die Sachkompetenz bereits hinter der Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG zurücktreten muss.
14
BVerfGE 36, 193 (202 f.); Gubelt, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, Art. 30 Rn. 20; Erbguth, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 30 Rn. 18 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, § 19 S. 676. 15 Ausführlich zu dieser Problematik: Rodi, StuW 1999, 105 (106). 16 BVerfGE 108, 186 (213 f.).
270
Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
2. Meinungsstand bezüglich Lenkungsnormen Im Grundgesetz werden Sach- und Steuergesetzgebungskompetenz grundsätzlich so aufeinander abgestimmt, dass der Sachgesetzgeber Verhaltenspflichten und der Steuergesetzgeber Zahlungspflichten regelt.17 Zum Verhältnis beider Kompetenzen wurde im Hinblick auf Lenkungsnormen bereits ausführlich Stellung genommen. In der Vergangenheit überwog im Schrifttum die Ansicht, dass bei Steuernormen, mit denen der Staat lenkend in die Wirtschaft eingreift, die Sachkompetenz nach Art. 70 ff. GG einschlägig sei.18 Hiervon unbeeindruckt wandten BVerfG und BVerwG auf diese Normen seit jeher konsequent die finanzverfassungsrechtliche Kompetenzgrundlage des Art. 105 GG an.19 Dem hat sich die mittlerweile wohl herrschende Meinung im Schrifttum angeschlossen.20 Allerdings darf der Steuergesetzgeber nur insoweit lenkend in den Kompetenzbereich eines Sachgesetzgebers übergreifen, als dies weder der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung noch konkreten Einzel regelungen zuwiderläuft.21 17
BVerfGE 98, 106 (119). Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 78; Vogel, StuW 1977, 97 (99) mit Fn. 20; Bayer, StuW 1972, 149 (155); Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, S. 72 ff.; Wieland, in: Fürst / Herzog / Umbach, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. I, S. 735 (743 f.); Bilgery, Die steuerrechtliche Vergünstigungsnorm im Lichte der Theorie vom Stufenbau des Steuertatbestandes unter besonderer Berücksichtigung der Einkommen-steuer, S. 99, 160: sieht die Steuervergünstigung als „in das Gewand eines Steuergesetzes gekleidetes außersteuerliches Recht“; Kirchhof, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen? Gutachten F zum 57. Deutschen Juristentag Mainz 1988, S. 79; Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S. 68; Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, S. 19 ff.; Schön, in: Mellinghoff / Schön / Viskorf, Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Spindler zum 65. Geburtstag, S. 189 (194). 19 BVerfGE 3, 407 (436); 7, 244 (254); 16, 147 (160 f.); 19, 101 (114); 19, 119 (125); 29, 327 (331); 30, 250 (264); 36, 66 (71); 38, 61 (79 f.); 55, 274 (299); 98, 106 (118); BVerwGE 96, 272 (290); 110, 248 (249); 110, 265 (268). 20 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 179; Birk / Desens / Tappe, Steuerrecht, Rn. 194 f.; Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 105 Rn. 40; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, S. 14 f.; Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 118; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 105 Rn. 5; Rodi, StuW 1999, 105 (113 f.); Trzaskalik, Inwieweit ist die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts zu empfehlen? Gutachten E zum 63. Deutschen Juristentag, E 36 f; Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. II, § 4 Rn. 373; Koenig, in: Koenig, Abgabenordnung, Kommentar, § 3 Rn. 27; Kube, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 105 Rn. 28; Seiler, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 70 Rn. 7; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 160 ff.; Hey, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 55. 21 BVerfGE 98, 106 (118 ff.); hierzu ausführlich: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 182 ff. m. w. N.; kritisch: Wieland, in: Badura / Dreier, Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 771 (785 f.). 18
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht
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Eine dritte (Minder-)Meinung geht schließlich so weit, dass sie eine „doppelte Kompetenzgrundlage“ in dem Sinne fordert, dass sowohl Steuer- als auch Sachgesetzgebungskompetenz vorliegen muss, damit eine steuerliche Lenkungsnorm erlassen werden kann.22 Es wird damit argumentiert, dass, auch wenn der Bund sowohl in der Sach- als auch in der Steuergesetzgebung eine dominierende Rolle habe23 und aufgrund der ähnlichen Strukturen beider Kompetenztatbestände diese regelmäßig zusammenfallen würden,24 es vorkommen könne, dass Regelungen erlassen werden, in denen die Zuständigkeit nicht geklärt werden kann, wie beispielsweise im Bereich steuerlicher Vergünstigungen kultureller Sachverhalte25 oder der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern.26 Eine Doppelzuständigkeit dergestalt, dass sowohl Bund als auch Länder für die Regelung eines bestimmten Gegenstandes zuständig sind, ist dem finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitssystem jedoch fremd und widerspräche zudem der Abgrenzungsfunktion des Art. 70 Abs. 2 GG.27 Der Erlass eines beabsichtigten Gesetzes wäre bei dem Erfordernis einer doppelten Kompetenzgrundlage unter Umständen nicht möglich.28 Weiterhin haben fast alle Steuergesetze neben einer Belastungswirkung auch eine Gestaltungswirkung.29 Demnach ist den Befür wortern des Erfordernisses einer doppelten Kompetenzgrundlage nicht zu folgen.30 Aufgrund möglicher Abgrenzungsprobleme zwischen Fiskalzwecknormen und Lenkungsnormen,31 der Tatsache, dass Lenkungsnormen trotz ihrer gestaltenden Funktion ebenfalls Steuernormen darstellen32 sowie weitgehender inhaltlicher Strukturgleichheit zu Art. 70 ff. GG ist Rechtsprechung und herrschender Auffassung im Schrifttum zu folgen und somit auch bei Lenkungsnormen konsequent die finanzverfassungsrechtliche Kompetenzgrundlage des Art. 105 GG anzuwenden.
22
Müller, Möglichkeiten und Grenzen der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abgaben im Umweltrecht, S. 137 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 46 S. 1104 f.; Vogel / Walter, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. XX, Art. 105 Rn. 68o ff. 23 Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, S. 140. 24 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 119; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 160. 25 Hierzu: Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, S. 140. 26 Hierzu: Rodi, StuW 1999, 105 (116 f.). 27 BVerfGE 36, 193 (202 f.). 28 Zum Ganzen ausführlich: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 180 f. 29 Hierzu: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S. 68 ff.; Trzaskalik, Inwieweit ist die Verfolgung ökonomischer, ökologischer und anderer öffentlicher Zwecke durch Instrumente des Abgabenrechts zu empfehlen? Gutachten E zum 63. Deutschen Juristentag, S. 67. 30 So auch: BVerfGE 98, 106 (118); BVerwGE 96, 272 (290); 110, 248 (249); Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, S. 14 ff. 31 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (a). 32 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (a) (bb).
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
3. Übertragbarkeit der Grundsätze auf Umverteilungsnormen In Bezug auf Umverteilungsnormen ist eine vergleichbar umfangreiche Diskussion dieser Frage in Literatur und Rechtsprechung bislang unterblieben. Während im Steuerrecht diverse Lenkungssteuern existieren,33 sind dagegen keine Steuern bekannt, die allein zum Zweck der Umverteilung geschaffen wurden. Wenngleich eine Steuergesetzgebung prinzipiell nicht von dem Umverteilungsziel veranlasst werden darf, können für die Ausgestaltung einer Steuer hingegen durchaus Krite rien der Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle spielen.34 Innerhalb von Steuergesetzen existieren demnach umverteilende Normen, wie § 32a EStG mit dem progressiven Tarifverlauf zeigt. Während Lenkungsnormen eine Verhaltenslenkung bezwecken und aus diesem Grund von einer bestimmten Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip abweichen, beabsichtigen Umverteilungsnormen gerade deren gezielte Korrektur aufgrund sozialer Zwecke. Sie treffen ebenfalls eine Entscheidung darüber, wie die Lasten im Steuerrecht angemessen verteilt werden sollten, weshalb sie eher bei Gerechtigkeitsfragen als bei der Instrumentalisierung des Steuerrechts für Lenkungszwecke anzusiedeln sind. Man könnte sogar so weit gehen, dass man eine Zuordnung der Umverteilungsnormen zur Kategorie der Fiskalzwecknormen in Betracht zieht.35 Anders als Lenkungszwecknormen zielen sowohl Fiskalzweckals auch Umverteilungsnormen auf die unmittelbare Beeinflussung persönlicher Verfügungsrechte über monetäre Mittel ab.36 4. Würdigung der Auffassungen Da Steuerregelungen mit Umverteilungszweck den Fiskalzwecknormen sachlich sogar näherstehen als Lenkungsnormen dies tun, erscheint es, wenn selbst bei Letzteren nach überwiegender Ansicht eine Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG anerkannt ist, nur konsequent, bei Umverteilungsnormen ebenfalls eine Steuergesetzgebungskompetenz nach dieser Vorschrift zu bejahen.
33
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. II. 2. b) aa) (1) (b) (bb). Kirchhof, NJW 1987, 3217 (3220); allerdings können Steuernormen insgesamt lenkungspolitisch motiviert sein: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 151. 35 Zum Ganzen: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 84 f., der eine genaue Zuordnung im Ergebnis offenlässt, jedoch eine Zusammenfassung von Umverteilungsnormen und Lenkungsnormen in derselben Kategorie (Sozialzwecknormen) ablehnt. 36 Elschen, StuW 1991, 99 (111). 34
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht
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5. Zwischenfazit Die Qualifizierung der „Tagging“-Normen als Umverteilungsnormen schadet ihrer Einordnung als Steuernormen nicht. Auf sie ist die Steuergesetzgebungskompetenz gemäß Art. 105 GG anwendbar; die Sachgesetzgebungskompetenz nach Art. 70 GG tritt dahinter zurück.
II. Qualifizierung der Modellansätze als einkommensteuerrechtliche Normen Obgleich die umverteilende Wirkung von Normen der Steuergesetzgebungskompetenz grundsätzlich nicht entgegensteht, könnte diese im vorliegenden Fall daran scheitern, dass die „Tagging“-Modellansätze aufgrund ihrer Besteuerung exogener Charakteristika nicht mehr als „Einkommensteuer“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 GG zu qualifizieren sind. 1. Abschließende Ertragszuweisung des Art. 106 GG Umstritten ist die Frage, inwiefern die Aufzählung der Ertragszuweisung in Art. 106 GG abschließend ist, also ob beziehungsweise in welchem Umfang Bund oder Länder Steuern einführen können, die nicht in dieser Vorschrift normiert sind. Ein Teil der Literatur vertritt die Auffassung, dass eine Einführung von in der geltenden Finanzverfassung bisher nicht geregelten Steuerarten durch die zur Gesetzgebung befugten Körperschaften möglich sei.37 Zum einen fehle in Art. 105 Abs. 2 GG bei dem Begriff der „übrigen Steuern“ eine einschränkende Verweisung auf die in Art. 106 GG genannten Steuerarten.38 Das Fehlen einer Ertrags kompetenz neuer Steuern in Art. 106 GG stehe deren Einführung nicht entgegen, da die Ertragskompetenz zwar in Abhängigkeit zur Gesetzgebungskompetenz stehe, dies umgekehrt allerdings nicht der Fall sei.39 Zudem lasse sich die Frage nach der Ertragszuweisung bei neuen Steuern durch die grundsätzliche Zuweisung an den
37
Wendt, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. VI, § 139 Rn. 29; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 106 Rn. 15; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1353 ff.; Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828 f.); Söhn, in: Burmeister, Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, S. 587 (599 ff.); Hartmann, DStZ 2012, 205 (206); van Heek / L ehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, S. 29 ff.; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 144 f.; 154 f.; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem GG, S. 16 ff.; Sacksofsky, NJW 2000, 2619 (2624); Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828). 38 Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828). 39 van Heek / L ehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, S. 32.
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
steuererfindenden Gesetzgeber beantworten.40 Die Finanzverfassung sei neben Stabilität – für die in diesem Zusammenhang keine Gefahr bestünde41– auch auf Flexibilität angelegt.42 Darüber hinaus besage der Regierungsentwurf zu Art. 106 GG ausdrücklich, dass es „sachlich nicht begründet“ sei, eine Beschränkung der Gesetzgebung des Bundes auf bestimmte Steuerkategorien vorzunehmen43 und dass das Steuererfindungsrecht der Länder erhalten bleibe44.45 Die wohl überwiegenden Stimmen in der Literatur gehen hingegen von einer abschließenden Aufzählung der Ertragszuweisung in Art. 106 GG aus, also dass weder Bund noch Ländern ein darüber hinausgehendes „Steuererfindungsrecht“ zustehen soll.46 Das BVerfG spricht insofern auch von einem „numerus clausus der Leistungspflichten der Art. 105 f. GG“.47 Würde man dem Vorschlag der Gegenansicht folgen und den Steuerertrag der jeweils gesetzgebenden Körperschaft zuweisen, würde dies zu einem „Wettlauf“ zwischen Bund und Ländern im Hinblick auf die Erfindung neuer Steuern verleiten, was der „Schutzfunktion der
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Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 154 f.; Osterloh, NVwZ 1991, 823 (828); Wendt, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, § 139 Rn. 30; Jarass, Nichtsteuerliche Abgaben und lenkende Steuern unter dem Grundgesetz, S. 18 f.; Söhn, in: Burmeister, Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, S. 587 (600). 41 Sacksofsky, NJW 2000, 2619 (2624). 42 Hierzu: Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, S. 170 ff. 43 BT-Drs. V/2861 Rn. 128. 44 BT-Drs. V/2861 Rn. 131. 45 Dieses Argument erwähnt beispielsweise: Eiling, Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben an die Einführung neuer Verbrauchsteuern, S. 67; ausführlich zur Entstehungs geschichte: Förster, Die Verbrauchsteuern, S. 32. 46 Vogel, in: Lang, Die Steuerrechtsordnung in der Diskussion, Festschrift für Klaus Tipke zum 65. Geburtstag, S. 93 (100 ff.); Vogel / Waldhoff, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. XIV, Vorbemerkungen zu Art. 104a – 115 GG Rn. 519; Jachmann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, Art. 105 Rn. 32; Schwarz, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, Art. 106 Rn. 18, Heintzen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 105 Rn. 46, Art. 106 Rn. 8; Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 105 Rn. 49 f.; Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 4 f.; Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 123 f.; Kube, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 105 Rn. 42; Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, S. 9 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 46 S. 1119 f.; Arndt, Steuern, Sonderabgaben und Zwangsanleihen, S. 59 f.; Ossenbühl / Di Fabio, StuW 1988, 349 (352); Förster, Die Verbrauchsteuern, S. 31 ff.; Müller-Franken, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 105 Rn. 206; Seer, DStR 2012, 325 (330); Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1367 f.).; Maurer, Staatsrecht I, § 21 Rn. 26; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, Art. 106 Rn. 3; Waldhoff, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, § 116 Rn. 26; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 324 ff.; Wernsmann, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung / Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Bd. II, § 4 AO Rn. 382. 47 BVerfGE 67, 256 (286).
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht
275
Finanzverfassung“48 widerspräche.49 Einem Steuererfindungsrecht steht zudem die „Formenstrenge der Finanzverfassung“ entgegen.50 Der Herleitung einer Länderkompetenz durch Rückgriff auf die Art. 30, 70 GG stehe der Vorrang der Finanzverfassung entgegen, zumal in Art. 105 Abs. 2a GG bereits eine positive Kompetenzzuweisung an die Länder erfolgt, die bei Anwendung dieser Normen überflüssig wäre.51 Aufgrund der weitgehenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei zumindest eine grundlegende Umgestaltung der in Art. 106 GG aufgeführten Steuern möglich, solange die Begriffsmerkmale des Kompetenztitels noch erfüllt werden.52 So wurden beispielsweise die Umstellung von einer „Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer“ auf eine „Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug“,53 der Wechsel von einer „Definitivbesteuerung“ zum „Anrechnungsverfahren“54 sowie die daran anknüpfenden Strukturänderungen des „Halbeinkünfteverfahrens“55 und der „Abgeltungsteuer“56 bei der Körperschaftsteuer noch als innerhalb der finanzverfassungsrechtlichen Grenzen angesehen.57 Darüber hinaus können auch neue Steuern eingeführt werden, solange diese einer der Steuerarten in Art. 106 GG zugeordnet werden können.58 Ist eine solche Zuordnung oder Umgestaltung nicht möglich, so bleibt als letzte Möglichkeit eine entsprechende Ergänzung der Vorschrift des Art. 106 GG durch verfassungsänderndes Gesetz.59
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Hierzu: BVerfGE 93, 319 (342); 105, 185 (193 f.); 108, 1 (15). Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 4. 50 Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1367). 51 Seiler, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. VI, Art. 105 Rn. 123; Heintzen, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, Art. 105 Rn. 46. 52 BVerfGE 31, 8 (19); Müller-Franken, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 105 Rn. 207; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 291 (mit Beispielen in Fn. 426); Jachmann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. III, Art. 105 Rn. 33. 53 Umsatzsteuergesetz v. 29. 05. 1967, BGBl. I 1967, S. 545 ff. 54 Körperschaftsteuerreformgesetz v. 31. 08. 1976, BGBl. I 1976, S. 2597 ff. 55 Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG) v. 23. 10. 2000, BGBl. I 2000, S. 1433 ff. 56 Vgl. Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 der Fraktionen der CDU / CSU und SPD v. 27. 03. 2007 (BT-Drs. 16/4841) und der Bundesregierung v. 18. 05. 2007 (BTDrs. 16/5377). 57 Hierzu: Müller-Franken, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 105 Rn. 207. 58 Müller-Franken, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. V, Art. 105 Rn. 208; Seer, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 5; Möckel, DÖV 2012, 265 (266 ff.). 59 Hierzu: Seer, in: Tipke / Lang. Steuerrecht, § 2 Rn. 5; Arndt, Steuern, Sonderabgaben und Zwangsanleihen, S. 60; Ossenbühl / di Fabio, StuW 1988, 349 (352); Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 (1367 f.), weist zusätzlich darauf hin, dass der einfache Gesetzgeber den verfassungs ändernden Gesetzgeber hierzu nicht zwingen kann. 49
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
Es ist demnach der herrschenden Literatur sowie der Rechtsprechung des BVerfG zu folgen und eine abschließende Ertragszuweisung des Art. 106 GG anzunehmen. 2. Einordnung der verschiedenen Modellansätze Die in Art. 106 GG aufgeführten Steuerarten beruhen auf dem Leistungsfähigkeitsgedanken.60 So ist beispielsweise für die Einkommensteuer charakteristisch, dass sie für die Besteuerung an das erzielte Einkommen des Steuerpflichtigen als Leistungsfähigkeitsindikator anknüpft.61 Die verschiedenen Modellansätze, namentlich die „Regressionsmodelle“, die „Einheitssteuermodelle“ sowie die „Progressionsmodelle“, bewirken durch die Anknüpfung an exogene Merkmale in jeweils unterschiedlichem Ausmaß eine Abkehr von dieser „klassischen“ an der Leistungsfähigkeit orientierten Besteuerung des Einkommens. Durch die Einkommensteuer wird der Vermögenszuwachs belastet, den Personen durch erfolgreiches Wirtschaften am Markt erzielen.62 Um vom Einkommensteuergesetzgeber kompetenzrechtlich erlassen werden zu können, müssen diese noch unter den Begriff der „Einkommensteuer“ in Art. 106 Abs. 3 GG gefasst werden können. a) „Regressionsmodelle“ In einem ersten Schritt stellt sich die Frage, ob die Pauschalsteuermodelle (mit und ohne Grundfreibetrag) sowie das Modell mit regressivem Grenzsteuersatz noch als einkommensteuerrechtliche Regelungen zu qualifizieren sind. aa) Pauschalsteuer-Modelle Wenngleich eine Pauschalsteuer bereits an materiellem Verfassungsrecht scheitert,63 könnten einem solchen Steuermodell im Übrigen auch die Grenzen der geltenden Finanzverfassung entgegenstehen. Die Kopfsteuer als Ausgangsmodell der Pauschalsteuer lässt das erzielte Einkommen für die Steuerhöhe völlig außer Acht. Eine solche „Personenexistenz steuer“ ist der geltenden Finanzverfassung jedoch fremd, sodass eine Kopfsteuer 60
Vogel / Waldhoff, in: Kahl / Waldhoff / Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. XIV, Vorbemerkungen zu Art. 104a – 115 GG Rn. 519. 61 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 1. b). 62 Kube, in: Epping / Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 106 Rn. 17. 63 Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 4. a) aa) (1) und (2).
B. Steuergesetzgebungskompetenz nach nationalem Recht
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nicht mehr als von dem Kompetenztitel des Art. 106 Abs. 3 GG angesehen werden kann. Der Unterschied der Pauschalsteuer zur Kopfsteuer liegt darin, dass sie durch die Differenzierung der Besteuerung anhand exogener Charakteristika als Indikatoren für das Erwerbspotenzial an die „Soll“-Leistungsfähigkeit anknüpft. Fraglich ist, ob eine solche Ausgestaltung noch den Begriffsmerkmalen des Kompetenztitels in Art. 106 Abs. 3 GG entspricht. Wenn in Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG von „Verbrauchsteuern“, in Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG von „Vermögensteuer“, in Art. 106 Abs. 2 Nr. 3 GG von „Kraftfahrzeugsteuer“ und in Art. 106 Abs. 3 GG von „Umsatzsteuer“ gesprochen wird, bringt die Finanzverfassung des Grundgesetzes hiermit die Besteuerung des tatsächlichen Verbrauchs, des tatsächlich vorhandenen Vermögens, der tatsächlich vorhandenen Kraftfahrzeuge beziehungsweise des tatsächlich getätigten Umsatzes zum Ausdruck. Demnach meint die Kompetenzvorschrift des Art. 106 Abs. 3 GG mit „Einkommensteuer“, dass grundsätzlich das tatsächlich erzielte Einkommen besteuert wird (also die sogenannte „Ist-Leistungsfähigkeit“) und damit gerade nicht das Einkommen, das hätte verdient werden können („Einkommenspotenzial“ oder „Soll-Leistungsfähigkeit“).64 Ein steuerlicher Eingriff ist nur dann kompetenziell zulässig, wenn Leistungsfähigkeit im Sinne von finanzieller Zahlungs fähigkeit besteht.65 Die Einführung einer Besteuerung nach der „Soll-Leistungsfähigkeit“ wäre nur dann kompetenzrechtlich von Art. 106 Abs. 3 GG gedeckt, soweit sie sich auf „punktuelle geringfügige und auch materiell als Ausnahme gerechtfertigte Tatbestände“ beschränkt.66 Bei einer Pauschalsteuer ist die Besteuerung exogener Charakteristika jedoch gerade keine Ausnahme, sondern die gesamte Einkommensbesteuerung soll vielmehr anhand dieser Merkmale differenziert werden. Eine Bemessung der steuerlichen Leistungsfähigkeit allein nach dem Erwerbspotenzial der Steuerpflichtigen würde demnach eine fundamentale Abkehr von dem geltenden Einkommensteuersystem bedeuten. Daraus folgt, dass auch eine Pauschalsteuer nicht mehr dem Kompetenztitel des Art. 106 Abs. 3 GG unterfällt.
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Zum Ganzen: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 290 f. Birk / Wernsmann, JZ 2001, 218 (218 f.); Wernsmann, Jura 2000, 175 (176). 66 Zum Ganzen ausführlich: Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 291. 65
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
bb) Modell mit regressivem Grenzsteuersatz Auch das „Tagging“-Modell mit regressivem Grenzsteuersatz, welches ebenfalls an der materiellen Zulässigkeit scheitert,67 ist auf seine Qualifizierung als Einkommensteuer zu überprüfen. Im Gegensatz zu den Pauschalsteuermodellen bewirkt das Modell mit regressivem Grenzsteuersatz keine völlige Loslösung der Besteuerung vom zu versteuernden Einkommen, da es dieses als Bezugsgröße für den Steuertarif wählt. Somit lässt sich zunächst festhalten, dass hier zumindest in gewissem Umfang ein Zugriff auf die „Ist-Leistungsfähigkeit“ der Steuerpflichtigen erfolgt. Fraglich ist, ob einer Einordnung dieses Modells als Einkommensteuer entgegensteht, dass der Grenzsteuertarif zum einen bei Anstieg des zu versteuernden Einkommens abnimmt, sodass hierdurch in gewisser Weise entgegen der Leistungsfähigkeit besteuert wird, und zum anderen neben die Anknüpfung an das zu versteuernde Einkommen die Berücksichtigung exogener Merkmale tritt. Erstem Argument lässt sich entgegenhalten, dass es für eine Qualifizierung als Einkommensteuer grundsätzlich darauf ankommt, dass der rein tatsächliche Vermögenszuwachs besteuert wird, was auch bei einem regressiven Grenzsteuersatz der Fall ist. Darüber hinaus wird dieses auch deshalb in die Leere gehen, da sich ein Modell mit regressivem Grenzsteuersatz auch derart ausgestalten lässt, dass Steuerpflichtige mit höherem zu versteuernden Einkommen zwar nicht prozentual, jedoch absolut im Ergebnis eine höhere Steuerschuld erbringen müssen.68 Die Maßgeblichkeit auch unveränderlicher Charakteristika der Steuerpflichtigen für die Höhe der Einkommensteuer bewirkt eine teilweise Abweichung von der Besteuerung entlang der steuerlichen Leistungsfähigkeit. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Einkommensteuer nach wie vor durch Anwendung eines Steuer tarifs auf das erwirtschaftete Einkommen als Bemessungsgrundlage erhoben wird, wenn auch – je nach exogenen Merkmalen der Steuerpflichtigen – in unterschiedlicher Höhe. Solange das zu versteuernde Einkommen Hauptbezugsgröße für die Besteuerung bleibt und die Anknüpfung an exogene Merkmale nur geringfügige Modifikationen nach sich zieht, handelt es auch sich bei einer solchen Besteuerung auch weiterhin um eine „Einkommensteuer“. Wäre die regressive Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs materiell zulässig, so könnte demnach das „Tagging“-Modell mit regressivem Grenzsteuersatz als Einkommensteuer im Sinne des Art. 106 Abs. 3 GG in das Einkommensteuergesetz eingefügt werden.
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Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 4. a) aa) (3). Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 C. I. 1. a) cc).
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b) „Einheitssteuermodelle“ und „Progressionsmodelle“ Auch bei den Einheitssteuer- und Progressionsmodellen stellt sich zunächst die Frage, ob sie als Steuernormen nach Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 GG erlassen werden können. Auch diese Regelungen knüpfen nicht allein an das tatsächlich erzielte Einkommen, sondern zusätzlich an exogene Charakteristika an, die Indikatoren für das Erwerbspotenzial sind. Diese Abkehr von einer Besteuerung der „Ist-Leistungsfähigkeit“ hin zu einer Besteuerung von Potenzialen könnte auch hier ihrem Charakter als „Einkommen“-Steuernormen entgegenstehen. Zum einen stehen allerdings sowohl „Einheitssteuer-“ als auch „Progressionsmodell“ – anders als das Modell mit regressivem Grenzsteuersatz – materiell in keinem verfassungsrechtlich problematischen Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip.69 Des Weiteren besteht auch hier keine vollständige, sondern eine nur teilweise Abkehr von der „Ist-Leistungsfähigkeit“ hin zur Besteuerung von Potenzial. Demnach lässt sich auch hier noch ein Ausnahmecharakter annehmen. Die geltende Einkommensbesteuerung zeigt mit dem progressiven Steuertarif, dass eine vom Leistungsfähigkeitsprinzip abweichende Umgestaltung des gesamten Besteuerungssystems nicht zwangsläufig der Einordnung als Einkommensteuer entgegensteht. Sofern gewährleistet ist, dass das zu versteuernde Einkommen, also die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen nach wie vor maßgeblich ist und die Besteuerung exogener Merkmale in diesem Konzept nur eine untergeordnete Bedeutung einnimmt, so lässt sich auch hier weiterhin von einer „Einkommensteuer“ sprechen. Demnach können die „Einheitssteuermodelle“ und die „Progressionsmodelle“ trotz zusätzlicher Berücksichtigung exogener Charakteristika als Einkommensteuerregelungen erlassen werden. 3. Zwischenfazit Die Pauschalsteuermodelle können weder der Einkommensteuer, noch einer anderen in Art. 106 Abs. 3 GG aufgeführten Steuerart zugeordnet werden, sodass es bei ihnen, sofern man im Einklang mit der herrschenden Ansicht die Ertragszuweisung in Art. 106 GG für abschließend hält, an einem Kompetenztitel für die gesetzgebungsbefugten Körperschaften fehlt. Diese Ansätze scheitern damit nach hier vertretener Ansicht neben der materiellen Unzulässigkeit auch an ihrer Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung. Die übrigen Modelle mit regressivem, einheitlichen und progressivem Grenzsteuersatz lassen sich dagegen als Einkommensteuerregelungen qualifizieren, so 69
Siehe hierzu bereits unter: Teil 2 A. I. 2. b) cc) (1).
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Teil 4: Umsetzbarkeit in der geltenden Finanzverfassung
dass diese vom Einkommensteuergesetzgeber nach Art. 105 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 GG kompetenzrechtlich erlassen werden können.
III. Zwischenfazit Daraus folgt, dass dem Bund für die Modelle mit regressivem, einheitlichen sowie progressivem Grenzsteuersatz die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 105 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG zusteht.
C. Ergebnis zur finanzverfassungsrechtlichen Umsetzbarkeit Mit Ausnahme der Pauschalsteuer-Modelle können die geplanten Regelungen somit in kompetenzrechtlich zulässiger Weise in das Einkommensteuergesetz eingeführt werden.
Teil 5
Fazit und Ausblick Erscheinen die Ideale ökonomischer Theorien auf den ersten Blick noch so erstrebenswert, so kann eine realitätsgerechte Beurteilung nur unter umfassender Einbeziehung aller rechtlichen Aspekte erfolgen. Es ist dabei zunächst ein Kompromiss zwischen der von den Vertretern der Optimalsteuerlehre proklamierten Maximierung der Gesamtwohlfahrt und einer an der Leistungsfähigkeit orientierten Besteuerung zu finden. Trotz nahezu erschöpfender Diskussionen in der Rechtswissenschaft über die Leistungsfähigkeit sowie deren Bedeutung als Maßstab für die Einkommensbesteuerung konnte der Leistungsfähigkeitsbegriff bislang nicht abschließend definiert werden. Gleichwohl können ihm zumindest bestimmte verfassungsrechtliche Leitlinien entnommen werden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip gebietet eine gewisse Umverteilung anhand des tatsächlich erzielten Einkommens, sodass jedenfalls Steuermodelle, die keinen Grenzsteuersatz aufweisen, als mit der Verfassung unvereinbar zu beurteilen sind. Mit dem progressiven Tarifverlauf geht die geltende Einkommensbesteuerung über das gebotene Umverteilungsmaß hinaus und vertieft zudem die sich ergebenden Ausweichreaktionen. Durch Einführung eines Modells mit proportionalen Steuersätzen, die nach exogenen Merkmalen variieren, könnte diese überobligatorische Umverteilung nach der Einkommenshöhe durch eine Umverteilung nach (nicht beeinflussbaren) exogenen Charakteristika in verfassungskonformer Weise ersetzt werden. Die aus ökonomischer Sicht vorteilhafte Unveränderlichkeit bestimmter Merkmale bedeutet jedoch umso strengere Anforderungen im Hinblick auf die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen. Hinzu tritt eine Einzelfallungerechtigkeit, die eine solche Pauschalierung bei Bemessung der Steuerhöhe zwangsläufig nach sich zieht. Eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung nach exogenen Charakteristika kommt nach vorliegender Analyse allein im Hinblick auf die Merkmale „Geschlecht“ und „Behinderung“, für welche die Verfassung einen Auftrag zur faktischen Angleichung enthält, in Betracht. Hier steht das Verfassungs- und Europarecht einer Regelung nicht per se entgegen. Die praktische Umsetzbarkeit einer Differenzierung der Einkommensteuerhöhe nach exogenen Merkmalen sieht sich allerdings gewissen Herausforderungen ausgesetzt. Zwar würde der Wegfall der Progression im Einheitssteuermodell zu einer gewissen Vereinfachung beitragen. Jedoch würde stattdessen für jede Person ein
282
Teil 5: Fazit und Ausblick
individueller Grenzsteuertarif abhängig von ihren exogenen Merkmalen festgelegt werden. Es wären damit für die Bemessung der Einkommensteuer neben dem zu versteuernden Einkommen noch weitere Bezugsgrößen zu berücksichtigen, was die Steuerveranlagung zusätzlich verkomplizieren würde. Zudem würde die notwendige fortlaufende Überprüfung, ob noch signifikante faktische Unterschiede zwischen den Personengruppen im Hinblick auf deren Erwerbsfähigkeit bestehen, ebenfalls den Verwaltungsaufwand erhöhen. Zu befürchten sind darüber hinaus Ausweichreaktionen Dritter. So könnte beispielsweise der Fall eintreten, dass Arbeitgeber bei der Bemessung des Arbeitslohns künftig in ihre Entscheidung mit einbeziehen, dass Frauen bei der Höhe des Grenzsteuertarifverlaufs gegenüber Männern begünstigt werden, und ihnen deshalb weniger Gehalt zahlen. Zwar gibt es gerade im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht zur Verhinderung solcher Verhaltensweisen bereits Bestrebungen, wie das im Januar 2017 im Bundeskabinett beschlossene Entgelttransparenzgesetz1 zeigt. Gleichwohl ist ein gewisses Missbrauchsrisiko bisher nicht auszuschließen. Damit besteht die Gefahr, dass einkommensteuerliche Regelungen zur faktischen Angleichung die tatsächlich bestehenden Ungleichheiten in der Erwerbsfähigkeit zwischen den Personengruppen sogar noch vertiefen. Ungeachtet dessen würde eine solche Gesetzesänderung einen großen Schritt in Richtung Chancengleichheit bedeuten. Zwar hat sich im Hinblick auf die tatsächlichen Nachteile von Frauen im Erwerbsleben sowohl im nationalen Verfassungsrecht als auch auf unionsrechtlicher Ebene eine umfassende Gleichstellungspolitik herausgebildet.2 Diese Bestrebungen waren allerdings bislang nicht ausreichend erfolgsbringend, sodass hier, ebenfalls wie bei dem Merkmal Behinderung, nach wie vor Handlungsbedarf besteht. Zwar ist das „Tagging“-Prinzip im Hinblick auf seine gesellschaftliche und politische Akzeptanz als kritisch zu beurteilen und wird wohl vorerst ein theoretisches Konzept bleiben. Jedoch kann nicht geleugnet werden, dass die Berücksichtigung exogener Merkmale bei der Besteuerung einen effizienten Weg darstellt, um der unermüdlichen Forderung nach einem Ausgleich der verminderten Erwerbschancen von Personen abhängig von Geschlecht und auch von dem Vorliegen einer Behinderung nachzukommen. Eine verstärkte Auseinandersetzung der Rechtswissenschaft mit dieser Thematik ist somit lohnenswert.
1
Siehe hierzu bereits unter: Teil 1 B. IV. 1. a). Siehe hierzu insbesondere bereits unter: Teil 1 B. IV. 1. a), Teil 2 A. II. 2. b) dd) (1), Teil 3 C. V. und Teil 3 D. II. 3. c) aa).
2
Teil 6
Abschließende Thesen Aus den Ausführungen der vorliegenden Arbeit lassen sich folgende Leitlinien für eine ökonomisch sinnvolle sowie zugleich rechtlich zulässige Umsetzung einer Einkommensbesteuerung, die exogene Charakteristika mit einbezieht, ableiten: 1. Die Abhängigkeit der Höhe der deutschen Einkommensteuer von der Einkommenshöhe der Steuerpflichtigen führt aufgrund der Beeinflussbarkeit dieses Merkmals zu Effizienzverlusten. Eine Differenzierung der Besteuerung nach exogenen Charakteristika bewirkt dagegen eine Umverteilung bei gleichzeitiger Vermeidung von Ausweichreaktionen, wodurch die Gesamtwohlfahrt gesteigert werden kann. 2. Ein Pauschalsteuermodell verstößt gegen das subjektive Nettoprinzip sowie gegen die verfassungsrechtlich zwingend gebotene Steuerfreiheit des Existenzminimums, sodass seine Einführung als verfassungswidrig zu beurteilen wäre. 3. Selbst bei Berücksichtigung eines Grundfreibetrags stellt eine Zuweisung fester Steuerbeträge nach exogenen Charakteristika (Pauschalsteuermodell mit Grundfreibetrag) eine nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung dar. Eine verfassungskonforme Besteuerungssetzt stets eine Abhängigkeit vom tatsächlich erzielten Einkommen (Grenzsteuersatz) voraus. 4. Eine proportionale Ausgestaltung des Steuertarifs kann durch das Leistungsfähigkeitsprinzip gerechtfertigt werden, während ein progressiver Steuertarif einer zusätzlichen Rechtfertigung durch das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG bedarf. Demnach würde die Zugrundelegung eines einheitlichen Einkommensteuersatzes die Einführung einer Besteuerung unter Berücksichtigung exogener Charakteristika erleichtern. 5. Eine verfassungskonforme Umverteilung kann generell entweder durch unterschiedlich hohe Grenzsteuertarifverläufe oder variierende Grundfreibeträge erreicht werden. 6. Da die Modellansätze nach persönlichen, unveränderlichen Merkmalen differenzieren, hat die Rechtfertigung der hieraus resultierenden Ungleichbehandlungen jeweils nach Maßgabe einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen. 7. „Tagging“ kann im Einkommensteuerrecht prinzipiell nur bei Erfüllung folgender Bedingungen in Betracht kommen: – Hinsichtlich des jeweiligen Merkmals bedarf es eines entsprechenden Gleichstellungsauftrags im Grundgesetz.
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Teil 6: Abschließende Thesen
– Die Regelung darf nicht zu einer starren Ergebnisgleichheit führen, sondern muss auf eine Chancengleichheit der Steuerpflichtigen abzielen. – Zwischen den Vergleichsgruppen müssen trotz vergleichbarer Qualifikation wesentliche faktische Unterschiede bestehen, die nicht durch anderweitige Fördermaßnahmen ausgleichbar sind. – Das Fortbestehen der Unterschiede ist fortlaufend zu überprüfen, wobei die Regelung bei Bedarf entsprechend angepasst beziehungsweise wieder aufgehoben werden muss. – Im Ergebnis dürfen nur geringe Besteuerungsunterschiede bewirkt werden, um eine zu intensive Ungleichbehandlung zu vermeiden. 8. Nach Maßgabe des unter 7. aufgestellten Kriterienkatalogs ist eine Differenzierung der Einkommensbesteuerung damit nur nach den Merkmalen „Geschlecht“ und „Behinderung“ möglich. Nach den Kritieren „Alter“, „Körpergröße“, „Migrationshintergrund“, „Bildungsabschluss der Eltern“ und „Einkommen der Eltern“ kann hingegen nicht differenziert werden. 9. Die Freiheitsrechte stehen einer Besteuerung exogener Charakteristika nicht entgegen, sofern eine übermäßige Besteuerung einzelner Steuerpflichtiger ausgeschlossen werden kann. 10. Die Anknüpfung an exogene Charakteristika im Einkommensteuerrecht bewirkt keinen Verstoß gegen sekundärrechtliche Regelungen der Europäischen Union. 11. Die Personenverkehrsfreiheiten des Unionsrechts setzen einer Differenzierung nach den untersuchten Merkmalen insoweit Grenzen, als dass sie eine Benachteiligung von Steuerpflichtigen mit Migrationshintergrund verbieten. 12. Eine Beihilfe kann nach derzeitiger Rechtslage nicht ausgeschlossen werden, sodass die Kommission vor Einführung der Regelungen unterrichtet werden sollte. 13. Die Berücksichtigung exogener Merkmale im Einkommensteuerrecht ist im Rahmen der Finanzverfassung umsetzbar, sofern eine zusätzliche Abhängigkeit der Einkommensteuer von dem tatsächlich erzielten Einkommen gewährleistet ist.
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Sachverzeichnis Allgemeiner Gleichheitssatz 141 f., 167 ff. Allgemeines Diskriminierungsverbot 253 f. Altersdiskriminierung 152, 207 ff., 264 f. Anknüpfungsverbote 129 ff. Anwendungsvorrang des Unionsrechts 240 f. Ausweichreaktionen 19, 23 ff., 28 f., 32, 44, 52, 88, 107, 115 f. Begrenzte Einzelermächtigung 239 f. Begründungsverbote 129 f. Behindertenquoten 204 Beihilferecht 254 ff. Chancengleichheit 166 ff., 188 ff., 197 ff., 204, 212 Ehegattensplitting 214 ff. Einheitssteuersatz / -tarif 55, 58 f., 64, 110, 117 Endogene Charakteristika 26, 28 f. Exogene Charakteristika 25 f., 29 ff., 33 ff. Extensive margin 32, 53, 56, 60, 64, 119 Faktische Gleichheit 168 f., 177 Fiskalzwecknormen 156 ff., 271 f. Flat Tax, siehe Einheitssteuersatz / -tarif Folgerichtigkeitsgebot / -grundsatz 67 Frauenquoten 34, 186, 189, 195 Gleichstellung 124, 155, 163 ff., 173, 177, 193, 206, 243 Grenznutzentheorie 20 f., 30 Grundfreiheiten 246 ff. Grundrechtecharta 262 ff. Horizontale Steuergerechtigkeit 67 Inländerdiskriminierung 251 Intensive margin 56, 60, 63 f., 119 Kopfsteuer 44 ff., 50, 63, 84 ff., 276
Laffer-Kurve 23 Leistungsfähigkeit – bei der Einkommensteuer 67 f. – Bezugsgrößen 69 – Ist-Leistungsfähigkeit 70 – Objektive Leistungsfähigkeit 67, 203 – Soll-Leistungsfähigkeit 52 – Steuerliche Leistungsfähigkeit 69 f. – Subjektive Leistungsfähigkeit 67, 72, 76, 80, 84, 118, 146, 156, 203 – Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit 69 Leistungsfähigkeitsprinzip – Kritik der Literatur 70 ff. – Maßstäbe für den Tarifverlauf 85 ff. – Rechtsprechung des BVerfG 66 ff. Lenkungsnormen 158 f., 163 f., 271 Neue Formel 144 Objektives Nettoprinzip 67 f., 76 Opfertheorien 19, 20, 94 Optimalsteuerlehre / -theorie 19 ff. Pauschalsteuer 24, 50 ff., 63, 114 ff., 194, 276 ff. Poll tax 46 Primäres Unionsrecht 245 ff. Progressionsmodelle 55 ff. Progressiver Einkommensteuersatz / -tarif 22, 57, 100, 118 Quotenregelungen 185 ff., 263 Rechtliche Gleichheit 141, 167 ff., 172 Regressionsmodelle 44 ff. Sekundäres Unionsrecht 242 ff. Selektivität 256 f. Sozialzwecknormen 157 ff., 212 Steuerbenachteiligungen 161 f.
Sachverzeichnis Steuererfindungsrecht 274 f. Steuergerechtigkeit – Begriff 66 f., 71 f., – Horizontale Steuergerechtigkeit 67 – Vertikale Steuergerechtigkeit 67, 85 ff., 112 Steuergesetzgebungskompetenz – bei Lenkungsnormen 270 f. – bei Umverteilungsnormen 272 f. – Europarechtlicher Kontext 267 f. Steuerliches Existenzminimum 74 ff. Steuervergünstigungen 160 f.
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Subjektives Nettoprinzip 67 ff. Tagging 17, 25 ff. Umverteilungsnormen 158 f., 163 f., 179, 225 f., 272 f. Vereinfachungszwecknormen 159 f. Vertikale Steuergerechtigkeit 67, 85 f., 87 ff. Willkürverbot 143 f. Wohlfahrt 19 ff., 29 ff.