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German Pages 500 Year 2002
EDGAR RÖCKL
Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungs- und Europarechts
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 875
Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungsund Europarechts Eine kritische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Wertungsdivergenzen zwischen Steuer- und Steuerstrafrecht als Verfassungsproblem, der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern sowie der verfassungs- und europarechtlichen Grenzen der Steuerfahndung bei Banken
Von Edgar Röckl
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Röckl, Edgar:
Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungsund Europarechts : eine kritische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Wertungsdivergenzen zwischen Steuer- und Steuerstrafrecht als Verfassungsproblem, der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern sowie der verfassungs- und europarechtlichen Grenzen der Steuerfahndung bei Banken / Edgar Röckl. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 875) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10526-5
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10526-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Die Arbeit lag der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth im Sommersemester 2000 als juristische Dissertation vor. Für die vorliegende Fassung wurden Schrifttum und Rechtsprechung zu allen wesentlichen Fragen bis zum Stand 2001 nachgetragen. Mein besonderer Dank gilt für die Betreuung der Promotion meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Häberle, Bayreuth/St. Gallen, der mir bei Auswahl und Zuschnitt des Themas freie Hand gelassen und somit eine Themenstellung im Schnittfeld von Steuerrecht, Steuerverfassungsrecht und Steuerstrafrecht ermöglicht hat. Die wissenschaftliche Methodik seines Bayreuther Seminars, an dem ich über mehrere Jahre hinweg teilnehmen durfte, hat die Arbeit nachhaltig geprägt. Der unermüdliche Einsatz meines Lehrers für die Wissenschaft war mir dabei stets Vorbild. Auf seine Förderung ist es zurückzuführen, daß ich neben meiner praktischen Tätigkeit als Fachanwalt für Steuerrecht gleichzeitig die Entwicklungen der Wissenschaft verfolgen konnte. Für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens und dessen zügige Erstellung danke ich ganz besonders Herrn Prof. Dr. Karl-Georg Loritz, der die Arbeit wohlwollend durchsah. Er lieferte aus der Sicht des Steuerrechts wertvolle wissenschaftliche Anregungen. Schließlich fanden die konstruktiven steuerstrafrechtlichen Anmerkungen von Herrn Prof. Dr. Gerhard Dannecker aus dem Blickwinkel der Strafrechtswissenschaft noch Eingang in die Arbeit. Meiner Frau Birgit habe ich für die Korrektur des Manuskripts sowie für viel Verständnis und Geduld bis zum Abschluß des Werkes zu danken. Sie hat die Mühen und Entbehrungen meiner wissenschaftlichen Arbeit bis zuletzt durchgestanden. Für die erwiesene Unterstützung meiner Eltern schulde ich ihnen Dank. Nürnberg, Juni 2001
Edgar Röckl
Inhaltsübersicht Erstes Kapitel Einleitung
31
§ 1 Einführung in die Thematik
31
§ 2 Methodische Vorbemerkungen
32
§ 3 Eingrenzung
34
§ 4 Weiterer Gang der Untersuchung
38
§ 5 Exkurs: Zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht
41
Zweites Kapitel Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
44
§ 1 Steuerstaat und Leistungsstaat: eine Bestandsaufnahme
44
§ 2 Ethisches Fundament des Steuerrechts
46
A. Bedeutung der Philosophie Kants
46
B. Bedeutung von Steuerrechtfertigungslehren
50
§ 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral
54
A. Steuermoral
54
B. Besteuerungsmoral
59
§4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz
65
§ 5 Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht
73
8
Inhaltsübersicht Drittes Kapitel Geschichtliche Annäherung als Rechtsvergleichung in der Zeit
79
§ 1 Erste Ansätze
79
§ 2 Entwicklung des Steuerwesens und der Steuerstrafen ab dem Mittelalter
80
§ 3 Ausprägung in der Neuzeit
81
§4 Abschließende Bemerkung
91
Viertes Kapitel Die verfassungsrechtliche Dimension
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere
92
accusare )"
92
A. Kritische Bestandsaufnahme
92
B. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
95
C. Analyse und Kritik bezüglich einer Selbstanzeigemöglichkeit
99
D. Stellungnahme zur dogmatischen Einordnung und praktische Umsetzung des gefundenen Standpunktes 102 E. Lösungsüberlegungen
129
F. Zwischenergebnis
131
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt A. Begriffsbestimmung B. Der Bestimmtheitsgrundsatz („nullum crimen sine lege certa") C. Gesetzlichkeit der Straftat und Analogieverbot („nullum crimen sine lege strida ") D. Das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege praevia") E. Ergebnis und Ausblick
132 132 133
226 290 298
Inhaltsübersicht § 3 Der Grundsatz des „in dubio pro reo" im Steuerstrafrecht
300
A. Vorbemerkungen
300
B. Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht
301
C. Schätzung im Steuerrecht und strafrechtliche Wahrheitsfindung
309
D. Gesteigerte Nachweispflichten bei Auslandsbeziehungen nach § 90 Abs. 2 AO
316
§ 4 Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem 317 A. Problementfaltung
317
B. Inkurs: „ iura novit curia " - Der (Straf-) Richter kennt das (Steuer-) Recht? ... 318 C. Standpunkt der Verfassungsrechtsprechung und die Befürworter einer Vorfragenkompetenz im Schrifttum
322
D. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
325
E. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
325
F. Die Gegenposition von Teilen der Literatur {Paul Kirchhof,
Josef Isensee u. a.)
G. Die Position von Peter Lerche H. Stellungnahme
§ 5 Gesetzliche Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruches
330 331
340
A. Vorbemerkung
340
B. Die strafbefreiende Selbstanzeige
340
C. Die Steueramnestie
350
D. Der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht als Verfassungsproblem
357
§ 6 Steuerfahndung bei Banken und das Bankgeheimnis als Verfassungsproblem . 361 A. Problementfaltung
326
361
10
Inhaltsübersicht Β. Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte 364 C. Verfassungsrechtliche Probleme der Bankenfahndung
369
D. Die Kontroverse beim Bundesfinanzhof
379
E. Abschließende Würdigung und weiterführende Gedanken
382
Fünftes Kapitel Rechtsvergleichung im Raum
385
§ 1 Vorbemerkungen
385
§ 2 Untersuchung anderer Rechtssysteme
386
A. Österreich
386
B. Schweiz
395
C. Frankreich
404
D. Angelsächsischer Rechtskreis
408
Sechstes Kapitel Die europäische Dimension § 1 Einfluß des europäischen Steuerrechts auf nationales Steuerstrafrecht
418 418
A. Verfahrensrechtliche Garantien nach der Europäischen Menschenrechtskonvention 418 B. Ansätze eines europäischen Strafrechts
424
C. Steuerstrafrechtliche Ermittlungen bei Bankentransaktionen und die Kapitalverkehrsfreiheit der Art. 58 ff. EGV 432 § 2 Der Schutz gemeinschaftlicher Finanzinteressen durch das nationale Steuerstrafrecht nach § 370 Abs. 7 AO 437 § 3 Ergebnis
439
Inhaltsübersicht
11
Siebentes Kapitel Schlußbetrachtung und Zusammenfassung
440
Literaturverzeichnis
447
Sachregister
493
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Einleitung
31
§ 1 Einführung in die Thematik
31
§ 2 Methodische Vorbemerkungen
32
§ 3 Eingrenzung
34
§ 4 Weiterer Gang der Untersuchung
38
§ 5 Exkurs: Zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht
41
Zweites Kapitel Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
44
§ 1 Steuerstaat und Leistungsstaat: eine Bestandsaufnahme
44
§ 2 Ethisches Fundament des Steuerrechts
46
A. Bedeutung der Philosophie Kants
46
B. Bedeutung von Steuerrechtfertigungslehren
50
I. Der Einfluß der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (Rousseau) II. Weitere Ansätze § 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral
50 53 54
A. Steuermoral
54
B. Besteuerungsmoral
59
nsverzeichnis § 4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz
65
§ 5 Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht
73
Drittes Kapitel Geschichtliche Annäherung als Rechtsvergleichung in der Zeit
79
§ 1 Erste Ansätze
79
§ 2 Entwicklung des Steuerwesens und der Steuerstrafen ab dem Mittelalter
80
§3 Ausprägung in der Neuzeit
81
§ 4 Abschließende Bemerkung
91
Viertes Kapitel Die verfassungsrechtliche Dimension
92
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere (accusare)"
92
Α. Kritische Bestandsaufnahme
92
B. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
95
C. Analyse und Kritik bezüglich einer Selbstanzeigemöglichkeit
99
D. Stellungnahme zur dogmatischen Einordnung und praktische Umsetzung des gefundenen Standpunktes 102 I. Verfassungsrechtliche Lokalisierung des „nemo tenetur"-Grundsatzes
...
102
1. Der Menschenwürde-Ansatz
102
2. Die Gewissensfreiheit
107
3. Anspruch auf rechtliches Gehör
108
4. Das Recht auf ein faires Verfahren
109
5. Recht auf wirksame Verteidigung und auf Waffengleichheit
111
6. Die Unschuldsvermutung
112
nsverzeichnis II. Stellungnahme
15 114
III. Reichweite des „nemo tenetur "-Grundsatzes, ein Recht zum Leugnen? .. 115 IV. Die Regeln- und Prinzipientheorie (Alexy) und der „nemo-tenetur"Grundsatz
116
1. Das Regeln- und Prinzipien-Denken
116
2. Fortentwicklung für den „nemo-tenetur"-Grundsatz
117
V. Einfachgesetzliche Umsetzung in § 393 AO
119
1. Zulässige Alternativen und Strukturen der bestehenden Regelung
119
2. Bewertung der gegenwärtigen Regelung in der Literatur
122
3. Fernwirkung des Beweisverbotes nach § 393 Abs. 2 AO
124
VI. Gefahr der Schätzung nach § 162 AO und Präklusion gemäß § 364 b AO und §§ 79 b Abs. 3, 76 Abs. 3 FGO VII. Verfassungskonforme Ergänzung des § 393 Abs. 1 AO
124 128
E. Lösungsüberlegungen
129
F. Zwischenergebnis
131
§2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt A. Begriffsbestimmung B. Der Bestimmtheitsgrundsatz („nullum crimen sine lege certa")
132 132 133
I. Blankettcharakter des Steuerhinterziehungstatbestandes als Ausgangspunkt 133 II. Der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz des Steuerrechts III. Der spezielle Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG im Strafrecht
136 138
1. Vorbemerkungen
138
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
143
a) Die Entscheidung BVerfGE 37, 201 ff. vom 08. 05. 1974
144
b) Die Entscheidung BVerfGE 71, 206 ff. vom 03. 12. 1985
149
c) Der Nichtannahmebeschluß vom 15. 10. 1990 (Parteispendenverfahren)
149
d) Der Nichtannahmebeschluß vom 23. 06. 1994 (Fall „Zwick") ....
150
e) Kritische Auseinandersetzung
150
nsverzeichnis 3. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
152
4. Meinungsstand in der Literatur
153
5. Inkurs: Besondere Verfassungsfragen hinsichtlich des vorgelagerten Rechts 156 a) Finanzmeinungen als Bestimmungsfaktor
156
aa) Verwaltungsvorschriften, insbesondere Steuerrichtlinien als vorgelagerte Normen als Gesetz im materiellen Sinne 156 bb) Steuerverkürzung bei Abweichung von der Finanzmeinung... 159 (1) Bestandsaufnahme
159
(2) Anerkannte Bindungen an höchstrichterliche Entscheidungen 160 (3) Die Befürworter einer Bindung
161
(4) Die Gegner einer Bindung
161
(5) Vergleich mit einer Bindung an höchstrichterliche Finanzrechtsprechung
162
(6) Stellungnahme
163
b) Gesetzesbestimmtheit und steuerlicher Typusbegriff
165
c) Das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 S. 3 AO
168
d) Gesetzesbestimmtheit und steuerliche Wahlrechte
170
aa) Sogenannte „Dummensteuern" als Verfassungsproblem
170
bb) Steuerorientierte Sachverhaltsgestaltungen gegen sogenannte „Dummensteuern" 174 cc) Steuerliche Wahlrechte als Verfassungsproblem
176
(1) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Wahlrechten im Steuerrecht 176 (2) Rechtswahlmöglichkeiten im Steuerstrafrecht als Bestimmtheitsverstoß nach Art. 103 Abs. 2 GG 179 e) Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht
182
aa) Das geschützte Rechtsgut als Einstieg
182
bb) Unvereinbarkeitsentscheidungen im Steuerrecht als Auslöser
186
cc) Problemaufriß anhand kritischer Stimmen der Literatur
187
(1) Die These von der fehlenden Strafwürdigkeit
187
(a) Bei mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Steuergesetzen 187 (b) Bei „ungerechten" Steuertatbeständen
191
(2) Die These von der fehlenden Bestimmtheit i. S. v. Art. 103 Abs. 2, 104 GG
193
(3) Die These von der Anwendbarkeit eines lex mitior
195
nsverzeichnis
17
dd) Gegenauffassung in der Literatur
197
ee) Judikatur der Strafgerichte
200
ff) Judikatur der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofes
202
gg) Die Auffassung der Finanzverwaltung
204
hh) Eigener Ansatz
206
(1) Zur „Ungerechtigkeit" steuerlicher Normen unter Berücksichtigung der Radbruchschen Formel 206 (a) Rechtsphilosophischer Ansatz zur Lösung der Spannung zwischen Gerechtigkeit und positivem Recht .. 206 (b) Differenzierung nach Fallgruppen der Unvereinbarkeitsentscheidungen 209 (c) Analyse bisheriger steuerverfassungsrechtlicher Unvereinbarkeitsentscheidungen 212 (d) Folgerungen für die Strafwürdigkeit bei gleichheitswidrigen Steuern 220 (e) Folgerungen für die Strafwürdigkeit bei gegen Freiheitsrechte verstoßenden Steuern 221 (2) Die Strafbarkeit trotz BestimmtheitsVerstoßes i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG
221
(3) Intertemporales Strafrecht und Art. 103 Abs. 2 GG
223
ii) Schlußfolgerung IV. Zwischenergebnis Gesetzlichkeit der Straftat und Analogieverbot („nullum crimen sine lege stricta") I. Vorbemerkung II. Tatbestandsmäßigkeit und Analogieverbot im Steuerrecht
225 226
226 226 227
1. Verfassungsrechtliche Vorgaben und Stand der Diskussion
227
2. Rechtsprechungstendenzen
229
a) Die ältere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
229
b) Die neuere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
230
c) Die Strafgerichtsbarkeit
231
d) Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes
231
3. Inkurs: Verfassungsrechtliche Verankerung eines „nullum tributum sine lege "
232
a) Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 2 GG ... 232 b) Die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG
233
nsverzeichnis c) Die ökonomische Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG d) Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG
234 235
4. Stand der Lehre und die Ableitung aus der Bestimmung des Art. 103 Abs. 2 GG 236 a) Die zwei widerstreitenden Positionen in der Literatur
236
b) Der Analogieschluß aus Art. 103 Abs. 2 GG für das Steuerrecht .. 238 c) Stellungnahme
243
III. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise und das verfassungsrechtliche Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast 245 1. Begriff und Inhalt
245
2. Die Anerkennung durch das Bundesverfassungsgericht
247
3. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
249
4. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
251
5. Die Auffassungen in der Lehre
252
6. Stellungnahme
257
IV. Exkurs: Die tatsächliche Betrachtungsweise
258
1. Begriff und Inhalt
258
2. Strafrechtliche Bedeutung am Beispiel des faktischen Geschäftsführers
258
V. Der Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO als wichtigster normierter Fall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise 261 1. Verfassungsrechtsprechung
263
2. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
264
3. Die Rechtsprechung der Strafgerichte
267
a) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts
267
b) BGH-Urteil vom 27. 01. 1982
268
c) BGH-Urteil vom 24. 08. 1983
269
d) BGH-Urteil vom 28. 01. 1987 (;„Reemtsma")
269
e) BGH-Urteil vom 30. 05. 1990
269
f) Rechtsprechung einzelner Strafgerichte
270
g) Vergleich mit der Rechtsprechung im Subventionsrecht
273
4. Literaturmeinungen a) Begriff der Angemessenheit
273 273
Inhaltsverzeichnis
19
b) Rechtsnatur des § 42 AO
274
c) Konsequenzen für das Steuerstrafrecht
277
aa) Anwendbarkeit des § 42 AO im Steuerstrafrecht
277
bb) Abgrenzung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung . 278 5. Stellungnahme VI. Spezielle Umgehungsklauseln am Beispiel des § 1 Abs. 2 a GrEStG VII. Zwischenergebnis D. Das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege praevia") I. Vorbemerkungen
280 287 289 290 290
II. Neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung im Steuerrecht 290 III. Zwischenergebnis E. Ergebnis und Ausblick § 3 Der Grundsatz des „in dubio pro reo" im Steuerstrafrecht
297 298 300
A. Vorbemerkungen
300
B. Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht
301
I. Begriff und dogmatischer Standort II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
301 303
III. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
304
IV. Meinungsstand der Literatur
305
V. Kritische Analyse und Übertragung auf das Steuerstrafrecht C. Schätzung im Steuerrecht und strafrechtliche Wahrheitsfindung I. Problemstellung II. Steuerrechtliche Vorfragen III. Stellungnahme D. Gesteigerte Nachweispflichten bei Auslandsbeziehungen nach § 90 Abs. 2 AO
307 309 309 313 314 316
§ 4 Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem 317 A. Problementfaltung
317
B. Inkurs: „ iura novit curia " - Der (Straf-) Richter kennt das (Steuer-) Recht? ... 318 2*
nsverzeichnis C. Standpunkt der Verfassungsrechtsprechung und die Befürworter einer Vorfragenkompetenz im Schrifttum
322
D. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
325
E. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
325
F. Die Gegenposition von Teilen der Literatur {Paul Kirchhof,
Josef Isensee u. a.)
G. Die Position von Peter Lerche H. Stellungnahme § 5 Gesetzliche Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruches
326
330 331 340
A. Vorbemerkung
340
B. Die strafbefreiende Selbstanzeige
340
I. Verfassungsmäßigkeit des § 371 AO
340
II. Verfassungsmäßigkeit der Handhabung der Vorschrift des § 371 AO bei Nichterfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen 348 III. Stellungnahme
349
C. Die Steueramnestie
350
D. Der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht als Verfassungsproblem
357
§ 6 Steuerfahndung bei Banken und das Bankgeheimnis als Verfassungsproblem . 361 A. Problementfaltung
361
B. Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte 364 I. Das Zinsurteil vom 27. 06. 1991 II. Stellungnahme C. Verfassungsrechtliche Probleme der Bankenfahndung
364 366 369
I. Der „Dresdner-Bank Γ-Beschluß vom 23. 03. 1994
369
II. Der „Dresdner-Bank ΙΓ-Beschluß vom 13. 12. 1994
371
III. Der Standpunkt der Literatur 1. Die Kritik von Hans-Jürgen Papier und Andreas Dengler
371 372
2. Die Kritik von Walter Leisner
375
3. Die Zustimmung von Otfried Ranft
376
nsverzeichnis IV. Stellungnahme
21 377
D. Die Kontroverse beim Bundesfinanzhof I. Vorbemerkungen
379 379
II. Judikatur des VIII. Senats
379
III. Judikatur des VII. Senats
380
IV. Reaktion des Schrifttums
381
V. Stellungnahme
381
E. Abschließende Würdigung und weiterführende Gedanken
382
Fünftes Kapitel Rechtsvergleichung im Raum
385
§ 1 Vorbemerkungen
385
§ 2 Untersuchung anderer Rechtssysteme
386
A. Osterreich
386
B. Schweiz
395
C. Frankreich
404
D. Angelsächsischer Rechtskreis
408
Sechstes Kapitel Die europäische Dimension § 1 Einfluß des europäischen Steuerrechts auf nationales Steuerstrafrecht
418 418
A. Verfahrensrechtliche Garantien nach der Europäischen Menschenrechtskonvention 418 I. Die Bedeutung für das Steuerrecht allgemein II. The right to remain silent III. Nulla poena sine lege B. Ansätze eines europäischen Strafrechts
418 420 424 424
nsverzeichnis I. De lege lata: Fehlende Kompetenzen
424
1. Keine Kompetenz zu eigenem Kriminalstrafrecht
424
2. Keine Kompetenz zu eigenem Besteuerungsrecht
426
II. Der bestehende Einfluß auf nationales Blankettstrafrecht
427
III. Steuerumgehung und Steuerhinterziehung
429
IV. Aussetzung des Strafverfahrens: § 396 AO oder Art. 234 Abs. 3 EGV? .. 430 V. De lege ferenda: Europäisches Steuerstrafrecht?
431
C. Steuerstrafrechtliche Ermittlungen bei Bankentransaktionen und die Kapitalverkehrsfreiheit der Art. 58 ff. EGV 432 I. Der Standpunkt von Georg Ress und Jörg Ukrow u. a II. Kritische Stellungnahme
432 434
§ 2 Der Schutz gemeinschaftlicher Finanzinteressen durch das nationale Steuerstraf437 recht nach § 370 Abs. 7 AO § 3 Ergebnis
439
Siebentes Kapitel Schlußbetrachtung und Zusammenfassung
440
Literaturverzeichnis
447
Sachregister
493
Abkürzungsverzeichnis a. E.
am Ende
a. F.
alte Fassung
a. Α.
anderer Ansicht
a. a. Ο.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
abw.
abweichend
AcP
Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift)
AG
Amtsgericht
AktStR
Aktuelles Steuerrecht (Zeitschrift)
Alt.
Alternative
Anm.
Anmerkung
AO
Abgabenordnung
AöR
Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift)
Art.
Artikel
ASA
Archiv für Schweizerisches Abgaberecht / Archiv de droit fiscal suisse
AStG
Außensteuergesetz
Aufl.
Auflage
(Zeitschrift)
AWD
Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift)
Az.
Aktenzeichen
BAO
Bundesabgabenordnung (der Republik Österreich)
BauGB
Baugesetzbuch
BayVBl
Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift)
BayVerf
Verfassung des Freistaates Bayern
BayVerfGH
Bayerischer Verfassungsgerichtshof
BB
Der Betriebs - Berater (Zeitschrift)
Bd. BdBSt
Band Bundesratsbeschluss über die Erhebung einer direkten Bundessteuer (Schweiz)
Bearb., bearb.
Bearbeiter, bearbeitet
begr.
begründet (von Autor)
Beschl.
Beschluß
BFH
Bundesfinanzhof
BFH/NV
Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofes
BFHE
amtliche Entscheidungssammlung des Bundesfinanzhofes
24
Abkürzungs Verzeichnis
BG
Schweizerisches Bundesgericht
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl. I
Bundesgesetzblatt Teil I, zitiert nach Jahr und Seite
BGE
amtliche Entscheidungssammlung des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
BGH BGHSt BGHZ
amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BMF
Bundesminister (- ium) für Finanzen
BR-Drs.
Bundesrats-Drucksache
BStBl
Bundessteuerblatt, zitiert nach Teil I und II
BT-Drs.
Bundestags-Drucksache
Buchst.
Buchstabe
BuW
Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift)
BV
Schweizer Bundesverfassung
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichtes
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
B-VG
Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich
bzw.
beziehungsweise
CGI
Code général des impôts
CpD
Conto pro Diverse
CTS
Corporate Tax Shelters
d. h.
das heißt
DB
Der Betrieb (Zeitschrift)
ders.
derselbe (Autor)
dies.
dieselbe (Autorin), dieselben (Autoren)
Diss.
Dissertation
DÖV
Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)
DStJG
Deutsche Steueijuristische Gesellschaft (Jahrbuch)
DStR
Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift)
DStRE
DStR Entscheidungsdienst (Zeitschrift)
DStZ
Deutsche Steuer-Zeitung (Zeitschrift)
DStZA
Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A (Zeitschrift)
DVB1
Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)
e. V.
eingetragener Verein
EAO
Entwurf der Abgabenordnung 1977
EFG
Entscheidungen der Finanzgerichte (Entscheidungssammlung)
EG
Europäische Gemeinschaften
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Egrd.
Entscheidungsgrund
Abkürzungsverzeichnis EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
Einl.
Einleitung
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
ErbStG
Erbschaftssteuergesetz
Erk.
Erkenntnis
Erl.
Erlaß
Erw.
Erwägung
EStG
Einkommenssteuergesetz
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift (Zeitschrift)
f.
folgend (bei Zahlenangaben), für
ff.
fortfolgend
FG
Finanzgericht (bei Entscheidungen), Festgabe
FGO
Finanzgerichtsordnung
FinMin.
Finanzministerium
FinStrG
(österreichisches) Finanzstrafgesetz
FJ
Finanz Journal (Zeitschrift)
Fn.
Fußnote
FördgebG
Fördergebietsgesetz
fortgef.
fortgeführt
FR
Finanz-Rundschau (Zeitschrift)
FS
Festschrift
GA
Goltdammer's Archiv für Strafrecht (Zeitschrift)
GG
Grundgesetz
GmbH
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
GmbH & Co KG
Kommanditgesellschaft mit GmbH als Komplementärin
GmbHG
Gesetz betreffend die GmbH
GmbHR
GmbH-Rundschau (Zeitschrift)
GOBT
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
GrEStG
Grunderwerbsteuergesetz
GrS
Großer Senat
Habil.
Habilitationsschrift
HansOLG
Hanseatisches Oberlandesgericht
HbFW
Handwörterbuch der Finanzwissenschaft
Hdb.
Handbuch
HFR
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung (Entscheidungssammlung)
HRG
Handwörterbuch der Rechtsgeschichte
hrsg.
herausgegeben
Hrsg.
Herausgeber
i. e. S.
im engeren Sinne
i. S. v.
im Sinne von
25
Abkürzungserzeichnis
26 i. w. S.
im weiteren Sinne
i. d. F.
in der Fassung
i. V. m.
in Verbindung mit
IFA
International Fiscal Association
INF
Die Information über Steuern und Wirtschaft (Zeitschrift)
insbes.
insbesondere
intertax
International Taxation (Zeitschrift)
IntKommEMRK
Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention
IPBPR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IRC
Internal Revenue Code
1RS
Internal Revenue Service
IStR
Internationales Steuerrecht (Zeitschrift)
IWB
Internationale Wirtschaftsbriefe (Zeitschrift), zitiert nach Fach und Seite
JA
Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift)
JB1
Juristische Blätter
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, (Zeitschrift)
JOSchG
Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit
JR
Juristische Rundschau (Zeitschrift)
JStG
Jahressteuergesetz
jur.
juristisch
Jura
Juristische Ausbildung (Zeitschrift)
JuS
Juristische Schulung (Zeitschrift)
JW
Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
JZ
Juristenzeitung (Zeitschrift)
Kap.
Kapitel
KÖSDI
Kölner Steuerdialog (Zeitschrift)
KrimSchrR
Kriminalschriftenreihe
krit.
kritisch
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
KStG
Körperschaftssteuergesetz
KStZ
Kommunale Steuerzeitschrift (Zeitschrift)
LAO
Luxemburgische Abgabenordnung
LG
Landgericht
lit.
litera
Losebl.
Loseblattausgabe
LSW
Lexikon des Steuer- und Wirtschaftsrechts
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
MDR
Monatsschrift für deutsches Recht (Zeitschrift)
η. v.
nicht veröffentlicht
Abkürzungsverzeichnis NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (Zeitschrift)
NStZ-RR
NStZ Rechtsprechungsreport (Zeitschrift)
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift)
NWB
Neue Wirtschaft-Briefe (Zeitschrift), zitiert nach Fach und Seite
NWB-EN
NWB-Eilnachrichten (zitiert nach Fach und Seite)
ο. V.
ohne Verfasser
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development
OFD
Oberfinanzdirektion
OGH
Oberster Gerichtshof (Österreich)
OLG
Oberlandesgericht
ÖStZ
Österreichische Steuerzeitung (Zeitschrift)
OWiG
Ordnungswidrigkeitengesetz
PartG
Parteiengesetz
RAO
Reichsabgabenordnung
Rdvfg.
Rundverfügung
RFH
Reichsfinanzhof
RFHE
amtliche Entscheidungssammlung des Reichsfinanzhofes
RFM
Reichsfinanzminister(-ium)
RG
Reichsgericht
RGBl
Reichsgesetzblatt
RGSt
amtliche Sammlung des Reichsgerichts in Strafsachen
RGZ RIW rkr. Rn. Rs. Rspr. RStBl
amtliche Sammlung des Reichsgericht in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) rechtskräftig Randnummer Rechtssache Rechtsprechungssammlung des Europäischen Gerichtshofes Reichssteuerblatt
Rz.
Randziffer
S.
Seite, Satz (bei Paragraphenangaben)
Slg. sog.
Sammlung sogenannte (-r)
Sp.
Spalte
ST
Der Schweizer Treuhänder (Zeitschrift)
st. Rspr.
ständige Rechtsprechung
StAnpG
Steueranpassungsgesetz
StB
Der Steuerberater (Zeitschrift)
Stbg
Die Steuerberatung (Zeitschrift)
StBJb
Steuerberater Jahrbuch (Zeitschrift)
StBK
Steuerberater Kammermitteilungen (Zeitschrift)
StBp
Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift)
27
28
Abkürzungserzeichnis
StEK
Steuererlasse in Karteiform
SteuerStud
Steuer & Studium (Zeitschrift)
StGB
Strafgesetzbuch
StKongRep
Steuerberaterkongreß-Report (Zeitschrift)
StPO
Strafprozeßordnung
str.
strittig
StraFo
Strafverteidiger Forum (Zeitschrift)
StRK
Steuerrechtsprechung in Karteiform
StuW
Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)
StV
Strafverteidiger (Zeitschrift)
StVj
Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift)
StWa
Steuer-Warte (Zeitschrift)
SubvG
Subventionsgesetz
SWI
Steuern & Wirtschaft International (Zeitschrift)
Tz.
Textziffer
u. a.
und andere, unter anderem
UR
Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift)
Urt.
Urteil
UStG
Umsatzsteuergesetz
UStR
Umsatzsteuerrichtlinien
v.
von, versus (bei Entscheidungen)
verb.
verbunden (bei Entscheidungen)
Vfg.
Verfügung
VfGH
Österreichischer Verfassungsgerichtshof
VfSlg.
Sammlung der Entscheidungen des Österreichischen VfGH
vgl.
vergleiche
VStG
Vermögenssteuergesetz
VStR
Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht (Schweiz)
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
VwGH
Verwaltungsgerichtshof (Österreich)
WB1
Wirtschaftsrechtliche Blätter (Zeitschrift)
WIB
Wirtschaftsrechtliche Beratung (Zeitschrift)
WiSt
Wirtschaftswissenschaftliches Studium (Zeitschrift)
wistra
Zeitschrift für Wirtschaft, Steuern und Strafrecht (Zeitschrift)
WM
Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift)
Wpg
Die Wirtschaftsprüfung (Zeitschrift)
WpHG
Wertpapierhandelsgesetz
ζ. B.
zum Beispiel
ZAP
Zeitschrift für die Anwaltspraxis (Zeitschrift)
ZfIR
Zeitschrift für Immobilienrecht (Zeitschrift)
ZfZ
Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern (Zeitschrift)
zit.
zitiert
Abkürzungsverzeichnis ZP
Zusatzprotokoll
ZPO
Zivilprozeßordnung
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik (Zeitschrift)
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Zeitschrift)
zugl.
zugleich
zust.
zustimmend
29
„utque antehac flagitiis it tunc legibus laborabatur". 1 Tacitus , Publius Cornelius Annalen, 3, 25
Erstes Kapitel
Einleitung § 1 Einführung in die Thematik Der gegenwärtige Zustand im Steuerstrafrecht läßt sich am besten wie folgt beschreiben: Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht erneut Personen des öffentlichen Lebens, seien es Politiker, namhafte Geschäftsleute, Künstler oder Sportler, der Steuerhinterziehung verdächtigt werden. Da diesem Personenkreis eine nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion zukommt, wird das Vertrauen der Öffentlichkeit immer wieder aufs neue erschüttert. In mehreren dieser Fälle entsteht der Eindruck in der Öffentlichkeit, als ob die Finanzverwaltung diesen Personen des öffentlichen Lebens eine bevorzugte Behandlung angedeihen läßt. Solche unglücklichen Verquickungen wurden in BadenWürttemberg für den Fall Peter Graf, in Bayern für den Fall Johannes Zwick nachgesagt. Ob dies im Einzelfall zutraf, mag dahinstehen. Bereits der Anschein ist für die Akzeptanz des Steuersystems durch die breite Öffentlichkeit schädlich. Ganz allgemein ist die Haltung der Finanzverwaltung als bestimmender Faktor eines glaubwürdigen Steuerrechts und seines praktischen Vollzugs nicht zu unterschätzen. Es prägt sich das Bild eines Finanzbeamten, der beim Lohnsteuerpflichtigen jeden Werbungskostenbeleg und jede Spendenquittung abhakt, beim Unternehmer hingegen ungeprüft dessen Steuererklärungen veranlagt, ohne daß in ausreichenden Zeitabständen eine Betriebsprüfung durchgeführt würde. Daß kleine und mittlere Betriebe nur nach vielen Jahren wieder mit einer Außenprüfung rechnen müssen, ist bekannt. Ein solches Zweiklassensteuerrecht ist politisch gewünscht. Es entspricht der Förderung der ansässigen Wirtschaft. Personelle Unterbesetzungen und fehlende Zuweisungen an Sachmitteln durch die Ministerien sind auf höchster Ebene entschieden.
1
„Früher litten wir unter Verbrechen, heute leiden wir unter Gesetzen".
32
1. Kap.: Einleitung
Aus der Tagespresse erfahren wir ferner, welche uns als seriös bekannte Bank an diesem Tage Besuch durch die Steuerfahndung erhalten hat. Alle namhaften Institute waren schon betroffen. Die Vorstandsetagen hingegen halten ihre Branche für „stigmatisiert". Angesehenen Wochenzeitschriften 2 entnehmen wir alles über Finanzen, Steuerflucht und Steueroasen. Von Andorra bis zur Schweiz ist ersichtlich, wie gut das Bankgeheimnis ist und wo Kontrollmitteilungen zu befürchten sind. Neuere Entwicklungen in der Steuerveranlagung lassen vermuten, daß jedoch auch im Bereich der Arbeitnehmerveranlagungen Steuerhinterziehungen zunehmen. Aus den Erfahrungen der USA ist zu befürchten, daß die dort seit einiger Zeit eingeräumte Möglichkeit, Steuererklärungen per Computer einzureichen, auch hierzulande zu einem Ansteigen von Steuerdelikten führen könnte, weil die Kontrolle der elektronischen Weiterverarbeitung erschwert ist.
§ 2 Methodische Vorbemerkungen Die wissenschaftliche Durchdringung des Spezialgebietes des Steuerstrafrechts in der vorhandenen Literatur und Rechtsprechung ist trotz verschiedentlicher Aufrufe, 3 über wenige grundlegende Arbeiten hinaus nicht gewährleistet, weite Forschungsfelder sind offen geblieben oder noch nicht abschließend geklärt. Verfassungsrechtliche Fragen werden häufig nur am Rande gestreift oder nicht zusammenhängend und geschlossen dargestellt.4 Eine Erörterung des europäischen Steuerrechts und seiner Auswirkungen auf das deutsche Steuerstrafrecht fehlen völlig. Es gilt hier eine Brücke zwischen den betroffenen Bereichen zu schlagen. Die Schnittstellen zwischen benachbarten Rechtsgebieten stellen besondere Anforderungen an denjenigen, der sie untersuchen will. Sie verlangen ein geschicktes Abwägen zwischen den verschiedenen, häufig sogar gegenläufigen Wertungsaspekten. Dies ist nur mit einem gewissen Gespür für die dogmatischen Eigenheiten der angrenzenden Rechtsgebiete zu bewerkstelligen. Die dabei unweigerlich auftretenden Spannungen sollen in der vorliegenden Arbeit zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. Man wirft dem „Zwitter" des Steuerstrafrechts, welches historisch als Appendix des Steuerrechts entstanden ist und von einer „steuerrechtlichen Denkweise" ge2
Ο. V., Steueroasen - die Paradiese unter die Lupe genommen, FOCUS ν. 22. 06. 1997. Rengier, Rudolf, Aushöhlung der Schweigebefugnis des auch steuerlich belangten Beschuldigten durch „nachteilige" Schätzungen?, BB 1985, 720, 720. Seckel, Carola, Die Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977), S. 37. 4 Dies gilt auch für die Schweiz: Behnisch, Urs, Das Steuerstrafrecht im Recht der direkten Bundessteuer, S. VII führt dies darauf zurück, daß die staatsrechtliche Bedeutung des Steuerstrafrechts verkannt wurde. 3
§ 2 Methodische Vorbemerkungen
33
prägt ist,5 seiner Rechtsnatur nach aber auf dem Schuldprinzip gründendes Strafrecht darstellt, eine „Zwei-Reiche-Lehre" vor, in der materielles Steuerrecht und Strafrecht nicht integriert sind.6 Einerseits ist es unter den Begriff des „Strafrechts" i. S. d. Art. 74 Nr. 1 GG zu subsumieren, nicht hingegen unter das „Steuerrecht" i. S. d. Art. 105 GG,7 andererseits ist das Steuerstrafrecht aufgrund seiner Verweisung auf das Steuerrecht „der Büttel des Steuerschuldrechts, nicht sein Herr". 8 In der Abgabenordnung findet dies darin seinen Ausdruck, daß den Steuergesetzen der Vorrang vor den Vorschriften des Verfahrensrechts gebührt.9 Der Steuerstraftäter genießt ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf eine effektive Verteidigung und Waffengleichheit gegenüber der Anklagebehörde. Die Verfassung trifft keine Aussage über die mit der Verteidigung betrauten Personen. Auch der einfache Gesetzgeber hat sich nicht festgelegt, welche Personengruppe Steuerstrafverteidigung ausüben darf. Nach §§ 138 Abs. 1 StPO, 392 Abs. 1 AO können sowohl (juristisch vorgebildete) Rechtsanwälte und Hochschullehrer wie auch die (zumeist betriebswirtschaftlich vorgebildeten) Angehörigen der steuerberatenden Berufe, also Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer und Steuerbevollmächtigte die Steuerstrafverteidigung wahrnehmen. Die Wissenschaft hat diese Praxis weitgehend gebilligt. 10 Sie ist historisch bedingt11 und zwischenzeitlich verfestigt. Auf der anderen Seite sind in den Bußgeld- und Straf sachensteilen der Finanzämter Beamte tätig, denen im Rahmen ihrer Ausbildung zum Diplom-Finanzwirt nur rudimentäre Kenntnisse des Strafrechts vermittelt werden und die somit darauf angewiesen sind, sich erst in der Praxis entsprechendes Wissen anzueignen. Die Rechtswirklichkeit wird demzufolge von Akteuren mit unterschiedlichem Vorverständnis und zumeist außerjuristischer Vorbildung geprägt.
5
Maiwald, Manfred, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, S. L Rüping, Hinrich, Steuerstrafrecht als Strafrecht, FG f. Günther Felix, S. 358 f.; a. A. wohl noch Meilicke, Heinz, Steuerrecht I, S. 13, der das Steuerstrafrecht als Teil des Steuerrechts bezeichnet. 6
7 Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 74, Rn. 12; Maunz, Theodor, in: Maunz /Dürig /Herzog /Scholz, Grundgesetz, Art. 74, Rn. 67. 8 Isensee, Josef, Aussetzung des Steuerstrafverfahrens - rechtsstaatliche Ermessensdirektiven, NJW 1985, 1007, 1009. 9 Rombach, Engelbert, Dauervergehen im Steuerstrafrecht, S. 4. 10 Maas, Hans-Josef, Probleme bei der gemeinschaftlichen Verteidigung durch Rechtsanwälte und Angehörige der steuerberatenden Berufe, S. 129 ff. Maas kommt zu dem Ergebnis, daß alle betroffenen Berufsstände in gleicher Weise geeignet erscheinen, die Vertretung des Steuerstraftäters zu übernehmen. Dies gilt sowohl für deren Vorbildung als auch für die jeweilige berufsrechtliche Stellung, die sie an öffentliche Interessen bindet. Ebenso Bornheim, Wolfgang / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 167. 11 Hintergrund waren die Entwicklungen im Jahr 1933, als die nationalsozialistischen Machthaber Juden von der Steuerberatung ausschließen wollten, deren Zugang bis dahin weitgehend ungeregelt und damit unbeschränkt war. Zu dieser geschichtlichen Herkunft weiterführend: Giese, Frank Paul, Abgabenordnung im Dritten Reich, S. 143 ff.
3 Röckl
34
1. Kap.: Einleitung
Die praktische Bedeutung des Steuerstrafrechts hat seit Jahren zugenommen; dies zeigen die Ergebnisse der Steuerstrafsachenstatistiken der Länder und der Bundesverwaltung. 12 Die durch die Steuerfahndung erzielten Mehrergebnisse sind von 1995 auf 1996 um 14,12 % auf 1,6 Milliarden DM gestiegen.13
§ 3 Eingrenzung Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Steuerstrafrecht in einem ersten Teil von verschiedenen Seiten im Lichte des nationalen Verfassungsrechts zu betrachten, in einem zweiten Teil soll eine europäische Sichtweise bestimmend sein. Ziel der Arbeit ist die Darstellung der Berührungspunkte des Steuerstrafrechts mit verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben und der Tragweite von Kollisionen. Das Beziehungsgeflecht von Steuerrecht und Steuerstrafrecht wird dem Betrachter dabei immer wieder begegnen. Hierzu erscheint es zunächst erforderlich, eine ethische Grundlage für die weiteren Ausführungen zu legen. Einer Offenlegung dieser Fragen bedarf es zum einen deshalb, weil damit das Vorverständnis für die nachfolgenden verfassungsrechtlichen Probleme aufgedeckt wird, zum anderen aber ist es ein wesentliches Anliegen der vorliegenden Abhandlung, für ein ethisch orientiertes Steuer- und Steuerstrafrecht einzutreten und den Rechtsgedanken des Steuerrechts und damit des Steuerstrafrechts zu verfechten. Es hat den Anschein, als ob es im Steuerrecht ausschließlich um finanzielle Größen, um saldierbare Geldbeträge, letztlich um materielle Zielsetzungen geht. Im Hinblick auf diese zweifelhafte Entwicklung, bei der der Steuerstaat in der Gestalt des Fiskus eine nicht immer glückliche Rolle gespielt hat, obgleich ihm eine Vorbildfunktion zugekommen wäre, ist ein Widerstand der Steuerrechtswissenschaft gefragt. Während die „Steuertips- und Steuertricksliteratur" nur nach Vermeidung einer als ungerecht empfundenen Steuer fragt, soll hier die Ungerechtigkeit selbst beleuchtet werden. Das Steuerstrafrecht bietet hierzu den idealen Einstieg, der auch ein wenig Licht auf das Steuerrecht fallen läßt. Denn im Steuerstrafrecht mit seinen einschneidenden Maßnahmen bis zum Freiheitsentzug, die über rein ökonomisch meßbare Größen hinausgehen, drängt sich die Frage nach Gerechtigkeit förmlich auf und ist die im Dickicht des Steuerrechts steckende Ungerechtigkeit oft mit Händen zu greifen. Die Arbeit weist hier Berührungspunkte mit den übrigen Disziplinen der Steuerwissenschaften 14 auf, wenngleich dem Steuerrecht die bedeutsamere Rolle zu12 BMF, Die Strafsachenstatistik 1996, INF 1998, S. V, zuletzt veröffentlicht: BMF, Die Strafsachenstatistik 1998, wistra 1999, 457 f. mit weiter steigenden Beträgen an verkürzten Steuern. 13 Statistik des Steuerfahndungsdienstes, NJW 1998, Heft 6, S. XXXV. 14 Das Steuerstrafrecht wird durch das dahinter liegende Steuerrecht maßgeblich bestimmt, das eine Affinität zur Wirtschaft aufweist und dessen Verständnis durch Wirtschaft-
§ 3 Eingrenzung
35
kommt. Dennoch handelt es sich bei dem Steuerrecht um ein Grenzgebiet, das historisch bedingt zwischen den Fakultäten stand. 15 Anfänglich war die Rechtswissenschaft durch eine - um mit Nawiasky zu sprechen 16 - „merkwürdige Interesselosigkeit" gegenüber dem Steuerrecht gekennzeichnet. Als noch junges Rechtsgebiet kann das Steuerrecht jedoch Anleihen nehmen vor allem auf dem Gebiet der Finanzwissenschaften. 17 So sind historisch gesehen viele Anforderungen an die Steuergesetzgebung innerhalb der Finanzwissenschaften entwickelt worden, 1 8 wenn sich auch unter Berufung auf das von Max Weber 19 geforderte Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft („ Werturteile sind nur der Bekenntnis, nicht der Erkenntnis zugänglich ") weite Teile der Finanzwissenschaften aus der Steuergerechtigkeitsdiskussion zurückgezogen haben und sich zu einer Werturteilsabstinenz be-
liches Denken gefördert wird. Dennoch ist Steuerrecht eine Teildisziplin des Rechts und folgt anderen Grundsätzen als die Wirtschaftswissenschaften. Die Steuerwissenschaften Steuerrecht, betriebliche Steuerlehre und Finanzwissenschaft stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander und vermögen einander zu befruchten. Zum Verhältnis näher Schick, Walter, Die Ausbildung zur „unbeschränkten Hilfeleistung in Steuersachen" in verfassungsrechtlicher Sicht, StuW 1985, 172, 177. 15 Burmester, Gabriele, Das Steuerrecht am Katzentisch der Juristenfakultäten, FG f. Otto Theisen, S. 61, 73. 16
Nawiasky, Hans, Steuerrechtliche Grundfragen, S. 7. Stern, Klaus, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 46 I 2 b) unterstreicht, daß sich hier enge Verbindungslinien zum Verfassungs- und Steuerrecht ergeben. Beide Wissenschaften zeichnen sich durch eine fruchtbare Kooperation aus. Vgl. ferner Scheipermeier, Günter, Verfassungsorientiertes System des Steuerrechts, S. 13. Die überwiegende Anzahl der Fachvertreter der Betriebswirtschaftslehre dagegen hält sich für Fragen der Steuergerechtigkeit aufgrund ihres Wissenschaftsauftrages nicht für kompetent, hierzu ausführlich m. w. N. vgl. Rose, Gerd, Überlegungen zur Steuergerechtigkeit aus betriebswirtschaftlicher Sicht, StuW 1985, 330, 330 f.; a. A. aber Stremitzer, Heinrich, Steuermoral und betriebswirtschaftliche Steuerlehre, S. 683, 688, der eine wertend-normative betriebswirtschaftliche Steuerlehre und die Verbindung zur Steuermoral fordert. Dagegen verweist schon Bühler, Ottmar, Steuerrecht I, S. 25, auf die Bedeutung des Steuerrechts als betriebswirtschaftliche Erkenntnisquelle. Paufler, Alexander, Die Steuerhinterziehung, S. 13, sieht die Ursache mangelnder Beschäftigung mit Rechtsverstößen gegen das Steuerrecht in dem Umstand, daß das Rechtssystem in der Betriebswirtschaftslehre als Datum gesehen wird. Hierzu werde die Prämisse einer Rechtskonformität des Steuerpflichtigen aufgestellt, um Verstöße methodisch von der Untersuchung auszunehmen. Diese verengte Sicht sei aber zu überwinden, auch im Hinblick auf die Normierungslehre, welche eine kritische Würdigung von Steuerstrafvorschriften de lege lata und de lege ferenda erfordere (ebenda, S. 21). Kritisch zur Wertfreiheit ferner insbesondere Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 7. 17
18 Dies gilt für die Postulate nach steuerlicher Gerechtigkeit, Gleichheit und Allgemeinheit der Besteuerung. Vgl. Bramson, Karl-Heinz, Ethische Betrachtungsweise im Steuerrecht, FS f. Armin Spitaler, S. 42; Willems, Rudolf, Finanzwissenschaftliche Erkenntnisse als Auslegungselemente, FS f. Armin Spitaler, S. 64. 19 Weber, Max, Schriften zur Wissenschaftslehre, S. 176 ff. Nach Weber hat die Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften ihren Ursprung darin, daß ethische, durch Kulturideale oder sonst weltanschaulich begründete praktische Wertungen wissenschaftlich nicht diskutierbar sind.
3*
36
1. Kap.: Einleitung
kennen.20 Daher hat der Einfluß der Finanzwissenschaften auf die demgegenüber wertorientierte Jurisprudenz abgenommen. Κ. H. Ossenbiihl weist nach, daß ein unweigerlicher Anschauungswandel über die Zeit kein Grund für die Annahme sei, das Problem der Steuergerechtigkeit und damit der Wertorientierung für unlösbar zu halten, da auch das „ökonomische Prinzip" den Wertmaßstab wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit voraussetze, somit eine Scheinlösung darstelle. 21 Grundsätzliche impliziere jede Form der Steuerverteilung eine Gerechtigkeitsvorstellung und zugleich eine Staatsphilosophie, sie ist letztlich eine ethische Frage, ohne sie läßt sich eine Pflicht zur Steuerzahlung nicht begründen. Das Steuerrecht selbst kann nicht wertfrei arbeiten. Soweit dies in den Anfängen der Steuerrechtswissenschaft dennoch versucht wurde, handelt es sich in Wahrheit um eine Abwehrhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus, indem das Steuerrecht als wertneutral und von der Verfassung unabhängig dargestellt wurde, um sich nicht gegen die vorherrschende Ideologie auflehnen zu müssen.22 Diese Ansätze gelten jedoch heute als überwunden. Mössner wendet sich mit Recht entschieden gegen wissenschaftliche Untersuchungen23 mit dem Ziel, die Entscheidungssituation für eine gesetzeswidrige Steuerminimierung betriebswirtschaftlich zu analysieren. 24 Während ein Großteil der Ökonomen aus ethischen Gründen eine Analyse illegalen Verhaltens ablehnt, die mit dem Ziel betrieben wird, die Handlungsalternativen des Wirtschaftssubjekts um gesetzeswidrige Spielräume zu erweitern und deren ökonomische Wirkungen zu untersuchen, wird von einzelnen Wirtschaftswissenschaftlern die Legalitätsprä20 Krit. Schmölders, Günter, Das Gerechtigkeitspostulat in der Besteuerung, StKongRep 1964, S. 25, 26. 21 Ossenbühl, Karl Hermann, Die gerechte Steuerlast, S. 11. Dies wird von der Economic Analysis of Law nicht offengelegt. So setzt Posner Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz gleich, wenn er auch einräumt, daß sich in unseren Gerechtigkeitsvorstellungen möglicherweise mehr als das Interesse an Effizienz widerspiegelt. Die Nachfrage nach Gerechtigkeit sei nicht unabhängig von ihrem Preis. Siehe Posner, Richard Α., Recht und Ökonomie: Eine Einführung, in: Assmann, Heinz-Dieter u. a. (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 79, 97 f. 22 Dies wird etwa dem Lehrstuhlinhaber für Steuerrecht Ottmar Bühler nachgesagt, der sein Lehrfach aus der parteipolitischen Ideologisierung während der NS-Zeit heraushalten wollte und so jene Zeit überstehen konnte. Vgl. hierzu die Untersuchung von Voß, Reimar, Steuern im Dritten Reich, S. 241. 23
In der neueren Literatur finden sich solche Ansätze bei Stalf, Jörg, Steuerumgehung als Mittel der Steuerberatung?, S. 126 ff. 24 Mössner, Manfred, Gerechtigkeit und Moral im Steuerrecht, DStZ 1990, 132, 134. Allerdings handelt es sich bei der von ihm angeführten Untersuchung von Mönch, Karl-Heinz, Steuerkriminalität und Sanktionswahrscheinlichkeit, um eine juristische Arbeit, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit empirischen Mitteln eine kriminologische Aussage über Steuerkriminalität zu treffen (Mönch, Karl-Heinz, ebenda, S. 3 ff.) und auch keine derartige Tendenz aufweist. Mönch stellt unter anderem die These auf, daß der typische Steuerhinterzieher ein Wohlstandstäter der Oberschicht sei, womit er bei anderen kriminologischen Untersuchungen auf heftigen Widerspruch gestoßen ist. Vgl. hierzu Kreß, Ursula, Motive für die Begehung von Steuerhinterziehungen, S. 217.
§ 3 Eingrenzung
37
misse aufgegeben und der Handlungs- und Entscheidungsspielraum um illegales Verhalten erweitert, 25 um Hinterziehungsverhalten zu erklären. Der praktische Wert dieses Ansatzes kann der Politikberatung dienen, soweit konkrete Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung gegeben werden. 26 Die Ökonomische Analyse des Rechts kann hier interdisziplinär nutzbar gemacht werden, indem die ökonomischen Auswirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf Steuerkriminalität untersucht werden. 27 Ein solcher Ansatz ist dann und nur dann zu rechtfertigen, nicht hingegen um Handlungsempfehlungen für den potentiellen Steuersünder zu geben. Erst in neuerer Zeit tritt ein Wandel ein. So finden sich Stimmen im Schrifttum 28 der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, die die Einbeziehung von rechtlichen Unsicherheiten, vor allem in der Gesetzesauslegung in die betriebswirtschaftliche Steuerplanung verlangen. Dies erfordert einen interdisziplinären Ansatz zwischen Steuerrecht und betriebswirtschaftliche Steuerlehre, der sich unausweichlich vom Postulat der Wertfreiheit verabschieden muß. Dennoch muß mit Joachim Lang29 und Klaus Tipke 30 festgehalten werden, daß ein gegen die ökonomische Rationalität verstoßendes Steuerrecht in vielen Fällen auch ein ungerechtes Recht hervorbringt. Deshalb kann an den zum Teil wertfrei gewonnenen Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften nicht vorübergegangen werden. Sie haben vielmehr dort ihren Platz, wo ökonomische Wirkungsmechanismen und natürliche Verhaltensweisen des wirtschaftenden Menschen in die (rechtlichen) Überlegungen miteinzubeziehen sind. Auch auf dem Feld der „wirtschaft25
So etwa Hundsdoerfer, Joachim, Die Steuerhinterziehung und ihre Integration in betriebswirtschaftliche Entscheidungsmodelle, S. 3 f. Kritisch zu diesem Ansatz sind Bornheim, Wolfgang /Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 47, die die den Modellen zugrundeliegenden Annahmen für wirklichkeitsfremd halten und zudem die Berücksichtigung illegaler Steuervermeidung in betriebswirtschaftlichen Entscheidungsmodellen für bedenklich erachten. 26 Pommerehne, Werner W., Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internazionale die Science Economiche e commerciali, Bd. 32 (1985), 1155, 1160. 27 Von ihren Anhängern wird vor allem der Schritt von der deskriptiven Wirtschaftstheorie zur theoretischen Wirtschaftspolitik hervorgehoben. Für den Ökonomen wird das Recht gerade dann interessant, wenn es darum geht, gezielte Änderungen herbeizuführen. Vgl. Kirchner, Christian, Ökonomische Analyse des Rechts: Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ökonomie und Rechtswissenschaft, in: Assmann, Heinz-Dieter u. a. (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, S. 62,68. 28 Pühringer, Johann, Rechtsgewinnung als Element der einzelwirtschaftlichen Steuergestaltung, StuW 1997, 97, insbes. 100 und 115 et passim. 29 Lang, Joachim, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4, Rn. 10. 30 Tipke, Klaus, Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, FS d. Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 865, 869. Auch kommt es nicht auf die formale Zuständigkeit der ökonomischen Wissenschaften für Gerechtigkeitsfragen an, sondern auf die jeweilige sachliche Kompetenz. Vgl. ders., Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 11.
38
1. Kap.: Einleitung
lichen Betrachtungsweise", der unten ein eigenes Kapitel 31 ff. gewidmet sein wird, hat sich ein Zusammenwirken von Juristen und Ökonomen bewährt. 32
§ 4 Weiterer Gang der Untersuchung Die Untersuchung führt von einem ersten Kapitel über die philosophischen Grundlagen auf der Basis der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (Kant, Rousseau) und deren moderne Interpretation durch Rawls zu neueren Problemen des Steuerstrafrechts heran. Rechtsphilosophische Betrachtungen über das Wesen des Steuerstrafrechts waren in der deutschsprachigen Literatur kaum Gegenstand einschlägiger Arbeiten. Vorab soll ein geschichtlicher Abriß folgen, der das Verständnis der gegenwärtigen Situation im Steuerstrafrecht fördern soll. Hier gilt es herauszuarbeiten, warum sich die Problematik in dieser Schärfe erst in neuerer Zeit stellt. Besonderes Gewicht wird hierbei auf die neuere Geschichte, vor allem seit der Reichsabgabenordnung zu legen sein. In einem ersten Hauptteil ist nunmehr das Steuerstrafrecht daraufhin zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wo es mit verfassungsrechtlichen Vorgaben in Konflikt gerät. Hier soll der Schwerpunkt der Arbeit liegen. Der Blickwinkel wird dabei die Sicht des Verfassungsrechtlers sein, der die wesentlichen Strukturen überprüft, weniger wird die Sichtweise des Strafrechtlers bestimmend sein, der Detailfragen der praktischen Rechtsanwendung zu lösen hat. Wie das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle ausgeführt hat, ist es nicht die Aufgabe einer verfassungsrechtlichen Betrachtung, den Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft von Verfassung wegen zu entscheiden.33 Versteht man das einfache Gesetz als „konkretisiertes Verfassungsrecht", 34 so ist es dem Verfassungsrechtler nicht verwehrt, bei der Umsetzung der Verfassung „mitzureden". Im Steuerrecht wird als Auftrag an die Rechtswissenschaft ohnedies schon seit langem gefordert, das verfassungsrechtliche Wertsystem des Grundgesetzes über das durch das Bundesverfassungsgericht Erzwingbare hinaus zur Entfaltung zu bringen. 35
31
Siehe Viertes Kapitel: § 2C.III „Die wirtschaftliche Betrachtungsweise und das verfassungsrechtliche Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast" auf S. 245 ff. 32 Dies wird beispielhaft hervorgehoben von Häberle, Peter, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, S. 3, 17 f. 33
Urt. v. 21. 06. 1977-1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187, 253. Der Gedanke klingt an bei Häberle, Peter, Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht im Spiegel der Judikatur des BVerfG, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 631 ff. 3 5 So auch zuletzt Jachmann, Monika, Wider das Steuerchaos, S. 20. 34
§ 4 Weiterer Gang der Untersuchung
39
Generell stellt die vorliegende Arbeit eine Annäherung aus der Perspektive des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Steuer- und Steuerverfassungsrechts 36 dar. Soweit ersichtlich handelt es sich bei den meisten Arbeiten, die die hier zur Untersuchung anstehenden Probleme behandeln, um solche der Strafrechtswissenschaft, welche die verfassungsrechtliche Seite nur vereinzelt und dann nicht geschlossen erörtern. Wenn es sich auch beim Steuerstrafrecht um ein Teilgebiet des Nebenstrafrechts handeln mag, so wird es dennoch wie kein anderes Gebiet ganz wesentlich durch das darunter liegende Rechtsgebiet des Steuerrechts dominiert, so daß schon bei der praktischen Rechtsanwendung der reine Strafrechtler bald an die Grenzen seiner Möglichkeiten stoßen wird, es sei denn, es gelingt ihm, die Untiefen des Steuerrechts auszuleuchten. Hier soll der Schwerpunkt auf den verfassungsrechtlichen Problemen liegen, die sich ergeben, wenn Steuerrecht und Steuerstrafrecht aufeinandertreffen. Das Verbot eines Selbstbezichtigungszwanges und seine verfassungsrechtlichen Implikationen sind im Hinblick auf seine naturrechtlichen Wurzeln zu untersuchen. Hieraus sollen Rückschlüsse auf die Bedeutung des Schweigerechts während parallel verlaufender Steuer- und Steuerstrafverfahren gewonnen werden. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit den Anforderungen, die Art. 103 Abs. 2 GG an das durch seinen Blankettcharakter geprägte Steuerstrafrecht stellt. Für die ausfüllenden Normen des Steuerrechts sind vor allem drei der vier Ausprägungen des Art. 103 Abs. 2 GG durch ein Spannungsfeld zum Steuerstrafrecht gekennzeichnet: Es sind dies das Bestimmtheitsgebot als Auftrag an den Steuergesetzgeber, das Analogieverbot als Grenze des Rechtsanwenders sowie das Rückwirkungsverbot. Zur Problementfaltung sollen jeweils einzelne Topoi ohne Anspruch auf Vollständigkeit herausgegriffen werden, die die Friktionen veranschaulichen. Der verfassungsrechtliche Grundsatz des „ in dubio pro reo " wirkt an verschiedenen Stellen in das Steuerstrafrecht hinein. Am Maßstab des Grundgesetzes sollen die Problemfelder der typisierenden Betrachtungsweise und der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen diskutiert werden. Die Vorfragenkompetenz des Strafrichters wurde bis heute vom Gesetzgeber trotz vielfältiger Änderungsvorschläge in der Literatur nicht zufriedenstellend gelöst. Welche Vorgaben die Verfassung hierzu liefert und wie die bestehende gesetzliche Regelung im Lichte der Verfassung ausgelegt werden kann, soll in einem eigenen Kapitel aufgegriffen werden, weil die Auseinandersetzung Wertungsdivergenzen zwischen Steuer- und Steuerstrafrecht offenbart.
36 Bayer, Hermann-Wilfried, Steuerlehre: Steuerverfassung - Steuergesetz - Steuergericht, Rn. 41, beklagt nicht ganz zu Unrecht, daß in den einschlägigen Lehrbüchern die Unterscheidung zwischen Steuerverfassungsrecht und einfachem Steuerrecht nicht durchgeführt wird. Die Ursache hierfür dürfte in der noch unzureichenden Durchdringung des Steuerrechts durch das Verfassungsrecht zu finden sein.
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1. Kap.: Einleitung
Verfassungskollisionen entstehen im Steuerstrafrecht in besonderem Maße dann, wenn - sei es faktisch oder aufgrund gesetzlicher Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruches - von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Hervorgehoben werden sollen hier die strafbefreiende Selbstanzeige, die Steueramnestie und der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht, die nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung fragen. Ein weiterer Schwerpunkt wird verfassungsrechtliche Aspekte im Steuerstrafverfahren aufgreifen, die sich im Bereich Durchsetzung der Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Bankgeheimnis sowie Zulässigkeit von Ermittlungsmaßnahmen, vor allem im Bankenbereich auftun. Gerade dieser Bereich ist noch stark im Fluß und viele aktuelle Entwicklungen wurden durch die Wissenschaft noch nicht abschließend aufgearbeitet. In einer Abhandlung, die grundlegende Strukturen eines Rechtsgebietes und seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht untersucht, dürfen Hinweise auf Lösungen durch andere moderne Verfassungsstaaten nicht fehlen. Da einzelne Regelungen des ausländischen Rechts nicht isoliert betrachtet werden können, will man die groben Strukturen des ausländischen Steuer- und Steuerstrafrechts nicht aus den Augen verlieren, sollen diese weitestgehend in jeweils einem eigenen Abschnitt zusammengefaßt dargestellt werden. Es dürfte einer der größten Fehler des deutschen Steuergesetzgebers sein, häufig nur Detailregelungen zu ändern und dabei den Systemgedanken zu vergessen. Dennoch wird der Rechtsvergleichung nicht lediglich der Charakter eines Ausblicks gegeben, sondern sie soll zur Gewinnung von konkreten Ergebnissen herangezogen werden. Deshalb werden bereits in der vorausgehenden Darstellung vereinzelte Hinweise gegeben und die gewonnenen Ergebnisse in den zusammenfassenden Schlußfolgerungen verarbeitet. Die Untersuchung wird schließlich in einem zweiten Hauptteil um eine europäische Dimension erweitert. Neue Fragen ergeben sich, bezieht man das europäische Steuerrecht als ausfüllende Normen des Blankettatbestandes der Steuerhinterziehung ein. Das Steuerrecht unterliegt zwischenzeitlich erheblichen Einflüssen durch das europäische Recht, namentlich auf dem Gebiet der indirekten Steuern, in vermindertem Umfang auf dem Gebiet der direkten Steuern. Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf das Steuerstrafrecht bleiben, solange bei der Auslegung der Tatbestände das gesamte Steuerrecht mit einzubeziehen ist. Die Europäische Menschenrechtskonvention erlangt auch im Steuerstrafverfahren zunehmend Bedeutung. Die Ausführungen in diesem Bereich können wegen der noch stark im Fluß befindlichen Materie nur ein erster Ansatz sein, der Anlaß zu weiteren Abhandlungen geben sollte. In einem Ausblick schließlich werden Folgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen sein.
§ 5 Exkurs: Strafrecht und Verfassungsrecht
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§ 5 Exkurs: Zum Verhältnis von Strafrecht und Verfassungsrecht Anders als im Steuerrecht ist im Teilrechtsgebiet des Strafrechts das Verständnis noch nicht so weit ausgeprägt, daß sich jede Staatsgewalt des Staates von höherrangigem Recht ableiten lassen muß. Nach verbreiteter Anschauung legt die Verfassung allenfalls die Grenzen fest, innerhalb derer die Strafrechtsdogmatik sich ungehindert entfalten kann. Nach richtig verstandener Einschätzung stellt aber die Verfassung erst die Begründung der Staatsgewalt dar. 37 Die gängigen Lehrbücher und Kommentare zum Strafrecht legen traditionell den Schwerpunkt der Erörterung ausschließlich auf die im Verfassungswortlaut ausdrücklich angesprochenen Berührungspunkte zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht. Daß auch die Grundrechte unmittelbare Bindungswirkung haben, wird selten angesprochen. Dabei ist einzuräumen, daß das zurückhaltende Verständnis insofern seine Berechtigung haben kann, als Verfassungsrecht und Strafrecht zwei Teilrechtsgebiete darstellen, in denen sich jeweils ein eigenes Stück Rechtskultur manifestiert. So wäre es töricht, die von der Strafrechtswissenschaft über Jahrhunderte herausgearbeiteten Erkenntnisse mit dem Verfassungsrecht schlichtweg zu übergehen. Die Auslegung einfachen Strafrechts bleibt auch den Strafgerichten allein vorbehalten, das Bundesverfassungsgericht entscheidet nur über die Auslegung spezifisch verfassungsrechtlicher Fragen. Tiedemann 38 weist auch darauf hin, daß die von Smend und Hesse zuerst zu Art. 5 GG entwickelte Wechselwirkungslehre das Strafrecht immerhin in die Weihe der Verfassungsgestaltung erhoben hat, hingegen kritisiert er nicht ganz zu unrecht, daß eine Öffnung des Strafrechts sich insbesondere durch den weiten Begriff der Effektivität oder Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege abzeichnet. Die einzige auf das materielle Strafrecht bezogene Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 2 GG ist seiner Ansicht nach praktisch bedeutungslos. Eine verfassungsrechtliche Straftatlehre gibt es angesichts der Wert- und Zieldifferenzen von Grundgesetz und Strafrecht nicht. 39 Denn der Gesetzgeber genießt im Besonderen Teil eine Einschätzungsprärogative. Pönalisierungspflichten erwachsen nur in einem engen Kernbereich von Grundwerten. Schon in seiner Habilitationsschrift führt Tiedemann aus, daß in diesem Kernbereich das Grundrecht nicht nur als Abwehrrecht gegenüber dem Staat erscheine, sondern als Substrat eines strafrechtlichen Schutzinteresses. Die Einbeziehung der sozialen Funktion der Grundrechte lasse das Strafrecht geradezu als Ermöglichung und Sicherung der Grundrechtsausübung ansehen.40 37 Braum, Stefan, Grundgesetzinterpretation und Strafrecht, KritV 1995, 371, 372. 38 Tiedemann, Klaus, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 7 und S. 24. 39 Tiedemann, Klaus, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 57. 40 Tiedemann, Klaus, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 30 unter Bezugnahme auf Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 8 ff. Tiedemann hält
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1. Kap.: Einleitung
Lagodny geht von einem primär abwehrrechtlichen Denken aus und trifft hier die entscheidende Weichenstellung mit der Unterscheidung von Verhaltensvorschrift und Sanktionsvorschrift. 41 Letztere ermächtigt zum kriminalstrafrechtlichen staatlichen Vorwurf und zur Verhängung der besonderen Sanktionsmittel des Kriminalstrafrechts. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 i. V. m. dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Im übrigen aber gelangt Lagodny zu dem Ergebnis, daß sich das materielle Strafrecht einer verfassungsrechtlichen Kontrolle nahezu entziehe.42 So sei also letztlich der Gesetzgeber und nur der Gesetzgeber aufgerufen, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit aufzulösen, und diese Verantwortung müsse auch bewußt wahrgenommen werden. Eine umfassende Untersuchung zu diesem Themenkreis hat Appel vorgelegt. Er vermutet in weiten Teilen der Strafrechtslehre ein spätidealistisch geprägtes Freiheitsverständnis, welches strafbares Verhalten von vorne herein aus dem Freiheitsbereich ausnimmt, zumindest aber strafrechtliche Vorgaben als immanente Grenzen der Freiheit ansieht.43 Weiter stellt er fest, daß jeder, der kategorisch feststelle, das Grundgesetz enthalte nicht die Wahrheit über das Strafrecht und schütze auch nicht vor schlimmen Irrtümern bei der Ausgestaltung und Anwendung des Strafrechts, sich in der Strafrechtslehre breiter Zustimmung erfreuen könne. 44 Allenfalls erfolge ein pauschaler Verweis auf die objektive Wertordnung des Grundgesetzes, obgleich diese gerade keine Aussage ermögliche, ob und in welchem Umfang der Staat strafrechtliche Mittel zu einem bestimmten Zweck einsetzen dürfe. Die Zulässigkeit der Zweckverfolgung bzw. Zweckverstärkung auch durch strafrechtliche Mittel ergebe sich freilich nicht aus der Verfassung als objektiver Wertordnung, sondern sie hänge vielmehr entscheidend von den Grundrechten und der damit verbundenen abwehrrechtlichen Grundrechtsprüfung ab. 45 Schließlich interpretiert Appel Strafrecht als akzessorisches Schutzrecht für verfassungsgemäße staatliche Verhaltensnormen. 46 Ohne den Gedankengang Appels im einzelnen nachbilden zu allerdings nur für den generalpräventiven Zweck den Gedanken eines Erziehungszieles für angemessen. Zudem äußert sich Tiedemann, a. a. Ο., S. 156, kritisch zu dem Verständnis, das materielle und formelle Kriminalstrafrecht geradezu als Wesensgehalt von nicht nur individualrechtlich verstandenen Grundrechten zu begreifen, da dies der unterschiedlichen Dynamik und Eigenart der einzelnen Ordnungen und Verwirklichungsstufen des Strafrechts nicht entspreche. 41 Lagodny, Otto, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 6. Lagodny sieht sich hier nicht im Widerspruch zu der inzwischen relativierten Wesensgehaltsgarantie. Vgl. Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. VIII. 42 Lagodny, Otto, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 536. 43 Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 43 und S. 316. Appel verweist bezüglich einer „vermeintlich selbstverständlichen" Grenze der Grundrechte auf Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 37. 44 Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 306. 45 Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 390. 46 Ausführlich Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 431 ff.
§ 5 Exkurs: Strafrecht und Verfassungsrecht
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können, sei hierzu nur gesagt, weil es für die nachfolgenden Erörterungen in der vorliegenden Arbeit noch von herausragender Bedeutung sein soll, daß er letztendlich unter anderem zu der Schlußfolgerung gelangt, die strafrechtliche Primärsanktion dürfe keine Rehabilitation verfassungswidriger Verhaltensnormen bezwecken.47 Trotz aller dieser Stimmen, die nach Zurückhaltung rufen, soll im folgenden die Auseinandersetzung von Verfassungsrecht und Strafrecht nicht gescheut werden, ohne jedoch die Besonderheiten und Eigenheiten der jeweiligen Rechtsgebiete außer acht zu lassen.
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Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 579.
Zweites Kapitel
Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts § 1 Steuerstaat und Leistungsstaat: eine Bestandsaufnahme Der Verfassungsstaat ist seinem Wesen nach Steuerstaat.1 Der Finanzbedarf der Bundesrepublik Deutschland wird vor allem durch Steuern gedeckt. Sie stellen in den Augen des Bundesverfassungsgerichts 2 eine Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens dar. Ausbau und Zentralisierung der staatlichen Gewalt setzen einen Finanzbedarf voraus, der nur über Steuern gedeckt werden kann.3 Staat und Wirtschaft sind voneinander getrennt, beide sind jedoch aufeinander angewiesen. Die Steuerstaatlichkeit erwies sich vom Grundsatz her als erfolgreich, wohingegen Rousseau noch den Zerfall des Steuerstaates vorhersagte. 4 Demgegenüber kannte das Mittelalter, wie noch auszuführen sein wird, Steuern nur als Ausnahmeerscheinung. Erst als die Einnahmen aus den staatlichen Unternehmen nicht mehr ausreichten, um die wachsenden Ausgaben zu decken, setzten die Herrscher Steuern durch. Mit der Entwicklung zum modernen Wohlfahrtsstaat korrespondierte aber die Ausgestaltung als Steuerstaat. Steuerstaatlichkeit bedeutet einerseits Trennung von Staat und Wirtschaft, andererseits partizipiert der Staat an den Erträgen der Wirtschaft. 5 Leistungsstaat dagegen ist ein Staat, der Leistung fordert und verteilt, und dadurch die Grundrechte effektiviert. 6 Die leistungsstaatliche Komponente setzt eine effiziente Einnahmenbeschaffung voraus. Die ökonomischen Grenzen des Steuerhaushaltes bilden zu1
Friauf, Heinrich, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Gesetzgebung über die Steuern vom Einkommen und Ertrag, DStJG Bd. 12, S. 3; Isensee, Josef, Steuerstaat als Staatsform, FS f. Hans Peter Ipsen, S. 409. 2 Beschl. v. 22. 06. 1995-2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121,134. 3 Birk, Dieter, Steuerrecht I, S. 4. 4
Rousseau, Jean-Jacques, Du contrat social; ou principes du droit politique, Buch 3, Kap. 15, S. 102 f. 5 Vogel, Klaus, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Hdb. des Staatsrechts, Bd. I, § 27, Rn. 59. 6 Häberle, Peter, Grundrechte im Leistungsstaat, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, S. 172.
§ 1 Steuerstaat und Leistungsstaat
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gleich die rechtlichen Grenzen für die sozialen Leistungsansprüche der Einzelnen und die Leistungspflicht der Allgemeinheit.7 Da der soziale Rechtsstaat nur über die Denkfigur des Steuerstaates zu verwirklichen ist, 8 hat er als identitätsbegründende Komponente grundgesetzlicher Staatlichkeit an der Unantastbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG teil, weil der Steuerstaat über die Art. 20 und 28 GG eingeschlossen ist. 9 Dem Steuerstaat ist die Erhebung von Steuern immanent, er tritt nicht als Bittsteller auf, wenn auch die Steuerstaatlichkeit selbst einer rechtsphilosophischen Rechtfertigung bedarf. Verfassungsrechtlich ist die Besteuerungskompetenz des Verfassungsstaates in einer anthropologisch begründeten Staatsaufgaben- und Staatsausgabenlehre, vor allem bei Art. 1 und 2 GG zu suchen, denn der Bürger bedarf des Gemeinwesens um seiner eigenen Person und sozialen Existenz willen. 10 Im übrigen wird die Legitimation von Steuern verfassungsrechtlich von keiner Seite ernsthaft angezweifelt. 11 Die Ausgestaltung des Steuersystems selbst ist verfassungsrechtlich kein Datum, sondern unterliegt der Gestaltung des Steuergesetzgebers, der durch Steueränderungen, tiefgreifender durch Steuerreformen Umgestaltungen vornehmen kann. 12 Sein Gestaltungsspielraum ist jedoch nicht grenzenlos, sondern endet dort, wo die Verfassung die Rechte des Steuerbürgers höher bewertet. Im Zeitablauf gesehen sind Schranken der Besteuerung letztlich Schranken von Steuerreformen.
7 Häberle, Peter, a. a. O. (Fn. 6), zustimmend Isensee, Josef, Steuerstaat als Staatsform, FS f. Hans Peter Ipsen, S. 434. 8 So auch zutreffend Weber - Grellet, Heinrich, Der Steuerstaat - Inhalt und Grenzen, in: FS f. Diether Posser, S. 395, 395. 9 Isensee, Josef, a. a. O. (Fn. 7). 10 So Häberle, Peter, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1980), 405, 405. Häberle verweist rechtsvergleichend auf die ausdrückliche Normierung der Steuerpflicht in Art. 123 Abs. 1 Bayerische Verfassung. Anzufügen ist, daß Art. 123 Abs. 1 BayVerf weder ein subjektives Recht noch ein Grundrecht gewährt, ihm gegenüber die Grundsätze dieser Vorschrift einzuhalten, vgl. die Entscheidung v. 26. 02. 1976 - Vf. 7 - VII - 75, BayVerfGH 29, 15, 23. Der Bürger kann auf diese Vorschrift gestützt auch nicht verlangen, daß andere zur Steuer herangezogen werden, so die Entscheidung v. 21. 11. 1949 - Vf. 63 - V I I - 48, BayVerfGH 2, 170, 78. Art. 123 Abs. 1 BayVerf geht vielmehr von dem objektiven Prinzip der Steuergerechtigkeit aus, vgl. Meder, Theodor, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 123 BayVerf, Rn. 1. 11 Daher hält Loritz, Karl-Georg, Der praktische Wert der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie für die unternehmerische Betätigung, BB 1993, 225, 229, die theoretische Verankerung für von untergeordneter Bedeutung, weil schon dem Verfassungsgeber klar gewesen sei, daß ein modemer Staat ohne Besteuerung nicht existieren könne. Es dürfte sich entgegen Loritz allerdings die allgemeine Akzeptanz von Steuer erhöhen, wenn dem Steuerbürger eine Rechtfertigung von Steuern vor Augen geführt wird. Vgl. Klein, Alexander, Steuerreform und Akzeptanz, BB 1998, 1180, 1182. 12 Schneider, Hans-Peter, Möglichkeiten und Grenzen von Steuerreformen aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Staatsfinanzierung im Wandel, hrsg. v. Karl-Heinrich Hansmeyer, S. 111, 116.
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
§ 2 Ethisches Fundament des Steuerrechts A. Bedeutung der Philosophie Kants Unter dem Stich wort „Steuerethik" soll im folgenden der Teil der philosophischen Wissenschaft vom Sittlichen verstanden werden, der sich mit Steuern auseinandersetzt. Zum Ausgangspunkt sollen die Betrachtungen von Immanuel Kant genommen werden. Über den Begriff der Menschenwürde können Grundrechte als deren Ausfluß einen ethisch-moralischen Bindungswert erhalten. Umgekehrt wirkt die Bejahung dieser Aussage auf die Auslegung der Grundrechte zurück. 13 Die Menschenwürde ist in der in weiten Teilen anerkannten Zwischen Philosophie die rechtliche Folge der sittlichen Verpflichtung der Individuen, ihrer Konzeption des Pflichtbegriffes zu folgen. 14 Die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Handlungsmaxime entscheidet danach über deren Richtigkeit. 15 Zu fragen ist also, was geschehen würde, wenn jedermann ein bestimmtes steuerethisch zu untersuchendes Verhalten zeigen würde. Dem Kantschen Verständnis wurde angelastet, daß es nur schwer in konkrete Handlungsmaximen umgesetzt werden könne. Denn die Ausgestaltung der Steuerrechtsordnung sei wechselnden staatstheoretischen und staatspolitischen Meinungen ausgesetzt.16 Dieser philosophische Standpunkt wurde ferner mit der Begründung angegriffen, 17 sie sei auf Steuerumgehungs- und Steuerhinterziehungsverhalten nicht übertragbar. So gibt sie als reine Konsequenz-Regel keinen inneren Grund zur Rechtfertigung einer Steuerpflicht. Ist Steuererhebung als Diebstahl einzustufen, so würde sinkende Steuermoral zur Abnahme von Diebstählen führen und damit der Gerechtigkeit zu einem Sieg verhelfen. Tipke sieht die Bedeutung der Philosophie Kants für das Steuerrecht nicht allein in der Suche nach einem Regelinhalt, sondern schon in der aus der Gerechtigkeit abgeleiteten Forderung, Prinzipien, Regeln oder allgemeine Maßstäbe aufzustellen, 18 wenn er auch gewisse Grenzen von Kon13
Bleckmann, Albert, Staatsrecht I I - Die Grundrechte, § 1, Rn. 28. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 115. 15 Kritisch Zippelius, Reinhold, Im Irrgarten der Gerechtigkeit, S. 13, hält dies zwar für ein notwendiges, nicht aber für ein hinreichendes Kriterium, da häufig mehrere Lösungen widerspruchsfrei zu formulieren sind. Es bedarf letztlich gleichzeitig inhaltlicher Prämissen, um zur Gerechtigkeit zu gelangen. 14
16 Zu den Anforderungen an die Akteure im Steuersystem und zu Schwierigkeiten bei der Umsetzung im einzelnen: Senger, Hans Günter, Ethik und Steuern: Steuerstaat, Steuerbürger und Steuerberater in der Steuerrechtsordnung, Stbg 1996, 337, 338 und 342. 17 McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 23. McGee benennt als Beispiel, es sei nicht ethisch verwerflich, einem Räuber gegenüber zu behaupten, man habe nur 20 $ in der Tasche, obwohl man tatsächlich 1.000 $ mit sich führt.
is Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 283.
§ 2 Ethisches Fundament des Steuerrechts
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sequenz-Regeln einräumt, so wenn „asozialen" Mitgliedern der Gesellschaft das Verhalten der übrigen Beteiligten gleichgültig sei. 19 Wer sein Vermögen auf einem Schwarzgeldkonto in Luxemburg vor dem Fiskus verborgen hält, der mag dies durchaus auch anderen zubilligen. Im Gegenteil scheint das Wissen über Hinterziehungen anderer die Hinterziehungsneigung zu verstärken. Zutreffend setzt der kategorische Imperativ zunächst die Bejahung der Steuer selbst voraus und ist dann in eine Reihe zu stellen mit der christlich-abendländischen20 Handlungsmaxime der Bergpredikt mit dem Inhalt, alles was man von anderen erwartet, auch selbst zu tun. 21 Für den Einzelnen heißt dies: Wenn du nicht willst, daß der Steuerstaat dich über Gebühr beansprucht, so stelle selbst keine überhöhten Ansprüche an ihn. Wenn du nicht willst, daß andere den Steuerstaat durch Steuerhinterziehungen schädigen, so füge auch du ihm keinen Schaden zu. 22 Diese als Goldene Regel bekannte Forderung leidet jedoch an einer Egozentrik, die der Kategorische Imperativ bereits überwunden hat. Der kategorische Imperativ verlangt nämlich, daß alle potentiell Betroffenen eine gerechte Maxime als allgemeines Gesetz akzeptieren können. Sie geht über den Verallgemeinerungstest aus der Sicht des Einzelnen hinaus.23 Die Rechtfertigung der Steuer selbst muß hingegen auf eine andere Grundlage gestellt werden, worauf noch zurückzukommen sein wird. Die Rechtfertigung der Steuern allein genügt aber nicht, wenn nicht auch bei der Durchführung der Besteuerung sowohl auf der Seite der Steuerpflichtigen wie auch auf der Seite der Besteuerungsgewalt ethische Grundsätze zur Anwendung kommen. Für den Steuerstaat selbst heißt dies: Daß eine Mehrheit per se berechtigt ist, auf eine Minderheit eine diese diskriminierende Regel anzuwenden, die sie nicht auf sich selbst anwendet, ist eine Durchbrechung des Mehrheitsprinzips selbst.24 Der Staat hat nach ethischen Grundsätzen die Steuer zu verteilen, und über die Richtig-
19 Tipke, Klaus, a. a. O. (Fn. 18), S. 299. 20
Die Legitimation von christlich-abendländischen Bezügen rechtfertigt sich aus dem kulturwissenschaftlichen Ansatz. Bei gleichzeitigem Toleranzgebot ist der christlich-abendländischen Kultur ein Substrat zu entnehmen, welches zur Ableitung ethischer Normen herangezogen werden kann. Vgl. Häberle, Peter, „Gott" im Verfassungsstaat, FS f. Zeidler, S. 3, 10. 21 Matthäus Kap. 7 Vers 12: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen.", ferner Lukas Kap. 6 Vers. 31. Hierzu die Fundstelle des Alten Testamentes (Einheitsübersetzung) Tobit Kap. 4 Vers 15: „Was dir selbst verhaßt ist, das mute auch einem anderen nicht zu!". 22 Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 26. Zustimmend Bausch, Alfons, Mehr Steuergerechtigkeit mit Hilfe der Bibel?, StuW 1982, 101, 108. 23 Habermas, Jürgen, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Wilfried (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus, S. 169, 178. 24 Dieser Gedanke findet sich auch bei Ökonomen wie Hayek, Friedrich Α., Die Verfassung der Freiheit; S. 398. Auch nach John Rawls ist in einer bloß formalen Demokratie mit
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
keit dieser Grundsätze ist ein ethischer Diskurs zu führen. 2 5 Diese Regeln müssen für alle gleich sein. Hintergrund ist eine „ethische Betrachtungsweise im Steuerrecht", 26 die alle Staatsorgane bindet. Schon das Steuerrecht ist nicht wertfrei, 2 7 um so mehr gilt dies für das Steuerstrafrecht. 28 Fundamente des steuerlichen Gerechtigkeitsdiskurses sind die Weitungsjurisprudenz und das verfassungsrechtliche Wertsystem. 29 Dabei ist das Verhältnis von Ethik und Steuerverfassungsrecht durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet. Die pluralistische Verfassung der Freiheit darf sich nicht ausschließlich auf Ethik stützen, w i l l sie nicht sich selbst und die Errungenschaften der Säkularisierung gefährden, sie muß sich aber auch auf ihre ethischen Wurzeln, ein „ ethisches Minimum " i m Sinne Georg Jellineks beruf e n . 3 0 Dessen Quelle ist das Vernunftrecht. 31 Fragen der Steuergerechtigkeit wurde lange Zeit keinerlei Aufmerksamkeit gew i d m e t . 3 2 Über Wahlkampfreden von Politikern hinaus war Steuergerechtigkeit kein Thema. Vogel 33 beklagt, daß die deutsche Steuerrechtswissenschaft einen der Herrschaft der Mehrheit noch keine gerechte Gesellschaft garantiert, vgl. ders., Die Rechtfertigung bürgerlichen Ungehorsams, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Gerechtigkeit als Fairneß, S. 165, 174 f. Tipke, Klaus, Steuergesetzgebung und parlamentarische Demokratie, StuW 1983, 1, 9, stimmt Hayek zwar hinsichtlich der Aussage zu, daß Mehrheiten in der Demokratie auch unverantwortlich handeln können und eine richterliche Kontrolle erforderlich ist, die Einrichtung neuer Institutionen hält er jedoch für eine Utopie; ebenso kritisch ders., Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, FS d. Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr Feier der Universität Köln, S. 865, 882. 25
Lang, Joachim, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, FS f. Klaus Tipke, S. 5. 26 Bramson, Karl-Heinz, Ethische Betrachtungsweise im Steuerrecht, FS f. Armin Spitäler, S. 57, postuliert in Abgrenzung zu Hans Kelsen eine ethische Betrachtungsweise. Eine Steuerethik ist seiner Ansicht nach Bestandteil der Steuerrechtswissenschaft. Nach Kelsen dagegen kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Der Begriff geht zurück auf Grabower, Rolf, Die ethische Betrachtungsweise im Steuerrecht, StuW 1933,50,51. Grabower fiel alsbald der „Säuberung" der Beamtenschaft durch die Nationalsozialisten zum Opfer. Zur beruflichen Ausschaltung mißliebiger Steueijuristen wie Grabower, vgl. Pausch, Alfons, Im Konflikt mit dem Steuerpositivismus, StuW 1985,54,59. 27 Würtenberger, Thomas, Uber „Wertfreiheit" und „Einheit der Rechtsordnung" im Steuerrecht, FR 1966, 20, 21. Schon der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung verbietet es, im Steuerrecht eine Insel positivistischer Wertfreiheit zu sehen. 28 Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 7. 29 Lang, Joachim, Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, StuW 1989, 201,205. 30 Häberle, Peter, Ethik „im" Verfassungsrecht, in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 563, 565. 31 Unabhängig von ihrer fehlenden allgemeinen Akzeptanz sind theologische Ableitungen wegen ihrer Kontextabhängigkeit biblischer Texte zudem nicht ohne weiteres auf den modernen Staat übertragbar; in diesem Sinne auch Naumann, Kurt, Steuergerechtigkeit und Steuermoral, BB 1967, 1433, 1434. 32 Mössner, Manfred, Gerechtigkeit und Moral im Steuerrecht?, DStZ 1990, 132, 132. 33 Vogel, Klaus, Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZA 1975,409, 409.
§ 2 Ethisches Fundament des Steuerrechts
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Rechtsphilosophen nicht hervorgebracht hat, sie konnte auch keinen für ihre Probleme interessieren. Der Steuerrechtler hält sich bezüglich der Weiterentwicklung des Steuersystems oft zurück und überläßt die Grundsatzfragen der Ökonomie, insbesondere den Finanzwissenschaften und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, aber auch der Theologie und der Soziologie, um sich gleichzeitig in gesetzestechnischen Details zu verlieren. Diese Entwicklung läuft fehl, nicht nur in Bezug auf das Steuerrecht allein, sondern um so mehr hinsichtlich des hieran anknüpfenden Steuerstrafrechts. Fragen der Gerechtigkeit, auch der Steuergerechtigkeit sind Teil der Ethik, diese wiederum ein Gegenstand der Philosophie. Tipke kritisiert zu Recht, daß schon mangels Sachkenntnis im Steuerrecht die allgemeine bzw. theoretische Philosophie ihre Erkenntnisse nicht in praktische Philosophie übertragen kann. 34 Vogel führt das Desinteresse auf die Einstellung des Bürgers zurück, der einem strafrichterlichen Urteil mehr Gerechtigkeitsrelevanz zubilligt als einem finanzgerichtlichen Urteil. 35 Unterstellt man die Richtigkeit dieser Vermutung, so ist die Frage erlaubt, welche Gerechtigkeitsrelevanz dann einem steuerstrafrechtlichen Urteil beizumessen ist. Friauf konstatierte zur gleichen Zeit, daß es sich erst im Steuersystem eines Staates zeige, was seine Verfassung wirklich wert sei. 36 Dies muß für die Materie des Steuerstrafrechts um so mehr gelten. Erst seit Beginn der achtziger Jahre hat schließlich für den Bereich des Steuerrechts ein Umdenken eingesetzt. Eine gerechte Steuerlastverteilung wird nunmehr als ein „Imperativ der Ethik" bezeichnet.37 Der Ruf nach einer eigenen Steuerrechtsphilosophie wird laut. 38 Der Staat muß um seiner selbst willen um die Rechtfertigung seiner Steuern ringen. 39 In einem ethischen Diskurs muß der Bevölkerung vermittelt werden, welche ethischen Maßstäbe die Steuern in ihrem Wesen bestimmen. Ausgangspunkt der Betrachtung muß die Frage nach der tieferen Rechtfertigung einer Besteuerung sein. 40 Die Steuerrechtfertigung darf eben keine „vergessene Vorfrage" sein.41 Schon Thomas von Aquin hatte sich mit der Rechtfertigung der Steuererhebung befaßt und das Vorliegen eines gerechten Grundes zur Voraussetzung gemacht.42 34 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 277. 35 Vogel, Klaus, a. a. Ο (Fn. 33). 36 Friauf, Karl Heinrich, Steuerrecht und Verfassungsrecht, DStZA 1975, 359, 360; zustimmend Benda, Ernst, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, 159, 159. 37 Schumacher, Richard, Die Verfassungsmäßigkeit der neuen Zinsbesteuerung, FR 1997, 1,3. 38 Pausch, Alfons, Mehr Steuergerechtigkeit mit Hilfe der Bibel?, StuW 1982, 101, 102. 39 Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 33. 40
Hierzu a. A. Diebold, Urs, Der illegale Steuerwiderstand, S. 3, der eine philosophische Rechtfertigung für verzichtbar hält. 41 Vogel, Klaus, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat Bd. 26 (1986), S. 481 ff.
4 Röckl
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
Die Frage nach den Steuerrechtfertigungslehren 43 führt letztlich zur Frage des Verständnisses des Staates überhaupt. Klassikertexte sind hier zum Verständnis heranzuziehen.44 Konkrete Aussagen zu Detailfragen einzelner Steuerarten lassen sich aus den Aussagen der Klassiker nur begrenzt gewinnen, da diesen Begriffe der neueren Zeit wie Einkommen, Umsatz oder Vermögen nicht bekannt waren. Ihre Aussagen können aber für grundlegende Fragen auf die Gegenwart übertragen werden. 45
B. Bedeutung von Steuerrechtfertigungslehren I. Der Einfluß der Lehre vom Gesellschaftsvertrag (Rousseau) Nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag, 46 welche auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeht, stellen alle Mitglieder der Gesellschaft ihre Person und ihre ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemein willens. Es entsteht eine sittliche Gesamtkörperschaft. Der Zusammenschluß soll nicht nur formell gerechtfertigt sein, sondern auch moralisch vertretbar. Freilich behält nach der im deutschen Raum entwickelten Gesellschaftsvertragstheorie das Individuum einen Teil seiner vorangehenden individuellen Handlungsfreiheit, welche man Naturrechte nennt.47 Nach heutigem Verständnis kann die Lehre vom Gesellschaftsvertrag zwar nicht alleinige Geltung beanspruchen, sie ist jedoch auf der Suche nach Wahrheit ein geeigneter Denkansatz. Der Gedanke „Verfassung als Gesellschaftsvertrag" wird durch das Bundesverfassungsgericht fortgeschrieben. 48 Wegen des Leistungs- / Gegenleistungscharakters der Steuern wird diese Theorie unter dem Begriff der Äquivalenztheorie zusammengefaßt. Die Steuer erscheint als der Preis des erkauften Friedens. 49 Die Steuerpflicht ist eine Grundpflicht des Bürgers, die eine Gegenlei-
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Schmölders, Günter, Das Irrationale an der öffentlichen Finanzwirtschaft, S. 98. „Rechtfertigen" bedeutet nach Rodi, Michael, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem, S. 7, „etwas dem ersten Anschein nach Ungerechtes oder Unrechtmäßiges als gerecht oder rechtmäßig" erweisen. Moralische Anforderungen hierfür als Maßstab lassen sich aus religiösen Lehren (Theologie), durch spekulative Betrachtung (Philosophie), aus Überlegungen wirtschaftlicher Rationalität (Ökonomie) oder aus einer konkreten Rechtsordnung (Rechtswissenschaften) ableiten. 44 Häberle, Peter, Klassikertexte im Verfassungsleben, S. 12; jetzt ders. auch in: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 481 ff. 45 Nell-Breuning, Oswald von, Sittliche Grundsätze zu Steuerrecht und Steuermoral, S. 10. 46 Rousseau, Jean-Jacques, Du contrat social; ou principes du droit politique, Buch 1, Kap. 6 „Vom Gesellschaftsvertrag", S. 16 ff. 47 Bleckmann, Albert, Staatsrecht I I - Die Grundrechte, § 1, Rn. 23. 43
48
Häberle, Peter, Die Verfassungsbeschwerde in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 45 (1997), 89, 100; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik- und Rechtswissenschaft, S. 68 f.
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stung für die Gewährleistung von Grundrechten wie Freiheit, Eigentum und Leben durch den Steuerstaat darstellt. 50 Die Steuerpflicht darf dabei nicht als strenges wirtschaftliches Äquivalent verstanden werden. Weder ist sie der einzige Gesellschaftsbeitrag, noch können Leistung und Gegenleistung gemessen und gewogen werden. Von daher ist es schon vom Ansatz her verfehlt, eine Kosten-Nutzen-Analyse anzustrengen mit dem Ergebnis, daß ein Spitzenverdiener gar nicht so viel Nutzen vom Gemeinwesen in Anspruch nehmen könne, als er an Steuern zu zahlen hätte, so daß seine Steuerschuld auf eine bestimmte absolute Höhe begrenzt sein müsse.51 Dies ist schon deswegen unrichtig, weil ohne die Gewährleistung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch den Staat jede wirtschaftliche Aktivität ausgeschlossen wäre. Was bliebe beispielsweise von einem Millionär übrig, wenn der Staat nicht durch die Einrichtung einer Zentralbank eine Geldwirtschaft erst begründen würde? Gerade der Einkommenserwerb und der Konsum ist marktabhängig. Der Staat repräsentiert den Markt und trägt so zum Entstehen eines Markteinkommens und zum Austausch von Konsumgütern bei. Hieraus rechtfertigt sich der steuerliche Zugriff des Staates.52 Deshalb stellt die bisweilen geäußerte Ansicht, wonach es keine gerechte Besteuerung gebe, jede Besteuerung gegen den Willen des Besteuerungssubjekts erfolge und somit Diebstahl sei, den gescheiterten Versuch dar, auf höchst komplexe und schwierige Fragen eine allzu einfache Antwort zu finden. Die Folgerung, daß deshalb jede Form der Steuerumgehung oder gar Steuerhinterziehung moralisch gerechtfertigt sei, weil sie nur der Abwehr eines Diebstahles dient, entpuppt sich im Ergebnis als Verkennung ökonomischer Zusammenhänge. Dabei kommt es sehr wesentlich darauf an, wie das eingetriebene Geld verwendet wird. Sofern es für Zwecke der Gesellschaft verwendet wird und nicht verschwendet wird, kann dies durchaus eine Rechtfertigung abgeben. Die Behauptung, bei einem Dieb komme es auch nicht auf dessen spätere Verwendung des Diebesgutes an, ist nicht stichhaltig, da der Staat als diejenige Instanz erscheint, die erst die Rahmenbedingungen zur Gewährleistung des Eigentums setzt. Die Gesellschaftsvertragstheorie erfuhr als Steuerrechtfertigungslehre von verschiedenen Seiten Widerspruch. Es wurde ihr unter anderem entgegengehalten, daß sie im Gegensatz zur historischen Wirklichkeit sei. 53 Die sogenannte 49 Hobbes, Thomas, Vom Menschen, vom Bürger, Kap. XIII, Abschnitt 10; Montesquieu, Charles de, Vom Geist der Gesetze, Buch XIII, Kap. 1. 50 Häberle, Peter, Diskussionsbeitrag in: Steuern im Verfassungsstaat, Symposion zu Ehren von Klaus Vogel aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hrsg. v. Paul Kirchhof u. a., S. 56. 51 McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 32. 52 Kirchhof, Paul, Der Auftrag des Grundgesetzes zur Erneuerung des Steuerrechts, Stbg 1998, 385, 387. 53 Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag versteht sich jedoch nicht als historische Beschreibung, sondern als Fiktion, die aber an einzelne reale Vorkommnisse der Geschichte anknüpfen kann. Vgl. hierzu auch Häberle, Peter, Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in:
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
historisch-realistische Theorie verstand demgegenüber den Staat als eine ethische und zugleich eine historische, beiderseits im Wesen des Menschen begründete Notwendigkeit, die nur im Staat seine Erfüllung findet. 54 Der Gesellschaftsvertragstheorie wird außerdem vorgeworfen, sie könne nur eine begrenzte Dauer beanspruchen, da zwar die Mehrheit eine Minderheit binden könne, nicht aber die jetzige Generation eine spätere. Diese Kritik 5 5 ist jedoch nicht berechtigt, weil der Gesellschaftsvertrag sich laufend fortschreibt und somit einem Wandel unterliegt. Diese Wandlungen werden von den Gesellschaftsmitgliedern in ihrer jeweiligen Zusammensetzung beschlossen. Kirchhof hat der Gesellschaftsvertragstheorie vorgeworfen, sie verkenne im Steuerrecht, daß der Kreis der durch die Steuer Belasteten und der Kreis der Belastenden auseinanderfalle. 56 Da die wirtschaftlichen Beziehungen zunehmend internationaler werden, werden durch die Steuerbelastung Personen betroffen, die nicht Mitglieder des (genauer: dieses) Gesellschaftsvertrages seien. Es fragt sich, ob hierin ein Verstoß gegen das Prinzip des „no taxation without representation " zu sehen ist. Auch die Diskussion um ein Ausländerwahlrecht kommt dem Problem nicht bei. Umgekehrt läßt sich nicht verleugnen, daß auch ein als Steuerinländer behandelter Belasteter Nutznießer des deutschen Steuerstaates sein kann, selbst wenn er nicht Deutscher ist. Im Bereich der Europäischen Union wurde ohnedies ein für alle europäischen Staaten geltender Gesellschaftsvertrag geschlossen etwa im Bereich der Umsatzsteuer im Binnenmarkt. Im Verhältnis zu Drittstaaten könnte das Doppelbesteuerungsabkommen eine, wenn auch unvollkommene Brükke zur Idee des Gesellschaftsvertrages schlagen. Es ist insbesondere entgegen Kirchhof 57 an der Auffassung festzuhalten, daß die Gesellschaftsvertragstheorie nicht ausschließlich auf den Nutzen des Einzelnen abstellt, der möglicherweise aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit weniger einzahlt, als er an Sozialleistung zurückerhält. So erbringt eine kinderreiche Familie auch einen Beitrag im Sinne der Gesellschaftsvertragstheorie, selbst wenn deren steuerliche Leistungsfähigkeit gemindert ist. Weber, Karl / Roth-Kathrein, Irmgard (Hrsg.), Neue Wege der allgemeine Staatsrechtslehre, S. 31 f. 54 Hierzu weiterführend: Gerlojf, Wilhelm /Neumark, Fritz, Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, S. 266 f. m. w. N. 55 So vertreten bei McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 28. 56 Kirchhof Paul, Diskussionsbeitrag in: Steuern im Verfassungsstaat, Symposion zu Ehren von Klaus Vogel aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hrsg. v. Paul Kirchhof u. a., S. 57. An anderer Stelle begründet er den Steueranspruch des Staates aus dem Umstand, daß der Betroffene am staatlichen Leben teilnimmt, ihm insbesondere Schutz, Ordnungen und Leistungen der staatlichen Gemeinschaft zugutekommen. Siehe hierzu ders., Steueranspruch und Informationseingriff, FS f. Klaus Tipke, S. 27, 36. 57 Kirchhof Paul, Diskussionsbeitrag in: Steuern im Verfassungsstaat, a. a. O. (Fn.56), S. 57.
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Durchaus originell ist die Vorstellung von Befürwortern der Gesellschaftsvertragstheorie, daß dem einzelnen Bürger wie im Handels- und Gesellschaftsrecht eine Art „actio pro socio " zustehen müßte, nach der jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft das Recht auf Leistung der vereinbarten Beiträge an die Gesamthand im eigenen Namen geltend machen kann. Wenn auch eine unmittelbare Anwendung dieses Rechtsinstituts auf das Steuerrecht wegen des staatlichen Gewaltmonopols ausscheidet, so kann dennoch der darin enthaltene Rechtsgedanke weitergeführt werden. 58 Die Idee des Gesellschaftsvertrages umfaßt deshalb den Anspruch des einzelnen Steuerbürgers, den Staat dahingehend in Anspruch zu nehmen, das Recht auf Steuerehrlichkeit in der Rechtswirklichkeit durchzusetzen. Diese durchgängige Gesetzesanwendung dient zum einen dem Anspruch des Steuerehrlichen, zum anderen dem Schutz des Steuersünders, nicht willkürlich herausgegriffen zu werden. Hier schließt sich der Kreis zum Steuerstrafrecht. Die Gesellschaftsvertragstheorie setzt jedoch voraus, daß sich alle Bürger unter einen Gemeinwillen unterordnen. Dieser Begriff der „ volonté générale " umfaßt unter anderem, die Finanzierung des Staates durch Steuereinnahmen zu sichern. Es ist demzufolge eine gefährliche Entwicklung, wenn der überwiegende Teil der Mitglieder des Gesellschaftsvertrages Steuerhinterziehung zumindest billigt, wenn nicht selbst praktiziert, weil dadurch ein gemeinsamer Wille verloren geht und die Steuereintreibung ihre Rechtfertigung verliert. Daher ist es für ein funktionierendes Gemeinwesen von ausschlaggebender Bedeutung, die Forderung einer „volonté générale " zum Steuerstaat aufrecht zu erhalten, um nicht eine Selbstauflösung des Staatsgebildes zuzulassen. Dieser gemeinsame Wille muß sich dann aber ebenso in der Ausgestaltung eines Steuersystems abbilden, der nicht das Stückwerk von Lobbyisten darstellen darf. So darf es keine Ungleichheit im Gesellschaftsvertrag geben. Aus diesem Grund wird in der englischsprachigen Literatur die Ansicht vertreten, daß das Steuersystem der USA, denen die Begründung der Idee der Freiheit zugesprochen wird, gegen die philosophischen Grundlagen der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika verstößt. 59 Die Bundesrepublik Deutschland ist gegen diese Gefahr keineswegs gefeit.
II. Weitere Ansätze Der Vollständigkeit halber sei abschließend auf weitere Ansätze einer Steuerrechtfertigung jenseits der Gesellschaftsvertragstheorie hingewiesen: Eine andere Steuerrechtfertigungslehre fußt auf der Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Sie erhielt weitere Impulse durch den sozialen Rechtsstaat der Gegenwart, der das Prinzip der Leistungsfähigkeit zum zentralen Steuerverteilungsprinzip er58
Ondracek, Dieter, Zum Gleichmaß der Besteuerung, S. 235. Leiker, Bret H., Rousseau and the Legitimacy of Tax Evasion, in: McGee, Robert W. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 89, 99 f. 59
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
klärt hat. 60 Auf dem Boden dieser Leistungsfähigkeitstheorie ist Steuerstrafrecht ein Instrument zur Herstellung und Gewährleistung einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Ein weiterer Ansatz will die Rechtfertigung von Steuern in der Verfolgung konkreter Zielsetzungen erblicken. Diese schon auf die Scholastik zurückgehende Lehre fordert zur Rechtfertigung einer Steuer einen konkreten zulässigen Finanzierungszweck. Ansätze hierzu finden sich schon bei Thomas von Aquin, fortgeführt durch den spanischen Theologen Francisco Suarez. 61 Nach einem neueren Verständnis verfolgt der Staat mit Erhebung einer Steuer nicht nur eine Einnahmenbeschaffung, sondern darüber hinaus weitergehende Zwecksetzungen, insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischer Art. Steuern, die auf diesem Verständnis beruhen, werden gemeinhin als Lenkungsnormen bezeichnet. Für den Bereich der übrigen, sogenannten Fiskalzwecknormen, die auf reine Einnahmenerzielung gerichtet sind, kann dieser Ansatz jedoch keine Geltung beanspruchen.
§ 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral A. Steuermoral Für den Oberbegriff der Moral fehlt es an einer allgemeingültigen Definition. Es sei hier die Haltung des Einzelnen darunter verstanden, sich an dem „Guten" zu orientieren. Der Inhalt des „Guten" ist abhängig von Zeit und Kultur und läßt sich nicht verbindlich festlegen. Das Recht hat sich mit der Moral auseinanderzusetzen und moralische Postulate zu verwirklichen. In der „offenen Gesellschaft" 62, der eine a priori vorgegebene Weltanschauung fehlt, ist das Gewissen des Einzelnen die letzte Instanz.63 Daher muß der breitestmögliche Konsens gesucht werden. Maßgebliche Bestimmungsgrößen der Steuerhinterziehungsquote eines Staates sind die in einer Wechselbeziehung stehenden Faktoren der Steuermoral und der Besteuerungsmoral. Dabei bezieht sich der erste Begriff auf die Haltung des Einzelnen, sich auf unlauteren Wegen der Besteuerung zu entziehen. Der zweite Be60
Hinweise bei Rodi, Michael, Die Rechtfertigung von Steuern als Verfassungsproblem,
S. 16. 61
Vogel, Klaus, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), S. 481,486 m. w. N. Ferner Martinez, Jean-Claude, La fraude fiscale, S. 50. 62 Zum Inhalt der „offenen Gesellschaft" auf der Grundlage des kritischen Rationalismus von Popper, Karl R., Die „offene Gesellschaft und ihre Feinde", passim, vgl. die Fortentwicklung bei Häberle, Peter, Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 121,144. 63 Crailsheim, Bernulph von, Die steuerliche Behandlung von Schmiergeldzuwendungen, S. 52 ff. m. w. N.
§ 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral
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griff umschreibt das Gebaren des Steuerstaates bei der Erschließung von Steuereinnahmen. Die Besteuerungsmoral ist die Steuermoral des Staates. 64 Das Begriffspaar läßt sich daher definieren als der Inbegriff sittlich-rechtlicher Normen, die sich entweder auf die Gestaltung des Steuerwesens und die Verwendung der durch die Besteuerung erlangten Mittel beziehen und sich somit an den Steuergläubiger richten oder den Pflichtenkreis des gewaltunterworfenen Steuerschuldners betreffen. 6 5 In Fortentwicklung dieses Begriffspaares Steuermoral und Besteuerungsmoral wäre die Frage zu stellen, ob es als bestimmenden Faktor nicht daneben eine „Moral der Besteuernden " gibt, welche beispielsweise in den der Parteispendenaffäre 6 6 zugrundeliegenden Fällen abhanden gekommen war und welcher ein erheblicher Einfluß auf die Steuermoral zuzubilligen ist. Die Steuer als Zwangsabgabe ohne Anspruch auf Gegenleistung steht in Konflikt mit einem der mächtigsten menschlichen Triebe, dem Besitz- und Erwerbsstreben. 67 Religiös vermittelte Werte verlieren i m säkularisierten Staat an Einfluß. 6 8 In dem Maße, in dem der Staat mit seiner Politik die Loyalität der Steuer64 Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 12. Meilicke, Heinz, Steuerrecht I, S. 10; Mattern, Gerhard, Treu und Glauben im Steuerrecht - ein Beitrag zur Lehre von der Besteuerungsmoral, S. 9; Naumann, Kurt, Steuergerechtigkeit und Steuermoral, BB 1967, 1433, 1433. Der bisweilen synonym verwendeten sollte allein der Gerechtigkeit der Steuerverteilung vorbeBegriff der „Steuergerechtigkeit" halten bleiben, vgl. Ossenbühl, Karl Hermann, Die gerechte Steuerlast, S. 7. 65
Nell-Breuning, Oswald von, Steuermoral, Staatslexikon Bd. 7, Sp. 698. Mit Recht wird von der Wissenschaft der irreparable Schaden beklagt, den die Parteispendenaffäre hinterlassen hat. Vgl. statt vieler Böneker, Werner, Steuerhinterziehung - oder: Das verlorengegangene Unrechtsbewußtsein, in: Meune /Dreßler (Hrsg.), Schwarzbuch Wirtschaftskriminalität, S. 70, 75; Kaligin, Thomas, Plädoyer für eine partielle Totalrevision des deutschen Steuerrechts, DStZ 1985, 219, 221. 66
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Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 51. Vgl. zu einer biblischen Ableitung von Steuern Apostel Paulus in Römerbrief Kapitel 13 Vers 5 und 6: „Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen. Das ist auch der Grund, warum ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben." Ferner Matthäus Kapitel 22 Vers 21: " . . . So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" und die Konkretisierung in Römer Kapitel 13 Vers 7: „So gebt denn jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Achtung, wem Achtung gebührt." Es handelt sich hier um die zentralen Stellen, auf denen die Lehrmeinung der Kirche beruht. Zur Weiterentwicklung über die nachfolgenden Jahrhunderte: Martinez, Jean-Claude, La fraude fiscale, S. 49 f. Zur Kritik wird auf McGee verwiesen, der betont, daß hieraus nur die Aufforderung abzuleiten sei, seine Steuerpflicht zu erfüllen, woher diese aber komme, werde nicht gesagt. Vgl. McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 16. Naumann, Kurt, Steuergerechtigkeit und Steuermoral, BB 1967, 1433, 1435, sieht die Unzulänglichkeit der Textstelle vor allem darin, daß weder für Steuerzahler noch für das Gemeinwesen konkrete Vorgaben gemacht werden. Die christliche Ethik habe seit jeher ehrliche, gerechte und dem Gemeinwohl dienende und auch durchführbare Steuergesetze verlangt („Lex humana debet esse honesta, justa, utilis, possibilis."). Die Ausgestaltung sei jedoch zeitabhängig und nicht für alle Zeit feststehend. 68
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
zahler über Gebühr in Anspruch nimmt und in dem materielle Werte die Gesellschaft prägen, sinkt die Steuermoral. 69 Läßt sich das menschliche Streben auf das Ziel einer persönlichen Einkommensmaximierung reduzieren, der Mensch also auf einen „homo oeconomicus" 70 zurückführen, so kann man die Steuermoral in eine direkte Beziehung zur Kontrolldichte seitens des Staates stellen.71 Anhand ökonomischer Modelle wurde in der Finanzwissenschaft der Zusammenhang zwischen Steuermoral einerseits und Wahrscheinlichkeit und Höhe einer Bestrafung andererseits dargestellt. 72 Variablen der Hinterziehungsneigung sind danach die Schwere der Strafen, die Leichtigkeit, mit der hinterzogen werden kann, und der monetäre Ertrag, der aus der Steuerhinterziehung zu erwarten ist. Diese Sichtweise des „ homo oeconomicus " ist allerdings nur in der Lage, einen Teilausschnitt der Wirklichkeit zu erklären. 73 Folgt man ihr, so läßt sich konstatieren, daß die Strafe in gleichem Maße mit der hinterzogenen Steuer ansteigen muß, will man nicht die Hinterziehung lukrativer werden lassen.74 Da die Entdeckungswahrscheinlichkeit sehr gering ist, wenig Hindernisse zu überwinden sind und schließlich angesichts der hohen Steuerbelastung Steuerhinterziehung sehr lukrativ erscheint, kommt immateriellen, in finanzwissenschaftlichen Modellen schwer faßbaren Faktoren ausschlaggebende Bedeutung zu. Ein weiteres tritt hinzu: Zahlreiche empirische Untersuchungen zeigen, daß die Entdeckungswahrscheinlichkeit lediglich einen schwachen Einfluß, das Strafmaß nahezu keinen signifikanten Einfluß auf die Bereitschaft zur Steuerhinterziehung hat. 75 Es drängt sich der Verdacht auf, daß eine auf rationalem Verhalten des SteuNach § 150 Abs. 2 S. 1 AO sind Angaben in Steuererklärungen „nach bestem Wissen und Gewissen " zu machen. 69 Jeske, Jürgen, Staat und Steuermoral, FAZ v. 23. 12. 1997, S. 1; Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1411. 70 Zum Begriff, zur historischen Entwicklung und zur Abkehr vom „ homo oeconomicus " von Aristoteles, Thomas von Aquin bis Adam Smith ausführlich Smekal, Christian / Theurl, Engelbert, Menschenbilder in der Ökonomie - Ein Streifzug durch den „Stammbaum" des Homo Oeconomicus, S. 15 ff. 71 Ahnlich äußert sich Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 33. 72 Brümmerhoff, Dieter, Finanzwissenschaft, S. 275 f. 73 Mit Recht kritisch zum „homo oeconomicus"·. Häberle, Peter, Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AÖR 109 (1984), S. 36, 45. Ablehnend auch Mössner, Manfred, Gerechtigkeit und Moral im Steuerrecht?, DStZ 1990, 132, 134. Dürig, Günter, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, 259, 262, möchte den Ansatzpunkt der Ökonomie selbst überlassen, gibt dann aber zu bedenken, daß das Modell des „homo oeconomicus" keine Kulturwissenschaft mehr betreibt, sondern Naturgesetzlichkeiten untersucht. 74 Weiterführend: Pommerehne, Werner W., Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internazionale di Scienze Economiche e Commerciali, Bd. 32 (1985), 1155,1159. 75 Hierzu a. A. aber offenbar Pommerehne, Werner W., Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internazionale di Scienze Economiche e Commerciali, Bd. 32 (1985), 1155, 1169.
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erzahlers fußende ökonomische Theorie nichts taugt, 76 wenn sie als universales Erklärungsmodell verwendet werden soll. So räumen auch Geoffrey Brennan und James M. Buchanan ein, daß sich die freiwillige Zahlung von Einkommensteuern mit dem Modell des „homo oeconomicus" letztlich nicht erklären läßt. 77 Nur wenn einer wachsenden Staatsverdrossenheit entgegengewirkt wird und die Besteuerung als fair empfunden wird, wird die Steuerloyalität ansteigen.78 So hängt die Steuermoral davon ab, daß die Steuergleichheit verwirklicht wird. Denn ein Geldopfer, dem kein individualisierbarer Vorteil korrespondiert, kann dem Steuerbürger nur aufgebürdet werden, wenn alle die gleiche Last tragen. In empirischen Untersuchungen der von Schmölders begründeten Finanzpsychologie ließ sich nachweisen, daß eine beim Einzelnen höher empfundene Steuerungerechtigkeit einhergeht mit schlechter Steuermoral. 79 Dieses Ergebnis wird bestätigt durch modellgestützte Untersuchungen.80 Danach wird Steuerhinterziehung als weniger schwerwiegendes Delikt empfunden, wenn der Staat als „raffgieriger, ungerechter Verschwender" angesehen wird. Die Verletzung der Lastengleichheit führt unweigerlich zur Desintegration des Gemeinwesens.81 Erfahrungen aus der Steuerpraxis zeigen hingegen, daß die vielfach beschworene Komplexität des Steuerrechts nicht den maßgeblichen Einfluß auf die Hinterziehungsneigung besitzt, wie vielfach behauptet wird. Oftmals liegt die steuerliche Rechtslage in Hinterziehungsfällen auf der Hand. 82 Die Komplexität führt eher indirekt zu einer schwindenden Akzeptanz des ganzen Steuersystems, die allgemein die Hinterziehungsbereitschaft erhöht. 76
Schmidtchen, Dieter, Vom nichtmarginalen Charakter der Steuermoral, S. 186; zustimmend Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 81 f. Abi. auch Häberle, Peter, Soziale Marktwirtschaft als „Dritter Weg", in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 691, 698. Häberle kritisiert, daß das Modell des „homo oeconomicus" die sozialen Bezüge des Einzelnen übersieht, die Bindung des Menschen an überindividuelle Werte verkennt und schließlich auf der unzutreffenden Annahme beruhe, daß der Mensch eine über alle Zeit gleichbleibende, stets rationale Präferenzenstruktur besitze. 77
Brennan, Geoffrey / Buchanan, James M., Die Begründung von Regeln, S. 69. Die Einseitigkeit des „homo oeconomicus " läßt sich jedoch dann überwinden, wenn die Staatseinstellung einbezogen wird. Zu entsprechenden Untersuchungen vgl. Pommerehne, Werner W. / Weck-Hannemann, Hannelore, Steuerhinterziehung, S. 20. 79 Mackscheidt, Klaus, Die Entwicklung der Kölner Schule der Finanzpsychologie, S. 54. Zur Kritik an der von Schmölders begründeten Schule vgl. Mössner, Manfred, Gerechtigkeit und Moral im Steuerrecht, DStZ 1990, 132, 133, der sich insbesondere gegen das mechanische Verhaltensmodell der Finanzpsychologie wendet, wonach der Steuerwiderstand des Steuerpflichtigen eine Funktion des subjektiven Belastungsgefühls und der subjektiven Haltung zur Pflichterfüllung darstellt. 78
80 So zuletzt Bayer, Ralph-Christopher / Reichl, Norbert, Ein Verhaltensmodell zur Steuerhinterziehung, S. 116. 81 Isensee, Josef, Steuerstaat als Staatsform, FS f. Hans Peter Ipsen, S. 409,418. 82 Bilsdorfer, Peter, Die Entwicklung des Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrechts, NJW 1999, 1675, 1676.
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Wie hoch die Hinterziehungsquote als Gegenbegriff zur Steuermoral tatsächlich ist, ist kaum bekannt. Schätzungen differieren ganz erheblich. Fest steht lediglich, daß die offiziellen Stellen regelmäßig bemüht sind, mit Beschwichtigungen das wahre Ausmaß zu verharmlosen, weil zu befürchten ist, daß sich weitere Steuerpflichtige anschließen würden, um als Ehrliche nicht die Dummen zu sein und die fehlenden Abgaben der Steuerhinterzieher ausgleichen zu müssen.83 Es ist aber einzuräumen, daß die Steuerausfälle nicht so hoch sind, wie häufig glauben gemacht wird. Denn ein Teil des hinterzogenen Geldes gelangt über die indirekten Steuern wieder in die Arme des Fiskus. 84 Die Steuermoral schwindet, wenn dem Steuerzahler das Gefühl vermittelt wird, er werde durch den Staat zugunsten von Leistungsunwilligen und Faulenzern ausgebeutet und Sozialleistungsempfänger seien ihm wertvoller als Steuerzahler. Hier wird das bereits oben angeführte Wechselspiel von Steuerstaat und Leistungsstaat deutlich. Gegenseitiges bürgerliches Legalitätsvertrauen wird erschüttert und führt zu einer Zersetzung der Ordnungsfunktion des Rechts.85 Empirische Untersuchungen bestätigen die Vermutung, daß die Hinterziehungsneigung steigt, wenn der Steuerpflichtige den Eindruck gewinnt, er allein halte sich an die Steuergesetze und es liege zumindest faktisch eine ungerechte Steuerlastverteilung vor. 86 Es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Steuermoral durch föderalistische und regionalistische Strukturen positiv beeinflußt wird, dagegen eine Zentralregierung die Distanz zwischen Bürger und Staat vergrößert und das Unrechtsbewußtsein vermindert, diesem fernen Gemeinwesen durch Steuerverkürzung zu schaden. 87 Streitig ist, ob das Steuerstrafrecht auch die Zielrichtung verfolgt, die Steuermoral des Bürgers zu heben. Mit Mitteln des bloßen Verwaltungszwanges gelingt es dem Steuerstaat lediglich von außen auf die Steuerdisziplin des Steuerpflichtigen einzuwirken und ihn zu einem bestimmten Verhalten anzuleiten.88 Das Steuerstrafrecht vermag jedoch nach zutreffender Ansicht gleichzeitig auf die innere Einstellung der Bürger Einfluß zu nehmen, indem es illegales Verhalten pönalisiert und durch die Rechtsgemeinschaft mißbilligt. Einzuräumen ist, daß nur ein konsequent
83 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1404. 84 Mit Recht zweifelt Pommerehne, Werner W., Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internazionale di Scienze economiche e Commerciali, Bd. 32 (1985), 1155, 1156, statische Modelle in ihrer Aussagekraft an. 85 Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 95 ff. Schwindende Akzeptanz des Steuerrechts stellt es als Integrations- und Ordnungsfaktor in Frage (ebenda S. 98). 86 Pommerehne, Werner W., Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internazionale di Scienze Economiche e Commerciali, Bd. 32 (1985), 1155,1177. 87 In diese Richtung weist Dehatin, Helmut, Das Steuerstrafrecht im allgemeinen Rechtsbewußtsein, in: Wirtschaftskriminalität, S. 51,52. 88 Hierzu a. A. Holper, Peter, Die steuerrechtliche Selbstanzeige - ein Sonderfall des Rücktritts vom vollendeten Delikt, S. 85.
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und rechtsstaatlich organisiertes Steuerstrafrecht diese Aufgabe zu erfüllen vermag. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß aus einem Übermaß an legaler Steuervermeidung anders als bei verbreiteter illegaler Hinterziehung dem Steuerpflichtigen nicht die Steuermoral abgesprochen werden kann und ihm gleichzeitig eine staatsfeindliche Gesinnung vorgeworfen werden kann, wenn dieser die sich ihm legal bietenden Möglichkeiten wahrnimmt. 89 Hier liegt der Fehler beim Steuergesetzgeber, der unerwünschte Gestaltungsspielräume durch eine entsprechende Gesetzesfassung auszuschließen hat.
B. Besteuerungsmoral Umgekehrt mangelt es an Besteuerungsmoral. Steuermoral und Besteuerungsmoral stehen in einer Wechselbeziehung. Sinkende Steuermoral beim Bürger zieht schlechte Besteuerungsmoral beim Staat nach sich, schlechte Besteuerungsmoral des Staates hingegen läßt die Steuermoral des Bürgers sinken. 90 Ein Teil der Literatur 91 fordert, daß ein nach kantischen Prinzipien geordneter Staat die Rechtspflichten seiner Bürger und die Methoden zu deren Durchsetzung verschärft, soweit die außerrechtlichen Voraussetzungen, vor allem ökonomische Motive und die Einstellung zum Staat sich zunehmend negativ entwickeln. Die Besteuerungsmoral enthält mehrere Aspekte, die jedoch häufig haushälterischen Prioritäten geopfert werden. 92 Man opfert die Steuergerechtigkeit der leichten Durchsetzbarkeit einer Steuer wegen, weil der Steuerbürger zunächst nur dort Steuerwiderstand bietet, wo eine Steuer auffällig und nicht nur versteckt ist. 93 Der Staat kann Steuermoral aber nur dann fordern, wenn er selbst Besteuerungsmoral zeigt. 94 Zu fragen ist etwa, ob es eine Obergrenze der Besteuerung gibt, wie sie das Bundesverfassungsgericht mit dem Halbteilungsgrundsatz vorgezeichnet hat. 95 89 Vogel, Klaus, Perfektionismus im Steuerrecht, StuW 1980, 206, 208. 90
Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 13; zum Teil wird eine Vorleistung des Staates gefordert, vgl. Naumann, Kurt, Steuergerechtigkeit und Steuermoral, BB 1967, 1433,1433. 91
Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 40 f. 92 Miehler, Kurt/ Kronthaler, Ludwig, Das Steuerrecht und die Gerechtigkeit, DStZ 1992, 257, 258. 93 Holtgrewe, Karl-Georg, Der Steuerwiderstand, S. 49. Der psychologische Ansatz von Holtgreve begegnet jedoch gewissen Bedenken, soweit er die Steuermoral nur über das „Primitivpotential" im Menschen erfassen will, statt auf das Gewissen abzustellen; mit Recht hierzu kritisch Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 67. 94 Tipke, Klaus, Uber die Grenzen der Vermögenssteuer, GmbHR 1996, 8, 16. 95 Beschl. v. 22. 06. 1995 - 2 BvL 37/91, BVerfGE 93,121, 138. Dieser Grundsatz wurde in der Literatur schon Jahre zuvor gefordert, vgl. von Wallis, Hugo, Zum Maß und den Gren-
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
Lenkt die einem freiheitlichen Staat eigene Berichterstattung in Rundfunk und Presse das öffentliche Augenmerk fortwährend auf die Unzulänglichkeiten gewisser Steuergesetze, so vermag dies beim Steuerpflichtigen die Auferlegung von Steuerpflichten entgegen deren moralischem Empfinden als ungerechtes und damit Widerstand rechtfertigendes Verhalten des Staates erscheinen lassen.96 Gerade eine positive Einstellung des Steuerbürgers zum Staat ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für ein Mindestmaß an Steuerwilligkeit. Um diese beim Bürger zu schaffen, ist auf Dauer die Einhaltung einer gewissen Gegenseitigkeit zu fordern. 97 Die Besteuerungsmoral als Maxime staatlichen Handelns muß zudem das Bewußtsein der Steuerbürger erreichen, weil es nicht auf die Sichtweise aufgeklärter Kreise ankommt, sondern des einzelnen Steuersubjekts.98 Sie setzt ferner eine gewisse Ehrlichkeit im Umgang mit dem Steuerbürger voraus, an der es fehlt, wenn Steuergesetze zur Erhöhung staatlicher Einnahmen mit den Bezeichnungen „Steuersenkungsgesetz" oder „Steuerentlastungsgesetz" versehen werden. Wer vom Bürger Offenheit erwartet, kann nicht selbst Verschleierung bezwecken. Als weiteres Element einer Besteuerungsmoral ist die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung zu nennen, die nicht lediglich technisch zu verstehen ist, sondern vor allem als rechtsstaatliches Gebot der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und somit von Prinzipien der Steuermoral durchdrungen ist. 99 Besteuerungsmoral tritt auch zu Tage, wenn es um die Besteuerung einer Minderheit der Steuerpflichtigen durch die Mehrheit der Steuerbürger geht. Wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen wie die von Geoffrey Brennan und
zen der steuerlichen Belastbarkeit, DStZ 1982, 375, 375. Wenn auch die exakte Höhe streitig ist, so muß doch eine Obergrenze im modernen Steuer- und Leistungsstaat festgelegt werden, ähnlich dem biblischen „Zehnten" bezogen auf die Staatsaufgaben zu jener Zeit. Vgl. Höffner, Joseph, Eigentumsbegriff und heutige Besteuerungsgrundsätze, StuW 1952, 376, 380. Loritz, Karl-Georg, Das Grundgesetz und die Grenzen der Besteuerung, NJW 1986, 1, 10, sieht die Grenze der Besteuerung bezogen auf Art. 14 GG dort, wo die substanzverzehrende Steuer ohne Rücksicht auf den Ertrag erhoben wird und typischerweise aus ihm nicht erbracht werden kann. Später hat Loritz seine Auffassung konkretisiert und wirft schließlich die Frage auf, ob man noch von einer verfassungsrechtlich zulässigen Sozialbindung des Eigentums sprechen könne, wenn durch eigene Mitarbeit erwirtschaftete Erträge aus unternehmerischer Tätigkeit überwiegend „fremdnützig" verwendet werden müssen. Die Obergrenze könne statt vager Umschreibungen in der „50%-Grenze" gesehen werden. Siehe hierzu Loritz, Karl-Georg, Der praktische Wert der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie für die unternehmerische Betätigung, BB 1993, 225, 228 f. 96 Holtgrewe, Karl-Georg, Der Steuerwiderstand, S. 55 f. 97 Strümpel, Burkhard, Steuermoral und Steuerwiderstand der deutschen Selbständigen, S. 17. 98 Schmölders, Günter, Das Gerechtigkeitspostulat in der Besteuerung, StKongRep 1964, S. 25, 30. 99 Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 37.
§ 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral
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James M. Buchanan 100 legen eine Tendenz der Mehrheit nahe, Minderheiten Steuern aufzuerlegen, um den eigenen Vorteil zu mehren. Selbst wenn man den Bürger nicht auf seine Absicht der persönlichen Nutzenmaximierung reduzieren will, wird man nicht umhinkommen, viele durch einflußreiche Interessengruppen durchgesetzte Steuervorschriften als Ausdruck der politischen Machtverhältnisse zu verstehen. So werden Familien in einer alternden Gesellschaft kaum gefördert, da sie kein bedeutendes Wählerpotential mehr darstellen. In der steuerjuristischen Literatur liest sich das so: Klaus Vogel spricht vom „ Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht " und beklagt sich über den miserablen Zustand des Steuerrechts, das nicht nur überkompliziert, undurchsichtig und ungerecht sei, sondern dem der Rechtsgedanke abhanden gekommen sei. Als Hochschullehrer könne man heute deutsches Steuerrecht „nicht mehr ohne Scham unterrichten". 101 Vogels pathologischer Befund ist nicht nur zutreffend, er hat sich noch weiter verschlimmert. Anhaltende Haushaltskrisen und darauffolgende hastige Steuergesetzänderungen haben zu einer fortschreitenden Erosion des Rechtsgedankens im Sinne eines allmählichen Prozesses der Entrechtlichung geführt. Klaus Tipke als einer der namhaftesten Vertreter der Steuerrechtswissenschaft schreibt im Jahr 1993, es sei zu befürchten, daß „der Tiefpunkt sachlicher Orientierungslosigkeit oder maßstablosen Wursteins noch nicht erreicht ist". 1 0 2 Auch seine Analyse der Erosion des Rechtsgedankens103 wurde noch weit übertroffen, als eine anhaltende negative wirtschaftliche Entwicklung weitere Steuererhöhungen ohne Rücksicht auf steuersystematische Gesichtspunkte und rechtsstaatliche Belange notwendig machte. Steuergesetze wurden und werden danach nicht nach systematischen oder nach gerechten Zielen geschaffen, sondern letztlich im Hinblick auf die nächste Wahl allein unter dem Blickwinkel der Stimmenmaximierung zur Machterhaltung. 104 Wer die Mehrheit und damit die Macht hat, bestimmt im Steuerrecht und damit auch im Steuerstrafrecht was Gesetz werden soll. 1 0 5 Loritz beklagt, daß statt einer systematischen Konzeption Orientierungslosigkeit die Steuerpolitik bestimmt. 106 Soweit Einigkeit über grundsätzliche Ziele besteht, 100
Brennan, Geoffrey /Buchanan, James M., Die Begründung von Regeln, S. 163. Vogel, Klaus, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, DStJG Bd. 12, S. 123, 127. 102 Tipke, Klaus, Von der Steuerunordnung zur Steuerrechtsordnung, Harzburger Steuerprotokoll 1993, S. 43, 59. 103 Tipke, Klaus, Über Steuergesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, StuW 1990, 308, 309 f. 104 Tipke, Klaus, Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, FS d. Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 865, 881. 105 Tipke, Klaus, a. a. Ο (Fn. 103), StuW 1990, 308, 309: „Auctoritas, non Veritas facit legem. " 101
106 Loritz, Karl-Georg, Die systemgerechte Einkommenssteuer - ein unerreichbares Ziel?, StuW 1986, 9,9.
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
so zum Beispiel über das Ziel einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, ist ein erschreckend geringes Maß an Zielerreichung festzustellen. Kritische Stimmen werfen dem geltenden Steuerrecht vor, daß kein Sachkenner der Materie sich der Illusion hingeben könne, es werden gerade die Leistungsfähigen zur Besteuerung herangezogen. 107 Unmittelbar zur Frage der Besteuerungsmoral gehört ebenso die sparsame und wirtschaftliche Verwendung der Steuermittel. 108 In den Augen der Bürger hat die Neigung des Staates, Steuergelder zu vergeuden, in den letzten Jahren stetig zugenommen. 109 Die verantwortlichen Stellen entziehen sich häufig der demokratischen Kontrolle. 110 Die Leichtigkeit im Umgang mit den anvertrauten Geldern zum einen, zum anderen aber der Einfluß von Gruppeninteressen zu Lasten der Allgemeinheit dürften die wichtigsten Gründe für die UnWirtschaftlichkeit von staatlichen Ausgaben sein. Die Rechtsprechung billigt dem Bürger kein subjektives Recht auf Überprüfung der Ausgabengestaltung zu. 1 1 1 Es bedürfte der Ausgestaltung eines Straftatbestandes der Steuerverschwendung, um der unwirtschaftlichen Verwendung der anvertrauten Steuergelder durch Entscheidungsträger des Staates Einhalt zu gebieten. Kohlmann/Brauns haben schon vor Jahren einen entsprechenden Vorschlag gemacht, 112 der leider viel zu wenig beachtet wurde. Die Steuerverschwendung entzieht der Rechtfertigung der Steuern die Grundlage. 113 Die ineffiziente Verwendung der Staatsausgaben kann nicht nur versteckten Steuerwiderstand, sondern offenen Steuerprotest verursachen. 114 Teilweise wird die Forde107 108
Kritisch Helsper, Helmut, Gesetzgebung und Evolution, S. 11.
Simmich, Claus, a.a.O. (Fn. 99), S. 38. Der Rechtsgedanke der Sparsamkeit findet sich in Art. 103 GG, vgl. Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 1; Siekmann, Helmut, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 113, Rn. 6. 109 Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 119; angedeutet schon bei Koch, Karl, Ausgewählte Einzelfragen zum Steuerstrafverfahren, StKongRep 1968, S. 226, 236. Auch Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 121, weist auf den Zusammenhang zwischen der Verteilung von Steuermitteln an Unwürdige und der Steuerehrlichkeit hin. 110 Pommerehne, Werner W , Was wissen wir eigentlich über Steuerhinterziehung?, Rivista Internationale di Scienze Economiche e Commerciali, Bd. 32 (1985), 1155, 1157. 111 Ob und in welchem Umfang die Möglichkeit bestand, durch Einsparungen, Eindämmung der Verschleuderung von Staatsmitteln und Aufdeckung von Wirtschaftskriminalität zusätzliche Mittel zu erhalten, ist unbeachtlich, so Urt. v. 28. 02. 1996 - X I R 83/94, X I R 84/94, BFH/NV 1996, 712, 713. Die Verfassungsbeschwerde hiergegen wurde nicht zur Entscheidung angenommen: BVerfG Beschl. v. 19. 11. 1999 - 2 BvR 1167/96, W M 2000, 45, 46. Vgl. ferner BVerfG Beschl. v. 26. 08. 1992 - 2 BvR 478/92, NJW 1993, 455,456; Beschl. v. 15. 06. 1988 - 1 BvR 1301/86, BVerfGE 78, 320, 331. 112 Kohlmann, Günter /Brauns, Uwe, Zur strafrechtlichen Erfassung der Fehlleitung öffentlicher Mittel, S. 113 ff. Vorgeschlagen wird, da eine Erweiterung des Untreuetatbestandes des § 266 StGB nicht durchführbar erscheint, ein eigener Straftatbestand, dessen Rechtsgut die zweckgerechte Verwendung öffentlicher Mittel zu schützen sucht. Spiegelbildlich zum Steuerhinterziehungstatbestand ergibt sich bei der Abfassung des Tatbestandes eine Spannung zu Art. 103 Abs. 2 GG (Kohlmann/Brauns, ebenda, S. 116). 113 Lang, Joachim, in: Tipke /Lang, Steuerrecht, § 4, Rn. 60.
§ 3 Interdependenz von Steuermoral und Besteuerungsmoral
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rung aufgestellt, daß eine Steuererhöhung ausgeschlossen sein müsse, solange Steuern in erheblichem Umfang verschleudert werden. 115 Es sollte auch nie vergessen werden, daß sich der demokratische Steuergesetzgeber hier eine Blöße gibt, die von politisch extremen Kräften für deren Zwecke ausgenutzt werden könnte. Zu denken ist an dunkle Seiten der deutschen Geschichte.116 Im übrigen erfaßt das Strafrecht weder einen Tatbestand, der in einer bewußt zu niedrigen Steuerfestsetzung durch den veranlagenden Steuerbeamten besteht,117 noch den Tatbestand einer Steuerüberhebung mit der Tatbestandsvoraussetzung einer bewußt zu hohen Steuerfestsetzung durch den veranlagenden Steuerbeamten. Die Verschwendung von Steuergeldern wird jedoch nicht allein durch Mittel des Strafrechts zu lösen sein. Strafrechtliche Sanktionen können nur in offensichtlich gelagerten Fällen verhängt werden, im übrigen hingegen steht es dem Strafrichter nicht zu, sich zum „Controller" des Staates aufzuschwingen. Die Ausgabenphilosophie eines Staates ist nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika von der „political-question" -Doktrin des US Supreme Court erfaßt 118 und fordert zu ihrer Kontrolle parlamentarische Kontrollinstanzen, insbesondere durch die Opposition und die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß die vollziehende Gewalt bezüglich der Grenzen ihres Tuns einer strafrichterlichen Kontrolle unterworfen wird. Die Besteuerungsmoral beinhaltet einen Auftrag an den Steuergesetzgeber, die Steuergesetze so auszugestalten, daß keine oder nur geringe Hinterziehungsmöglichkeiten bestehen. Es darf deshalb nicht Gesetze schaffen, die den Steuerbürger unter Einbeziehung menschlicher Schwächen zur Steuerhinterziehung verleiten und diesen somit in die Illegalität treiben. 119 114
Mackscheidt, Klaus, Die Entwicklung der Kölner Schule der Finanzpsychologie, S. 58. Wagner, Klaus R., Ist die Verschleuderung von Steuern wirklich folgenlos?, BB 1997, 1666, 1669. 116 So etwa die Propaganda im nationalsozialistischen Staat. Vgl. statt vieler Friesecke, Kuno, Steuermoral im nationalsozialistischen Staat, DStZ 1935, 96. 117 Giemulla, Elmar Maria, Die Strafbarkeit des Steuerbeamten wegen Steuerhinterziehung nach der AO 1977, S. 115 ff. 118 Hierzu ausführlich Scharpf, Fritz Wilhelm, Grenzen der richterlichen Verantwortung Die political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, S. 369 f. Scharpf führt allerdings aus, daß im Gegensatz zur Bundesebene in den Einzelstaaten der USA sehr wohl Steuerzahlerklagen gegen Ausgaben zugelassen sind. Currie, David, Die Verfassung der Vereinigten Staaten, S. 20, verwehrt sich jedoch dagegen, die political-question-Doktrin soweit auszulegen, daß jegliche als heikel einzustufende Fragen von einer richterlichen Beurteilung ausgeschlossen seien, weil dies eine Garantie eines Kerns der bürgerlichen Freiheit nicht mehr bieten könne. Anzufügen ist, daß das Bundesverfassungsgericht nicht die Befugnis besitzt, in einem zulässigen Verfahren eine Entscheidung aus Gründen der politischen Brisanz abzulehnen, da hierin eine Kompetenzüberschreitung läge. Zur unterschiedlichen Ausgestaltung in Deutschland und USA vgl. Obermeier, Ralph, Die Umsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch den Steuergesetzgeber, S. 1. 115
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
Weiterhin ist an dieser Stelle die Gesetzesanwendungsmoral120 zu nennen, die eine gleichmäßige Anwendung der Gesetze verlangt. Mit diesem Postulat ist es nicht zu vereinbaren, wenn Gewerbetreibende eine weitaus großzügigere Handhabung ihrer Steuerveranlagung erfahren als Arbeitnehmer. Es tun sich ferner erhebliche Mißstände auf, die ihre Ursache unter anderem im Länderfinanzausgleich haben. Obgleich jeder Betriebsprüfer dem Staat pro Jahr Mehrergebnisse an Steuern aufgrund seiner Prüfungstätigkeit erwirtschaftet, die weit seine Personalkosten übersteigen, wird gerade im Bereich der Gewinneinkünfte Personal abgebaut.121 Die Begründung ist einfach: Die Personalkosten des Prüfers muß das jeweilige Bundesland tragen, die zu erwartenden Mehrergebnisse sind jedoch über den Länderfinanzausgleich in die Gemeinschaftskasse abzuführen und kommen somit nicht demselben Bundesland unmittelbar zugute. Gleichzeitig ist jedes Bundesland vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit aber bemüht, nicht durch eine zu strenge Prüfungspraxis die Ansiedlung von Unternehmen abzuschrecken. 122 Dem Vollzugsdefizit im Steuerstaat entsprechen Leistungsüberhänge im Leistungsstaat, die massenweise gewährt über die materielle Sozialnorm hinausgehen.123 Im übrigen brauchen Steuerhinterzieher keinen Vertrauensschutz durch die Bundesregierung nach Erlaß des Zinsurteils 124 des Bundesverfassungsgerichtes. 125 Wer den ehrbaren Bürger durch derlei Verhalten des Staates konsterniert, braucht sich über ein Sinken der Steuermoral nicht zu wundern. Der wirtschaftlich „koope-
119 Weber-Grellet, Heinrich, Der Steuerstaat - Inhalt und Grenzen, FS f. Diether Posser, S. 395, 414. 120 Ondracek, Dieter, Zum Gleichmaß der Besteuerung, S. 234. 121 Die im Mittel zu erwartenden Mehrergebnisse eines Betriebsprüfers lassen sich statistisch ermitteln. Keine Einigkeit besteht aber über die Frage, welche Kosten eine Betriebsprüfung verursacht. Wengert, Georg / Widmann, Andreas, Läßt sich das Rechtsinstitut der Außenprüfung verfassungsrechtlich und vor dem Hintergrund einer europäischen Steuerharmonisierung noch rechtfertigen?, BB 1998, 22, 23, halten die Betriebsprüfung dagegen nicht für kostendeckend, weil diese nicht effizient durchgeführt werde und die Auswahl der Betriebe nicht nach der individuellen Prüfungsbedürftigkeit erfolge, für die es keine bundeseinheitlichen Richtlinien gebe. Das Ziel einer allgemeinen Verbesserung der Steuermoral falle eher in den Aufgabenbereich der Steuerfahndung (dies., ebenda, S. 25). Es sollte schließlich auch Erwähnung finden, daß einzelne Bundesländer ihr Personal aufgestockt haben und die Prüfungsdichte erhöhen konnten, ζ. B. Bayern, siehe die Mitteilung des Bayerischen Staatsministeriums für Finanzen, StBK 3 - 1999, S. 16. 122 Ondracek, Dieter, Zum Gleichmaß der Besteuerung, S. 237. Kritisch auch Siekmann, Helmut, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 108 GG, Rn. 39. 123 Felix, Günther, Anmerkung zum Zinsversteuerungsurteil, FR 1991, 389, 391. 124 Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 ff. 125
Streck, Michael, Besteuerung inländischer und ausländischer Einkünfte aus Kapitalvermögen, S. 109, 118 hält dies für eine „kaum zu überbietende dreiste" Verletzung der Besteuerungsmoral. Hintergrund sind Äußerungen seitens der Bundesregierung, das Besteuerungssubstrat im Lande zu behalten und die Erfordernisse der inländischen Kapitalbildung und des Geldzustroms aus dem Ausland zu berücksichtigen.
§ 4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz
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rative Verfassungsstaat" 126 kann gerade international nicht durch Protektion der Steuerhinterziehung bestehen. Diese Beispiele mögen genügen, um die Feststellung zu treffen, daß die sinkende Steuermoral Folge einer gesunkenen Besteuerungsmoral ist. Notkompetenzen gegen eine sinkende Steuermoral stehen dem Staat daher nicht gut zu Gesicht. Dem Spruch „Not kennt kein Gebot" fehlt damit jede Grundlage. 127 Dem Inquisitionsbedürfnis des Steuergläubigers sind damit Schranken schon aus seinem eigenen Tun gesetzt. Aus der Geschichte gibt es keine Hinweise, daß der demokratische Rechtsstaat in der Durchsetzung der von ihm geforderten Steuern den Strukturen einer Diktatur unterlegen ist. Im Gegenteil vermochten weder die Unterordnung des einzelnen Bürgers unter die Gemeinschaft („Gemeinnutz geht vor Eigennutz ") noch der Einsatz massiver staatlicher Gewalt gegenüber steuerhinterziehenden „Volksschädlingen" die Steuerehrlichkeit der Steuerpflichtigen positiv zu beeinflussen. 128
§ 4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz Klaus Tipke, hat das Schlagwort von der „Notwehr durch Steuerhinterziehung " 1 2 9 geprägt. Fehlende Besteuerungsmoral läßt die Akzeptanz steuerlicher Lasten sinken. Sinkende Akzeptanz zieht Steuerwiderstand 130 nach sich. Ungerechte Steuern haben schon in der Geschichte immer wieder die Autorität des Staates im ganzen gefährdet. 131 Komplizierte, unfaire und systemgefährdende Regeln können sich nur dort halten, wo die Macht vorhanden ist, das „Mitspielen" zu erzwingen. 132 Da das Steuersystem in Teilen auf Freiwilligkeit aufgebaut ist, sind unfaire und komplizierte Regeln nicht durchsetzbar. Ein Unrechtsbewußtsein im Steuerstrafrecht entwickelt sich nur dort, wo gerechte und nachvollziehbare Regeln im Steuerrecht herrschen. Steuerhinterziehung ist sonst nicht Ausdruck einer ei126
Zum Begriff Häberle, Peter, „Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, Jura 1987, 577, 583; ferner ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 175. 127 Abi. auch Rüping, Hinrich, Beweisverbote als Schranken der Aufklärung im Steuerrecht, S. 20. w Siehe hierzu nur Engel, Hartmut, Steuermoral im Dritten Reich, StB 1998, 469, 471. 129 Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 121; zustimmend: Salditi, Franz, Hinterziehung ungerechter Steuern, Stra.F.o 1997, 65, 67. 130 Vogel, Klaus, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), 481, 482, spricht statt von Steuerwiderstand von der „heimlichen Steuerrevolte". 131 Lang, Joachim, Über das Ethische der Steuertheorie von Klaus Tipke, in: FS f. Klaus Tipke, S. 4. 132 Helsper, Helmut, Die Chaotisierung der Steuerrechtsordnung und die Verantwortung der Führungskräfte, BB 1996, 2326, 2326. 5 Röckl
6 6 2 .
Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
gennützigen Gesinnung auf Kosten der Gemeinschaft, sondern der Versuch, die Belastungsgleichheit zu schaffen, die der Steuerstaat selbst nicht hervorbringen konnte. 133 Ein massenweises Auftreten von Bürgern als Mogler und Schnorrer ist die Folge einer Fehleinschätzung des Steuerrechts und seiner Möglichkeiten. 134 Rechtshistorisch ist anzumerken, daß die Aufforderung zum Steuerstreik durch § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 15. 09. 1923 135 unter Strafe gestellt war. 136 Tatsächlich war die Weimarer Republik nicht nur durch eine schwindende Steuermoral gekennzeichnet, vielmehr riefen die extremistischen Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums gezielt dazu auf, Steuerzahlungen zu verweigern oder Falschangaben zu machen, um den Staat zu zerstören. 137 Auf legalem Wege vollzieht sich heute der Steuerwiderstand dieser Tage in einer Rechtsbehelfs- und Prozeßlawine. 138 So ist es nichts Ungewöhnliches mehr, daß beim Bundesverfassungsgericht ständig hunderte von Verfahren wegen Berufung auf die Verfassungswidrigkeit von Steuergesetzen anhängig sind. 139 Für diese Misere ist der Steuerstaat in erheblichem Maße selbst verantwortlich, da er gerade das Steuerrecht für die Wachen und Hellen geschaffen hat. 1 4 0 Querulatorische Einspruchsführer und Steuerhinterzieher sind wegen der hinausgeschobenen Bestandskraft bzw. der hinausgeschobenen Festsetzungsveijährung (§171 Abs. 5 und 7 AO) regelmäßig die Nutznießer der späteren Erkenntnis, daß eine Steuernorm als verfassungswidrig einzustufen ist, da Jahre ins Land gehen, bis eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vorliegt. 141 Zwar hat der Gesetzgeber zwischenzeitlich mit § 165 Abs. 1 Nr. 2 AO reagiert und die Möglichkeit einer Steuerveranlagung mit Vorläufigkeitsvermerk geschaffen, im Hinblick auf die aktuelle Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts zur „Ergreiferprämie" könnte dies jedoch bald wieder hinfällig werden. 142 . Im Ergebnis führt der beschriebene Steuerwider133
Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 121. Helsper, Helmut, Auf der Grundlage der Evolutionären Erkenntnistheorie zu einem leistungsfähigen Recht, in: Riedl, Rupert/Delpos, Manuela (Hrsg.), Die Evolutionäre Erkenntnistheorie im Spiegel der Wissenschaften, S. 374, 382. »s RGBl I 1923, 879 ff. 136 Hierzu m. w. N. Bühler, Ottmar, Steuerrecht I, S. 438. 134
137 Engel, Hartmut, Steuermoral im Dritten Reich, StB 1998,469,470. 1 38 Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 56 ff. 139 Miehler, Kurt /Kronthaler, Ludwig, Das Steuerrecht und die Gerechtigkeit, DStZ 1992, 257, 257, führen an, daß allein im Jahre 1992 wegen der Problematik der Grund- und Kinderfreibeträge die Zahl der anhängigen Verfahren auf 400 gestiegen ist. m Miehler, Kurt/Kronthaler, Ludwig, a. a. O. (Fn. 139), DStZ 1992, 257, 258. i 4 i Halaczinsky, Raimund, Verfassungswidrigkeit und Bestandskraft, DStZ 1995, 622, 622, beklagt, daß die Steuerpflichtigen inzwischen derart darauf fixiert sind, mit allen verfahrensrechtlich denkbaren Mitteln, den Eintritt der Bestandskraft von Steuerbescheiden zu verhindern, sobald „irgendein Experte in irgendeiner Zeitschrift, Fernseh- oder Radiosendung" behauptet, daß eine bestimmte Norm verfassungswidrig sei.
§ 4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz
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stand zu untragbaren Risiken für den öffentlichen Etat, die ein Mindestmaß an Planungssicherheit ausschließen. Beim einzelnen Bürger haben Gesetzeslücken, Steuerausweichmöglichkeiten und Systemwidrigkeiten häufig die Rolle eines „Beruhigungsmittels", 1 4 3 indem sie ihm Inseln der Freiheit zurücklassen und ihm das Gefühl geben, dem Finanzamt ein Schnippchen geschlagen zu haben. I m Bereich der Illegalität wächst der Umfang der Schattenwirtschaft mit der Unfähigkeit des Gesetzgebers, verfassungskonforme Gesetze zu schaffen. Ob zur Rechtfertigung eines Steuerwiderstandes aber das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG der richtige Ansatzpunkt ist, muß bezweifelt werden. 1 4 4 Geschichtlich von Bedeutung ist weiterhin, daß der Ausbruch von Revolutionen und bedeutenden gesellschaftlichen Umwälzungen häufig durch massenhafte Auflehnung gegen eine als ungerecht empfundene Steuer begleitet werden. 1 4 5 Die katholische Moraltheologie entwickelte aus den Gedanken von Thomas von Aquin die Unterscheidung zwischen den i m Gewissen verpflichtenden Gesetzen und den bloßen „Pönalgesetzen", 1 4 6 zu denen zeitweilig einzelne Steuergesetze ge-
142 Hierzu noch ausführlich unten, Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e)aa)(l)(c),Analyse bisheriger steuerverfassungsrechtlicher Unvereinbarkeitsentscheidungen" auf S. 181 ff. 143
Strümpel, Burkhard, Steuermoral und Steuerwiderstand der deutschen Selbständigen, S. 31. 1 44 So aber Miehler, Kurt/Kronthaler, Ludwig, a. a. O. (Fn. 139), DStZ 1992, 257, 257. 145 Pohmer, Dieter, Wirkungen finanzpolitischer Instrumente, HbFw Bd. I, S. 209. 146 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die heutige Behandlung von Kirchensteuern im Steuerstrafrecht und die Problematik, ob eine Hinterziehung von Kirchensteuern Gegenstand eines Straftatbestandes ist. Der Anwendungsbereich der Abgabenordnung erstreckt sich infolge § 1 Abs. 1 AO nicht auf von Landesgesetzgeber erlassene Steuervorschriften. Eine Einbeziehung ist nur über eine Verweisung im Landeskirchensteuergesetz möglich. Die Kirchensteuergesetze der Länder enthalten durchgängig Bestimmungen, wonach die Vorschriften der §§ 369 - 412 AO für die Kirchensteuer keine Anwendung finden. Kirchensteuern sind daher keine Steuern im Sinne der Abgabenordnung (Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 AO, Rn. 23). Dies gilt nunmehr ebenso über § 12 Abs. 1 S. 2 KiStG DDR für die neuen Bundesländer. Eine Ausnahme hiervon macht lediglich § 10 Abs. 1 S. 4 KiStRG Niedersachsen, welches auf Antrag eine Verfolgung als Steuerstraftat vorsieht. Dies würde freilich eine Bestrafung nicht ausschließen. Tatbestandlich könnten die Voraussetzungen des § 263 StGB erfüllt sein (Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 370 AO, Rn. 24). Die Ermittlungskompetenz hierfür liegt ebenfalls bei den Finanzbehörden. Dies folgt aus der Bestimmung des § 386 Abs. 2 Nr. 2 AO. Nach dem Wortlaut wird unterschieden zwischen einer Straftat, die eine Steuerstraftat darstellt (§ 386 Abs. 2 Nr. 1 AO) und einer Straftat, die andere Strafgesetze oder Kirchensteuern oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben verletzt. Aus dem ausdrücklichen Ausklammern der §§ 369 ff. AO im Kirchensteuerrecht wird teilweise gefolgert, daß der Gesetzgeber eine gänzliche Freigabe auch des Kirchensteuerbetruges gemäß § 263 StGB wollte, teilweise daß § 370 AO gegenüber § 263 StGB eine abschließende Sonderregelung darstellt (Rönnau, Thomas, Die Verkürzung von Kirchensteuern - ein Betrug ohne Folgen?, wistra 1995, 47, 47). Nach anderer Ansicht ist der Strafanspruch des Staates dadurch nicht berührt, daß nach dem Willen der Kirchen auf eine Bestrafung verzichtet wer5*
6 8 2 .
Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
rechnet wurden. 147 Schließlich wurde auf der Grundlage der Lehren von Francisco Suarez und von Thomas Sanchez die Ansicht vertreten, nur gerechte menschliche Gesetze verpflichten im Gewissen.148 Auch wenn manche sagen würden, es gäbe kaum eine gerechte Steuer, so sei diese ein Ausdruck kommutativer Gerechtigkeit und kompensiere dem Staat die öffentlichen Lasten, derentwegen sie geleistet werden. Fehlt dieser Zusammenhang oder werden die Steuern vergeudet, so sei es nicht unerlaubt, sich der Steuer zu entziehen.149 Der Begriff des illegalen Steuerwiderstandes führt schließlich auf ein zentrales Problem. Es besteht grundsätzlich eine Pflicht, auch einem ungerechten Gesetz zu gehorchen. Ausgangspunkt sollen hier Überlegungen sein, die auf grundlegende Gedanken von John Rawls in seinem Werk „A Theory of Justice" 150 zurückgehen, später von ihm weiterentwickelt wurden und hier für eine verfassungsrechtliche Betrachtung des Steuerstrafrechtes nutzbar gemacht werden sollen. Seine Philosophie ist deswegen besonders aufschlußreich, weil er nicht von einem übertriebenen Utilitarismus ausgeht, wonach es das kollektive Wohlergehen zu maximieren gälte, die Verteilung über die einzelnen Mitglieder aber allenfalls mittelbar von Bedeutung wäre. Vielmehr beruht seine „ Theorie der Gerechtigkeit" auf einer politischen Gemeinschaft, die alle ihre Mitglieder in gleichem Maße an den Vorteilen und Lasten beteiligt und die Freiheit über den ökonomischen Nutzen stellt. Es ist einzuräumen, daß „A Theory of Justice" nur wenige Hinweise zur Behandlung praktischer Fragen enthält und eher für Aussagen zur Verteilungsgerechtigkeit des Steuerrechts, als zu Verfahrensfragen herangezogen werden kann, 151 weswegen Alexy 152 auf der Grundlage einer Diskurstheorie mit zahlreichen Berührungspunkden soll (Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 618). Jedenfalls aber wird in der Praxis auf eine Verfolgung verzichtet. (Suhr/Naumann/Bilsdorf er, Steuerstrafrechtskommentar, S. 45), regelmäßig ist eine Verfolgungsbeschränkung nach § 154 a StPO angezeigt (Wannemacher, Wolfgang, ebenda, Rn. 619). Auch in Niedersachsen wird der erforderliche Strafantrag durch die Kirche nicht gestellt, so daß ein Prozeßhindernis besteht. Da die Religionsgemeinschaften kraft staatlicher Beleihung Hoheitsbefugnis besitzen, Steuern zu erheben, sind sie bei dieser Tätigkeit grundrechtsgebunden (Morlok, Martin, in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar, Art. 4, Rn. 81). Die negative Finanzierungsfreiheit, das heißt, das Recht, keine Glaubensgemeinschaft unterstützen zu müssen, der man nicht angehört, schließt für die Mitglieder einer bestimmten Glaubensgemeinschaft die Verfolgung wegen Kirchensteuerhinterziehung nicht aus (Morlok, Martin, ebenda., Rn. 101). 147 Schmölders, Günter, Das Irrationale an der öffentlichen Finanzwirtschaft, S. 98; Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 74. Diese Ansicht ist umstritten und wird heute von Theologen weitgehend abgelehnt, vgl. Höffner, Joseph, Eigentumsbegriff und heutige Besteuerungsgrundsätze, StuW 1952, 376, 384. 148 Diese Annahme wird auch heute so vertreten, auch von Stimmen der evangelischen Theologie. Vgl. Naumann, Kurt, Steuergerechtigkeit und Steuermoral, BB 1967, 1433, 1433. 149 Hamm, Franz, Zur Grundlegung und Geschichte der Steuermoral, S. 234 f. und 244 f. 150 Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 386 ff. 151 Eckhoff,
Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 216.
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ten zu Rawls ' Theorie um praktische Lösungen bei der juristischen Argumentation •
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ringt. Rawls stützt sich auf eine moderne Fortentwicklung der Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Der Urzustand ist die Vorstellung, daß eine Gruppe von Männern und Frauen zusammenkommt, um einen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Dabei befaßt er sich mit der Thematik „Rechte des Bürgers gegen den Staat". Er findet damit die Zustimmung von Stimmen, die seit langem die Verschmelzung von Verfassungsrecht und Moralphilosophie fordern. 154 Daß gerechten Gesetzen zu folgen ist, steht für ihn außer Frage. Dies gebietet schon die Autorität des Parlaments als dem Urheber des Gesetzes. Inhaltlich läßt sich die Pflicht, einem gerechten Gesetz zu folgen, seinem Verständnis nach aus der Lehre vom Gesellschaftsvertrag ableiten. Die Frage, wann ein Gesetz gerecht ist, beantwortet er ebenfalls mit der Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Um jedoch die Schwächen von Konsequenz-Regeln zu vermeiden, wie sie bereits oben beim Ansatz von Kant erörtert wurden, bedient er sich eines Kunstgriffes, indem er den „ veil of ignorance", den „Schleier des Nichtwissens über die Beteiligten legt, sie sodann über gerechte Regeln abstimmen läßt, ohne daß der Betreffende zu diesem Zeitpunkt weiß, welche Position er zuletzt einnehmen wird, d. h. ob ihm die Regeln zum Vor- oder Nachteil gereichen. Dies hat Rawls die Kritik eingebracht, die hierin liegende Fiktion decke sich in der Realität kaum mit der Situation der Entscheidungsträger im Steuerrecht. 155 Angreifbar ist weiter seine Annahme, daß in dieser Ausgangssituation sich der Einzelne für eine größtmögliche Freiheit einsetzt, die mit einer gleichen Freiheit für alle vereinbar ist, und daß Ungleichheiten an Macht, Reichtum, Einkommen nur insoweit bestehen dürfen, als sie dem absoluten Nutzen der am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitglieder dienen. 156 Rawls hat dennoch großen Zuspruch für seine Lehren erfahren, so zuletzt in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. 11. 1999 zur Verfassungsmäßigkeit des Finanzausgleichsgesetzes, 157 in der das Gericht den „Schleier des Nichtwissens" aufgreift. 152
Alexy, Robert, Theorie der juristischen Argumentation, S. 132. Immerhin fürchtet sich die angelsächsische Literatur anders als das deutschsprachige Schrifttum nicht, in der Auseinandersetzung mit Problemen der Lebenswirklichkeit nicht mehr als Philosophen zu gelten. Vgl. Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 10. 153
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Dworkin, Ronald, Bürgerrechte ernstgenommen (Taking rights seriously), S. 251. 155 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 300. Siehe auch die Kritik von Habermas, Jürgen, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Wilfried, Zur Idee des politischen Liberalismus, S. 169, 179, der in weiten Teilen mit Rawls übereinstimmt, jedoch im Schleier des Nichtwissens einen vermeidbaren Entzug an Informationen sieht, der entsprechend der von ihm vertretenen Diskursethik aufgrund einer intersubjektiv durchgeführten Argumentation umgangen werden könnte. 156 Zur Kritik ausführlich Dworkin, Ronald, a. a. O. (Fn. 154), S. 253. 157 BVerfG Urt. v. 11. 11. 1999 - 2 BvF 2/98, NJW 2000, 1097, 1098. Zurückhaltend dagegen Klaus Tipke, der darauf verweist, daß im Finanzausschuß des Bundestages zwar ein vernünftiger Diskurs im Habermasschen Sinne geführt wird, jedoch dessen Mitgliedern
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Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
Es bedarf ausgehend von seinen Lehren ebenso keiner besonderen Schwierigkeit, Antworten auf die Frage zu finden, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Gesetzesbefehl eines ungerechten Systems, etwa eines totalitären Regimes, nicht gefolgt zu werden braucht. Denn hier ist auf die Idee eines übergesetzlich geltenden Naturrechts 158 zurückzugreifen, nach der das positive Recht in dieser rechtlichen Situation gegen ungeschriebene, aber übergeordnete Menschenrechte verstößt und somit keine Geltung beanspruchen kann. Nicht so leicht beantwortet werden kann hingegen die Frage, ob dem Bürger eine Pflicht auferlegt ist, in einem fast gerechten Staat einem ungerechten Gesetz zu gehorchen. Ein in allen entscheidenden Punkten intakter Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland ist als fast gerechter Staat in diesem Sinne zu verstehen. Er ist fast gerecht, weil eben doch einzelne ungerechte Gesetze erlassen werden. Ein Widerstand hiergegen kann glaubhaft nur in sehr engen Grenzen gerechtfertigt sein. Die im Hinblick auf die Steuergerechtigkeit unzulänglichen Zustände werden so nicht verhindert. Es besteht die Gefahr, daß die Minderzahlung aufgrund einer Steuerverkürzung zu einer ungerechten Lasten Verteilung gegenüber denjenigen führt, die sich einer Steuer nicht entziehen können. 159 Die katholische Moraltheologie nimmt hierzu dahingehend Stellung, daß Widerstand nicht gänzlich ausgeschlossen sei, im Ergebnis jedoch hinterzogene Steuern sanktionslos nachzuentrichten seien. 160 Grundsätzlich spreche aber eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit und dem Steuerpflichtigen stehe es nicht zu, sich zum Richter in eigener Sache aufzuschwingen. 161 Die Gedanken von John Rawls blieben nicht unwidersprochen, da er die Steuer nur als Mittel der Redistribution ver-
nicht der Schleier des Nichtwissens vor Augen gehalten wird (ders., Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 62). 158 Es fragt sich allerdings, ob mit dem Begriff des „Naturrechts" viel gewonnen ist. Siehe hierzu die Kritik in der verfassungsrechtlichen Diskussion von Peter Häberle, der den Begriff für „schillernd" und im übrigen für vorbelastet, weil zu einseitig individualistisch geprägt, hält. Wenn auch Einbruchstellen des Naturrechts in der positiven Verfassung nicht von der Hand zu weisen sind, so ist der Begriff des Naturrechts nicht mehr in der Lage, den Prozeßcharakter des Verfassungsrechts einzufangen. Denn das Verfassungsrecht muß im öffentlichen Prozeß von Menschen verantwortet, gestaltet und fortentwickelt werden. Vgl. Häberle, Peter, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, in: ders.: Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 93, 97. 159 Nell-Breuning, Oswald von, Steuermoral, Staatslexikon Bd. 7, Sp. 700. 160 Vgl. auch Pausch, Alfons /Pausch, Jutta, Steuern in der Bibel, S. 98, die in Mk 12, 17 „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört" die Aussage erkennen, daß der Staats- und Steuergewalt etwa bei totalitären Staaten Grenzen gesetzt sind. 161 Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 73. Höffner, Joseph, Eigentumsbegriff und heutige Besteuerungsgrundsätze, StuW 1952, 376, 384, beruft sich auf das Zitat von Thomas vonAquin „Nonprivata, sedpublica auctoritate" und folgert hieraus für das Steuerrecht, daß die Bürger nicht durch Steuerhinterziehung, sondern durch eine auf demokratischem Wege eingeleitete Steuerreform Veränderungen suchen sollten.
§ 4 Steuerwiderstand und schwindende Akzeptanz
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steht. Die Sichtweise, daß Steuern schon gerechtfertigt sind, wenn sie der distributiven Gerechtigkeit dienen, muß als zu eng bezeichnet werden. 162 Unter dem Stich wort des „zivilen Ungehorsams" 163 wurde viel zum Widerstand des Bürgers gegenüber ungerechten Gesetzen geschrieben. Soweit dies deutsche Verhältnisse betraf, bezog es sich häufig auf Widerstand des Bürgers gegenüber einer bestimmten Verteidigungspolitik. Auf Fragen des Steuer- und Steuerstrafrechts ist dies kaum und allenfalls ansatzweise übertragbar. Denn nur in krassen Ausnahmefällen wird sich hier eine Steuerverweigerung moralisch rechtfertigen lassen. Schon generell stellt sich die Frage, ob nicht per definitionem beim „zivilen Ungehorsam" das Risiko entsprechender Sanktionen von Befürwortern bewußt auf sich genommen wird, soweit von einer eindeutigen Definition überhaupt gesprochen werden kann. 164 Der Begriff „ziviler Ungehorsam" selbst ist nämlich eher unscharf. Rawls versteht hierunter eine politische Handlung, die sich an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit richtet, um eine neuerliche Betrachtung der Maßnahmen zu erzwingen, gegen die protestiert wird. 1 6 5 Sie sollte sich auf grundlegende Fragen konzentrieren und einen Appell an die jeweilige Mehrheit darstellen. Zur Legitimation führt er aus, daß der Protest sich gegen bestimmte Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten muß, alle legalen Mittel erschöpft sein müssen und schließlich die Funktionsfähigkeit der Verfassungsordnung nicht gefährdet werden darf. Unter dieses enge Verständnis könnte eine Steuerhinterziehung regelmäßig nicht eingeordnet werden, weil sie regelmäßig den Charakter des Heimlichen besitzt und sich von einem offenen Protest zur Umstimmung der Mehrheitsmeinung unterscheidet. Ein offener Protest wäre dagegen nicht von vornherein ausgeschlossen. Seine Rechtfertigung könnte im Einzelfall aus der Theorie des Gesellschaftsvertrages folgen. Danach anerkennt der Einzelne zwar zunächst mit der Zustimmung zu einer demokratischen Verfassung das Prinzip der Mehrheitsregierung an und damit auch eine unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit, jedoch beruht auch das Mehrheitsprinzip auf Gerechtigkeitsprinzipien. Gegenüber einer ungerechten Mehrheitsmaßnahme kann man sich aber gerade auf diese Gerechtigkeitsprinzipien berufen. 166 Mit Habermas 167 ist äußerste Zurückhaltung zu wahren. Seiner Ansicht 162 Vogel, Klaus, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), 481, 481, unter Bezugnahme auf einen unveröffentlichten Vortrag von James M. Buchanan mit dem Hinweis, daß gerade eine auf den Gesellschaftsvertrag gestützte Argumentation dazu führt, Grenzen einer Umverteilung zu fordern. 163
In der Strafrechtswissenschaft wird „ziviler Ungehorsam " dogmatisch § 34 StGB und damit der Ebene der Rechtfertigung zugeordnet, womit über die Anerkennung eines solches Rechtfertigungsgrundes jedoch noch nicht entschieden ist, vgl. Kühl, Kristian, Strafrecht, Allgemeiner Teil, S. 340 f. Das Bundesverfassungsgericht hat anläßlich Sitzblockaden zu dieser Problematik Stellung genommen, Urt. v. 11. 11. 1986-1 BvR 713/83, BVerfGE 73, 206, 250 ff., und darin einen Widerspruch gesehen, daß die Rechtsordnung illegales Verhalten legalisiert. 164 Urt. a. a. O. (Fn. 163), BVerfGE 73, 206, 252. 165 Rawls, John, Die Rechtfertigung bürgerlichen Ungehorsams, in: ders., Gerechtigkeit als Fairneß, hrsg. v. Otfried Höffe, S. 165, 165 f.
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Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
nach spricht gegen eine Legalisierung schon ein unerwünschter Normalisierungseffekt. Deshalb muß ziviler Ungehorsam in der Schwebe zwischen Legalität und Legitimität bleiben. Er kann dann aber nur eine moralische, keine juristische Rechtfertigung liefern. Einigkeit besteht etwa darüber, daß Steuerhinterziehung eine moralische Berechtigung hätte, wenn die hinterzogenen Steuern beispielsweise dazu dienten, Hitlers Kriegsmaschinerie zu finanzieren. 168 Gegenüber einer demokratischen Regierung ist hingegen der politische Prozeß das geeignetere Mittel. Im übrigen aber ist Bayer zuzustimmen, der nachweist, 169 daß ein Recht zur Steuerverweigerung auch nicht vor der historischen Entwicklung des Art. 20 Abs. 4 GG oder vor dem Gedanken der Subsidiarität zu rechtfertigen ist, denn es wird kein Widerstand gegenüber dem Versuch geleistet, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen. Dennoch war die Frage der Besteuerung mit Grundfragen und daraus sich ergebenden Rechten des Bürgers aus der Verfassung schon in der geschichtlichen Entwicklung eng verbunden. „No taxation without representation " lautete 1773 der Ruf der Boston Tea-Party, an die sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung anschloß.170 Zu denken ist weiter an den Abfall der Niederlande von der spanischen Herrschaft. 171 Nicht verleugnen läßt sich, daß das heutige Steuerrecht nicht unerhebliche Demokratiedefizite aufweist, da es sich infolge seiner mangelnden Transparenz und Undurchsichtigkeit für den Bürger nicht mehr auf den Volkswillen zurückführen läßt. 172 Ermittlung und Erhebung der Steuern sind für einen im übrigen steuerwil166 Rawls , John, a. a. O. (Fn. 165), S. 165, 174. 167 Habermas, Jürgen, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, S. 79, 90. 168 Dieses Beispiel findet sich bei McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 8. 169 Bayer, Hermann-Wilfried, Steuerungehorsam und Widerstandsrecht, DOV 1970, 114,
118. 170 Der Boston Tea Party ging der Stamp Act von 1765 voraus, der die Ausfertigung offizieller Dokumente und den Vertrieb von Zeitungen besteuerte, um die Kosten des Krieges zwischen England und Frankreich zu finanzieren. Zum geschichtlichen Hergang ausführlich: Frotscher, Werner ! Ρieroth, Bodo, Verfassungsgeschichte, Kap. 1, Rn. 21 f. 171 Diebold, Urs, Der illegale Steuerwiderstand, S. 5, und Simmich, Claus, Die Steuermoral als verfassungsrechtliches und steuerrechtliches Problem, S. 65 f., mit weiteren Beispielen aus der Geschichte. Vgl. auch Martinez, Jean-Claude, La fraude fiscale, S. 24. Ferner führt Schmölders, Günter, Das Irrationale an der öffentlichen Finanzwirtschaft, S. 115, weiter den Winzersturm auf das Finanzamt von Bernkastel an, der 1926 zur Aufhebung der Reichsweinsteuer führte, und die Pommersche Bauernbewegung vom 1931 im Zeichen der Schwarzen Fahne. Vogel, Klaus, Rechtfertigung der Steuern: eine vergessene Vorfrage, Der Staat 25 (1986), S. 481, 483, verweist auf Steuerverweigerungsbewegungen in Frankreich unter Poujade, in Dänemark unter Glistrup sowie auf eine amerikanische Steuerrevolte der späten siebziger Jahre. Alfons Paasch/Jutta Pausch, Steuern in der Bibel, S. 24, benennen einen Steueraufstand nach der Volkszählung (Apostelgeschichte 5, 37).
1 72 Hayek , Friedrich Α., Die Verfassung der Freiheit, S. 407.
§ 5 Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht
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ligen Bürger häufig unüberschaubar kompliziert, so daß dieser zu eigenmächtigen Vereinfachungen greift. 173 Dennoch sollte einem Niedergang des Steuerwesens aktiv entgegengewirkt werden. Mit dem Schicksal des Steuerstaates ist das Schicksal des Verfassungsstaates eng und untrennbar verbunden. Mit Recht warnen daher Stimmen davor, den Steuerstaat resignierend aufzugeben. 174 Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Steuerkulturstaat, 175 dessen beachtenswerter Kultursprung liegt im Übergang von der Abgabenwillkür zum Steuerrecht, zur geregelten Steuerrechtsordnung bis herauf zum Steuerstaat. 176 Die gerechte Lasten Verteilung eines Staates ist ein untrüglicher Maßstab für die Höhe seiner Rechtskultur. 177 Er muß gegen Erosion geschützt werden. Der Weg hierzu ist durch die Verfassung gezäumtes Steuerstrafrecht und ein steuerethischer Diskurs in der Gesellschaft.
§ 5 Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht Steuerliche Tatbestände sind häufig vom Gesetzgeber nicht völlig trennscharf zu formulieren. Der Gesetzgeber ist gesetzestechnisch nicht in der Lage, alle denkbaren Lücken und Umgehungsmöglichkeiten vorherzusehen. Die Wirtschaftssubjekte sind regelmäßig der Versuchung ausgesetzt, bis an die Grenze des Zulässigen zu gehen, soweit dies ökonomisch rational erscheint. Dabei will man keine Steuern hinterziehen, aber wohl die vorhandenen Freiräume bis zum äußersten ausreizen. Ist dieses Umgehungsverhalten in der Grauzone zwischen Tatbestand und Nichttatbestand ethisch verwerflich? In der Literatur wird hierfür der eher erfahrungswissenschaftlich als juristisch geprägte Begriff des „ Grenzverhaltens " gebraucht. Zutreffender dürfte der Begriff der Gesetzesumgehung sein. Ein solches Verhalten ruft Gegenmaßnahmen hervor. Maßnahmen hiergegen machen engmaschige Kontrollen auch des redlichen Bürgers erforderlich. Sogenannte Mißbrauchsgesetze engen die wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit als Folge weiter ein. Ein Stück Unfreiheit entsteht.178 Man ist leicht geneigt, hieraus ein Postulat abzuleiten, der Bürger möge sich nicht in die Grau173
Frees, Christian-Peter, Die steuerrechtliche Selbstanzeige, S. 85. 174 Pausch, Alfons, Steuerkultur mit Geist und Herz, DStZ 1992, 520, 522. 175
Zur Kulturstaatsidee allgemein Häberle, Peter, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, in: Becker/Lichtenstein-Rother/Stopp (Hrsg.), Wertepluralismus und Wertewandel heute, S. 79. 176 Pausch, Alfons, a. a. Ο. (Fn. 174). 177
Bramson, Karl-Heinz, Ethische Betrachtungsweise im Steuerrecht, FS f. Armin Spitaler, S. 46. i™ Menck, Thomas, Grenzverhalten im Steuerrecht, DB 1975, 1859, 1860; ihm nachfolgend Latsch, Willi, Werten und Bewerten - Die steuerliche Außenprüfung im Spannungsfeld von Betrieb und Finanzbehörde, StBp 1985, 173, 175.
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Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
zone begeben. Jene Haltung, bis zur Grenze des „Gerade-noch-nicht-erwischt-werdens" zu gehen, anstatt gerade den Schutz der Norm zu suchen, wird als Ursache für eine sinkende Steuermoral genannt. 179 Es ist jedoch schon im Ansatz verfehlt zu glauben, daß jede Geldeinheit, die einem privaten Haushalt entzogen wird und statt dessen durch den Staat ausgegeben wird, das Gemeinwohl fördert. 180 Einzelne Stimmen, auch in der ökonomischen Literatur befürchten im Gegensatz hierzu, daß Steuerumgehung neben möglichen Wohlfahrtsverlusten zugleich eine Gefahr für den demokratischen Staat bedeuten könne, da sie zu einer nachlassenden Autorität der Rechtsordnung führen könnte. 181 Dem läßt sich entgegenhalten, daß Demokratie nach heutigem Verständnis nicht mit einem Obrigkeitsstaat gleichzusetzen ist, so daß dieser Befürchtung die Überzeugungskraft fehlt. Schließlich wird als unerwünschte Folge eines Umgehungsverhaltens erwartet, daß einzelne Steuerpflichtige nicht ihren gerechten Anteil an der Steuerlast tragen, den andere für sie übernehmen müssen. Es handelt sich hier aber um ein schwaches Argument, da als Vorfrage entschieden werden müßte, was den gerechten Anteil jedes einzelnen Steuerpflichtigen ausmachen würde. 182 Gerade diese Aufteilung müßte der Gesetzgeber im Gesetz klar zum Ausdruck bringen. Einzuräumen ist, daß mit einer Mathematisierung der Steuertatbestände dem Problem nicht beizukommen sein wird. Eine Präzisierung durch die Rechtsprechung ist nicht zu erwarten, da die Gerichte hier nur Einzelfallentscheidungen liefern können, die zur Entscheidung des nächsten Falles nichts beitragen können. 183 Dies rührt auch daZur Kritik an Menck siehe Thiel, Rudolf, Ist die Ausnutzung steuergesetzlicher Unzulänglichkeiten illegitim?, FR 1976, 53, 56, der Menck eine nur moralische, aber nicht juristische Qualität seiner Argumente vorwirft. In seiner Erwiderung führt Menck aus, daß der von ihm geprägte Begriff „Grenzverhalten" kein neuer juristischer Tatbestand sein sollte. Ein solcher hätte in unserem Recht keine Grundlage, da er ein tatsächliches Verhalten der Normadressaten gegenüber der Norm beschreibt und somit nicht zur Bestimmung des Norminhalts selbst verwendet werden könne. Deshalb würde eine solche Begriffsbildung die Abgrenzung von Normeinhaltung und Normüberschreitung verwischen. Die Terminologie diene daher nur dazu, den Blick auf die Rechtswirklichkeiten zu lenken (ders., Zum Problem des „Grenzverhaltens" im Steuerrecht, StuW 1976,113, 113). Deutliche Ablehnung findet sich auch bei Friedrich, Werner, Die gesetzlichen Grenzen der Besteuerung im Rechtsstaat, DB 1976, 354, 355, der auf die Parallelen der Argumentation von Menck und der Darstellung von Fritz Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, hinweist. 179 Höffner, Joseph, Eigentumsbegriff und heutige Besteuerungsgrundsätze vom Standpunkt der Moral, StuW 1952, 376, 384. 180 Krit. Papier, Hans-Jürgen, Steuerreform als Verfassungsproblem, Stbg 1999,49, 50. 181 Oberheide, Ralf, Die Bekämpfung der Steuerumgehung, S. 35 f. iss Zweifelnd McGee, Robert W., When is Tax Evasion Unethical?, in: ders. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 5, 19. 183
Kaligin, Thomas, Plädoyer für eine partielle Totalrevision des deutschen Steuerrechts, DStZ 1985, 219, 221, führt aus, daß der Steuergesetzgeber durch seine systemlosen Gesetzeswerke fortwährend neue Auslegungsprobleme und damit Rechtsstreitigkeiten hervorbringt.
§ 5 Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht
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her, weil viele steuerliche Regelungen und vor allem deren noch größere Zahl von Ausnahmen sachlich keinen inneren Gesetzeszweck tragen, oftmals gar nicht begründbar sind, sondern die Folge eines Gesetzgebungsprozesses darstellen, der in weitaus größerem Umfang als in anderen Rechtsgebieten von Hektik, aber auch von Wählerstimmenmaximierung durchdrungen ist. 1 8 4 In der angelsächsischen ökonomischen Literatur wird die Frage aufgeworfen, warum ein solches Umgehungsverhalten unfair sein sollte. Die Unfairneß liegt tatsächlich im Steuersystem selbst, nicht im Beschreiten der Umgehungsmöglichkeit.185 Dennoch ist Grenzverhalten ein Ausdruck der Freiheit des Einzelnen, im Rahmen der Gesetze tun und lassen zu können, was er will. Das Entstehen steuerlich günstiger Gestaltungen ist ein evolutorischer Prozeß, der in unserem freiheitlichen Wirtschaftssystem angelegt ist. Steuerrechtsfreie Räume dürfen daher genutzt werden. 186 Umgekehrt bedürfen nur steuerliche Tatbestände als Einschränkung der Freiheit einer Rechtfertigung, deren „Randsäume" hingegen nicht. Wer eine Steuer umgeht, verhält sich in einer Weise, mit der er den Gesetzestatbestand eben gerade nicht verwirklicht. Ein solches Verhalten ist niemandem verwehrt. 187 Bei Lenkungssteuern ist dies geradezu erwünscht. 188 Im übrigen werden Steuern auf durch den Steuerpflichtigen erwirtschaftete Größen erhoben. Im Gegensatz zur Gewährung von Sozialleistungen ist es nicht verwerflich, hier Freiräume des Gesetzes zu nutzen. Letztlich ist Steuervermeidung ein Ausdruck unseres Wirtschaftssystems, das auf der Prämisse beruht, ein wirtschaftliches Ergebnis mit geringstem Aufwand zu erzielen, 189 mitunter des ökonomischen Prinzips überhaupt. Das richtig formulierte Ziel lautet dann nicht die Bekämpfung der Steuervermeidung, sondern die
184 So besonders entschieden vertreten von Helsper, Helmut, Steuersparer, Haarspalter und höchstrichterlicher Informationsmüll, BB 1992, 1500, 1505, der die im ABC der Kommentatoren befindliche Rechtsprechung als Informationsmüll bezeichnet und darauf verweist, daß die Methodenlehre, deren Wurzeln in der auf göttliches Recht sich beziehenden Bibelexegese zu finden sind, bei sinnleeren Steuergesetzen versagt. Ähnlich äußert sich auch Tipke, Klaus, Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, FS d. Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 865, 873. Tipke sieht die Ursache vor allem in einer Regellosigkeit, die für Lücken verantwortlich sei und erst Raum für eine Steuergestaltungskunde schaffe. Die Prozeß- und Urteilsflut ziehe eine ständig wachsende Kommentarund Aufsatzliteratur nach sich. Er bezeichnet sie als Wegwerfliteratur und Loseblattwerke, hält schließlich die Kenntnis des schnellebigen Steuerrechts für vergänglichen Wissensmüll. 185 Shanfield, Α. Α., The Political Economy of Tax Avoidance, S. 25. 186
Blencke, Hans, Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen, S. 31. Auch die Rechtsprechung hat das Bestreben des Bürgers, möglichst wenig Steuern zahlen zu müssen, als legitim anerkannt, so st. Rspr. des BFH, Urt. v. 18. 12. 1990 - VIII R 290/82, BStBl I I 1991,391,391. 187
Danzer, Jürgen, Die Gesetzesumgehung, S. 1. Hier solFes von Verfassung wegen sogar hinzunehmen sein, wenn der Lenkungserfolg nicht genau vorherbestimmt werden kann. Siehe Beschl. v. 17. 07. 1974-1 BvR 51/69, BVerfGE 38, 61, 82. 189 Vogel, Klaus, Perfektionismus im Steuerrecht, StuW 1980, 206, 208. 188
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Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
Schaffung eines gestaltungsneutralen Steuerrechts. Läßt sich eine bestimmte Besteuerung nicht durchsetzen, weil sie immer Möglichkeiten zur Umgehung bieten wird, so erscheint es angeraten, im Interesse der Besteuerungsgleichheit ganz darauf zu verzichten. Davon zu unterscheiden ist die häufig geäußerte Ansicht, Steuerhinterziehungen, also illegales Verhalten bis zu einer bestimmten (zumeist willkürlichen) Hinterziehungshöhe nicht mit Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen. 190 Hierzu ist zu sagen, daß es derartige rechtsfreie Räume nicht geben kann. Das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung fordert nicht nur die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern auch dessen Beachtung bei der praktischen Rechtsanwendung, die gegebenenfalls mit Hilfe des Strafrechts durchzusetzen ist. Steuerethik betrifft jedoch gleichermaßen den Steuergesetzgeber. Wer hier glaubt, die verfassungsrechtlichen Spielräume bis zuletzt ausnutzen zu müssen, übt verfassungsrechtliches Grenzgängerverhalten, 191 welches in gleicher Weise fragwürdig ist. 1 9 2 So ist es beschämend, wenn ein Steuergesetzgeber bei der Umsetzung einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes jede Orientierung am Gemeinwesen aufgibt und sich wie ein Geschäftsmann gebärdet, der für sich den größten wirtschaftlichen Vorteil erzielen will. Konkret braucht sich derjenige nicht zu wundern, wenn ihm seitens des Steuerbürgers die Gefolgschaft aufgekündigt wird, der selbst unter Einsatz eines Mitarbeiterstabes seiner Finanzverwaltung nach Wegen sucht, die ihm vom Bundesverfassungsgericht aufgetragenen Aufgaben zur steuerlichen Besserstellung von Familien durch Umgehungen der ihm auferlegten verfassungsrechtlichen Regeln, durch „Tricks und Kniffe" und auf Schleichwegen zwar dem Wortlaut nach formal, aber nicht dem Geiste nach umzusetzen.193 Wer ein solches Verhalten dem Steuerbürger vorlebt, kann von diesem nichts anderes erwarten. 190 Kreß, Ursula, Motive für die Begehung von Steuerhinterziehungen, S. 223, vertritt die zweifelhafte These, daß Steuerhinterziehungen erst ab einer „von Experten der Volks-, Betriebs- und Finanzwirtschaft festzulegenden Grenze" mit dem Schwert des Strafrechts zu ahnden seien. Diese Grenze liege bei etwa 100.000- DM. Mit dieser Sicht der Dinge stünde es dem Großteil der Steuerpflichtigen frei, ihren steuerlichen Erklärungspflichten nachzukommen oder nicht. Da das Steueraufkommen etwa im Bereich der Lohn- und Einkommenssteuern gerade auch von der Vielzahl der kleinen und mittleren Einkommen getragen wird, käme die Ansicht von Kreß einer Selbstaufgabe des Steuerstaates gleich. 191 Bahlke, Michael, Steuerfairneß für Steuervollzahler, Stbg 1998, Heft 1, Editorial, S. III. 192 Schon die Bibel enthält ethische Gebote, die sich an die Besteuerungsgewalt richten, so bei Johannes, dem Täufer: „Es kamen auch Zöllner zu ihm, um sich taufen zu lassen, und fragten: Meister, was sollen wir tun? Er sagte zu ihnen: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Auch Soldaten fragten ihn: Was sollen wir denn tun? Und er sagte zu ihnen: Mißhandelt niemand, erpreßt niemand, begnügt euch mit eurem Sold!" (Lk 3, 12-14). Umgekehrt ist jedoch auch der Staat eine gottgewollte Einrichtung, daher die Mahnung zum Steuergehorsam durch Paulus: „Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre" (Rom. 13, 6). 193 Zur aktuellen Diskussion der Umsetzung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich siehe Herz, Wilfried, Minimum gesucht: Bonn will die
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Will man obige Erwägungen in ein zusammenfassendes Schema integrieren, so kann auf Grundsätze der moralischen Argumentation zurückgegriffen werden, wie sie Alexy 194 rezipiert hat. Auf formaler Ebene dürfen moralische Regeln gegen bestimmte Kriterien nicht verstoßen. Diese sind mit der Regel „Der Steuerpflichtige soll Steuertatbestände nicht umgehen!" ohne weiteres zu erfüllen. 195 Demgegenüber erweisen sich die materialen Bedingungen moralischer Regeln als weitaus problematischer. So muß als erste Bedingung eine Regel unmittelbar zum gemeinsamen Vorteil aller beitragen. Dies kann nicht von vornherein bejaht werden, weil nicht feststeht, ob eine Verwendung finanzieller Mittel durch den Staat mehr dem gemeinsamen Vorteil dient als die Verwendung durch die Wirtschaftssubjekte selbst, wenn man ihnen diese Steuergelder beließe. Zum zweiten ist eine Reversibilität zu fordern, wonach das durch eine moralische Regel geforderte Verhalten für den Betroffenen akzeptierbar sein muß, und zwar unabhängig davon, ob sie auf der gebenden oder der nehmenden Seite stehen. Verlangt man also von einem Steuerpflichtigen ein Zurückbleiben hinter noch gesicherten Grenzen der Einschätzung einer steuerlichen Situation, so ist im Wege eines Rollentausches zu fragen, ob auch der Fiskus bei seinem Verwaltungshandeln im Finanzbereich Spielräume im Grenzbereich von Tatbeständen ausnutzt. Dies wird jeder, der einen groben Durchgang durch die unzähligen Verwaltungsanweisungen vornimmt, nicht ernsthaft bestreiten wollen. Die eingangs formulierte Regel hält diesem Kriterium damit nicht stand, soweit der Fiskus sich nicht die gleiche Beschränkung auferlegen läßt. Zum dritten wird bisweilen gefordert, daß eine moralische Regel dem Generalisierungsargument entspricht. Es ist zu fragen, welche Konsequenzen sich ergäben, wenn alle Steuerpflichtigen Unschärfen steuerlicher Gesetzestatbestände nutzen würden. Hieraus würden unausweichlich unerwünschte Folgen unter anderem für die Besteuerungsgleichheit erwachsen. Damit ist allerdings noch nicht bewiesen, daß hieraus eine Verpflichtung des Einzelnen zu folgern ist, eine solche Handlung zu unterlassen. 196 So ist auch nichts darüber gesagt, wie sich der Einzelne zu verhalten hat, wenn alle übrigen Beteiligten das von ihm geforderte Verhalten nicht zeigen. Im Ergebnis bleiben nicht auszuräumende Zweifel zurück, will man vom Steuerpflichtigen einen Verzicht auf Grenzgängerverhalten verlangen, ob ein solches Postulat in der vorgefundenen steuerlichen Situation begründet werden kann. Es gibt manche Anzeichen dafür, daß die Umgehungsversuche einzelner Steuerpflichtiger und die Reaktionen des Steuergesetzgebers als eine Methode des Trial-andFamilien besserstellen - aber die Haushaltskasse schonen, DIE ZEIT Nr. 16 v. 15. 04. 1999, S. 25. 194 Alexy, Robert, Theorie der juristischen Argumentation, S. 131 f. Er bezieht dabei Gedanken ein, wie sie K. Baier zuvor formuliert hat, und entwickelt diese fort. 195 Zu den Einzelheiten Alexy, Robert, Theorie der juristischen Argumentation, S. 127 f. 196 Alexy, Robert, Theorie der juristischen Argumentation, S. 130.
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2. Kap.: Die philosophischen Grundlagen des Steuer- und Steuerstrafrechts
error-Prinzips angesehen werden müssen, welches erst eine laufende Anpassung des Steuersystems an dynamische Fortentwicklungen der Wirtschaft erlaubt. Somit sind die laufenden Anpassungen Teil des Steuersystems selbst, das nicht statisch verstanden werden darf.
Drittes Kapitel
Geschichtliche Annäherung als Rechtsvergleichung in der Zeit § 1 Erste Ansätze Im folgenden sollen historische Hinweise gegeben werden, welche Bedeutung das Steuerstrafrecht im Laufe der Geschichte des Steuerrechts eingenommen hat. Wegen des engen zur Verfügung stehenden Rahmens muß die Darstellung punktuell und fragmentarisch bleiben, soll aber doch auf die Spannungsfelder des gegenwärtigen Steuerstrafrechts zum Verfassungsrecht hinführen und die Hintergründe heutiger Steuermoral und Hinterziehungsneigung erleuchten. Eine Hinterziehung von Steuern war bereits im Alten Testament bekannt.1 Selbst Piaton wird angeführt, 2 der in „Die Gesetze" darlegt, was mit denjenigen zu geschehen habe, die ihre Beiträge für Opferfeste und Kriege nicht leisteten. Über Aristoteles ist bekannt, daß in der Zeit nach Alexander dem Großen immerhin sieben Steuerarten erhoben wurden, darunter die Grundsteuer als sogenannten Zehnten, die Hafenzölle, Verbrauchssteuern, die Marktsteuer, die Viehsteuer, die Kopfsteuer und die Gewerbesteuer.3 Das Steuerwesen in der römischen Antike kannte den Berufsstand der Steuerpächter, deren Aufgabe es war, die vom Staat den Provinzialen auferlegten Steuern einzutreiben. Im Wege einer Versteigerung wurde das Recht der Steuereinziehung an den Meistbietenden verliehen, dessen wirtschaftliches Interesse den Zuschlägen galt, die er gegenüber den Steuerpflichtigen erheben konnte. Diese Steuereinnehmer waren daher beim Volk wenig beliebt.4 Sie ermöglichten freilich eine Steuererhebung ohne aufwendigen Verwaltungsapparat. Seit Augustus wurde die Erhe1
Der Prophet Maleachi warnte bereits vor dem Betrüge „Mit den Zehnten und den Abgaben!" (Mal 3, 8). 2 Michael, Peter Johannes, Der Steuer- und Abgabebetrug im schweizerischen Recht, S. 1. Danach sind Steuerdelikte nicht auf unseren Kulturkreis beschränkt, wie die Verhängung der Todesstrafe für Steuerhinterziehung im China des Jahrhunderts vor Christi Geburt zeigt. 3 Pausch, Alfons, Kommunale Steuern und Steuereinnehmer in der Bibel, KStZ 1984,
181, 182. 4
Dulckeit, Gerhard / Schwarz, Fritz / Waldstein, S. 112 f.
Wolfgang, Römische Rechtsgeschichte,
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bung jedoch zum Schutze der Steuerzahler durch prokonsularische Statthalter überwacht, schließlich den städtischen Verwaltungsbehörden unter Aufsicht der prokonsularischen Statthalter übertragen. 5 Überwiegend wurden indirekte Abgaben und Zölle erhoben. Bei unterlassener Anmeldung wurden Waren und Transportmittel konfisziert und der Zoll verdoppelt. 6
§ 2 Entwicklung des Steuerwesens und der Steuerstrafen ab dem Mittelalter Das Mittelalter konnte zunächst keine Geldwirtschaft ausprägen. Eine allgemeine öffentliche Steuer gab es in den germanischen Teilen des karolingischen Reiches nicht, da der Staat seine Einnahmen durch andere Quellen decken konnte. Der Gedanke einer Steuerpflicht war den Germanen vollkommen fremd. Steuerzahlen galt als Zeichen der Unfreiheit, Steuerfordern als Unrecht. 7 Später wird von Machiavelli beschrieben, daß in der mittelalterlichen deutschen Stadt die Steuererhebung der sogenannten „Bede" vor allem hinsichtlich der damals vorherrschenden Vermögenssteuer mangels einer festen Steuerbehörde durch eine Selbsteinschätzung unter Eid zu erheben war. Die Ordnungsmäßigkeit der Selbstdeklaration war dadurch gewährleistet, daß dem Stadtrat das Recht eingeräumt wurde, das Vermögen des Steuerpflichtigen zu dem geschätzten Betrag zu übernehmen. Aufgrund einer ausgeprägten Verbundenheit des Steuerpflichtigen mit der Stadtkommune soll es zu erklären sein, daß die Steuern vorschriftsgemäß entrichtet wurden. 8 Später zahlten die Städte pauschale Summen und kauften die Bedepflicht ganz ab, um sie nach eigenem Ermessen einzuschätzen.9 Die ältesten deutschen Strafvorschriften bezogen auf Steuern und Abgaben gehen auf Karl den Großen zurück, der Verstöße gegen die Abgabe des Zehnten im 5 Dies., a. a. O. (Fn. 4), S. 220 f. 6
Vermutlich war jedoch schon damals politisch nicht erwünscht, daß der Steuerpflichtige das Steuerrecht durchschauen konnte. Caligula wird nachgesagt, daß er die Steuergesetze zwar anschlagen ließ, jedoch in so kleiner Schrift und an unzugänglichen Orten, daß niemand sie lesen konnte. So beschrieben bei Meilicke, Heinz, Steuerrecht I, S. 18. Siehe ferner Leiker, Bret H., Rousseau and the Legitimacy of Tax Evasion, in: McGee, Robert W., The Ethics of Tax Evasion, S. 89, 92. 7 Zeumer, Karl, Die deutschen Städtesteuern, insbesondere die städtischen Reichssteuern im 12. und 13. Jahrhundert, in: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1, Nr. 2, S. 5 ff. 8 Erler, Adalbert, „Steuern, Steuerrecht", in: HRG Bd. IV, S. 1965, 1968. Zweifelnd Zeumer, Karl, Die deutschen Städtesteuern, insbesondere die städtischen Reichssteuern im 12. und 13. Jahrhundert, in: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd. 1, Nr. 2, S. 69. 9
Hamm, Franz, Zur Grundlegung und Geschichte der Steuermoral, S. 21.
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Wiederholungsfalle mit der Exkommunikation bestrafen ließ. 10 Die Behandlung war jedoch uneinheitlich, zumeist wurden Zollvergehen verfolgt. Die Bestimmungen wandten sich nicht allein gegen die Täter, sondern auch gegen Willkür und Kompetenzüberschreitungen der Zolleintreiber. 11 Diese Bestrafung wurde vom 8. bis zum 12. Jahrhundert praktiziert. Ihr folgte das Entbürgerungsverfahren, welches über das Mittelalter hinaus bis zum 17. Jahrhundert bestimmend war. Die Strafen reichten von Kerkerhaft über Leibesstrafen bis zur Ausbürgerung des Steuerdefraudanten. 12 Dabei versuchte man mit Generalklauseln alle erdenklichen Vergehen zu ahnden, ohne daß Steuertatbestände und Verfahrensbestimmungen im einzelnen getrennt waren. 13 Die Rechtsbücher, die in dieser Zeit allgemeine Anerkennung fanden, der Sachsen- und der Schwabenspiegel, befaßten sich lediglich mit Zollvergehen und nicht mit den eigentlichen Steuervergehen. 14 Die Durchsetzung von Steuern scheiterte vielerorts am Fehlen einer leistungsfähigen Finanzverwaltung. Im Strafprozeß konnte sich der Angeklagte zunächst auf das Recht berufen, sich nicht selbst belasten zu müssen. Dieses schon im jüdischen Talmud anerkannte Recht, das auch im kanonischen Recht Anerkennung fand, blieb über lange Zeit erhalten und wurde erst mit dem Aufkommen des Inquisitionsprozesses aufgegeben, 15 als dem Beschuldigten ein Offizialeid über die Tat abverlangt wurde, der ihn in die Gefahr des Meineides brachte.
§ 3 Ausprägung in der Neuzeit Das 17. bis 18. Jahrhundert war net. 16 Das „peinliche Verfahren" prägt, daß der denunzierte Täter zwungen wurde. Das Geständnis
durch das Denunziationsverfahren gekennzeichnach der Halsgerichtsordnung war dadurch gemit der Daumenschraube zum Geständnis gewar über Jahrhunderte hinweg das wertvollste
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Zur geschichtlichen Entwicklung m. w. N. Koch, Karl, Ausgewählte Einzelfragen zum Steuerstrafverfahren, StKongRep 1968, S. 226, 227. h Seckel, Carola, Die Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977), S. 86. ι2 Mönch, Karl-Heinz, Steuerkriminalität und Sanktionswahrscheinlichkeit, S. 8. 13 Koch, Karl, a. a. O. (Fn. 10), StKongRep 1968, S. 226, 228. 14 Seckel, Carola, a. a. O. (Fn. 11), S. 93. 15 Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 50 f. 16 Im Steuerstrafrecht heutiger Tage wird immer wieder der Ruf laut, Denunziationen von Steuerhinterziehungen mit „Fangprämien" zu belohnen. Zum Teil tauchen Denunzianten auf, die Listen von Steuerpflichtigen „verkaufen" wollen, welche nicht erklärte Kapitaleinkünfte im Ausland erzielen. Wer solche Elemente in ein rechtsstaatlich geordnetes Steuerstrafverfahren wiedereinführen möchte, macht sich wohl nicht klar, in welche geistige Tradition er sich begibt.
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3. Kap.: Geschichtliche Annäherung als Rechtsvergleichung in der Zeit
Beweismittel,17 da das Strafverfahren nicht auf Ermittlung der materiellen Wahrheit angelegt war, sondern vielmehr formale Beweiserfordernisse einzuhalten hatte. Der Zeugenbeweis bedurfte zweier glaubwürdiger Zeugen, die selten zu finden waren. Daher wurde das Geständnis auch gegen den Willen des Verdächtigen durch die Folter erzwungen. Die damals herrschende Staatsauffassung ging davon aus, daß das Recht auf Selbsterhaltung eines Angeklagten, welches von Reformern als Grundlage eines Schweigerechts gesehen wurde, durch den „Gesellschaftsvertrag" abbedungen werden konnte. 18 Ein Wandel setzte erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein. 19 Verfassungsrechtliche Bedeutung erlangte die Aussagefreiheit erst durch die Revolution von 1848.20 Eine erste allgemeingültige gesetzliche Verankerung findet sich in der Reichsstrafprozeßordnung vom Ol. 02. 1877.21 Der Denunziant erhielt einen Teil der verhängten Steuergeldstrafe. Sollte sich allerdings herausstellen, daß er seine Anzeige bereits früher hätte erstatten können, so konnte sich das Verfahren mit der gleichen Schärfe auch gegen den Denunzianten selbst richten. 22 Diese Praxis wurde durch das Steuerwachverfahren abgelöst, welches bis zum Erlaß der Reichsabgabenordnung maßgeblich war. Der Obrigkeitsstaat bediente sich einer militärisch geprägten, mit Dienstwaffe ausgestatteten „Königlichen Steuerwache", welche uniformiert Streifengänge im jeweiligen Bezirk durchzuführen hatte. Das Steuerstrafrecht fand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum wissenschaftliche Beachtung.23 Die Verwaltungsrechtslehre nach Otto Mayer 24 stufte es als Verwaltungsunrecht, nicht hingegen als Kriminalstrafrecht ein, weil es nach damaligem Verständnis nicht um die Schädigung des Fiskus durch die Hinterziehung 17
Es galt der Grundsatz: „confessio est regina probationum". Er geht zurück auf die „Constitutio criminalis Carolina ", der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. 18 Vgl. die Nachweise bei Rogali , Klaus, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 93. 19 Zum Geständnis des Täters und zum Kreis der glaubwürdigen Zeugen („testes habiles") ausführlich: Hölscher, Laurids, Das Auskunftsverweigerungsrechts - § 55 StPO - , S. 8 f. 20 Zur Entwicklung: Salditi, Franz, 25 Jahre Miranda - Rückblick auf ein höchstrichterliches Experiment, GA 1992, 51, 51 f. 21 Das Zugeständnis eines Schweigerechts war auch hier noch halbherzig erfolgt. In den Vorentwürfen war man noch von einer Aussagepflicht ausgegangen. Trotz der gewählten Fassung des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO „Der Beschuldigte ist zu fragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle." konnte dem Beschuldigten sein Schweigen nach wie vor zum Nachteil gereichen (vgl. hierzu Helgerth, Roland, Der „Verdächtige" als schweigeberechtigte Auskunftsperson und selbständiger Prozeßbeteiligter neben dem Beschuldigten und dem Zeugen, S. 154). Eine Änderung trat schließlich mit dem Urt. v. 26. 10. 1965 - 5 StR 515/65, BGHSt 20, 281,284, ein. 22 Koch, Karl, a. a. O. (Fn. 10), StKongRep 1968, S. 226, 230. 23 Schneider, Volkmar, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 43 m. w. N. u Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, § 31, S. 361 f.
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ging, sondern um eine Verletzung der Kontrollinteressen der Steuer- und Zollverwaltung. Dies wird darauf zurückgeführt, daß der Bürger dieser Zeit dem Staat weitaus ferner stand, als im modernen Verfassungsstaat. Während früher nur einem nach Geld strebendem Herrscher die Steuer vorenthalten wurde, stellt sich heute außerhalb der Gesellschaft, wer auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile zu erlangen sucht.25 Da steuerstrafrechtlich relevantes Verhalten demnach regelmäßig im Verwaltungsverfahren behandelt wurde, hatte kein oberstes Gericht die Gelegenheit, an der Fortentwicklung und wissenschaftlichen Durchdringung mitzuwirken. 26 Eine erste intensivere wissenschaftliche Befassung mit dem Steuerstrafrecht kam durch die Finanzwissenschaften und ist mit den Namen Adolph Wagner und Lorenz von Stein verbunden. Dies lag daran, daß das Steuerstrafrecht als Teil des Steuer- und Finanzrechts verstanden wurde, welches im universitären Bereich ausschließlich den Nationalökonomen zugeordnet wurde. 27 Franz von Liszt war der Wegbereiter einer Einbeziehung des Steuerstrafrechts in das Gesamtsystem des Strafrechts. Das Steuerwachsystem wurde mehr und mehr abgelöst durch ein zweigeteiltes System, das zwischen einem Verwaltungssteuerstrafverfahren und einem gerichtlichen Verfahren unterschied. Zwei Faktoren waren für die wachsende Bedeutung des Steuerstrafrechts ausschlaggebend. Einerseits wurde das Schwergewicht immer mehr auf Steuerarten verlagert, die dem modernen Verständnis von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit entsprachen. Allen anderen Steuerarten voraus ist hier die Einkommensteuer zu nennen, die aber, und dies ist für das Aufkommen von Steuerdelikten ursächlich, auf dem Prinzip der Selbstdeklaration beruht. 28 Die Entwicklung des Steuer- und Steuerstrafrechts ist andererseits eng mit der Entwicklung des öffentlichen Finanzbedarfes verbunden. Bis zum ersten Weltkrieg war die Steuerbelastung als gering zu bezeichnen. In Preußen wurde durch die MiqueVsche Steuerreform eine progressive Einkommensteuer mit Steuersätzen von 0,5 % bis zum Höchstsatz von 4 % eingeführt. 29 Für die Auslegung des Steuerrechts bedeutete dies, daß an zivilrechtliche Tatbestände im Steuerrecht unmittelbar angeknüpft werden konnte. Erst der Finanzbedarf, der aufgrund der Kriegsfolgelasten und des sozialen und wirtschaft25
Bockelmann, Paul, Strafe und Buße als Mittel der Erziehung zur Steuerehrlichkeit, StKongRep 1969, S. 291, 304 f. 2 6 Dies beklagt schon Droste, Die Strafbestimmungen des preußischen Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 und des Ergänzungssteuergesetzes vom 14. Juli 1893, Verwaltungsarchiv 8 (1900), S. 348, 349. 27 Burmester, Gabriele, Das Steuerrecht am Katzentisch der Juristenfakultäten, FG f. Otto Theisen, S. 61, 61. Auf Bemühungen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wurde erstmals in Deutschland in Köln 1942 ein speziell steuerrechtlicher Lehrstuhl eingerichtet. Zur Entwicklung vgl. Tipke, Klaus, Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, FS d. Rechts wissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 865, 865 f. 28 Droste, Die Strafbestimmungen des preußischen Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 und des Ergänzungssteuergesetzes vom 14. Juli 1893, Verwaltungsarchiv 8 (1900), S. 348, 348 f. 2 9 Erler, Adalbert, „Steuern, Steuerrecht", in: HRG Bd. IV, S. 1965, 1972.
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liehen Verlaufs hervorgerufen wurde, machte eine Abkopplung und Verselbständigung des Steuerrechts notwendig.30 Enno Becker erarbeitete 1919 den Entwurf einer Reichsabgabenordnung, die durch das Bemühen gekennzeichnet war, eine Vielfalt von bestehenden Steuerstrafvorschriften verteilt über mehrere Einzelsteuergesetze in einer Vorschrift, dem § 359 RAO, zusammenzufassen. 31 Dabei legte man Wert darauf, der Steuerhinterziehung den Charakter eines Kavaliersdeliktes zu nehmen, indem man neben der Geldstrafe erstmals fakultativ Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren vorsah. 32 Andererseits hatte Becker die Auslegung des § 359 RAO (Steuerhinterziehung) in den Anfangsjahren auch nicht allein fiskalisch ausrichten wollen, als er ausführte, die Buchführung sei aus der Sicht des ordentlichen Kaufmannes zu beurteilen. Der Kaufmann pflege bei seinen Wertansätzen dem Risikogedanken in einer Weise Rechnung zu tragen, die vom Standpunkt des Fiskus fast als Schiebung im Sinne einer Steuerhinterziehung sich darstelle, obgleich sie es nicht sei. 33 Die Reichsabgabenordnung diente dem Aufbau einer Reichsfinanzverwaltung, die erforderlich war, um die Reichsfinanzen nach dem 1. Weltkrieg zu ordnen. 34 Wegen der Kriegsfolgelasten standen überwiegend fiskalische Motive im Vordergrund. 35 Als Vorbild diente § 38 Abs. 1 UStG, wonach das vorsätzliche Hinterziehen der Umsatzsteuer und das Erschleichen eines dem Täter nicht gebührenden Steuervorteils strafbar war. Die Ausgestaltung als Blankettatbestand war für das deutsche Steuerrecht neu. 36 Sie erfolgte jedoch noch nicht in der ursprünglichen Fassung des § 359 Abs. 1 S. 1 RAO vom 13. 12. 1919, weil hier sowohl Tatbestand als auch die primäre Sanktion in den jeweiligen Einzelsteuergesetzen enthalten war. Dies folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 359 Abs. 1 S. 1 RAO: „Wer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erschleicht oder vorsätzlich bewirkt, daß Steuereinnahmen verkürzt werden, wird wegen Steuerhinterziehung mit den in den einzelnen Gesetzen hierfür angedrohten Strafen bestraft."
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Gassner, Wolfgang, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, S. 19. Bislang befanden sich die Strafvorschriften jeweils im Anhang eines jeden Einzelsteuergesetzes. Nunmehr wurde die Strafbarkeit in der Reichsabgabenordnung geregelt, das jeweilige Strafmaß konnte aber weiterhin dem Einzelsteuergesetz entnommen werden. Vgl. hierzu Bornheim, Wolfgang / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 45. 32 Goetzeler, Richard, Das Problem „Steuermoral und Steuerstrafrecht", FS f. Edmund Mezger, S. 383, 398. 33 Becker, Enno, Reichsabgabenordnung, S. 756. 3 4 Seckel, Carola, a. a. O. (Fn. 11), S. 99. 35 Poggemann, Martin, Schuld und Strafe in der jüngeren Entwicklung des preußischen Steuerstrafrechts, S. 159. 36 Schneider, Volkmar, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 68 f. 31
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Einen Blankettstrafcharakter erhielt die Vorschrift erst später mit der geänderten Fassung als § 396 Abs. 1 RAO 1931.37 Schon das preußische Steuerstrafrecht sah im 19. Jahrhundert eine Bindung der Strafgerichte an Gutachten der Provinzialsteuerbehörden vor. So hat im Anschluß daran die Reichsabgabenordnung eine Vorfragenkompetenz der Strafgerichte hinsichtlich steuerlicher Vorfragen bei der Verfolgung von Steuerstraftaten verneint und diese verpflichtet, im Sinne einer bestandskräftigen Entscheidung einer Steuerbehörde oder dem rechtskräftigen Urteil eines Steuergerichtes zu urteilen. Wollte ein Strafgericht hiervon abweichen, war es gehalten, die steuerliche Frage dem RFH zur Entscheidung vorzulegen (§ 433 RAO). Neben der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen soll hierfür nach damaligem Verständnis der Wille bestimmend gewesen sein, ein effektives Finanzwesen unter Ausschöpfung aller Steuerquellen zu schaffen. 38 Dagegen blieb die Entscheidung über den subjektiven Tatbestand ausschließlich beim Strafrichter. Als Konsequenz daraus entschied der Reichsfinanzhof nicht bei Versuchstaten. Auch bei Schätzungen lehnte er eine Mitwirkung ab. 39 Mit dem Erlaß der Reichsabgabenordnung ging eine Verselbständigung des Steuerrechts gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht einher, 40 von dem das Steuerrecht mit seiner Kodifikation des steuerlichen Verfahrensrechts in der Abgabenordnung noch einige Anleihen nahm. Die zunehmenden Begriffe mit eigener steuerlicher Prägung blieben auch für das Steuerstrafrecht nicht ohne Einfluß. Da bislang nur ein finanzwissenschaftliches, aber kein steuerrechtliches Schrifttum vorhanden war, bedurfte es zunächst erst einer eingehenden wissenschaftlichen Durchdringung. Parallel zur Entwicklung des Steuerrechts vollzog sich auch die Entwicklung des Strafrechts, die den Grundsatz des „nulla poena sine lege" hervorbrachte. Das gemeine Recht hielt bis zuletzt daran fest, auch Handlungen, die nicht von einem gesetzlichen Straftatbestand erfaßt sind, einer Bestrafung zu unterwerfen. Dem Richter wurde die Möglichkeit gegeben, in Fällen, in denen das Gesetz die Bemessung der Strafe dem richterlichen Gutdünken überläßt, sowie in Fällen, in denen ein Verhalten außerhalb des Gesetzes dem Gericht für strafwürdig erscheint, eine Bestrafung herbeizuführen. 41 Die Carolina enthielt sogar ein ausdrückliches Ana-
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Poggemann, Martin, a. a. O. (Fn. 35), S. 157. 38 Poggemann, Martin, a. a. Ο. (Fn. 35), S. 173. 39
Giese, Frank Paul, Abgabenordnung im Dritten Reich, S. 54 f., kritisiert hier die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes in Beschl. v. 28. 06. 1923 - V F 7/23, RFHE 12, 235, 236; Beschl. v. 17. 10. 1922 - V C 10/22, RFHE 10, 280, 284; Beschl. v. 03. 10. 1922 - I I F 4/ 22, RFHE 10, 196,196 und Beschl. v. 21. 01. 1925 - V I eF 9/24, RFHE 15, 199, 200. 40 Cordes, Helmut, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 36 f. 41 Dies wurde mit den Begriffen „crimina extraordinaria" und „stellionatus" umschrieben. Vgl. Schaffstein, Friedrich, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen, S. 40.
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logiegebot.42 Ausgehend von Ideen der Aufklärung, die eine Beschränkung der Macht der Krone durch Stärkung des Gesetzgebers gegenüber Exekutive und Judikative beinhalteten, wurde der „nulla poena" -Satz Stück fur Stück ausgebaut. In Deutschland war es vor allem Paul Johann Anselm von Feuerbach, der dieses Gedankengut im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 verwirklichte. Er verwehrte sich gegen unbestimmte und wertausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale und vertrat die Auffassung, daß der Richter allein den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen habe 4 3 Einerseits bestand die Befürchtung, daß die Justiz nicht unabhängig sei und sie deswegen einer strengen Bindung an das Gesetz unterworfen werden müsse, andererseits könne das Strafgesetz seine generalpräventive Funktion nur erfüllen, wenn ein Mitglied der Rechtsgemeinschaft auch erkennen kann, welche Tat mit Strafe belegt ist und welche nicht. Strafzweck war es, denjenigen zu bestrafen, der sich über eine bestimmte Strafdrohung hinweggesetzt hatte und damit dem psychologischen Zwang der Strafe nicht gefolgt ist. 44 Bereits die revidierte Verfassung für den preußischen Staat vom 31. Ol. 1850 verfügte in Art. 8, daß „Strafen nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden dürfen ein Verbot rückwirkender Strafgesetze fand schließlich im Strafgesetzbuch von 1870 Aufnahme. 45 In eben dieser Verfassung findet sich ferner in Art. 100 ein Gesetzes vorbehält, wonach Steuern und Abgaben nur erhoben werden dürfen, soweit sie in den Staatshaushalt - Etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze angeordnet sind. Uber die einschneidendsten Eingriffe durch Strafe und Steuer sollte der Gesetzgeber entscheiden. Schon damals war anerkannt, daß ein moralisches Gebot es dem Staat verbietet, den eines Steuerdelikts beschuldigten Bürger über den Zweck einer Vernehmung und einen gegen ihn vorliegenden Verdacht im Unklaren zu lassen. Nicht nur daß es ihm dadurch unmöglich gemacht wird, Verdachtsgründe auszuräumen, sondern es besteht vielmehr die Gefahr, daß ihm im Rahmen des sogenannten Beanstandungsverfahrens oder der Erörterung eines Rechtsbehelfs, also im rein steuerlichen Verfahren Aussagen entlockt werden, die im Strafverfahren gegen ihn verwendet werden können.46 Bis zum Ersten Weltkrieg fehlte es zumindest in Teilen Deutschlands an einer leistungsfähigen und insbesondere unabhängigen Verwaltung, die eine gleichmäßi42 Schaffstein, Friedrich, Studien zur Entwicklung der Deliktstatbestände im Gemeinen deutschen Strafrecht, S. 36. 43 Seel, Paul, Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 20 f. 44 Weiterführend zu dieser von Feuerbach begründeten strafrechtsdogmatischen Theorie vom psychologischen Zwang der Strafe: Weidenbach, Peter, Die verfassungsrechtliche Problematik der Blankettgesetze, S. 41. 45 Willoweit, Dietmar, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 35 IV. S. 278. 46 Droste, Die Strafbestimmungen des preußischen Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 und des Ergänzungssteuergesetzes vom 14. Juli 1893, Verwaltungsarchiv 8 (1900), S. 348,429 f.
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ge Steuereintreibung durchgesetzt hätte. Daher wurden Fragen des Steuerstrafrechts oftmals, jedenfalls bei Großverdienern nicht praktisch. Die in Preußen dem Landrat übertragene Aufgabe war anfällig gegenüber Einflußnahmen des Adels und der Großgrundbesitzer, die es verstanden, ihre Steuerbetrügereien mit Dekkung der Landräte auf Kosten der übrigen Bürger fortzusetzen. Den Landräten fehlte häufig die notwendige Integrität gegenüber dem Gemeinwesen, so daß sie ihren Steuersekretären die Überprüfung von Steuererklärungen der Großgrundbesitzer verboten. Die Kommissare des Finanzministeriums zeigten in ihren Berichten zwar die Mißstände auf, vermochten aber aufgrund der politischen Verhältnisse keine Änderung herbeizuführen. Letztlich entrichteten nur die abhängig Beschäftigten die von ihnen geschuldeten Steuern vollständig.47 Die Hinterziehungsneigung war wohl in allen Teilen Deutschlands beträchtlich. In Bayern wurde um die Jahrhundertwende vermutet, daß nur ein Drittel des vorhandenen Kapitalvermögens bei der Kapitalrentensteuer versteuert wurde. Für Osterreich wurden ähnliche Zahlen genannt. So sollen 1888 annähernd zwei Drittel der „Einkommensfassionen wie auch der Vermögensbekenntnisse an Eides Statt" unwahr gewesen sein. 48 Die Weimarer Reichs Verfassung sah in Art. 116 eine Bestimmung vor, wonach „eine Handlung nur dann mit Strafe belegt werden konnte, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen war". Zwar wurde die Auslegung im Detail kontrovers diskutiert, aber es konnte dennoch zunächst von einer klaren Entscheidung der Verfassung gesprochen werden, die Schaffung von Straftatbeständen dem Gesetzgeber zuzuordnen. Erst mit der Analogienovelle vom 26. 06. 1935 wurde eine Analogiebildung zulässig. § 2 StGB wurde geändert. Strafbar war danach auch ein Verhalten, das „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient". 49 Es bestanden auch keine Bedenken mehr, in Steuerumgehungsfallen den Tatbestand der Steuerhinterziehung zu bejahen, weil die Hebung der Steuermoral des Deutschen Volkes zum erklärten Ziel gemacht wurde. Die Auflösung der Vorhersehbarkeit von Strafe war in der NS-Ideologie gewollte Folge strafrechtlicher Analogie, damit sich um den Straftatbestand, der sich aus Gesetz, aber auch aus ungeschriebener Volksanschauung ergeben konnte, ein Risikobereich bildete, in dem der NS-Staat von Fall zu Fall entscheiden konnte, ob eine Strafbarkeit eingetreten war oder nicht. 50 Tatsächlich konnte auch in der Diktatur, wie anhand einer Auswertung der zeitgenössischen Fachzeitschriften nachgewiesen wurde, 51 nie erreicht 47
Witt, Peter-Christian, Der preußische Landrat als Steuerbeamter 1891-1918, S. 205, 212 f. m. w. N. 48
Hamm, Franz, Zur Grundlegung und Geschichte der Steuermoral, S. 91 f. Zur Entwicklung: Lohberger, Ingram, Blankettstrafrecht und Grundgesetz, S. 2. 50 Werber, Wolfgang, Analogie- und Rückwirkungsverbot im Dritten Reich unter Berücksichtigung der Kontinuitätsfrage zur Weimarer Zeit, S. 146. Hierzu aufschlußreich Engel, Hartmut, Steuermoral im Dritten Reich, StB 1998, 469, 471. 49
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werden, die schon zu Zeiten der Weimarer Republik niedrige Steuermoral durch einen Appell an die Treue zum neuen Staat zu steigern. Das Bestimmtheitsgebot fand in diesem Zusammenhang keine Erörterung mehr. 52 Das Rückwirkungsverbot war bereits am 29. 03. 1933 mit dem Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe durchbrochen worden. 53 Die Umgehungsvorschrift des § 1 Abs. 3 StAnpG konnte ohne weiteres zur Verhängung einer Steuerstrafe herangezogen werden, 54 wenn sich nicht aus dem Wortlaut, sondern erst durch Sachverhaltsumgestaltung eine Strafbarkeit ergab. Als Reaktion hierauf befürwortete nach dem Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft eine nahezu einhellige Meinung eine Verankerung, wie sie in Art. 103 Abs. 2 GG vorgenommen wurde. Eine Diskussion über Inhalt und Grenzen im Nebenstrafrecht des Steuerstrafrechts kam jedoch erst Jahre später auf. Bereits die Reichsabgabenordnung sah in § 410 die Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige vor. 55 Sie bestand sogar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fort, wenn auch hier Überlegungen im Gange waren, inwieweit Juden, die ohnehin verpflichtet waren, ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen der zuständigen höheren Verwaltungsbehörde unter Strafandrohung zu melden, in den Genuß der Straffreiheit kommen konnten.56 Dennoch war ein Handeln aus wahrer innerer Reue nicht erforderlich. Die Idee, daß Steuerhinterziehungen unter anderem auch deswegen zu bestrafen seien, weil sie die übrigen Rechtssubjekte schädigen, wenn Steuerausfälle durch eine höhere Besteuerung ausgeglichen werden müssen, war bereits hier vorhanden. Letztlich wurde jedoch in dem Vorenthalten von Steuereinnahmen eine Auflehnung gegen den nationalsozialistischen Staat gesehen, die es zu bekämpfen galt. 57
52 So etwa bei Lange, Die Steuerumgehung, DStZ 1939, 673, 677 f. Einschränkender dagegen Ronsiek, Hans, Das Steuerstrafrecht, S. 98, der im bloßen Umgehungsvorsatz noch keinen Hinterziehungsvorsatz sieht. Ein Hinterziehungsvorsatz liege erst vor, wenn bei Nachforschungen der Finanzbehörde über das Vorliegen einer Steuerumgehung falsche Angaben gemacht würden. 53 Hintergrund war die Absicht, den beim Reichstagsbrand festgenommenen Holländer Marinus van der Lübbe für den Reichstagsbrand verantwortlich zu machen. Vgl. die Darstellung bei Werber, Wolfgang, Analogie- und Rückwirkungsverbot im Dritten Reich unter Berücksichtigung der Kontinuitätsfrage zur Weimarer Zeit, S. 9 ff. 54 Högemann, Werner, Das deutsche Steuerrecht unter dem Einfluß des Nationalsozialismus (1933-1945), S. 62. 55 Ein Vorläufer ist in der „thätigen Reue" zu sehen, die bereits nach dem preußischen Einkommensteuergesetz im Steuerstrafrecht Anwendung fand, vgl. Droste, Die Strafbestimmungen des preußischen Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 und des Ergänzungssteuergesetzes vom 14. Juli 1893, Verwaltungsarchiv 8 (1900), S. 348, 425. 56
Giese, Frank Paul, Abgabenordnung im Dritten Reich, S. 178. So etwa noch Ronsiek, Hans, Das Steuerstrafrecht, S. 14, unter Berufung auf Fritz Reinhardt. Ronsiek selbst umschreibt auf S. 20 das Rechtsgut lediglich mit dem „Anspruch des Reiches auf den Vollertrag der einzelnen Steuerart". 57
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Tatsächlich war wohl gerade zu dieser Zeit eine erhebliche Hinterziehungsneigung vorhanden, als der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Fritz Reinhardt am 31. September 1936 die sogenannten Eisenacher Grundsätze verkündete, wonach eine Steueramnestie für Steuervergehen vor dem Ol. Oktober 1935 bei mit dem Warenumsatz in Zusammenhang stehenden Taten Kleingewerbetreibender und Handwerker, im übrigen für Steuervergehen vor dem 30. Januar 1933 gewährt wurde. 58 In dieser „unheiligen Tradition" 59 stehen heute alle Rufe, eine Steueramnestie für Steuersünder auszusprechen. Auch kamen die Steuerpflichtigen nur zögerlich ihren steuerlichen Aufzeichnungspflichten nach, was die Besteuerung erschwerte und Anlaß zu Schätzungen gab. Diese wurden nach „nationalsozialistischer Weltanschauung" vorgenommen. 60 Der selbe Fritz Reinhardt hatte es hingegen ermöglicht, daß selbst der „Führer" Adolf Hitler trotz erheblicher Einkünfte aus seinen Staatsämtern und aus schriftstellerischer Tätigkeit seiner Bücher seit Jahren keine Steuern mehr bezahlte, was auch nach den damaligen Maßstäben nur als Steuerhinterziehung qualifiziert werden konnte.61 Steuerrecht und Steuermoral wurden nach vorherrschender Ansicht für dekkungsgleich gehalten.62 Der Einzelne wurde auch im Steuerrecht dem Volksganzen untergeordnet. Die Weimarer Verfassung wurde zwar nie formal aufgehoben, jedoch durch die nationalsozialistische Ideologie ersetzt. Die nationalsozialistische Weltanschauung wurde zum Maßstab der Rechtsanwendung. Während zuvor noch eine Uberprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch den Reichsfinanzhof anerkannt worden war, 63 änderte sich dessen Meinung rasch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten.64 58
Siehe auch Fritz Reinhardt, Volksgemeinschaft und Steuerpflicht, RStBl 1934, 145, 146. Hier wird den Steuerpflichtigen mit unnachsichtiger Strafverfolgung gedroht und die Selbstanzeige als Ausweg aufgezeigt. Offensichtlich geschah dies ohne durchgreifenden Erfolg. Die Ermächtigung zu Steueramnestien war bereits vor der Machtergreifung infolge der Finanznot des Jahres 1930 erteilt worden. Dadurch konnte der Steuerhinterzieher nicht nur von der Strafe, sondern auch von der Nachzahlungspflicht befreit werden, siehe hierzu Bornhein% Wolfgan g / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 46. 59 Steinert, Maia, Die Gesetzmäßigkeit der sogenannten Steueramnestie, DStZ 1989, 141, 141. Dort ist die geschichtliche Entwicklung von Steueramnestien nachgezeichnet angefangen mit § 68 des Wehrbeitragsgesetzes im Jahr 1913 bis zum Gesetz über die Ausgabe von Berlin-Schuldverschreibungen im Jahr 1949. Vgl. ferner Spies, Axel, Amnestiemaßnahmen und deren Verfassungsmäßigkeit in 60 Kaiser, R., Die Beurteilung von Tatbeständen nach nationalsozialistischer Weltanschauung bei Vornahme von Schätzungen, StWa 1936,723, 724. 61 Weiterführende Hinweise finden sich bei Rausch, Alfons, Hitlers Steuerfreiheit, DStZA 1970, 182, 184, ders., Wie sich Hitler der Steuerpflicht entzog, DStR 1983, 499, 502. Im Ergebnis sieht Pausch hier einen Verstoß gegen Kants kategorischen Imperativ in der auf den Grundsatz „princeps legibus solutus" gestützten Nichteintreibung von Hitlers Steuerschulden durch die Finanzverwaltung. 62 So Staatssekretär Fritz Reinhardt in der Rede vom 13. 04. 1935, RStBl 1 1935,641,643. 63 Urt. v. 23. 03. 1921 - III A 9/21, RFHE 5, 333, 334; Urt. v. 07. 12. 1926 - I V A 85/26, RFHE 21, 68, 76.
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3. Kap.: Geschichtliche Annäherung als Rechtsvergleichung in der Zeit
Zur Durchsetzung des Grundsatzes „ Gemeinnutz geht vor Eigennutz der nunmehr auch von namhaften Steuerrechtlern wie Enno Becker übernommen wurde, 65 wurde gefordert, die Finanzbehörden mit immer mehr Machtmitteln auszustatten, um die als lästig empfundene Kontrolle durch die Finanzgerichte gerade bei Schätzungen auszuschalten.66 Der Gemeinnutzgedanke machte neben der Rassenideologie das Wesen der wenn auch ungeschriebenen Verfassung des NS-Staates, sofern von einer solchen gesprochen werden kann, aus. Im übrigen dürfte es für das Steuerstrafrecht nicht ohne Folgen geblieben sein, wenn Becker 57 als geistiger Vater der Reichsabgabenordnung und Präsident des Reichsfinanzhofes wohl beeinflußt durch die wegbereitenden Lehren in der Rechtstheorie von Carl Schmitt und Karl Larenz schließlich den Satz „nulla poena sine lege" als Unheil bezeichnete, der dem schlauen Verbrecher die Möglichkeit gebe, der Strafe zu entgehen, und andererseits zu einem „Buchstabenkult" geführt habe, der „statt der Wirklichkeit der Dinge nur noch das Buchstäbliche, begrifflich Überspitzte" sehen würde. 68 Andererseits versuchte man durch verstärkte Kontrolle und erhöhte Aufzeichnungspflichten Druck auf Gewerbetreibende auszuüben. So wurde zur Sicherung des Umsatzsteueraufkommens selbst Kleingewerbetreibenden aufgetragen, ein Wareneingangsbuch zu führen. Gleichzeitig mußten die Großhändler entsprechende Aufzeichnungen zur Gegenkontrolle im Warenausgangsbuch vornehmen. Trotz dieser strengen Kontrolle gelang es jedoch nicht, die Steuerdelikte in den Griff zu bekommen.69 Schließlich versuchte man mit geringem Erfolg unter Durchbrechung des Steuergeheimnisses mit Veröffentlichung von Steuersündern in Tageszeitungen eine öffentliche Ächtung herbeizuführen. 70 Nach dem zweiten Weltkrieg sank die Steuermoral auf einen weiteren Tiefstand, der sich durch die Einstellung des Einzelnen zum Staat erklären läßt. Hintergrund war die dreimalige Umwälzung der Staatsordnung innerhalb weniger Jahre seit dem ersten Weltkrieg sowie die Wirtschaftskrisen dieser Jahre. Der Gesetzgeber reagierte 1949 mit einer Erhöhung der Strafdrohung auf primär Gefängnis bis zu fünf Jahren und daneben eine obligatorische Geldstrafe, die nur ausnahmsweise allein verhängt werden konnte. 71 64 Urt. v. 15. 07. 1937 - I I I A 337 / 35, RFHE 42, 6,7. 65 Becker, Enno, Steuerrecht und Privatrecht, StuW 19341, Sp. 299, 307; ders.. Zur Rechtsprechung, StuW 19341, Sp. 737,738. 66 So die Forderung bei Groener, L., Die Reichsfinanzverwaltung benötigt die Befreiung des Schätzungsparagraphens von seinen Fesseln, StWa 1935,134, 135. 67 Becker, Enno, Vorrede zu Gerhard Wacke, Steuerrecht und Rechtsneubau, S. 10. 68 Zur Auseinandersetzung mit dem Wirken von Enno Becker im Steuerrecht des Nationalsozialismus siehe die Untersuchung von Voß, Reimer, Steuern im Dritten Reich, S. 42. 69 Högemann, Werner, Das deutsche Steuerrecht unter dem Einfluß des Nationalsozialismus (1933-1945), S. 82. 70 RFM v. 04. 12. 1935, RGBl 1 1935, 1489. 71 Goetzeler, Richard, Das Problem „Steuermoral und Steuerstrafrecht", FS f. Edmund Mezger, S. 383, 384.
§ 4 Abschließende Bemerkung
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§ 4 Abschließende Bemerkung Aus dem dargestellten Verlauf läßt sich ablesen, daß der Zustand des Steuersystems nur begrenzt von den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen abhängig war, selbst autoritäre Strukturen vermochten keine durchgreifenden Änderungen herbeizuführen. Festzuhalten ist, daß eine in der menschlichen Natur begründete Abneigung des Bürgers besteht, seinen steuerlichen Pflichten nachzukommen. Das Hinterziehungsverhalten ist nur teilweise zeitlich bedingt. Es hatte sich im übrigen gezeigt, daß auch zu Zeiten, in denen rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze und grundrechtliche Garantien wenig zählten, keine durchgreifenden Erfolge in der Bekämpfung der Steuerkriminalität zu verzeichnen waren. Versuche, das Strafverfolgungsinteresse auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, finden demnach in der Geschichte keine Stütze. Ferner hat der geschichtliche Rückblick verdeutlicht, daß die in dieser Arbeit aufzuarbeitenden Problemfelder schon seit jeher Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen waren und der gegenwärtige Rechtszustand das Ergebnis eines oft jahrhundertelangen Streits über die Ausgestaltung ist, der heute noch nicht abgeschlossen erscheint. Es sind dies die immer wiederkehrenden Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Steuerrecht und Steuerstrafrecht ergeben, die Rechte des Einzelnen in Steuer- und Steuerstrafverfahren sowie die Fassung des Hinterziehungstatbestandes. So läßt sich zur geschichtlichen Rechtsvergleichung sagen, daß das „ Vergleichen in der Zeit " dazu dienen kann, Entwicklungen nachzuzeichnen und das „ Neue und Andere als Ungleiches " zur Sprache zu bringen. 72
72 Häberle, Peter, Der Verfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, in: FS f. Klaus Stem, S. 143, 154 f.
Viertes Kapitel
Die verfassungsrechtliche Dimension § 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere (accusare)" Α. Kritische Bestandsaufnahme Das Steuerstrafverfahren läuft häufig parallel neben einem Besteuerungsverfahren her. Dieses hat regelmäßig denselben Sachverhalt zum Gegenstand. Ein Spannungsverhältnis ist daher vorprogrammiert. Wurden beispielsweise Einkunftsquellen durch den Steuerpflichtigen verschwiegen, so kann die Finanzbehörde nach §§ 172 ff. AO den bereits bestandskräftigen Steuerbescheid ändern und die Steuer erneut festsetzen. Zeitgleich wird die Bußgeld- und Strafsachenstelle bzw. die Staatsanwaltschaft aufgrund des vorliegenden Anfangsverdachtes ermitteln und gegebenenfalls bei hinreichendem Tatverdacht die Anklage erheben. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen laufen unabhängig voneinander nebenher. Beide Verfahren sind jedoch durch grundlegend verschiedene Verfahrensprinzipien gekennzeichnet: Das Besteuerungsverfahren stützt sich auf die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen. Der Steuerbürger hat nach § 90 Abs. 1 AO die steuererheblichen Tatsachen wahrheitsgemäß und vollständig der Behörde zu offenbaren. Verletzt er diese Mitwirkungspflicht, die in verschiedenen Bestimmungen der Abgabenordnung1 ihre Konkretisierung gefunden hat, so kann die Finanzbehörde aus diesem
1 Die dem Steuerpflichtigen auferlegten Mitwirkungspflichten lassen sich im groben in folgende Gruppen einteilen: a) Mitwirkung bei der Beweiserhebung der Finanzbehörde: Dies sind neben der allgemeinen Auskunftspflicht nach § 93 Abs. 1 AO insbesondere die Abgabe einer Versicherung an Eides Statt gemäß § 95 Abs. 1 AO, die Vorlage von Urkunden nach § 97 Abs. 1 AO, die Vorlage von Wertsachen nach § 100 Abs. 1 AO. b) Anzeigepflichten und das Führen von Büchern: Nach den §§ 137 ff. AO sind Körperschaften und Betriebe der Finanzbehörde verpflichtet, Gründung und Umstrukturierung anzuzeigen, über die laufenden Geschäftsvorfälle sind Bücher zu führen (§§ 140 ff. AO). c) Erklärungspflichten Hier ist insbesondere die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung zu nennen (§ 149 ff. AO).
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare )"
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Verstoß für den Steuerbürger negative Folgen ableiten. Sie ist befugt, im Rahmen einer Schätzung nach § 162 Abs. 1 S. 1, 4. Alt. i. V. m. § 90 Abs. 2 AO die fehlende Mitwirkungshandlung zu seinen Ungunsten zu berücksichtigen, d. h. einen Zuschlag auf die zu erwartende Steuerschuld zu geben. Diese Vorgehensweise findet ihre Rechtfertigung darin, daß es dem Steuerpflichtigen verwehrt sein soll, durch Verletzen seiner Mitwirkungspflicht Vorteile gegenüber dem redlichen Steuerbürger zu erlangen, der seiner Mitwirkungspflicht nachkommt und somit seine Besteuerungsgrundlagen in vollem Umfange zu versteuern hat. Der unredliche Steuerpflichtige könnte sonst das Ergebnis einer Schätzung abwarten und, soweit diese noch hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurückbleibt, weil der Behörde nicht alle Umstände bekannt waren, es bei diesem Ergebnis belassen. Die Zuschätzung stellt damit gleichzeitig ein Druckmittel zur Abgabe einer richtigen und vollständigen Steuererklärung dar.2 Unstreitig unzulässig ist nur eine darüber hinausgehende Strafschätzung. 3 Vielfach wird behauptet, daß eine korrekte Schätzung keinen Zwang darstelle, denn sie erziele ja annähernd das richtige Ergebnis.4 Sie wird als ein Instrument verwendet, um über die damit erzwungene Mitwirkung die verfassungsmäßig garantierte Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu gewährleisten. Demgegenüber ist das Strafverfahren von dem Grundsatz geprägt, daß der einer Steuerstraftat Beschuldigte nicht verpflichtet ist, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken. Hieraus folgt, daß er nicht gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen. Die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen wie auch die Erforschung des Sachverhaltes aus strafrechtlichen Gesichtspunkten wird in der Praxis häufig durch dieselbe Finanzbehörde, unter Umständen sogar von demselben Beamten durchgefühlt. Hier erscheinen Konflikte zwischen den aufgezeigten Interessen unausweichlich. Es besteht die Gefahr, daß der Amtsträger gegen den Grundsatz der Zweckrichtigkeit des Verfahrens verstößt.5 Zur Durchführung des Besteuerungsverfahrens ist es unzulässig, den Steuerpflichtigen mit Mitteln des Strafverfahrens anzuhalten. Zu Strafverfolgungsinteressen ist es umgekehrt nicht erlaubt, d) Mitwirkung bei Außenprüfungen und Steueraufsicht Bei Betriebsprüfungen ist der Steuerpflichtige zur Mitwirkung nach § 200 AO verpflichtet. Dies gilt ferner bei einem Tätigwerden der Finanzbehörde im Rahmen der Steueraufsicht, §§210,211 AO. 2 Mit Recht weist Kohlmann, Günter, Steuerstrafrecht- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO, Rn. 36, darauf hin, daß eine solche Schätzung nicht unbedenklich ist. 3 Müller, Lutz /Dannecker, Gerhard, Strafrechtliche Folgen, in: Blumers/Frick/Müller, Betriebsprüfungshandbuch, Rn. Κ 19. 4 So etwa Hüttinger, Stefan, Schutz des Steuerpflichtigen durch Beweisverbote im Steuerund Steuerstrafverfahren, S. 124. 5 Schweyer, Eckart, Tatbegriff und Tatidentität, S. 94. Kohlmann, Günter, a. a. O. (Fn. 2), § 393 AO, Rn. 22, sieht dieses Prinzip der Zweckgebundenheit der Mittel beispielhaft in § 393 Abs. 1 S. 2 AO positiv festgelegt. Die Problematik der Kollision einander widersprechender Prinzipien des Steuer- und des Strafverfahrens ist noch nicht abschließend entschieden und wirft im Hinblick auf den Inhalt der Steuerpflicht und die Zulässigkeit von Schätzungen schwierige Bewertungsprobleme auf, deren Lösung stark umstritten ist, siehe Kohlmann, Güntei; a. a. O. (Fn. 2), § 393 AO, Rn. 25.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
den Beschuldigten mit Zwangsmitteln nach §§ 328 ff. AO zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht zu veranlassen. Vergleichsweise einfach stellt sich die Problematik in Fällen dar, wo eine nur einmalig anfallende Steuer hinterzogen wurde. Dies ist namentlich bei der Grunderwerbssteuer wie auch bei der Schenkungs- und Erbschaftssteuer der Fall. Hat der Steuerpflichtige hingegen eine sogenannte Veranlagungssteuer hinterzogen, so liegt die Besonderheit darin, daß diese Steuer in regelmäßigen Abschnitten, also den Veranlagungszeiträumen erhoben wird. Hinterzieht der Steuerpflichtige deshalb die Einkommensteuer des Jahres Ol und wird deswegen ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, so wird er nach wie vor angehalten, seiner Erklärungspflicht für das Folgejahr 02 nachzukommen. Da sich das Steuerstrafverfahren regelmäßig über Jahre hinzieht, muß der Beschuldigte bzw. Angeklagte während des laufenden, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens innerhalb seiner Einkommensteuererklärung 02 Angaben machen, die Rückschlüsse auf seine Besteuerungsgrundlagen und damit die Höhe seiner Steuer im Jahre 01 zulassen. Hat er beispielsweise jahrelang seine im Ausland befindlichen Kapitaleinkünfte nicht angegeben, steht er vor der Wahl: Gibt er diese Einkünfte erneut nicht an, begeht er eine neuerliche Steuerhinterziehung. Gibt er sie hingegen an, so wird offensichtlich, daß er im Ausland Kapitalvermögen besitzt, dessen Zinseinkünfte bislang nicht versteuert wurden. 6 Ähnliche Probleme entstehen, wenn die Mitwirkungspflicht in strafrechtlich verjährten Zeiträumen durchgesetzt werden soll.7 Da eine strafrechtliche Verfolgung nicht zu befürchten ist, wird auch hier bestritten, daß dem Steuerpflichtigen ein Schweigerecht zusteht. Die Steuerfahndung ist sich dieser Problematik durchaus bewußt und deshalb nicht selten geneigt, auf den Steuerbürger durch überhöhte Schätzungen Druck auszuüben. Ist der Steuerpflichtige nicht in der Lage, die sich hieraus ergebende Steuerschuld zu begleichen, weil etwa im Unternehmen zu diesem Zeitpunkt die notwendige Liquidität fehlt, so muß er dem Druck weichen, wenn er Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Finanzbehörde vermeiden will. An der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieses Vorgehens bestehen doch erhebliche Bedenken, die im folgenden erörtert werden sollen: Ausgangspunkt ist der Grundsatz des „ nemo teneturder im Grundgesetz keine ausdrückliche Erwähnung gefunden hat. Ebenso wie bei anderen strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Garantien fehlt eine schriftliche Fixierung in der 6 Ein guter Steuerstrafverteidiger wird in der Praxis versuchen, die Höhe der Steuer im Folgejahr überschlägig zu berechnen, mit einem Sicherheitszuschlag zu belegen und das Finanzamt zu einer Schätzung in dieser Höhe zu bewegen. Um den Mandanten vor einer überhöhten Schätzung zu bewahren, wird er versuchen, seine Berechnung plausibel zu machen, ohne den Finanzbehörden konkrete Zahlen und Belege in die Hand zu geben. Daß es sich hierbei um eine Gratwanderung handelt, steht außer Frage. Eine dogmatisch befriedigende Lösung ist hierin kaum zu sehen. 7
Zu dieser Problematik Joecks, Wolfgang, Praxis des Steuerstrafrechts, S. 108.
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare ) "
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Verfassung; in diesem Bereich ist das Schweigen des Grundgesetzes besonders ausgeprägt.8 Rechtsvergleichend ist anzufügen, daß die Verfassung des Landes Brandenburg in Art. 52 Abs. 5 als einzige Landesverfassung das Schweigerecht ausdrücklich aufgenommen hat. Die Bestimmung lautet: „Niemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst oder durch Gesetz bestimmte nahestehende Personen auszusagen."
Eine positive Normierung findet sich darüber hinaus nur in der privilegedes Art. 14 Abs. 3 lit. g) des Internationalen Pakagainst-self-incrimination-clause tes über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahre 1973.9 Diese Bestimmung ist nach allgemeiner Meinung extensiv auszulegen als ein Verbot, den Beschuldigten zum Beweismittel gegen sich selbst zu machen.10 Rechtsvergleichend ist insbesondere auf die USA hinzuweisen, die am 15. 12. 1791 im V. Zusatzartikel zur Bill of Rights ein Schweigerecht ausdrücklich aufgenommen haben: „ . . . nor shall ( any person ) be compelled in any criminal case to be a witness against himself, ...".
Für die Verfassungen der Einzelstaaten hat der U. S. Supreme Court aus der „due process of law" - clause, niedergelegt im XIV. Zusatzartikel der Bundesverfassung, ein Selbstbezichtigungsprivileg hergeleitet, das eine gleich strenge Anwendung erfordert wie der V. Zusatzartikel für das Bundesrecht.11 So weist David Currie darauf hin, daß aus der „due process "-Klausel ein Verbot folge, ein unfreiwilliges Geständnis zur Grundlage einer Verurteilung zu machen.12 Es ist in einem ersten Schritt zu überprüfen, ob dem Grundsatz nicht trotz fehlender ausdrücklicher Normierung Verfassungsrang zukommt, weil er aus einer oder mehreren Verfassungsbestimmungen abzuleiten ist. In einem zweiten Schritt kann dann das Spannungsverhältnis zur Mitwirkungspflicht im Besteuerungsverfahren herausgearbeitet werden.
B. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Es soll zunächst die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes untersucht werden. 8 Wolff, Heinrich Amadeus, Der Grundsatz des „nulla poena sine culpa" als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), S. 55, 57. 9 BGBl I I 1973, 1540 ff. 10 Teske, Doris, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Beweisverfahren im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, S. 104 f. 11 Hierzu weiterführend Saiger, Carsten Α., Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 108. 12 Currie, David, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, S. 46.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die von Günter Dürig geprägte Objektformel vertreten, wonach Art. 1 Abs. 1 GG es verbietet, den Menschen „zum Objekt staatlichen Handelns" zu degradieren. 13 Dies beinhaltet zum einen ein Verbot, die Subjektqualität des Menschen in Frage zu stellen, zum anderen ein Verbot, den Menschen einer Behandlung vor allem durch den Staat auszusetzen, die ihn zum bloßen Instrument macht. 14 Geschützt ist aber auch der Straftäter. 15 Von dieser Grundlinie aus wäre es folgerichtig, ein Verbot eines Selbstbezichtigungszwanges aufzustellen. Denn der Angeklagte ist nur dann Subjekt des Verfahrens, wenn er selbst Prozeßpartei ist, nicht hingegen zum Beweismittel gegen sich selbst herabgewürdigt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich ausdrücklich zu dem Grundsatz des „nemo tenetur" bislang in nur wenigen Entscheidungen geäußert. Bemerkenswert ist, daß diese Fälle sich nur selten auf steuerstrafrechtliche Sachverhalte beziehen und somit viele sich gerade im Steuerstrafrecht ergebende Probleme nicht beantworten. Im Beschluß vom 8. Oktober 1974 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals ausdrücklich ein Recht des Beschuldigten anerkannt, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen.16 Die Herleitung dieses verfassungsrechtlichen Gebotes durch das Gericht folgt aus rechtsstaatlichen Grundsätzen. Für die Entscheidung war jedoch der Schutz des Beschuldigten nicht erheblich. Die folgenden Aussagen der Entscheidung befassen sich mit der Frage, inwieweit ein Zeuge berechtigt ist, etwaige Verfehlungen geheimzuhalten. Dessen Wurzeln sieht das Bundesverfassungsgericht im Persönlichkeitsrecht des Betroffenen. Aus der Achtung der menschlichen Würde ist neben dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung auch der Grundsatz der Einlassungsfreiheit abzuleiten. Die Menschenwürde gebietet es, den Einzelnen frei darüber entscheiden zu lassen, ob er sich zum Werkzeug seiner Uberführung machen will. Diese Feststellungen bestätigte das Gericht erneut im Beschluß vom 22. 10. 1980.17 Hier spricht es vom von der Achtung vor der personalen Würde
13 Beschl. v. 16. 07. 1969-1 BvL 19/63, BVerfGE 27, 1, 6; schließlich Urt. v. 15. 12. 1970 - 2 BvR 629/68, BVerfGE 30, 1, 25 (Abhörurteil), hierzu die Kritik von Häberle, Peter, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts d. Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Grundlagen von Staat und Verfassung, § 20, Rn. 9; schon zuvor ders., Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. 12. 1970, JZ 1971, 145, 151. Nach Häberle ist die Griffigkeit der bekannten Formel nicht zu unterschätzen. Sie ist eine plastische und überaus hilfreiche Direktive zur Konkretisierung der unmittelbar normativen Wirkung des Art. 1 Abs. 1 GG. 14 Jarass, Hans, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 1 GG, Rn. 4. 15 Von Münch, Ingo, in: von Münch /Kunig, Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 GG, Rn. 5; Höfling, Wolfram, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 34. 16 Beschl. v. 08. 10. 1974-2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 113. 17 Beschl. v. 22. 10. 1980 - 2 BvR 1172/79, BVerfGE 55, 144, 150 f.
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare )"
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geprägten rechtsstaatlichen Grundsatz, daß niemand gezwungen werden könne, gegen sich selbst auszusagen. Im sogenannten Gemeinschuldnerbeschluß 18 des Bundesverfassungsgerichtes war über die Auskunftspflicht des Gemeinschuldners im Konkurs zu befinden. Auf seine Angaben sind die Gläubiger wie auch die Verfahrensorgane des Konkursverfahrens zur ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Aufgaben angewiesen, da regelmäßig nur der Gemeinschuldner die entsprechende Kenntnis besitzt. Das Bundesverfassungsgericht bejaht hier einen aus dem Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Schutz vor Selbstbezichtigung. Gleichzeitig verweist der Senat auf die Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG als Hintergrund. Die Stoßrichtung dieses Schutzes vor Selbstbezichtigung sei ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat. Der Straftäter dürfe nicht gezwungen werden, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. Dieses Gebot gelte auch für die Angehörigen des Angeklagten. So sei ihnen nicht zuzumuten, ihren eigenen Angehörigen selbst belasten zu müssen. Umgekehrt wiederholt das Bundesverfassungsgericht die Formel der „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit" der Person. 19 Danach sei die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit zu lösen. Der Einzelne müsse sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht. Dies erlaube daher dem Gesetzgeber Abwägungen, soweit das Verbot eines Zwanges zur Selbstbezichtigung in Konflikt mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang steht. Der Schutz sei daher nicht lückenlos. Die Lösung sieht das Bundesverfassungsgericht darin, dem Gemeinschuldner zwar einerseits eine Pflicht zur Aussage aufzuerlegen, andererseits aber seinem insoweit tangierten Schweigerecht ein Beweisverwertungsverbot zur Seite zu stellen, mit dem beide schützenswerte Interessen zueinander zum Ausgleich gebracht werden. Es ist davon auszugehen, daß die Ausführungen des Senats auch für das Steuerstrafrecht Geltung beanspruchen können. Die Regelung des § 393 AO findet Erwähnung, ohne daß auf Einzelheiten näher eingegangen wird. 20 Zu berücksichtigen ist jedoch, daß das Gericht für das Konkursrecht letztendlich dennoch eine Auskunftspflicht zuläßt, da es sich um ein vorkonstitutionelles Gesetz handelt, das
is Beschl. v. 13.01. 1981 - 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 52. 19 Beschl. v. 20. 07. 1954 - 1 BvR 459/52, BVerfGE 4, 7, 15 f.; Beschl. v. 12. 11. 1958 2 BvL 4/56, BVerfGE 8, 274, 329; Beschl. v. 15. 01. 1970 - 1 BvR 13/68, BVerfGE 27, 344, 351. 20 Beschl. a. a. O. (Fn. 18), BVerfGE 56, 37, 47. Hierzu Engelhardt, Hanns, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, § 393 AO, Rn. 13. 7 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
vom Richter ergänzend ausgelegt werden kann. 21 Bei nachkonstitutionellen Gesetzen wie § 393 AO 1977 obliege es dagegen dem Gesetzgeber, ein Verbot der Selbstbezichtigung näher auszugestalten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Sachverhalt, den das Bundesverfassungsgericht im Gemeinschuldnerbeschluß vorfand, und demjenigen, der § 393 AO zugrundeliegt, ist darin zu sehen, daß im Konkursrecht lediglich private Gläubigerinteressen gegenüber dem „nemo tenetur"-Recht abzuwägen waren. Im Steuerrecht dagegen stehen öffentliche Belange gegenüber. Der Staat selbst als Adressat des „nemo tenetur"-Rechtes hat im Rahmen der Abwägung Beeinträchtigungen seiner Interessen in höherem Maße hinzunehmen als private Dritte. 22 Das Senatsmitglied Heußner hat seine abweichende Meinung in einem Sondervotum vor allem im Hinblick auf die Gefahr einer dysfunktionalen Weitergabe der Aussage des Gemeinschuldners bewußt von der Senatsmeinung abgegrenzt.23 Seiner Ansicht nach ist das verfassungsrechtlich garantierte Verbot einer unter Zwang herbeigeführten Selbstbezichtigung nur dann effektiv geschützt, wenn es durch ein Verbot der Offenbarung der vom Gemeinschuldner in Erfüllung seiner Pflicht getanen Aussage gegenüber Unbefugten ergänzt wird. So schwinde schon die Kooperationsbereitschaft des Gemeinschuldners, wenn die Gefahr nicht ausgeschlossen werden könne, daß gegen seinen Willen Informationen aus dem Konkursverfahren auch für andere als konkursrechtliche Zwecke verwendet würden. Danach liege in der Weitergabe ein Verstoß gegen das Grundrecht des Gemeinschuldners aus Art. 2 Abs. 1 GG, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Erforderlichkeit eines Eingriffes verlange, die hier aber fehle. Unter Berufung auf den Gemeinschuldnerbeschluß wird von der Rechtsprechung im Wege einer verfassungskonformen Auslegung die Bestimmung des § 393 Abs. 2 AO als Verwertungsverbot von entgegen dem „nemo tenetur "-Grundsatz erwirkten Aussagen ausgelegt.24 So wäre ein Schweigerecht illusorisch, wenn eine im Rahmen des Besteuerungsverfahrens pflichtgemäß abgegebene Selbstbezichtigung des Steuerpflichtigen gegen ihn im Strafverfahren wegen nichtsteuerlicher Delikte verwendet werden könnte. Der „nemo tenetur "-Grundsatz wird damit über die Pflicht zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren gestellt, soweit nicht eine Ausnahme nach § 393 Abs. 2 S. 2 AO vorliegt. Im Volkszählungsurteil schließlich geht das Bundesverfassungsgericht vom Bestehen eines Schutzes vor Selbstbezichtigung aus, der in enger Verbindung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung steht. Dieses Recht umfaßt auch
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Wied, Edgar, Verfassungsrechtlich gebotener Datenschutz im Steuerrecht, S. 187. Marx, Thomas, Nemo tenetur se ipsum accusare?, FS Der Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, S. 673, 676, der von einem regelmäßigen Vorrang spricht. 23 Abweichende Meinung Richter Heußner zum Beschl. a. a. O. (Fn. 18), BVerfGE 56, 52, 52 f. 2 4 BayObLG Beschl. v. 06. 08. 1996 - 4 StRR 104/96, wistra 1996, 353, 354. 22
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare) "
den Schutz des Bürgers, über seine Daten so zu verfügen, daß er nicht Gefahr läuft, sich selbst belasten zu müssen.25 Zur Problematik hat das Bundesverfassungsgericht erneut im Beschluß vom 21. 04. 1988 26 Stellung genommen. Unter Bezugnahme auf den Gemeinschuldnerbeschluß führt das Gericht aus, daß es keinen lückenlosen Schutz gegen staatlichen Zwang zur Selbstbezichtigung im Hinblick auf die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person geben könne. Soweit Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses dienen, sei eine Abwägung der widerstreitenden Belange erforderlich. Dies wird zum einen mit dem unumgänglichen Finanzbedarf des Staates gerechtfertigt, der anders nicht gedeckt werden könnte, jedoch zur Erfüllung der Aufgaben des Gemeinwesens unerläßlich sei, zum anderen gebiete es aber ebenso der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung aus Art. 3 Abs. 1 GG, alle Steuerpflichtigen gleich zu erfassen. Im konkreten Einzelfall hält das Bundesverfassungsgericht deshalb den Eingriff in das Abwehrrecht des " nemo tenetur " für gerechtfertigt, weil sachliche Gründe hierfür vorlägen und der Steuerpflichtige eine Bestrafung durch eine strafbefreiende Selbstanzeige vermeiden könne. 27
C. Analyse und Kritik bezüglich einer Selbstanzeigemöglichkeit Dieser Standpunkt erscheint über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht unbedenklich.28 Die strafbefreiende Selbstanzeige wirkt nur für den Tatbestand der Steuerhinterziehung. Werden gleichzeitig weitere Delikte verwirklicht, so hilft die strafbefreiende Selbstanzeige nicht, unabhängig davon ob die übrigen Delikte in Tateinheit und Tatmehrheit stehen; vielmehr liegt ein erst die Strafverfolgung auslösendes Geständnis vor. 29 Steuerhinterziehung trifft häufig mit Urkundendelikten beispielsweise zusammen, wenn Belege vom Steuerpflichtigen gefälscht werden. Weiter ist zu fragen, ob stets eine strafbefreiende Selbstanzeige möglich ist. Die Selbstanzeige ist dann ausgeschlossen, wenn die Tat „entdeckt" ist im Sinne von §371 Abs. 1 Nr. 2 AO ist. Sie ist ferner gesperrt, wenn ein Betriebsprüfer zur Außenprüfung erschienen ist (§ 371 Abs. 1 Nr. 1 a AO) oder ein Strafverfahren bereits 25 Urt. V. 15. 12. 1983 - 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1, 62. 26 BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 21. 04. 1988 - 2 BvR 330/88, wistra 1988, 302, 302 f. 27 Kritisch hierzu Abramowski, Jasper, Verfassungswidrigkeit des steuerlichen Selbstanzeigeprivilegs?, DStZ 1992,460,462; Marx, Thomas, a. a. O. (Fn. 22), S. 673, 675. 28 Hierzu a. A. wohl Hüttinger, Stefan, Schutz des Steuerpflichtigen durch Beweis verböte im Steuer- und Steuerstrafverfahren, S. 124, der allerdings einräumt, daß ein Schweigerecht gegeben sei, wenn die Voraussetzungen der Selbstanzeige nicht vorlägen. 29 Gußen, Peter, Die rechtzeitige Selbstanzeige als Mittel zur Vermeidung des Steuerstrafverfahrens, StB 1997, 358, 360. 7*
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eingeleitet ist (§ 371 Abs. 1 Nr. 1 b AO). Der grundrechtlich garantierte Schutz des „nemo tenetur" endet jedoch nicht mit Einleitung eines Strafverfahrens. Im Gegenteil wird die Situation für den Betroffenen erst prekär. Auch wenn die Tat „entdeckt" ist im Sinne von § 371 Abs. 1 Nr. 2 AO, ist sie deswegen noch nicht als Straftat nachgewiesen, der Täter überführt. Er bedarf nach wie vor des Schutzes des „nemo tenetur"-Grundsatz. 30 Des weiteren tritt die strafbefreiende Wirkung nur dann ein, wenn der Steuerstraftäter in der Lage ist, den hinterzogenen Betrag zu entrichten (§ 371 Abs. 3 AO). Vermag er dies nicht, weil ihm die notwendigen Mittel fehlen, so ist er eben gerade nicht fähig, eine Bestrafung zu vermeiden. Es ist dann für ihn unausweichlich, „sich selbst ans Messer zu liefern". Im übrigen schützt ihn die Selbstanzeige nicht vor disziplinarrechtlichen Maßnahmen. Für einen Beamten etwa ist die „goldene Brücke zur Ehrlichkeit" einer strafbefreienden Selbstanzeige versperrt. Keineswegs abschließend geklärt ist auch die Frage, ob bei Straffreiheit einer Steuerhinterziehung nach § 371 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO nicht die dahinter zurücktretenden Steuerordnungswidrigkeiten wieder aufleben. Die Finanzverwaltung vertritt diese Ansicht, weil es sich bei der strafbefreienden Selbstanzeige um eine eng auszulegende Ausnahme vom staatlichen Strafanspruch handele. Die innere Rechtfertigung des strafbefreienden Selbstanzeige liege allein darin, dem Staat die geschuldeten Steuerzahlungen zu sichern. Die Aufdeckung einer bloßen Steuergefährdung führe nicht zu weiteren Einnahmen des Staates. Die Sichtweise des Bundesministeriums der Finanzen ist jedoch wenig stringent, hält man sich vor Augen, daß auch das Verborgenbleiben der Steuergefährdung zu Steuermindereinnahmen führen kann. Gerade auf der Grundlage einer rein fiskalischen Betrachtung ist hierin kein Unterschied zu erkennen. Daß es beim Gefährdungsdelikt nur um eine wahrscheinliche Schmälerung der staatlichen Einnahmen, beim Erfolgsdelikt der Steuerhinterziehung dagegen um die sichere Verkürzung geht, rechtfertigt keinen unterschiedliche Behandlung der Sache, sondern stellt lediglich die Umschreibung des jeweiligen Tatbestandes dar. Begeht ein Steuerhinterzieher eine Steuerhinterziehung auf Zeit, indem er etwa eine Umsatzsteuervoranmeldung zu spät bei der Finanzbehörde einreicht und somit lediglich die Rechtzeitigkeit des Steuerzahlung verhindert, so sind für den Fiskus keine Steuerzahlungen durch die Selbstanzeige gesichert. Die Steuerzahlungen wären sowieso erfolgt. Der wirtschaftliche Vorteil des erzwungenen Zahlungsaufschubs wird durch Hinterziehungszinsen abgeschöpft. Tatbestandsgemäß handelt nämlich auch derjenige, der den verkürzten Steuerbetrag zu einem späteren Zeitpunkt zahlen will, sich jedoch einen Kredit auf Kosten des Fiskus durch Täuschung 30
Α. A. Engelhardt, Hanns, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, § 393 AO, Rn. 52. Demgegenüber räumt Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO, Rn. 13, ein, daß trotz grundsätzlicher Berechtigung des Gerechtigkeitspostulats einer Gleichmäßigkeit des Besteuerung eine hierauf gestützte Argumentation nicht hinreichend differenzierend ist.
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der Behörde verschaffen will. Da hier die Selbstanzeige in gleichem Maße strafbefreiend wirkt und auch der Gesetzeswortlaut des § 371 AO keinen gegenteiligen Anhaltspunkt enthält, ist eine Rechtfertigung der Selbstanzeige wenig ergiebig, welche sich allein auf die Sicherung der Steuerzahlungen stützt, weil diese nicht alle Fälle zu umfassen vermag. Das Bundesverfassungsgericht hat die eingangs aufgeworfene Frage in einer neueren Entscheidung an die Strafgerichte verwiesen, da es bei keiner der hierzu vertretenen Auffassungen eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht sieht.31 Der Beschwerdeführer hatte sich auf eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG berufen, da es willkürlich sei, den Täter der erfolgreich Steuern verkürzt habe, bei einer Selbstanzeige straffrei zu stellen, denjenigen hingegen, der nur eine Steuergefährdung gemäß § 379 AO begangen habe, nach wie vor zur Verantwortung zu ziehen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, daß ein besonders qualifizierter Verstoß gegen § 379 AO vorliegt, weil bei der strafbefreienden Selbstanzeige nach §371 AO ebenfalls nicht auf die Schwere der Steuerhinterziehung abgestellt werde. § 47 OWiG bietet nicht immer ausreichende Möglichkeiten, verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. 32 Eine Selbstbindung der Verwaltung ist auch nicht infolge des Z?MF-Schreibens vom 29. 07. 198133 eingetreten, worin die Finanzbehörden angewiesen werden, den Tatbestand der Steuergefährdung bei Selbstanzeige der im Vordergrund stehenden Steuerhinterziehung nicht zu verfolgen. Die Gerichte sind nicht an eine schematische Anwendung des § 47 OWiG gebunden, sondern können ohne verfassungsrechtliche Bedenken34 eine Gesamtwürdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vornehmen. Im Ergebnis läßt sich daher festhalten, daß die strafbefreiende Selbstanzeige in einem weiten Bereich nicht geeignet ist, das Spannungsverhältnis zu lösen, welches sich aus dem „nemo tenetur "-Grundsatz und den steuerlichen Mitwirkungspflichten ergibt. 35 31 BVerfG Beschl. v. 11. 07. 1997-2 BvR 997/92, wistra 1997, 297, 298. 32 So aber BVerfG Beschl. v. 21. 04. 1988-2 BvR 330/88, wistra 1988, 302, 302. Nach wohl richtiger Ansicht entfällt nach einer Selbstanzeige auch die Verfolgung wegen einer Steuerordnungswidrigkeit. In diesem Sinne Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan / Joecks, Steuerstrafrecht, § 371 AO, Rn. 212. Dagegen ist der Steuerordnungswidrigkeitstatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung wegen der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 378 Abs. 3 AO nach einer Selbstanzeige nicht mehr verfolgbar; zum Eingreifen der Sperrwirkung hier OLG Karlsruhe Beschl. v. 30. 11. 1995 - 2 Ss 158/95, wistra 1996, 117, 117 f. 33 BMF-Schreiben vom 29. 07. 1981, IV A 8 - S 0711, StEK AO 1977 § 409 Nr. 1. Da diese Fälle nach Ansicht der Finanzverwaltung selten vorkommen werden, wurde auf Herausgabe eines Erlasses verzichtet. 34 BVerfG Beschl. a. a. O. (Fn. 31), wistra 1997, 297, 298. 35 In der Literatur wurde dies bereits lange vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes erkannt. Vgl. Sidow, Friedrich Wilhelm, Die Vereinbarkeit der steuerlichen Mitwirkungspflichten mit dem Grundgesetz, S. 154.
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Weiterhin ist in die Diskussion einzubeziehen, daß die strafbefreiende Selbstanzeige nur vor Bestrafung, nicht hingegen vor Ermittlungen schützt. Insbesondere bei größeren verkürzten Beträgen ist die Finanzverwaltung mißtrauisch und ist geneigt, den Sachverhalt selbst zu überprüfen und sich nicht auf die Angaben des Steuerpflichtigen zu verlassen. 36
D. Stellungnahme zur dogmatischen Einordnung und praktische Umsetzung des gefundenen Standpunktes I. Verfassungsrechtliche Lokalisierung des „nemo te/2itar"-Grundsatzes 1. Der Menschenwürde-Ansatz
Der Ableitung des „nemo tenetur"-Grundsatzes aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG durch die Rechtsprechung ist zuzustimmen.37 An anderer Stelle bei § 142 StGB hat das Gericht jedoch ausgeführt, daß die Rechtsordnung vom Bürger gegebenenfalls jedoch auch erwarte, für menschliches Versagen einzustehen, insbesondere die Aufklärung von Unfallursachen nicht durch sein Verhalten erschwere oder gar unmöglich mache.38 Teile der Literatur nehmen dies zum Anlaß, eine Herleitung aus der Menschenwürde abzulehnen. Dabei wird das Menschenwürde-Gebot bisweilen auf den Ausschnitt beschränkt, daß der Einzelne als Ausfluß höchster individueller Intimität einen unantastbaren Geheimschutz genösse.39 Da aber jede Form der Strafverfolgung auf Aufklärung hinauslaufe und damit diese Intimität in Frage stelle, dürfte keinerlei Strafverfolgung zulässig sein. Da dieses Ergebnis nicht tragbar sei, führe sich eine Ableitung aus der Menschenwürde selbst ad absurdum. Wegen dieses Streits erfordert es deshalb eine einge36 Streck, Michael, Praxis der Selbstanzeige, DStR 1985, 9, 11. 37
Nicki, Rolf, Das Schweigen des Beschuldigten und seine Bedeutung für die Beweiswürdigung, S. 35; Störmer, Rainer, Strafprozessuale Verwertungsverböte in verschiedenen Konstellationen, Jura 1984, 621, 622. - Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz Kommentar, Art. 103, Rn. 93, formuliert vorsichtig, daß ein Aussageverweigerungsrecht des Angeklagten dem Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG zuzuordnen sein „dürfte". Dabei scheint Degenhart das Verbot des Selbstbezichtigungszwanges allein auf Art. 1 Abs. 1 GG stützen zu wollen. Inwieweit nach diesem Verständnis dem Recht ein anderer Inhalt gegeben werden soll, bleibt unklar, da er lediglich auf die einfachgesetzliche Positivierung Bezug nimmt, so etwa ders., ebenda, Rn. 81 zu Art. 1 Abs. 1 GG. 38 Beschl. v. 29. 05. 1963 - 2 BvR 161/63, BVerfGE 16, 191, 194, mit Zustimmung von Sidow, Friedrich Wilhelm, Die Vereinbarkeit der steuerlichen Mitwirkungspflichten mit dem Grundgesetz, S. 154 f. 39 So der Ansatz von Schneider, Hartmut, Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldmodells, S. 47.
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hende Untersuchung, worin die innere Rechtfertigung des Menschenwürde-Ansatzes liegt. So genügt es hingegen nicht, das Schweigerecht ausschließlich auf Art. 1 Abs. 1 GG zu stützen, weil die Menschenwürde kein Grundrecht selbst, sondern oberstes Konstitutionsprinzip ist. Dies folgt auch aus dem Wortlaut „Die nachfolgenden Grundrechte binden... " (Art. 1 Abs. 3 GG). Es muß daher anderslautenden Stimmen der Literatur widersprochen werden. 40 Außerdem wäre eine Beschränkung des obersten Konstitutionsprinzips durch Gesetz nicht möglich, Ausnahmen könnten in der Grundrechtsdogmatik nicht legitimiert werden. 41 Dies würde zu einer Verabsolutierung führen, die der Bedeutung des Prinzips sowohl aus der kulturellen Entwicklung wie auch der Gesamtbetrachtung der Verfassung nicht gerecht würde. 42 Zur Lokalisierung in Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ist dagegen auszuführen: Der Einzelne hat im Strafverfahren den Verlust seiner Rechtsgüter wie Freiheit, Vermögen und Ehre zu besorgen, so daß es ihn überfordern würde, wenn er hierzu selbst beitragen müßte. Danach ist dem Einzelnen ein Abwehrrecht gegen die öffentliche Gewalt als subjektives öffentliches Recht gegeben.43 Selbst wenn sich die Würde des Menschen am höchsten im Bekennen begangenen Unrechts zeigt, besitzt der Staat kein Recht, hierauf einzuwirken. 44 Sie ist der Ansatzpunkt des Betroffenen, um sein Recht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. In der Tat ist die personale Würde nicht gewährleistet, wenn der Mensch verpflichtet wäre, sich selbst zur Marionette des Strafprozesses zu machen. Dahinter steht schließlich das Recht des Einzelnen am eigenen freien Willen. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird dem Steuerpflichtigen genommen, wenn seine Mitwirkung am Verfahren durch Verhängung von Sanktionen erzwungen werden könnte.45 Eine solche verfassungsrechtliche Verpflichtung dahingehend läßt sich nicht aus Art. 2 Abs. 1 GG herleiten, da die Schranke des „allgemeinen Sittengesetzes" keine sittliche Pflicht zur Wahrheit als Rechtspflicht begründet 46 Naturrechtlich steht hinter dem Schweigerecht die Respektierung des Selbsterhaltungstriebes des Menschen.47 Roschmann hat dies dahingehend formuliert, daß 40 Diesbezüglich a. A. Bauer, Gerhard, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 63; Wieland, Rainer, Buchhaltungsunterlagen als Gegenstand der Beschlagnahme beim Steuerberater des Beschuldigten, S. 69. 41 Lagodny, Otto, Verdeckte Ermittler und V-Leute im Spiegel von § 136 a StPO als „angewandtem Verfassungsrecht", StV 1996, 167, 171. 42 Ähnlich: Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 71 f. 43 Dingeldey, Thomas, Das Prinzip der Aussagefreiheit, JA 1984,407,409. 44 Stree, Walter, Schweigen des Beschuldigten im Strafverfahren, JZ 1966, 593, 600. 45 Hierzu grundlegend Dürig, Günter, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 GG Abs. 1, Rn. 34. 46 Mit Recht abl. Rüping, Hinrich, Zur Mitwirkungspflicht des Beschuldigten und Angeklagten, JR 1974, 135, 139.
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das Schweigen die Selbstbestimmung über zentrale Bereiche der Persönlichkeit sichert, nämlich die Kenntnis der eigenen Biographie. Die Erinnerung hierüber sei neben den eigenen Gefühlen und Uberzeugungen Teil der Intimsphäre des Menschen.48 Diesem Ansatz kann beigepflichtet werden, wenn er auch die Tragweite auf einen Teilaspekt verkürzt. Denn es geht nicht allein darum, daß die Strafverfolgungsorgane ein ihnen vom Beschuldigten nicht erlaubtes Wissen über seine Biographie aneignen. Die Aufklärung von Umständen aus Anlaß einer Straftat ist ja gerade der Gegenstand des Strafverfahrens. Dabei kann es nicht ausbleiben, Teile der Biographie des Beschuldigten zu ermitteln. Entscheidend aber ist, und das geht über den Ansatz von Roschmann hinaus, daß der Betroffene nicht verpflichtet ist, hieran mitzuwirken. Religiöse Wurzeln allein scheinen dagegen nicht das Schweigerecht begründen zu können, im Gegenteil war über Jahrhunderte im kanonischen Strafverfahren der Angeklagte zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, 49 weil ein Lügen oder Leugnen als Sünde und damit als Verstoß gegen göttliches Recht betrachtet wurde. Andererseits war jedoch auch das Schwören im Neuen Testament verboten. 50 Der Befund erweist sich nicht als eindeutig. Die bisherigen Darstellungen der inneren Rechtfertigung des „nemo tenetur" enden regelmäßig an dieser Stelle. Es ist zu fragen, ob etwas schon dann gerechtfertigt sein mag, wenn es dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen entspricht. Letztlich wird hier Naturrecht des Menschen mit der Natur gleichgesetzt, wonach als naturgesetzlich das gilt, was alle Lebewesen bewegt, nämlich die Erhaltung ihrer selbst. Die Begründung des Naturgesetzes als Natur des Menschen geht vom Grundtrieb des Menschen, dem Glücksstreben aus.51 Die Selbsterhaltung des Menschen ist eine unverzichtbare Vorbedingung hierzu. Dennoch ist die Wurzel im Selbsterhaltungstrieb des Menschen wohl für sich allein nicht ausreichend, ein Schweigerecht zu begründen. Immerhin ließe sich mit ihr nahezu alles begründen, so wäre auch die Urkundenfälschung des Geständnisses eines Dritten, um selbst der Verurteilung zu entgehen, Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes.52 Der Selbsterhaltungstrieb ist deshalb im Zusammenhang mit den übrigen Rechtsgütern zu sehen, er kann nicht schrankenlos gelten. 47 Entgegen Versuchen, im modernen Verfassungsstaat die Staatsverfassung als letzten normativen Geltungsgrund allen staatlichen Rechts anzusehen, kommt Rechten vorstaatlicher Natur vom Standpunkt dieser Arbeit eine eigenständige Bedeutung zu. Abi. dagegen gerade zum Bereich der justiziellen Grundrechte Neubauer, Gisela Christa, Verfassungsrechtliche Begründung und Legitimation der justiziellen Grundrechte, S. 6 f. 48 Roschmann, Christian, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozeß; seine rechtlichen und faktischen Grenzen, S. 14. 49 Walder, Hans, Die Vernehmung des Beschuldigten, S. 36 f. 50 Matthäus 5, 34 - 37. Weiterführend: Guradze, Heinz, Schweigerecht und Unschuldsvermutung im englisch-amerikanischen und bundesdeutschen Strafprozeß, S. 151, 156. 51 Messner, Johannes, Das Naturrecht, S. 70. 52 So nicht ganz zu Unrecht: Walder, Hans, a. a. O. (Fn. 49), S. 81.
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Selbsterhaltung ist hier zutreffender in dem Sinne zu verstehen, daß der Beschuldigte nicht in eine Konfliktsituation getrieben werden darf, in der er wählen kann, sich selbst ans Messer zu liefern oder eine Falschdarstellung abzugeben, die für ihn unter Umständen weitere strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, sofern sie später aufgedeckt wird. Die Selbstaufgabe besteht dann nicht allein in der Erhaltung seiner biologischen Existenz, sondern vielmehr darin, sich nicht immer weiter außerhalb der Gesellschaft stellen zu müssen, mitunter weitere verwerfliche Handlungen begehen zu müssen und seine letzten moralischen Prinzipien aufgeben zu müssen. Bisweilen wird behauptet, der „nemo tenetur"-Grundsatz folge nicht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, sondern sei Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, welches sich aber selbst wiederum auf diese Verfassungsbestimmungen stützt. Da die verfassungsrechtliche Grundlage identisch ist, können jedoch keine nennenswerten Unterschiede hieraus abzuleiten sein,53 wollte man dieser Ansicht folgen. Nichts anderes kann für die Annahme gelten, der „ nemo tenetur "-Grundsatz sei gerade durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt. Zwar ist eine gewisse Verwandtschaft nicht zu verkennen, es muß jedoch klargestellt werden, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine andere Stoßrichtung im Hinblick auf die Erfordernisse der modernen Technik auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung besitzt. Im übrigen ist auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aufzufassen, welches keine neue verfassungsrechtliche Wurzel bildet, sondern sich ebenfalls auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG stützt. Gleichzeitig soll aber der Frage nachgegangen werden, ob weitere Verfassungsbestimmungen den „nemo tenetur "-Grundsatz stützen können. Eine Verortung des „nemo tenetur "-Grundsatzes in weiteren Bestimmungen der Verfassung erscheint nach hier zugrunde liegendem Verständnis nicht ausgeschlossen.54 Nothhelfer 55 weist in seiner Arbeit aufgrund seines Vorverständnisses nach, daß ein insoweit subsidiäres Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. der verfassungsmäßigen Ordnung, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht zur Anwendung kommen kann, solange ein spezielleres Recht die Problematik des „nemo tenetur" thematisch verbraucht. 56 Zweifelhaft wäre auch der praktische Wert, den ein Schweigerecht des Steuerpflichtigen haben soll, welches auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt wäre. Castringius, 57 der eine solche 53
In diesem Sinne letztlich auch Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 74. 54 Wolff, Heinrich Amadeus, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 29, weist zutreffend darauf hin, daß die Kombination mehrerer Verfassungsnormen zur Verbürgung eines selbständigen Rechtsinstituts keine ungewöhnliche Erscheinung ist und jedenfalls dann zulässig ist, wenn der „nemo tenetur"-Grundsatz nicht einer einzelnen Verfassungsnorm zugewiesen werden kann. 55 Nothhelfer, Martin, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 36. 56
Zustimmend: Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 22.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Ableitung befürwortet, versucht durch eine enge Auslegung der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG dem Schweigerecht zu einer praktischen Wirksamkeit zu verhelfen. Sein Schutz beschränkt sich damit im wesentlichen auf das Verhältnismäßigkeitsgebot, ohne daß konkrete Ausformungen erkennbar sind. Einzuräumen ist, daß in der Strafprozeßordnung als Teil der „verfassungsmäßigen Ordnung" keine Beschränkung der Selbstbelastungsfreiheit enthalten ist, somit eine Verbürgung nicht ausgeschlossen erscheint. 58 Die Schranke des „Sittengesetzes" bereitet Castringius insoweit Schwierigkeiten, als es seiner Ansicht nach ethisch zu fordern sein könnte, begangenes Unrecht zuzugeben, statt es zu verschweigen. Dieses Ideal sei nach Castringius jedoch nicht der Maßstab, an der die Normallinie des Art. 2 Abs. 1 GG beim Begriff des „Sittengesetzes" zu messen ist. 59 Nach richtiger Anschauung besteht ethisch keine Verpflichtung. Ein dennoch erfolgendes Geständnis ist einem Täter positiv anzurechnen. Insbesondere hat Art. 2 Abs. 1 GG das Sittengesetz nicht in den Rang einer Rechtsnorm erhoben, vielmehr setzt die Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG gerade erst ein Gesetz voraus. 60 Helgerth 61 tritt dem bei und unterstreicht, daß der Begriff des „Sittengesetzes" in Art. 2 Abs. 1 GG nicht identisch mit der Sittlichkeit sei, die nach Ansicht des historischen Gesetzgebers des § 136 der Reichsstrafprozeßordnung an sich eine Angabe der Wahrheit erfordere, dieses aber als Ideal verstehe, aus dem nicht zwingend eine rechtliche Verpflichtung folge. Leiwesmeyer 62 versteht unter dem Sittengesetz die allgemein anerkannten Moral- und Wertvorstellungen unter Berücksichtigung der Wertordnung des Grundgesetzes. Hieraus folge grundsätzlich keine Verpflichtung des Angeklagten zur Wahrheit. Nichtsdestoweniger ist auch bei einer Verortung in Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG dieses Recht in seinem Kontext der gesamten Verfassung, vor allem aber in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip, welches über die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG eine herausgehobene Stellung besitzt, auszulegen. Im folgenden soll untersucht werden, ob weitere Verfassungsnormen eine Grundlage für das Schweigerecht abgeben können.
57
Castringius, Arnold, Schweigen und Leugnen des Beschuldigten im Strafprozeß, S. 46 ff. 58 Nicki, Rolf, Das Schweigen des Beschuldigten und seine Bedeutung für die Beweiswürdigung, S. 31. 59 Castringius, Arnold, a. a. O. (Fn. 57), S. 48. 60
Höra, Knut, Wahrheitspflicht und Schweigebefugnis des Beschuldigten, S. 68. Helgerth, Roland, Der „Verdächtige" als schweigeberechtigte Auskunftsperson und selbständiger Prozeßbeteiligter neben dem Beschuldigten und dem Zeugen, S. 174. 62 Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 25. 61
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare ) " 2. Die Gewissensfreiheit
Demgegenüber ist eine Verortung des „nemo tenetur "-Grundsatzes in der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG fragwürdig. 63 Nach richtiger Auffassung sind die Absätze 1 und 2 des Art. 4 GG als zusammengehörig anzusehen.64 Zwar besteht eine Verbindung zum Schweigerecht insoweit, als bei Aussagepflicht ein Eid mit religiöser Beteuerung gegen die Gewissensfreiheit verstoßen könnte,65 beide Rechte sind dennoch kaum deckungsgleich. Außerdem spräche für eine Ableitung aus der Gewissensfreiheit der historische Ursprung des Schweigerechts: Danach galt das Aussageverweigerungsrecht als ein Schutz gegen den Zwang, seinen ketzerischen Glauben zu offenbaren. 66 Gleichzeitig wäre an das Verbot des Schwörens 67 im Neuen Testament zu denken. 68 Von diesen geschichtlichen Wurzeln hat sich das Recht aber inzwischen weit entfernt. Das Bundesverfassungsgericht definiert Gewissen als ein real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind. 69 Als eine Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, an den Kategorien von „Gut" und „Böse" orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. 70 Auf eine Berechtigung dieser Entscheidung kommt es nicht an. 71 Umgekehrt folgt dann aber auch nicht daraus, daß ein Schutz vor Selbstbezichtigung aus der Gewissensfreiheit nicht bestehen könnte, weil das Gewissen das Eingeständnis von aufgeladener Schuld erfordere. 72
63
So aber Zippelius, Reinhold, in: Bonner Kommentar, Art. 4 GG, Rn. 41 f. Häberle, Petei; Grenzen aktiver Glaubensfreiheit, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, S. 125, 135; ebenso Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 382 f., zustimmend Model/Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 4 GG, Rn. 8 a. E. 64
65
Wolff, Heinrich Amadeus, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 31. Erdmann, Hans-Henning, Die Ausdehnung der strafprozessualen Garantien der USBundesverfassung auf den Strafprozeß der Einzelstaaten, S. 134. 67 Matthäus 5, 34-37. 66
68
Guradze, Heinz, Schweigerecht und Unschuldsvermutung im englisch-amerikanischen und bundesdeutschen Strafprozeß, FS f. Karl Loewenstein, 151, 156. 69 Beschl. v. 20. 12. 1960 - 1 BvL 21/60, BVerfGE 12, 45, 54 f., Kokott, Juliane, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 4, Rn. 19. 70
Bei der Auslegung der Gewissensfreiheit bedarf es keiner Auseinandersetzung mit theologischen oder philosophischen Lehren über Begriff, Wesen und Ursprung des Gewissens, da diese die Kompetenz des Richters überschreitet. Klein, Franz, in: Schmidt-B leibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 4, Rn. 7 f. 71
Jarass, Hans, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 4, Rn. 41.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Knüpft man den „nemo tenetur"-Grundsatz an die Gewissensentscheidung, so wird sein Schutz nur gewährt, wenn der Betroffene es selbst aufgrund seiner moralischen Wertung als verwerflich ansieht und eine Aussage seiner inneren Glaubensüberzeugung zuwiderläuft. 73 Es fragt sich mit anderen Worten, ob auch derjenige die Aussage verweigern kann, dessen „tiefste Überzeugung" trotz Aussage unberührt bliebe, weil er eine Aussagepflicht für ethisch richtig erachtet. Regelmäßig sind nämlich eher prozeßtaktische Gründe und nicht ethische Motive der Hintergrund für die Entscheidung zu schweigen.74 Würde man überdies die Ansicht vertreten, daß ein Betroffener sich auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen kann, stünden dem zwar keine gesetzlichen Beschränkungen gegenüber, jedoch verfassungsimmanente Schranken. Umstritten ist ferner ohnedies, ob Art. 4 Abs. 1 GG nicht bloß das „forum internum", die Gewissensbildung, schützt, oder auch die darüber hinausgehende Verwirklichung, also die Gewissensentscheidung.75 Eine Herleitung aus der Gewissensfreiheit ist aber schon auf der Ebene des „forum internum" abzulehnen.76
3. Anspruch auf rechtliches Gehör
Art. 103 Abs. 1 und 104 Abs. 3 S. 1 GG beinhalten auf einer ersten Stufe der Realisation Mitteilungs- und Informationspflichten des Gerichtes, auf der zweiten Stufe ein Außerungsrecht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu entscheidungserheblichen Fragen. 77 Beide Stufen sind eng miteinander verbunden, da die Verfahrensbeteiligten sich nur äußern können, sofern sie erkennen können, auf welchen Rechtsstoff es ankommt.78 Degenhart 79 fordert in einer dritten Stufe das Recht auf Berücksichtigung, das heißt Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft aller 72
Mit dieser Argumentation zwingt der Betrachter dem Beschuldigten bzw. Angeklagten seine eigene Wertung auf; so aber Fischer, Bianca, Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 105. 73 Wolff, Heinrich Amadeus, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 31. Nach von Münch, Ingo, in: von Münch / Kunig, Grundgesetz, Art. 4, Rn. 32, ist unabdingbare Voraussetzung das Gefühl einer inneren Verpflichtung, die in der Situation des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders." vorliegt. 74 Saiger, Carsten Α., Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 12. 75 So Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 383; von Münch, Ingo, a. a. O. (Fn. 73), Art. 4, Rn. 34; a. A. dagegen Model/Müller, Grundgesetz, Art. 4 Rn. 3. 76
Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 23; a. A. Lorenz, Frank Lucien, „Operative Informationserhebung" im Strafverfahren, „Unverfügbares" und Grundrechtsschutz durch „institutionelle Kontrolle", JZ 1992, 1000,1006. 77 Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 8. 78 Schmidt-Bleibtreu, Bruno, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 2 a. E. 79 Degenhart, Christoph, Staatsrecht I, Rn. 1158.
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare )"
109
an der Entscheidung Beteiligten. Dabei müssen die Verfahrensbeteiligten die ihnen gegebenen Möglichkeiten auch wahrnehmen. 80 Sie müssen aktiv am Prozeß teilnehmen.81 Art. 103 Abs. 1 GG schützt nicht den nachlässigen Beteiligten, der seine Rechte nicht wahrnimmt. 82 Der „nemo tenetur"-Grundsatz zielt in die entgegengesetzte Richtung: Er ist nicht auf aktive Mitwirkung, sondern auf passive Verweigerung der Mitwirkung angelegt.83 Daher sind beide Rechte nicht deckungsgleich, sie ergänzen sich vielmehr. 84 Eine Herleitung des Aussageverweigerungsrechtes aus Art. 103 Abs. 1 GG muß deshalb ausscheiden. Denn wer sich auf den „ nemo tenetur "-Grundsatz beruft, behält gerade sein Wissen zurück, um hiermit nicht Einfluß auf den Prozeßverlauf zu nehmen. Wer sich dagegen rechtliches Gehör verschafft, der teilt seine Kenntnis mit, um die Tatsachenfeststellung des Gerichtes zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen. Nach anderer Ansicht soll aber eine Einlassungspflicht deswegen ausgeschlossen sein, weil die Bestimmung des Art. 104 Abs. 3 GG dem Wortlaut nach ausdrücklich von einer „Gelegenheit" zur Einlassung spricht. Demzufolge solle ein Zwang zur Aussage nicht gegeben sein. Damit ist jedoch lediglich ausgesagt, daß eine Pflicht zur Aussage nicht besteht; ob hingegen ein Schweigen in der Beweiswürdigung zuungunsten des Betroffenen verwendet werden darf, ist hiermit noch nicht entschieden.85 Bedenken ergeben sich zudem gegenüber einer Ableitung aus Art. 103 Abs. 1 GG insofern, als Adressat dieses Rechtes nur Gerichte sein können. Würde man den „nemo tenetur "-Grundsatz ausschließlich hier ansiedeln, so wäre fraglich, ob auch ein Schutz gegenüber den Ermittlungsbehörden bestehen kann.
4. Das Recht auf ein faires Verfahren
Gelegentlich wird das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren 86 ins Feld geführt. Hierauf beruft sich auch die Rechtsprechung, ohne dies weiter zu begründen. 87 so Beschl. v. 25. 05. 1956 - 1 BvR 53/54, BVerfGE 5, 9, 11. 81 82
Model/Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 103 GG, Rn. 7. Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 16.
83 Dingeldey, Thomas, Das Prinzip der Aussagefreiheit, JA 1984, 407, 409; ebenso Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 22. 84 Wolff, Heinrich Amadeus, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 32; ebenso Bährle, Volker, Die Aussagefreiheit des Angeklagten und die Verwertung von Vorverfahrensaussagen in der Hauptverhandlung, S. 77 f. 85 Saiger, Carsten Α., Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 10. 86 Das Recht auf ein faires Verfahren wurde durch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Einzelfallentscheidungen entwickelt. Vgl. Beschl. v. 08. 04. 1975 - 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 238 f., Beschl. v. 10. 06. 1975 - 2 BvR 1074/74, BVerfGE 40, 95, 95 f.,
110
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Das Recht auf ein faires Verfahren bedarf weiterer Konkretisierungen. Es ist sicherlich nicht ohne Bedenken, nahezu alle prozessualen Rechte, die das einfache Recht gewährt, über den Grundsatz des fair-trial abgesichert haben zu wollen. Denn es besteht die Gefahr, daß jede Verletzung zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden könnte und somit das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz mißbraucht würde. So könnte der offene und nur in seinen Umrissen erkennbare Begriff der Fairneß zu einer Uberbeanspruchung einladen. 88 In allen Einzelheiten detaillierte Gebote oder Verbote sind dem Recht auf ein faires Verfahren nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht zu entnehmen.89 Die Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten ist Gesetzgeber und den Gerichten überlassen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wiederholt als ein Recht dargestellt, das zu den wesentlichen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit gehört. Dies gelte in besonderem Maße für den Strafprozeß. Im Hinblick auf seine Weite und Unbestimmtheit sei jedoch behutsam vorzugehen. Nur bei Verstoß gegen unzweideutige und unverzichtbare Erfordernisse können aus dem Rechtsstaatsprinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden, die sich aber an die vom Gesetzgeber gewählte Grundstruktur des Verfahrens zu halten haben. Das Recht auf ein faires Verfahren erschöpft sich nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher Mittel gegenüber den begrenzten Möglichkeiten des Einzelnen mit der Verpflichtung, daß staatliche Organe sich korrekt und fair zu verhalten haben. 90 Das höchste Gericht hat ausgeführt, daß dem Beschuldigten die Möglichkeit offen stehen muß, auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen. 91 Er kann prozessuale Rechte selbst wahrnehmen und Übergriffe des Staates und seiner Organe angemessen abwehren. 92 Eine solche Einflußnahme ist dem BeBeschl. v. 12. 04. 1983 - 2 BvR 1304/80, BVerfGE 63, 380, 390; Beschl. v. 08. 10. 1985 2 BvR 1150/80, BVerfGE 70, 297, 308. Für die Literatur: Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 20, Rn. 67; Sachs, Michael, in: ders., Grundgesetz, Art. 20, Rn. 110; Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 10 b. 87 Kritisch Saiger, Carsten Α., Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 14. 88 Diese Bedenken teilt auch Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 46. 89 Nur bei rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen, vgl. Beschl. v. 12. 01. 1983 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45, 61; Beschl. a. a. O. (Fn. 86), BVerfGE 70, 297, 308 f. Demgegenüber sieht Reiß, Wolfram, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, S. 156 f., im „nemo tenetur"-Prinzip ein unverzichtbares rechtsstaatliches Element. 90 Beschl. v. 08. 10. 1974 - 2 BvR 747/73, BVerfGE 38, 105, 118 f.; Urt. v. 15. 12. 19702 BvF 1 / 69, BVerfGE 30, 1, 27. * Beschl. v. 19. 10. 1977 - 2 BvR 462/77, BVerfGE 46, 202, 210 f. (Recht auf einen Verteidiger); ebenso Beschl. v. 03. 06. 1969 - 1 BvL 7/68, BVerfGE 26, 66, 70 f. (Zulässigkeit der Nebenklage). Gerade die Möglichkeit der Einflußnahme macht den Angeklagten zum Subjekt des Verfahrens. 92 Beschl. a. a. O. (Fn. 90), BVerfGE 38, 105, 118 f.
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare ) "
111
troffenen verwehrt, soweit er stets gehalten ist, den Sachverhalt vollständig und richtig auszusagen, da sich seine Verteidigung dann allein auf Rechtsfragen noch stützen kann. Das Recht auf ein faires Verfahren wird allgemein auf das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG gestützt. Dogmatisch ist eine Herleitung des Schweigerechts aus dem Rechtsstaatsgebot nicht haltbar, soweit wie hier eine Verortung im insofern spezielleren allgemeinen Persönlichkeitsrecht unter Bezugnahme auf die Würde des Menschen bejaht wird. 93 Nach anderer Ansicht umfaßt das Rechtsstaatsprinzip zwar die Selbstverantwortlichkeit des Beschuldigten, dies diene aber nicht dem Schutz der individuellen Freiheit, sondern dem Schutz wichtiger Werte der Gesamtheit.94 Dem folgend wäre kein subjektives Recht begründet. Zum Teil wird die Ansicht vertreten, gerade das Prinzip der Fairneß gebiete es dem Beschuldigten, wegen seines überlegenen Wissens auch mit der Gefahr der Selbstbelastung auszusagen, da nur er genaue Kenntnis der Tat besitzt.95 Maßgeblicher Ansatzpunkt ist jedoch nicht das Wissen von der Tat, sondern die Möglichkeit im Strafprozeß auf die Wahrheitsfindung Einfluß zu nehmen. Hier ist die Anklagebehörde aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden Mittel in personeller wie in technischer Hinsicht überlegen. Daher besteht die Gefahr, daß bei einer Gesamtwürdigung der Tat die entlastenden Umstände, die die Anklagebehörde zusammengetragen hat und die der Beschuldigte ohne Schweigerecht noch selbst zu liefern hätte, mit stärkerem Gewicht eingehen würden, zumal man den vom Beschuldigten selbst vorgetragenen entlastenden Umständen weniger Glauben schenken wird. Das aus dem anglo-amerikanischen Recht stammende „fair trial"- Prinzip will deshalb vor allem Chancengleichheit unter Berücksichtigung der eingenommenen Prozeßrolle gegenüber der Anklagebehörde herstellen. 96
5. Recht auf wirksame Verteidigung und auf Waffengleichheit
In dieselbe Richtung geht das Recht auf wirksame Verteidigung. 97 Denn es kann für den Betroffenen im Einzelfall effektiver sein, von seinem Schweigerecht Ge9 3 Wie hier Bährle, Volker, Die Aussagefreiheit des Angeklagten und die Verwertung von Vorverfahrensaussagen in der Hauptverhandlung, S. 89. 94 Bauer, Gerhard, Die Aussage des über das Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, S. 64. 95 Fischer, Bianca, Divergierende Selbstbelastungspflichten nach geltendem Recht, S. 107. 96 Frommel, Stefan N./Füg er, Rolf, Das Auskunftsverweigerungsrecht im Steuerverfahren und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, StuW 1995, 58, 68; Geppert, Klaus, Zum „fair-trial-Prinzip" nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Jura 1992, 597,599.
97 Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 67 a.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
brauch zu machen, als Beweisantrags-, Frage- und Auskunftsrechte auszuüben. Das Recht auf wirksame Verteidigung umfaßt somit nicht nur die Möglichkeit, im Strafverfahren aktiv zu werden, sondern vielmehr auch aus prozeßtaktischen Gründen die Aussage zu verweigern. Eng damit verbunden ist der Grundsatz der Waffengleichheit, 98 der verletzt sein könnte, wenn der Betroffene gezwungen würde, sein Wissen preiszugeben.99 Der Grundsatz garantiert, daß der Betroffene seine prozessualen Rechte mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnimmt. Nach bestrittener Ansicht wird jedoch nur die aktive Mitwirkung geschützt, nicht hingegen die passive Verweigerung. 100 Diese folgt wohl eher aus dem Wesen des Anklageprozesses selbst. 101 Aufgrund der faktischen Überlegenheit der Anklagebehörde kann eine Waffengleichheit nur garantiert werden, wenn sich der Schutz auch auf eine passive Verweigerung erstreckt. 6. Die Unschuldsvermutung Es ist in Rechtsprechung 102 und Literatur 103 anerkannt, daß der Betroffene die im Rechtsstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Vermutung der Schuldlosigkeit genießt. Teilweise wird die Unschuldsvermutung auch aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet. 104 Eine wörtliche Fixierung im Verfassungstext fehlt. Einzelne Landesverfassungen sehen eine ausdrückliche Gewährleistung der Unschuldsvermutung vor. 1 0 5 98 Beschl. v. a. a. Ο. (Fn. 90), BVerfGE 38, 105, 118. Für die Literatur: Jarass, Hans, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 67; Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 10 b. 99 Abi. Roschmann, Christian, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozeß; seine rechtlichen und faktischen Grenzen, S. 15, der eine Ableitung aus rechtsstaatlichen Grundsätzen wie der Waffengleichheit für unergiebig hält, weil sie nur bereits vorhandene Rechtspositionen einer Staatlichkeit zu deren Gestaltung in Beziehung setze. 100
Saiger, Carsten Α., Das Schweigerecht des Beschuldigten, S. 15. Für diesen Ansatz: Seebode, Manfred, Schweigen des Beschuldigten zur Person, MDR 1970, 185, 185. 102 Beschl. v. 15. 12. 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 347; Beschl. v. a. a. O. (Fn. 90), BVerfGE 38, 105, 115; Beschl. v. 26. 03. 1987 - 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358, 370; Beschl. v. 29. 05. 1990 - 2 BvR 254/88, BVerfGE 82, 106, 114. 101
i° 3 Jarass, Hans, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 71; Kunig, Philip, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 36 „Unschuldsvermutung"; Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 94; Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 10 c. 104
Krit. hierzu Stuckenberg, Carl-Friedrich, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 544 f. i° 5 Art. 65 Abs. 2 der Verfassung von Berlin, Art. 53 Abs. 2 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 6 S. 3 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 20 Abs. 2 der Verfassung des Landes Hessen, Art. 6 Abs. 4 S. 2 der Verfassung für Rheinland-Pfalz und Art. 14 Abs. 2 der Verfassung des Saarlandes.
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Die Unschuldsvermutung könnte nicht durchgreifen, wenn der Betroffene, der stets den Tathergang kennt, verpflichtet wäre, durch Aussage über seine Tat die Zweifel zu beseitigen. Daher enthält der „nemo tenetur"-Grundsatz Aspekte der Unschuldsvermutung. 106 Die Gegenauffassung überzeugt nicht, wonach die Unschuldsvermutung keinerlei Rückschlüsse auf die erlaubten Möglichkeiten ihrer Erschütterung zulasse.107 Sie erscheint zu formal und ließe die Unschuldsvermutung leerlaufen. Die Rechtsansicht geht fehl, daß Unschuldsvermutung und „nemo tenetur" Grundsatz zwar in Ergänzung nebeneinander stünden und aber zueinander verschiedene Rechte darstellten. Vielmehr zeigt sich eine enge funktionale Verknüpfung, welche eine nahe Verwandtschaft erkennen läßt. Mitunter lassen sich beide Verfassungsprinzipien als Teilaspekte ein und desselben Rechtes des Betroffenen verstehen. Nach Meinung einzelner Literaten spricht vieles dafür, dem so beschriebenen Recht die über Art. 79 Abs. 3 GG garantierte unantastbare Geltung zuzubilligen. 108 Würdeman diesem Verständnis folgen, so müßte bei einer späteren Abwägung zu berücksichtigen sein, daß der „nemo tenetur "-Grundsatz in der Systematik der Verfassung als mit Ewigkeitsgarantie abgesichert eine herausgehobene Stellung erhalten würde. Dagegen spricht aber, daß das Rechtsstaatsgebot, welches hier als Wurzel herangezogen wird, über die in Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG enthaltenen Grundsätze keinen Bestandsschutz vor dem Verfassungsgeber genießt. 109 Zutreffend wäre aber eine Ewigkeitsgarantie wohl nur über einen Menschenwürdegehalt und damit über Art. 1 Abs. 1 GG zu begründen. 110 Jedenfalls aber stellen sowohl die Unschuldsvermutung wie auch das Schweigerecht nichts anderes als verfahrensrechtliche Vorkehrungen des Schuldgrundsatzes dar. Denn dem Grundsatz des „nulla poena sine lege" lassen sich auch Maßstäbe entnehmen, auf welche Weise der Schuldvorwurf festzustellen ist. 111 Die Unschuldsvermutung ist eng verbunden mit der schon im römischen Recht bekannten Beweisregel „negativa non sunt probanda" }λ2 Danach kann ein Beweis 106 Lorenz, Frank Lucien, „Operative Informationserhebung" im Strafverfahren, „Unverfügbares" und Grundrechtsschutz durch „institutionelle Kontrolle", JZ 1992, 1000, 1006. 107 In diesem Sinne versteht Roschmann, Christian, Das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafprozeß; seine rechtlichen und faktischen Grenzen, S. 13, die Unschuldsvermutung. 108 So auch Leiwesmeyer, Heinrich, Der schweigende Angeklagte, S. 33 f. 109 Lücke, Jörg, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 79, Rn. 46. Ebenso das Bundesverfassungsgericht in Urt. v. 15. 12. 1970 - 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1, 24 f.; Urt. v. 23. 04. 1991 - 1 BvR 1170, 1174, 1175/90, BVerfGE 84, 90, 121; Urt. v. 14. 05. 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93, BVerfGE 94, 49, 103. Danach sind nur die grundlegenden Elemente des Rechtsstaates geschützt. 110 Eine Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG bejahend: Wolter, Jürgen, Verfassungsrecht im Strafprozeß- und Strafrechtssystem, NStZ 1993, 1, 6. 111 Wolff, Heinrich Amadeus, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa" als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), 55, 72 f.
8 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
nicht dafür gefordert werden, daß man eine bestimmte Tat nicht begangen hat. Denn niemand vermag einen solchen Beweis zu erbringen. Vielmehr hat der jeweilige Gegenspieler zu beweisen, daß man eine bestimmte Tat begangen hat, also der Täter gewesen ist. Die Beweisführungslast geht daher auf diesen über. Hierin liegt eine Rechtfertigung, warum der Angeklagte im Strafverfahren nicht aussagen muß.
II. Stellungnahme Als Zwischenergebnis läßt sich somit festhalten, daß der auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gestützte „nemo tenetur"-Grundsatz Unterstützung durch mehrere rechtsstaatliche Prinzipien erfährt. Der Kernbereich des Selbstbelastungsverbotes schließt es mit ein, daß der Beschuldigte nicht die Befürchtung zu haben braucht, sein Schweigen werde negativ gewertet. Die rechtsstaatliche Wurzel des „nemo tenetur "-Gebotes erfährt ihre Begrenzungen u. a. durch das Interesse an unabweisbaren Bedürfnissen der Sicherung des Verfahrensablaufes. 113 Das Gebot ist hiermit zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Verstärkung erhält das Gebot besonders durch die auf Art. 1 Abs. 1 i. V. m. 2 Abs. 1 GG gestützte Ableitung. In der Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes findet der Ausgleich zudem zwischen den zu sichernden Finanzinteressen einerseits und dem aus der personalen Würde des Menschen folgenden Schutz vor Selbstbezichtigung statt. Dabei mißt es den Finanzinteressen höheres Gewicht zu. Dieser fiskalischen Sichtweise kann nicht ohne Bedenken gefolgt werden. Immerhin kann sich ein Täter selbst im Bereich von Tötungsdelikten trotz Wiederholungsgefahr jederzeit auf den Grundsatz des „nemo tenetur" berufen. Der Schutz Dritter gibt hier nicht den Ausschlag. Geht es hingegen um Finanzinteressen des Staates, so sollen diese das Schutzinteresse des Beschuldigten überwiegen, weil die Belastungsgleichheit gefährdet sei, wenn sich einzelne Steuerpflichtige unter Vorschieben ihres Schweigerechtes der steuerlichen Mitwirkungspflicht entziehen. Zu erörtern ist nunmehr der Inhalt des Rechtes. Darüber hinaus bedarf die Abwägungsfestigkeit des Schweigerechts im nachfolgenden Kapitel einer besonderen Untersuchung.
112 Zur Herleitung Seeliger, Gerhard, Beweislast, Beweis verfahren, Beweisarten und Beweiswürdigung im Steuerprozeß, S. 25. U3 Beschl. v. 11.03. 1975-2 BvR 135- 1 3 9 / 7 5 , 5 3 9 , 156, 156 f.
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I I I . Reichweite des „nemo te/iefar"-Grundsatzes, ein Recht zum Leugnen? Die Reichweite des Schweigerechts beschränkt sich nach überwiegender Auffassung auf ein Recht, vor „finaler Zwangsausübung " geschützt zu sein, d. h. der Betroffene dürfe nicht mit der Androhung oder Zufügung von Nachteilen gezielt zu einer Selbstbelastung gebracht werden. Ein solcher finaler Zwang liege nur vor, wenn dieser als Mittel zum Herbeiführen der Aussage gebraucht werde, somit das „ o b " oder „wie" einer Aussage bestimme. 114 Der „nemo tenetur"-Grundsatz geht damit nach verbreitetem Verständnis über ein Abwehrrecht gegen finale Zwangsausübung nicht hinaus. Er umfasse kein weitergehendes Recht des Einzelnen auf Gewährleistung und Schutz seiner Entscheidungsfreiheit, ob er im Strafverfahren mitwirken möchte oder nicht. Für den Staat ergebe sich danach keine Verpflichtung gegenüber dem Beschuldigten, alle erdenklichen Übel aus dem Weg zu räumen, die Einfluß auf seine Entscheidung zur Mitwirkung haben könnten. 115 Der Betroffene sei vor Konfliktsituationen nicht geschützt. Im übrigen bedürfe es der Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen. Einzelne Literaten kritisieren, daß in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung die verfassungsrechtliche Seite überbetont worden sei, der konkrete Inhalt eines Grundrechtes auf Schweigen jedoch nach wie vor unklar sei. 116 So sei bei der fortwährenden Diskussion über die verfassungsrechtliche Ableitung zu kurz gekommen, den eigentlichen Prinzipieninhalt herauszuarbeiten. Es soll daher im folgenden Kapitel auf den Inhalt des Schweigerechts gesondert eingegangen werden. Der Rechtsprechung des BGH 117 folgend wird heute im „nemo tenetur" nur die Freiheit von Zwang zur Selbstüberführung gesehen. Deshalb umfaßt nach häufig geäußerter Ansicht das „nemo tenetur" allein ein Recht zur Passivität, nicht jedoch die Befugnis zum Eingriff in die strafrechtlich geschützte Rechtsordnung durch neuerliches Unrecht. Aus diesem Grund wird in Zweifel gezogen, ob eine weitere Falscherklärung in Folgejahren, um frühere Steuerhinterziehungen nicht aufkommen zu lassen, vom „nemo tenetur"-Recht gedeckt sein kann. 118 Dabei wird freilich übersehen, daß es sich hier zumeist um Steuerhinterziehung durch Unterlassen handelt, insbesondere durch Weglassen steuerrelevanter Angaben wie in den Vor-
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Böse, Martin, Der Nemo-tenetur-Grundsatz als Gebot zur Aussetzung des Zivilprozesses nach § 149 ZPO?, wistra 1999,451,453 m. w. N. us Böse, Martin, a. a. O. (Fn. 114), wistra 1999,451,455. 116 So insbesondere Verrei, Torsten, Nemo tenetur - Rekonstruktion eines Verfahrensgrundsatzes, NStZ 1997, 361, 364. 117 Urt. V. 11. 10. 1951 - 4 StR 208/51, BGHSt 3, 18, 19; Urt. v. 10.03. 1 9 5 3 - l S t R 4 0 / 53; BGHSt 4, 172,178. us Marx, Thomas, Nemo tenetur se ipsum accusare?, FS Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, S. 673, 675.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
jähren, so daß gerade in der Passivität der eigentliche Verstoß gegen die Rechtsordnung liegt. Dem Straftäter wird nach verbreiteter Auffassung ein Recht zum Leugnen abgesprochen. Zwar verhindert bereits das passive Schweigen die Wahrheitsfindung des Gerichts. Der entscheidende Unterschied wird aber darin gesehen, daß der Schweigende lediglich seine Mitwirkung verwehrt, wozu er nicht verpflichtet ist, der Leugnende hingegen aktiv die Ermittlungen vereitelt. Ob für das Steuerstrafverfahren hieraus eine Gefahr für Dritte erwächst, unschuldig in ein Strafverfahren verwickelt zu werden, 119 kann bezweifelt werden. Regelmäßig stellt sich allein die Frage, ob der Steuerpflichtige falsche Angaben in seiner eigenen Steuererklärung gemacht hat oder nicht. Dritte sind hiervon nur mittelbar über das Gebot der Besteuerungsgleichheit tangiert. Salditi muß jedoch zugestimmt werden, wenn er ausführt, daß aus dem Geist der Aufklärung, insbesondere bei Kant und Fichte kein Recht zur Lüge besteht. 120 Denn eine so schwerwiegende Trennung von Sittlichkeit und Recht ist nicht hinzunehmen. Die Lüge bedeutete eine Vernichtung der Menschenwürde des Lügners in seiner eigenen Person. 121 Das Verbot eines Zwanges zur Selbstbezichtigung steht zur Disposition des Beschuldigten bzw. Angeklagten. Es bleibt ihm selbst überlassen, ob er hiervon Gebrauch machen möchte oder nicht. 122 Er wird dies in der Praxis häufig dann tun, wenn er ein Entgegenkommen des Gerichts etwa im Bereich des Strafmaßes oder in Form einer Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen oder einer Teileinstellung zu erwarten hat. IV. Die Regeln- und Prinzipientheorie (Alexy) und der „nemo-tenetur"-Grundsatz 1. Das Regeln- und Prinzipien-Denken
Robert Alexy hat in seiner Habilitationsschrift 123 aufbauend auf bereits tradierten Begriffen die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien geprägt. Danach sind Regeln Bedingungen, Prinzipien dagegen haben den Charakter von Optimierungsgeboten. Der Charakter von Prinzipien als Optimierungsgeboten äußert sich darin, daß diese in Abhängigkeit von den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in 119
Castringius, Arnold, Schweigen und Leugnen des Beschuldigten im Strafprozeß, S. 58. Eine ähnliche Ableitung für das Recht der Schweiz gibt Schneider, Horst, Die Stellung des Beschuldigten im Hinblick auf die Aussage nach formellem und materiellem Strafrecht, S. 39. m Salditi, Franz, Das Interesse an der Lüge, StV 1999, 61, 63. i 2 2 Beschl. v. 21. Ol. 1976 - 2 BvR 941 /75, BVerfGE 41,246,249 f.: Wer sich selbst seines Rechtes auf faires Verfahren begibt, wird nicht dadurch in seinen Grundrechten verletzt. ι 2 3 Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 120
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möglichst hohem Maße erreicht werden sollen. Sie zeichnen sich daher durch einen bestimmten Grad an Zielerreichung aus, den es zu optimieren gilt. Das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zu Regeln hingegen ist, daß Regeln nur entweder erfüllt sein können oder nicht. Das Gebot an den Normadressaten ist es, die Regeln zu erfüllen. Sie bedeuten damit konditionale Rechtssätze. Der qualitative Unterschied gegenüber Prinzipien ist darin zu sehen, daß Regeln nur zwei Zustände, Erfüllung oder Nicht-Erfüllung kennen. Von dieser Begriffsbildung ausgehend unterteilt Alexy alle Normen in Regeln oder in Prinzipien. Schließlich überträgt er seine Differenzierung auch auf die Grundrechtsdogmatik. Sodann zieht er jeweils unterschiedliche Schlußfolgerungen bei Prinzipienkollisionen und Regelkonflikten. Treten Konflikte zwischen zwei widerstreitenden Regeln auf, so lassen sich diese nur dadurch lösen, daß generell eine Regel zugunsten der anderen zurücktritt. Dies kann etwa dadurch geschehen, daß einer der beiden Regeln ein Ausnahmecharakter zugebilligt wird. Läßt sich ein solches Regel-Ausnahmeverhältnis nicht begründen, so muß eine Regel in der Rechtsordnung für ungültig erklärt werden, um ein widerspruchsfreies System zu gewährleisten. Ganz anders dagegen können Prinzipienkollisionen derart gelöst werden, daß aufgrund der unterschiedlichen Gewichte das Prinzip mit dem jeweils größeren Gewicht vorgeht. Es ist daher eine Abwägung der einander gegenüberstehenden widerstreitenden Interessen durchzuführen. Dabei muß sich dann unter den beiden abstrakt gleichrangigen Interessen eine erweisen, die im konkreten Fall als schwerwiegender einzustufen ist. Da keiner der Belange schlechthin den Vorrang vor dem anderen genießt, können beide Prinzipien in der Rechtsordnung bestehen bleiben, ohne daß ein Widerspruch zu verzeichnen wäre.
2. Fortentwicklung für den „nemo-te netur" -Grundsatz
Die Regeln- und Prinzipientheorie soll nun auf den „nemo tenetur"-Grundsatz im Steuerstrafverfahrensrecht übertragen werden. Soweit ersichtlich spricht erstmals Mäder mit einer Untersuchung über den Schutz vor Selbstbelastung im Umweltrecht die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien im Zusammenhang mit dem „nemo tenetur"-Grundsatz an, dem es allein festzuhalten wichtig erscheint, daß danach ein Bereich von Abwägungsgrenzen in Form von „evidenten Abwägungsergebnissen" existiere. 124 Diese Feststellung Mäders, daß sich damit nur faktisch ein Kernbereich ergebe, bedarf jedoch der Präzisierung. Er selbst konnte keine weitere Erörterung in seine Arbeit aufnehmen. Alexy erörtert die Bedeutung von subjektiven Wesensgehaltstheorien 125 und unterscheidet schließlich die absolute und die relative Theorie vom 124 Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 87 f.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Wesensgehalt der Grundrechte. Die absolute Theorie beinhaltet die Aussage, wonach jedes Grundrecht einen Kernbereich besitze. Ein Eingriff in diesen Kernbereich lasse sich auch durch überwiegende Interessen nicht rechtfertigen. Die Aussage dieser Theorie läuft darauf hinaus, daß innerhalb dieses Kernbereichs das Grundrecht einer Abwägung entzogen ist, somit die Wesensgehaltsgarantie neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Schranken-Schranke im Sinne der Außentheorie darstellt. Demgegenüber vertritt die relative Theorie die Ansicht, daß die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG nur deklaratorische Bedeutung habe, weil das gesamte Grundrecht sich der Abwägung gegenüber anderen Interessen zu stellen habe, somit die Wesensgehaltsgarantie im Prinzip der Verhältnismäßigkeit aufgehe. Alexy stellt sich dabei klar auf die Seite der relativen Theorie 126 mit der Begründung, daß eine Konstellation nicht ausgeschlossen werden könne, in der gegenläufige Prinzipien doch vorgingen. Er beruft sich dabei auf Peter Häberle, 127 der die relative Theorie in die Grundrechtsdogmatik eingebracht hat. Häberle selbst führt aus, daß das, was als „ unantastbarer Kern " eines Grundrechts beschrieben wird, jenen Bereich ausmacht, von dem an es keine legitimen grundrechtsbegrenzenden gleich- oder höherwertigen Rechtsgüter mehr gibt. 1 2 8 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist zu dieser Frage nicht eindeutig. Sie neigt in einigen Entscheidungen der absoluten Theorie zu. 1 2 9 In anderen Entscheidungen verficht das Gericht jedoch Aussagen, die nur einer relativen Theorie zugeordnet werden können. Hierfür führt Otto Lagodny; auf den sich Mäder 130 bezieht, die Tage&i/c/i-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 131 in seiner Habilitationsschrift an. 1 3 2 Lagodny hält die Tägefcwc/i-Entscheidung für ein Indiz dafür, daß es einen abwägungsunabhängigen Kernbereich oder Wesensgehalt auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht gibt, so daß selbst dieser Kernbereich von der Abwägung nicht ausgeschlossen ist. Tatsächlich lag unter den Mitgliedern des Senats eine Pattsituation vor. Vier Mitglieder 125 Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, S. 268 f. 126 Alexy, Robert, a. a. O. (Fn. 125), S. 272: „Damit steht das Ergebnis fest. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG formuliert gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine zusätzliche Schranke der Einschränkbarkeit von Grundrechten... " 127 Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 58 ff. 128 Häberle, Peter, a. a. O. (Fn. 127), S. 64. 129 Urt. v. 16. Ol. 1957 - 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 41; Beschl. v. 10. 06. 1963 1 BvR790/58, BVerfGE 16,194, 201; Beschl. v. 04. 05. 1971 - 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58, 69; Beschl. v. 08. 03. 1972 - 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373, 379; Beschl. v. 31. 01. 1973 - 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238, 245. 13° Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 88. 131 Beschl. v. 14. 09. 1989 - 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367 ff. 132 Lagodny, Otto, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte: Die Ermächtigung zum strafrechtlichen Vorwurf im Lichte der Grundrechtsdogmatik, S. 225.
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prode re ( accusare ) "
hielten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, vier dagegen für begründet. Auch die Hälfte der Richter, die für eine Zurückweisung gestimmt hatten, führen aus, daß es einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung gebe, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen sei. 133 Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen Bereich nicht rechtfertigen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips finde schlechthin nicht statt. 134 Als Grund nennt die Entscheidung einerseits die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und andererseits den Schutz des Kerns der Persönlichkeit durch die unantastbare Würde des Menschen. Von entscheidender Bedeutung ist nunmehr, welche Folgerungen sich aus diesem Grundrechtsverständnis für das Schweigerecht des Beschuldigten im Steuerstrafrecht ableiten lassen.135 Die Thematik wurde, soweit ersichtlich, von dieser Warte aus für das Steuerstrafverfahren noch nicht diskutiert. Die Bedeutung der Tagebuch-Entscheidung liegt für das Steuerstrafverfahren mehr darin, daß es einen absoluten Kern des Schweigerechts nicht geben kann. Sie liegt hingegen nicht darin, wie eine konkrete Abwägung auszusehen hat, weil die in Rede stehenden Verfassungsgüter bei der Tßge&wc/i-Entscheidung und im Steuerstrafrecht nicht identisch sind. Während die 7age&wcÄ-Entscheidung eine Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse bei einer schwerwiegenden Straftat, der Gefahr der Verfolgung Unschuldiger und Gefahren Dritter auf der einen Seite und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen auf der anderen Seite trifft, geht es im Steuerstrafrecht bei der Prüfung eines Schweigerechts um das fiskalische Besteuerungsinteresse und die Besteuerungsgleichheit gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Steuerpflichtigen. Bevor die verfassungsrechtliche Diskussion wieder aufgegriffen werden soll, bedarf es zunächst der Darstellung der derzeit bestehenden einfachgesetzlichen Regelung.
V. Einfachgesetzliche Umsetzung in § 393 AO 1. Zulässige Alternativen und Strukturen der bestehenden Regelung
Zur Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Vorgaben standen dem Gesetzgeber verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Otto 136 führt Ver133 Beschl. a. a. O. (Fn. 131), BVerfG E 80, 367, 373. 134 Dabei wird auf den früheren Beschluß, a. a. O. (Fn. 129), BVerfGE 34, 238, 245, verwiesen. 135 Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 226, streift die Problematik des „nemo-tenetur" im Steuerstrafverfahren kurz, läßt sie jedoch letztendlich dahinstehen, weil sie für den Schwerpunkt seiner Arbeit im Umweltrecht nicht vergleichbar erscheint, vgl. ders., a. a. O., S. 231 f., insbesondere ebenda in Fn. 414.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
wertungsverbote, Mitwirkungsverweigerungsrechte und das Verbot von Zwangsmitteln als denkbare Alternativen auf. Der einfache Gesetzgeber hat sich für eine Minimallösung, deren Verfassungskonformität in Frage steht, entschieden, um den grundgesetzlichen Vorgaben gerecht zu werden: Zur Auflösung des Spannungsverhältnisses erschien ihm ein Zwangsmittelverbot in § 393 Abs. 1 S. 2 AO ausreichend, soweit sich der Steuerpflichtige der Gefahr einer Offenbarung von Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten aussetzt. Danach besteht die steuerliche Mitwirkungspflicht weiter, kann jedoch durch Zwang nicht mehr durchgesetzt werden. Praktisch läuft dies jedoch auf ein Auskunftsverweigerungsrecht hinaus. 137 Diese Ausgestaltung als „lex imperfecta" 138 befreit nicht von jeglichem Zwang, sondern läßt mittelbaren Zwang bestehen. Demgegenüber enthält § 393 Abs. 2 AO dem Wortlaut nach ein Verwertungsverbot der vor Einleitung des Strafverfahrens erlangten Tatsachen und Beweismittel, soweit es sich um andere Straftaten als Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten handelt. Der Gesetzgeber hat dem Gebot des verfassungsrechtlichen Aussageverweigerungsrechtes erst auf einer späteren Stufe entsprochen. Der Gesetzgeber hat sich bei § 393 AO deswegen nicht für ein Auskunftsverweigerungsrecht entschieden, weil er der Ansicht war, daß trotz Selbstbelastungsgefahr des unredlichen Steuerpflichtigen er nicht besser gestellt sein dürfe als der ehrliche Steuerpflichtige, also das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu verwirklichen sei. 139 Eine Gefährdung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sei dann zu befürchten, wenn der Steuerpflichtige auch im Steuerverfahren seiner Mitwirkungspflicht nicht nachzukommen brauche und sich statt dessen hier auf den strafrechtlichen Grundsatz des „nemo tenetur" berufen könne. 140 Der Steuerehrliche müsse sich hingegen steuerliche Ansätze zu seinen Ungunsten gefallen lassen, wenn er seiner steuerlichen Mitwirkungspflicht nicht oder nicht hinreichend nachkomme. In der Tat ist der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ein we136
Otto, Harro, Beweisverbote aus steuerrechtlicher Mitwirkungspflicht?, wistra 1983, 233, 233. Ebenso Teske, Doris, Das Verhältnis von Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren unter besonderer Berücksichtigung des Zwangsmittelverbotes (§ 393 Abs. 1 S. 2 und S. 3 AO), wistra 1988, 207, 212; dies., Die Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Beweisverfahren im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, S. 266. 137 Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO, Rn. 35, führt zutreffend aus, daß der Steuerpflichtige, sobald kein Zwang mehr auf ihn ausgeübt wird, auch nicht seiner Mitwirkung nachkommt. 138 Bährle, Volker, Die Aussagefreiheit des Angeklagten und die Verwertung von Vorverfahrensaussagen in der Hauptverhandlung, S. 87. »39 BT-Drs. VIII /4292, 46, zustimmend Teske, Doris, Das Verhältnis von Besteuerungsund Steuerstrafverfahren unter besonderer Berücksichtigung des Zwangsmittelverbotes (§ 393 Abs. 1 S. 2 und S. 3 AO), wistra 1988, 207, 211. 140 Wisser, Michael, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 393, Anm. 1; Kohlmann, Günther, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO, Rn. 13.
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sentliches Element der Steuergerechtigkeit, das schon in der französischen Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 festgehalten wurde. 141 Zu diesem Interesse der übrigen Steuerzahler kommt das Interesse des Staates selbst an einer möglichst umfassenden Steuererhebung, welches aus der Sicht des Gesetzgebers der Abgabenordnung eine Durchbrechung des Selbstbelastungsverbotes rechtfertigen könnte. Ubersehen werden darf nicht, daß hier zwei miteinander in Konflikt stehende Grundsätze zum Ausgleich zu bringen sind. Einerseits soll der Steuerehrliche nicht gegenüber dem Steuerunehrlichen benachteiligt werden, andererseits darf aber auch der Steuerstraftäter nicht gegenüber einem Straftäter schlechter gestellt sein, der eine Straftat des sonstigen Strafrechts begangen hat. Der Grundsatz des „nemo tenetur " dient von seiner Zielrichtung her namentlich dem Schutz eines Straftäters; gerade dieser soll davor geschützt werden, selbst seine Tat preiszugeben. Bei einem steuerehrlichen Bürger besteht diese Gefahr von vornherein nicht. Diese Schutzrichtung ist dem Grundsatz des „nemo tenetur" immanent. Wer hierin eine Benachteiligung des unbescholtenen Bürgers sieht, verkennt die naturrechtliche Herleitung dieses Grundsatzes aus dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen. Folgerichtig müßte er den Grundsatz als solchen in Frage stellen und eine Selbstbelastungspflicht befürworten, wie sie zuletzt im Inquisitionsprozeß Anwendung fand. 142 Nach wohl zutreffendem Verständnis liegt tatsächlich keine Ungleichbehandlung zwischen einem steuerehrlichen und einem steuerunehrlichen Steuerpflichtigen vor. Denn der vermeintlich „Steuerunehrliche" kann mit Recht auf seiner aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Unschuldsvermutung bestehen, wonach er bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafverfahrens als unschuldig zu gelten hat. Verglichen werden also zwei steuerehrliche Bürger, die sich allerdings darin unterscheiden, daß gegen den einen ein Strafverfahren eingeleitet wurde, gegen den anderen nicht. Gerade dies aber ist der hinreichende Differenzierungsgrund einer Ungleichbehandlung, soweit es um ihre Mitwirkungspflichten geht. Im Rahmen einer Abwägung ist die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG mit den materiellen, rein finanziellen Interessen des Fiskus in Ein141 Benda, Ernst, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, 159, 160. Art. 13 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 lautet: „Für den Unterhalt der öffentlichen Macht und für die Ausgaben der öffentlichen Verwaltung ist eine gemeinschaftliche Abgabe unerläßlich; diese soll auf alle Bürger ihrem Vermögen entsprechend gleichmäßig verteilt werden." 142 Teile der Literatur sehen hierin Lügen- und Ungehorsamsstrafen, so Rogali , Klaus, Die Mißachtung des Verbots der Selbstbelastung im geltenden und kommenden Abgabenrecht, ZRP 1975, 278, 281. Tatsächlich war das Inquisitionsverfahren im Mittelalter durch eine formale Beweistheorie gekennzeichnet, wonach als Beweismittel nur die Aussagen von zwei Zeugen oder ein Geständnis herangezogen werden konnten. Da selten zwei Zeugen zur Verfügung standen, kam es maßgeblich auf das Geständnis an, welches auch durch die Folter erlangt werden konnte.
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klang zu bringen. Das Strafverfolgungsinteresse des Staates ist nicht in die Abwägung einzustellen, da das Schweigerecht gegenüber diesem Rechtsgut unabhängig gewährt wird. Insbesondere fordert das Rechtsstaatsprinzip nicht die Aufklärung sämtlicher Straftaten. 143 Zum Zweck der Erhaltung wesentlicher Werte kann eine gewisse Behinderung der Wahrheitsermittlung hingenommen werden. Die gegenteilige Auffassung wird, soweit ersichtlich, kaum vertreten. Stehen aber rein materielle Finanzinteressen auf dem Spiel, so haben diese zurückzutreten, wenn es um tragende Elemente des Rechtsstaates geht.
2. Bewertung der gegenwärtigen Regelung in der Literatur
In der Literatur hat sich keine einheitliche Meinung herausgebildet. Wie die Bestimmungen des einfachen Gesetzesrechts im Lichte des Verfassungsrechts auszulegen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Beispielhaft seien einzelne Stimmen genannt: Kohlmann 144 will in der Bestimmung des § 393 Abs. 1 AO vier Prinzipien erkennen, die als Maßstäbe zur Auslegung heranzuziehen seien. Die Vorschrift geht zunächst von der Gleichrangigkeit des Besteuerungs- und des Strafverfahrens aus. Nach dem Prinzip der optimalen Zweckverwirklichung sind die einzelnen Bestimmungen jeweils so auszulegen, daß die Ziele nicht der jeweils anderen Verfahrensordnung „geopfert" werden müssen. Eine Durchbrechung sei nur ausnahmsweise zulässig. Bei der Ausgestaltung des Straf- und Steuerverfahrens ist an diesem Regel-Ausnahmeprinzip unbedingt festzuhalten, um die verfahrensspezifischen Rechtsprinzipien zu verwirklichen. Kohlmann räumt ein, daß darüber hinaus das Recht des Verhältnisses von Straf- und Steuerverfahren nur wenig entwickelt sei und daß eine Diskrepanz zwischen Anspruch des Gesetzes und Wirklichkeit bestehe.145 Kohlmann vertritt schließlich die Ansicht, daß aus § 393 Abs. 2 AO ein Verfolgungsverbot folge, welches als Verfahrenshindernis in jeder Lage des Verfahrens zu berücksichtigen sei. Rengier 146 will den Konflikt dadurch lösen, daß das Strafverfahren stets zuerst durchzuführen sei und erst nach dessen Abschluß das Besteuerungsverfahren zu beginnen habe, in dem der Steuerpflichtige dann in vollem Umfang seinen Mitwir143 Beschl. v. 04.07. 1967 - 2 BvL 10/62, BVerfGE 22,125,132; Beschl. v. 27.11.1973 2 BvL 12/72, BVerfGE 36,174,187; zust. Rogali Klaus, Gegenwärtiger Stand und Entwicklungstendenzen der Lehre von den strafprozessualen Beweisverboten, ZStW Bd. 91 (1979), 1,9. 1 44 Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO, Rn. 18. 145 Kohlmann, Günter, a. a. O. (Fn. 144), Rn. 19 f. 146 Rengier, Rudolf, Aushöhlung der Schweigebefugnis des auch steuerlich belangten Beschuldigten durch „nachteilige" Schätzung der Besteuerungsgrundlagen?, BB 1985, 720, 723.
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kungspflichten nachzukommen habe, weil er nunmehr nicht mehr der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sei. Diese scheinbar einfache Lösung ist folgerichtig nur vertretbar, wenn dem Strafgericht eine uneingeschränkte Vorfragenkompetenz eingeräumt wird. Dieser Problematik wird aber ein eigenes Kapitel 147 zu widmen sein, die Verbindung beider Problemfelder wird hier schon deutlich. Bedauerlicherweise werden beide Punkte zumeist isoliert betrachtet. In bestimmten Fallkonstellationen können es aber die verfassungsgemäßen Rechte des Beschuldigten erforderlich machen, steuerrechtliche Streitfragen im insoweit sachnäheren Finanzrechtsweg klären zu lassen, letztlich also gerade das Besteuerungsverfahren vorzuziehen. 148 Der Auffassung, wonach die Aussetzung allein der Erhaltung der Rechtseinheit, nicht hingegen auch dem Schutz des Steuerpflichtigen vor Selbstbelastung dient, ist nicht zu folgen. 149 Danach müßte dem Betroffenen die Entscheidung darüber belassen bleiben, ob er sich im tatsächlichen Bereich verteidigen will und somit von seinem Schweigerecht Gebrauch machen will oder ob er den Schwerpunkt seiner Verteidigung auf steuerrechtliche Vorfragen legt und somit anstrebt, diese im Besteuerungsverfahren zu klären. Da aber die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens nach § 396 Abs. 1 AO im Ermessen des Strafgerichts steht und in der Praxis selten eine Aussetzung beschlossen wird aus Sorge, die für den strafprozessualen Strengbeweis erforderlichen Beweismittel könnten im Laufe der Zeit verblassen, 150 verlagert sich die Problematik regelmäßig auf die Besteuerung der Folgejahre. Während über das Strafverfahren entschieden wird, wird häufig die Steuererklärungspflicht des nächsten zu veranlagenden Jahres zu erfüllen sein. Die hierbei erforderlichen Angaben lassen zumeist Rückschlüsse auf das strafrechtlich relevante Jahr zu. Im Ergebnis ist daher der Vorschlag Rengiers praktisch nicht durchführbar. Rüping und Kopp sehen demzufolge den einzig gangbaren Weg in der Gewährung eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes. 151 Nur so sei die Mitwirkung des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren gesichert und somit eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung gewahrt, andererseits dem „nemo tenetur"-Grundsatz auch außerhalb des Strafverfahrens hinreichend Rechnung getragen.
147 Siehe hierzu Viertes Kapitel: § 4 „Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem" auf S. 288 ff. 148 Zur Kritik an Rengier siehe Teske, Doris, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Beweis verfahren im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, S. 276. Str., a. A. Teske, Doris, a. a. O. (Fn. 148), S. 279. 150 Hierin wird der Hauptgrund gesehen von Streck, Michael / Spatscheck, Rainer, Steuerliche Mitwirkungspflicht trotz Strafverfahrens?, wistra 1998, 334, 336. 151 Rüping, Hinrich / Kopp, Thomas, Steuerrechtliche Mitwirkungspflichten und strafrechtlicher Schutz vor Selbstbelastung, NStZ 1997, 530, 534.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension 3. Fernwirkung des Beweisverbotes nach § 393 Abs. 2 AO
Ein weiteres Problem, welches sich im Anschluß an die geschilderte Konfliktsituation stellt, ist die Frage nach der Fernwirkung eines Beweisverwertungsverbotes zunächst bei § 393 Abs. 2 AO. Soweit man auch für § 393 Abs. 1 AO ein Beweisverwertungsverbot fordert, muß sich die Frage nach einer Fernwirkung ebenfalls anschließen. Aus dem Gemeinschuldnerbeschluß des Bundesverfassungsgerichtes läßt sich ein Verbot der Fern Wirkung nicht ableiten. 152 Stimmen in der Literatur weisen aber zutreffend daraufhin, daß ein Verwertungsverbot leerlaufen würde, wäre es nicht mit einer Fernwirkung verbunden. 153 Die Steuerfahndung ist regelmäßig nicht auf ein bestimmtes Beweismittel angewiesen, sondern ist aufgrund der nun einmal vorliegenden Aussage befähigt, weitere Beweismittel zu beschaffen, da sie den Vorgang und die Hintergründe der Tat nunmehr kennt. Folgt man dagegen der Auffassung Kohlmanns, wonach hinsichtlich des § 393 Abs. 2 AO ein Verfolgungsverbot greift, erübrigt sich die Forderung nach der Fernwirkung eines Beweisverwertungsverbotes. 154 Die herrschende Meinung lehnt aus vorwiegend praktischen Gründen eine Fernwirkung ab. 1 5 5 Sie vermag jedoch keine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben, wie ein Verwertungsverbot im Steuerstrafverfahren dann zu einer praktischen Wirkung gelangen soll.
VI. Gefahr der Schätzung nach § 162 AO und Präklusion gemäß § 364 b AO und §§ 79 b Abs. 3,76 Abs. 3 FGO Im Falle der Verweigerung der Mitwirkung hat der Steuerpflichtige zwei Nachteile zu fürchten: Zum einen läuft er Gefahr, einer für ihn ungünstigen Schätzung seiner Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO zu unterliegen. Die Schätzungsbefugnis des Fi152 Stürmer, Rolf, Strafrechtliche Selbstbelastung und verfahrensförmige Wahrheitsermittlung, NJW 1981, 1757, 1758; ebenso Dingeldey, Thomas, Der Schutz der strafprozessualen Aussagefreiheit durch Verwertungsverbote bei außerstrafrechtlichen Aussage- und Mitwirkungspflichten, NStZ 1984, 529, 530. 153 Streck, Michael, Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes zum strafgerichtlichen Verwertungsverbot bei Aussagen des Gemeinschuldners und seine Auswirkungen im Steuerstrafrecht, StV 1981, 362, 364; Müller, Lutz/Dannecker, Gerhard, Strafrechtliche Folgen, in: Blumers/Frick/Müller, Betriebsprüfungshandbuch, Rn. Κ 29. In die gleiche Richtung äußert sich Marx, Thomas, Nemo tenetur se ipsum accusare?, FS Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, S. 673, 680. 154
Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 393 AO,
Rn. 82. 155 Hildebrandt, Bernd, Verwertungsverböte für Tatsachen oder Beweismittel im Steuerstrafverfahren und im Besteuerungsverfahren, DStR 1982, 20, 24.
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nanzamtes im Besteuerungsverfahren braucht an dieser Stelle noch nicht weitergehend untersucht werden. Unzweifelhaft stellt sie für den Steuerpflichtigen einen empfindlichen Nachteil dar, weil die Behörde berechtigt ist, Unsicherheiten zu Lasten des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. 156 Dies kann in Form eines Zuschlages erfolgen. Der Steuerpflichtige, der von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, ist nicht in der Lage, „ernstliche Zweifel" i. S. v. § 361 Abs. 2 S. 2, 1. Alt. AO an der Rechtmäßigkeit des Schätzungsbescheides darzulegen, weil er andernfalls sein Schweigen brechen müßte. Seinem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wird daher nicht entsprochen werden können, solange er nicht begründet wird. 1 5 7 Im Ergebnis ist der Betroffene gezwungen, die festgesetzte Steuer einstweilen zu zahlen, auch wenn dies für ihn eine erhebliche Belastung bedeutet. Diese Schätzungsmöglichkeit stellt in der Hand der Steuerbehörden ein nicht zu unterschätzendes Druckmittel dar, vor allem auch im unternehmerischen Bereich, wenn die fällige Steuerzahlung zur Insolvenz führen kann. Neben der drohenden Schätzung sieht sich der Steuerpflichtige noch einer weiteren Gefahr ausgesetzt. In der Literatur wird die besondere Problematik des „nemo tenetur "-Grundsatzes im Steuerstrafrecht regelmäßig allein unter dem Gesichtspunkt der Schätzungsbefugnis diskutiert. Kaum Erwähnung findet, daß der Steuerpflichtige außerdem mit einer Anwendung der Präklusionsvorschriften des § 364 b AO bzw. im finanzgerichtlichen Verfahren der §§ 79 b Abs. 3, 76 Abs. 3 FGO rechnen muß. Streck und Spatscheck l5 s haben das Problem erkannt, halten es jedoch in Schrifttum und Rechtsprechung für unerörtert 159 und kommen ohne eingehende Begründung zu dem Ergebnis, daß eine Anwendung der Präklusionsvorschrift einen Verstoß gegen das (einfachgesetzliche) Zwangsmittelverbot aus § 393 Abs. 1 S. 2 AO bedeuten würde. Dieses Ergebnis ist auf der Ebene der Abgabenordnung jedoch nicht zu begründen, die Lösung ist auf verfassungsrechtlicher Ebene zu suchen. Die Bestimmung des § 364 b AO wurde erst mit Wirkung zum Ol. Ol. 1996 durch das Grenzpendlergesetz vom 24. 06. 1994 eingefügt. Bereits ihre Verfassungskonformität im Besteuerungsverfahren ist heftig umstritten. Ob und inwieweit sie auch im Falle eines parallelen Steuerstrafverfahrens Anwendung finden kann, ist soweit ersichtlich, dogmatisch noch nicht geklärt. Regelungsinhalt ist, daß der Einspruchsführer, dem durch die Finanzbehörde erfolglos eine Frist zur 156 Inwieweit steuerliche Schätzungen ins Strafverfahren übernommen werden können, wird noch an späterer Stelle zu erörtern sein. Siehe hierzu Viertes Kapitel: § 3C „Schätzung im Steuerrecht und strafrechtliche Wahrheitsfindung" auf S. 309 ff. 157 Joecks, Wolfgang, Praxis des Steuerstrafrechts, S. 108, spricht sich dafür aus, in solchen Fällen immer emsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit zu bejahen und somit dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stattzugeben. 158 Streck, Michael / Spatscheck, Rainer, Steuerliche Mitwirkungspflicht trotz Strafverfahrens?, wistra 1998, 334, 339. 159 Joecks, Wolfgang, Praxis des Steuerstrafrechts, S. 107, spricht § 364 b AO an, ohne die Verfassungskonformität weiter zu behandeln.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Vorlage von Erklärungen und Beweismitteln gesetzt wurde, im Einspruchsverfahren mit diesen ausgeschlossen ist. Greift der Rechtsbehelfsführer mit seinem Einspruch einen Schätzungsbescheid an, so ist nach Fristablauf das Einreichen der Steuererklärung ausgeschlossen. Durch die Kombination von Schätzungsbefugnis und Präklusionsvorschrift gibt der Gesetzgeber der Finanzbehörde ein besonders scharfes Schwert zur Hand, mit dem es dieser möglich wird, den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren abzuschneiden. Nach bestrittener, 160 aber wohl überwiegender Auffassung kann auch eine Steuererklärung nach § 364 b Abs. 1 Nr. 1 und 3 AO angefordert werden. In der Nichtabgabe der Steuererklärung bis zum 31.05. des Folgejahres wird regelmäßig eine Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund pflichtwidriger Nichtangabe von Tatsachen zu sehen sein, weil zu diesem Zeitpunkt erfahrungsgemäß 95 % der Veranlagungsfälle abgeschlossen sind. Die Finanzbehörde ist bei dem sich aufdrängenden Verdacht gezwungen, ein Strafverfahren einzuleiten. Die Vorschrift des § 364 b AO ist im Zusammenhang mit § 76 Abs. 3 FGO zu sehen. § 76 Abs. 3 FGO verhindert ein Leerlaufen der Präklusionsbestimmung, wonach die im außergerichtlichen Verfahren ausgeschlossenen Erklärungen und Beweismittel auch im sich anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren nicht ungehindert eingeführt werden können, sondern vielmehr durch das Finanzgericht aufgrund des Verweises auf § 79 Abs. 3 FGO zurückgewiesen werden können. 161 Zwar mag danach letztlich nur derjenige steuerliche Nachteile erleiden, der hartnäckig bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung seine Mitwirkung verweigert, 162 zumal auch der ΒFH entgegen der gesetzgeberischen Absicht die Präklusion eng auszulegen scheint. 163 Genau das wird aber der strafrechtlich Verfolgte tun müssen, um sich nicht selbst zu belasten. Schon soweit es das Besteuerungsverfahren anbelangt, werden im wesentlichen die im folgenden beschriebenen Argumente gegen eine Verfassungskonformität der Norm des § 364 b AO vorgebracht. Für das Steuerstrafrecht verschärft sich der Maßstab vor dem Hintergrund des „nemo tenetur"-Ge bots. Viele Literaten halten die Vorschrift deswegen noch für gerechtfertigt, weil sie eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen voraussetzt, die die innere Begründung für die einschneidenden Folgen abgibt. Stellt die Verweigerung der Mitwirkung 160 Wagner, Klaus, Die Ausschlußfristen nach § 364 b AO - Segen oder Last?, StuW 1996, 169, 172, führt aus, daß eine Steuererklärung keine Tatsachenangabe, sondern eine Verfahrenshandlung i. S. d. § 90 AO darstellt, welche eine Wissenserklärung des Steuerpflichtigen über die zugrundeliegenden Tatsachen und seine daran geknüpften rechtlichen Schlußfolgerungen enthält. 161 Zur Begründung ausführlich: Brockmeyer, Hans Bernhard, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 364 b, Anm. 1. 162 Wedelstädt, Alexander von, Die Ausschlußfrist nach § 364 b AO, StuW 1996,186,189. 163 BFH Urt. v. 09. 09. 1998 - I R 31 /98, BStBl I I 1999, 26, 26 f. Zur Kritik an dieser Rechtsprechung: Lange, Hans-Friedrich, Zurückweisung verspäteten Vorbringens und gerichtliche Prozeßförderungspflicht, DStZ 1999, 176, 177.
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aber einen Ausdruck des Schweigerechts des Betroffenen dar, so verliert diese Begründung an Uberzeugungskraft. Geht man hingegen von der einfachgesetzlichen Vorschrift des § 393 Abs. 1 AO aus, der die Mitwirkungspflicht trotz Strafverfahrens aufrecht erhält, so wäre die fehlende Mitwirkung nicht zu entschuldigen. Die Präklusionsvorschrift könnte im Widerspruch zu Art. 19 Abs. 4 GG stehen. Art. 19 Abs. 4 GG ist das formelle Hauptgrundrecht, welches einen effektiven Rechtsschutz garantiert. Es untersteht keinem Gesetzesvorbehalt. Zur Auslegung der Effektivität des Rechtsschutzes kommt man jedoch nicht umhin, das materielle, zu schützende Recht miteinzubeziehen, da der Begriff der Effektivität aus sich heraus keine Kriterien für seine Handhabung enthält. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG sieht das Bundesverfassungsgericht darin, die „Selbstherrlichkeit" der Exekutive gegenüber dem Bürger zu beschränken. Zu berücksichtigen ist aber, daß das Bundesverfassungsgericht 164 das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nur im Rahmen der jeweiligen Prozeßordnung gewährleistet sieht und eine Verletzung daran mißt, ob in rechtlicher oder tatsächlicher Weise der Zugang zu den Gerichten unzumutbar und sachlich nicht begründet erschwert oder verkürzt wird. Rechtssicherheit und der geordnete Gang der Rechtspflege können Einschränkungen rechtfertigen. Art. 19 Abs. 4 GG ist danach so auszulegen, daß im Sinngefüge der Verfassung auch anderen Verfassungsgrundsätzen nicht Abbruch getan wird. So hat der Gesetzgeber die Aufgabe, die Rechtsschutzgarantie näher auszugestalten. Dieser Auftrag umfaßt auch typische prozeßrechtliche Beschränkungen, wie Präklusionsvorschriften. 165 Fragwürdig erscheint aber, daß das Präklusionsrecht weiterhin in der Hand der Exekutive liegt, die damit den Zugang zur effektiven gerichtlichen Überprüfung ihrer Tätigkeit unterbinden kann. Mit Recht wird die Vorschrift deswegen für verfassungswidrig gehalten. 166 Der Ausschluß verspäteten Vorbringens befindet sich außerdem im Einzelfall unter Umständen nicht im Einklang mit dem Anspruch des Steuerpflichtigen auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Des weiteren wird behauptet, daß § 364 b AO eine Durchbrechung des Untersuchungsgrundsatzes sei, dem verfassungsrechtlicher Rang zukomme. Freilich wird der Untersuchungsgrundsatz ergänzt durch die Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen, der in der von § 364 b AO vorausgesetzten Situation nicht Genüge getan wird.
164 Beschl. v. 12.01. 1960- 1 BvL 17/59, BVerfGE 10,264,267; Beschl. v. 20.04. 1982 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253, 267; Beschl. v. 14. 05. 1985 - 1 BvR 370/84, BVerfGE 69, 381,385. 165 So allgemein zu Präklusionsvorschriften vertreten von Maurer, Hartmut, Staatsrecht, § 8 Rn. 33. 166 Koch, Joachim, Präklusion nach § 364 b AO - die Leiden einer gesetzlichen Regelung, DStR 1998, 1198, 1199.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
VII. Verfassungskonforme Ergänzung des § 393 Abs. 1 AO Die Regelung des § 393 Abs. 1 AO ist unvollständig. Sie enthält keine Aussage darüber, ob der Steuerpflichtige die Aussage verweigern darf, wenn ihn die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung trifft und er sich durch die Nichtabgabe oder durch falsche Angaben im Vorjahr einer Steuerhinterziehung bereits schuldig gemacht hat. Nach dem Wortlaut des § 370 Abs. 3 AO besteht lediglich ein Verbot von Zwangsmitteln i. S. des § 328 AO. Dies genügt jedoch nicht, um wenigstens den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu entsprechen, die das Bundesverfassungsgericht im oben genannten Gemeinschuldnerbeschluß aufgestellt hat. Die positive Normierung ist lückenhaft. 167 Der BGH hat bislang nur die Frage entschieden, daß die zur Verdeckung einer Untreue verübte weitere Steuerstraftat strafbar sein müsse, da sie selbst nach den Grundsätzen einer Güter- und Pflichtenabwägung aus rechts staatlichen Gründen nicht zu verantworten ist, weil der Täter sich selbst in die Zwangslage gebracht habe, aus der er sich nur durch eine neue erhebliche Verletzung der Rechtsordnung befreien zu können glaubt. 168 Soweit es sich jedoch wie hier um die Fortsetzung desselben Verstoßes handelt, nämlich die steuerliche Erklärungspflicht, liegen die Dinge anders. Hier ist kein weiteres durch den anderen Straftatbestand geschütztes Rechtsgut in die Güterabwägung einzubringen. 169 Die hier geschilderte Problematik stellt sich erst seit Wegfall des Instituts des Fortsetzungszusammenhangs in der Rechtsprechung im Jahre 1994. 170 Solange diese Rechtsprechung andauerte, waren mehrere, sich wiederholende Steuerhinterziehungen beispielsweise im Rahmen des Umsatzsteuervoranmeldungsverfahrens als einheitliche Steuerstraftat zu werten. Eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, daß ein Verwertungsverbot in diesen Fällen greifen soll, ist ausgeschlossen, da sich der Gesetzgeber mit den Sperregelungen der §§30 und 393 Abs. 2 AO für eine Weitergabe ausdrücklich ausgesprochen hat. Bei einem nachkonstitutionellen Gesetz wie der AO 1977 sind verfassungsrechtliche Bedenken begründet, ein Verwertungsverbot in das Gesetz
167 HansOLG Hamburg, Beschl. v. 07. 05. 1996 - 2 StO 1 /96, wistra 1996, 239, 240. 168 BGH Urt. v. 18. 10. 1956- 4 StR 166/56, BStBl 1 1957, 122, 123. 169 Grezesch, Wolf, Steuererklärungspflichten im Strafverfahren, DStR 1997, 1273, 1275. no Urt. v. 20. 06. 1994 - 5 StR 595/93, BGHSt 40, 195, 195. Schon zuvor zeigte sich in Rechtsprechung und Literatur eine Tendenz zur Entschärfung der Rechtsfigur des Fortsetzungszusammenhangs, die im Steuerstrafrecht wegen der VerjährungsVerlängerung schwer nachvollziehbare Ergebnisse hervorbrachte. Vgl. hierzu Ditges, Thomas / Graß, Arno, Rechtsprechungsänderung zur fortgesetzten Steuerhinterziehung - Konsequenzen für Straf- und Besteuerungsverfahren, DStR 1992, 1001, 1005. Die Literatur hat deshalb im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG die BGH-Rechtsprechung positiv aufgenommen, vgl. statt vieler Dannecker, Gerhard, Die Rechtsprechungsänderung zur fortgesetzten Handlung und ihre Konsequenzen für Steuerstrafsachen, in: Roman Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 9, 19.
§ 1 Der Grundsatz des „nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare )"
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hineinzuinterpretieren. 171 Nach den Anforderungen des Gemeinschuldnerbeschlusses verbleibt lediglich eine Entbindung von der steuerlichen Erklärungspflicht. 172 Das dem „nemo tenetur " entgegenstehende fiskalische Interesse der Allgemeinheit muß in diesem Fall zurücktreten.
E. Lösungsüberlegungen In den obigen Ausführungen wurde die Problematik von verschiedenen Seiten beleuchtet. Zieht man nun Bilanz, so läßt sich feststellen, daß § 393 AO spätestens mit Einführung der Präklusionsregelung des § 364 b AO nicht mehr mit dem verfassungsrechtlich garantierten Schweigerecht im Einklang steht. Zwar haben die Erörterungen zum Wesensgehalt deutlich gemacht, daß es eine absolute Garantie des „ nemo tenetur "-Rechtes nicht geben kann, es wurde jedoch gleichzeitig herausgearbeitet, daß es einen unantastbaren Kern geben mag, dessen weitere Beschränkung zu ihrer Rechtfertigung herausragender Verfassungswerte bedarf. Die in die Abwägung einzustellenden Verfassungswerte des Strafverfolgungsinteresses sowie der Besteuerungsgleichheit gehen nicht soweit, als daß mit ihnen eine Strafverfolgung um jeden Preis und eine gegen die Steuergerechtigkeit verstoßende Steuerfestsetzung beim Betroffenen begründet werden könnte. Das Strafverfolgungsinteresse kann im reinen Besteuerungsverfahren ohnehin keine Bedeutung erlangen. Die durch die Präklusion des § 364 b AO abgeschnittenen Rechte und der damit eintretende Vermögensnachteil beim Steuerpflichtigen können im Einzelfall den Charakter einer Geldstrafe für die Aussageverweigerung annehmen, wenn auch ein entsprechendes Unwerturteil nur mittelbar damit verbunden ist. Denn der schweigende Steuerpflichtige ist faktisch gezwungen, eine Zuschätzung wegen unterlassener Mitwirkung oder Nichterfüllung der Steuererklärungspflicht tatenlos hinzunehmen, obgleich bei vollständig aufgeklärtem Sachverhalt eine niedrigere Steuerschuld festzusetzen wäre. Daher ist im Ergebnis auch die Gleichheit der Besteuerung des Betroffenen tangiert, da er gegenüber allen übrigen Steuerpflichtigen, die denselben Steuertatbestand verwirklicht haben, ungleich behandelt wird und zwar ohne eine verhältnismäßige Rechtfertigung. Eine solche Rechtfertigung liegt nicht in der vielfach geäußerten Behauptung, daß ein Steuerhinterzieher nicht besser gestellt werden dürfte, als ein redlicher Steuerzahler. Erstens steht das Schweigerecht auch dem unrechtmäßig Verdächtigten zu, dessen steuerliche Benachteiligung nicht zu rechtfertigen wäre. Zweitens hat selbst ein Steuerhinterzieher bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen 171 Dies vertritt nun auch Vogelberg, recht, S. 13.
Claus-Arnold, in: Simon / Vogelberg, Steuerstraf-
1 72 So zutreffend HansOLG Hamburg Beschl. a. a. O. (Fn. 167), wistra 1996, 239, 241. 9 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
der verfassungsrechtlich garantierten Unschuldsvermutung als unschuldig zu gelten, und zwar unabhängig davon, ob er sich später tatsächlich als schuldig erweisen sollte. Dies gilt nicht nur im Strafrecht, sondern erstreckt sich weiterhin auf Rechtsfragen im Besteuerungsverfahren, die an eine Steuerstraftat anknüpfen, weil diese hiervon nicht losgelöst werden können, will man nicht die Unschuldsvermutung letztlich leerlaufen lassen. Die verfassungsrechtliche Analyse ergibt zunächst nur eine Unvereinbarkeit des bestehenden Normengeflechtes mit höherrangigem Recht. Das Erfordernis einer bestimmten Gestaltung des Besteuerungsverfahrens zur Wiederherstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes ist den Normen des Grundgesetzes nicht zu entnehmen. Dies muß vielmehr den politischen Kräften im Gesetzgebungsverfahren überlassen bleiben. Rechtspolitisch lassen sich nur Vorschläge unterbreiten, die der Legitimation durch den politischen Prozeß bedürfen. Die zunächst einfachste Lösung wäre es, die Vorschrift des § 364 b AO abzuschaffen oder wenigstens auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen kein Strafverfahren parallel läuft. Dadurch würde der faktische Druck auf den Steuerpflichtigen schon erheblich gemindert. Wie zuvor erörtert, ist die Bestimmung des § 364 b AO bereits im Besteuerungsverfahren unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ohne Bedenken. Es fragt sich jedoch, ob man nicht das Übel an der Wurzel packen und bei § 393 AO selbst ansetzen sollte. Denn schon die Schätzungsbefugnis der Finanzbehörde allein kann für den Steuerpflichtigen zu existenzgefährdenden Nachforderungen kommen. Freilich schützt das Schweigerecht nicht vor jedem Nachteil, den der Steuerpflichtige faktisch oder nur mittelbar durch die Ausübung seines Aussageverweigerungsrechtes erleidet. Ist der Nachteil jedoch in der Struktur der gesetzlichen Regelungen des Steuer- und Steuerstrafrechts und in deren Zusammenspiel entscheidend angelegt und erreicht er einen Grad an Unausweichlichkeit, der das Schweigerecht zur Makulatur werden läßt, so ist der Gesetzgeber verpflichtet, verfahrensmäßige Sicherungen einzubauen, die gleichsam als „Ventil" für die zwischen beiden Verfahrensordnungen entstehenden Spannungen wirken. Ein solches „Ventil" kann die strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO sein, die in einem späteren Kapitel noch gesondert untersucht werden soll. Es würde jedoch zu kurz greifen, hierin schon die abschließende Lösung der aufgeworfenen Frage zu sehen.173 Was soll beispielsweise der Unschuldige, der zu Unrecht einer Steuerstraftat verdächtigt wird, in seiner Selbstanzeige erklären oder kann er sich von vornherein nicht auf ein Schweigerecht berufen? Gesteht die Rechtsordnung dem Straftäter ein Selbstbezichtigungsprivileg zu, so kann sich der Unschuldige erst recht darauf berufen, wenn er sich gegen eine unrechtmäßige Anschuldigung
173 Zweifelnd auch Marx, Thomas, Nemo tenetur se ipsum accusare?, FS Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, S. 673, 675.
§ 1 Der Grundsatz des „ nemo tenetur se ipsum prodere ( accusare ) "
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wehren w i l l . 1 7 4 Im übrigen beschränkt sich das „nemo tenetur"-Recht des Schuldigen nicht auf ein Recht zur Selbstanzeige, sondern reicht darüber hinaus. Abschließend läßt sich sagen, daß ein nicht nur auf dem Papier stehendes Schweigerecht im Steuerstrafrecht eine Befreiung von der Mitwirkungspflicht verlangt, wie sie de lege lata nicht zugestanden wird. Nach Abschluß des Strafverfahrens können Steuerbescheide wegen Bekanntwerdens „neuer Tatsachen" nach § 173 AO innerhalb der FestsetzungsVerjährungsfrist geändert werden. Den Steuerpflichtigen hingegen trifft nach § 153 AO eine Berichtigungspflicht, die er nach Abschluß des strafrechtlichen Verfahrens ohne weiteres ausüben kann, da ihn der Grundsatz des „ne bis in idem " vor weiterer Verfolgung schützt. Alternativ könnte eine verfassungskonforme Lösung über ein Verwertungsverbot angestrebt werden. Dieses würde aber voraussetzen, daß gleichzeitig eine Fernwirkung zugestanden wird. Hält man diese Fernwirkung für praktisch nicht durchführbar, so verbleibt lediglich die gänzliche Aufhebung der Mitwirkungspflicht.
F. Zwischenergebnis Der Grundsatz des „nemo tenetur" läßt sich auf naturrechtliche Wurzeln zurückverfolgen, wonach der Selbsterhaltungstrieb des Menschen akzeptiert wird und er nicht Konfliktsituationen ausgesetzt werden soll. Eine verfassungsrechtliche Garantie läßt sich zum einen aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ableiten. Zum anderen begründen aber auch rechtsstaatliche Elemente des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit sowie die Unschuldsvermutung ein Schweigerecht. Ein absoluter Kern des Schweigerechts ist nicht anzuerkennen. Dennoch sind in der konkreten Abwägung bei steuerlichen Mitwirkungspflichten keine entgegenstehenden Interessen von Gewicht zu erkennen. Die bestehende gesetzliche Regelung entspricht nicht diesen Vorgaben. Sie muß daher durch den Gesetzgeber korrigiert werden. Zur Auswahl stehen eine völlige Aufhebung der Mitwirkungspflicht oder ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwirkung.
174 Siehe die Ausführungen oben: Viertes Kapitel: § IC „Analyse und Kritik bezüglich einer Selbstanzeigemöglichkeit" auf S. 99 ff.
9*
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt A. Begriffsbestimmung Der Garantiegehalt des Art. 103 Abs. 2 GG umfaßt insbesondere den Bestimmtheitsgrundsatz, das Analogieverbot und das Rückwirkungsverbot. Alle drei Ausformungen erlangen im Steuerstrafrecht als Folge der besonderen Struktur des Steuerhinterziehungstatbestandes eine erhebliche Bedeutung. Art. 103 Abs. 2 GG beinhaltet zwei Elemente: Einerseits ist hierin ein individuelles Freiheitsrecht zu sehen, das im Kontext der Justizgrundrechte dieses Abschnitts steht. Art. 103 Abs. 2 GG kommt Grundrechtscharakter zu, eine Verletzung dieses subjektiven Rechts kann im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden.1 Andererseits verkörpert dieser Verfassungsgrundsatz eine Kompetenznorm, die dem Gesetzgeber die maßgebliche Entscheidung über die Verhängung von Strafsanktionen überträgt. 2 Konkret folgt aus Art. 103 Abs. 2 GG der Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz. Zum einen beinhaltet dies einen strengen Gesetzesvorbehalt. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Bestrafung müssen in förmlichen Parlamentsgesetzen festgelegt sein. Hieraus leitet sich zum anderen das Verbot strafverschärfender Analogien ab. Das Analogieverbot im hier verstandenen Sinne zielt dabei auf den Rechtsanwender ab, dem es untersagt ist, über das Gesetz hinaus eine Strafbarkeit eines Verhaltens herzuleiten. Beide Aspekte sind aufs engste miteinander verbunden und lassen sich nicht immer voneinander trennen. Die nachfolgende Darstellung behandelt beide Gesichtspunkte nacheinander, wenn sich auch Überschneidungen nicht vermeiden lassen. Der tiefere Grund dieser Grundsätze ist, wie Lewisch zutreffend feststellt, das allgemeine Prinzip der Fairneß.3 Dieses beinhaltet, daß eine Strafbarkeit nur dann bestehen kann, wenn ein Täter zur Tat sich an einer verläßlichen Abgrenzung des rechtlich Erlaubten ausrichten konnte. Es ist dies derselbe Gedanke, der auch bei John Rawls anklingt.4
1 Zur Herleitung des Grundrechtscharakters Neubauer, Gisela Christa, Verfassungsrechtliche Begründung und Legitimation der justiziellen Grundrechte, S. 120. 2 Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht - Zum Bestimmtheitsgebot im Steuerrecht und Steuerstrafrecht, S. 129. 3 Lewisch, Peter, Verfassung und Strafrecht, S. 54. 4 Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 133 ff.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
133
Die Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG für das Steuerstrafrecht liegt vor allem in dem Spannungsverhältnis zwischen bürgerlichem Recht und steuerlichem Gesetzeszweck begründet. Sowohl der Analogieschluß, die wirtschaftliche Betrachtungsweise wie auch der Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten, die in der sich anschließenden Abhandlung untersucht werden sollen, sind Instrumente zur Auflösung möglicher Diskrepanzen zwischen Rechtsform und ökonomischem Inhalt. Sie stehen in Kollision mit der steuerrechtlichen und dem steuerstrafrechtlichen Garantiefunktion des gesetzlichen Steuertatbestandes.5
B. Der Bestimmtheitsgrundsatz nullum crimen sine lege certa
iC
)
I. Blankettcharakter des Steuerhinterziehungstatbestandes als Ausgangspunkt Das Steuerstrafrecht ist als Teil des Wirtschaftsstrafrechts zu verstehen. Viele Bereiche des Wirtschaftsstrafrechts sind durch eine Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe gekennzeichnet, die dem Bestimmtheitsgrundsatz in der Praxis kaum Geltung verschaffen können.6 Die Einhaltung der Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes wird im Steuerstrafrecht zudem dadurch erschwert, daß nach überwiegender Auffassung dem zentralen Tatbestand der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO ein Blankettcharakter zukommt. Die Terminologie zum Begriff des Blankettatbestandes ist nicht einheitlich.7 Es soll daher vorab eine Verständigung über die verwendeten Begriffe erfolgen. Ein Vollstrafgesetz enthält Tatbestand und Rechtsfolge vollständig. Ein Blanketttatbestand im engeren Sinne liegt im Gegensatz dazu nur dann vor, wenn Tatbestand und Rechtsfolge (Sanktion) in unterschiedlichen Gesetzen geregelt sind.8 Die Steuerhinterziehung stellt demgegenüber einen Blankettatbestand im weiteren Sinne dar, da einzelne Teile des Tatbestandes im materiellen Steuerrecht, nämlich die Tatbestandsmerkmale „steuererheblich" und „Steuerverkürzung", andere Teile dagegen in § 370 AO geregelt sind. Die Rechtsfolge findet sich ebenfalls in § 370 AO. 9 Die Rechtsprechung und weite Teile der Literatur bezeichnen die Vorschrift 5 Papier, Jürgen, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 191. 6 Weiterführend Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, § 2 1 1 a). 7
Teilweise wird unter einem Blankettatbestand im engeren Sinne ein Verweisungstatbestand verstanden, bei dem Blankett und ausfüllende Norm von verschiedenen Normgebern stammen. Die hier angenommene Differenzierung wurde im Hinblick auf die spätere verfassungsrechtliche Prüfung gewählt. 8 Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht, S. 133. So auch die Definition bei Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, §111. 9 Dagegen a. A. Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan/ Joecks, § 370 AO, Rn. 140, der den Blankettatbestand im engeren Sinne als echten Blankettatbestand bezeichnet. Danach
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
daher trotzdem als Blankettstrafgesetz, 10 sie unterscheiden nicht zwischen Blankettstrafgesetzen i m engeren und i m weiteren Sinne. 1 1 Sie haben sich damit dem Vorwurf eines „untechnischen Sprachgebrauchs" 12 und der „Inkonsequenz" 1 3 ausgesetzt, da gleichzeitig ein Irrtum über die Merkmale „steuerlich erhebliche Tatsachen" und „ Steuerverkürzung " als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum behandelt wird, als ob es sich nicht um ein Blankettgesetz, sondern um „normative Tatbestandsmerkmale" handeln würde. 1 4 Der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes folgend 1 5 soll dennoch der Streit, ob die doppelte Verweisung des Steuerhinterziehungstatbestandes auf steuerliche Vorschriften mit den Begriffen „Steuerverkürzung" und „steuererhebliche Tatsachen" als „normatives Tatbestandsmerkmal ui e einzuordnen ist oder ob es sich um einen „Blankettatbestand" 17 handelt, i m Sinne eines Blankettatbestandes entschieden werden, weil diese Zuordnung der Rechtsnatur des Steuerhinterziehungstatbestandes eher entspricht. Auch das Bundesverfassungsgericht hat keinen Zweifel sei die Steuerhinterziehung kein echter Blankettatbestand, weil das Gesetz den Tatbestand in § 370 AO originär und hinreichend bestimmt habe. io BGH Urt. v. 27. 01. 1982 - 3 StR 217/81, wistra 1982, 108, 109. Für die Literatur statt vieler Dannecken Gerhard, Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Parteispenden als gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, in: de Boor/Pfeifer/Schünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, S. 91, 96 f.; Müller, Lutz/Dannecker, Gerhard, Strafrechtliche Folgen, in: Blumers/Frick/Müller, Betriebsprüfungshandbuch, Rn. Κ 64; demgegenüber a. A. Gribbohm, Günter, Leipziger Kommentar, § 2 StGB, Rn. 37, der hierin ein in allen Normteilen vollständiges Strafgesetz sieht, wenn auch mit vielfältiger Verknüpfung mit dem Steuerrecht. h Backes, Peter, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 41. 12 Tiedemann, Klaus, Blankettstrafgesetz, in: Wilhelm Krekeler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch des Steuer- und Wirtschaftsstrafrechts, S. 2. ι 3 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 46. 14 Vgl. zur Problematik auch schon Tiedemann, Klaus, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 323. 15 BGH Urt. v. 28. 01. 1987 - 3 StR 373/86, NJW 1987, 1273, 1276; BGH Urt. v. 16. 05. 1984 - 2 StR 525/83, 1984, 510; Urt. v. 28. 01. 1987, BGHSt 34, 272, 282. Offen gelassen dagegen in Urt. v. 19. 12. 1990 - BGHSt 37, 266, 266 ff. 16 So Backes, Peter, Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 155 f. Er führt aus, daß diejenigen Rechtsvorschriften, die Entstehung, Höhe und Fälligkeit des Steueranspruches bestimmen, zum Tatbestand im Sinne der „steuererheblichen Tatsachen" gehören, demgegenüber diejenigen Rechtsvorschriften, die steuerliche Handlungspflichten begründen, nicht zum Tatbestand gehören. 17 Beschl. v. 08. 05. 1974 - 2 BvR 636/72, BVerfGE 37, 201, 208. Die Entscheidung erging zu § 396 RAO, der jedoch dem heutigen Tatbestand der Steuerhinterziehung nach § 370 AO 1977 hinsichtlich der darin enthaltenen Verweisung auf das Steuerrecht so weitgehend ähnlich ist, daß diese Rechtsprechung auch unter der AO 1977 fortgilt. Nach Lang, Joachim, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 22, soll es sich bei der Einordnung als Blankettstraftatbestand um die herrschende Meinung handeln. Hierzu femer von der Heide, Isabella, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, S. 45 f. Siehe ebenso BVerfG Beschl. v. 15. 10. 1990 - 2 BvR 385/87, wistra 1991, 175, 175.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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daran gelassen, daß es im Steuerhinterziehungstatbestand ein Blankett erkennt. 18 Im übrigen ist anzufügen, daß an die Bestimmtheit von normativen Tatbestandsmerkmalen keine geringeren Anforderungen zu stellen sind. 19 Die Verwendung von Blankettstraftatbeständen durch den Gesetzgeber erfolgt überwiegend aus rechtstechnischen Gründen, um aus Gründen der Vereinfachung nicht eine Vielzahl von Tatbeständen schaffen zu müssen,20 die mit der gleichen Strafe geahndet werden sollen, also um Wiederholungen zu vermeiden. Nach der sogenannten Inkorporationstheorie werden die in Bezug genommenen Vorschriften Bestandteil der Verweisungsnorm. 21 Zudem brauchen dann bei Neufassungen nicht sowohl die ausfüllende Norm als auch die Strafnorm gleichzeitig geändert werden. Schon aus diesem Umstand wird deutlich, daß sie keine andere rechtliche Behandlung eines Blankettatbestandes gegenüber den übrigen Strafnormen hinsichtlich der Bestimmtheitsanforderungen rechtfertigen können. Vereinzelt wird argumentiert, daß durch die Ausgestaltung als Blankettgesetz eine größere Anpassungsfähigkeit gegenüber wechselnden Verhältnissen erreicht werde. 22 Soweit damit gemeint sein sollte, daß Gesetzesänderungen erleichtert werden, ist dies zutreffend, handelt es sich doch bei diesen Verweisungen um die Integration der zeitlichen Dimension in die Gesetzgebung, wie sie erst in neuerer Zeit wissenschaftlich untersucht wurde. 23 Bedenken bestehen aber, wenn die Anpassungsfähigkeit dadurch erzielt wird, daß Rechtsverordnungen Blankette ausfüllen sollen. Für den Gesetzgeber hingegen birgt die Verweisung die Gefahr, daß die strafrechtlichen Folgen seines gesetzgeberischen Tätigwerdens übersehen werden. Zusätzlich zum Blankettcharakter des Steuerhinterziehungstatbestandes muß man sich den Zustand des gegenwärtigen Steuerrechts vor Augen führen. Das Steuerrecht in unserer heutigen Form besteht aus einer Vielzahl von Einzelbestimmungen, welche oftmals unterschiedlichen historischen Schichten zuzuordnen sind. Über viele Reformen hinweg wurden in zu vielen Fällen neue Bestimmungen angefügt, ohne die bisherigen Bestimmungen zu systematisieren und mit den An18
Nachweise siehe unten S. 115 ff. Wende roth, Dieter, Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG, S. 66. Hiergegen a. A. wohl Dannecker, Gerhard, Das intertemporale Strafrecht, S. 477, der Art. 103 Abs. 2 GG nur für Blankettstrafgesetze von Bedeutung hält. Für normative Tatbestandsmerkmale soll Art. 103 Abs. 2 GG hingegen nicht gelten. 20 Von der Heide, Isabella, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, S. 34 f. 19
21 Moll, Dietmar, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung, S. 27 m. w. N. 22 Netzler, Harold, Der Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht, S. 21; so auch Lohberger, Ingram, Blankettstrafrecht und Grundgesetz, S. 22 f. 23 Zum Stichwort der dynamischen Verweisungen als Rechtstechnik zur Erfassung des Zeitproblems im Verfassungsstaat vgl. Häberle, Peter, Zeit und Verfassungsstaat - kulturwissenschaftlich betrachtet, Jura 2000, 1, 6. Häberle stellt fest, daß die Verweisungsnorm zwar beweglich wird, jedoch in eine Abhängigkeit vom Verweisungsobjekt und dessen Gestaltern gerät.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
derungen ein Gesamtgefüge herzustellen. Häufig war der Hintergrund das Diktat der leeren Kassen, häufig aber auch ein fauler Kompromiß zwischen rivalisierenden Interessengruppen. Vorschläge der Steuerrechtswissenschaft zur Systematisierung haben regelmäßig keine Aussicht auf politische Durchsetzung. Steuergesetze sind für den Laien in den allermeisten Fällen nicht verständlich, zeichnen sich durch über mehrere Seiten sich erstreckende Paragraphen aus, die ohne Anwendungserlaß seitens der Finanzverwaltung in der Praxis nur schwer handhabbar sind und meistens bereits wieder geändert wurden, bevor das erste klärende Finanzgerichtsurteil vorlag. Allgemein läßt sich feststellen, daß die Finanzverwaltung zu einem Quasi-Gesetzgeber wird, der ohne ausreichende unmittelbare demokratische Legitimation, wie sie das Parlament besäße, weite Teile des Steuerrechts gestaltet, die von Abgeordneten als heißes Eisen nicht aufgegriffen werden, um die eigene Wählerschaft nicht zu vergraulen. Viele Begriffe des Steuerrechts erschließen sich erst beim Studium der Finanzerlasse und OFD-Verfügungen, nicht selten anhand der dort angegebenen Rechenbeispiele, denen gleichsam einem Gesetz praktischer Regelungsgehalt zukommt. Die Rechtsanwendung ist weitgehend kasuistisch. Anstelle juristischer Argumente besitzen Hinweise auf höchstrichterliche Einzelfallentscheidungen größere Überzeugungskraft. Der Praktiker behilft sich mit Datenbanken und Erlaßkarteien. Die Kommentarliteratur weiß sich nur noch dadurch zu helfen, daß sie kurzen einführenden Erläuterungen einer steuerlichen Vorschrift ein ABC von Einzelfällen folgen läßt. Dieses Denken in unzusammenhängenden Einzelfällen beherrscht auch die Ausbildung von Finanzbeamten und Steuerberatern. 24 In keinem anderen Rechtsgebiet ist die Verweisung des Blankettatbestandes auf die ausfüllende Norm so fragwürdig wie im Steuerrecht. Im folgenden sollen der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG, der auch im Steuerrecht zu beachten ist, sowie der spezielle strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG einander gegenüber gestellt werden, um Unterschiede aufzuzeigen. Anschließend werden die Folgen der unterschiedlichen Bestimmtheitsanforderungen für das Steuerstrafrecht zu betrachten sein.
II. Der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz des Steuerrechts Der Bestimmtheitsgrundsatz ist insbesondere eine Ausprägung des allgemeinen steuerlichen Gesetzesvorbehaltes, der im Grundgesetz keine ausdrückliche Erwähnung gefunden hat. Die Landesverfassung von Berlin ist die einzige Ausformulierung dieses Grundsatzes.25 Daher ist vor allem auf das Rechtsstaatsprinzip in den Vorschriften der Art. 20 Abs. 2 und 3 GG zurückzugreifen, das jedoch seinem 24
So zu Recht Helsper, Helmut, Gesetzgebung und Evolution, S. 9. Art. 75 Abs. 1 der Verfassung von Berlin lautet: „Ohne gesetzliche Grundlage dürfen weder Steuern oder Abgaben erhoben, noch Anleihen aufgenommen oder Sicherheiten geleistet werden." 25
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Wortlaut nach bezüglich Inhalt und Grenzen keine klaren Vorgaben macht und somit Anlaß zu unterschiedlichen Auslegungen gibt. Es ist zusätzlich der Grundsatz der Rechtssicherheit neben Gesetzmäßigkeit und Gewaltenteilung heranzuziehen. Auf terminologische Fragen und die Abgrenzung zwischen der Gesetzmäßigkeit und dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit kann hier nicht eingegangen werden. 26 Außerdem gebietet das Gebot des effektiven Rechtsschutzes eine hinreichende Normenklarheit. 27 Über das hermeneutische Problem hinaus ist die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verwaltung bzw. Rechtsprechung angesprochen. Auch die Gewährleistung von Grundrechten und die aus dem Demokratieprinzip abgeleitete Wesentlichkeitslehre können ergänzend herangezogen werden. 28 Weitgehende Einigkeit über den Inhalt des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes besteht zunächst nur über folgende Aussage: Die Notwendigkeit einer Auslegung nimmt der Festlegung des Gesetzgebers noch nicht die Bestimmtheit, die der Rechtsstaat von einem Gesetz fordert. Andererseits berührt eine nicht hinreichende Bestimmtheit das Gewaltenteilungsprinzip. Bei Unbestimmtheit verbleiben Gerichten und Verwaltung zu weite Entscheidungsspielräume. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes genügt es, wenn die Betroffenen die Rechtslage erkennen und danach handeln können.29 In Randbereichen bedingte Auslegungsschwierigkeiten folgen aus der Eigenart des geregelten Sachverhaltes und müssen von Verfassungs wegen hingenommen werden. Der Gesetzgeber muß die wesentlichen Bestimmungen mit hinreichender Genauigkeit treffen. Im Detail auftauchende Zweifelsfragen sind mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu lösen. Die Bestimmtheit eines Steuertatbestandes erfordere es grundsätzlich, daß der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast selbst vorausberechnen kann. Einschränkungen dieses Grundsatzes sind aber möglich, sofern sich diese aus der „Eigenart des geregelten Sachverhaltes" ergeben. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wird, soweit es die Bestimmtheit des den § 370 AO ausfüllenden Steuerrechts zu entscheiden hatte, nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, es halte keine klare Linie. Der so verstandene allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz würde sich für das Steuerstrafrecht als wenig ergiebig erweisen, weil gerade die in der Praxis bedeutsamen 26 Es sei auf das Spezialschrifttum verwiesen, vgl. insbesondere Waldhoff, Christian, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, S. 118. 27 Zu diesen Ableitungen ausführlich: Papier, Hans-Jürgen /Möller, Johannes, Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, AöR 122 (1977), 177, 179. Weiterhin: Fischer, Peter, Grundlagen und Grenzen der Rechts(fort)bildung im Steuerrecht, StVj 1992, 3, 18 f., der jedoch einer weniger strengen Rechtsüberzeugung folgt. 28 Hierzu eingehend siehe unten: Viertes Kapitel: § 2C.II.1 „Tatbestandsmäßigkeit und Analogieverbot im Steuerrecht" auf S. 227 ff., insbes. auch S. 232 ff. 29 Beschl. v. 18. 05. 1988 - 2 BvR 579/84, BVerfGE 78, 205, 213 f.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Abgrenzungsschwierigkeiten als „aus der Eigenart des geregelten Sachverhaltes folgend" angesehen werden und demnach verfassungsrechtlich hingenommen werden. Schon allgemein läßt sich sagen, daß die in Art. 20 Abs. 3 GG ruhenden Grundsätze über Gesetzesklarheit und - bestimmtheit in der Rechtsprechung kaum einmal zur Anwendung kamen. 30 Verfassungsrecht und Wirklichkeit klaffen selten so weit auseinander wie beim Bestimmtheitsgrundsatz im allgemeinen und bei seiner Anwendung auf das Steuerrecht im besonderen.31 Trotz einer Vielzahl problematischer Vorschriften wurde im Steuerrecht noch keine einzige Norm wegen mangelnder Bestimmtheit aufgehoben. Art. 20 Abs. 3 GG gilt für die gesamte Rechtsordnung; dennoch bestehen in den meisten Rechtsgebieten, etwa im Zivilrecht keine Bedenken, Analogie und Gewohnheitsrecht zuzulassen. Es wurde daher vorgeschlagen, die Herleitung, wenn sie sich nicht aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, aus einer Abwägung der Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit, vor allem mit der Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu entnehmen. Der Gesetzgeber der Abgabenordnung hätte schon 1977 diese Abwägungsentscheidung auf der Ebene des einfachen Rechts treffen und dabei in weitem Umfang der Vorhersehbarkeit der Steuerbelastung Rechnung tragen müssen.32 Eine solche einfachgesetzliche Regelung sucht man jedoch vergebens. Die verfassungsrechtliche Lösung hingegen ist, soweit das Steuerrecht allein betroffen ist, nur dann zu finden, wenn man die einzelnen durch die Besteuerung tangierten Grundrechte betrachtet und dabei der Frage nachgeht, inwieweit hieraus eine Entscheidung des Gesetzgebers und schließlich für das folgende Kapitel eine Unzulässigkeit einer Rechtsfortbildung durch den Rechtsanwender folgt. 33 . Denn grundrechtsrelevante Vorschriften unterliegen in besonderem Maße dem Gebot, daß die Formulierung ihres Inhaltes und ihrer Voraussetzungen für den Betroffenen erkennbar sein muß, so daß er sein Verhalten danach richten kann. 34
I I I . Der spezielle Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG im Strafrecht 1. Vorbemerkungen
Für das auf dem Steuerrecht aufbauende Steuerstrafrecht sind zusätzlich die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten, die einen strengeren Maßstab erfordern könnten. 30
Von Münch, Ingo, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 25. Papier, Hans-Jürgen, Der Bestimmtheitsgrundsatz, DStJG Bd. 12, S. 61, 61 f. 32 Thebrath, Hermann-Josef, Allgemeines Steuerrecht in Einzelgesetzen, S. 13. 33 Hierzu noch ausführlich unten, Viertes Kapitel: § 2C.II.3 Inkurs: Verfassungsrechtliche Verankerung eines „nullum tributum sine lege" auf S. 232 ff. 34 Beschl. v. 12. 01. 1967 - 1 BvR 169/63, BVerfGE 21, 73, 79; Beschl. v. 03. 11. 1982 1 BvR 210/79, BVerfGE 62, 169, 183. 31
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Art. 103 Abs. 2 GG normiert den Grundsatz „Keine Strafe ohne GesetzDaneben findet sich eine ausdrückliche Normierung in mehreren Landesverfassungen, 35 die vergleichend herangezogen werden können. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz ist als Spezialfall des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes zu verstehen, der sich durch erhöhte Anforderungen an die strafrechtliche Norm auszeichnet.36 Soweit das Steuerrecht also ausfüllende Norm des Straftatbestandes ist, muß der speziellere Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG zur Prüfung herangezogen werden. Ohne schon den Begriffsinhalt abschließend festzulegen, zielt er darauf ab, daß der Einzelne im vorhinein wissen soll, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm hierfür droht, damit er sein Verhalten darauf einrichten kann. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz steht in einer engen Verbindung zum Grundsatz des „ nulla poena sine culpa". Denn das Verschulden des Täters wird erst durch den den Straftatbestand umschreibenden Gesetzeswortlaut in seinen Umrissen erkennbar. 37 Dieses Schuldprinzip des Strafrechts findet in der Judikatur seine verfassungsrechtliche Verankerung in einer Zusammenschau der Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG, dem Gehalt des Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, insbesondere in Form des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist an der Idee der Gerechtigkeit orientiert. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dies in mehreren Urteilen ausgesprochen.38 Das moderne Strafrecht setzt seinem Selbstverständnis entsprechend Schuld voraus. Dabei untergliedert sich der Schuldgrundsatz in die Elemente der Strafbegründungsschuld und der Strafzumessungsschuld. 39 Nach letzterer muß die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zu dem Verschulden des Täters stehen. Zur Begründung führt es aus, daß die Idee der Gerechtigkeit es erfordere, Tatbestand und Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zueinander zu stellen. Dieses liege 35
Art. 104 Abs. 1 der Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 66 der Verfassung von Berlin, Art. 7 S. 1 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 22 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen, Art. 6 Abs. 3 der Verfassung für Rheinland-Pfalz und Art. 15 der Verfassung des Saarlandes. 36 Pohl, Rolf, Steuerhinterziehung und Steuerumgehung, S. 196; a. A. Nippoldt, Rolf, Die Strafbarkeit von Umgehungshandlungen, S. 217, der die Anforderungen in Strafrecht und Steuerrecht für weitgehend die gleichen hält. Wer einer allzu großzügigen Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG das Wort redet, muß freilich folgerichtig zu diesem Ergebnis gelangen. 37 Weiterführend Wolff, Heinrich Amadeus, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa" als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), 55, 81. 38 Beschl. v. 25.10.1965 - 2 BvR 506/63, BVerfGE 20,323,331; Beschl. v. 27.05.1981 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250,275; Beschl. v. 14. 07. 1981 - 1 BvR 575/80, BVerfGE 58, 159, 163; Beschl. v. 15. 06. 1989 - 2 BvL 4/87, BVerfGE 80, 244, 255; vgl. auch BayVerfGH v. 22. 04. 1982 - Vf 23-VII-80, BayVBl 1982,400,402; ferner: Urt. v. 10. 05. 1957 1 BvR 550/52, BVerfGE 6, 389, 439; Beschl. v. 04. 02. 1959 - 1 BvR 197/53, BVerfGE 9, 167, 169; Beschl. v. 09. 06. 1970 - 1 BvL 24/69, BVerfGE 28, 386, 391; Beschl. v. 16. 01. 1979 - 2 BvL 4/77, BVerfGE 50, 125, 133; Beschl. v. 23. 04. 1991 - 1 BvR 1443/ 87, BVerfGE 84, 82, 87. 39
Weiterführend: Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 109 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
in der Repression von verbotenem Tun. Das Rechtsstaatsprinzip, das die materielle Gerechtigkeit miteinschließe, setze Vorwerfbarkeit dieses Verhaltens voraus, weil eine Vergeltung nur das abgelten könne, was der Betroffene tatsächlich begangen habe. Eine rechtsstaatswidrige Ahndung aber verletze den Bürger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. 4 0 Die Literatur teilt diese Einordnung weitgehend.41 Kritische Auseinandersetzungen finden sich nur selten, da über die Garantie eines Schuldgrundsatzes im Strafrecht weitgehende Einigkeit besteht. Wolff hat die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung analysiert 42 und vermag ihr weder eine einheitliche Ableitung des ungeschriebenen Schuldgrundsatzes noch eine genaue Inhaltsbestimmung zu entnehmen. Die Rechtsprechung schwankt tatsächlich zwischen einer Begründung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip entweder jeweils allein oder in einer scheinbar beliebigen Kombination dieser Grundlagen, sofern der Grundsatz überhaupt begründet wird. 43 Da der Grundsatz des „ nulla poena sine culpa " als ungeschriebenes Verfassungsrecht einzustufen ist, stößt man auf das weitere Problem, ob diesem Grundsatz die Qualität eines Verfassungsgewohnheitsrechtssatzes mit der Folge zuzubilligen ist, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auch bei einer Änderung seiner Verfassungsinterpretation den Grundsatz nicht fallen lassen könnte. Hier ist Wolff zuzustimmen, der aufgrund einer wertenden Betrachtung den Schuldgrundsatz letztendlich zum Verfassungsgewohnheitsrecht rechnet. Hinter dem Zusammenspiel beider Grundsätze, nämlich dem Schuldprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz, steht das Menschenbild einer zur Selbstorientierung befähigten Person. Nur wer sich für Recht und Unrecht entscheiden kann, lädt Schuld auf sich. 44 Hier kann es nicht nur an der persönlichen Schuld fehlen, weil gerade der Täter zu dieser Entscheidung nicht fähig war (Minderjährige, Geisteskranke), sondern auch objektiv eine solche Entscheidung gar unmöglich sein, weil
40 So Beschl. a. a. O. (Fn. 38), BVerfGE 20, 323, 331. 41
Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 70; Kunig, Philip, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 36 „Strafe"; Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 94; Schmidt-Bleibtreu, Bruno, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 10, und Klein, Franz, ebenda, Art. 20, Rn. 10 c. 42 Wolff, Heinrich Amadeus, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa" als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), S. 55, 76. 43 Nicht ganz zu Unrecht führt Wolff, Heinrich Amadeus, a. a. O. (Fn. 42) die wechselnden Begründungen in Beschl. v. 16. 04. 1980 - 1 BvR 505/78, BVerfGE 54, 100, 108; Beschl. v. 01. 06. 1989 - 2 BvR 239/88 und 2 BvR 1205, 1533, 1095/87, BVerfGE 80, 109, 120; Beschl. v. 03. 06. 1992 - 2 BvR 1041/88, 78/89, BVerfGE 86, 288, 313; Beschl. v. 09. 03. 1994 - 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145, 173, an. 44 Hiergegen wendet sich aber Moll, Dietmar, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung?, S. 130. Moll kritisiert die Ableitung aus der Menschenwürde und führt aus, daß eine selbstverantwortliche Entscheidung seiner Ansicht nach keine Bestimmtheit voraussetzt.
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Recht und Unrecht aufgrund eines unbestimmten Gesetzeswortlautes nicht erkennbar waren. Auch der Zweck einer Generalprävention wäre ohne hinreichende Bestimmtheit und damit Vorhersehbarkeit nicht zu erreichen. Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes im hier verstandenen Sinne ist der Gesetzgeber, der gehalten ist, für eine klare Regelung zu sorgen. Deshalb liegt in Art. 103 Abs. 2 GG zugleich eine Kompetenzzuweisung, die als Element der Gewaltenteilung zu sehen ist. Der Gesetzgeber soll eine Entscheidung über die Strafbarkeit eines Verhaltens treffen, nicht erst der spätere Rechtsanwender.45 Diese gesteigerten Anforderungen sind, wie noch zu zeigen sein wird, erst recht an eine Norm zu stellen, die als ein Blankettatbestand ausgestaltet ist, der erst der Ausfüllung durch das Steuerrecht bedarf. Stellt eine Strafvorschrift dagegen lediglich auf die Eigentumsordnung ab, um das mit Strafe bedrohte Verhalten näher zu umschreiben, so bedarf es nicht einer Uberprüfung sämtlicher das Eigentum zuordnender Vorschriften anhand des Art. 103 Abs. 2 GG. 4 6 Der bisweilen vertretenen Auffassung, daß Art. 103 Abs. 2 GG eine Bekämpfung der Gesetzesumgehung auf dem Vorfeld des Verwaltungsrechts zulasse, kann nicht gefolgt werden. So wird die Ansicht vertreten, daß das vorgelagerte Verwaltungsrecht seine Tatbestände erweitern könne. 47 Das Strafrecht könne sodann ohne verfassungsrechtliche Bedenken an diese außerstrafrechtlich erweiterten Tatbestände anknüpfen. Art. 103 Abs. 2 GG würde sich dann allein in der Einschränkung erschöpfen, daß völlig unbestimmte verwaltungsrechtliche Tatbestände eine strafrechtliche Bewehrung nicht tragen können. Darüber hinaus sei eine Entillusionierung des Bestimmtheitsgebotes zu fordern, da jede Norm neben ihrem Kern einen Bedeutungshof, eine Randzone umfasse, in der die Bestimmtheit nur mehr oder minder gegeben sei. Zudem sei es übertrieben, lediglich deskriptive Tatbestandsmerkmale im Gesetz niederzulegen und normative weitestgehend zu vermeiden. Einzelne Autoren wollen sogar allgemein im Bestimmtheitsgebot eine nicht zu verwirklichende „Utopie" sehen.48 Für Blankettstraftatbestände ergäben sich dann erst recht keine besonderen Anforderungen. So weit kann man jedoch nicht gehen, will man den Willen des Verfassungsgebers respektieren. Im übrigen erschienen viele Verfassungsbestimmungen in ihrer Entwicklungsgeschichte zunächst als Uto-
45 Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, § 211. Er führt die Kritik im Schrifttum an, wonach aufgrund der von der Rechtsprechung unbeanstandeten, zunehmenden Häufung von unbestimmten Rechtsbegriffen gerade im Wirtschaftsstrafrecht die praktische Bedeutung des Bestimmtheitsgebotes abnimmt. 4 6 Beschl. a. a. O. (Fn. 29), BVerfGE 78, 205, 214. 47
Stockei, Heinz, Bekämpfung der Gesetzesumgehung mit Mitteln des Strafrechts, ZRP 1977, 134, 137; Nippoldt, Rolf, Die Strafbarkeit der Umgehungshandlungen, S. 83 ff. 48 Schmidhäuser, Eberhard, Strafgesetzliche Bestimmtheit: eine rechtsstaatliche Utopie, in: Gedächtnisschrift f. Wolfgang Martens, S. 231, 241.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
pien, konnten jedoch im Laufe der Zeit Stück für Stück Konturen gewinnen.49 Daher wird man sich dem Bestimmtheitsgebot annähern können und müssen. Andere Autoren verkürzen die Reichweite der Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG auf einen Schutz vor „allzu" unbestimmten Strafgesetzen. 50 Diese Formel erscheint zu dehnbar, als daß sie eine ernst zu nehmende Schwelle darstellen könnte. Macht man also mit dem Bestimmtheitsgrundsatz ernst, so lassen sich drei Anforderungen stellen 51 : Zunächst müssen beide Normen, Blankettatbestand und ausfüllende Norm, für sich den Bestimmtheitsvoraussetzungen des Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen. Für den ausfüllenden Steuertatbestand gilt, daß er erst durch Steuersubjekt, Steuerobjekt, Bemessungsgrundlage und den Steuersatz sowie Ermäßigungen und Befreiungen gekennzeichnet ist. 52 Darüber hinaus muß die im Blankettatbestand liegende Verweisung auf die ausfüllende Norm dem Gebot der Gesetzesklarheit genügen. Zum dritten aber muß die Gewichtsverteilung zwischen Blankettatbestand und einem ausfüllenden Rechtsakt zugunsten des ersteren getroffen sein, da diesem die vorrangige Bestimmungsgewalt zukommt. Eine Norm ist dann als bestimmt zu bezeichnen, wenn die einzelnen in ihr verwendeten Begriffe bestimmt sind. Das Gegensatzpaar „bestimmt" und „unbestimmt" muß einer differenzierten Betrachtung weichen: Begriffe sind mehr oder minder bestimmt; das Bestimmtheitsgebot ist erfüllt, wenn sie ein hinreichendes Maß an Bestimmtheit erlangen. 53 Bisweilen wird noch unterschieden zwischen dem in seiner Bedeutung klaren „Begriffskern" und einem „Begriffshof ' , 5 4 dessen
49 Vgl. die wissenschaftliche Aufarbeitung bei Häberle, Peter, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, in: Gedächtnisschrift f. Wolfgang Martens, S. 73, 82 f. 50 So Krey, Volker/ Weber-Linn, Martina, Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt, FS f. Günter Blau, S. 123, 132, die die praktische Bedeutung für gering halten. In der Praxis sei dieses Verfassungsprinzip weitgehend preisgegeben. 51 Schmidt-Aßmann, Eberhard, Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2, Rn. 201; Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 68. 52 Gast-de Haan, Brigitte, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich, BB 1991, 2490, 2491. 53 Auf den graduellen Charakter verweist Seel, Paul, Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz nullum crimen sine lege (Art. 103 I I GG), S. 5 f. 54 Siehe zu dieser Unterscheidung auch: Dannecker, Gerhard, Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bedeutung der Grundsätze „nullum crimen sine lege" und „ne bis in idem" für das Wirtschaftsstraf- und Wirtschaftsordnungswidrigkeitenrecht, Rivista trimestrale di diritto penale dell'economia, 1990, S. 449,454.
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Inhalt ungewiß ist. Vom Umfang des Begriffshofes hängt der Grad der Bestimmtheit ab. Der Saum der Randunschärfe ist Determinante des Bestimmtheitsgrades.
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
Das Bundesverfassungsgericht wiederholt in seinen Entscheidungen stets die Aussage, daß das Strafrecht nicht auf „allgemeine Begriffe " 5 5 verzichten könne, die nicht eindeutig allgemeingültig umschrieben werden können und die in besonderem Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen. Art. 103 Abs. 2 GG verlange demnach nur „innerhalb eines gewissen Rahmens" eine gesetzliche Umschreibung der Strafbarkeit. Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muß, lasse sich danach nicht allgemein sagen. Die erforderliche Gesetzesbestimmtheit hänge von der Besonderheit des jeweiligen Straftatbestandes und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelung führen. 56 Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit bedeute jedoch nicht, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, ausschließlich rein deskriptive, exakt erfaßbare Tatbestandsmerkmale zu verwenden. Generalklauseln oder wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht seien demzufolge ebenso zulässig.57 Das Ziel der Art. 103 Abs. 2 und 104 Abs. 1 GG, die grundsätzlichen Regelungen des Strafrechts in Gesetzen zu treffen, werde jedoch auch durch einen Blanketttatbestand in Verbindung mit den steuerlichen Einzelgesetzen erreicht. Es liege in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er die Voraussetzungen der Strafbarkeit im jeweiligen Fachgesetz und damit im Nebenstrafrecht oder etwa zur Betonung seiner besonderen Bedeutung im Strafgesetzbuch festlege. 58 Die Kenntnis der Regeln des Strafgesetzbuches könne vom Bürger im allgemeinen erwartet werden. Demgegenüber könne die Kenntnis von Fachgesetzen regelmäßig nur von bestimmten Personenkreisen angenommen werden. 59 Auf das Steuerstrafrecht übertragen würden diese Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes bedeuten, daß die Kenntnis des Körperschaftssteuerrechts nur von GmbH-Geschäftsführern und deren steuerlichen Beratern, die Kenntnis des Grunderwerbssteuerrechts nur von Angehörigen grundstücksnaher Berufe usw. vorausgesetzt werden könnte. In Grenzfällen müßte eine Korrektur über die Irrtumslehre erfolgen. So weit geht die Rechtsprechung tatsächlich jedoch nicht.
55 In Beschl. v. 15. 04. 1970 - 2 BvR 396/69, BVerfGE 28, 175, 183, verwendet das BVerfG wohl synonym den Terminus „flüssige Begriffe 56 Beschl. v. 14. 05. 1969 - 2 BvR 238/68, BVerfGE 26,41,41 f. 57 Beschl. a. a. O. (Fn. 55), BVerfGE 28, 75, 84 f. 58 Beschl. v. 06. 05. 1987 - 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329, 344 f. 59 Faller, Hans-Joachim, Das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot, FS f. Franz Merz, S. 73.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Gerade in neueren Entscheidungen ließ es das Bundesverfassungsgericht genügen, wenn sich der Sinn der auslegungsfähigen Begriffe der Strafnorm im Regelfall mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden ermitteln läßt und in Grenzfällen dem Adressaten zumindest das Risiko einer Bestrafung erkennbar wird. 6 0 Das Gericht hat selbst dann keine Bedenken, wenn im Grenzfall die Auslegung zweifelhaft sein kann. 61 So sei es von Verfassung wegen nicht zu beanstanden, daß sich die Bestimmtheit eines Tatbestandsmerkmals aus dem Bedeutungsgehalt ergebe, den das Merkmal durch eine bereits vorhandene ständige höchstrichterliche Rechtsprechung im Rahmen einer anderen Rechtsnorm erhalten habe. An anderer Stelle hat das Bundesverfassungsgericht aber auch festgestellt, daß insbesondere bei Straftatbeständen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG der Grad rechtsstaatlich gebotener Bestimmtheit höher sei als in Bereichen, die die Grundrechtsausübung weniger tangieren. 62 Bezogen auf das Steuerstrafrecht und vergleichbare Rechtsmaterien hat das Bundesverfassungsgericht bislang in nur wenigen Fällen ausdrücklich Stellung genommen:
a) Die Entscheidung BVerfGE 37, 201ff. vom 08. 05. 1974 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der vorliegenden Problematik erstmals umfassend in seiner Entscheidung vom 08. 05. 1974 befaßt. 63 Vorauszuschikken ist, daß die Entscheidung zu § 392 RAO, dem Vorläufer des heutigen Tatbestandes der Steuerhinterziehung, erging. Der Tatbestand des § 392 RAO zeichnete sich durch eine besonders weite Formulierung aus.64 Der Entscheidung lag ein Fall einer Mineralölsteuerhinterziehung zugrunde. Der Blankettatbestand der Steuerhinterziehung wurde durch die Vorschrift des § 9 Mineralölsteuergesetz ausgefüllt. In § 15 Mineralölsteuergesetz war die Ermächtigung des Bundesministers der Finanzen vorgesehen, zur Durchführung des Gesetzes durch Rechtsverordnung das Nähere hinsichtlich (Mineralöl-)Steuerlager und des Entrichtens der Steuer im Regelfall entsprechend § 6 Abs. 1 Mineralölsteuergesetz zu bestimmen. In der Urteilsbegründung führt das Bundesverfassungsgericht aus, das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Gebot der Gesetzesbestimmtheit wolle gewährlei60 BVerfG Beschl. v. 24. 04. 1997-2 BvR 55/97, NJW 1997, 1910, 1910. 61 BVerfG Beschl. v. 20. 05. 1998-2 BvR 1385/95, NJW 1998, 2589, 2590. 62 BVerfG Beschl. v. 04. 05. 1997 - 2 BvR 509/96, NJW 1998, 669, 670 f.; zuvor schon in der Entscheidung v. 03. 11. 1982 - 2 BvL 28/81, BVerfGE 62, 203, 210. 63 Beschl. v. 08. 05. 1974 - 2 BvR 636/72, BVerfGE 37, 201 ff. 64 Die Vorschrift des § 392 RAO lautete wie folgt: „Wer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil eines anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erschleicht oder vorsätzlich bewirkt, daß Steuereinnahmen verkürzt werden, wird wegen Steuerhinterziehung mit den in den einzelnen Gesetzen hierfür angedrohten Strafen bestraft. ( . . . ) "
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sten, daß jedermann vorhersehen könne, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei. Diese Vorhersehbarkeit fehle jedoch, wenn das Gesetz einen Tatbestand zu unbestimmt fasse. Unmaßgeblich sei aber, daß sich die Strafbarkeit nicht aus dem Gesetzeswortlaut der Steuerhinterziehung, sondern erst durch Auslegung des Begriffes der Steuerverkürzung ergebe. Das Strafrecht könne nicht darauf verzichten, „allgemeine Begriffe " zu verwenden, die in besonderem Maße richterlicher Auslegung bedürfen. Der Gesetzgeber wäre andernfalls nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. 65 Der Begriff der Verkürzung von Steuereinnahmen eröffne der Auslegung auch keinen zu weiten Spielraum, weil er in Rechtsprechung und Lehre schon früh feste Konturen erhalten habe. Hierzu verweist das Bundesverfassungsgericht auf eine Entscheidung des Reichsgerichtes.66 Danach habe auch derjenige eine strafbare Steuerverkürzung begangen, der unter Begleitumständen, die sein Verhalten als „steuerunehrlich" erscheinen lassen, die Steuer nicht rechtzeitig bei Fälligkeit entrichte. Dieser Ansicht des Gerichtes kann kaum gefolgt werden. Ob das Strafrecht im übrigen auf die Verwendung „ allgemeiner Begriffe " nicht verzichten könne, mag dahinstehen. Ob diese wohl für weite Bereiche des Strafrechtes entwickelte Formel für das Steuerstrafrecht geeignet erscheint, muß bezweifelt werden. Auf die Besonderheiten der vorliegenden Rechtsmaterie wird zu wenig eingegangen. Es hat eher den Anschein, als ob das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Steuerstrafrechts und sonstiger Strafrechtsgebiete mit zweierlei Maß mißt. 67 Jedenfalls aber ist in die Auslegung des Begriffes einer Steuerverkürzung der gesamte Steuertatbestand hineinzulesen. Anstelle von Argumenten wird in den Urteilsgründen auf eine „einhellige" Meinung verwiesen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Leerformel, denn der Begriff der „ Steuerunehrlichkeit " ist nicht konkreter umschrieben als der Begriff der „Steuerverkürzung so daß nur eine unbestimmte Formel gegen eine andere ausgetauscht wird, ohne zur Erhellung des Tatbestandes beizutragen. Kohlmann geht noch weiter und vertritt die Ansicht, daß der Grundtatbestand „ . . . bewirken, daß Steuereinnahmen verkürzt werden" so weit 65 Diese Ausführungen des Gerichts wurden in der Literatur zum Teil mit wenig Kritik hingenommen, so von der Heide, Isabella, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, S. 47. 66 Urt. ν. 22. 04. 1926 - II 139/26, RGSt 60, 182, 186. 67 Verwiesen sei hier auf die Entscheidung v. 20. 10. 1992 - 1 BvR 698/89, BVerfGE 87, 209, 224. Zur Entscheidung stand die Verletzung von Vorschriften des § 6 Abs. 3 JÖSchG. Streitgegenständlich war ein Videofilm, der aus einer Aneinanderreihung von blutrünstigen Grausamkeiten und Folterungen bestand. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß die in dem Film gezeigten sog. „Zombies" nicht dem Begriff des „Menschen" unterfielen, der an den biologischen Begriff des „Menschen" anknüpfe, somit die Entscheidung der Vorinstanz gegen das Analogie verbot verstieße, da der gesetzliche Tatbestand hinreichend bestimmt sei. Bereits der Wortsinn schließe eine Erstreckung auf der Phantasie entsprungene menschenähnliche Wesen aus.
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gefaßt war, daß sich aus dem Gesetzeswortlaut weder die tatbestandsmäßige Handlung noch das Handlungsobjekt, noch der Taterfolg mit hinreichender Klarheit entnehmen ließ. 6 8 Schon die Rechtsprechung des RG hatte daher versucht, in den Tatbestand das ungeschriebene Merkmal der „Steuerunehrlichkeit" hineinzulesen, um ihm eine größere Bestimmtheit zu verleihen. 6 9 Ob in diesem Rettungsversuch ein Argument für die hinreichende Bestimmtheit des Tatbestandes aufgrund einer „gefestigten" Rechtsprechung liegt, muß sehr bezweifelt werden. In den Augen der Kritiker hat das ungeschriebene Merkmal in den 50 Jahren, in denen § 359 R A O galt, mehr Unsicherheit als Klarheit geschaffen. 70 Sinn erhielt es erst, als die Rechtsprechung hierfür eine finale Handlungsweise forderte, so daß „Steuerunehrlichkeit" mit „Täuschung" gleichgesetzt wurde 7 1 und die Steuerhinterziehung zum Unterfall des Betruges wurde. 7 2 Die Gleichstellung der Steuerhinterziehung mit dem Betrug folgte daraus, daß sich die Rechtsprechung und die Literatur nicht hinreichend mit dem den Blankettatbestand ausfüllenden Steuerrecht auseinandersetzte, sondern auf die überlieferten allgemeinen Prinzipien des Strafrechts vertraute. 73 Nach einer derart buchstabengetreuen Sichtweise sucht man in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes bezogen auf das Steuerstrafrecht hingegen vergebens. 68 Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 370 AO, Rn. 6.1. Die Rechtsprechung des RG interpretierte das „Bewirken " im Sinne des § 359 RAO als „ Verursachen Letztlich war damit jede Handlung, die zu einer Steuerverkürzung führte, eine Steuerhinterziehung, selbst wenn der Finanzbehörde die Steuerschuld bekannt war. Die Vorschrift war somit zu weit geraten. 69 Kritisch zu diesem Merkmal im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG auch Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370, Anm. 6. 70 Kohlmann, Günter, a. a. O. (Fn. 68).
71 Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan/Joecks, § 370 AO, Rn. 106. 72 Diese Fortentwicklung findet sich erst in späteren Urteilen, so in der Entscheidung vom 06. 06. 1973 - 1 StR 82/72, BGHSt 25, 190, 203: Steuerunehrlich handelt, wer durch sein Verhalten die Steuerbehörde über das Bestehen, die Höhe oder die Fälligkeit eines Steueranspruches täuscht, oder wer vorsätzlich bewirkt, daß die Steuerbehörde die Steuerpflicht oder deren Höhe nicht oder nicht rechtzeitig zur Kenntnis nimmt und es deshalb unterläßt, die Steuer rechtzeitig einzufordern. Im Urt. v. 20. 07. 1971 - 1 StR 683/70, BGHSt 24, 178, 182, und im Urt. v. 03. 09. 1970 3 StR 155/69, BGHSt 23, 319, 323, heißt es dagegen noch: Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „ Steuerunehrlichkeit" kennzeichnet lediglich die unredliche Art und Weise der tatbestandsmäßigen Handlung. Es setzt nicht notwendig ein täuschendes Verhalten des Steuerpflichtigen und einen dadurch bewirkten Irrtum der Steuerbehörde voraus. Das Reichsgericht hat dies hingegen bereits bei einem Verschweigen einer Steuerpflicht durch den Steuerpflichtigen bejaht (Urt. v. 21. 03. 1929 - II 854/28, RGSt 63, 95, 99); es müsse aber der Vorsatz hinzutreten, die Steuerbehörde über das Bestehen oder über die Höhe einer Steuerschuld in Unkenntnis zu halten (Urt. v. 13. 05. 1937 - 3 D 243/37, RGSt 71, 216, 217). Aufgrund der Täuschung, die das Merkmal der „Steuerunehrlichkeit" voraussetzt, gleicht die Steuerhinterziehung dem Betrug, vgl. Schneider, Volkmar, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung, S. 112. 73 Hilgers, Brigitte, Täuschung und/oder Unkenntnis der Finanzbehörde - notwendige Voraussetzung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung, S. 30.
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So ist das Merkmal der „Steuerunehrlichkeit" nach wie vor ungeeignet, einem an sich unbestimmten Tatbestand Konturen zu verleihen. Denn weder der Begriff der „Steuerverkürzung" noch der Begriff einer „Steuererheblichkeit", wie er in § 370 Abs. 1 AO 1977 später festgeschrieben wurde, wird hierdurch näher präzisiert. Der Gesetzgeber selbst hatte bei der damaligen Fassung des Tatbestandes offenbar Handlungsbedarf verspürt und umriß den Straftatbestand nunmehr im Entwurf einer Abgabenordnung genauer.74 Versteht man wie hier Art. 103 Abs. 2 GG zugleich als Kompetenznorm, wonach gerade der Gesetzgeber die Entscheidung darüber zu treffen hat, welches Verhalten strafbar ist, so kann es nicht genügen, daß ein Begriff in Rechtsprechung und Literatur feste Konturen gewinnt. In der neueren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht seine Aussagen fortentwickelt und die schwierige Abgrenzung überzeugender gelöst. Nunmehr vertritt es die Ansicht, daß es wegen der „Allgemeinheit und Abstraktheit" von Strafnormen in Grenzfällen zweifelhaft sein könne, ob ein bestimmtes Verhalten noch unter den gesetzlich umrissenen Tatbestand fällt oder nicht. Der Normadressat müsse aber jedenfalls im Regelfall anhand der gesetzlichen Regelung vorhersehen können, ob er sich strafbar macht. In Grenzfällen muß es zumindest für ihn erkennbar sein, daß er sich in den Bereich begibt, der das Risiko einer Bestrafung in sich birgt. 75 Diese Rechtsprechung kann jedoch nicht ohne weiteres auf das Steuerstrafrecht übertragen werden. Zu bedenken ist, daß das Bundesverfassungsgericht diese Aussagen anhand eines Falles einer Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger nach § 180 Abs. 1 StGB entwickelt hat, einem Bereich also, dessen Grenzbereiche der Bürger nicht zu beschreiten braucht. Anders hingegen liegen die Dinge im Steuerrecht, wo jeder rechtschaffene Bürger mehrfach in seinen Steuererklärungen gezwungen ist zu entscheiden, ob er eine höhere Steuer ausweisen oder sich weiter in den Grenzbereich hineinwagen will, um seine Steuerlast zu vermindern. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes BVerfGE 37, 201 ff. erging mit sechs zu zwei Stimmen. Das abweichende Sondervotum 76 führt aus, der gesetzliche Tatbestand des § 9 Mineralölsteuergesetz sei keineswegs so hinreichend bestimmt, daß man ihm unmittelbar entnehmen könne, ob bei Durchbrechen oder Aufhebung der Steueraufsicht Steuerschulden bei Steuerlagern unbedingt werden. Jedenfalls aber fehle die Angabe der konkreten Voraussetzungen. Schon gar nicht lasse sich die Höhe der Steuer aus dem Gesetz selbst entnehmen. Hierzu bedürfe 74 Amtliche Begründung EAO 1974, BT-Drs. VI/1982 S. 193. Hilgers, Brigitte, a. a. O. (Fn. 73), verweist hierauf (S. 194), worin die Bundesregierung zum Ausdruck bringt, daß durch die Neufassung den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG in höherem Maße entsprochen werde. 75 BVerfG Beschl. v. 10. 09. 1992-2 BvR 869/92, NJW 1993, 1911, 1911. 76 Abweichende Meinung der Richter Seuffert und Hirsch zu dem Beschl. v. 08. 05. 1974 2 BvR 636/72, BVerfGE 37, 213, 214. 10*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
es eines Rückgriffes auf die Durchführungsverordnung, die der Senat aber als deklaratorisch hingestellt hat, um deren Bestimmtheit nicht überprüfen zu müssen. Der Senat trifft in der Entscheidung weiterhin Aussagen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er sieht in der Einstufung als Steuerstraftat keinen Verstoß gegen das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Zuordnung als Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeitstatbestand stehe im Ermessen des Gesetzgebers. Das Gericht könne lediglich die Einhaltung der Grenzen dieses Ermessensspielraums überprüfen, nicht hingegen sei es befugt, die Entscheidung des Gesetzgebers daraufhin zu überprüfen, ob er die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe. Dies sei hier nicht zu beanstanden. Art und Höhe der verhängten Strafen verletzen nicht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Prinzip der Schuldangemessenheit. Dies wird von der Senatsmeinung damit gerechtfertigt, daß die Beschwerdeführer nicht wegen eines Verstoßes gegen den Lagerzwang, sondern wegen nicht rechtzeitigen Entrichtens der Steuer verurteilt wurden. Es verwundert nicht, daß das Sondervotum gerade diesen argumentativ schwachen Punkt angreift. Danach liegt dem eine zu formalistische Betrachtungsweise zugrunde. Denn eine Verurteilung wegen Verkürzung einer Steuerschuld, die durch den Verstoß gegen den Lagerzwang entstanden oder fällig geworden sein soll, setzt die Feststellung der rechts wirksamen und dem Art. 103 Abs. 2 GG genügenden Steuervorschrift voraus, aus der sich Bestehen und die Fälligkeit der Steuerschuld für diesen Tatbestand ergibt. Das gleiche gilt für die Feststellung einer Täuschungshandlung. Das Sondervotum hat die besseren Argumente für sich. So hat es den Anschein, als wollte der Senat gerade die entscheidende Frage bewußt ausklammern, um sich den damit ergebenden Folgeproblemen für den Straftatbestand der Steuerhinterziehung und den gesamten Steuerrechtsvorschriften als ausfüllenden Normen zu entziehen. Es ist sicherlich richtig, daß die Anforderungen an ein Gesetz im Hinblick auf die Bestimmtheit nicht übersteigert werden dürfen. Denn die Gesetze würden sonst, wie das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle schon festgestellt hat, „zu starr und kasuistisch und könnten dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalles" nicht gerecht werden. 77 Der Gesetzgeber ist deshalb nicht in der Lage, jeden Straftatbestand bis ins letzte auszuführen. Dies darf aber auch nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß sich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz überhaupt keine Grenzen ausmachen ließen, weil dann das verfassungsrechtliche Gebot leerlaufen würde.
77 Beschl. v. 06. 05. 1987 - 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329, 340 f.
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b) Die Entscheidung BVerfGE
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71, 206ff. vom 03. 12. 1985
Die Entscheidung betrifft den § 353 d Nr. 3 StGB. Sie erging damit zwar nicht zum Steuerstrafrecht, trifft jedoch zur Umgehung von Straftatbeständen Aussagen, die auch für das Steuerstrafrecht von Bedeutung sind. Die Vorschrift stellt verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen unter Strafe. Durch die Einfügung des Merkmals „im Wortlaut" in den gesetzlichen Tatbestand ist die inhaltliche Wiedergabe aus amtlichen Schriftstücken nicht mehr erfaßt. Beabsichtigt war, nur eine solche Berichterstattung unter Strafe zu stellen, die in Wirklichkeit eine Veröffentlichung des Schriftstückes selbst darstellt. 78 Die Zeitschrift „Stern" veröffentlichte in drei Artikeln über die „Flick-Spendenaffäre " Auszüge aus den Protokollen über die Vernehmung eines Beschuldigten und zweier Zeugen. Das Gericht führt aus, daß ein Verhalten, das den tatbestandlichen Voraussetzungen nicht entspricht, straflos bleiben muß, auch wenn hierin eine Umgehung zu sehen sein sollte. Die Möglichkeit einer Umgehung des gesetzlichen Tatbestandes stellt die unumgängliche Folge des Gebotes an den Gesetzgeber dar, den Tatbestand im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG möglichst präzise zu umschreiben. Ein Verhalten, das den tatbestandlichen Voraussetzungen nicht entspricht, bleibt ungeahndet. Dabei ist es Sache des Gesetzgebers, ob er eine andere, möglicherweise bessere oder gerechtere Regelung treffen will. 7 9 Diese Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird in der Literatur weitgehend geteilt. 80 Schon zuvor hatte Tiedemann den Standpunkt vertreten, daß die Gesetzesumgehung wegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht strafbar ist, und den Satz geprägt, daß es eine „Umgehung dieser Verfassungsnorm wäre, wollte man gedanklich jeden Straftatbestand um das Verbot seiner Umgehung ergänzen". 81
c) Der Nichtannahmebeschluß vom 15. 10. 1990 ( Parteispendenverfahren ) Der Kammerentscheidung82 lag ein Fall des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO zugrunde, in dem es um die steuerrechtliche Berücksichtigung von Parteispenden nach § 11 Nr. 5 b KStG in den Veranlagungszeiträumen 1971 bis 1979 ging. Nach den körperschaftssteuerlichen Vorschriften waren Spenden an politische Parteien im Sinne von § 2 PartG nur bis zur Höhe von insgesamt DM 600,- abzugsfähig.
78 Tröndle, Herbert, in: Tröndle /Fischer, Strafgesetzbuch, § 353 d, Rn. 6. 79 Beschl. v. 03. 12. 1985 - 1 BvL 15/84, BVerfGE 71, 206, 217 f. 80 Tröndle, Herbert, in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, § 1, Rn. 10. 81 Tiedemann, Klaus, Strafbare Erschleichung von Investitionszulagen durch Aufhebung und Neuabschluß von Lieferverträgen?, NJW 1980, 1557, 1559. 82 BVerfG Beschl. v. 19. 10. 1990 - 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35, 35.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Das Bundesverfassungsgericht wiederholte hier seine Aussagen über die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Blankettstrafgesetze, wonach sich die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon aufgrund des Gesetzes, auf das Bezug genommen wird, voraussehen lassen müssen. Bei Androhung von Freiheitsstrafe verlange Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, daß der Gesetzgeber mit hinreichender Deutlichkeit selbst bestimme, was strafbar sein solle und mit welcher Strafart und welchem Strafmaß es belegt sei. Die Kammer hält das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot letztlich dennoch nicht für verletzt, weil sich hier die Steuerpflicht und die Besteuerungsgrundlagen unmittelbar aus dem Körperschaftsteuergesetz selbst ergäben. Im übrigen verwies die Kammer darauf, daß nur die Auslegung „spezifischen Verfassungsrechts " Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein könne.
d) Der Nichtannahmebeschluß vom 23. 06. 1994 (Fall „Zwick") Das Bundesverfassungsgericht hatte im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses83 Ausführungen über die Bestimmtheit des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung nach § 370 AO 1977, also der Neufassung, gemacht. Der der Entscheidung zugrundeliegende Fall warf die Frage auf, ob das Vermögen der Eltern des Beschwerdeführers im Rahmen des Beitreibungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer eine steuerlich erhebliche Tatsache für das Steuerbeitreibungsverfahren darstellt. Das Bundesverfassungsgericht verwies auf die bereits oben dargestellte Entscheidung in BVerfGE 37, 201 ff. und vertrat aufgrund eines „erst-recht„-Schlusses die Rechtsauffassung, daß die Neufassung durch ihre aus sich heraus verständlichen Begriffe der „steuerlich erheblichen Tatsachen " und der „Steuervorteile " um so weniger zweifelhaft sein könne, wenn schon der Begriff der „Steuerverkürzung" nach § 392 RAO den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen der Art. 103 Abs. 2 und 104 Abs. 1 GG entspreche. Das Bundesverfassungsgericht ging offenbar von der Annahme aus, daß mit der Neufassung alle verfassungsrechtlichen Mängel beseitigt wurden. Diese Ansicht ist, wie noch zu zeigen sein wird, nicht zu Unrecht bestritten.
e) Kritische Auseinandersetzung Das Bundesverfassungsgericht hat nur selten eine Norm wegen Verstößen gegen das Bestimmtheitsgebot für verfassungswidrig erklärt. 84 Die Handhabung des Be83 BVerfG Beschl. v. 23. 06. 1994 - 2 BvR 1084/94, NJW 1995, 1883 ff. 84
Erstmals geschah dies mit der Entscheidung zu § 15 Abs. 2 a Fernmeldeanlagengesetz a. F. Siehe Beschl. v. 22. 06. 1988 - 2 BvR 234/87, 2 BvR 1154/86, BVerfGE 78, 374, 374 ff.
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stimmtheitsgebotes muß als apodiktisch bezeichnet werden. 85 Sie ist durch immer wiederkehrende allgemeine Formeln gekennzeichnet, die zum Ausloten der Tragweite des Bestimmtheitsgebotes wenig beitragen. Ein Auftrag an den Gesetzgeber und eine Beschränkung der übrigen Gewalten ist tatsächlich nicht zu erkennen. Dem Bundesverfassungsgericht wird vom Schrifttum nicht ohne Grund vorgeworfen, daß sich aus seiner Rechtsprechung keine Kriterien für die Bestimmtheit des Bestimmtheitsgebotes gewinnen lassen.86 Das Vorliegen strafrechtlicher Judikatur ist nicht geeignet, das Fehlen von Entscheidungen des Gesetzgebers bei Abfassen der Norm zu kompensieren. 87 Denn es ist gerade das Ziel des Bestimmtheitsgebotes, daß die Norm von sich heraus verständlich ist und nicht erst eines Rückgriffes auf die einzelfallbezogene Judikatur bedarf. Der Bestimmtheitsgrundsatz enthält eine rechtsstaatliche Komponente, die die Freiheit des Bürgers vor staatlicher Willkür schützen will 8 8 . Deshalb kann auch das Vorliegen höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht genügen, um eine Bestimmtheitsprüfung im Ergebnis zu bejahen. Hinzu kommt, daß hinter Art. 103 Abs. 2 GG letztlich auch als zweite Komponente der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip steht, wonach das Parlament als das am unmittelbarsten demokratisch legitimierte Organ die Umschreibung eines Straftatbestandes liefern soll. Dem Gesetzgeber obliegt die primäre Entscheidung über die Strafbarkeit eines Sachverhaltes. Gegen dieses Gebot der primären Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers wird verstoßen, wenn das Risiko einer Strafbarkeit erst aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, zum Teil gar bezogen auf dasselbe Merkmal einer anderen Norm, ersichtlich ist. Es genügt nicht, eine unbestimmte Norm durch eine gefestigte Rechtsprechung zu präzisieren. Denn Präjudizien sind kein Gesetzesrecht, sie sind nicht allgemein verbindlich, sondern gelten nur inter partes. 89 Sie stellen damit kein Gesetz im Sinne des Gebotes „ nulla poena sine lege " dar. 90 Es fragt sich weiter, ob es genügen kann, wenn nur das bloße Risiko einer Bestrafung erkennbar ist. Soweit ersichtlich ist die Rechtslage in weiten Teilen des Steuerrechts für Steuerpflichtigen wie Finanzbehörden unklar und erst nach langjährigen Rechtsbehelfsverfahren zu klären. Der Staat greift mit seiner Strafverfol85 86
Kunig, Philip, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 27. Graute, Johannes, Zum Veijährungsbeginn bei der vorsätzlichen Steuerhinterziehung,
S. 60. 8
? Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 48. Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 69. 89 Präjudizien haben keinen eigenen Rechtsquellenwert, sondern nur präsumtive Verbindlichkeit. Zur Bedeutung ausführlich: Esser, Josef, Vorverständnis und Methoden wähl in der Rechtsfindung, S. 188. 90 In diesem Sinne Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 37 und 141 f. 88
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
gung von Straftaten in Freiheitsrechte der Bürger ein, um deren Verhalten zu lenken und sie von unerwünschten Verhaltensweisen abzuhalten. Ein Strafrecht dagegen, das dem Bürger nicht zu erkennen geben mag, welches Verhalten er zeigen und welches Verhalten er unterlassen soll, verstößt gegen den Grundsatz der Erforderlichkeit, zumindest aber gegen die Verhältnismäßigkeit der Mittel i. e. S. Denn es begrenzt den Bereich des verbotenen Tuns nicht auf das Notwendige. Der Bürger kann Freiräume nicht nutzen, weil es an Rechtsklarheit mangelt. Jedenfalls aber müssen Strafbarkeitslücken gegebenenfalls hingenommen werden, um die Freiheit des Einzelnen durch zu weite Tatbestände nicht über Gebühr zu beschränken. Es ist schwer zu rechtfertigen, daß Schwere der Strafdrohung und Bestimmtheit in einem Wechselspiel dergestalt stehen, daß schwerere Strafen ein höheres Maß an Bestimmtheit erfordern. 91 Mit guten Gründen läßt sich vertreten, daß das Grundgesetz stets das erforderliche Maß an Bestimmtheit verlangt, ohne eine weitere Differenzierung zu treffen. Denn die Kriminalisierung eines Verhaltens ist ein so schwerer Eingriff in die Sphäre des Betroffenen, daß es einen gelockerten Maßstab für Vergehen und damit auch für Steuerstraftaten nicht geben kann. Schon gar nicht kann sich der Steuergesetzgeber durch die Verweisung innerhalb der Blankettnorm auf das Steuergesetz den Bestimmtheitsanforderungen der Verfassung entziehen. Die Gegenauffassung ist nicht haltbar. Danach wäre der einfache Gesetzgeber mit Hilfe der Verweisungstechnik in der Lage, Verfassungsrecht außer Kraft zu setzen.
3. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
Der BGH hat zum vorliegenden Problem in der Entscheidung vom 16. 05. 1984 Stellung genommen.92 Zugrunde lag ein Fall, in dem beitretende Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft ihren während des laufenden Wirtschaftsjahres vollzogenen Beitritt mit Rückbeziehung auf den Beginn des Jahres vereinbart haben. Dies ist zivilrechtlich ohne Bedenken zulässig. Für die steuerliche Behandlung wurden die Beitrittserklärungen jedoch auf den Jahresanfang rückdatiert und so gegenüber dem Finanzamt in der Steuererklärung angegeben. Hinsichtlich der Bestimmtheit des § 370 AO verweist der BGH weitestgehend auf die oben bezeichnete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Er hält unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebotes eine gesetzliche Regelung darüber nicht für erforderlich, ob und inwieweit eine Vereinbarung einer rückwirkenden Gewinn- oder Verlustverteilung den Steueranspruch beeinflußt. Dies stelle eine Einzelfrage der Rechtsauslegung dar, die Sache der Rechtsprechung sei. Auch sei die Problematik dem Grundsatz nach schon vor der Tat durch die Rechtspre91 Kunig, Philip, in: von Münch /Kunig, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 29. 92 BGH Urt. v. 16.05. 1984 - 2 StR 525/83, NStZ 1984, 510, 511.
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chung des BFH konkretisiert worden, und lediglich die Detailfrage der Reichweite sei durch die neuere ßF/i-Rechtsprechung nach Begehung der Tat geklärt worden. Die Ansicht des BGH ist von erheblichen Zweifeln begleitet. Die Frage der steuerlichen Anerkennung von rückbezogenen Verträgen, die im Zivilrecht volle Anerkennung finden, ist eine zentrale Frage des Steuerrechts und der steuerlichen Gestaltung. Die Behauptung, es handele sich um eine Detailfrage, mag nicht so recht überzeugen. Die Unterscheidung zwischen grundsätzlicher Entscheidung und Ausloten der Reichweite scheint kaum durchführbar. Für den vorliegenden Fall war gerade dieser Punkt maßgeblich. Sieht man es wie das Bundesverfassungsgericht als zulässig an, daß ein zunächst unbestimmter Gesetzestatbestand durch die Rechtsprechung konkretisiert werden kann, so verschwimmen die Grenzen der Bestimmtheit immer mehr, wenn auch die Rechtsprechung nur im Grundsatz zu entscheiden braucht und die Reichweite, welche gerade die Vorhersehbarkeit für den Steuerpflichtigen ausmacht, ad hoc entschieden wird. Für den Steuerpflichtigen wird die Vorhersehbarkeit der Tatbestandsbegehung fragwürdig, wenn erst nach seiner erstinstanzlichen strafrechtlichen Verurteilung der BFH einen bestehenden, hier streitentscheidenden Meinungsstreit klärt. 93 Im zweiten Parteispenden-Uvit'ü vom 19. 12. 1990 hat der BGH 94 unter Hinweis auf die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 10. 199095 erneut bestätigt, daß nach seiner Auffassung Art. 103 Abs. 2 GG durch § 370 AO als Blankettgesetz gewahrt bleibe, ohne daß er eine weitere Begründung für erforderlich hielte.
4. Meinungsstand in der Literatur
Nach wohl überwiegender Auffassung kann und darf der Steuerpflichtige seine steuerlichen Verhältnisse so gestalten, daß sich seine steuerliche Belastung minimiert. 96 Uneinigkeit herrscht jedoch im Grenzbereich der Steuertatbestände vor. Die Einschätzung des Verhaltens von Steuerpflichtigen im Grenzbereich löst jedoch eine Kontroverse aus. Für einen Teil der Literatur bestehen hinsichtlich der Bestimmtheit des Tatbestandes der Steuerhinterziehung keine durchgreifenden Bedenken.97 Man geht davon aus, daß materielles Steuerrecht und Steuerstrafrecht übereinstimmen, somit 93
Mit Recht hiergegen Streck, Michael, Anmerkung zum BGH-Urteil vom 16. 05. 1984, NStZ 1984,512,513, der das Urteil mit Recht als „anstößig" bezeichnet. Im Ergebnis zustimmend: Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 41 f., der es für maßgeblich hält, ob eine vomBGH gewählte Auslegung für den Normadressaten objektiv vorhersehbar war. 94 Urt. v. 19. 12. 1990 - 3 StR 90/90, BGHSt 37, 266, 266. 9 5 BVerfG Beschl. v. 15. 10. 1990 - 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35, 35. 9 6 M. w. N. siehe Meine, Hans-Gerd, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, wistra 1992, 81, 81.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
die Verkürzung aller Steuertatbestände zur Strafbarkeit führen kann. Es sei dagegen nicht möglich, in der Abgabenordnung sämtliche Formen delinquenten Verhaltens aufzuführen. Die Ausgestaltung als Blankettstraftatbestand hingegen sei nicht zu beanstanden, weil der Tatbestand der Steuerhinterziehung durch Lehre und Rechtsprechung früh Konturen erlangt habe und durch das Inkrafttreten der Abgabenordnung 1977 eine weitere Präzisierung erfolgt sei. 98 Demgegenüber wird von einigen Vertretern der Wissenschaft die Ansicht geäußert, daß nur ein Teil des Steuerrechts, auf das der Steuerhinterziehungstatbestand verweist, strafrechtlich relevant sei. Wegen der Komplexität des Steuerrechts könne nur ein Kernbereich des Steuerrechts im Steuerstrafrecht geschützt werden, 99 weil hinsichtlich des übrigen Normenbestandes der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG betroffen sei. Eine Lösung, die statt dessen den subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung verneint, wie sie von Teilen der Strafrechtslehre unter Anwendung verschiedener Irrtumslehren favorisiert wird, kann der Problematik oftmals nicht gerecht werden. Es ist schon der objektive Tatbestand weitgehend einzugrenzen, um den Steuerbürger vor rechtsstaatswidriger Verfolgung zu schützen. Es ist das Verdienst Schulze-Osterlohs, 100 die Frage aufgeworfen zu haben, ob das Steuerstrafrecht in seinen objektiven Tatbeständen der steuerlichen Interpretation zwingend zu folgen hat oder ob insoweit der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz und das Analogieverbot Abweichungen erfordern. Da der steuerrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz im Gegensatz zum strafrechtlichen nur geringere Anforderungen stellt, ergeben sich zwei denkbare Alternativen: Entweder das Steuerrecht unterwirft sich den strengeren Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes und des Analogieverbotes 101 oder es muß eine „Normspaltung" in Kauf genommen werden, wonach steuerliche Tatbestände für das Besteuerungsverfahren anders ausgelegt werden müssen als für das Steuerstrafrecht. 102
97
Statt vieler Joecks, Wolfgang, in: Franzen / Gast-de Haan/Joecks, Steuerstrafrecht, §369 AO, Rn. 21. 98 Seckel, Carola, Die Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977), S. 42. 99 Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 643. 100 Schulze-Osterloh, Joachim, Unbestimmtes Steuerrecht und strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, S. 45 f. 101 Dies fordert Kirchhof, Paul, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Steuergesetzgebung, Stbg 1997, 193,198. 102 Schulze-Osterloh, Joachim, a. a. O. (Fn. 100), S. 50; Dannecker, Gerhard, Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bedeutung der Grundsätze „nullum crimen sine lege" und „ne bis in idem" für das Wirtschaftsstraf- und Wirtschaftsordnungswidrigkeitenrecht, Rivista trimestrale di diritto penale dell'economia, 1990, S. 449, 451. zustimmend Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 32; im Ergebnis ebenso Kohlmann, Günter / Hilgers-Klautzsch, Brigitte, Bestrafung wegen Hinterziehung verfassungswidriger Steuern, Stbg 1998, 485, 490. Teilweise
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Der erste Weg dürfte kaum praktikabel sein, da er zu weitgehende Einschränkungen der Besteuerung nach sich ziehen würde. 103 Die strafrechtliche Bewehrung reflektiert nicht auf die Besteuerung zurück, so daß deren Rechtscharakter geändert würde. 104 Die steuerliche Tatbestandsmäßigkeit entspricht, wie oben gezeigt, nicht der Schärfe des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes, so daß die Unterscheidung durchaus zum Tragen kommt. Der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz macht nämlich nur Sinn, soweit er strikter gehandhabt wird als der schwächer ausgestattete steuerliche Bestimmtheitsgrundsatz. Andernfalls würde er inhaltlich leerlaufen. Dementsprechend fordert zu Recht auch Tipke, 105 im Steuerstrafrecht das materielle Steuerrecht strikt seinem Wortlaut gemäß auszulegen. Davon zu trennen ist die Frage, ob nicht aus der Verweisungstechnik des Blankettatbestandes heraus ein Auftrag an den Gesetzgebers folgt, bei der Gesetzgebungstätigkeit die steuerstrafrechtliche Seite im Auge zu behalten, so daß die „Normspaltung " möglichst gering gehalten wird. Mit anderen Worten: es ist dem Gesetzgeber aufzuerlegen, seine Steuergesetze so bestimmt als möglich zu fassen, um den steuerstrafrechtlich nicht geschützten Bereich des Steuerrechts klein zu halten. Dieses Postulat wird aus dem Gebot der gerechten Lastenverteilung und der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu folgern sein, welches letztlich keine Vollzugsdefizite hinnehmen kann, will es nicht die Rechtsanwendungsgleichheit aufgeben. Diese Rechtsanwendungsgleichheit ist ihrerseits aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes zum Zinsurteil abzuleiten, auf die an späterer Stelle noch einzugehen sein wird. 1 0 6 . Deshalb kann der Ansicht, wonach der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz keine Auswirkung auf das vorgelagerte Recht haben kann, nur bedingt zugestimmt werden, 107 weil diese verkennt, daß der Steuerstaat auch für eine gleichmäßige Durchsetzung seiner Besteuerung verantwortlich ist, welche sich aufgrund des Steuerwiderstandes der Bürger aber nur durch eine strafrechtliche Bewehrung durchführen läßt. Das Zinsurteil fordert mit Recht, daß es nicht im Belieben des Steuerpflichtigen stehen kann, eine Steuer zu bezahlen oder nicht.
findet sich in der Literatur auch der Begriff „Normambivalenz" für die vorliegende Problematik, vgl. Nippoldt, Rolf, Die Strafbarkeit von Umgehungshandlungen, S. 78. 103 Der BGH hat dies an anderer Stelle bei § 1 ZugabeVO abgelehnt: Urt. v. 24. 02. 1978 I ZR 79/76, BGH NJW 1978, 1856, 1857, denn die Ausfüllungstatbestände sind nicht in ihrem eigenständigen Anwendungsbereich nach strafrechtlichen Regeln auszulegen. 104 Herschel, Wilhelm, Zivilrechtliche Bedeutung des strafrechtlichen Analogieverbotes, NJW 1968, 533, 534. 105 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. ΠΙ, S. 1415 f. 106 Beschl. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, 271. Siehe unten, Viertes Kapitel: § 6B „Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte" auf S. 364 ff. 107 So aber Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 32.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Mag sein, daß anfängliche Unklarheit und Unbestimmtheit zum Wesen des Rechts gehören, bis sich die Konturen einer Vorschrift durch Anwendung und Rechtsprechung abzeichnen. Für die strafrechtliche Beurteilung hat Art. 103 Abs. 2 GG jedoch eine Entscheidung dahingehend getroffen, daß Unklarheiten bis zu ihrer Klärung durch eine gefestigte Rechtsprechung nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen gehen können. Überzogene Anforderungen liegen deshalb nicht vor. Die so vertretene Lösung begegnet freilich dem Einwand, daß zwar die Grenze der Strafbarkeit verschoben wird, die Rechtsfindung aber nunmehr dadurch erschwert wird, daß sich eine Trennung von Kern- und Randbereich nur schwerlich wird ziehen lassen.108 Auch diese Trennung müßte jedoch für den Steuerpflichtigen voraussehbar und berechenbar sein. 109 Die Bindung an die Wortlautgrenze führt aber dennoch zu einer schärferen Trennung, als sie bei der von der Gegenauffassung bedenkenlos hingenommenen Grauzone möglich ist, innerhalb der das Risiko der Rechtsunsicherheit dem Steuerpflichtigen auferlegt wird. Im Ergebnis führt die hier vertretene Ansicht dazu, daß nicht alle Steueransprüche durch das Strafrecht geschützt sind. Unrichtig ist es dagegen, daß auch Steueransprüche geschützt würden, die nicht existierten. 110 Tipke m schlägt vor, sich hieraus ergebende Lücken des Strafrechtsschutzes durch den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit der Steuergefährdung nach § 379 AO zu schließen. Dies erscheint nicht folgerichtig, weil in gleicher Weise das Ordnungswidrigkeitenrecht an das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG gebunden ist. 1 1 2
5. Inkurs: Besondere Verfassungsfragen hinsichtlich des vorgelagerten Rechts
a) Finanzmeinungen als Bestimmungsfaktor aa) Verwaltungsvorschriften, insbesondere Steuerrichtlinien als vorgelagerte Normen als Gesetz im materiellen Sinne Verwaltungsvorschriften treten im Steuerrecht in Form von Erlassen, Verwaltungsanordnungen und Verfügungen der Oberfinanzdirektionen auf. Dabei handelt es sich um behördeninterne, für eine Vielzahl von Fällen vorgesehene Regelungen 108
Beck, Günther, Die Bedeutung der Wahlrechte des materiellen Steuerrechts für die Steuerverkürzung nach § 370 Abs. 4 AO, S. 78. 109 Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 643. 110 So aber Joecks, Wolfgang, in: Franzen / Gast-de Haan /Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 AO, Rn. 140, ohne daß ersichtlich wäre, wie bei einer engeren Auslegung des materiellen Steuerrechts für Zwecke des Steuerstrafrechts ein solcher Fall eintreten sollte. m Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1416. Π2 Beschl. v. 04. 02. 1975 - 2 BvL 5/74, BVerfGE 38, 348, 371; Beschl. v. 23. 10. 1985 1 BvR 1053/82, BVerfGE 71, 108, 114. Für das Schrifttum: Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 103, Rn. 52.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
157
gegenüber nachgeordneten Behörden. Unter diesen Begriff fallen auch die Steuerrichtlinien, deren verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 108 Abs. 7 GG zu finden ist. Sie dienen vor allem einer gleichmäßigen Gesetzesanwendung, somit letztlich der steuerlichen Belastungsgleichheit.113 Den Verwaltungsvorschriften kommt im Steuerrecht eine immense Bedeutung zu, da sie häufig Steuergesetze erst praktikabel machen, ja eine „ Gesetzesverdrängung" im Steuerrecht darstellen. 114 Der Grund hierfür liegt in der Hektik der heutigen Steuergesetzgebung. Hinzu kommt, daß der Steuergesetzgeber die Lösung vieler Probleme, die mit einer Neuregelung verbunden sind, der Praxis überläßt. Da über prekäre Fragen im Gesetzgebungsorgan nur schwerlich kurzfristig eine Einigung zu erzielen ist, ohne einzelne Interessengruppen und damit Wählerstimmen zu verprellen, werden bewußt „faule" Kompromisse gewählt, die in der Praxis der Finanzverwaltung gar nicht angewandt werden können. Bei der Klärung dieser Fragen ist die Finanzverwaltung jedoch bisweilen der Versuchung erlegen, Steuergesetze in ihrem Sinne auszulegen. Dies mag bei neuen, höchstrichterlich noch nicht entschiedenen Fragen angehen. Bei feststehender Rechtsprechung hält sich der Fiskus jedoch in vielen Fällen ebenso für berechtigt, im Wege eines Nichtanwendungserlasses eigene Wege zu gehen. In weiten Teilen des Steuerrechts wird die Finanz Verwaltung zu einem „Quasi-Steuergesetzgeberworin eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes und ein Eingriff in die Befugnisse der Legislative zu sehen ist. 1 1 5 Verwaltungsvorschriften haben keine unmittelbare Außenwirkung, sind daher nicht für den Steuerpflichtigen bestimmt und besitzen damit nicht den Charakter von Gesetzen und Rechtsnormen. 116 Es begegnet demzufolge erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn gefordert wird, der Steuerpflichtige habe bei Abgabe seiner Steuererklärung die Steuerrichtlinien zugrundezulegen. Denn es fragt sich, ob Steuerrichtlinien Gesetze i. S. v. Art. 103 Abs. 2 GG sind. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes unterscheidet drei Arten von Verwaltungsvorschriften: zum ersten norminterpretierende Verwaltungsanweisungen, von denen im folgenden die Rede sein soll, zum zweiten Typisierungsvorschriften, auf die später noch zurückzukommen sein wird, 1 1 7 und schließlich zum dritten das Ermessen der Finanzverwaltung bindende Richtlinien und Erlasse. So hat das Gericht entschieden, daß ein schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen nicht auf allgemeinen Verwaltungsvorschriften, insbesondere norminterpretierenden Verwaltungsanweisungen geschaffen werden kann. Denn diese stünden unter dem zumin113 Siekmann, Helmut, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 108 GG, Rn. 39. n 4 Hoepffner, Klaus J., Gesetzesverdrängung durch Verwaltungshandeln im Steuerrecht, S. 150. us Ähnlich BFH Urt. v. 21. 02. 1990 - X R 174/87, BStBl I I 1990, 578, 579.
U6 Zum Streitstand: Hoepffner, Klaus J., Gesetzesverdrängung durch Verwaltungshandeln im Steuerrecht, S. 154 ff. 117 Hierzu unten: Viertes Kapitel: § 3B „Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht" auf S. 301 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
dest konkludenten Vorbehalt einer anderen Auslegung durch die Rechtsprechung. 118 Die Gerichte sind hieran folglich nicht gebunden. Haben diese also nicht zu Gunsten des Steuerpflichtigen eine Vertrauensschutz entfaltende Wirkung, so ist nicht nachzuvollziehen, warum sie ihm strafrechtlich zu seinem Vorwurf gereichen können, wenn er von diesen abgewichen ist. So bezwecken sie keine Bindung für das Strafverfahren. Vielmehr dienen sie der Vereinheitlichung des Gesetzesvollzuges und der Rationalisierung des Verwaltungsarbeit. 119 Für die Steuergerichte hat der Bundesfinanzhof ausgesprochen, daß diese nur an Gesetz und Recht gebunden sind und deshalb allgemeine Verwaltungsanweisungen nicht in gleicher Weise wie Gesetze handhaben, insbesondere nach den dafür maßgeblichen Kriterien auslegen dürfen. 120 Die Berücksichtigung von Verwaltungsvorschriften im Steuerstrafverfahren steht in Konflikt mit Art. 103 Abs. 2 GG. 1 2 1 Art 103 Abs. 2 GG nämlich verlangt für die Bestimmtheit eines Straftatbestandes ein förmliches, parlamentarisches Gesetz. 122 VerwaltungsVorschriften genügen diesem Anspruch nicht. Möchte man dieser Auffassung nicht folgen, so ergibt sich jedenfalls aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG das Erfordernis eines förmlichen Parlamentsgesetzes, da der Straftatbestand der Steuerhinterziehung neben Geldstrafe auch Freiheitsstrafe androht. 123 Dies läßt sich aus dem eindeutigen Wortlaut „aufgrund eines förmlichen Gesetzes" des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ableiten. Verwaltungsvorschriften können daher für die steuerstrafrechtliche Beurteilung keine Inhalte über das hinaus regeln, was nicht ohnehin schon im Gesetz steht und dort im Wege der Auslegung unter Beachtung der Grenze des Wortsinns gewonnen werden kann. Anknüpfungspunkt für eine Strafe ist demzufolge das Gesetz selbst in seiner zwingenden Auslegung. Sind mehrere Auslegungsergebnisse methodisch zulässig, so ist das Gesetz unbestimmt, weil die Verwaltungsvorschriften als ausfüllende Vorschriften eines Blankettatbestandes nicht dazu herangezogen werden können, ein (lückenhaftes) förmliches Parlamentsgesetz zu ersetzen. Aus einer Zusammenschau der Art. 92, 97, 103 Abs. 2 und 104 Abs. 1 S. 1 GG ergibt sich weiterhin, daß die Verhängung von Strafen Ausübung rechtsprechender Gewalt ist, die ausschließlich dem Richter vorbehalten bleiben muß. 1 2 4 Verwaltungsvorschriften erweisen sich damit als Anmaßung richterlicher Befugnisse. us BFH Urt. v. 31. 10. 1990 - I R 3/86, BStBl I I 1991, 610, 610. Siehe auch Urt. v. 18. 03. 1987 - H R 135/84, BFH/NV 1988, 393, 394. 119
Ossenbühl, Fritz, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee /Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts d. Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Das Handeln des Staates, § 65, Rn. 18 und 56. 120 Urt. v. 07. 02. 1985 - IV R 56/82, BFH/NV 1986, 664, 665. 121 Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 38. 122 Bornheim, Wolfgang / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 246. 123 So auch die überwiegende Meinung, statt vieler Weidenbach, Peter, Die verfassungsrechtliche Problematik der Blankettgesetze, S. 50.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
159
Eine bloße Verwaltungsübung schließlich trägt außerdem keine Strafschärfung. 125 Da aus Verwaltungsübungen nicht ohne weiteres auf das geltende Recht geschlossen werden kann, wird durch sie infolgedessen keine gesetzliche Bestimmtheit begründet. 126
bb) Steuerverkürzung bei Abweichung von der Finanzmeinung ( 1) Bestandsaufnahme Mit der Frage der Bindung des Steuerpflichtigen an Steuerrichtlinien eng verknüpft ist die Frage, ob der Steuerpflichtige gehalten ist, ein Abweichen von der in der Regel in den Steuerrichtlinien, Erlassen der Finanzministerien und Verfügungen der Oberfinanzdirektionen niedergelegten Finanzmeinung offenzulegen. Diese Frage wird kontrovers diskutiert. 127 Höchstrichterliche Rechtsprechung findet man zu dieser Frage erstmals im Urteil des BGH vom 10. 11. 1999. 128 Der BGH stellt in wenigen kurzen Sätzen dar, daß wegen der Formalisierung der Steuererklärungen nach § 150 Abs. 1 AO sich die Angaben gegenüber dem Finanzamt in der Wiedergabe quanitifizierbarer Beträge ohne Sachverhaltsschilderung erschöpfen. Eine Offenbarungspflicht treffe den Steuerpflichtigen aber dann, wenn die von ihm vertretene Rechtsauffassung über die Auslegung von Rechtsbegriffen oder die Subsumtion bestimmter Tatsachen von Rechtsprechung, Richtlinien der Finanzverwaltung oder der regelmäßigen Veranlagungspraxis abweicht. Die Literatur vermochte eine solche Verpflichtung, bei Abgabe der Steuererklärung die Richtlinien der Finanzverwaltung und die Rechtsprechung des BFH heranzuziehen, aus der Abgabenordnung nicht zu erkennen. 129 Die Finanzbehörden ihrerseits fühlen sich an höchstrichterliche Urteile nicht gebunden. Soweit sie der Rechtsprechung folgen, veröffentlichen sie im Bundessteuerblatt die Entscheidung. Andernfalls verfügen sie einen Nichtanwendungserlaß. Es ist daher zu untersuchen, inwieweit die Finanzbehörden an eine höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden sind. Von der Beantwortung dieser Frage ist Aufschluß über die Bindung des Steuerpflichtigen an die Finanzmeinung und die höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten.
124
Kohlmann, Günter, Steuerverwaltungsvorschriften und Steuerstrafrecht, DStJG Bd. 5, S. 301, 313. 125 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1416. 1 26 Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht, S. 134. 1 27 Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 49 m. w. N. 1 28 BGH Urt. v. 10. 11. 1999 - 5 StR 221/99, wistra 2000, 137, 139. 1 29 Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 82.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
(2) Anerkannte Bindungen an höchstrichterliche
Entscheidungen
Als anerkannte Fälle einer Bindung an höchstrichterliche Urteile sind zu nennen: Die Staatsanwaltschaft ist im Rahmen der Anklageerhebung seit einer Entscheidung des BGH 130 vom 23. 09. 1960 an eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden. Danach hat der Staatsanwalt nicht lediglich der eigenen Rechtsüberzeugung zu folgen, sondern die für das gemeine Wohl notwendigen Grundsätze der Rechtseinheit und Gleichheit zu beachten. Dabei soll die Strafverfolgung nicht vom zufälligen Tat- und Ergreifungsort des Täters und der Rechtsmeinung der dort zuständigen Staatsanwaltschaft abhängen. Dem Staatsanwalt steht es nicht zu, die Prüfung von Rechtszweifeln dem Gericht vorzuenthalten. Bezogen ist diese Bindung zunächst auf die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen. Entsprechendes gilt auch für die Bußgeld- und Strafsachenstelle des Finanzamtes, soweit sie Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnimmt. Zu berücksichtigen ist aber, daß die Anklageerhebung nicht mit der Entscheidungsfindung gleichzusetzen ist. Eine Fortentwicklung des Rechts soll nicht durch die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft, sondern durch den Richter in einem förmlichen rechtsstaatlichen Verfahren gefunden werden. Aufgrund ihres Anklagemonopols könnte die Staatsanwaltschaft dadurch die spätere Entscheidungsfindung des Gerichts ausschließen, indem sie nämlich erst gar nicht Anklage erhebt. Mit Recht wurde aber darauf hingewiesen, daß dieses Argument nur bei einer Abweichung zugunsten des Täters ζ. B. bei Einstellung des Verfahrens greifen kann, weil bei einer Abweichung zuungunsten gerade die Entscheidung des Gerichts angerufen wird. 1 3 1 Allerdings setzt dies in bestimmten Fällen ein Handeln des Steuerpflichtigen voraus, beispielsweise ein Einspruchsverfahren gegen einen Strafbefehl. Weiter wäre zu fragen, ob die Bindung auch gegenüber einem anderen Zweig der Gerichtsbarkeit, hier der Finanzgerichtsbarkeit bejaht werden kann. Der Finanzbehörde folgend ermittelt das Finanzgericht nicht nur wie die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt, sondern trifft anschließend seine Entscheidung. Wer generell eine Präjudizialität des Besteuerungsverfahrens für das Strafverfahren verneint, wird dies auch hier tun müssen.132 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß auch im Bereich der Amtshaftung eine Bindung an höchstrichterliche Judikatur angenommen wird. 1 3 3
130 Urt. v. 23. 09. 1960 - 3 StR 28/60, BGHSt 15, 155, 159 f. 131 Buhs, Oliver, Die allgemeine Bindung der Finanz Verwaltung an die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, S. 109. 132 Vgl. zur Problematik unten: Viertes Kapitel: § 4 „Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem" auf S. 317 ff. 133 Hinsichtlich der Einzelheiten wird verwiesen auf Buhs, Oliver, a. a. O. (Fn.131), S. 111.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
161
Zu fragen ist nun, ob der Steuerpflichtige einer Bindung an eine Finanzmeinung unterliegt. (3) Die Befürworter
einer Bindung
Nach einer Ansicht sei eine Bindung an die Meinung der Finanzverwaltung zu bejahen. So folge hieraus eine Verpflichtung des Steuerpflichtigen, auf jede Abweichung hinzuweisen, damit die Finanzverwaltung in die Lage versetzt wird, im konkreten Fall zu überprüfen, ob sie den Steuerrichtlinien folgen oder ob sie gegebenenfalls aus den Besonderheiten des Einzelfalles eine andere Beurteilung vornehmen wolle. Denn die überlasteten Finanzämter könnten nicht von sich aus kontrollieren, ob sämtliche in den eingereichten Steuererklärungen enthaltenen Angaben richtig seien. Diese Ansicht wird vom BGH geteilt. 134 Nach anderer Ansicht soll der Steuerpflichtige jedenfalls an die von der Rechtsprechung des BFH vertretene Interpretation einer Vorschrift gebunden sein. Häufig ungeklärt bleibt, welcher Auslegung der Steuerpflichtige zu folgen hat, wenn Finanzverwaltung und höchstrichterliche Finanzrechtsprechung eine unterschiedliche Sicht der Dinge besitzen. Es fragt sich, ob der Steuerpflichtige in der Steuererklärung sich die jeweils günstigere Auslegung zu eigen machen darf. (4) Die Gegner einer Bindung Nach der Gegenauffassung hat der Steuerpflichtige die Steuererklärung „nach besten Wissen und Gewissen" abzugeben. Hierzu genügt es, wenn er eine vertretbare Rechtsauffassung seiner Steuererklärung zugrundelegt. Auch ist zu berücksichtigen, daß sich die Steuerrichtlinien in der Regel einer gewandelten Rechtsprechung anpassen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein Steuerpflichtiger, der eine spätere Rechtsprechungsänderung vorwegnimmt, die sich als geronnene Erkenntnis in den darauffolgenden Änderungen der Steuerrichtlinien niederschlägt, für seine „abweichende" Rechtsauffassung bestraft werden sollte. 135 Zum Teil wird jedoch verlangt, daß der Steuerpflichtige seine abweichende Rechtsauffassung in der Steuererklärung kenntlich macht. Dies kann durch beigefügte Erläuterungen oder Sachverhaltsdarstellungen geschehen,136 dürfte bei umfangreichen Erklärungen, namentlich bei größeren Unternehmen und Konzernen jedoch kaum praktikabel sein. Sie ist auch nicht durch den Gesetzes Wortlaut gedeckt, wonach der Steuerpflichtige nur gehalten ist, „Tatsachen" richtig und vollständig mitzuteilen. 134 Urt. v. 19. 12. 1990 - 3 StR 90/90, BGHSt 37, 266, 266 ff. 135
Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 36. 1 36 Irrgang, Werner, Steuerhinterziehung durch Abweichung von der Auffassung der Finanzverwaltung oder höchstrichterlicher Rechtsprechung?, DB 1988, 781, 782. 11 Röckl
162
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
(5) Vergleich mit einer Bindung an höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Die Frage einer Bindung an die Finanzmeinung ist eng verknüpft mit der Frage nach einer Bindung an höchstrichterliche Finanzrechtsprechung. Da die Verwirklichung des Steuerhinterziehungstatbestandes Vorsatz voraussetzt, kann eine Strafbarkeit zudem nur begründet sein, wenn der Steuerpflichtige keine Zweifel an der Richtigkeit der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung hatte. Es wird teilweise argumentiert, 137 daß bei Kenntnis der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung sich dem Bürger Zweifel an seiner abweichenden Rechtsauffassung aufdrängen müßten. Eine Steuerhinterziehung soll hingegen dann nicht anzunehmen sein, wenn das Strafgericht nach § 396 Abs. 1 AO das Verfahren aussetzt und die rechtskräftige Entscheidung der Finanzgerichte abwartet, sofern die Finanzgerichtsbarkeit dabei ihre bislang vertretene Rechtsprechung aufgibt und nunmehr eine für den Steuerpflichtigen günstigere Ansicht verfolgt. Ob aus dieser Berücksichtigung späterer für den Steuerpflichtigen günstigerer Erkenntnisse der Rechtsprechung allein schon eine Bindung der Finanzverwaltung abzuleiten ist, erscheint fraglich. 138 Höchstrichterliche strafrechtliche Rechtsprechung aus neuerer Zeit liegt zu dieser Problematik - soweit ersichtlich - nicht vor. Bisweilen wird auf das Urteil des Reichsgerichts 139 vom 26. 06. 1934 Bezug genommen, in welchem trotz Kenntnis der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung die Möglichkeit nicht gänzlich ausgeschlossen wird, daß der Steuerpflichtige von seiner Rechtsauffassung überzeugt gewesen war. Das Gericht hält es jedoch im konkreten Fall für schwer vorstellbar. Teile der Literatur halten dagegen, es verstoße gegen die Gleichheit im Steuerrechtsverhältnis, wenn die Finanzbehörde ohne weiteres von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen dürfe, der Steuerpflichtige hingegen nicht. 1 4 0 Die Finanzverwaltung sei ebenso wie der Bürger an das Gesetz gebunden; wenn sie aber Nichtanwendungserlasse verfügen darf, so könne auch der Steuerpflichtige Nichtanwendungserklärungen abgeben, und zwar selbst ohne ausdrücklichen Hinweis auf eine abweichende Rechtsauffassung, da sich auch die Finanzverwaltung vorbehält, ohne Begründung von höchstrichterlicher Rechtsprechung abzuweichen. Nach anderer Ansicht 141 sei dies jedoch tatsächlich keine Benachteiligung des Bürgers, da dieser seine abweichende Rechtsansicht im Rechtsbehelfsverfahren durchsetzen könne, die Finanzbehörde sei hingegen an die einmal im Steuerbe»37 Buhs, Oliver, a. a. O. (Fn. 131), S. 122. 138 Leisner, Walter, Die allgemeine Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, S. 126. 139 Urt. v. 26. 06. 1934 - 4 D - 79/34, RGSt 68, 234, 236. 140 Leisner, Walter, a. a. O. (Fn. 138), S. 114.
141 Buhs, Oliver, a. a. O. (Fn. 131), S. 125.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
163
scheid vertretene und an die höchstrichterliche Rechtsprechung angelehnte Meinung gebunden, da sie einen bestandskräftigen Steuerbescheid nicht ohne Grund ändern könne. Die Behörde ist jedoch bei eingelegtem Rechtsbehelf berechtigt zu verbösern. Außerdem geben die Korrekturvorschriften in begrenzten Fällen Gelegenheit, die Bestandskraft zu durchbrechen. (6) Stellungnahme Der Steuerpflichtige ist durch das Strafrecht lediglich gehalten, keinen gesetzlichen Straftatbestand zu verwirklichen. Ein Straftatbestand, dessen Umrisse sich erst durch eine Verweisung auf steuerrechtliche Verwaltungsvorschriften ergeben, kann vor Art. 103 Abs. 2 GG keinen Bestand haben. Zur einfachgesetzlichen Sicht der Dinge sei an dieser Stelle nur gesagt, daß der Steuerpflichtige sich gemäß § 370 Abs. 1 AO strafbar macht, wenn er über steuerlich erhebliche „Tatsachen" unrichtige oder unvollständige Angaben macht. Der Steuerpflichtige ist deshalb nicht verpflichtet, ein wissenschaftliches Gutachten über mögliche Auslegungen des Rechtsproblems beizufügen, aus dem die Finanzbehörde Gegenargumente zur vom Steuerpflichtigen sich zu eigen gemachten Auffassung entnehmen kann. Er hat vielmehr eine, nach allgemeinen Grundsätzen einer juristischen Auslegung vertretbare Rechtsansicht seinen Zahlenangaben folgerichtig und widerspruchsfrei zugrundezulegen. Hanßen hat in seiner Untersuchung 142 den Standpunkt vertreten, daß der juristische Tatsachenbegriff des § 370 AO nur ein normativer sein könne, wonach eine naturwissenschaftliche Grenzziehung sich nicht durchführen lasse. So stecke in jeder Tatsachenbehauptung zugleich ein Werturteil und umgekehrt. Schließlich führt er aus, daß rechtliche Wertungen von § 370 AO nur dann erfaßt werden, wenn sie sich zumindest mittelbar auf Umstände und Verhältnisse auswirken, die dem strafprozessualen Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Zur Untermauerung dieser These bildet er mehrere Beispiele, die jedoch keine überzeugende Abgrenzung zeigen. Beizupflichten ist noch, daß beispielsweise bei einem Ansatz von Promotionskosten in der Einkommensteuererklärung als Werbungskosten keine falsche steuererhebliche Tatsache anzunehmen ist. Denn Tatsache in diesem Sinne ist ausschließlich das Tätigen von bestimmten Ausgaben zum Zwecke der Promotion im Veranlagungsjahr. Die Einordnung als Werbungskosten oder Sonderausgaben hingegen bleibt der Finanzbehörde überlassen. Zweifelhaft erscheint es aber, wenn Hanßen das Vorliegen eines Ehegattenarbeitsverhältnisses als rechtliche Bewertung einstuft. Zutreffend sind aber die weisungsabhängige Arbeitstätigkeit des Ehegatten und die als Vergütung der Arbeitsleistung gewährte Gehaltszahlung „Tatsachen" im Sinne des § 370 AO. Maßstab hierfür ist der Ver142
Hanßen, Klaus, Steuerhinterziehung und leichtfertige Steuerverkürzung (§§ 370, 378 AO) durch Abweichung von der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung - insbesondere durch Steuerberater?, S. 50 f. 1*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
gleich mit der Rechtsfigur des sogenannten „fremden Dritten". Richtiger Ansatzpunkt, eine Strafbarkeit zu verneinen, wäre daher einerseits die mangelnde Bestimmtheit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG hinsichtlich des Vergleiches mit dem fremden Dritten etwa bei der Bemessung des angemessenen Gehaltes und andererseits die Frage, ob ungerechte Steuertatbestände Ausfüllungsnorm des § 370 AO sein können, da das Bundesverfassungsgericht 143 die Rechtsprechung des BFH zum Ehegatten-Oder-Konto als objektiv willkürlich und nicht mehr nachvollziehbar klassifiziert hat. Nicht anders verhält es sich mit dem dritten Beispiel Hanßens. Danach schenkt der Großvater dem Enkel einen Geldbetrag, den ihm dieser sofort wieder gegen Zins als Darlehen zur Verfügung stellt. Hier geht es nicht um die Tatsache einer Geldüberlassung auf Zeit gegen eine monatliche Zinszahlung, deren steuerliche Einordnung ein reines Werturteil ist, sondern um eine Unterhaltszahlung an den Enkel, die Geldsumme noch gar nicht aus der Hand gegeben werden soll. Da die Unterhaltszahlung aber im Gegensatz zur Zinszahlung steuerlich nicht abzugsfähig ist, wird der Sachverhalt in Gestalt eines Darlehens gekleidet. Es bleibt aber die Tatsache, daß der Darlehensgeber selbst nicht in der Lage war, das Darlehen aus seinem Vermögen auszuzahlen. Wird dies nicht vollständig angegeben, so könnten Tatsachen unvollständig erklärt sein. Ob dies aber der Fall ist, ist am Merkmal der Steuererheblichkeit der Tatsache zu prüfen, dem in Mißbrauchsfällen wie dem vorliegenden möglicherweise die Bestimmtheit des Art. 103 Abs. 2 GG fehlt. 144 Es bedarf auch nicht der Diskussion, daß eine solche Angabe abweichender Ansichten von einfach gelagerten Fällen abgesehen praktisch nicht durchführbar erscheint. Das gilt sowohl für den Steuerpflichtigen selbst wie auch für die Finanzbehörde. So stellt der Jahresabschluß eines Unternehmens eine komprimierte Fassung einer Vielzahl von Unternehmensvorgängen dar, die es notwendig machen, bei Abweichungen Dutzende von Aktenordnern als Anlage zur Steuererklärung mitzuschicken, um dem Finanzamt Abweichungen erkennbar zu machen. Für den Steuerpflichtigen ist dies nicht machbar. Das Finanzamt hingegen ist schon aus personellen Gründen nicht in der Lage, eine durchgängige Prüfung der vorgelegten strittigen Punkte in einem Massenverfahren wie dem Besteuerungsverfahren sicherzustellen. Nach der Praxis der Finanzbehörden findet eine Außenprüfung nur bei einem geringen Teil der Betriebe und dort auch nur im Abstand mehrerer Jahre statt. Selbst dann begnügt sich der Betriebsprüfer im Regelfall damit, einige herausragende Geschäftsvorfälle herauszugreifen und mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand bezogen auf die Gesamtheit der Steuerpflichtigen ein Mehrergebnis zu erzielen. Jedenfalls aber verstieße eine solche Pflicht zur Angabe abweichender Rechtsauffassungen gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Waffengleichheit zwischen Steuerpflichtigen und Finanzamt. Die Amtsermittlungspflicht der Finanzbe143 BVerfG Beschl. v. 07. 11. 1995 - 2 BvR 802 /90, BStBl I I 1996, 34, 36. 144 Dies räumt Hanßen, Klaus, a. a. O. (Fn. 142), S. 56 f., letztlich selbst ein.
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hörde würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man dem Steuerpflichtigen aufbürden würde, über die von ihm vertretene Ansicht hinaus Argumente für eine höhere Steuer zu liefern, die sich auf eine Finanzmeinung stützen können.
b) Gesetzesbestimmtheit und steuerlicher Typusbegriff Der Typus wird in der Literatur dem definierten Begriff gegenübergestellt. Letzterer ist durch bestimmte Merkmale festgelegt, wohingegen der Typus durch ein „Merkmal-Ganzes " beschrieben wird, das durch eine unbegrenzte Zahl von Merkmalen umrissen werden kann. 145 Einzelne dieser Merkmale können zurücktreten, sie sind im Einzelfall verzichtbar. Die Merkmale, die die typische Erscheinung ausmachen, brauchen nicht sämtlich vorzuliegen, soweit die übrigen durch ihre Ausprägung die typische Erscheinung erkennen lassen. 146 Maßgebend ist das Gesamtbild. Die Nichtabgeschlossenheit der Merkmalsmenge macht den Typus flexibel, sich dem steten Wechsel des menschlichen Lebens anzupassen. Im Zeitablauf können die in das Gesamtgefüge einzustellenden Merkmale wegfallen oder neue hinzutreten. Beispiele hierfür sind die steuerlichen Typusbegriffe der „Mitunternehmerschaft", „Selbständigkeit", „private Vermögensverwaltung", aber auch das „wirtschaftliche Eigentum". Es ist wichtig festzuhalten, daß Typenbegriffe eines der Hauptanwendungsfelder 147 der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" im Steuerrecht sind, worauf noch gesondert einzugehen sein wird. 1 4 8 Der Typus und seine Bedeutung für das Steuerrecht wurde zuletzt umfassend durch eine Arbeit aus dem Bereich der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre untersucht und seine geistesgeschichtlichen Wurzeln von Piaton und Aristoteles bis hin zu Goethe offengelegt. 1 4 9 Die Rechtsanwendung des Typusbegriffes vollzieht sich nicht durch Subsumtion unter Tatbestandsmerkmale wie bei einem abstrakten Begriff, sondern im Wege der Zuordnung, also durch Analogie. 150 Dabei ist charakteristisch, daß die Grenzen der Typen fließend und nicht wie bei der Begriffsabgrenzung scharf umrissen sind. Es liegen verschwommene Grenzen und fließende Übergänge vor. 1 5 1 Der Typus ist 145 Streck, Michael, Gewerbebetrieb, Mitunternehmerschaft, Bilanzbündeltheorie, FR 1973, 297, 300. 146
Lang, Joachim, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5, Rn. 45. So insbesondere Weber-Grellet, Heinrich, Der Typus des Typus, FS f. Heinrich Beisse, S. 551, 551. 147
148
Siehe unten, Viertes Kapitel: § 2C.III „Die wirtschaftliche Betrachtungsweise und das verfassungsrechtliche Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast" auf S. 245 ff. 149 Es kann hier auf die weiterführende Schrift von Strahl, Martin, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 108, verwiesen werden. 150 Streck, Michael, a. a. O. (Fn. 145), FR 1973, 297, 300. 151 Lang, Joachim, a. a. O. (Fn. 146), § 5, Rn. 45.
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folglich durch eine Abstufbarkeit der Merkmalsausprägungen beschrieben. Bestimmend ist nicht ein „entweder... oder", sondern ein „mehr oder weniger". Der Typus unterscheidet sich von der typisierenden Betrachtungsweise bei der Rechtsanwendung (hierzu später 152 ) dadurch, daß die typisierende Betrachtungsweise eine Sachverhaltsvermutung aufstellt, sie verzichtet auf eine vollständige Tatsachenermittlung. Der Typus ist demgegenüber ein Element der gesetzlichen Norm. 1 5 3 Über die gesetzliche Typisierung geht der Typusbegriff hingegen hinaus. Während typisierende Gesetzgebung selbst von „eigentlich" relevanten Besonderheiten der zu erfassenden Regelungsgegenstände abstrahiert, delegiert der Gesetzgeber die Befugnis zu solcher Abstraktion durch die Verwendung von Typusbegriffen auf den Rechtsanwender. Der Rechtsanwender ist dadurch entbunden, im Wege der Subsumtion alle Merkmale des Gesetzesbegriffes zu überprüfen. Er kann die Zugehörigkeit zum Typus im Wege einer „wertenden und quantifizierenden Zuordnung" ermitteln, wenn der Lebenssachverhalt einzelne Merkmale nicht oder weniger ausgeprägt aufweist. 154 Das Steuerrecht arbeitet häufig mit Typusbegriffen. Für das Steuerstrafrecht bedeutet dies aber möglicherweise einen Verlust an Bestimmtheit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG. Larenz stellt den Typus neben die Analogie und folgert: Ebenso wie bei jeder „analogen" Gesetzesanwendung überhaupt, entscheidet nicht die „Ähnlichkeit" im äußeren Erscheinungsbild der Tatbestände, sondern die Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung gerade in den für die gesetzliche Wertung maßgeblichen Hinsichten. 155 Nun scheint das Strafrecht tatsächlich auch den Typus zu kennen. Bei Mord, Diebstahl, Hehlerei soll es sich um „Deliktstypen" handeln. Gerade der allgemeine Teil des Strafgesetzbuches hat einige Typen aufzuweisen. So wird auch der Teilnehmertatbestand als „Typus" bezeichnet.156 Unter dem Deliktstypus des Tatbestandes ist jedoch im Gegenzug zur individuellen Bewertung des Täterverhaltens auf der Ebene der Rechtswidrigkeit die Ausgestaltung der Straftatbestände als abstrakte, zur Kenntnis für jedermann aufgestellte Verbotstafeln zu verstehen. Sie dienen der Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen und der damit verbundenen Abschreckung. 157 Einzuräumen ist, daß beispielsweise § 243 StGB eine Regelbei152 Siehe hierzu unten, Viertes Kapitel: § 3B „Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht" auf S. ff. 153 Streck, Michael, a. a. O. (Fn. 145), FR 1973, 297, 300. Nicht gefolgt werden kann Strahl, Martin, a. a. O. (Fn. 149), S. 257 ff., der den eigenwilligen Ansatz verfolgt, daß die typisierende Betrachtungsweise aus dem Typus zu entwickeln sei.
1 54 Ausführlich hierzu Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 105. 1 55 Larenz, Karl, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, FS f. Walter Wilburg, S. 217, 222. 1 56 Lüderssen, Klaus, Der Typus des Teilnehmertatbestandes, in: FS f. Koichi Miyazawa, S. 449,464. 1 57 So ausführlich Otto, Harro, Die Lehre vom Tatbestand und der Deliktsaufbau, Jura 1995,468,469.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Spieltechnik kennt, die für den besonders schweren Fall des Diebstahls eine Analogiewirkung besitzt. § 243 StGB stellt jedoch eine reine Strafzumessungsregel dar. 158 Der terminus „Typus" besitzt keine allgemeingültige Definition, sondern wird in den Teilrechtsgebieten verschieden behandelt. Engisch trifft eine Unterscheidung zwischen dem strafrechtlichen und dem steuerrechtlichen Typus. 159 Typus im Strafrecht sei demnach „durch gewisse konkretisierende Momente" gekennzeichnet. Man könne deshalb von Typen sprechen, weil es sich um rechtshistorisch gewachsene Individualitäten auf der Begriffsebene handele. Woljf 60 tritt dem entgegen und hält die Verbrechenstypen nicht für Typen im engeren Sinne, sondern für „multiple Klassen", weil diese keine fließenden Übergänge zwischen Verbrechen und Nicht-Verbrechen oder auch nur zwischen den verschiedenen Verbrechensarten zuließen. Typus im Steuerrecht bedeute nach Engisch Typisierung bei Anwendung der steuerrechtlichen Vorschriften, wobei der Typus „durch das Normale, das Übliche, das Durchschnittliche bestimmt" sei und in diesem Sinne einen „Realtypus" darstelle. Als Beispiel nennt er, wenn Finanzbehörden nicht den Nachweis zulassen, daß im individuellen Falle anderweitige tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse geschaffen werden sollen. Nach der in dieser Arbeit verwendeten Terminologie ist dies jedoch ein Fall der „typisierenden Betrachtungsweise" und somit vom „Typus" abzugrenzen. Der normative Realtypus gibt Erscheinungen wieder und bewertet sie rechtlich, die in der beobachtbaren Realität wiederzufinden sind wie etwa das Verhalten eines „gewissenhaften Geschäftsleiters" oder eines „ordentlichen Kaufmannes". Hierin liegt die Abgrenzung zum Idealtypus, der nicht erfahrbare Erscheinungen betrifft. 161 Im Ergebnis muß wohl festgehalten werden, daß im Strafrecht, so auch im Blankettstrafrecht des Steuerstrafrechts kein Raum für eine solche Typenlehre ist, die den Charakter einer analogen Gesetzesanwendung annimmt. Anderenfalls ist eine Bestrafung für den Betroffenen nicht erkennbar und vorhersehbar, somit Art. 103 Abs. 2 GG berührt. Kann die Strafbarkeit noch aus dem Wortlaut erschlossen werden, so mögen keine Bedenken gegenüber einer Übertragung steuerlicher Typen in das Steuerstrafrecht bestehen.
158 Daß es sich hingegen beim Begriff der „Waffe" in § 223a StGB um einen Typus im hier besprochenen Sinne handelt, muß bezweifelt werden; a. A. aber Strahl, Martin, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 227, der im übrigen auch unbestimmte Rechtsbegriffe als Typen bezeichnet. 159 Engisch, Karl, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 270 ff. und 280 ff. 160 Wolff, Hans J., Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale 1952, S. 195, 203. 161 So zutreffend die Unterscheidung bei Strahl, Martin, a. a. O. (Fn. 158), S. 237.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
c) Das Kompensationsverbot des § 370 Abs. 4 S. 3 AO Inhalt und Sinn dieser Vorschrift sind, wie Joecks meint und gern zitiert wird, „dunkel und umstritten". 162 Instruktiver ist allerdings die historische Entstehung der Vorschrift, die Vogelberg nachzeichnet. Er bezeichnet den heutigen Zustand der nicht immer geradlinigen Rechtsprechung des BGH als „case law". 1 6 3 Danach handelte es sich ursprünglich um das Bestreben von Enno Becker beim Verfassen der Reichsabgabenordnung, die als „unerwünscht" eingestufte Rechtsprechung des RG abzustellen, wonach bei einer Verkürzung eine Gesamtschau des ganzen Steuerfalles vorzunehmen war. 1 6 4 Dies entspricht der wohl auch heute vorherrschenden Auffassung, die ein neues Aufrollen des gesamten Steuerfalles im Strafverfahren verhindern w i l l . 1 6 5 Ihrem Wortlaut nach dürfen der verkürzten Steuer keine steuermindernden Tatsachen gegengerechnet werden. Hat der Steuerhinterzieher zwar bestimmte Einnahmen nicht angegeben, zugleich aber in gleicher Höhe Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten nicht geltend gemacht, die unter dem Strich bei ihrer gleichzeitigen Einbeziehung zu einer Neutralisierung der steuerlichen Auswirkung auf Null führen würden, so hat sich der Steuerpflichtige trotzdem einer vollendeten Steuerhinterziehung schuldig gemacht, weil das Kompensationsverbot bei der Ermittlung des Tatbestandsmerkmals „Steuerverkürzung" eine Aufrechnung verbietet. Dies soll entgegen dem Wortlaut jedoch dann nicht anzunehmen sein, wenn die verschwiegenen steuermindernden Umstände mit den steuererhöhenden Umständen in einem „wirtschaftlichen Zusammenhang" stehen.166 So soll zwischen den mit bestimmten Einnahmen in einem Zusammenhang stehenden Betriebsausgaben nach Auffassung des BGH eine Kompensation zulässig sein. Diesem „wirtschaftlichen Zusammenhang " mangelt es jedoch an der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit. Andere Rechtsordnungen legen nahe, daß das Kompensationsverbot sachlich nicht zwingend geboten ist. Das U. S.-amerikanische Steuerstrafrecht beispielsweise läßt ein Vorbringen als sog. „defense" zu, wonach andere Abzugsposten bei der Ermittlung der Steuer, die der Steuerpflichtige vergessen hat, der Steuerverkürzung gegengerechnet werden können. 167 162 Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 AO, Rn. 64. 163 Vogelberg, Claus-Arnold, in: Simon / Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 49.
164 Urt. v. 14. 10. 1912 - III 320/12, RGSt 46, 237, 241. ι65 Dannecker, Gerhard, Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Parteispenden als gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, in: de Boor/Pfeifer/Schünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, S. 91,112. 166 Beschl. v. 21. 04. 1982 - RReg 4 St 20/82, BayObLGSt 82, 50, 52. Demgegenüber soll ein Verlustvortrag aus früheren Jahren in keinem solchen wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, obgleich dieser im steuerlichen Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigen ist, so BGH v. 26. 06. 1984-5 StR 322/84, wistra 1984, 183, 183, zustimmend Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370, Anm. 17 a. E.; a. A. aber der Beschl., a. a. O., BayObLGSt 82, 50, 52.
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Von einer Strafbarkeit ist selbst dann auszugehen, wenn der Steuerpflichtige den durch sein steuerunehrliches Verhalten erlangten wirtschaftlichen Vorteil auch auf eine gesetzesgerechte Weise hätte erzielen können. 168 Sowohl Rechtsprechung als auch weite Teile der Literatur haben mit der Einordnung dieser Vorschrift erhebliche Schwierigkeiten. Da das Rechtsgut der Steuerhinterziehung nach deren Verständnis auf das Finanzinteresse des Staates reduziert werden kann, fragt sich, welches Strafbedürfnis besteht, wenn tatsächlich keine Minderung der Steuereinnahmen erfolgt ist. 1 6 9 Das Kompensationsverbot könnte sich insoweit als eine Verletzung des Ubermaßverbotes und des Schuldgrundsatzes darstellen, weil bereits Zweifel an der Geeignetheit einer Bestrafung eines Steuerpflichtigen angebracht sind, der per saldo keine Steuer verkürzt hat. Denn der Fiskus hätte bei Kenntnis aller für die Besteuerung maßgeblichen Tatsachen keine andere Steuerschuld festsetzen können. Eine verfassungskonforme Auslegung erfordert es daher, den Begriff des „wirtschaftlichen Zusammenhangs", dessen verfassungsrechtliche Bestimmtheit ohnedies nicht unerheblichen Zweifeln ausgesetzt ist, weit auszulegen. Denn der Steuerpflichtige hat bei bestehender Kompensationsmöglichkeit keine Schuld auf sich geladen. Anderenfalls wäre ein Widerspruch zum Grundsatz des Schuldstrafrechts begründet, wenn wegen vollendeter Steuerhinterziehung bestraft würde. 170 Teile der Literatur sowie die Rechtsprechung des BGH argumentieren, daß dem Strafrichter nicht zugemutet werden könne, den gesamten Steuerfall aufrollen zu müssen. Deshalb stehe ihm das Kompensationsverbot zu, steuermindernde Umstände unberücksichtigt zu lassen und diese nicht mit der verkürzten Steuer, welche den Gegenstand der Steuerhinterziehung bildet, zu saldieren. 171 Gerade die Bemessung der individuellen Schuld ist aber die Aufgabe des Strafrichters. Die Unhaltbarkeit dieser Argumentation zeigt sich bereits darin, daß gerade die Höhe der hinterzogenen Steuer auf der Ebene der Strafzumessung beim Tatbestand der Steuerhinterziehung zu prüfen ist. Dort bleibt es dem Strafrichter nicht erspart, auch zu den damit verbundenen steuerlichen Punkten Farbe zu bekennen. Dementsprechend verlangt der BGH, daß die Verurteilung etwa wegen Umsatzsteuerhinterziehung sowohl die Berechnung der verkürzten Umsatzsteuer wie auch der dazu gehörigen Vorsteuern erkennen läßt. Die Vorsteuern seien dem Angeklagten schadensmindernd zugute zu halten, 172 wenn sie auch nicht auf der Tatbestandsebene 167 Fischer, Daniel J., Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U. S. Sentencing Guidelines - eine Chance für das Steuerrecht?, S. 209. 168 Urt. v. 03. 06. 1954 - 3 StR 302/53, BGHSt 7, 336, 345. 169 Kritisch Kiel, Roger, Die Verjährung bei der vorsätzlichen Steuerverkürzung, S. 73.
1 70 Müller, Lutz / Dannecker, Gerhard, in: Blumers/Frick/Müller, Betriebsprüfungshandbuch, Rn. Κ 81. m Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 109. 172 BGH v. 20. 08. 1985-1 StR 390/85, wistra 1985, 225,225, und BGH v. 23.07. 19855 StR 465/85, ebenda.
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die Steuerverkürzung kompensieren. 173 Allgemein sei es für die Darstellung der Steuerhinterziehung im Urteil erforderlich, daß das Urteil erkennen lasse, welches steuerlich erhebliche Verhalten im Rahmen welcher Abgabenart und in welchem Besteuerungszeitraum zu einer Steuerverkürzung geführt habe. Auch die Berechnung der Steuer müsse nachvollziehbar dargelegt werden. 174 Der Vorwand, dem Strafrichter könne eine umfassende Prüfung nicht zugemutet werden, greift zudem deswegen nicht durch, weil dem Finanzamt im Besteuerungsverfahren gleichermaßen nach § 177 AO gegenläufige Fehler entgegengehalten werden können, sofern dieses wegen begangener Steuerhinterziehung nach den Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO einen Steuerbescheid aufgrund der falschen Angaben des Steuerpflichtigen ändern will. Dahinter steht ein nicht aufzulösender Wertungswiderspruch, wonach das steuerliche Verfahren die Bestandskraft eines Steuerbescheides durchbricht, gleichzeitig aber das Strafverfahren am Bestand festhält. Damit wird man im Kompensationsverbot einen nicht zu rechtfertigenden Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz sehen müssen, weil ein Steuerpflichtiger, der bei richtiger Veranlagung ohnehin keine Steuer hätte bezahlen müssen, keine Auflehnung gegen die Rechtsordnung gezeigt hat, somit auch keine persönliche Schuld verwirklicht hat, welche ihm zum Vorwurf gemacht werden könnte. Das Bemühen, dem Strafrichter möglichst viele steuerliche Fragen fernzuhalten, zeigt auch, daß man letztlich ihn doch nicht für den Richtigen hält, auf dem Gebiet des Steuerrechts zu entscheiden. Das Kompensationsverbot ist das Eingeständnis des Gesetzgebers, für Steuerstrafsachen keinen adäquaten Rechtsweg anbieten zu können. Wie problematisch das Kompensationsverbot im konkreten Fall sein kann, wird schließlich deutlich, wenn im folgenden die verfassungsrechtliche Bestimmtheit von Wahlrechten im Steuerstrafrecht untersucht wird. Hier wird dann der Zusammenhang zwischen Kompensationsverbot und Wahlrechten mit Art. 103 Abs. 2 GG erkennbar.
d) Gesetzesbestimmtheit und steuerliche Wahlrechte aa) Sogenannte „Dummensteuern" als Verfassungsproblem Die klassische Strafrechtslehre wurde überwiegend zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen entwickelt. Wird ein Mensch getötet oder eine Körperverletzung begangen, so drängt sich in der Praxis ein strafbares Verhalten regelmäßig auf. Die
173 BGH Urt. v. 02. 11. 1995-5 StR 414/95 - NStZ-RR 1996, 83, 84. 174 BGH Urt. v. 03. 08. 1995-5 StR 63/95 - NStZ-RR 1996, 19, 20.
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Frage richtet sich hauptsächlich nach der Person des Täters. Im Steuerstrafrecht steht der potentielle Täter, wenn es denn eine Tat ist, mit Namen und Steuernummer fest. Indes erscheinen den Steuerpflichtigen die Grenzen zwischen strafbarem Verhalten und erlaubtem Steuervermeiden fließend. In dieser Grauzone verwirklichen Steuerpflichtige Steuertatbestände und Steuerstraftatbestände, obgleich bei wirtschaftlich vergleichbar gestaltetem Sachverhalt keine Steuer angefallen und keine Bestrafung gerechtfertigt wäre (Problem der Sachverhaltsgestaltungen). Zum zweiten stehen den Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren für einen verwirklichten Sachverhalt Wahlrechte zur Verfügung (Rechtswahlmöglichkeiten), die Auswirkungen auf das steuerliche Ergebnis zeigen und die er entsprechend seinen Zielvorstellungen nutzen kann. Diese Problemstellungen bedürfen näherer Erörterung, wenn auch ein gewisses Unbehagen gegenüber dem hierfür häufig gewählten Begriff der sogenannten „Dummensteuer" besteht. Gibt es angesichts von sogenannten „Dummensteuern" auch eine „Dummenbestrafung "? Über die Begriffsbestimmung konnte zwar noch keine Einigkeit erzielt werden. In steuerrechtswissenschaftlichen Arbeiten findet der Begriff der „Dummensteuer" immer häufiger Eingang. 175 Da er neuerdings bereits in einem Vorlagebeschluß 176 an das Bundesverfassungsgericht verwendet wurde, hat er nunmehr Eingang in die Fachterminologie gefunden. „Dummensteuern" sind nach Ansicht von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, auf die der Begriff wohl zurückgeht, Teile von Steuerlasten, die nicht entstanden wären, wenn der Steuerpflichtige das gleiche wirtschaftliche Ziel unter klugem Einsatz der vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten anders erreicht hätte. 177 Dem liegt das Vorverständnis zugrunde, daß der wirtschaftende Mensch sein Streben ausschließlich danach richtet, seine Steuerlast zu vermindern. Eine Tendenz hierzu ist nicht zu verleugnen, wenn auch die Untersuchung, ob dies dem tatsächlichen Verhalten entspricht, den Sozialwissenschaften überlassen bleiben soll. 1 7 8 In der rechts wissenschaftlichen Diskussion wurde der Begriff aufgenom175 Vgl. nur die Habilitationsschrift von Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 30.; neuerdings auch Seer, Roman, Ungereimtheiten bei Behandlung des Betriebsvermögens im Erbschaftssteuerrecht, GmbHR 1999, 64, 72; Kohlmann, Günter/ Hilger-Klautzsch, Brigitte, Bestrafung wegen Hinterziehung verfassungswidriger Steuern?, Stbg 1998,485,486.
™ Niedersächsisches FG Vorlagebeschl. v. 24. 06. 1998 - IV - 317/91, Egrd. ΙΠ 4 c) bb) (3), η. v. 177 Rose, Gerd, Über die Entstehung von „Dummensteuern" und ihre Vermeidung, in FS f. Klaus Tipke, S. 153, 153 f., will seine Definition von Klaus Tipke abgrenzen. Die steueijuristische Literatur bezieht sich hinsichtlich des Begriffes zumeist auf Rose und seine betriebswirtschaftliche Definition, vgl. Vogel, Klaus, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, S. 10. 178 Hier wird auf die eingangs beschriebenen Beiträge der übrigen Steuerwissenschaften verwiesen, vgl. oben: Zweites Kapitel: § 3Α,Steuermoral," auf S. 54 ff.
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men und dort auf ein Steuerrecht angewandt, bei dem die Höhe der Steuer wegen der Kompliziertheit seiner Regelungen letztlich von der Rechtskenntnis und dem Geschick des Bürgers in der Steuervermeidung abhängt. 179 Der Einzelne kann in einem solchen Steuerrecht einen wirtschaftlichen Vorteil dadurch erzielen, daß er sich durch sein Mißtrauen und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einen Informationsvorsprung verschafft. 180 Somit handelt es sich um solche Steuern, die gegen das „ Gebot der Unausweichlichkeit der Steuerlast " 1 8 1 verstoßen. Für die nachfolgende Übertragung für den Tatbestand der Steuerhinterziehung erweist sich diese Definition als zweckdienlich. Demgegenüber sind nicht als „Dummensteuern" zu qualifizieren solche Steuern, die nur durch eine Steuerhinterziehung hätten vermieden werden können, es also für den redlichen Steuerpflichtigen keine Möglichkeiten gibt, der Steuer zu entrinnen. 182 Die verfassungsrechtlichen Implikationen solcher hinterzogenen Steuerbeträgen sollen in einem späteren Kapitel 183 anhand des Zinsurteils des Bundesverfassungsgerichts zum Gegenstand der Erörterungen gemacht werden. Es handelt sich um Steuern, die unter einem ausgeprägten strukturellen Erhebungsmangel leiden, weil sie fast allein auf der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen beruhen und im Ergebnis ihr Belastungsgrund in der Bereitschaft liegt, Steuern zu zahlen. Ferner können unter den Begriff nicht solche Steuern fallen, die der Steuerpflichtige bewußt in Kauf nimmt, um andere wirtschaftliche Zielsetzungen wie ζ. B. Haftungsfragen für ihn günstiger zu gestalten. Dabei wird häufig eine Differenzierung in verschiedene Arten von „Dummensteuern" vorgenommen, abhängig von ihrem Entstehungsgrund. Die „Dummensteuern einfacher Art" lassen sich in drei Untergruppen einteilen, nämlich die Nichtbeachtung steuerlicher Termine, die Nichtausnutzung steuerlicher Optionsrechte und steuertaktische Fehlentscheidungen. Die zweite Gruppe der „Dummensteuern höherer Art" unterteilen sich in strategische und operative Fehlentscheidungen. Exemplarisch seien genannt eine falsche Unternehmensrechtsformwahl, eine falsche Ausübung des Optionsrechtes, ein falscher Familienstand oder eine falsche Vermögensübertragung innerhalb der Familie. 179 Habscheidt, Gerhard, Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes auf Irrwegen, BB 1998, 1184, 1185. 180 Dies hält Klein für den Begriff der „Dummensteuer" charakteristisch. Vgl. Klein, Alexander, Steuerreform und Akzeptanz, BB 1180, 1180. 181 Kirchhof, Paul, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Steuergesetzgebung, Stbg 1999, 193, 194. 182 Dagegen a. A. zur Begrifflichkeit Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 14, bei dem die Begriffe „dumm" und „steuerehrlich" synonym verwendet werden. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses ist sein Hinweis auf das Zinsurteil des BVerfG folgerichtig. 183 Siehe unten, Viertes Kapitel: § 6B „Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte" auf S. 364 ff.
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Die dritte Art der „Dummensteuern" wird als sogenannte „Quasi-Dummensteuer" bezeichnet und umfaßt die Fälle, in denen steuerliche Wahlrechte für den Steuerpflichtigen ungünstig ausgeübt werden. Diese betriebswirtschaftliche Einteilung erweist sich jedoch für das Steuerstrafrecht als unbrauchbar. Es genügt deshalb im folgenden die Trennung zwischen Sachverhaltsgestaltungen und Rechtswahlmöglichkeiten. „Dummensteuern" im eigentlichen Sinne bräuchte es nicht geben, wenn jeder Steuerpflichtige steuerlich beraten wäre. Denn auch der Unkundige ist mit der Hilfe eines findigen steuerlichen Beraters in der Lage, seine steuerliche Situation günstig zu gestalten.184 In Wahrheit ist der Ausdruck „Dummensteuer" ein Synonym für „Armensteuer", ein Umstand, der in der obigen Terminologie zu wenig zum Ausdruck kommt. Denn es handelt sich um diejenigen Steuerpflichtigen, die zu den geringer verdienenden Einkommensschichten der Bevölkerung gehören und sich somit das Honorar einer steuerlichen Beratung nicht leisten können. Gerade diese sind es, die durch „Dummensteuern" am meisten getroffen werden. Damit erweist sich die Problematik als eine faktische Aufhebung einer Besteuerung nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Leistungsfähigkeit. Eine Korrektur dieser Auswüchse durch die Steuerveranlagung beim Finanzamt scheidet aus. Die steuerliche Behandlung dieser Fallgestaltungen durch die Finanzbehörden ist am gegebenen Sachverhalt orientiert. Im Steuerverfahren als einem Massenverfahren wäre eine andere Vorgehensweise nicht durchführbar. Hinzu kommt, daß dem Finanzbeamten, der ohnedies in erster Linie an den Steuerrichtlinien und Erlassen seiner übergeordneten Behörden orientiert ist, der Anreiz fehlt, in steuerlichen Fragen gegen sein Haus zu beraten. Daneben würde es auch an einer entsprechenden Ausbildung des Finanzbeamten fehlen. Tatsächlich läßt sich in der Verwaltungspraxis demgegenüber eher eine Tendenz feststellen, die Bestimmung des § 42 AO im Interesse des Fiskus auszulegen. Eine Beratung zu steuervermeidenden Gestaltungen ist wegen der bestehenden Interessengegensätze praktisch undurchführbar und als utopisch zu bezeichnen. Ferner wäre eine dem Steuerpflichtigen zu erteilende allgemeine gesetzliche Erlaubnis, aus seiner Sicht als nicht optimal erweisende und so gesehen „fehlerhafte" Entscheidungen zu revidieren, keine Lösung. Denn ein Steuerrechtsunkundiger wüßte selbst nach Jahren noch nicht, daß er durch eine günstigere Gestaltung Steuern hätte sparen können. Etwas anderes ergibt sich allenfalls, wenn lediglich Fristen versäumt wurden. Da der Staat mit dem vereinnahmten Geld haushalten muß, sind über lange Zeit veränderliche Steueransprüche im Hinblick auf die Planungssicherheit des Haushaltes nicht ohne Bedenken. 184 So kritisiert Vogel, Klaus, Perfektionismus im Steuerrecht, StuW 1980, 206, 206, daß der Gesetzgeber mit seinem perfektionistischen Streben gerade erst Ungleichheit entstehen läßt, weil durch eine Vielzahl von Sonderregeln Angriffsflächen für Steuervermeidung entstehen, die der gewiefte oder steuerlich beratene Steuerpflichtige ausnutze, der „Dumme" dagegen nicht.
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Bereits hier wird deutlich, daß eine Lösung letztlich nur vom Steuergesetzgeber kommen kann, der dafür zu sorgen hat, daß steuerliche Unkenntnis nicht zum Belastungsgrund werden kann.
bb) Steuerorientierte Sachverhaltsgestaltungen gegen sogenannte „Dummensteuern" Im nun folgenden nächsten Schritt muß der Untersuchungsgegenstand in das Steuerstrafrecht übertragen werden. Es fragt sich, ob es danach zu rechtfertigen ist, einen Steuerpflichtigen nur deshalb zu bestrafen, weil er einen bestimmten Sachverhalt verwirklicht hat, dessen wirtschaftliches Ergebnis er durch eine kluge Gestaltung straffrei herbeiführen hätte können. In Abgrenzung zu oben ausgeführter Problematik geht es hier um diejenigen Fälle von Sachverhaltsgestaltungen, die nicht unter § 42 AO zu subsumieren sind und somit als steuerlich anzuerkennende Handlungsalternativen zur Verfügung stehen. Zur Rechtfertigung der Steuerlast wird dann die fehlende formaljuristische Geschicklichkeit, Steuern zu sparen. Nicht selten gelangen Fälle vor den Strafrichter, in denen eine Steuer hinterzogen wurde, die nur aus Dummheit und Unwissenheit entstanden ist. 1 8 5 Es sei erlaubt, die Fragestellung noch um den oben angeführten Gedanken zu erweitern: Ist Armut strafbar? Wären viele kleine Steuersünder steuerlich beraten gewesen, so hätten sie bei gleicher Steuerersparnis keinen strafbaren Tatbestand erfüllt. Ist ein solches Strafrecht ethisch zu rechtfertigen und kann es den Geboten der Verfassung entsprechen? Eine ausdrückliche Verpflichtung zum Hinweis oder zur Beratung des Steuerpflichtigen kennt die Abgabenordnung nicht. Lediglich bei Offensichtlichkeit ist die Behörde gehalten, den Steuerpflichtigen auf die Abgabe von Erklärungen und Anträgen hinzuweisen. Sachverhaltsgestaltungen sind hiervon nicht umfaßt. Der Steuerpflichtige ist gemäß § 150 Abs. 2 S. 1 AO verpflichtet, Angaben in Steuererklärungen „nach bestem Wissen und Gewissen" 1* 6 zu machen. Hieraus ließe sich folgern, daß die Steuerbehörden im Gegenzug „nach bestem Wissen und Gewissen" zu veranlagen haben. 187 Diese gleichlaufende Ver185
Salditi, Franz, Hinterziehung ungerechter Steuern, StraFo 1997, 65, 66. Demgegenüber a. A. Holper, Peter, Die steuerrechtliche Selbstanzeige - ein Sonderfall des Rücktritts vom vollendeten Delikt, S. 85, der die Formel „nach bestem Wissen und Gewissen" als nur eine formalisierte feierliche Bekräftigung der Steuererklärung einstuft. Er begründet dies damit, daß § 370 AO eine Verletzung der sich aus den Steuergesetzen ergebenden Pflichten voraussetzt, nicht hingegen eine Verletzung von im Gewissen empfundenen Steuerpflichten. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Es ist an anderer Stelle bereits gezeigt worden, daß Gewissensfragen sich sehr wohl dann stellen, wenn sich der Steuerpflichtige im Grenzbereich der Steuergesetze bewegt, vgl. oben Zweites Kapitel: § 5 „Umgehungsverhalten im Steuerstrafrecht," auf S. 73 ff. 186
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641.
Wendt, Wilhelm, Nach bestem Wissen und Gewissen, FS f. Wolfgang Ritter, S. 637,
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pflichtung würde verlangen, den Steuerbürger auf für ihn günstige steuerrechtliche Gestaltung hinzuweisen und ihn über steuerliche Fragen aufzuklären. Geschieht dies nicht hinreichend und entsteht nur deshalb eine Steuerschuld, die der Steuerpflichtige sodann durch Steuerhinterziehung umgeht, so muß sich der Steuerstaat widersprüchliches Verhalten vorwerfen lassen, wenn er nunmehr mit Mitteln des Steuerstrafrechts gegen den „Steuersünder" vorgeht. Hier ist das geschützte Rechtsgut im Steuerstrafrecht anzuführen. 188 Vertritt man dort die Auffassung, daß das Steuerstrafrecht vor jedem Angriff auf die fiskalischen Interessen des Staates schützen will, so wird man hier folgerichtig der Ansicht sein müssen, daß unbeachtlich einer steuerlichen Unkenntnis des Betroffenen ein verwirklichter Steuertatbestand nicht nur zur Besteuerung, sondern auch zur Bestrafung führen muß. Denn es stehen die Finanzinteressen des Staates hiernach über der Gewährleistung einer gerechten Lastenverteilung und dem Prinzip der Leistungsfähigkeit. Wie bereits oben ausgeführt, kann diese Rechtsgutdefinition nicht überzeugen. Es wird hier davon ausgegangen, daß die Besteuerung und Bestrafung von steuerlicher Unkenntnis kein akzeptables Mittel der Einnahmenbeschaffung eines sozialen Rechtsstaates im Sinne der Art. 20 Abs. 1 und 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG ist. Nicht jedes Mittel ist dem Staat in diesem Sinne recht. Vielmehr ist er an den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gebunden. Dennoch kann das bestehende Strafrecht von einem einmal verwirklichten Sachverhalt nicht abrücken. Ein Ausweg scheint nur de lege ferenda über ein entscheidungsneutrales Steuerrecht gefunden werden zu können. Dieses muß so ausgerichtet sein, daß es, um ein Beispiel zu nennen, auf eine bestimmte Rechtsform des Unternehmens nicht ankommt, die Besteuerung also rechtsformneutral ausgestaltet ist. De lege lata könnte angedacht werden, ob nicht ein Steuergesetz, welches nur einzelne von mehreren wirtschaftlich gleichwertigen Alternativen besteuert, wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verfassungswidrig ist und deshalb kein geeignetes ausfüllendes Gesetz für den Blankettatbestand der Steuerhinterziehung darstellt. Dem Verweis auf das Steuergesetz könnte es dann an der Bestimmtheit im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG fehlen. 189
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Hierzu ausführlich unten: Kap. Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e)aa) „Das geschützte Rechtsgut als Einstieg auf S. 182 ff. 189 Zu dieser Frage siehe unten, Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e) „Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht" auf S. 182 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
cc) Steuerliche Wahlrechte als Verfassungsproblem (1) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Wahlrechten im Steuerrecht Als Kernpunkt ist schließlich der Fall einer nicht gewählten, für den Steuerpflichtigen bestehenden Option anzusehen. Steuerliche Wahlrechte geben dem Steuerpflichtigen das Recht, willentlich auf die steuerrechtliche Behandlung eines abgeschlossenen Sachverhalts Einfluß zu nehmen. 190 Sie überlassen ihm eine Entscheidungsmöglichkeit über Teile des Steuertatbestandes und damit die Steuerschuld für einen oder mehrere Besteuerungszeiträume. Dabei existiert ein fest vorgegebenes Potential an Alternativen, so daß die Gestaltungsgrenzen genau angegeben werden können. Hierin unterscheidet sich das Wahlrecht von in steuerrechtlichen Normen angelegten „Unschärfen", die Gestaltungspielräume eröffnen. 191 Die Ausübung eines Wahlrechtes kann niemals einen Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO bedeuten, da der Steuerpflichtige lediglich einen vom Steuerrecht selbst eingeräumten Gestaltungsspielraum ausgenutzt hat. 1 9 2 Das Steuerrecht gewährt in vielen Bereichen Wahlrechte, die es dem Steuerpflichtigen offenlassen, welche Rechtsfolge und damit welche Besteuerung er herbeiführt. Es unterstellt, daß nur der Unternehmer in der Lage ist, die Verhältnisse seines Betriebes zu übersehen und am ehesten einzuschätzen. Seine Wertschätzungen sind für die Finanzbehörden maßgeblich, solange sie sich in vertretbarem Rahmen halten und auf objektiv nachprüfbaren tatsächlichen Verhältnissen des Unternehmens beruhen. 193 Nach § 38 AO entsteht die Steuerpflicht aber dann, wenn der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Dieser gesetzlichen Definition der Entstehung einer Steuer ist es fremd, dem Steuerpflichtigen eine unmittelbare Einflußnahme über das Eintreten der Leistungspflicht zuzubilligen. Es gehört zum Wesen der Steuer, daß sie ohne Einwirkung des Betroffenen einseitig durch den Gesetzgeber auferlegt wird. 1 9 4 Steuerliche Wahlrechte beinhalten damit eine Durchbrechung des § 38 AO. In der Literatur wird betont, daß die Wahlrechtsausübung selbst keine Tatbestandsverwirklichung auslöse. Vielmehr sei zu verlangen, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Wahlrechtes gegeben seien, damit es auf die Rechtsfolgenseite einwirken könne. 195 190 Kirchhof Paul, in: Kirchhof / Söhn, § 2 EStG, Rn. A 618. Ein Versuch der Systematisierung steuerlicher Wahlrechte findet sich bei Rose, Gerd, Besteuerung nach Wahl, StBJb 1979/80, 49, 55 ff. 191 Söffing, Andreas, Steuerrechtliche Gestaltungsgrenzen, StVj 1991, 260, 265 ff. 192 Felix, Günther, Streifzug durch die jüngste BFH-Rechtsprechung zur Steuerumgehung, KÖSDI 1997, 11140, 11141. Ebenso Urt. v. 31. 05. 1995 - I I R 31/92, BFH/NV 1996, 17, 18. 193 Lohmeyer, Heinz, Steuerliche Bilanzdelikte und deren strafrechtliche Folgen, Wpg 1990, 314, 318 f. 194 Kummer, Wolfgang, Steuerliche Wahlrechte, S. 2 ff.
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Dennoch sind das Bundesverfassungsgericht und weite Teile der Literatur wie selbstverständlich von einer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte ausgegangen. Das Bundesverfassungsgericht steht auf dem Standpunkt, daß steuerliche Wahlrechte ein geeignetes Instrument zur Abfederung typisierungsbedingter Ungleichheiten darstellen. Zu fordern sei lediglich, daß die einzelnen Alternativen für sich jeweils verfassungskonform sind. Es genüge, daß die unterschiedlichen Alternativen bei einer generalisierenden Betrachtung annähernd gleichwertig sind. Der Bürger habe von Verfassungs wegen kein Recht darauf, aus jeder der ihm zur Auswahl angebotenen Regelungen die für ihn günstigste Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen. 196 Zur Begründung werden verschiedene Ansätze vertreten: Wahlrechte lassen sich dadurch rechtfertigen, daß sie wirtschaftliche Einschätzungen des situationsnahen und betroffenen Steuerbürgers zur Geltung bringen, ihm die Entscheidung über die Offenbarung seiner Privatsphäre überlassen und die Abwägung zwischen steuerlichen und anderen vergleichbaren Rechtswirkungen erlauben. Das Grundrecht auf Datenschutz schließlich kann es erfordern, dem Steuerpflichtigen die Entscheidung darüber zu belassen, ob er bestimmte steuerlich relevante Sachverhalte offenbaren will oder nicht. 197 Dementsprechend soll er sein Wahlrecht ausüben können. Vor allem stellen bestimmte Wahlrechte in der Tat eine Verwaltungsvereinfachung für die Finanzbehörden dar. Die gleiche steuerlich Belastungswirkung hätte man zwar durch eine entsprechende Anweisung an den veranlagenden Finanzbeamten erreichen können, den jeweils günstigsten Ansatz von Amts wegen zu ermitteln. Durch das steuerliche Wahlrecht wird aber die Sachverhaltserforschung und deren rechtliche Würdigung auf den Steuerpflichtigen abgewälzt. In gleicher Weise entledigt sich der Steuergesetzgeber der Aufgabe, jeden Tatbestand ins Detail zu regeln, indem er ein Wahlrecht zur Verfügung stellt, um Steuergerechtigkeit im Einzelfall herzustellen. 198 Richtig ist, daß der Finanzverwaltung die Arbeit abgenommen ist, die Vorteilhaftigkeit einer steuerlichen Alternative zu prüfen. Bei zunehmender Komplexität einer steuerlichen Norm bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob der durchschnittliche Steuerbürger noch in der Lage ist, die für ihn günstigste Entscheidungsalternative herauszufinden. Unterstellt man, die rechtliche Ausgestaltung des Wahlrechts genügt den Anforderungen der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und Gleichmäßigkeit, so stellt sich dann aber beim praktischen Vollzug die Frage, ob nicht eine faktische Ungleichheit infolge Unvermögens der Steuerpflichtigen ent195 Gluth, Rüdiger, Der Einfluß von Wahlrechten auf die Entstehung des Steueranspruches, S. 85. 196 Beschl. v. 08. 10. 1991 - 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348, 360 f. Für die Literatur zustimmend: Osterloh, Lerke, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 3, Rn. 149.
1 97 Kirchhof, Paul, Steueranspruch und Informationseingriff, FS f. Klaus Tipke, S. 27, 38. 1 98 Kummer, Wolfgang, a. a. O. (Fn. 194), S. 34 f. spricht von sogenannten „formellen" Wahlrechten. 12 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
steht, die ideale Alternative zu wählen. Die faktische Ungleichheit muß aber als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft werden. Der Gesetzgeber läuft nämlich Gefahr, aus Gründen der Arbeitsökonomie auf Einzelfallgerechtigkeit zu verzichten und statt dessen darauf zu hoffen, der Steuerpflichtige werde das für ihn Günstige schon heraussuchen. Zweifelhaft ist, ob nach Ausübung des Wahlrechts nicht eine Steuerlastverteilung unter allen Steuerpflichtigen entsteht, die mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip nicht in Einklang zu bringen ist. Im Einzelfall ist Belastungsgrund allein die Fehleinschätzung einer wirtschaftlichen Entwicklung, die zu einer unvorteilhaften Wahlrechtsausübung geführt hat. Ist der Steuerpflichtige hingegen nicht mehr in der Lage, angesichts der Komplexität der ineinander greifenden Steuerrechtsnormen sein Wahlrecht rational auszuüben, bleibt die Wahl vielmehr dem Zufall überlassen, weil der Steuerpflichtige nicht mehr die für ihn günstigste Entscheidung zu treffen vermag, so ist die Besteuerung außerdem rechtsstaatswidrig, weil sie gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit verstößt. 199 Neben obiger gesetzestechnischer Rechtfertigung von Wahlrechten läßt sich ferner eine Begründung aus der Natur von Fiskalzwecknormen geben. Mit der Gewährung von Wahlrechten verfolgt der Gesetzgeber in vielen Fällen auch wirtschaftspolitische Motive. Durch die Einräumung von Wahlrechten werden einzelnen Steuerpflichtigen Privilegien zugewiesen, um wirtschaftliche Anreize zu geben. Dies ist häufig dann problematisch, wenn steuerliche Wahlrechte in die Zukunft verweisen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Entscheidung (unter Ungewißheit) abverlangen, obgleich die Vorteilhaftigkeit erst ex post beurteilt werden kann. Gestattet das Gesetz dem Steuerpflichtigen etwa, ein Wirtschaftsgut vorzeitig abzuschreiben, so hängt die Vorteilhaftigkeit dieser Wahl von seiner späteren Einkommensentwicklung ab, die er bei Ausübung nicht vorhersehen kann. Soweit dies unter dem Gesichtspunkt der Tatbestandsmäßigkeit in der Literatur überhaupt erörtert wird, wird die Behauptung aufgestellt, die Tatbestandsmäßigkeit sei wie die Besteuerung generell dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung unterworfen. Sie verlange daher nur, daß die Steuer für den Besteuerungszeitraum, in dem das Wahlrecht ausgeübt wird, hinreichend bestimmt ist. Welche Auswirkungen sich für spätere Perioden ergäben, sei nicht umfaßt. Der Steuerpflichtige genieße diesbezüglich auch keinen Schutz, es sei denn, es liege ein Fall der Rückwirkung vor. 2 0 0 Hier seien Rechtswahlmöglichkeiten nicht anders zu behandeln als Sachverhaltsgestaltungen. Die Beschränkung des Bestimmtheitsgebotes auf die aktuelle Periode begegnet nicht unerheblichen Bedenken. Immerhin soll der Steuerpflichtige letztlich über !99 Birk, Dieter, „Besteuerung nach Wahl" als verfassungsrechtliches Problem, NJW 1984, 1325,1326. 200
Belser, Karl-Heinz, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte, S. 62 f.
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mehrere Besteuerungszeiträume hinweg an seine Wahl gebunden sein. Richtig ist jedoch, daß dem Steuerpflichtigen nicht garantiert werden kann, ob im übrigen seine steuerlichen Verhältnisse gleich behandelt werden. Die steuerliche Tatbestandsbestimmtheit wird auch insofern weit ausgelegt, als die im Steuerrecht gegebenen Wahlrechte nur zum Teil aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung, oftmals aber auch aufgrund einer Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung oder Finanzverwaltung gewährt werden. Für das Steuerrecht selbst mag dies noch akzeptabel sein. 201 Teile der Literatur 202 gehen sogar so weit, Wahlrechte für mit den Grundsätzen des Leistungsfähigkeitsprinzips unvereinbar zu erklären, weil die Steuerbelastung, die aus mit Wahlrechten ausgestatteten Steuernormen hervorgeht, für den Steuergesetzgeber nicht steuerbar ist, sondern geradezu beliebig wird. Kritische Ansichten im Ausland lassen die hierin liegende Gefahr erkennen. 203 (2) Rechtswahlmöglichkeiten im Steuerstrafrecht als Bestimmtheitsverstoß nach Art. 103 Abs. 2 GG Will man es dennoch als zulässig ansehen, die Steuerschuld von steuerlichen Wahlrechten abhängig zu machen, so muß weiter gefragt werden, welche Konsequenzen das Steuerstrafrecht hieran zu knüpfen hat. Die Bestrafung des Täters kann nicht in sein Belieben gestellt werden. So läßt sich der Fall eines steuerlich versierten Täters bilden, der bei Einleitung eines Steuerstrafverfahrens nunmehr eine andere Option wählt, als sie dem Steuerverfahren zugrundegelegt wurde. Wer der vorherrschenden Meinung folgend dem Standpunkt zuneigt, daß der Steuerbescheid für das Strafverfahren keine Bindungswirkung entfaltet, muß begründen, warum er nunmehr die Wahl des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren für verbindlich hält. 2 0 4 Die Rechtsprechung setzt sich jedoch über jegliche Zweifel hinweg und stellt die nicht weiter begründete Behauptung auf, daß antragsgebundene Steuervergünstigungen nicht nachträglich geltend gemacht werden können, da der Bestimmung des § 370 Abs. 4 S. 3 AO nur die durch die ursprünglichen Angaben des Steuerpflichtigen geschaffenen Besteuerungsgrundlagen der strafrechtlichen Prüfung unterlägen. 205 201 Zur Problematik: Belser, Karl-Heinz, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte, S. 72. 202 in diesem Sinne auch Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 510. 203
Kritisch für die weitgehend parallelen österreichischen Verhältnisse: Werndl, Josef, Besteuerung nach Wahl?, ÖStZ 1997, 189, 192 f. 204 Zur Gegenmeinung siehe Wisser, Michael, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO und die Bindung des Strafrichters, S. 88 f., der die Behauptung aufstellt, daß steuerliche Wahlrechte erst nachträglich auf die bereits entstandene Steuerschuld einwirkten und somit im Steuerstrafrecht keine Bedeutung erlangen könnten. 1*
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Es erhebt sich aber in der Tat die Frage, ob der Strafrichter bei der Festsetzung des Strafmaßes einer Steuerhinterziehung, die maßgeblich durch die Höhe der hinterzogenen Steuer bestimmt wird, zu berücksichtigen hat, daß dem Täter eine steuerliche Option zur Verfügung gestanden hätte, mit der er die Steuerschuld hätte vermindern können. Die überwiegende Auffassung, wonach das Tatbestandsmerkmal der Steuerverkürzung durch einen Vergleich der Ist-Besteuerung mit der Soll-Besteuerung ermittelt wird, tut sich schwer mit der dogmatischen Einordnung der Wahlrechte in den Tatbestand der Steuerhinterziehung. Zu sehr vereinfachend geht man davon aus, daß lediglich die Differenz zweier Zahlen zu bilden sei, ohne zu erkennen, daß bei Vorhandensein von steuerlichen Wahlrechten diese Definition Gefahr läuft, verfassungswidrig unbestimmt zu sein. Die Rechtsprechung umgeht das Problem, indem sie das Kompensationsverbot so weit auslegt, daß dem Tatrichter die Einbeziehung von möglichen Wahlrechten nicht zugemutet werden könne. 206 Die Literatur stimmt dem fast einhellig zu. 2 0 7 In Fällen, in denen das Kompensationsverbot von vornherein nicht greifen kann, weil schon die Art der Ermittlung der Einkünfte einem Wahlrecht unterliegt, wird von der Rechtsprechung die Ansicht vertreten, daß das Wahlrecht nach Einreichen der Steuererklärung nicht mehr ausgeübt werden könne, somit im Steuerstrafrecht keine Auswirkungen haben könne. Das OLG Düsseldorf 08 hat dies für das Wahlrecht entschieden, seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 EStG oder durch Einnahmen-Überschußrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG zu ermitteln. Nicht beantwortet wurde dagegen die Frage, wie Wahlrechte zu behandeln sind, wenn der Steuerpflichtige eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen im Falle der Nichtabgabe von Steuererklärungen begangen hat. Hier konnte der Steuerpflichtige gar kein Wahlrecht ausüben. Es mag sein, daß in vielen Fällen die Ausübung des Wahlrechtes einer ausdrücklichen Erklärung gegenüber dem Finanzamt bedarf, an der es hier mangelt. Da umgekehrt aber mangels Abgabe der Steuererklärung noch keine Bestandskraft der Veranlagung eingetreten sein kann, kann sich der Steuerpflichtige zumindest im Besteuerungsverfahren nach wie vor auf das Wahlrecht berufen. Allein Beck hat sich gegen diese herrschende Ansicht gestellt und trägt beachtliche Argumente vor, 2 0 9 die leider viel zu wenig gehört wurden. Sie sollen im folgenden aufgegriffen und fortentwickelt werden. Danach kommt Beck zu dem Ergebnis, daß sich der Strafrichter in die Rolle des Steuerberaters begeben und die für den Täter günstigste Option wählen müsse. Denn die durch steuerliche Wahl205 Beschl. v. 21. 04. 1982 - RReg 4 St 20/82, BayOblGSt 82, 50, 52. 206 BGH Beschl. v. 13. 10. 1994 - 5 StR 134/94, HFR 1995,476,476. 207 So auch Vogelberg, Claus-Arnold, in: Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 50, ohne sich mit der Ausübung von Wahlrechten weiter auseinanderzusetzen. 208 OLG Düsseldorf Urt. v. 21. 11. 1988 - 2 Ss 51 /87 - 28/87 III, NJW 1989, 2143, 2144. 209 Beck, Günther, Die Bedeutung der Wahlrechte des materiellen Steuerrechts für die Steuerverkürzung nach § 370 Abs. 4 AO, S. 71 ff.
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rechte entstehende Ungewißheit über deren Ausübung durch den Steuerpflichtigen sei nur im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu handhaben. Dementsprechend müsse die für den Steuerpflichtigen günstigste Alternative des steuerlichen Wahlrechtes ermittelt werden und die für diese Alternative anfallende Steuerschuld errechnet werden. Nur dieses sichere Minimum erfülle die nach Art. 103 Abs. 2 GG zu fordernde Bestimmtheit. Vor Beck hat schon Blank 210 die Abhängigkeit der Strafbarkeit von der Ausübung von Wahlrechten am Beispiel der umsatzsteuerlichen Option des Kleinunternehmers (§19 Abs. 1 und 2 UStG) beschrieben. Er kommt zu dem Ergebnis, daß im Strafverfahren sicherzustellen sei, ob der Steuerpflichtige zur Umsatzsteuerfreiheit hin optiert hat und somit allenfalls § 14 Abs. 3 UStG verwirklicht hat. Einen Bezug zu Art. 103 Abs. 2 GG stellt er jedoch nicht her. Diese Ungewißheit, die die Unbestimmtheit des Steuerhinterziehungstatbestandes nach sich zieht, folgt aus dem Umstand, daß der Steuerpflichtige unter bestimmten Voraussetzungen nicht gehindert ist, seine Wahl auch später, etwa vor dem Hintergrund der drohenden Bestrafung zu ändern. Grundsätzlich ist ein Wahlrecht bis zur Bestandskraft des Steuerbescheides auszuüben. Nach überwiegender, jedoch bestrittener Ansicht kann sogar im finanzgerichtlichen Verfahren ein Wahlrecht erstmals ausgeübt werden. 211 Ist der Strafrichter nicht geneigt, das Strafverfahren gemäß § 396 AO bis zum Abschluß des steuerlichen Verfahrens auszusetzen, so ist regelmäßig noch keine Bestandskraft eingetreten und der Steuerpflichtige kann sein Wahlrecht nach Belieben erstmals oder erneut, und zwar nun in geänderter Weise ausüben. Doch selbst bei bestandskräftigen Steuerbescheiden lebt das Wahlrecht wieder auf, soweit der Bescheid nach den Vorschriften der §§ 172 ff. AO geändert wird. Beck weist zu Recht auf den unausweichlichen Widerspruch hin. 2 1 2 Nach der gesetzlichen Bestimmung des § 370 Abs. 4 S. 1 AO liegt der Verkürzungserfolgseintritt auf dem Zeitpunkt der falschen Steuerfestsetzung, obgleich der Steuerpflichtige innerhalb der Rechtsbehelfsfrist das Recht innehat, sein Wahlrecht anders auszuüben. Würde man hingegen der Ansicht zuneigen, daß die Einbeziehung von steuerlichen Wahlrechten bei der Subsumtion des Steuerhinterziehungstatbestandes nicht mehr zum Aufgabenkreis des urteilenden Strafrichters gehört, so hätte es der Steuerstraftäter allein in der Hand, die von ihm verwirklichte Schuld im nachhinein zu mindern. Im Extremfall entfällt bei einer bestimmten Option der Steueranspruch 210
Blank, Martin, Zum objektiven Tatbestand des § 370 I Nr. 2 AO beim Kleinunternehmer nach § 19 UStG, wistra 1992, 51, 56. 211 Lediglich Rönitz, Dieter, Verfahrensrechtliche Überlegungen zur Ausübung von Wahlrechten des materiellen Steuerrechts, StBJb 1980/81, 359, 370, sieht im finanzgerichtlichen Verfahren eine reine Rechtskontrolle, die das Nachschieben eines Wahlrechts ausschließe. 212 Beck, Günther, Steuerliche Wahlrechte und Steuerverkürzung nach § 370 Abs. 4 AO, wistra 1998, 131, 133.
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völlig, weil die Bemessungsgrundlage unter einem Freibetrag bleibt. In diesen Fällen kann es letztlich nicht auf Kenntnis oder Unkenntnis des Steuerpflichtigen über seine steuerlichen Wahlrechte ankommen. Ein völliges Außerachtlassen erscheint als Verstoß gegen den verfassungsrechtlich garantierten Schuldgrundsatz im Strafrecht. Denn der Steuerpflichtige kann nur insoweit Steuern verkürzen, als ihn überhaupt eine Steuerpflicht - unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden steuerlichen Wahlrechte - trifft. Zudem kennt das Steuerrecht Wahlrechte, die nur von mehreren Personen gemeinsam ausgeübt werden können. Es wäre verfassungsrechtlich untragbar, die Strafbarkeit einer Person von der beliebigen Entscheidung eines Dritten abhängen zu lassen. Ist tatsächlich schon fragwürdig, ob nicht bereits die steuerliche Gewährung von Wahlrechten rechtsstaatswidrig ist, da sie gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung verstoßen könnte, 213 so muß dieser Umstand im Steuerstrafrecht zugunsten des Betroffenen und unter Einbeziehung von Art. 103 Abs. 2 GG dahingehend gewürdigt werden, daß eine Steuerverkürzung nur in Höhe des Steuerbetrages möglich ist, der von Wahlrechten unbeeinflußt ist. Im Ergebnis bedeutet dies, daß der Strafrichter Wahlrechte fiktiv so zu behandeln hat, als hätte der Steuerpflichtige sie im Interesse einer möglichst niedrigen Steuerverkürzung ausgeübt. Eine Bestrafung für darüber hinaus gehende Verkürzung von Steuern ist wegen der Ungewißheit der Wahlrechtsausübung verfassungswidrig unbestimmt i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG.
e) Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht aa) Das geschützte Rechtsgut als Einstieg Tipke 114 stellt fest, daß das an das Steuerrecht anknüpfende Steuerstrafrecht nur gerecht sein kann, wenn auch das Steuerrecht als ausfüllende Norm gerecht ist. Hinsichtlich dieses viel zitierten Satzes besteht weitestgehend Einigkeit. Uneinigkeit besteht über die hieraus zu ziehenden Konsequenzen. Streitig ist weiterhin der Einstieg in die Problematik. Entgegen einzelnen Stimmen der Literatur 215 kann eine Lösung allein auf einfachgesetzlicher Ebene nicht befriedigen. Daher muß der 213 Birk, Dieter, „Besteuerung nach Wahl" als verfassungsrechtliches Problem, NJW 1984, 1325, 1326. zw Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1417. 2 5
* Hiergegen a. A. Rolletschke, Stefan, Die Hinterziehung (verfassungswidriger) Vermögensteuer, DStZ 2000, 211, 212. Entgegen Rolletschke ist zu sagen, daß eine Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Aspekten, vor allem aber dem hierüber einfließenden Gebot der Gerechtigkeit sich kaum vermeiden läßt, will man sich nicht auf einen rechtspositivistischen Standpunkt zurückziehen.
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Schwerpunkt auf verfassungsrechtlichen Überlegungen, insbesondere auch dem Gebot der Gerechtigkeit liegen. Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen soll das Schutzgut des § 370 AO sein. Das geschützte Rechtsgut eines Straftatbestandes stellt eine zentrale Figur der Strafrechtslehre dar, die ihre Bedeutung bei der Auslegung wie auch der kritischen Analyse des bestehenden Gesetzes entfaltet. Trotz der Neufassung des Steuerhinterziehungstatbestandes konnte über das geschützte Rechtsgut kein Konsens erzielt werden. Nach der bislang vorherrschenden Auffassung ist das geschützte Rechtsgut der Steuerhinterziehung ausschließlich das „öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern". 216 Geschützt werden soll damit das reine Finanzinteresse. Danach ist die innere Rechtfertigung einer hinterzogenen Steuer für die Prüfung einer Steuerhinterziehung unerheblich, soweit nur Finanzinteressen des Staates tangiert sind. Hinter diesem Standpunkt steht letztend01 Τ
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lieh eine positivistische Sichtweise. Dieser Auffassung folgt der BGH. Nach dessen ständiger Rechtsprechung schützt § 370 AO den Anspruch des Steuergläubigers auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer. 219 Gegner werfen diesem Verständnis vor, daß es vor dem Ersten Weltkrieg und während der NS-Zeit noch angemessen war. 2 2 0 Nach einer anderen Sicht schützt die Steuerhinterziehung den „Anspruch des Trägers der Steuerverwaltungshoheit auf pflichtgemäße Offenbarung aller Tatsachen, die für die Festsetzung und Erhebung der Steuern bedeutend sind". 221 Dem läßt sich entgegenhalten, daß die steuerrechtlichen Sachaufklärungspflichten kein Selbstzweck sind, sondern ihre innere Rechtfertigung nur in der Durchsetzung der Steueransprüche finden. 222 216 Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370, Anm. 1; Göggerle, Werner, Zur Frage des geschützten Rechtsguts im Tatbestand der Steuerhinterziehung, BB 1982, 1851, 1856; Suhr, Christian, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung im Festsetzungsverfahren, S. 32. Ebenso die Rspr. des BGH in der Entscheidung v. 01. 02. 1989-3 StR 179/88, wistra 1989, 226, 227 und v. 23. 03. 1994 - 5 StR 91/94, wistra 1994, 194, 194. Femer BGH Urt. v. 28. 11. 1957 - 4 StR 180/57, ZfZ 1958, 145, 147; BGH Beschl. v. 20. 03. 1979 - 1 StR 677/78, STRK AO 1977 § 370 R. 9; Urt. v. 16. 06. 1925 - 1 188/25, RGSt 59, 258, 262. 217 Zu weitgehend dagegen Isensee, Josef, Aussetzung des Strafverfahrens - rechtsstaatliche Ermessensdirektiven, NJW 1985,1007, 1008, der in der Steuerhinterziehung generell nur den Schutz des positiven Rechts sieht. 218 Zuletzt Urt. v. 18. 09. 1981 - 2 StR 358/81, BGHSt 30, 207, 211; Urt. v. 23. 03.1994 5 StR 91/94, BGHSt 40,109,112. ™ St. Rspr. seit Urt. v. 01. 02. 1989 - 3 StR 179/88, BGHSt 36, 100, 102. 220 Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 96. 221 Troeger, Heinrich, Steuerstrafrecht, S. 8. 222 Hilgers, Brigitte, Täuschung und/oder Unkenntnis der Finanzbehörde - notwendige Voraussetzung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung?, S. 37 f.
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Dannecker hält neben den Finanzinteressen des Staates gleichzeitig das Besteuerungssystem als solches durch den Straftatbestand der Steuerhinterziehung für geschützt. 223 Es soll der zusätzliche Unrechtsgehalt erfaßt werden, der in der Konterkarierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Lenkungsfunktion besteht. Einzuräumen ist, daß dies nicht für Fiskalzwecknormen gelten kann, somit nach deren innerer Rechtfertigung zu fragen ist. Teilweise wird im Schrifttum auch ergänzend der Schutz der redlichen Steuerzahler mit angeführt. 224 Gegen dieses Verständnis ist außerdem vorgebracht worden, daß eine einzelne Steuerhinterziehung nicht das gesamte Steuersystem beeinträchtigen könne. Die Tatbestände des Subventionsund Kreditbetruges, die Dannecker zur Begründung heranzieht, hätten zudem eine gänzlich andere Struktur, so daß keine Parallele bestehe und sich eine Übertragung des Schutzgutes dieser Tatbestände verbiete. 225 Nach einer neueren Lehre 226 schließlich umfaßt das geschützte Rechtsgut des § 370 Abs. 1 AO nicht bloß das fiskalische Interesse des Staates, sondern vielmehr ist danach die Steuerhinterziehung deswegen, zumindest aber auch deswegen227 strafbar, weil sie die „ gerechte und gleichmäßige Lastenverteilung der Steuern nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit beeinträchtige " und damit die Rechtfertigung der Steuern bedrohe oder zerstöre. Aus der mechanistischen Verkettung von Blankettatbestand und ausfüllender Norm ergebe sich als Folge, daß das Strafrecht die Auslegung des Steuerstraftatbestandes an das Steuerrecht verliere. Das Steuerrecht bilde heute eine Rechtsmaterie, die durch ein Konglomerat verschiedenartiger politischer Kompromisse gekennzeichnet sei, welche im politischen Prozeß zwischen Parteien und Interessenverbänden im Hinblick auf deren jeweilige finanzielle Interessenlage geschlossen wurden. Da im Gesetzgebungsprozeß die Frage nach der Gerechtigkeit, die im Strafrecht immer im Vordergrund stehen müsse, hinter materiellen Zielsetzungen des auf Einnahmen bedachten Staates und der auf Steuervermeidung ausgelegten Steuerbürger zurücktrete, könne das Steuer-
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Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 174. Zu diesem Ansatz zweifelnd: Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1413. 224 Von der Heide, Isabella, Tatbestands- und Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, S. 58. 225
Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 18. 226 Salditi, Franz, Die Hinterziehung ungerechter Steuern, FS f. Klaus Tipke, S. 475 ff. Dieser Ansicht haben sich auch angeschlossen: Bornheim, Wolfgang /Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 78; Kohlmann, Günter / Hilgers-Klautzsch, Brigitte, Bestrafung wegen Hinterziehung verfassungswidriger Steuern?, Stbg 1985, 485, 491; Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 96. 227 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 1. Nach der vermittelnden Lösung von Seer sei die gleichmäßige Lastenverteilung zwar nicht das alleinige Rechtsgut, der Staat betreibe mit dem Instrument des Steuerstrafrechts jedoch gleichzeitig das Interesse des einzelnen Steuerzahlers mit dem Ziel, daß alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft ihren Anteil an den gerechten und gleichmäßigen Lasten tragen.
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strafrecht unter Zugrundelegung des Schutzgutes der Rechtsprechung nicht den Erfordernissen eines gerechten Strafrechts entsprechen. Das neu geschaffene „Prinzip der Abgabengerechtigkeit' setze für eine Strafbarkeit voraus, daß das Tatunrecht sich nicht im reinen Ungehorsam gegenüber dem Steuerbefehl erschöpfe, sondern darüber hinaus in einen Angriff auf das geschützte Rechtsgut einer „gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung" münde. Eine differenzierte Reaktion des Staates sei auch dadurch möglich, daß in diesen Fällen trotz Tatbestandsverwirklichung von der Bestrafung unter Heranziehung von §§ 153 und 153 a StPO, § 398 AO als Korrektiv abgesehen werde. 228 Damit könne der „Normdefekt" einer fehlenden Ausrichtung an der Gerechtigkeit umspielt werden. Gerade die Einstellungsmöglichkeiten könnten auch in Fällen Anwendung finden, in denen ungerechte Steuernormen noch nicht durch ein Diktum des Verfassungsgerichts für nichtig erklärt wurden. Sieht man diese Lehre im Zusammenhang mit der Rechtsansicht Danneckers, so vermag sie sowohl für die Verfolgung einer Hinterziehung von Steuern, die aufgrund Fiskalzwecknormen erhoben werden, wie auch solchen, die aufgrund von Lenkungsnormen erhoben werden, eine Rechtfertigung zu liefern. Nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit können beide Ansätze fortentwickelt werden. Klärungsbedürftig erscheint die Behandlung einer Steuerhinterziehung bei Lenkungssteuern. Da hier aus wirtschafts-, sozial- oder kulturpolitischen Motiven Steuertatbestände geschaffen werden, tritt das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab in den Hintergrund. Schutzgut kann hier jedoch genauso wenig das fiskalische Interesse des Staates sein, sondern eben gerade die Wahrung dieser wirtschafts-, sozial- oder kulturpolitischen Interessen, die Gegenstand der Lenkungsnorm sind. Dannecker 229 gelingt es mit seiner Definition des Schutzgutes, neben der Steuereinnahme des Staates gleichzeitig die Vermögensentziehung beim Steuerpflichtigen miteinzuschließen. Diese ist Mittel zum Zweck, wenn mit der Steuer wirtschaftslenkende Funktionen verbunden werden sollen. Für die von der überkommenen Lehre abweichende Rechtsansicht, welche sich auf das Prinzip der Abgabengerechtigkeit stützt, sprechen beachtliche Argumente. Sie hebt die zunächst primär strafrechtliche Diskussion auf eine verfassungsrechtliche Ebene. Folgt man ihr, so ergeben sich Konsequenzen für die Strafbarkeit der Hinterziehung ungerechter Steuern. Andererseits hat dieser Ansatz berechtigte Kritik erfahren. 230 Es fehlen handhabbare Kriterien, „ungerechte Steuern" zu definieren. Was nämlich ungerecht ist, 228 229
Salditi, Franz, Hinterziehung ungerechter Steuern, StraFo 1997, 65, 68. Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr,
S. 174. 230 Bruhnke, Sabine, in: Wannemacher, Wolfgang, Steuerstrafrecht, Rn. 27. Näherer Betrachtung bedarf jedoch, wenn Bruhnke ausführt, daß Richter, Staatsanwälte und Finanzverwaltung wegen der Bindung an Gesetz und Recht eine Norm auch dann anwenden müssen, wenn sie als ungerecht empfunden wird.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
muß im Verfassungsstaat zunächst am Maßstab der Verfassung gemessen werden. Auf persönliche Vorstellungen kann es nicht ankommen. Steuerhinterziehung in einem „fast gerechten Staat" (Rawls) als Widerstand gegen die staatliche Gewalt darf es nicht geben, wie oben 231 bereits ausgeführt wurde. Dies muß jedenfalls solange gelten, als der Rechtsstaat effektiven Rechtsschutz gewährt. Wie aber die Hinterziehung verfassungswidriger Steuern zu behandeln ist und ob es daneben noch eine (legitime) Hinterziehung ungerechter, im Sinne von gegen vorstaatliches Recht verstoßender Steuern geben kann, soll Gegenstand der folgenden Betrachtung sein. Vereinzelt wird der neuen Rechtsgutdefinition vorgeworfen, ihr gehe es offensichtlich nur um die Straflosstellung der Hinterziehung einer mit der Verfassung unvereinbaren Steuer. Auch könne mit der Ausrichtung an der Lastengleichheit ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG dogmatisch nicht eingeordnet werden. Wohl gehe es nicht um die Lastengleichheit, sondern um die Verfassungswidrigkeit der hinterzogenen Steuer. Es bestehe daher wenig Aussicht, daß sich die neue Definition in der Rechtsprechung des BGH durchsetze. 232
bb) Unvereinbarkeitsentscheidungen im Steuerrecht als Auslöser Zum Tragen kommt die abweichende Auffassung also insbesondere, sobald verfassungswidrige Steuern vom Steuerpflichtigen nicht erklärt werden. Nicht selten beläßt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist, innerhalb der der Gesetzgeber aufgefordert ist, für eine verfassungsgemäße gesetzliche Neuregelung zu sorgen. Die Norm wird dann für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erklärt, sie ist jedoch nicht mit ex tunc-Wirkung gemäß § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklärt. Demgegenüber werfen Nichtigkeitsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes keine steuerstrafrechtlichen Probleme auf, da hier die entscheidungsgegenständliche Steuernorm nicht mehr angewandt werden darf, somit auch keine strafrechtlich relevante Verkürzung erfolgen kann. Diese sogenannten Unvereinbarkeitsentscheidungen sind gesetzlich nicht geregelt, sie finden aber seit 1970 gesetzliche Erwähnung in §§ 31 Abs. 2 S. 2 und 79 Abs. 1 BVerfGG. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als Rechtsfortbildung entwickelt und daran in mehreren Varianten unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft. Die Schöpfung der Unvereinbarkeitsentscheidungen ist zu begrüßen, wenn sich auch bis heute kein klares Bild abzeichnet. Hierfür ist der Gesetzgeber verantwortlich, der es bis zuletzt unterlassen hat, eine längst überfällige eindeutige gesetzliche Regelung zu erlassen. 233 Das Schrifttum 234 kritisiert mit Recht, daß ein 231
Siehe dazu Zweites Kapitel: § 4 „Steuerwiderstand" auf S. 65 ff. Meine, Hans-Gerd, Zu den strafrechtlichen Auswirkungen der Vermögensteuerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. 6. 1995, DStR 1999, 2101, 2103. 233 Ein gesetzgeberisches Tätigwerden fordert auch Häberle, Peter, Die Verfassungsbeschwerde in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JÖR 45 (1997), 89,126. 232
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solch fragmentarischer Charakter, wie ihn die Unvereinbarkeitsentscheidungen durch die ansatzweise Erwähnung im Gesetz gefunden haben, den Schluß nahelegt, die rechtlichen Konsequenzen des gewählten Ansatzes seien noch nicht bis zuletzt durchdrungen. Richtiger Ansatzpunkt der Kritik muß vielmehr sein, daß das Bundesverfassungsgericht bei seinen Unvereinbarkeitsentscheidungen zum Steuerrecht lediglich die fiskalischen Interessen des Gemeinwesens im Auge behält, darüber jedoch die steuerstrafrechtliche Seite übersieht. Schon früh hat das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen festgestellt, daß der Finanzbedarf des Staates niemals geeignet ist, eine verfassungswidrige Besteuerung zu rechtfertigen. 235 Führt man diesen Gedanken fort, so kann niemals ein staatlicher Strafanspruch allein auf finanzielle Interessen des Staates gestützt werden, kann keine verfassungswidrige Besteuerung dem Blankettatbestand der Steuerhinterziehung unterlegt werden.
cc) Problemaufriß anhand kritischer Stimmen der Literatur (1) Die These von der fehlenden Strafwürdigkeit (a) Bei mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Steuergesetzen Tipke 236 sieht in der „Perpetuierung von Unrecht ausfiskalischen Gründen" bei Unvereinbarkeitsentscheidungen einen Rechtszustand, der nicht in das Steuerstrafrecht übertragen werden kann. Die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit ganzer Teilgebiete wie des Vermögenssteuerrechts war den für die Gesetzgebung Verantwortlichen schon seit Jahren bekannt, ohne daß Konsequenzen hieraus gezogen wurden. Selbst nachdem diese Normen für verfassungswidrig erklärt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht großzügige Übergangsfristen eingeräumt. Wer sich aber als Steuerpflichtiger einer Besteuerung durch verfassungswidrige Steuergesetze entzieht, handele wie Tipke im Ergebnis feststellt, zumindest nicht strafwürdig. Kohlmann /Hilgers-Klautzsch stimmen diesen Ansätzen zu und gehen noch darüber hinaus, indem sie außerdem bei Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung verneinen. 237 Beispielhaft nennen sie das Zinsurteil 238 . Die Auffassung der Autoren ist bemerkenswert, da 234 So die Kritik bei Löwer, Wolfgang, Steuerpflicht trotz verfassungswidriger Normen?, StVj 1991,97, 114. 23 5 Beschl. v. 17. Ol. 1957 - 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55, 80. 236
Tipke, Klaus, Über die Grenzen der Vermögenssteuer, GmbHR 1996, 8, 15; ders., Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 94; zweifelnd auch Deimel, Paul/Messner, Michael, Steuerfahndung in Banken, S. 2. 237 Kohlmann, Günter/Hilgers-Klautzsch, Brigitte, Bestrafung wegen Hinterziehung verfassungswidriger Steuern?, Stbg 1998, 485, 489. Ebenso Niebier, Klaus, Höchstrichterliche Hilfe für Steuerhinterzieher, Stbg 2000, 221, 222. 238 Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
das Bundesverfassungsgericht bei Erlaß einer Appellentscheidung davon ausgeht, daß die zugrundeliegende Norm „noch verfassungsgemäß" ist und erst nach Ablauf einer Übergangsfrist verfassungswidrig wird, wenn der Steuergesetzgeber den an ihn gerichteten Auftrag nicht wahrnimmt. 239 Sie begründen ihren Standpunkt jedoch damit, daß das Strafrecht, anders als das Steuerrecht, welches lediglich von haushaltspolitischen Erwägungen beeinflußt werde, sich im hochsensiblen grundrechtsrelevanten Bereich bewege und an den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gemessen werden müsse, insbesondere der Schuldgrundsatz „nullapoena sine culpa" zu beachten sei. Plewka/Heerspink 240 vertreten schließlich die Rechtsansicht, daß es mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit keinen schützenswerten Steueranspruch mehr gebe. Sie begründen dies aufgrund eines Vergleiches mit dem Betrugstatbestand. Danach sei bei Geltendmachung von sittenwidrigen oder schlicht rechtswidrigen Forderungen nicht strafbar wegen Betruges, wer diese nicht bezahlen wolle. In Abhängigkeit vom vertretenen Vermögensbegriff gehörten diese zwar zum Vermögen, setzten aber Zahlungswilligkeit des Schuldners voraus. Habe der Schuldner zu erkennen gegeben, daß er nicht zahlungswillig sei, sei die Forderung wirtschaftlich wertlos. Eine verfassungswidrige Steuer könne aber keinen höheren Schutz genießen als ein rechtswidriger zivilrechtlicher Anspruch. Der Argumentation von Plewka /Heerspink läßt sich aber entgegenhalten, daß die für unvereinbar erklärten Steuern nach wie vor erhoben werden können, ja selbst im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden können. Sie sind deshalb mit einem rechtswidrigen zivilrechtlichen Anspruch, der nicht gegen den Willen des Schuldners durchgesetzt werden kann, nicht vergleichbar. Burkhard 241 vertritt den Standpunkt, daß von keinem Mitglied der Rechtsgemeinschaft verlangt werden könne, sich verfassungswidrigen Gesetzen zu beugen oder gar selbst verfassungswidrig zu agieren. Deshalb ende jede Strafdrohung dort, wo das Verfassungsgericht Einhalt gebietet und das zugrundeliegende Steuergesetz für verfassungswidrig erklärt. Folgt man der These von der fehlenden Strafwürdigkeit verfassungswidriger Steuern, so entfällt die Strafbarkeit nicht nur bei durch das Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Steuergesetzen, sondern bei jedem gegen die Verfassung verstoßenden Steuergesetz unabhängig von einer Entscheidung der Verfassungsgerichtsbarkeit.
239 Zweifelnd hingegen Spatscheck, Rainer, Bankenfälle und Selbstanzeigepraxis - Ein Zwischenbericht, DB 2000,492,492. 240 Plewka, Harald / Heerspink, Frank, Anmerkung zu LG München II, Beschluß vom 11. 11. 1999-5 Qs 12/99, BB 2000, 292, 293. 241 Burkhard, Jörg, Festsetzung von Hinterziehungszinsen nach § 235 AO bei Vermögensteuerhinterziehungen trotz Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer?, Stbg 2000, 122, 124.
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Bornheim benennt daher neben der von ihm angestoßenen Diskussion zur Vermögenssteuerhinterziehung 242 weitere Steuerrechtsgebiete, die wegen ihrer verfassungsrechtlich bedenklichen Ausgestaltung auch hinsichtlich ihrer Verkiirzungsstrafbarkeit von Bedeutung sein können: das neue Schenkungs- und Erbschaftssteuerrecht wegen seines im Bundesgebiet einheitlichen Vervielfältigers und seines unterschiedlichen Weitniveaus für bebaute und unbebaute Grundstücke 243, die Zinsbesteuerung 244 oder die Privilegierung gewerblicher Einkünfte durch einen abgesenkten Spitzensteuersatz gemäß § 32 c EStG 245 . Ein Sonderproblem stellt die Einordnung des Halbteilungsgrundsatzes und die Beurteilung seiner Auswirkungen auf das Strafbarkeit der Verkürzung einer Steuerschuld, die die Grenzen des Halbteilungsgrundsatzes überschreitet. Offensichtlich zu weit geht die aus dem Halbteilungsgrundsatz abgeleitete Vorstellung von Bornheim, daß bei einer gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßenden Verschleuderung von Steuergeldern die Hinterziehungshandlung dieser Steuern nicht mehr tatbestandsmäßig sein soll. 2 4 6 Eine weitere Überlegung bringen Bornheim /Birkenstock ein. 2 4 7 Sie fußt auf dem Gedanken, daß ausfüllende Norm des Blankettatbestandes des § 370 Abs. 1 AO jedes förmliche Gesetz sein kann. Dies sind unstreitig alle Parlamentsgesetze. Dazu seien aber auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zu zählen, da diesen Gesetzesrang zukomme. Der Tenor der Entscheidung, der die Verpflichtung zur Neuregelung und die Fristsetzung enthält, genieße aufgrund § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft und sei als materielles Steuerrecht in den Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO einbezogen.248 Bornheim/Birkenstock gehen sodann noch einen Schritt weiter und wollen selbst in den Entscheidungsgründen enthaltene Aussagen, so zum Beispiel den sogenannten Halbteilungsgrundsatz 249 in den ausfüllenden Tatbestand mit hineinziehen. Tatsächlich ist schon umstritten, ob der Halbteilungsgrundsatz überhaupt bindender Natur ist, weil er von Kritikern nicht für entscheidungserheblich und damit für ein obiter dictum, mitunter sogar für einen 242
Bornheim, Wolfgang, Der Vermögensteuerbeschluß des BVerfG vom 22. 6. 1995, DB 1997, 1534, 1539. 243 Bornheim, Wolfgang, Verfassungswidrige Steuern und Verlängerung der Festsetzungsverjährung aufgrund Steuerhinterziehung gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO, Stbg 1998, 549, 553. 244 Hierzu ausführlich siehe unten: Viertes Kapitel: § 6 „Steuerfahndung bei Banken und das Bankgeheimnis als Verfassungsproblem" auf S. 361 ff. 245 Bornheim, Wolfgang, Verfassungswidrigkeit des § 32 c EStG und steuerstrafrechtliche Auswirkungen, PStR 1999, 136, 136 ff. 246 Bornheim, Wolfgang, „Halbteilungsgrundsatz" und Steuerhinterziehung, StuW 1998, 146, 154. 247 Bornheim, Wolfgan g / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 247 f. 248 So jetzt auch Götzens, Markus, in: Wannemacher, Wolfgang, Steuerstrafrecht, Rn. 892. 249 Beschl. v. 22. 06. 1995 - 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, 138.
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Kompetenzverstoß gehalten wird. 2 5 0 Dagegen spricht aber, daß das Bundesverfassungsgericht den Halbteilungsgrundsatz als Leitsatz formuliert hat. Jedenfalls aber widerspricht dies der bislang nahezu unbestrittenen Auffassung, 251 wonach nur der Tenor Gesetzeskraft erlangt. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 31 Abs. 2 S. 3 und 4 BVerfGG, wonach nur die Entscheidungsformel im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen ist. Soweit die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts bei § 31 Abs. 1 BVerfGG eine weitergehende Bindung begründen wollte, 2 5 2 ist sie auf Widerspruch der Wissenschaft gestoßen.253 Die Rechtsprechung hält dieser Kritik entgegen, daß die gestörte Rechtsordnung nicht nur im Einzelfall wiederherzustellen sei, sondern darüber hinaus eine Befriedungsfunktion wahrzunehmen sei und durch Klärung der Rechtslage weitere gleichgeartete Streitigkeiten zu vermeiden sind. Danach sei der Gesetzgeber auch zur Reform derjenigen Gesetze verpflichtet, die nicht den Anstoß zur Unvereinbarkeitserklärung gegeben haben, sondern erst aufgrund der Ausführungen in den tragenden Entscheidungsgründen als verfassungswidrig sich erweisen. 254 Auf § 31 Abs. 2 BVerfGG ist diese Judikatur aber nicht übertragbar. 255 Der Nichtannahmebeschluß vom 02. 04. 1996 256 differenziere aber, so Bornheim /Birkenstock, jedoch nicht mehr zwischen § 31 Abs. 1 BVerfGG einerseits und § 31 Abs. 2 BVerfGG andererseits und lasse erkennen, die Bindungswirkung weiter in Richtung Gesetzeskraft gehen zu lassen.257 Die Autoren räumen ein, daß aus einem Nichtannahmebeschluß keine unmittelbar verbindliche Aussage erwachse. Trotzdem halten sie es für gerechtfertigt, daß unter Zugrundelegung der 250 Befürwortend: Vogel, Klaus, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, S. 22; List, Heinrich, Der Bundesfinanzhof und der Halbteilungsgrundsatz, BB 1999, 981, 982; Bornheim, Wolfgang, „Halbteilungsgrundsatz" und Steuerhinterziehung, StuW 1998, 146, 147. Abi. dagegen: Böckenförde im Sondervotum zu BVerfGE 93, 121 ff., dort 149 ff., insbes. auch 150; gegen eine Bindung auch, da seiner Ansicht nach der Halbteilungsgrundsatz nicht zu den tragenden Gründen gehört: Flume, Werner, Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zu den Einheitswerten in Hinsicht auf die Vermögens- und Erbschaftsteuer, DB 1995, 1779, 1779. 251 Zuck, Rüdiger, in: Lechner, Hans/Zuck, Rüdiger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 31, Rn. 37, hält es für unbestritten, daß nur der Tenor Gesetzeskraft erlangt. Ebenso List, Heinrich, Der Halbteilungsgrundsatz und der Bundesfinanzhof - ein Mißverständnis?, BB 2000,745, 745. 252 So ständige Rspr. seit Urt. v. 23. 10. 1951 - 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14, 37; Beschl. v. 20. 01. 1966 - 1 BvR 140/62, BVerfGE 19, 377, 392; Beschl. v. 10. 06. 1975 2 BvR 1018/74, BVerfGE 40, 88, 93. 253 Vor allem Häberle, Peter, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1980), S. 159, 159, der ablehnend von einer ,3indungsideologie" spricht. 254 Herter, Wilfried, Die Unvereinbarkeitserklärung verfassungswidriger Steuergesetze, S. 71. 255 Dagegen a. A. aber wohl Bornheim, Wolfgang, Hinterziehung von Vermögensteuer, Stbg 1999,310,311.
256 BVerfG Beschl. v. 02. 04. 1996 - 1 BvL 19/95, BStBl I I 1996,461,461. 257 Bornheim, Wolfgang / Birkenstock, Reinhard, a. a. Ο. (Fn. 247), S. 248.
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darin enthaltenen Rechtsansicht ζ. B. aus dem Halbteilungsgrundsatz eine Eingrenzung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung erfolge. Es ist ihnen insoweit Recht zu geben, daß praktisch die Bindung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG in die Nähe einer Gesetzesbindung rückt, da ihr alle rechtsanwendenden Instanzen unterworfen sind. 258 Indem das Verfassungsgericht den Halbteilungsgrundsatz als Leitsatz formuliert, zeigt es, daß es den Halbteilungsgrundsatz zu den tragenden Entscheidungsgründen zählt. 259 Schließlich kommen Bornheim /Birkenstock zu dem Ergebnis, daß der Halbteilungsgrundsatz als ausfüllende Steuernorm in den Blankettstraftatbestand des § 370 Abs. 1 AO hineinzulesen sei. Als solcher sei er aber zu unbestimmt i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG, da er nicht mehr aus den Einzelsteuergesetzen zu ermitteln sei, sondern nur durch eine steuerartenübergreifende Zusammenschau.260 Gerd Rose, auf den hierzu Bezug genommen wird, hat in seiner betriebswirtschaftlichen Untersuchung 261 eine Plafondierungsrechnung zur näheren Konkretisierung des Halbteilungsgrundsatzes für erforderlich gehalten, um die verfassungsrechtlichen Grenzen der Besteuerung abzustecken. Der Anspruch auf Plafondierung sei im Gegensatz zu den Folgen aus der Unvereinbarkeit der Vermögenssteuer selbst rückwirkend zu gewähren, weil hier wegen der geringen Zahl der betroffenen Steuerbürger keine erheblichen Auswirkungen auf abgeschlossene Haushaltsjahre zu erwarten sei. (b) Bei „ungerechten" Steuertatbeständen Zu untersuchen sind schließlich Steuertatbestände, die noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes waren und deren Verfassungswidrigkeit noch nicht festgestellt wurde. In diesem Sinne verstandene „ungerechte" Steuergesetze262 sind nicht nur solche, die zwar dem Wortlaut der Verfassung entsprechen, jedoch gegen naturgesetzliche Rechte verstoßen. Denn die Verfassung bietet bezogen auf die vorliegende Thematik im allgemeinen genügend Anknüp258 Zuck, Rüdiger, a. a. O. (Fn. 251), § 31, Rn. 37. 259 List, Heinrich, a. a. O. (Fn. 251), BB 2000, 745, 747. Allgemein: Bethge, Herbert, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 16. 260 So zuletzt schon Bornheim, Wolfgang, „Halbteilungsgrundsatz" und Steuerhinterziehung, StuW 1998, 146, 155. Zutreffend ist sicherlich die Kritik von Tipke am Halbteilungsgrundsatz an sich, wonach unklar bleibt, welche Steuern in die Höchstbelastungsgrenze einzubeziehen sind. Zu fragen ist weiter, ob an Brutto- oder Nettogrößen anzuknüpfen ist. Schließlich ist nicht ersichtlich, welche der beteiligten Steuerarten bei einer Überbelastung zu kappen wäre. Hierzu ausführlich: Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 44 ff. 261 Rose, Gerd, Der Steuer-Plafondierungsbefehl des BVerfG und seine Durchsetzung, DB 1997,494,499. 262 Der Begriff wurde von Salditi, Franz, Die Hinterziehung verfassungswidriger Steuern, in: FS f. Klaus Tipke, S. 475,479, in die Diskussion eingeführt.
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fungspunkte, naturrechtliche Inhalte einzubeziehen und in die verfassungsrechtliche Auslegung zu integrieren. Auch das Bundesverfassungsgericht nimmt an, daß gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt ein „Mehr" an Recht bestehen kann, das aber seine Quelle in der verfassungsmäßigen Ordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Recht gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag. 263 In diesem Sinne verstandene ungerechte Steuergesetze sind vielmehr auch solche, die durch das Bundesverfassungsgericht nicht als verfassungswidrig aufgezeigt wurden, weil es nur auf Anrufung hin tätig wird und bislang keine Gelegenheit hatte, zu einer bestimmten Steuernorm Position zu beziehen. Dem Bundesverfassungsgericht billigt das Grundgesetz in Art. 100 Abs. 1 das Verwerfungsmonopol über formelle Gesetze zu. Man mag einwenden, der betroffene Steuerpflichtige brauche in diesen Fällen lediglich den Rechtsweg zu beschreiten und gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht anrufen. Dies ist jedoch vielfach nicht zumutbar, zum Teil würde es auch nicht zu einem Rechtsschutz für die Vergangenheit, sondern nur pro futuro führen. Es fragt sich, ob die Hinterziehung einer derartigen Steuer strafwürdig sein kann. Es bleibt ungeklärt, wer über gerechte und ungerechte ausfüllende Steuergesetze zu entscheiden hat. Dies wird nicht vom Steuerpflichtigen selbst entschieden werden können, da dieser regelmäßig die ihm auferlegte Steuer als ungerecht empfindet. Demgegenüber ist der einzelne Strafrichter an die Vermutung der Verfassungskonformität eines Steuergesetzes gebunden. Ein Ausweg wird lediglich darin gesehen, daß der Strafrichter das Verfahren aussetzt und entweder die Frage dem Bundesverfassungsgericht im Wege der Richtervorlage zur Entscheidung vorlegt oder aber wenigstens das Verfahren nach § 396 AO aussetzt und den Ausgang eines finanzgerichtlichen Verfahrens abwartet. 264 Letztere Alternative erscheint jedoch nicht geeignet, eine Klärung herbeizuführen, da auch der Finanzrichter die Vermutung der Verfassungskonformität eines Steuergesetzes zu respektieren hat, somit seinerseits zu einer Richtervorlage gezwungen ist. Eine besondere Problemlage ergibt sich, wenn im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren die Prüfung der Verfassungswidrigkeit einer ausfüllenden Steuernorm unterschiedlich beantwortet wird. So kann es vorkommen, daß der Finanzrichter das Verfahren aussetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung vorlegt, der Strafrichter hingegen das Strafverfahren bereits vor dem Besteuerungsverfahren abschließt. Auf diese Problematik wird noch an späterer Stelle zurückzukommen sein. 265 An dieser Stelle bleibt festzuhalten, daß in derart gelagerten Fällen ein rechtskräftiges Strafurteil nach § 79 Abs. 1 BVerfGG im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens zu korrigieren ist.
263 Beschl. V. 14. 02. 1973 - 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 287. 264 Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 370 AO, Rn. 9.5. 265 Dazu näher Viertes Kapitel: § 4 „Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem" auf S. 317 ff.
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Beim gegenwärtigen Zustand des Steuerrechts mit all seinen mehr oder minder zweifelhaften, in sich widersprüchlichen Steuertatbeständen wäre eine Richtervorlage in einer sehr großen Zahl von Fällen veranlaßt. Dies würde zu einer Verschiebung der Balance innerhalb der Gewaltenteilung führen. Eine Klärung sämtlicher für das Steuerstrafrecht relevanter steuerlicher Vorschriften am Maßstab der Verfassung vermag das Bundesverfassungsgericht rein faktisch nicht zu leisten. Ein Zusammenbruch des Rechtssystems wäre die unweigerliche Folge. Man wird unter dem Gesichtspunkt einer richterlichen Selbstbeschränkung dem höchsten Gericht nur die herausragendsten verfassungsrechtlichen Fragen zur Beurteilung vorlegen können und die verfassungskonforme Ausgestaltung des Steuersystems dem Steuergesetzgeber auftragen müssen. Hier liegt gleichzeitig das Unvermögen begründet, das zu den Strukturen des heutigen Steuerrechts geführt hat. An dieser Stelle muß letztlich ein Appell an den Steuergesetzgeber stehen, bei Erlaß von Steuergesetzen stets die strafrechtlichen Konsequenzen mit in die Überlegungen einzubeziehen. Regelmäßig wird übersehen, daß nicht nur Einnahmequellen geschaffen werden, um einen dringenden Finanzbedarf zu decken, sondern daß gleichzeitig die ausfüllende Norm eines Straftatbestandes formuliert wird, woran das Erfordernis der Bestimmtheit geknüpft ist. (2) Die These von der fehlenden Bestimmtheit i. S. v. Art. 103 Abs. 2, 104 GG Salditi 266 vertrat als erster die Auffassung, daß infolge der Verfassungswidrigkeit des ausfüllenden Steuergesetzes die verkürzte Steuer als Maß des Erfolges der Tat nicht zu ermitteln sei. Deshalb sei der Tatbestand des § 370 AO bei Hinterziehung grundgesetzwidriger, ja sogar bei „ungerechten" Steuern verfassungswidrig unbestimmt. Nach einer weiteren Ansicht, die u. a. von Kohlmann vertreten wird, sei die fehlende Strafwürdigkeit aus dem Bestimmtheitsgrundsatz herzuleiten, der in gleicher Weise eine Bestimmtheit der ausfüllenden Norm verlangt. 267 Wo aber statt einer ausfüllenden Norm nur ein verfassungswidriges und damit nichtiges Steuergesetz stehe, sei die Bestimmtheit verletzt, weil die Verweisung ins Leere laufen müßte. Denn ist ein Merkmal des Steuertatbestandes wegen Verfassungswidrigkeit nichtig, so fehlt es an einem bestimmten Tatbestand.268 Das gleiche habe man, so wird ver266 Salditi, Franz, Die Hinterziehung ungerechter Steuern, in: FS f. Klaus Tipke, S. 475, 479; zustimmend Bornheim, Wolfgang / Birkenstock, Reinhard, Steuerfahndung - Steuerstrafverteidigung, S. 237. 267 Kohlmann, Günter, Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, § 370 AO, Rn. 9.5. Zustimmend: Bornheim, Wolfgang, Der Vermögensteuerbeschluß des BVerfG vom 22. 6. 1995, DB 1997, 1534,1538. 268 Gast-de Haan, Brigitte, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich, BB 1991, 2490, 2491; Resing, Klaus, Auswirkungen des Vermögensteuerbeschlusses des BVerfG auf verlängerte Festset-
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treten, jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Norm statt für nichtig, nur für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erklärt und dem Gesetzgeber aufträgt, innerhalb einer Übergangsfrist eine neue verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Steuerbescheide werden, sofern eine rückwirkende Nachbesserung des Gesetzgebers erwartet wird, im Besteuerungsverfahren in diesem Zeitraum nur mit Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Nr. 2 AO ergehen. Für das Besteuerungsverfahren läßt sich die Problematik damit umgehen. Denn die später verwirklichte gesetzliche Neuregelung kann für die vorläufig veranlagten Steuerfälle noch berücksichtigt werden. Im Rahmen der Strafverfolgung ist eine vorläufige Festsetzung des Tatbestandsmerkmals der Steuerverkürzung innerhalb des Tatbestandes der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO nicht möglich, da die verwirklichte Schuld des Täters für Strafbarkeit und Strafzumessung feststehen müssen. Der BGH hat wiederholt entschieden, daß für eine Verurteilung nicht nur die insgesamt verkürzte Steuer ermittelt werden muß, sondern darüber hinaus für jede Steuerart gesondert und entsprechend dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung für jeden Besteuerungszeitraum getrennt die Berechnung der Steuer durchgeführt werden muß. 269 Dieser konkrete Steueranspruch kann aber gegenwärtig nicht beziffert werden, da nicht abzusehen ist, wie die spätere Regelung des Steuergesetzgebers aussehen wird. Demzufolge fehlt es in diesem Sonderfall ebenfalls an der erforderlichen Bestimmtheit der den Blankettatbestand des § 370 Abs. 1 AO ausfüllenden Steuernorm. Aus der Sicht der Gesetzesunterworfenen ist im vorhinein nicht klar, ob ein bestimmter Tatbestand erlaubt oder strafbar ist. Sie können ihr Verhalten nicht danach ausrichten und verwirklichen deshalb keine persönliche Schuld. Die schließlich getroffene gesetzliche Regelung kann strafrechtlich keine (belastende) Rückwirkung beanspruchen, da auch bei einem Blankettatbestand die Strafbarkeit eines Verhaltens schon bestimmt sein muß, bevor die Tat begangen wurde (Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB). Der auf einer verfassungswidrigen Steuernorm beruhende Steuerhinterziehungstatbestand bleibt unbestimmt. Der vermeintliche Täter begeht allenfalls ein strafloses Wahndelikt, weil er eine im Sachverhalt richtig erkannte, nach dem Gesetz aber nicht strafbare Handlung für strafbar hält und diese verwirklicht. 270 Plewka/Heerspink 271 greifen die Diskussion erneut auf und präzisieren die Argumente der Gegner einer Strafbarkeit verfassungswidriger Steuern. Danach sei zungsVerjährungsfristen und die Festsetzung von Hinterziehungszinsen, DStR 1999, 922, 923. 269 BGH vom 5. 9. 1984 - 2 StR 377/84, StV 1984, 497; BGH vom 30. 6. 1982 - 1 StR 208/82, NStZ 1982,425,425; BGH vom 30. 7. 1985 - 1 StR 286/85, wistra 1986, 23, 23. 270 Nach Tröndle, Herbert, in: Tröndle /Fischer, Strafgesetzbuch, § 22, Rn. 31, ist die Abgrenzung zum strafbaren untauglichen Versuch danach vorzunehmen, daß beim untauglichen Versuch der Täter irrtümlich fehlende Tatbestandsmerkmale als gegeben ansieht. Dagegen a. A. Vogelberg, Claus-Arnold, in: Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 80, der hierin die irrige Vorstellung eines strafrechtlich sanktionierten Steuertatbestandes sieht.
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eine Unbestimmtheit des Steuerhinterziehungstatbestandes gerade in den Fällen gleichheitswidriger Steuern anzunehmen. Mit dem Ausspruch einer verfassungswidrigen Ungleichheit stehe nicht die Höhe einer der Verfassung entsprechenden Steuer fest. Da diese im späteren Gesetzgebungsverfahren höher oder niedriger ausfallen könne als nach dem bestehenden Steuergesetz, fehle eine Regelung über die Höhe der Steuerlast, so daß nach Art. 103 Abs. 2, 104 GG von einer verfassungswidrigen Unbestimmtheit ausgegangen werden könne. (3) Die These von der Anwendbarkeit eines lex mitior Findet die Aburteilung erst nach Ablauf der Ubergangsfrist statt, wenn auch das Delikt noch in der Übergangsfrist verwirklicht wurde, so läßt sich nach Ansicht von Urban die Straflosigkeit bereits unmittelbar mit § 2 Abs. 3 StGB begründen, der anordnet, daß bei Gesetzesänderungen stets das mildeste Gesetz anzuwenden ist. 2 7 2 Es müsse, so Urban, davon ausgegangen werden, daß der Unvereinbarkeitsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts das verfassungswidrige ausfüllende Steuergesetz in seiner Gesetzeskraft materiell beseitige. Auf eine formelle Aufhebung könne es nicht ankommen. Ähnlich argumentiert auch Wendt, 273 der dem Gesetzgeber am Beispiel der Vermögenssteuer vorwirft, daß er die Frist zur Nachbesserung ungenutzt verstreichen ließ. Durch die Untätigkeit sei die Norm nichtig geworden. Hierin liege aber eine Änderung i. S. v. § 2 Abs. 3 StGB. Was die steuerliche Anwendung der verfassungswidrigen Vorschriften anbelangt, so hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 30. 03. 1998 274 die Rechtsansicht vertreten, daß aus Gründen der Gleichbehandlung es nicht darauf ankommen könne, wann die Finanzbehörde mehr oder minder zufällig über den Sachverhalt im Rahmen der Veranlagung zu befinden hat, sondern statt dessen wann der Sachverhalt tatsächlich verwirklicht ist. Liegt dieses Datum vor dem Ablaufen der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist, so sind die für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften steuerlich noch anzuwenden. Einzelne Stimmen der Literatur 275 haben dem beigepflichtet mit der Begründung, daß 271 Plewka, Harald /Heerspink, Frank, Nichtabführung von verfassungswidrig überhöhten bzw. ungleichen Steuerforderungen, BB 1999, 2429, 2432. 272 Urban, Bernd, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen des „Vermögensteuerbeschlusses" des BVerfG vom 22. 6. 1995, DStR 1998, 1995, 1997, der die Strafbarkeit bei Verurteilung während der Übergangsfrist nicht problematisiert. Ebenso Ulsamer, Gerhard / Müller, KarlDieter, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 zum Vermögenssteuergesetz, wistra 1998, 1, 4; Resing, Klaus, a. a. O. (Fn. 268), DStR 1999, 922, 923. 273 Wendt, Karl Friedrich, Die Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer, AktStR 1998, 195, 200. 274 BVerfG Beschl. v. 30. 03. 1998 - 1 BvR 1831 /97, NJW 1998, 1854, 1854. 275 Hartmann, Georg, Vermögensteuer ab 1997; unzulässige Verbindung von Unvereinbarkeits- und Nichtigkeitserklärung?, DStZ 1998, S. 277, 278. 13*
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das Bundesverfassungsgericht für die Zeit vor dem Ol. Ol. 1997 wegen des klaren Wortlauts des § 31 Abs. 2 BVerfGG nur entweder eine Nichtigkeitserklärung oder eine Unvereinbarkeitserklärung aussprechen könne. Sei aber die Unvereinbarkeit angeordnet, so könne nicht nachträglich eine Nichtigkeit hinsichtlich der vor dem Ol. Ol. 1997 verwirklichten Sachverhalte angenommen werden. Zur steuerstrafrechtlichen Seite hat das Bundesverfassungsgericht keine Feststellungen getroffen. Im übrigen ist nicht unbestritten, daß durch das Außerkrafttreten des Steuergesetzes die Rechtsfolge des § 2 Abs. 3 StGB ausgelöst sein soll. Bei Gesetzesänderungen durch das jeweilige Jahressteuergesetz wird dies teilweise verneint unter Hinweis auf den Charakter von Steuergesetzen, die als Zeitgesetze im Sinne von § 2 Abs. 4 StGB eingestuft werden. 276 . Die Qualifizierung als Zeitgesetze wird mit dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung begründet. Dieses bedeutet die Besteuerung für einen festgelegten Zeitraum nach den für diesen Zeitraum geltenden Steuergesetzen. 277 Dieser Punkt bedarf deshalb noch einer eingehenden Erörterung. Plewka/Heerspink 278 setzen sich mit den Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 und Abs. 4 StGB auseinander und gelangen zu dem Ergebnis, daß unabhängig davon, ob Steuergesetze als Zeitgesetze einzustufen sind, aus diesen Bestimmungen folge, daß mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärte Steuergesetze nicht mehr Grundlage einer Bestrafung wegen Steuerhinterziehung sein können. Soweit kein Zeitgesetzcharakter gegeben sein sollte, so sei festzustellen, daß ab Ol. Ol. 1997 keine gesetzgeberische Entscheidung gefällt wurde, in welcher Weise eine Vermögenssteuer weiter erhoben werden soll. Die Bundestagsmehrheit habe sich mit der Nichtanwendbarkeit des Vermögenssteuergesetzes abgefunden, da sie die an sich beabsichtigte Abschaffung der Vermögensbesteuerung wegen der konträren Herrschaftsverhältnisse im Bundesrat nicht durchsetzen konnte. Die Abgrenzung zum Zeitgesetz sei danach zu treffen, ob rückblickend der gleiche Sachverhalt heute genauso behandelt würde, d. h. in der Vergangenheit für richtig erachtet wird. Angesichts der häufigen Änderungen der Steuergesetze sei in einer konkreten Änderung keine juristische Mißbilligung der bisherigen Regelung zu sehen. Dies dürfte auch für das Vermögenssteuergesetz zu verneinen sein. Vielmehr war das VStG seit Jahrzehnten „auf Dauer angelegt". 279 Aber selbst wenn ein Zeitgesetz vorliegen sollte, so sei entscheidend, ob dem Wegfall des Zeitgesetzes eine bessere Rechtserkenntnis zugrundeliege. Gerade am 276
Zu der Problematik von Zeitgesetzen wird auf unten, Viertes Kapitel: § 2D „Das Rückwirkungsverbot („nullum crimen sine lege praevia"), S. 290, verwiesen; a. Α. dagegen, Ulsamer, Gerhard / Müller, Karl-Dieter, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 zum Vermögensteuergesetz, wistra 1998, 1,5. 277 Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370 AO, Anm. 2. 278 Plewka, Harald/Heerspink, Frank, a. a. O. (Fn. 271), BB 1999, 2429, 2430. 279 So Urban, Bernd, a. a. O. (Fn. 272), DStR 1998, 1995, 1999.
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Beispiel der Verfassungswidrigerklärung des Vermögenssteuergesetzes zeige sich, daß eine Neubewertung des bisherigen Steueranspruches erforderlich werde. Denn in der Verfassungswidrigerklärung liege die bessere Rechtserkenntnis. Die Vermögenssteuer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält keine den § 2 Abs. 3 und Abs. 4 StGB durchbrechende (strafrechtliche) Fortgeltungsanordnung. 280 Es kann demzufolge dahinstehen, inwieweit eine steuerliche Fortgeltung angeordnet wurde. Denn im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot hätte es einer ausdrücklichen strafrechtlichen Fortgeltungsanordnung bedurft. Auch § 79 Abs. 1 BVerfGG zeigt, daß der Gesetzgeber im Strafrecht den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit hinter der Gefahr eines verfassungswidrigen Strafeingriffs zurücktreten läßt. 281 Eine Hinterziehung der nunmehr weggefallenen Steuer, etwa der Vermögenssteuer nach dem 31. 12. 1996 sei nicht mehr möglich, da die Steuer nicht mehr erhoben wird. Bis zum Ablauf dieses Stichtages sind jedoch Hinterziehungen begangen worden, deren Aburteilung im Beispiel der Vermögenssteuer erst nach dem Ol. Ol. 1997 erfolgt. Für diese Fallgestaltungen könne nichts anderes gelten, als sich nach § 2 Abs. 3 StGB für Gesetzesänderungen ergebe. Es sei das jeweils mildere Gesetz anzuwenden. Auf verfassungswidrige, mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärte Steuergesetze bezogen würde dies bedeuten, daß eine Strafbarkeit vollumfänglich ausscheidet, weil nach Ablaufen der Übergangsfrist eine Strafbarkeit nicht mehr gegeben ist. 2 8 2
dd) Gegenauffassung in der Literatur Zwischenzeitlich wird erste Kritik hörbar. So setzt sich Schmidt 283 am Beispiel der Hinterziehung von Vermögenssteuer mit den steuerstrafrechtlichen Konsequenzen der Unvereinbarkeitserklärung des Bundesverfassungsgerichts auseinander und kommt zu dem Ergebnis, daß weder die These der Unbestimmtheit der Blankettnorm der Steuerhinterziehung bei Verfassungswidrigkeit der Ausfüllungsnorm zutreffe noch könne er der These von einer fehlenden Strafwürdigkeit der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern zustimmen. Schmidt begründet dies wie folgt: Eine Unbestimmtheit eines Blankettatbestandes setzt ein Fehlen zur Bestimmung des Steueranspruches erforderlicher Bestandteile voraus. Erklärt das Bundesverfassungsgericht aber gerade für die Veranla280 Spatscheck, Rainer / Seebode, Frank, Folgen der Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer für das Verfahrensrecht, BB 1999, 2480, 2482. 28 1 Plewka, Harald/Heerspink, Frank, a. a. O. (Fn. 271), BB 1999, 2429, 2433. 282 Zu dem gleichen Ergebnis gelangt Urban, Bernd, a. a. O. (Fn. 272), DStR 1998, 1995, 1997, der jedoch für den Zeitraum der Übergangsfrist von einer Strafbarkeit ausgeht. 283 Schmidt, Rolf, Ist die Hinterziehung von Vermögenssteuer weiterhin strafbar?, wistra 1999, 121, 124.
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gungszeiträume einschließlich 1996 das Vermögenssteuerrecht für anwendbar, so daß Bemessungsgrundlage wie auch Steuersatz für diese Übergangszeit hinreichend bestimmt sind, so könne auch die sich ergebende Steuer verkürzt werden, welche sich als ein „Zurückbleiben der Ist-Einnahmen hinter den Soll-Einnahmen" 2 8 4 umschreiben läßt. Das Bundesverfassungsgericht habe keinerlei Einschränkungen bei der weiteren Anwendbarkeit gemacht, so daß die Steuerveranlagungen nicht nach § 165 AO vorläufig seien. Insbesondere sei die zeitliche Befristung nicht damit verbunden, daß die weitere Anwendbarkeit unter dem Vorbehalt einer etwaigen Neuregelung stehe. Auch sei es falsch, wie die Befürworter behaupten, daß im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ein Aufheben eines Strafgesetzes dem Außerkrafttreten durch Gesetzesänderung gleichzusetzen sei, und zwar schon deswegen nicht, weil das Vermögenssteuergesetz nicht im ganzen aufgehoben wurde, sondern lediglich die beanstandete Norm des § 10 Nr. 1 VStG. Der Gesetzgeber könne jederzeit eine verfassungskonforme Neufassung erlassen. Die These von der fehlenden Strafwürdigkeit greift Schmidt an und führt aus, daß das geschützte Rechtsgut des Straftatbestandes der Steuerhinterziehung nicht in der gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung zu sehen sei. Jedenfalls aber könne nicht einmal auf der Grundlage dieses Verständnisses eine Hinterziehung gerechtfertigt werden. Denn gerade das Bundesverfassungsgericht habe die weitere Anwendung der Vermögensbesteuerung angeordnet. Daher könne sich die Frage nach der „Gerechtigkeit" gar nicht stellen. Außerdem sei die Anwendbarkeit aufgrund der Erfordernisse einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung und aufgrund eines gleichmäßigen Gesetzesvollzuges sogar verfassungsrechtlich geboten. Für den speziellen Fall der Vermögenssteuer müsse festgestellt werden, daß die hierin liegende Ungerechtigkeit nicht in einem Übermaß an Besteuerung liege, sondern allein darin, daß einzelne Gruppen von Vermögenssteuerpflichtigen ohne hinreichenden sachlichen Grund ungleich behandelt würden. Nicht die Erhebung von Vermögenssteuer an sich, sondern nur die in der unterschiedlichen Besteuerung liegende Belastungsungleichheit sei vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffen worden. Darin sei jedoch nur ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, nicht hingegen ein unzulässiger Eingriff in Freiheitsrechte des Art. 14 Abs. 1 bzw. des Art. 2 Abs. 1 GG zu erblicken. Deshalb komme eine fehlende Strafwürdigkeit von Hinterziehungen verfassungswidriger Steuern nicht bei jeder beanstandeten Steuer in Betracht. Soweit Vermögenssteuerhinterziehung betroffen sei, so müsse von einer fortbestehenden Strafbarkeit ausgegangen werden. Zum gleichen Ergebnis, wenn auch mit anderer Begründung, gelangt Meine. 2* 5 Er stützt seine Aussagen vor allem auf das intertemporäre Strafrecht. Im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB sei das VStG nicht aufgehoben worden, sondern es sei durch das 284
So die wohl überwiegende Auffassung zur Definition des Begriffes der „Steuerverkürzung" i S. v. § 370 Abs. 1 AO. 28 5 Meine, Hans-Gerd, Zu den strafrechtlichen Auswirkungen des Vermögensteuerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. 6. 1995, DStR 1999, 2101, 2102.
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Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Bundesverfassungsgericht bis zum Ablauf der Übergangsfrist mit Gesetzeskraft gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordnet worden. Jedenfalls aber sei der Charakter als Zeitgesetz nach § 2 Abs. 4 StGB zu bejahen. Die zeitliche Anwendbarkeit folge hier schon aus dem materiellen Steuerrecht, das aus der Gesetzeskraft des Tenors der Vermögenssteuer - Entscheidung infolge §§31 Abs. 2 und 13 Nr. 8 a BVerfGG erwachse. Es sei wie hier vorliegend möglich, daß einer Norm erst nachträglich der Status eines Zeitgesetzes gegeben werde. Mit dem Tenor und seiner Gesetzeskraft sei ein Enddatum festgelegt worden. Zur Gerechtigkeitsfrage führt Meine aus, daß es eine irreale Vorstellung eines Bürgers gewesen wäre, wenn er angenommen hätte, nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit wäre die zukünftige Vermögensbesteuerung auf dem bisherigen Niveau verblieben. Von einer Notwehr durch Hinterziehung könne daher keine Rede sein. Die Folge einer Straflosstellung ähnele in nicht unerheblichem Maße der Zinsbesteuerung, wonach der ehrliche, aber dumme Bürger dem Steuergesetz folge und seine Steuern abführe, ein gewiefter hingegen ungestraft seine steuerlichen Pflichten verletzen könnte. 286 Zuletzt hat Rolletschke sich auf die Seite der Kritiker geschlagen. Er stellt die These auf, daß eine Lösung ausschließlich auf der Ebene des einfachen Rechts zu suchen sei, man solle sich nicht „in allgemeine Gerechtigkeits- und Rechtsgutsüberlegungen versteigen". 287 Solange sich das Schutzgut des § 370 AO nicht in Richtung des Vorschlages von Salditi entwickle, bestehe weiterhin für die Hinterziehung verfassungswidriger Steuern ein Strafbedürfnis. Somit räumt Rolletschke selbst ein, daß gerade die Rechtsgutsdiskussion die entscheidende Frage ausmacht, ohne aber selbst hierzu Aussagen zu treffen. Diesen Widerspruch löst er nicht auf, sondern beschränkt sich auf eine unreflektierte Übernahme der bislang vorherrschenden Meinung zur Schutzgutdefinition. Art. 103 Abs. 2 GG sei nicht betroffen, da die Blankettstrafnorm des § 370 AO auf das bis zum 31. 12. 1996 interimistisch weitergeltende Vermögenssteuerrecht aufbaue. 288 Die Antwort auf die aufgeworfenen Fragen gebe nach Rolletschke allein § 2 Abs. 3 und Abs. 4 StGB. Grundlage seiner Ausführungen ist die enge Auslegung, die diese Vorschriften im Parteispenden-Urteil 289 des BGH vom 28. 01. 1987 erfahren haben. Hier bestreitet er das Vorliegen einer besseren Rechtserkenntnis der Verfassungswidrigkeit, wie sie von Plewka/Heerspink vertreten wird. Ein solcher Bewertungswandel hätte nicht vorgelegen, weil weder eine formelle Abschaffung noch eine verfassungskonforme Neuregelung durch die Legislative aufgrund der konträren Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat beschlossen worden sei. Aber 286 Meine, Hans-Gerd, a. a. O. (Fn. 285), DStR 1999, 2101, 2104. 287 So wörtlich Rolletschke, Stefan, Die Hinterziehung (verfassungswidriger) Vermögensteuer, DStZ 2000, 211, 212. 288 Rolletschke, Stefan, a. a. O. (Fn. 287), DStZ 2000, 211, 214. 289 BGH Urt. v. 28. 01. 1987 - 3 StR 373/86, NJW 1987, 1273, 1273 ff.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
auch vor Verlust der Mehrheit im Bundesrat sei keine Abschaffung der Vermögenssteuer erfolgt.
ee) Judikatur der Strafgerichte Das OLG Frankfurt konnte als erstes Obergericht in seinem Beschluß 290 vom 15. 06. 1999 zur Thematik Stellung beziehen. Die gegen einen Haftbefehl gerichtete weitere Beschwerde hatte jedoch keinen Erfolg. Entscheidungssachverhalt war die Nichterklärung von Zinsen und Vermögen bezüglich eines Kontos bei der Dresdner Bank in Luxemburg und in der Schweiz. Der Senat folgte der Ansicht des BFH, wonach die Zinsbesteuerung seit dem Zinsabschlagsgesetz vom 27. 06. 1992 als verfassungskonform anzusehen sei. Auch die Vermögenssteuer sei jedenfalls für den Übergangszeitraum nach dem Diktum der Verfassungsrichter noch zu erheben. Sodann folgert das OLG: „Ist dies aber der Fall, hat also der Bürger die Besteuerung trotz verfassungsrechtlicher Bedenken hinzunehmen, so muß es auch bei der strafrechtlichen Sanktion zum Schutz des steuerlichen Anspruchs verbleiben. Der Senat vermag keinen einleuchtenden Grund dafür zu erkennen, weshalb auf der Basis der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach wie vor durchsetzbare Steueransprüche, die in zurückliegenden Steuerzeiträumen erwachsen sind, dem strafrechtlichen Schutz entzogen sein sollten. Dem steht § 2 Abs. 3 StGB nicht entgegen."
Der Senat betont, daß ein einmal entstandener Steueranspruch nicht dadurch vernichtet werde, daß ein Steuergesetz für die Zukunft aufgehoben werde. Ein einmal entstandener Steueranspruch müsse aber den Schutz des § 370 AO genießen. Weder aus dem Regelungszusammenhang der Vorschrift des § 2 Abs. 1 - 4 StGB noch vom Gerechtigkeitsgedanken folge etwas anderes. Allein das LG München II, welches sich danach mit der Problematik auseinandersetzen konnte, kam in der Sache kam jedoch zu einem anderen Ergebnis. Sein Beschluß vom 11. 11. 1999 wurde rechtskräftig. 291 Zunächst bejahte das LG München II die Zulässigkeit der Wiederaufnahme gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG. Nach dem Grundgedanken dieser Vorschrift solle der rechtskräftig Verurteilte so gestellt werden, als sei die Nichtigkeit der Norm schon
290 OLG Frankfurt Beschl. v. 15. 06. 1999 - 1 Ws 69/99, wistra 2000, 154, 154. Dieser Rechtsprechung haben sich inzwischen angeschlossen: LG Itzehoe Urt. v. 11. 09. 2000 - 9 Qs 72/00, wistra 2001, 2, 2; AG Pinneberg Urt. v. 10. 05. 2000 - 33 Cs 720 Js 35463/ 97 (162/00), wistra 2001, 31, 31. Femer: HansOLG Urt. v. 05. 12. 2000 III - 6/00 - 1 Ss 24/00, III - 6/00, 1 Ss 24/00, η. v. Das HansOLG sieht das VStG ebenfalls als Zeitgesetz an. Die Blankettnorm des § 370 AO unterscheide nicht zwischen besseren gerechteren und schlechteren ungerechteren Steuern, da es kein Steuerrecht minderer Qualität geben könne. 291 LG München I I Beschl. v. 11.11. 1999 - 5 Qs 12/99, rkr., NJW 2000, 372, 373 f.
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vor der Rechtskraft festgestellt worden, so daß es zu dem angefochtenen Urteil nicht gekommen wäre. Sodann stellte das Gericht fest: „Der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, das VStG sei bis zum 31. 12. 1996 anwendbar, führte nicht dazu, daß der Verurteilte und Beschwerdeführer noch wegen eines Vergehens der Vermögenssteuerhinterziehung hätte verurteilt werden dürfen. Wird nach Beendigung der Tat das Gesetz geändert, so ist gemäß § 2 Abs. 3 StGB das zum Tatzeitpunkt geltende Recht anzuwenden, wenn es milder ist. [ . . . ] Damit kommt es hier auf die die Blankett-Strafnorm des § 370 AO ausfüllenden materiellen steuerrechtlichen Bestimmungen an."
Schließlich folgert es weiter: „Zwar wurde das VStG nicht formell aufgehoben. Jedoch wurde durch den Beschluß des BVerfG das gesamte VStG materiell beseitigt. [ . . . ] Damit ist das Vermögenssteuerrecht spätestens zum 1.1. 1997 außer Kraft getreten, da der Gesetzgeber die ihm vom BVerfG gesetzten Frist bis zum 31. 12. 1996 für eine Neuregelung nicht genutzt hat. Zwar hat hier der Gesetzgeber nicht durch formellen Gesetzesbeschluß abgeändert. Jedoch ist in Rechtsprechung und Literatur unbestritten, daß unter § 2 Abs. 3 StGB nicht nur ein Außerkrafttreten durch Gesetzesänderung, sondern auch der Fall zu subsumieren ist, daß ein Strafgesetz ersatzlos aufgehoben wird."
Dies begründete das Landgericht damit, daß der Gesetzgeber die ihm durch das Bundesverfassungsgericht aufgetragene Frist bis zum 31. 12. 1996 fruchtlos hatte verstreichen lassen. Damit habe er aber zu erkennen gegeben, daß er an einer Neuregelung nicht interessiert war und daß die Vermögenssteuerpflicht dem politischen Willen im Bundestag entsprechend zum 01. 01. 1997 vollständig entfallen solle. Es sei von einer „ . . . stillschweigenden ersatzlosen Aufhebung des VStG durch Nichtbetätigung des gesetzgeberischen Willens..."
auszugehen. Hierin sah das LG einen milderen Rechtszustand gegenüber den Vorjahren. Deshalb sei auch für Veranlagungszeiträume vor dem 01. 01. 1997 wegen § 2 Abs. 3 StGB eine Verurteilung nicht mehr zulässig, weil von da an das mildere Gesetz maßgeblich sein müsse. Das Landgericht lehnte es ab, § 2 Abs. 4 StGB auf diesen Sachverhalt anzuwenden. Ein Zeitgesetz im Sinne dieser Vorschrift stelle das VStG nicht dar. Hierzu führt es aus: „Das VStG als Ganzes war auf Dauer angelegt. Grundsätzlich sollte das Vermögen - nach näherer gesetzlicher Differenzierung mit einer Steuer belastet werden."
Der Beschwerdeführer konnte daher insoweit freigesprochen werden. In der Literatur wird dieser Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung zugesprochen, da die Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf einer Rücksprache mit dem Generalstaatsanwalt beruhte. 292
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
ff) Judikatur der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofes Zuerst konnte sich das FG Bremen in der Entscheidung293 vom 03. 11. 1998 mit der Festsetzung von Hinterziehungszinsen u. a. für hinterzogene Vermögenssteuer befassen. Dies ließ inzident eine Beantwortung der Frage erwarten, inwieweit nach den Entscheidungen des BVerfG 294 eine Hinterziehung noch bejaht werden kann. Denn die Festsetzung von Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 1 S. 1 AO setzt die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung voraus. Das FG Bremen bejahte ohne weiteres den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung. Es räumte demgegenüber ein, daß zwar die Unvereinbarkeit einer Norm zu einer Anwendungssperre für Behörden und Gerichte führe, doch habe das Bundesverfassungsgericht wegen der stetigen Veranlagung der Vermögenssteuer eine Anwendung bis zum 31. 12. 1996 zugelassen. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 03. 1998, wonach für Stichtage vor dem 01. 01. 1997 eine Vermögensbesteuerung auch nach diesem Stichtag verfassungsrechtlich zulässig sei. 295 Der Gleichheitssatz erfordere eine Gleichbehandlung aller Vermögenssteuerpflichtigen in einem Veranlagungszeitraum. Das FG Bremen folgerte nun, wenn die Vermögensbesteuerung noch zulässig war, so gelte für diese Stichtage auch der Grundgedanke des § 235 Abs. 1 AO fort. Da Hinterziehungszinsen aber keine Strafmaßnahme bedeuteten, komme es auf die im Schrifttum diskutierte Streitfrage, ob Verkürzungen für diesen Zeitraum noch strafrechtlich verfolgt werden können, nicht an. Denn die Gesetzlichkeit der Straftat beziehe sich nicht auf außerstrafrechtliche Rechtsfolgen. 296 Das Gericht setzt sich damit über die von Literatur 297 und BFH 29S vertrete292
Daragan, Hanspeter, Anmerkung zum Beschluß des LG München I I vom 11. 11. 1999, DStR 1999, 2116, 2117. 293 FG Bremen Urt. v. 03. 11. 1998 - 298215 Κ 2, EFG 1999,417,417 f. Klägerin war die Ehefrau und Erbin. Der verstorbene Ehemann war, wie die Steuerfahndung ermittelt hatte, Inhaber eines Luxemburger Referenzkontos einer großen deutschen Geschäftsbank. Das Strafverfahren gegen den Ehemann wurde jedoch durch die Staatsanwaltschaft wegen einer noch rechtzeitigen strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 Abs. 3 AO eingestellt. 294 Beschl. v. 22. 06. 1995 - 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 ff. (Einheitswertbeschluß) und Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 ff. (Zinsurteil). 29 2
5 BVerfG Beschl. v. 30. 03. 1998 - 1 BvR 831 /97, BStBl I I 1998,422 ff.
*> Unter Bezugnahme auf Gribbohm, Güntei; in LK, § 1 StGB, Rn. 20. Die dort angeführte Rspr. spricht jedoch den vorliegenden Fall nicht an, vgl. Beschl. v. 08. 06. 1977 2 BvR 499/74 und 1042/75, BVerfGE 45, 142, 167 f., abw. Meinung Steinberger zum Beschl. v. 15. 02. 1978 - 2 BvL 8/74, BVerfGE 48, 23, 24 f., Beschl. v. 26. 09. 1978 1 BvR 525/77, BVerfGE 49, 168, 181 f., Beschl. v. 18. 05. 1988 - 2 BvR 579/84, BVerfGE 78, 205, 213. 297 So u. a. Bornheim, Wolfgang, Vermögensteuer in Hinterziehungsfällen, DB 1999, 2600, 2601; Burkhard, Jörg, a. a. Ο. (Fn. 241), Stbg 2000, 122, 124; Dörn, Harald, Anmerkung zum Beschluß des LG München I I vom 11. 11. 1999 - 5 Qs 12/99, BuW 2000, 148, 149; Resing, Klaus, a. a. O. (Fn. 268), DStR 1999, 922, 923.
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ne Auffassung hinweg, wonach der Begriff Steuerhinterziehung in Strafrecht wie Steuerrecht übereinstimmend zu definieren ist. Die Entscheidung des Finanzgerichts ist von dem Bemühen gekennzeichnet, gerade die strittigen Punkte auszuklammern. Dennoch wurde die Entscheidung zwischenzeitlich in der Revision beim BFH bestätigt. 299 Dieser urteilte unter Berufung auf das Zinsurteil, daß die mit Gesetzeskraft ausgestattete Weitergeltungsanordnung kein Recht minderer Qualität schaffe, das ungestraft ignoriert werden könne, wenn eine Absicherung des Gesetzesvollzugs fehle. Wegen des Kassationsmonopols des BVerfG aus Art. 100 Abs. 1 GG werde vom Bürger bei angeordneter Weitergeltung Gesetzesgehorsam gefordert. Gegen die Entscheidung ist eine Verfassungsbeschwerde anhängig. 300 Der BFH hält hingegen an seiner Rechtsauffassung fest. 301 Das FG Münster hatte sich dem FG Bremen in seiner Entscheidung vom 23. 08. 1999 302 angeschlossen. Gegenständlich war die Anwendbarkeit der verlängerten Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 S. 2 AO bei Steuerhinterziehung im Besteuerungsverfahren bei der Vermögenssteuer. Ein Steuerpflichtiger hatte in die Schweiz transferierte Gelder und Kapitalanlagen in den Steuererklärungen nicht angegeben. Dies bestätigte das FG Münster mit der Begründung, daß das BVerfG die Weitergeltung der vermögenssteuerlichen Vorschriften mit fiskalischen Gründen gerechtfertigt habe. Gerade diese fiskalischen Gründe würden unterlaufen, wenn statt der verlängerten Verjährungsfrist nur die normale Verjährungsfrist zur Anwendung kommen könnte. Darüber hinaus würde auch der Gedanke der Gleichbehandlung eine Verlängerung der Verjährungsfristen erfordern. Auch das FG Düsseldorf folgt im Urteil vom 18. 05. 2000 der vom FG Bremen vertretenen Linie. 3 0 3 Der Senat hält es schon für zweifelhaft, ob die Strafbarkeit entfalle. Jedenfalls aber gehe es bei der FestsetzungsVerjährung um die Frage, ob eine Steuer noch festgesetzt werden könne. Die zehnjährige Verjährungsfrist betreffe nicht die Strafbarkeit einer Steuerhinterziehung, sondern die Heranziehung des Steuerpflichtigen zur Besteuerung. Auf die Strafbarkeit komme es demnach letztendlich nicht an. Das FG Baden-Württemberg setzt sich im Beschluß vom 03. 01. 2000 auch inhaltlich mit der Strafbarkeit der Vermögenssteuerhinterziehung auseinander. 304 Es 298 BFH Beschl. v. 18. 12. 1986 - 1 Β 49/86, BStBl I I 1988, 213, 213. 299 BFH Urt. v. 24. 05. 2000 - H R 25/99, BStBl I I 2000, 378, 379. 300 BVerfG 1 BvR 1242/00. 301 BFH Beschl. v. 27. 10. 2000 - VIII Β 77/00, DStR 2000, 2128, 2129, zum Zinsurteil und seinen Auswirkungen auf die Strafbarkeit. 302 FG Münster Urt. v. 23. 08. 1999 - 3 V 4801/98 VSt, rkr., NJW 2000, 1136, 1136 und der Beschl. v. 23. 08. 1999 - 3 V 4128/99, rkr., EFG 2000, 297,297. 303 FG Düsseldorf Urt. v. 18.05. 2000- 10 Κ 1003/96, EFG 2000, 906, 906, rkr.; ebenso FG Düsseldorf Urt. v. 30.05. 2000- 12 Κ 6356/96, η. v., η. rkr., Rev. anhängig BFH I I R 58/ 00, LEXinform aktuell Nr. 42/2000 - 20. 10. 2000. 304 FG Baden-Württemberg Beschl. v. 03. 01. 2000 - 13 V 20/99, EFG 2000, 297, rkr.
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gelangt zu dem Ergebnis, daß die für verfassungswidrig erklärte Vorschrift des § 10 Nr. 1 VStG ein Zeitgesetz nach § 2 Abs. 4 S. 1 StGB darstellt und somit auch nach ihrem Außerkrafttreten anzuwenden sei. Das LG München II 305 verkenne die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Denn das Vermögenssteuergesetz sei innerhalb der Frist wie bisher weiter anzuwenden, es sei damit ohne Einschränkung geltendes Recht und nicht „nichtig". Mit Ergehen des BVerfG-Beschlusses sei es nicht zum „minderwertigen Recht" geworden. Von einer Perpetuierung von Unrecht könne also keine Rede sein. Das FG Nürnberg konnte im Urteil vom 17. 02. 2000 auf die vorangegangenen Entscheidungen zurückgreifen und bejaht den Zeitgesetzcharakter. 306 Zudem käme es bei der Festsetzung der Zinsen gemäß § 235 AO auf eine Strafbarkeit nicht an. Eine Gegenposition nimmt nun das FG Niedersachsen im Beschluß vom 07. 08. 2000 ein. 3 0 7 Es führt aus, daß trotz vorübergehender Weitergeltung aus fiskalischen Gründen das VStG ein „Unrechtsgesetz" sei, welches nicht in die Steuerrechtsordnung passe. Es erscheine nicht vorstellbar, daß der Staat mit Mitteln des Strafrechts seine Bürger zwinge, eine derartige verfassungswidrige Norm einzuhalten. Nach Sinn und Zweck des § 2 Abs. 3 StGB solle es gerade vermieden werden, daß die Gerichte dazu gezwungen seien, Gesetze anzuwenden, zu deren Existenzberechtigung der Gesetzgeber sich im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bekennt. Außerdem könne eine Steuerhinterziehung nur dann angenommen werden, wenn diese schuldhaft verwirklicht worden sei. Dies bedeute aber eine persönliche Vorwerfbarkeit. Da der Steuerpflichtige mit der Außerachtlassung der Vermögenssteuerpflicht ein Gesetz unbeachtet gelassen hat, das nicht mehr durch die Verfassung gedeckt war, habe er sich nicht für das Unrecht entschieden, sondern für das Recht, so daß er auch nicht schuldhaft gehandelt habe.
gg) Die Auffassung der Finanzverwaltung Das Bundesfinanzministerium hat in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Bundesjustizministerium, welches die Strafbarkeit verneinte, an einer Strafbarkeit der Vermögenssteuerhinterziehung festgehalten. 308 Die Bußgeld- und Strafsachenstellen der Finanzämter sehen gegenwärtig keinen Anlaß, von einer 305 LG München I I Beschl. v. 11.11. 1999 - 5 Qs 12/99, rkr., NJW 2000, 372, 373 f. 306 FG Nürnberg Urt. v. 17. 02. 2000 IV - 5/1999, EFG 2000, 602, 602, n. rkr., Rev. anhängig Β FH H R 48/00. 307 FG Niedersachsen Beschl. v. 07. 08. 2000-1 V 161/00, EFG 2000, 1227, 1227, n. rkr., Rev. anhängig Β FH I I Β 110/00; zuvor schon FG Niedersachsen Beschl. v. 03. 07. 2000 1 V 626/99, LEXinform aktuell Nr. 42/2000 - 20. 10. 2000. 308 Stellungnahme n. v., angeführt bei Dörn, Harald, a. a. Ο. (Fn. 297), BuW 2000, 148, 149.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
Strafverfolgung etwa der Vermögenssteuerhinterziehung im fraglichen Zeitraum abzurücken. In Einzelfällen von Vermögenssteuerhinterziehungen sollen jedoch schon Verfahrenseinstellungen verfügt worden sein, zum Teil nach § 153 a StPO, zum Teil auch gestützt auf § 154 a StPO neben der parallel verwirklichten Einkommensteuerhinterziehung. 3 0 9 Amtliche Verlautbarungen zur strafrechtlichen Seite liegen soweit ersichtlich nicht vor. Die OFD Koblenz hatte jedoch in der Verfügung 310 vom 20. 05. 1999 zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen im Falle hinterzogener Vermögenssteuer Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Inhaltlich bringt diese Verfügung aber nichts Neues, denn die Finanzbehörde greift lediglich die Ausführungen des Urteils des FG Bremen vom 03. 11. 1998 wieder auf und schließt sich in Ergebnis und Begründung dessen Meinung an. Ob Verkürzungen von Vermögenssteuer für Stichtage vor dem 01. 01. 1997 nach diesem Datum noch verfolgt werden können, läßt die Finanzverfügung schließlich offen. Gleiches gilt für die Verfügung vom 13. 01. 2000 der OFD Karlsruhe, 3n welche noch nicht einmal einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stattgeben will. Wie schon in der Verfügung vom 19. 03. 1999 312 hält die OFD Karlsruhe an der Auffassung fest, daß es für Hinterziehungszinsen und Festsetzungsfrist unerheblich sei, ob eine strafrechtliche Verfolgung überhaupt noch zulässig ist. Denn selbst wenn entgegen der Verwaltungsauffassung das strafrechtliche Rückwirkungsgebot des § 2 Abs. 3 StGB zur Anwendung käme, so würde dies allenfalls ähnlich einem Strafaufhebungsgrund die strafrechtliche Verurteilung ausschließen: „Die Straf- und Bußgeldstellen werden deshalb angewiesen, Steuerstrafverfahren bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 1996 weiterhin uneingeschränkt einzuleiten bzw. abzuwickeln."
309 Auf entsprechende Erfahrungen verweist Spatscheck, Rainer, Bankenfälle und Selbstanzeigepraxis - Ein Zwischenbericht, DB 2000,492,492. 310 OFD Koblenz, Vfg. v. 20. 05. 1999, S - 3400 A - St 44 1, η. v., unter Bezugnahme auf die Rdvfg. v. 19. 05. 1998, S - 3540 / S - 0338 A - St 44 2.
311 OFD Karlsruhe, Vfg. v. 13. 01. 2000 - S 0340 A - St 412, BB 2000, 293, 293 f.; Ebenso OFD München Vfg. v. 24. 08. 2000, n. v., OFD Nürnberg Vfg. v. 10. 08. 2000, S - 0462 27/St 24, DStR 2000, 1566. 312 OFD Karlsruhe, Vfg. v. 19. 03. 1999 - S 0340 A / S 0462 A - St 41, BB 1999, 781, 782.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
hh) Eigener Ansatz (1) Zur „ Ungerechtigkeit " steuerlicher Normen unter Berücksichtigung der Radbruchschen Formel (a) Rechtsphilosophischer Ansatz zur Lösung der Spannung zwischen Gerechtigkeit und positivem Recht Hans Kelsen hat vor dem Hintergrund seines rechtspositivistischen Verständnisses die These aufgestellt, daß es ein „verfassungswidriges Gesetz" im wörtlichen Sinne nicht geben könne. Wenn ein Gesetz verfassungswidrig sei, dann folge aus seiner Verfassungswidrigkeit, daß es wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht nichtig sei. Es liege dann seiner Ansicht nach folglich schon gar kein „Gesetz" vor. Entgegen Kelsen ist aber festzuhalten, daß es sehr wohl verfassungswidrige Gesetze geben kann und auch tatsächlich gibt. So ist das Wechselspiel von Verfassung und einfachem Gesetz weitaus komplizierter zu beschreiben, als dies mit einem simplen Über-/ Unterordnungsverhältnis dargestellt werden kann. 313 Kelsen zieht dies mit der Begründung in Zweifel, 314 ein Gesetz könne ja nur aufgrund der Verfassung gültig sein. Ein ungültiges Gesetz hingegen sei gar kein Gesetz, da es rechtlich nicht existent sei und sich somit einer Aussage entziehe. Darüber, ob ein Gesetz gegen höherrangiges Recht verstößt, entscheide allein ein spezielles dafür legitimiertes Organ. Ohne diese Entscheidung des zuständigen Organes könne von einer Verfassungswidrigkeit nicht gesprochen werden. Da die Entscheidung deshalb für die Nichtigkeit des Gesetzes konstitutiv sei, müsse vielmehr von einer Gültigkeit der Norm ausgegangen werden. Seine Lehre verkennt jedoch zweierlei: Die Monopolisierung der Entscheidungsbefugnis ist keineswegs so zwingend wie es auf den ersten Blick erscheint. Zum zweiten sind Situationen denkbar, in denen es trotz eines speziell dafür eingerichteten Entscheidungsverfahrens, hier vor dem Bundesverfassungsgericht als vorgesehenen Organ, zu einer nicht unerheblichen Abweichung von Gesetz und Recht kommen kann. Zum ersten Punkt ist auszuführen, daß das Bundesverfassungsgericht zwar zum berufenen Organ mit Verwerfungskompetenz bestimmt ist. Eine Legitimation zur Verfassungsinterpretation kann jedoch ein wesentlich weiterer Kreis von Interpreten beanspruchen, letztlich kann von einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 315 (Peter Häberle) gesprochen werden, wenn man den einzelnen Bürger und die durch ihn bewirkte Verfassungswirklichkeit mit integriert. Dieser Ansatz läßt sich dadurch rechtfertigen, daß alle gesellschaftlichen und privaten Kräfte aktiv mit in die Verfassung einbezogen sind. 313 Zu den Wechselwirkungen und zur Kritik an der Wiener Schule siehe Häberle, Peter, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufen vergleich, in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 497, 516. 314 Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, S. 275. 315 Häberle, Peter, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, S. 79, 82.
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Gibt es aber eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten so gibt es auch verfassungswidrige Gesetze, ohne daß diese vom mit Verwerfungskompetenz ausgestatteten Verfassungsorgan für verfassungswidrig erklärt wurden. Der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht als berufenes Organ ist nach richtiger Anschauung nur deklaratorisch, weil ein verfassungswidriges Gesetz „ipso iure" nichtig ist. Die Lehre von der „ipso iure"-Nichtigkeit wurde vom Bundesverfassungsgericht selbst in ständiger Rechtsprechung entwikkelt 3 1 6 und wird auch überwiegend von der Lehre vertreten. 317 Sie stützt sich auf den Grundsatz des Vorrangs der Verfassung. Dieser kann seinerseits Verfassungsrang beanspruchen. Art. 100 Abs. 1 GG ist lediglich eine Kompetenzzuweisungsnorm, die den Träger der Entscheidung festlegt, nicht aber die Vorfrage der Nichtigkeit beantwortet, die von selbst eintritt. 318 Hinsichtlich des zweiten Punktes ist zur Dichotomie „Gesetz und Recht" herauszuarbeiten, daß Gesetz und Recht in nicht seltenen Fällen divergieren. Ebenso können einfaches Gesetz und höherrangiges Gesetz auseinanderlaufen. Dies ergibt sich schon aus dem Umstand, daß Gerichte, so auch das Bundesverfassungsgericht, nur dann Gelegenheit haben, zu einer Rechtsfrage Stellung zu beziehen, wenn diese an das Gericht herangetragen wird. Hierin ist ein Stück Gewaltenteilung zu sehen, freilich um den Preis einer fehlenden umfassenden Verfassungskontrolle. Damit ist das verfassungswidrige Gesetz jedoch wegen der eingeschränkten Kontrolldichte faktisch existent und entfaltet eine faktische Geltungskraft. Doch selbst bei einer vorliegenden Entscheidung zeigt die Möglichkeit eines Minderheitsvotums, daß abweichende Auffassungen über die Verfassungswidrigkeit einer Norm nicht nur zulässig, sondern im Hinblick auf den Pluralismusgedanken geradezu erwünscht sind. Man wird sogar noch weiter gehen müssen und konstatieren, daß auch der Hüter der Verfassung Unrecht begehen könnte. So wie der Gesetzgeber Unrecht setzen kann, so vermag ein Verfassungsgericht, welches „negative Normen", d. h. Verfassungswidrigerklärungen setzen kann, Unrecht zu begründen. Insbesondere im Hinblick auf den letzten Aspekt wird nach einem strengen Kriterium zu fragen sein. Eine leichtfertige Bejahung beinhaltet die Gefahr der Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Es muß daher nach einer geeigneten Abgrenzung gesucht werden. Diese könnte sich in der Radbruchschcn Formel finden. Danach ist der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dahin zu lösen, daß das
316 Urt. v. 23. 10. 1951 - 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14, 37. 317 Rentiert, Klaus, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 79, Rn. 14. 318 Die dem gegenüber stehende sog. „Vernichtbarkeitstheorie" konnte sich in Deutschland nicht durchsetzen, hat aber in Österreich Eingang in die Verfassungsentwicklung gefunden. Vgl. zur Entwicklung: Hein, Peter E., Die Unvereinbarkeitserklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, S. 94 f.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
„positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat". 3 1 9
Radbruch bietet hier eine Lösung des alten Konfliktes an, der bereits im Neuen Testament angedeutet ist. 3 2 0 Er erläutert seine Formel schließlich anhand der „ Verleugnungsthese", wonach die Grenze dort verläuft, wo „die Gerechtigkeit nicht einmal mehr erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde". Da sei das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges Recht", vielmehr entbehre es überhaupt der Rechtsnatur. Auch das BVerfG hat für die strafrechtliche Ahndung in den Mauerschützen-Fällen die Formel rezipiert. 321 Legt man die Radbruchsche Formel der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Hinterziehung ungerechter Steuern zugrunde, so ergibt sich hieraus, daß grundsätzlich auch eine Hinterziehung ungerechter Steuern strafbar ist, ohne daß hiervon aus Gründen der Gerechtigkeit abgesehen werden könnte. Nur in Fällen, wo zwischen der Bestrafung und dem ungerechten Steuertatbestand eine „unerträgliche Spannung" entsteht, kann eine Steuerhinterziehung legitimiert sein. Es ist dabei ein sehr strenger Maßstab anzulegen, da zu berücksichtigen ist, daß die Radbruchsche Formel vor dem Hintergrund der Ereignisse während der nationalsozialistischen Herrschaft entstand. Mit dem dort begangenen Unrecht sind die in Rede stehenden unrechtmäßigen Steuern im allgemeinen, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten, nicht zu vergleichen. Die hieraus gewonnene Erkenntnis deckt sich weitestgehend mit den Annahmen der amerikanischen Moraltheorie, die ein Recht des Bürgers, Gesetze zu übertreten, im Ansatz bejaht, wenn diese Gesetze Ausdruck von Unrecht des Staates sind, gleichzeitig aber von einer allgemeinen Pflicht zum Gesetzesgehorsam spricht. 322 Zum besseren Verständnis der Reichweite der Radbruchschen Formel können Überlegungen herangezogen werden, die Alexy 323 allgemein zur Bedeutung der Radbruchschen Formel im Spannungsverhältnis zwischen Positivismus und Naturrechtslehre angestellt hat. Kritiker haben der Radbruchschen Formel vorgeworfen, sie ziehe eine Unklarheit nach sich, weil sie eine Fülle von Streitfragen aufwerfe. Diese Kritik ist jedoch nicht stichhaltig, da eine solche Unklarheit in Kauf genom319
Radbruch, Gustav, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: ders., Rechtsphilosophie, S. 345. 320 Vgl. hierzu Schuhmacher, Björn, Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 24 f., der auf die Spannung der Bibelstellen Römer 13, 1 „ein jeder sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat" und Apostelgeschichte 5, 29 „man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen" hinweist. 321 Beschl. v. 24. 10. 1996 - 2 BvR 1851,1853, 1875, 1852/94, BVerfGE 95, 96, 132 ff. 322 Vgl. Dworkin, Ronald, Bürgerrechte emstgenommen (Taking rights seriously), S. 315 f. 323
Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, S. 70 ff. et passim.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
men werden muß, sofern nicht inhaltliche Argumente gegen den Einschluß moralischer Aspekte vorgebracht werden. Demzufolge ist die Rechtssicherheit deswegen nicht gefährdet, weil keineswegs jedem das Recht eingeräumt wird, unter Berufung auf sein Gerechtigkeitsgefühl Gesetze außer Acht zu lassen. Denn der grundsätzliche Vorrang des positiven Rechts gewährleistet eine hinreichende Rechtssicherheit. Sie ist zudem nicht der einzige Wert. Richtigerweise geht es hier um Sinn und Grenzen der Mehrheitsregel in der Demokratie. Habermas 324 stellt die richtige Frage: Warum sollte ein Gesetzesverstoß im demokratischen Rechtsstaat gerade gegen diesen berechtigt sein? Dabei wird aber oft verkannt, daß der moderne Verfassungsstaat mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit anerkennt, daß der Gesetzgeber Gesetze erläßt, welche wegen ihrer Verfassungswidrigkeit und damit eines Fehlverhaltens des Gesetzgebungsorganes wieder aufgehoben werden müssen. Daraus folgt, daß die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit einer Hinterziehung ungerechter Steuern nicht pauschal, sondern nur am konkreten Einzelfall erfolgen kann. Weiterhin läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die Zulässigkeit einer Bestrafung bei Hinterziehung einer ungerechten Steuer zu einem anderen Ergebnis führen kann und in vielen Fällen auch muß als die Frage, ob auch die Erhebung einer als ungerecht erkannten Steuer im Besteuerungsverfahren noch zulässig sein kann. Sollen nun konkrete Aussagen getroffen werden, so müssen im folgenden Kapitel konkrete, einzelne Steuernormen betrachtet werden, um die jeweilige Abwägung der Unerträglichkeit zu treffen. (b) Differenzierung nach Fallgruppen der Unvereinbarkeitsentscheidungen An dieser Stelle soll die Motivation von Unvereinbarkeitsentscheidungen untersucht werden. Allgemein läßt sich sagen, daß die durch die Interpretation der Verfassung gewonnenen Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber ein Stück „mehr oder weniger bewußte Thematisierung der Zeit im Verfassungsstaat" sind. 325 Der mit der Unvereinbarkeitserklärung verbundene Verfassungsauftrag zur Änderung an den Gesetzgeber kann somit Ausdruck eines Wandels in der Anschauung der Verfassung und den Folgen des Vorrangs der Verfassung für ein konkretes Gesetz sein. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob während der Übergangszeit eine Anwendungssperre zu greifen hat oder aber ob von einer Interimsgeltung auszugehen ist. Im Steuerrecht neigt man zu der Annahme, eine entscheidungslose Zeit könnte mit dem Grundgesetz nicht in Einklang stehen,326 da sie den Staats324 Habermas, Jürgen, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 79, 85. 325 Diese Deutung geht zurück auf Häberle, Peter, Zeit und Verfassungsstaat - kulturwissenschaftlich betrachtet, Jura 2000, 1, 6. 326 Hierauf stützt sich Herter, Wilfried, Die Unvereinbarkeitserklärung verfassungswidriger Steuergesetze, S. 82.
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haushalt ruinieren könnte. Ob das zutrifft, wird noch zu erörtern sein. Bereits hier wird jedoch deutlich, daß für das Strafrecht andere Maßstäbe gelten könnten. Denn die Inkaufnahme von einzelnen Strafbarkeitslücken bei Steuerhinterziehungen scheint den Staat als ganzes nicht zu gefährden. Aus den bisherigen Unvereinbarkeitsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich Fallgruppen bilden. Die Klassifikation im einzelnen ist umstritten, sie ist an dieser Stelle nur insoweit bedeutsam, als die unterschiedlichen Motive des Gerichts erkennbar werden und sich die daran anknüpfenden Rechtsfolgen bestimmen lassen. Weder das Bundesverfassungsgerichtsgesetz noch das Grundgesetz selbst treffen eine Aussage darüber, wann die Entscheidungsvariante der Unvereinbarkeitserklärung zu wählen ist. Grundsätzlich ist ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig zu erklären. Durch diese Nichtigerklärung wird die Norm beseitigt und damit der verfassungsgerechte Zustand wieder hergestellt. Es bedarf deshalb der Begründung, inwieweit Raum für eine daneben bestehende Entscheidungsalternative „Unvereinbarkeitserklärung" bleibt. Blüggel hat die Argumentationstopoi des Bundesverfassungsgerichts analysiert und kommt zu folgendem Ergebnis: 327 Das Gericht beruft sich häufig darauf, daß mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit bestünden und es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht vorgreifen wolle. In anderen Fällen erweist sich die Nichtigerklärung für untauglich, weil sie zu einem falschen Ergebnis führt oder nicht die bestehende Norm die Ursache einer Verfassungswidrigkeit ausmacht, sondern die darin enthaltenen Lükken. Diese lassen sich durch eine Beseitigung der Norm nicht schließen. Gleiches gilt, wenn sich die Verfassungswidrigkeit erst aus einem Zusammenwirken mehrerer Normen ergibt. In den letztgenannten Fällen würde durch die Nichtigerklärung ein Zustand geschaffen, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die fragliche Bestimmung. In der Literatur wurden diese mehr oder minder kasuistisch anmutenden Aussagen zu zumeist drei Fallgruppen verdichtet: Zur ersten Gruppe gehören diejenigen Fälle, in denen der Prüfungsgegenstand unter Verstoß gegen Gleichheitsrechte Begünstigungen nicht gewährt. Als Oberbegriff könnte hier die Bezeichnung „gleichheitswidriger Begünstigungsausschluß" gewählt werden. 328 Eine Nichtigkeitserklärung würde hier dem Gesetzgeber die Möglichkeit abschneiden, die Verfassungskonformität auch durch die Abschaffung der Begünstigung im ganzen wieder herzustellen oder eine grundlegend neue Regelung des Begünstigtenkreises zu erschaffen.
327 Blüggel, Jens, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, S. 22 ff. 328 Blüggel, Jens, a. a. O. (Fn. 327), S. 32, verwendet hierfür die Bezeichnung „willkürlicher Begünstigungsausschluß", die aber als zu eng anzusehen ist, da der Gleichheitssatz über eine reine Willkürprüfung hinausgeht.
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Zur zweiten Gruppe sind die Konstellationen zu zählen, in denen das Gericht dem Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit vorgreifen würde, da diesem mehrere Möglichkeiten eingeräumt sind, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Dem Gesetzgeber soll hier die Gestaltungsfreiheit eingeräumt werden, im Wege einer Nachbesserung auch bei Verletzungen von Freiheitsrechten einen verfassungsgemäßen Zustand wiederherzustellen. Im Steuerrecht kommt Art. 14 GG eine besondere Bedeutung zu. Diese Fallgruppe wurde ursprünglich aus dem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluß entwickelt und schließlich auf Freiheitsrechte erstreckt, bis sie heute hiervon vollkommen verselbständigt wurde. Die Literatur hat hieran Kritik geübt, weil anders als beim Gleichheitssatz kein relativer, sondern ein absoluter Verfassungsverstoß bejaht werden muß. Die Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit verlangt dann eine Beseitigung der verfassungswidrigen Norm im Wege einer Nichtigkeitserklärung. 329 Die dritte Gruppe schließlich umfaßt diejenigen Fälle, bei denen eine NichtigZustand nicht beseitigt, sondern weiter keitserklärung den verfassungswidrigen verschlechtern würde. Eine solche Konsequenz ist dann anzunehmen, wenn nach Ansicht des Gerichtes zum Herbeiführen eines verfassungskonformen Zustandes ein gewisser rechtlicher Rahmen erforderlich ist, der erst noch geschaffen werden muß und nicht durch die bloße Normkassation erreicht werden kann. Es sind dies zumeist Fälle des gesetzgeberischen Unterlassens. Ein solcher Gesetzgebungsauftrag kann von einem Grundrecht in seiner objektiv-rechtlichen Dimension ausgehen. 330 Nach der sogenannten „Annäherungstheorie " entspricht die unterhalb des zu fordernden Niveaus liegende Norm noch eher dem Vorrang der Verfassung, als wenn gar keine Regelung vorhanden wäre. 331 In den meisten Unvereinbarkeitsentscheidungen streicht das Bundesverfassungsgericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als schutzwürdige Position heraus und überläßt die nähere Ausgestaltung einer Neuregelung der verfassungswidrigen Steuernorm der Legislative. Hinter diesen Entscheidungen steht letztlich der Gedanke des Judicial self restraint", wonach sich das Gericht nicht zum „Ersatzgesetzgeber" aufschwingen will. Diese Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes ist keineswegs zwingend. Die Anordnung einer Übergangszeit führt schließlich zu einer Perpetuierung von verfassungswidrigen Zuständen. Die richterliche Selbstbeschränkung kann daher im Einzelfall zu zurückhaltend sein. So wie ein Tätigwerden des Gesetzgebers für nichtig erklärt werden kann, so könnte ebenso 329
Zusammengefaßt findet sich diese Kritik m. w. N. bei Hein, Peter E., Die Unvereinbarkeitserklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, S. 117. 33 0 Blüggel, Jens, a. a. O. (Fn. 327), S. 63 f. 331 Seer, Roman, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285, 287. Kritisch dagegen Hein, Peter E., a. a. O. (Fn. 318), S. 20. Er führt aus, daß die Annäherungstheorie für die Appellentscheidung entwickelt wurde, die von einem „noch verfassungsgemäßen" Gesetz ausgeht. Auf die Unvereinbarkeitsentscheidung, die die Verfassungswidrigkeit ausspricht und diese bis zu einer Neuregelung bestehen läßt, sei die Annäherungstheorie nicht übertragbar. 14*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
bei einem Unterlassen vorläufig eine von der Verfassung gebotene Regelung unterstellt werden. 332 In die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers würde bei dieser Fallgruppe nicht eingegriffen, da es diesem freisteht, auch schon für die Ubergangszeit eine abweichende, die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtende Regelung zu treffen. (c) Analyse bisheriger steuerverfassungsrechtlicher Unvereinbarkeitsentscheidungen Die einschlägigen Entscheidungen mit steuerlichen Bezug sollen im folgenden untersucht werden, wobei die Frage, inwieweit die entscheidungsgegenständlichen Steuerprobleme überhaupt faktisch Möglichkeiten zur Hinterziehung bieten, zunächst dahingestellt bleiben kann, da sie für die verfassungsrechtliche Diskussion zunächst keine Rolle spielt. In dem Beschluß vom 13. Dezember 1967 führt das Gericht aus, 333 daß bezüglich der Regelung der Kinderfreibeträge zwar eine Ungleichbehandlung zwischen lohnsteuerpflichtigen und zur Einkommensteuer veranlagten Steuerpflichtigen vorliegt, obgleich die Lohnsteuer nur eine besondere Form der Erhebung darstellt und somit keine Differenzierung rechtfertigt. Von der Struktur her vergleichbar sind schließlich die beiden Unvereinbarkeitsentscheidungen vom 25. April 1972, 334 die ebenfalls die Ungleichbehandlung von Kinderfreibeträgen zwischen lohnsteuerpflichtigen und zur Einkommenssteuer veranlagten Personen zum Gegenstand haben. Die Herstellung eines verfassungskonformen Zustandes könne in diesen Fällen jedoch auf verschiedene Weise erfolgen, ohne daß verfassungsrechtlich geboten sei, nur eine bestimmte Lösung zu wählen. So könne der Gesetzgeber den benachteiligten Personenkreis gleichstellen, ebenso aber die Besserstellung beim anderen Personenkreis wegfallen lassen. Die Gewährung eines Kinderfreibetrages stehe im Ermessen des Gesetzgebers. Wie noch aufzuzeigen sein wird, trifft diese Konstellation auf sehr viele Fälle steuerlicher Unvereinbarkeitsentscheidungen zu, so daß für die Legitimation einer Hinterziehung dieser verfassungswidrigen Steuern wenig Raum bleibt, weil der Steuerpflichtige keinerlei Anspruch auf Erstreckung der Besserstellung auch auf seine Besteuerung erheben kann. In dem Beschluß vom 15. Januar 1969 legt der Senat dar, 335 daß die Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit in § 34 a EStG mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, soweit die Zuschläge von ihrer jeweiligen
332 So Seen Roman, a. a. O. (Fn. 331), NJW 1996, 285, 287. 333 Beschl. v. 13. 12. 1967 - 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, 10. 334 Beschl. v. 25. 04. 1972 - 1 BvL 38/69, 25/70 und 20/71, BVerfGE 33, 90, 105, und Beschl. v. 25. 04. 1972 - 1 BvL 30/70, BVerfGE 33, 106,114 f. 335 Beschl. v. 15. 01. 1969 - 1 BvR 723/65, BVerfGE 25, 101, 106 ff.
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Rechtsgrundlage abhängig gemacht werden. Wegen einer Änderung der Gesetzeslage war ein Fall des Verfassungswidrigwerdens gegeben. Das Gericht stellte fest, daß es von Verfassungs wegen nicht geboten sei, die Ungleichbehandlung gerade durch eine Nichtigerklärung zu beseitigen. Zur Behebung habe der Gesetzgeber mindestens zwei Möglichkeiten. Der Beschwerdeführer hingegen habe die Chance, daß der Gesetzgeber bei Herstellung der Gleichheit eine ihm günstigere Regelung trifft. Zur steuerstrafrechtlichen Bedeutung einer solchen Entscheidung ist zu sagen: Da der Steuerpflichtige nur eine Chance hat, nicht aber einen garantierten Anspruch, kann er sich die Besserstellung nicht selbst durch eine Hinterziehung von Steuern nehmen. Im Beschluß vom 11. Mai 1970 erklärt das Gericht 336 die unterschiedslose Privilegierung der Landwirte des § 4 Abs. 1 S. 4 EStG bei der steuerlichen Erfassung der Gewinne aus der Veräußerung von Grund und Boden für mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar. Eine verfassungskonforme Regelung könne auf verschiedenen Wegen hergestellt werden. Es habe daher mit Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine Nichtigerklärung zu unterbleiben. Zwar lasse sich ein bestimmter Wille des Gesetzgebers vermuten. In welchen Umfang und mit welchen Besonderheiten dies jedoch umgesetzt werden sollte, lasse sich nicht mit Sicherheit sagen. Für eine Legitimation der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern gibt auch dieses Judikat nichts her. In der Entscheidung vom 26. Oktober 1976 hat das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit der umsatzsteuerlichen Differenzierung in § 4 Nr. 14 S. 4 UStG 1973 ausgesprochen.337 Danach habe der Gesetzgeber zu befinden, wie er den festgestellten Verfassungsverstoß beseitigen wolle. Er könne gewerbliche Unternehmen in den Kreis der Begünstigten aufnehmen, aber auch die Begünstigung ganz einschränken. Schließlich hatte das Gericht die Ungleichbehandlung des geschiedenen, getrenntlebenden oder unverheirateten Elternteils, dem sein Kind nicht zugeordnet wird und der aber Unterhaltsleistungen zu zahlen hat, hinsichtlich eines Freibetrags nach § 33 a Abs. 3 Nr. 2 a EStG 1975 zu prüfen. 338 Am 8. Juni 1977 entschied es, daß der Ausschluß von der kinderbedingten Vergünstigung mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei. Eine Nichtigkeit käme hier ebenfalls nicht in Betracht, da die Verfassungsbeschwerde sich nicht gegen die Vergünstigung des übrigen Elternteils richtete, somit mit einer Nichtigkeitserklärung nicht gedient wäre. Da keine eindeutige Lösung geboten sei, müsse die verfassungskonforme Neuregelung dem Gesetzgeber überlassen bleiben. 336 Beschl. v. 11. 05. 1970 - 1 BvL 17/67, BVerfGE 28, 227, 242 f. 337 Beschl. v. 26. 10. 1976 - 1 BvR 191/74, BVerfGE 43, 58, 74. 338 Beschl. v. 08. 06. 1977 - 1 BvR 265/75, BVerfGE 45, 104, 141.
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Am 11. Oktober 1977 betonte das Bundesverfassungsgericht erneut, 339 daß aus einer Verletzung des Gleichheitssatzes zwar eine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz folge, jedoch von Verfassungs wegen kein Anspruch auf Gleichstellung bestehe. Die Entscheidung erging anläßlich der Frage, ob der Freibetrag für die berufsfördernde Beschäftigung einer Haushaltsgehilfin nur bei einem Haushalt mit zwei Kindern, oder aber auch schon in einem Haushalt mit einem Kind zu gewähren sei. Der erkennende Senat unterstrich wiederum, daß es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unterliege, wie die Neuordnung unter Beachtung der Gleichbehandlung aussehen solle. Ein neuer Begründungsansatz findet sich dann im Urteil vom 3. November 1982. 340 Es verneint eine Erstreckung des Ehegattensplittings auf Alleinstehende mit Kindern, fordert jedoch gleichzeitig eine Besteuerung, die die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dieser Personengruppe angemessen berücksichtigt. Eine verfassungsgemäße gesetzliche Regelung habe nicht nur den Gleichheitssatz, sondern auch den Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG zu verwirklichen. Der erkennende Senat erklärt, daß die verfassungswidrige Norm ausnahmsweise weiterhin anzuwenden sei, weil die Besonderheit der Bestimmung, insbesondere im Hinblick auf die Rechtssicherheit es notwendig mache, sie für eine Ubergangszeit fortgelten zu lassen, damit währenddessen nicht ein Zustand bestehe, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt sei als der bisherige. Da dem Gesetzgeber zur Umsetzung genügend Zeit gelassen werden müsse, gelte es, nicht ein rechtliches Vakuum verbunden mit einer Rechtsunsicherheit entstehen zu lassen. Der gleiche Gedanke findet sich in der Entscheidung vom 14. Juli 1986. 341 Das Bundesverfassungsgericht befaßte sich hier mit der steuerlichen Vergünstigung von Spenden und Beiträgen an politische Parteien. Es sah in der bestehenden Regelung eine Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz, weil die Höchstgrenze für die steuerliche Abzugsfähigkeit von Ausgaben zur Förderung staatspolitischer Zwecke nicht auf einen für alle Steuerpflichtigen gleichen Höchstbetrag begrenzt werde. Einerseits wird auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verwiesen, so daß eine Teilnichtigkeit ausscheide. Andererseits solle für eine Übergangszeit eine Begrenzung für alle Steuerpflichtigen auf den Höchstbetrag von DM 100.000,gelten und gleichzeitig die Veranlagung nach § 165 AO a. F. vorläufig erfolgen. Dadurch solle bis zur gesetzlichen Neuregelung eine Bestandskraft des Steuerbescheides zu Lasten des Steuerpflichtigen vermieden werden. Bezüglich Steuerpflichtigen hingegen, die im Vertrauen auf die bisher geltende unbeschränkte Abzugsfähigkeit von Spenden an politische Parteien bereits über der Höchstgrenze
339 Beschl. v. 11. 10. 1977 - 1 BvR 343/73, 83/74, 183 und428/75, BVerfGE 47,1, 33. 340 Beschl. v. 03. 11. 1982- 1 BvR 620/78, 1335/78,1104/79 und 363/80, BVerfGE 61, 319, 356 f. 341 Beschl. v. 14. 07. 1986 - 2 BvE 2/84, 2 BvR 442/84, BVerfGE 3,40, 102.
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von DM 100.000,- Spenden geleistet haben, soll die Finanzverwaltung die Möglichkeit einer Vertrauensschutzregelung prüfen. Am 21. Juni 1988 entschied das Gericht, 342 daß der völlige Ausschluß kommunaler Wählervereinigungen von steuerlichen Entlastungen mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Da mehrere Möglichkeiten bestünden, die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu erfüllen, sei deren Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen. Auch diesem Judikat kommt für das vorliegende Thema eine nur geringe Bedeutung zu. Dagegen hebt sich die nächste Unvereinbarkeitsentscheidung 343 einer Steuernorm vom 12. Juni 1990 von den vorangegangenen ab. Das Gericht mußte sich mit dem gesetzlichen Familienlastenausgleich auseinandersetzen. Es kam dabei zu der Überzeugung, daß eine verfassungsrechtliche Überprüfung mehrere Vorschriften, zum Teil auch des Sozialrechts mit einbeziehen müsse, da diese, wenn auch aus unterschiedlichen Rechtsgebieten stammend, nur zusammen den Familienlastenausgleich bilden. Dabei stellte der erkennende Senat den Grundsatz auf, daß sich ein steuerlicher Zugriff des Staates auf den Teil des Einkommens verbiete, der zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar sei. Die Sicherung dieses Einkommensteiles des Bürgers umfasse nicht allein die Garantie seines eigenen Existenzminimums, sondern ebenso das seiner übrigen Familienmitglieder, wie sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebe. Diesen Vorgaben wurde, so das Gericht, die bis zum 31. 12. 1985 bestehende Kinderfreibetragsregelung nicht gerecht, da sie die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen mit Kindern nicht in Höhe des Existenzminimums berücksichtige. Sodann sprachen die Richter die Verpflichtung des Gesetzgebers aus, in den noch nicht bestandskräftig veranlagten Fällen die steuerliche Benachteiligung zu beheben. Im übrigen sei es aber dem Gesetzgeber freigestellt, ob er durch Änderungen des Kindergeldes, der steuerlichen Vorschriften oder durch eine andere Ausgleichsregelung die Gleichstellung herstellen möchte. Der Senat bestätigte damit die bereits zuvor gebildeten Grundsätze. Derselbe Senat hatte am 29. Mai 1990 festgestellt, 344 daß das Familienexistenzminimum nicht nur nach Abzug der Steuer erhalten bleiben müsse, weil anderenfalls eine Benachteiligung von Familien mit Kindern zu besorgen sei. Die Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG nach der „neuen Formel" ließ auf eine Mißachtung der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit schließen. Denn die Steuergerechtigkeit sei zu unterteilen in die „vertikale" und die „horizontale" Steuergerechtigkeit. In vertikaler Richtung verlange das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, daß höhere Einkommen schwerere Lasten tragen als niedrigere. In horizontaler Richtung hingegen beinhalte das Gebot die Aussage, daß Steuerpflichtige mit gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit auch gleich besteuert werden müssen. Auch hier hatte das Ge342 Beschl. v. 21.06.-1988 - 2 BvR 638/84, BVerfGE 78, 350, 363. 343 Beschl. v. 12. 06. 1990 - 1 BvL 72/86, BVerfGE 82, 198, 206 ff. 344 Beschl. v. 29. 05. 1990 - 1 BvL 20, 26, 184 und 4/86, BVerfGE 82, 60, 86 ff.
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. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
rieht dem Gesetzgeber die Gestaltungsfreiheit überlassen, den Verfassungsverstoß durch Streichung der verfassungswidrigen Vorschrift, durch Änderung im Steuerrecht oder durch eine andere Ausgleichsregelung zu beseitigen. Für die spätere Übertragung ins Steuerstrafrecht ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, daß der Verfassungsverstoß in diesen Fällen nicht darin liegt, dem Betroffenen zum Überleben nicht einmal das Existenzminimum zu belassen. Denn er hat aufgrund seines geminderten Nettoeinkommens Anspruch auf Sozialhilfe. Der Verfassungsverstoß ist vielmehr darin zu sehen, daß der Einzelne, der an sich in der Lage wäre, für seinen Unterhalt selbst aufzukommen und damit auf eigenen Füßen zu stehen, zum Kostgänger des Staates wird und auf dessen Sozialleistungen angewiesen ist. Diese Verletzung seiner Selbstbestimmtheit entgegen Art. 1 Abs. 1 GG muß er als entwürdigend empfinden. 345 Die Problematik wurde im Beschluß vom 25. September 1992 nochmals aufgegriffen. 346 Nach Auffassung der Richter war § 32 a Abs. 1 S. 2 EStG mit der grundrechtlichen Garantie eines einkommenssteuerlichen Existenzminimums unvereinbar. Denn der Steuergesetzgeber müsse dem Steuerpflichtigen von seinem Einkommen zumindest das belassen, was der Staat dem Bedürftigen im Sozialhilferecht zur Deckung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt. Das Sozialrecht bemesse den individuellen Bedarf des einzelnen Bedürftigen nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Das steuerliche Existenzminimum dürfe zur Erleichterung des Massenverfahrens typisierend von einem einheitlichen Betrag ausgehen, der möglichst in allen Fällen den lebensnotwendigen Bedarf abdecke. Von Bedeutung ist die Feststellung des Gerichts, daß ein besonderer Finanzbedarf des Staates und die Dringlichkeit einer Haushaltssanierung nicht geeignet seien, eine verfassungswidrige Besteuerung zu rechtfertigen. Denn gerade bei wachsendem Finanzbedarf müsse der Steuergesetzgeber für eine gerechte Lastenverteilung sorgen. Hinsichtlich der Folgen seines Beschlusses legt das Gericht dar, daß eine Nichtigkeit des Grundfreibetrages zu einem Zustand führen würde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der gegenwärtig bestehende. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Umstand, daß Grundfreibetrag und Tarifverlauf in einem untrennbaren Zusammenhang stünden. Würde allein der Grundfreibetrag erhöht, ohne daß der Tarif entsprechend angepaßt würde, so entstünde in der Steuerkurve ein Progressionssprung, der einen mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht in Einklang zu bringenden Belastungsanstieg bewirken würde. Im Ergebnis könnte bis zu einer Neuregelung überhaupt keine Besteuerung stattfinden. Sodann wiederholt das Gericht seine Argumentation, wonach der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit habe. Nunmehr schränkt der Senat die oben noch für vorrangig erklärte ge345 Vgl. hierzu die Anmerkungen bei Löwer, Wolfgang, Steuerpflicht trotz verfassungswidriger Steuernormen?, StVj 1991, 97, 102. 34 6 Beschl. v. 25. 09. 1992 - 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153, 172.
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rechte Lastenverteilung ein und führt aus, die Verläßlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung sowie einer entsprechenden Finanz- und Haushaltswirtschaft stünde einer rückwirkenden Neuregelung entgegen. Denn müßten Steuerfälle in großer Anzahl für viele Kalenderjahre neu aufgerollt und teilweise rückabgewickelt werden, so könnte damit das Haushaltsvolumen früherer Haushaltsjahre nicht rückwirkend neu bemessen, sondern nur die damaligen Steuerschuldner zu Lasten des gegenwärtigen Staatshaushaltes und zukünftiger Steuerzahler entlastet werden. 347 Diese Argumentation begegnet nicht unerheblichen Bedenken. Wenn dies der entscheidende Grund sein soll, so bestünde kein Hinderungsgrund, Steuerpflichtigen, die schon damals Steuern hinterzogen haben, den Vorteil ihrer Tat zu belassen und von einer Bestrafung abzusehen, weil ihre Steuerzahlungspflicht nicht in die Haushaltsplanung eingegangen ist, sondern eine Beitreibung zu unerwarteten Mehreinnahmen führen würde, somit rückwirkend keine Korrekturen erforderlich sind und auch keine zukünftigen Steuerzahler belastet werden müßten. Schließlich stützt der Senat seine Argumentation auf den Gedanken, daß eine rückwirkende Korrektur nicht durch den Zweck des Grundfreibetrages, dem Steuerpflichtigen das existenznotwendige Einkommen zu belassen, geboten sei, da dieses nur zur Sicherung des gegenwärtigen Bedarfs gewährt werde. 348 Hierauf läßt sich antworten: Wer also sich das zur Bedarfsdeckung erforderliche bereits durch Steuerhinterziehung genommen hat, der kann mit Fug und Recht darauf pochen, daß ihm dieses Existenzminimum auch verbleiben muß, weil es ja sofort für seinen Lebensunterhalt verbraucht wurde. Die Rechtfertigung des höchsten Gerichts hinterläßt ein Fragezeichen. Wer hingegen sich um seiner Existenz willen verschulden mußte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten geht leer aus. Immerhin kennt der Gesetzgeber solche Fälle, sonst hätte er nicht mit Wirkung zum Ol. Januar 1999 das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeführt. In der Entscheidung vom 8. Oktober 1991 erkannte das Gericht in der Ungleichbehandlung von lohnsteuerpflichtigen und zur Einkommenssteuer veranlagten Steuerpflichtigen bei der Abschreibungsvorschrift des § 7 b EStG einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 3 4 9 Zwar wird dem Gesetzgeber aus verwaltungstechnischen Gründen im Besteuerungsverfahren eine nicht ins Gewicht fallende Ungleichbehandlung zugestanden, sofern sie nur eine geringe Zahl von Personen im Massenverfahren trifft und keinen intensiven Verstoß bedeutet. Da hier aber diese Grenze überschritten sei, liege es nun im Ermessen des Gesetzgebers, aus mehreren verfassungsrechtlich zulässigen Alternativen eine auszuwählen, die die Grenzen einer typisierenden und generalisierenden Regelung nicht überschreitet.
347 Beschl. a. a. O. (Fn. 346), BVerfGE 87, 153, 178 f. 348 Beschl. a. a. O. (Fn. 346), BVerfGE 87, 153, 179. 349 Beschl. v. 08. 10. 1991 - 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348, 365.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Mit dem Urteil 3 5 0 vom 9. April 1992 änderte das Gericht seine Rechtsprechung, indem es von Körperschaften geleistete Parteispenden für bedenklich erklärte. Die Höhe der steuerlichen Begünstigung von Beiträgen und Spenden an politische Parteien sei jenseits einer gewissen Grenze, die von der Mehrzahl der Steuerpflichtigen nicht mehr in gleicher Weise genutzt werden kann, verfassungsrechtlich bedenklich. Es betont jedoch gleichzeitig, daß ihm eine Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm im Organstreitverfahren untersagt sei. Im Beschluß vom 8. Juni 1993 wird die Unvereinbarkeit der Steuerfreiheit von Zuschlägen für regelmäßige Nachtarbeit nach § 3 b Abs. 2 Nr. 4 EStG mit Art. 3 Abs. 1 GG wegen ihrer Begrenzung auf 15 % des Grundlohnes ausgesprochen. 351 Die Folgewirkungen des Ausspruches werden jedoch nicht weiter erörtert. Eine Hinwendung zu einer bloßen pro-futuro Korrektur ist in dem Beschluß vom 11. Oktober 1994 352 zu sehen. Hierin wurde der Kohlepfennig als unzulässige Sonderabgabe eingestuft, für die der Bund keine Gesetzgebungskompetenz beanspruchen kann. Eine fehlende Gesetzgebungskompetenz hätte zwangsläufig einen Nichtigkeitsausspruch zur Folge haben müssen. Das Gericht begnügte sich jedoch mit einer Unvereinbarkeitserklärung und versah diese noch mit einer Übergangsregelung, innerhalb der die bestehenden Regelungen weiter Anwendung finden sollten. Für den konkreten Beschwerdeführer bedeutete dies, daß zwar die Kosten des Verfahrens von der Gegenseite zu tragen waren, sein Anspruch auf subjektiven Rechtsschutz jedoch vernachlässigt wurde. 353 Sehr wichtige Aussagen finden sich dagegen im Beschluß vom 22. Juni 1995, der die geltende Vermögensbesteuerung für mit dem Grundgesetz mit Wirkung pro futuro für unvereinbar erklärt. 354 So wird aufgezählt, daß der Verstoß gegen die Besteuerungsgleichheit nicht zu bestimmten Folgerungen zwingt und es somit dem Gesetzgeber überlassen bleiben müsse, wie er die Ungleichheit beseitigen wolle. Wegen den Erfordernissen einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung und der Notwendigkeit eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzuges sei an der Anwendbarkeit während der Übergangszeit festzuhalten. Diese Verknüpfung mit den Erfordernissen des staatlichen Finanzbedarfs und Interessen des Staatshaushaltes ist kritisch zu sehen und wird bei einer Untersuchung des Auswirkungen auf das Steuerstrafrecht noch fraglicher. Es erweckt den Anschein, als daß gesetzgeberisches Unrecht um so weniger einer Änderung bedarf, um so größere Ausmaße es annimmt und um so mehr Steuererstattungsansprüche drohen. Für den Steuergesetzgeber nimmt diese Rechtsprechung jeden Anreiz, die 350 Urt. v. 09. 04. 1992 - 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264, 326. 351 Beschl. v. 08. 06. 1993- 1 BvL 20/85, BVerfGE 89, 15, 26 f. 352 Beschl. v. 11. 10. 1994- 2 BvR 633/86, BVerfGE 91,186, 207. 353 Kritisch Seer, Roman, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, NJW 1996, 285, 290. 354 Beschl. v. 22. 06. 1995 - 2 BvL 37/91, BVerfGE 93,121, 148 f.
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Verfassungskonformität seiner Steuergesetze aus eigenem Anlaß zu überprüfen und zu korrigieren, da im Falle einer Beanstandung stets eine Übergangsfrist zur Änderung verbleibt und finanzielle Einbußen nicht zu erwarten sind. 355 Im übrigen müssen die Gefahren für den Staatshaushalt als in den meisten Fällen hausgemacht bezeichnet werden, und zwar nicht nur deswegen, weil es der Steuergesetzgeber es ja gerade selbst in der Hand hat, verfassungskonforme Gesetze zu schaffen. Obendrein wird nämlich bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Steuer für den Rechtsbehelfsführer keine Aussetzung der Vollziehung nach § 361 Abs. 2 S. 1 AO gewährt, weil eine zu erwartende Unvereinbarkeitsentscheidung ohnedies nur pro futuro gelten könne. Verschiedentlich wurde daher in der Literatur eine Aussetzungspflicht gefordert. 356 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung den Halbteilungsgrundsatz als aus Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG und dem Wortlaut „zugleich" abzuleitenden Maßstab einer Besteuerung anerkannt. Zu der Frage, ob diesem Halbteilungsgrundsatz Bindungswirkung zukommt und ob er bereits hinreichend konkret ist, ist inzwischen eine unüberschaubare Vielzahl von literarischen Beiträgen erschienen. 357 Letztendlich wurden im wesentlichen zwei Auffassungen vertreten: teilweise wurde behauptet, der Halbteilungsgrundsatz sei lediglich ein obiter dictum, es fehle ihm daher die Verbindlichkeit; teilweise wurde ausgeführt, das Gericht selbst habe ihn in die Leitsätze aufgenommen, er sei deshalb sehr wohl zwingend zu beachten. Neue Rätsel hat die bislang letzte Judikatur zur Unvereinbarkeit steuerlicher Normen aufgegeben, welche den Haushaltsfreibetrag und die Kinderbetreuungskosten zum Gegenstand hat. 3 5 8 Die Literatur bedachte das Bundesverfassungsgericht mit harscher Kritik, 3 5 9 weil es hinsichtlich der Rechtsfolgen eine neue Variante gewählt hat, die dem österreichischen Vorbild der sogenannten „Ergreiferprämie " entspricht, dort jedoch in Art. 140 Abs. 7 B-VG ausdrücklich so angeordnet ist. 3 6 0 Während in Österreich diese Regelung, die eine steuerliche Rückwirkung der Un355 Zustimmung verdient deshalb Seer, Roman, a. a. O. (Fn. 353), NJW 1996, 285, 289. 356 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 23 Rn. 222 und 284; ihm folgend Drüen, Klaus-Dieter, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, FR 1999, 289, 294. 357 Ein umfassendes Schrifttumsverzeichnis findet sich bei Rose, Gerd, Überlegungen zur Realisierung des Halbteilungsgrundsatzes, StuW 1999, 12, 12 f. 358 Beschlüsse v. 10. 11. 1998 - 2 BvR 1057, 1226, 980/91, BVerfGE 99, 216, 218; 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246, 247; 2 BvR 1220/93, BVerfGE 99, 268, 269; 2 BvR 1852, 1853/97, BVerfGE 99, 273, 274. 359 Schwenke, Michael, Ist eine „Ergreiferprämie" nach österreichischem Vorbild sinnvoll?, DStR 1999, 404, 406. Schon in früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hatte Seer eine Tendenz festgestellt, sich dem österreichischen Vorbild einer ex-nuncVernichtbarkeit anzunähern. Vgl. Seer, Roman, a. a. O. (Fn. 353), NJW 1996, 285, 285. 360 Art. 140 Abs. 7 B-VG lautet: „Ist ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden oder hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Abs. 4 ausgesprochen, daß ein Gesetz verfassungswidrig war, so sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des
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Vereinbarkeitsentscheidung nur für den jeweiligen Anlaßfall, nicht hingegen für alle übrigen Steuerpflichtigen vorsieht, als korrekturbedürftig gilt und deshalb seitens des VfGH inzwischen auf alle Fälle ausgedehnt wird, die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung anhängig waren, scheint das Bundesverfassungsgericht nunmehr auch in Zukunft nach dieser Maßgabe entscheiden zu wollen. 361 Gegenüber der bisherigen Praxis der Unvereinbarkeitsentscheidungen kann jedoch von einem spürbaren Fortschritt gesprochen werden, weil wenigstens der Beschwerdeführer, der in der Sache für die Zukunft zwar Recht bekommen hat, jedoch nicht nur die angefochtene Steuer zu zahlen hat, sondern darüber hinaus die Kosten des Verfahrens. Die neue Rechtsprechung bedeutet auch, daß darüber hinaus in allen anderen gemäß § 165 Abs. 2 S. 2 AO wegen Ungewißheit über die Verfassungswidrigkeit vorläufig veranlagten Fällen eine Korrektur erforderlich ist. 3 6 2 Dies hat der Gesetzgeber selbst mit Einführung der Vorschrift so gewollt, um aus Gründen der Verfahrensökonomie Massenrechtsbehelfe zu vermeiden. Hierin liegen nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf den Staatshaushalt begründet. 363 Die dogmatische Begründung bleibt hingegen unklar. Einerseits liegt diesem Rechtsfolgenausspruch eine offene Ungleichbehandlung zugrunde, die eine Rechtfertigung vermissen läßt. Andererseits ist es ein Novum, daß im Besteuerungsverfahren ein Gericht eine Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO aussprechen soll. Nicht nachvollziehbar wäre es schließlich, wenn einzelne Steuerpflichtige an der rückwirkenden Verfassungswidrigkeit partizipieren, andere Steuerpflichtige hingegen wegen Verkürzung ein und derselben Steuer bestraft würden. (d) Folgerungen für die Strafwürdigkeit bei gleichheitswidrigen Steuern Der Großteil der mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Steuern sind, wie die obige Analyse gezeigt hat, Gleichheitsverstöße, bei denen es dem GesetzVerwaltungsgerichtshofes gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles ist jedoch das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Abs. 5 gesetzt, so ist das Gesetz auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles anzuwenden." 361 Dies zeigt der Beschl. zum Beamtenrecht v. 24. 11. 1998 - 2 BvL 26/91, 5 - 10/96, 3 - 6 / 9 7 , BVerfGE 99, 300, 331. 362 Zum Teil werden die Aussagen des Gerichts enger interpretiert, wonach nur die beim Bundesverfassungsgericht selbst anhängigen Verfahren in den Genuß einer Rückwirkung der Verfassungswidrigerklärung gelangen. Siehe Paus, Bernhard, Neue Übergangsregelungen bei verfassungswidrigen Steuergesetzen am Beispiel von Kinderbetreuungs- und -erziehungskosten, INF 1999, 257, 258. 363 Drüen, Klaus-Dieter, Haushaltsvorbehalt bei der Verwerfung verfassungswidriger Steuergesetze?, FR 1999, 289, 293.
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geber überlassen bleibt, ob er eine gleichheitswidrige Begrünstigungsnorm für alle Steuerpflichtigen entfallen läßt oder sie allen in Frage kommenden Bürgern gleich gewährt. Würde man hier die Hinterziehung für nicht strafbar erklären, so würde man dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit einräumen, sich die Vergünstigung risikolos gleichsam selbst zu holen, zumal die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering sein dürfte. Der Gleichheitssatz ist ambivalent und relativ. Allein für sich genommen verstößt die steuerliche Begünstigung nicht gegen den Gleichheitssatz, erst aus dem Verhältnis zweier Regelungen, die miteinander in Beziehung stehen, ergibt sich die verfassungswidrige Ungleichheit. 364 Diese verfassungswidrige Normrelation macht die Steuerhinterziehung des Nichtbegünstigten jedoch nicht strafunwürdig. Im Unterschied zu Freiheitsrechten wird nicht eine bestimmte Steuer an sich ausgeschlossen. Aus dieser Relativität folgt, daß der „ipso iure"-Grundsatz nicht eingreifen kann. 365 Nur ausnahmsweise kann hier eine Nichtigkeit angenommen werden, wenn die Ausdehnung der Begünstigungsnorm aus verfassungsrechtlichen Gründen die einzig zulässige Möglichkeit darstellen würde oder mit Sicherheit davon auszugehen ist, daß auch der Gesetzgeber diese Alternative gewählt hätte. 366 (e) Folgerungen für die Strafwürdigkeit bei gegen Freiheitsrechte verstoßenden Steuern Eine Strafunwürdigkeit läßt sich bei einem Verstoß gegen Freiheitsrechte weitaus überzeugender begründen. Tatsächlich findet die grundrechtliche Begrenzung des Steuerzugriffs aber weitgehend über den Gleichheitssatz und das Prinzip der Leistungsfähigkeit statt. Daneben waren bislang nur das Recht auf Existenzminimum und das Eigentumsrecht vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Der Einfluß des Eigentumsrechts auf die Besteuerung ist nach wie vor strittig unter den Senaten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß nur wenige Ansätze vorhanden sind, dort sich ein Entfallen der Strafbarkeit mit guten Argumenten begründen läßt, wenn eine unerträgliche Spannung zwischen der Gerechtigkeit und der verfassungswidrigen Steuer gegeben ist. (2) Die Strqfbarkeit trotz Bestimmtheitsverstoßes i. S.d. Art. 103 Abs. 2 GG Aus den obigen Darlegungen ist nun zu entscheiden, ob und inwieweit ein Hinterzieher verfassungswidriger Steuern sich auf Art. 103 Abs. 2, 104 GG berufen
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Schiaich, Klaus, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 367. 65 Schiaich, Klaus, a. a. O. (Fn. 364), Rn. 367.
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366 So schon Maurer, Hartmut, Zur Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen, FS f. Werner Weber, S. 345, 349.
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kann. Ohne Zweifel läuft der Steuerhinterziehungstatbestand ins Leere, wenn die Steuernorm zur Umschreibung der verkürzten Steuer und zur Festlegung „steuererheblicher Tatsachen" für nichtig erklärt wurde. Auf Fälle der Unvereinbarkeitserklärung kann dies jedoch nicht unbesehen übertragen werden, da hier das Bundesverfassungsgericht für die Übergangszeit die steuerliche Fortgeltung der Norm angeordnet hat, also für jedermann berechenbar und vorhersehbar ist, welche Steuer geschuldet wird. Für eine Unbestimmtheit ist damit kein Raum. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, daß eine Nachbesserung seitens des Gesetzgebers erwartet wird. Der Normadressat kann de lege lata seine Steuerschuld ermitteln. Bei einer Hinterziehung verwirklicht er eine meßbare Schuld. Daß später eine Gesetzesänderung des gegenwärtig bestimmten Gesetzesstandes eintreten sollte, ist keine Frage der Bestimmtheit, sondern eine Frage des noch zu erörternden Milderungsgebotes. Einer Plafondierungsrechnung mag für die Instrumentalisierung des Halbteilungsgrundsatzes zuzustimmen sein. Ob jedoch dem Halbteilungsgrundsatz eine Gesetzesbindung dergestalt zuzubilligen ist, daß dieser als ausfüllende Norm des § 370 Abs. 1 AO miteinzubeziehen ist, bleibt nicht allein angesichts des Meinungsstreits bezüglich des Halbteilungsgrundsatzes selbst zweifelhaft. Schon allgemein wurde mit gewichtigen Argumenten die These des Bundesverfassungsgerichtes bestritten, wonach nicht nur der Tenor, sondern auch die tragenden Gründe einer Bindungswirkung unterliegen. Dies würde das Ende der „ offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" bedeuten.367 Es besteht die Gefahr der Erstarrung des Verfassungsprozesses, da Minderheitsmeinungen von heute oftmals Mehrheitsmeinungen von morgen wurden. Am Ende führte eine zu weit gehende Bindung zu einem Verlust an Verfassungsrechtskultur, weil der Charakter des Prozeßhaften, des ständigen Wandels abhanden kommt. Die Offenheit des Verfassungsrechts und ein dynamisches Verfassungsverständnis stehen einer solch verbindlichen Interpretation entgegen.368 Darüber hinaus kommt hinzu, daß die Befürworter eines Gesetzesbindung des Halbteilungsgrundsatzes den Charakter der Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 BVerfGG verkennen. Ihre Folgerungen, wonach der Halbteilungsgrundsatz den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen müsse, beruhen auf der falschen Vorstellung, eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung stelle ein Gesetz dar. Gesetzeskraft heißt aber nicht Gesetzesqualität.369 Tatsächlich liegt weder ein Gesetz im formellen noch im materiellen Sinne vor. Wenn der Gesetzgeber also in § 31 Abs. 2 BVerfGG von „Gesetzeskraft" spricht, so meint er damit, daß die Bindung im Gegensatz zu § 31 Abs. 1 BVerfGG gegenüber allen, d. h. auch gegenüber anderen Bürgern eintritt. Die Entscheidung ist damit als „gesetzesähnlich" zu bezeichnen, 367 Kritisch daher Häberle, Peter, Die Verfassungsbeschwerde in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 45 (1997), 89, 128. 368 Schiaich, Klaus, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 454. 369 Rennert, Klaus, in: Umbach / Clemens, BVerfGG, § 31, Rn. 100.
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weil sie ähnliche Wirkungen zeigt. Historisch geht die Bestimmung auf den Gedanken der Weimarer Zeit zurück, wonach ein normverwerfendes Gerichtsurteil als actus contrarius zum verworfenen Gesetz gleichfalls Gesetzeskraft besitzen müsse. 370 Von einem Gesetz unterscheidet sie sich u. a. darin, daß gegen sie keine Verfassungsbeschwerde zulässig ist. 3 7 1 Hieraus wird deutlich, daß die These, §31 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG seien nicht mehr zu unterscheiden, nicht haltbar ist, weil eine Bindung gegenüber Bürgern nur durch § 31 Abs. 2 BVerfGG eintreten kann. Vor allem aber ist die Schlußfolgerung, daß Art. 103 Abs. 2 GG wegen einer Unbestimmtheit der Plafondierungsrechnung zur Berechnung des Halbteilungsgrundsatzes eine Verfassungswidrigkeit des Steuerhinterziehungstatbestandes nach sich zieht, nicht einsichtig. Denn die Verfassungkontrolle dient nicht dazu, daß sich das Verfassungsgericht selbst kontrolliert, ob es die Vorgaben der Verfassung einhält. (3) Intertemporales Straf recht und Art. 103 Abs. 2 GG Für die vorliegende Arbeit ist es zunächst von Bedeutung, ob der Grundsatz des lex mitior verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Eine ausdrückliche Erwähnung findet dieses Gebot im Grundgesetz nicht. Auch Art. 103 Abs. 2 GG erschöpft sich in den aufgezeigten Dimensionen, ohne eine verfassungsrechtliche Verankerung des einfachgesetzlichen § 2 Abs. 3 StGB einzuschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Anerkennung eines derartigen Verfassungsgebotes soweit ersichtlich nicht geäußert. In der Literatur ist jedoch eine Auffassung im Vordringen, wonach das Gebot des lex mitior, wenn auch nicht explizit, so doch durch eine Zusammenschau mehrerer Bestimmungen verfassungsrechtlich garantiert wird. Dannecker 372 hat hierzu eine Untersuchung vorgelegt, die das strafrechtliche Milderungsgebot als Bestandteil und Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips versteht. Die völkerrechtliche Anerkennung des Milderungsgebotes in Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPBPR als Menschenrecht steht nur im Range eines einfachen Gesetzes, gebietet jedoch eine menschenrechtskonforme Auslegung. Dannecker sieht das Milderungsgebot verfassungsrechtlich als Ausprägung verhältnismäßiger Gerechtigkeit. 3 7 3 So ist ein Gerechtigkeitsbezug jedenfalls dann anzuerkennen, wenn der Gesetzgeber aufgrund einer neuen Wertung des Tatverhaltens die Strafbarkeit beseitigt, weil seiner Ansicht nach ein Strafbedürfnis entfallen ist. Aber auch bei Zeitgesetzen, die nach der einfachgesetzlichen Regelung des § 2 Abs. 4 StGB selbst nach ihrem Außerkrafttreten anzuwenden sind, muß eine verfassungskonforme Auslegung zu dem Ergebnis gelangen, daß Milderungen aufgrund einer ge370 Rennert, Klaus, in: Umbach/ Clemens, BVerfGG, § 31, Rn. 93 a. 371 So allgemein zutreffend Bethge, Herbert, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 30. 372 Dannecker, Gerhard, Das intertemporale Strafrecht, S. 407 ff. 373 Dannecker, Gerhard, a. a. O. (Fn. 372), S. 409 f.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
änderten Einschätzung dem Täter zum Vorteil gereichen. 374 Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit, der dem Verhältnismäßigkeitsprinzip innewohnt. Eine bessere Rechtserkenntnis ist auch, aber nicht nur die Erkenntnis, daß das aufgehobene Gesetz verfassungswidrig war. 375 Diese bessere Rechtserkenntnis stellt einen Differenzierungsgrund dar, der eine Ungleichbehandlung i. S. d. Gleichheitssatzes nicht nur rechtfertigt, sondern sogar gebietet. 376 Im Ergebnis ist für die hier vorliegende Fragestellung festzuhalten, daß es sich beim Milderungsgebot um ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit und um eine Ausprägung der Rechtssicherheit handelt. Wendet man dieses verfassungsrechtliche Vorverständnis auf steuerliche Unvereinbarkeitsentscheidungen an, so folgt daraus für die Strafbarkeit der Hinterziehung dieser Steuern, daß bei Untätigkeit des Steuergesetzgebers mit dem Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Übergangsfrist die Nichtigkeit eintritt und damit ein lex mitior der Beurteilung der Strafbarkeit zugrundezulegen ist. Strafe als schärfste Maßnahme des Staates darf nur als äußerstes Mittel, das heißt, als „ultima ratio " eingesetzt werden. Dem Staat ist daher eine Zurückhaltung auferlegt, wenn es darum geht, ein bestimmtes Verhalten zu pönalisieren. 377 Ist es zulässig, ein bestimmtes Verhalten an sich zu verbieten, so ist damit noch nicht gesagt, daß dies mit Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden muß. Strafe dient vielmehr dazu, die Auflehnung des Täters gegen die staatliche Rechtsordnung zu sanktionieren. Wer sich aber gegen verfassungswidrige Steuergesetze auflehnt, der richtet sich nicht gegen die Rechtsordnung als solche. Die Rechtsordnung ist in diesen Fällen nicht widerspruchsfrei, sondern umfaßt Normen, die gegen Verfassungsregeln verstoßen, welche an der Spitze der Rechtsordnung stehen und niederrangiges Recht bei Kollision verdrängen. Damit erscheint im Einzelfall eine Tolerierung einer Hinterziehung verfassungswidriger Steuern nicht gänzlich ausgeschlossen. Denn nach der nun vorliegenden besseren Rechtskenntnis über die Verfassungswidrigkeit des maßgeblichen Steuergesetzes erscheint eine Bestrafung nicht mehr erforderlich im Sinne des dem lex mitior zugrundeliegenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
374 Dannecker, Gerhard, a. a. O. (Fn. 372), S. 413. 375 Dannecker, Gerhard, a. a. Ο. (Fn. 372), S. 415. 376 Dannecker, Gerhard, a. a. O. (Fn. 372), S. 416. 377 Plewka, Harald / Heerspink, Frank, Nichtabführung von verfassungswidrig überhöhten bzw. ungleichen Steuerforderungen, BB 1999, 2429, 2433 f.; femer Burkhard, Jörg, Festsetzung von Hinterziehungszinsen nach § 235 AO bei Vermögensteuerhinterziehungen trotz Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer?, Stbg 2000, 122, 124.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
ii) Schlußfolgerung Zu ergänzen ist, daß keineswegs offensichtlich erscheint, ob die Hinterziehung verfassungswidriger Steuern in die Ebene des Tatbestandes oder aber die Ebene der Rechtswidrigkeit einzuordnen ist. Schon allgemein ist in der Strafrechtswissenschaft noch ungeklärt, inwieweit einzelne Grundrechte selbst Rechtfertigungsgründe darstellen können, da sie aus der Sicht des Strafrechts einen zu unbestimmten Gehalt besitzen. Gefestigt ist lediglich die Ansicht, daß Grundrechte bei der Auslegung anerkannter Rechtfertigungsgründe zu berücksichtigen sind. 378 Dennoch ist bereits die Ebene des Tatbestandes der wohl richtige Ort zur Abhandlung dieser Frage. Als Quintessenz der im vorangegangenen Kapitel durchgeführten Analyse läßt sich festhalten, daß die ganz überwiegende Zahl der Unvereinbarkeitsentscheidungen auf Verstöße gegen die Besteuerungsgleichheit zurückzuführen sind. In all diesen Fällen überläßt das Bundesverfassungsgericht es mit Recht dem Steuergesetzgeber, für eine verfassungskonforme Neuregelung zu sorgen. Der jeweils betroffene Steuerpflichtige hingegen hat kein subjektives Recht von Verfassungsrang, ebenfalls in den Genuß der gleichheitswidrigen Vergünstigung zu gelangen. Daher steht ihm auch nicht zu, sich diese selbst durch Hinterziehung dieser Steuer zu nehmen. Verfassungswidrig ist nämlich nicht, daß ihm die begünstigende Norm vorenthalten wird, sondern lediglich, daß ein anderer ungerechtfertigt besser gestellt wird. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesen Fällen immer wieder, daß es dem Steuergesetzgeber freistehe, bei seiner Neuregelung für beide Normadressaten die steuerliche Begünstigung zu streichen. Hiergegen steht dem Steuerpflichtigen kein Widerstand zu, weil er sich nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag den legitimen Regeln dieser Gesellschaft unterworfen hat. Eine Aussage, wonach dem Bürger ein Anspruch auf eine bestimmte Vergünstigung zustehe, konnte das Bundesverfassungsgericht gar nicht treffen, ohne gegen den Grundsatz des „judicial self restraint" zu verstoßen und ohne die Balance der Gewalten im Verhältnis Judikative zu Legislative ungerechtfertigt zu verschieben. Weitaus schwieriger gestalten sich all jene Fallkonstellationen, in welchen dem Steuerpflichtigen eine Garantie eingeräumt wird, in bestimmten Umfang von Steuern verschont zu bleiben. Aus der bisherigen Verfassungsrechtsprechung sind dies vor allem zwei Konstellationen: zum einen, wenn in das dem Bürger grundrechtlich garantierte Recht auf Freistellung seines existenznotwendigen Lebensbedarfs eingegriffen wird, zum anderen, wenn unter Verstoß gegen eine Obergrenze der Gesamtbelastung, die in der Nähe einer hälftigen Teilung liegen soll, ein Steuerzugriff erfolgt oder gar der Kernbestand des Erfolges eigener wirtschaftlicher Betätigung in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützlichkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen Vermögenswerten Rechtspositionen mißachtet wird. 378
15 Röckl
Zur Problematik Kühl, Kristian, Strafrecht, Allgemeiner Teil, S. 342.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Eine Strafbarkeit verfassungswidriger Steuern kann ebenfalls dann entfallen, wenn der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit zu einer besseren Rechtserkenntnis führt. Denn das Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit führt zur Anwendung des milderen Rechts.
IV. Zwischenergebnis Die Bestimmtheit einer Strafnorm ist keine Utopie, sondern ein Optimierungsgebot an den Gesetzgeber, von dem ein hinreichendes Maß an Bestimmtheit verlangt wird. Das den Blankettstraftatbestand der Steuerhinterziehung ausfüllende Steuerrecht genügt vielfach nicht den Anforderungen, die allgemein an strafrechtliche Normen gestellt werden. Dies gilt um so mehr, als weite Teile des Steuerrechts nicht auf gesetzlicher Grundlage beruhen, sondern durch gesetzesverdrängende Verwaltungsvorschriften geprägt sind. Soweit gesetzliche Festlegungen vorhanden sind, gewähren diese häufig Wahlrechte, die die Höhe der Steuerschuld in die Hand des Steuerpflichtigen oder gar eines Dritten legen. Eine Unbestimmtheit kann, jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen, auch durch ein verfassungswidriges Ausfüllungsgesetz begründet sein.
C. Gesetzlichkeit der Straftat und Analogieverbot („ nullum crimen sine lege stricta
iC
)
I. Vorbemerkung Daß eine analoge Anwendung eines Straftatbestandes der §§ 369 ff. AO zuungunsten des Steuerstraftäters unzulässig ist, war in der Literatur schon im älteren Schrifttum unbestritten. 379 Aus dem Analogieverbot folgt zwangsweise ein fragmentarischer Charakter des Strafrechts, der Strafbarkeitslücken bewußt in Kauf nimmt. 3 8 0 Über die Reichweite dieser Feststellung für das Strafrecht im allgemeinen und das Steuerstrafrecht im besonderen besteht jedoch bis heute keine Ubereinstimmung. Erst in neuerer Zeit wurde die Verknüpfung des strafrechtlichen Tatbestands des § 370 AO mit dem materiellen Steuerrecht in die Diskussion einbezogen. Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG macht eine Differenzierung von Auslegung und Analogie erforderlich, wenn auch mit Otto 381 zu sagen ist, daß zwischen Analogie und extensiver Auslegung rechtstheoretisch kein Unterschied be379 Suhr, Gerhard, Steuerstrafrecht, S. 49. 380 Statt vieler Freund, Georg, Strafrecht - Allgemeiner Teil, S. 10. 381 Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, § 2 I I 5 b).
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
steht. Art. 103 Abs. 2 GG verbietet also nach richtigem Verständnis jede Auslegung, die über den möglichen Wortsinn hinausgeht. Innerhalb dieser Grenze des Wortsinns bedarf es stets der dann zulässigen Auslegung, da das Gesetz nichts Fertiges ist, sondern einem wertenden Vergleich mit der vorgefundenen Realität unterliegt. Erst in der Auslegung wird das Gesetz zur Rechtsquelle, wie dies das Stichwort „law in action " umreißt. 382 Dabei wird zutreffend meist anerkannt, daß Blankettstrafgesetze, die hinsichtlich einzelner Merkmale des Straftatbestandes auf andere Gesetze verweisen, trotz Analogieverbot im Grundsatz zulässig sein können. Über die Anforderungen im einzelnen, die sich aus dem Analogieverbot für das Blankettgesetz ergeben, besteht jedoch kein Konsens. Zunächst ist deshalb im folgenden der Umfang des Analogieverbotes für Blankettstrafgesetze im Detail auszuloten. Darüber hinaus stellen sich zwei weitere Fragen: Es ist zu entscheiden, ob das Analogieverbot für vorgelagerte Normen in gleichem Maße gilt und in welchen Fällen dies im Steuerstrafrecht problematisch sein kann. In einem späteren Kapitel 383 wird im Hinblick auf die europäische Dimension auch zu erörtern sein, inwieweit eine Verweisung auf europäisches Steuerrecht zulässig sein kann. Fragen der Methodenlehre erfordern einen „bereichsspezifischen Ansatz "· 384 Für das Strafrecht ergibt sich dies schon aus dem Analogieverbot. Besondere methodische Probleme folgen deshalb dort, wo zwei unterschiedliche Bereiche aneinander grenzen, wie dies mit Steuerrecht und Steuerstrafrecht der Fall ist. Die hier auftretenden Wertungdivergenzen stellen Methodenfragen dar, die über das Verfassungsrecht gelöst werden müssen.
II. Tatbestandsmäßigkeit und Analogieverbot im Steuerrecht 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben und Stand der Diskussion
Die Blankettnorm des § 370 AO verweist auf das materielle Steuerrecht. Dort gilt nach bestrittener Auffassung der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit („nullum vectigal sine lege") und ein Verbot steuerschärfender Analogie. Weithin anerkannt ist, daß ein Richterrecht intra legem zulässig ist, ein gesetzeskorrigierendes Richterrecht contra legem hingegen nicht. Der Streit kreist damit um die Behandlung eines lückenfüllenden Richterrechts praeter legem. 382 Vgl. Häberle, Peter, Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat, in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 521, 524. 383 Siehe hierzu unten, Sechstes Kapitel: § 1Β.Π „Der bestehende Einfluß auf nationales Βlankettstrafrecht" auf S. 427. 3 «4 Häberle, Peter, a. a. O. (Fn. 382), S. 521, 528. 15*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Einfachgesetzlich normiert § 38 AO die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung. § 38 AO ist jedoch selbst Blankettnorm und verweist auf die jeweiligen Einzelsteuergesetze. Zum Tatbestand gehören das Steuersubjekt, das Steuerobjekt einschließlich seiner Zurechnung, seiner Bemessungsgrundlage, dem darauf anzuwendenden Steuersatz sowie die Befreiungen und Erweiterungen. 385 Zu untersuchen ist, ob das Steuerrecht ein Analogieverbot mit vergleichbarem Inhalt kennt wie das Strafrecht mit Art. 103 Abs. 2 GG. Wäre dies zu bejahen, so würde sich die hier aufgeworfene Problematik als leicht lösbar erweisen, da hier wie dort die gleichen Voraussetzungen zu erfüllen wären. Es würden dann für Blankettstrafgesetz und ausfüllendes materielles Steuerrecht ohnedies die gleichen Anforderungen gelten. Dies wird von Teilen der Lehre 386 so vertreten, indem die Anforderungen von Steuerrecht und Strafrecht für parallel gehalten werden. Die wohl heute überwiegende Auffassung teilt diese Ansicht jedoch nicht. 387 Es ist danach weiter zu untersuchen, ob und inwieweit das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auf die ausfüllende Norm zu erstrecken ist. Anders als Art. 134 Weimarer Reichsverfassung führt das Grundgesetz den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung an keiner Stelle ausdrücklich auf. Trotzdem ist das Gesetzmäßigkeitsprinzip im Steuerrecht allgemein anerkannt. Ansatzpunkte für die Beurteilung der Analogiefähigkeit des Steuerrechts sind einerseits der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gesetzesvorrang gegenüber dem Richterrecht über die Bindung aus „Gesetz und Recht" des Art. 20 Abs. 3 GG, 3 8 8 schließlich Art. 97 Abs. 1 GG, 3 8 9 andererseits die grundrechtlichen Verbürgungen, die die Grenzen der Besteuerung abstecken. Ferner wird eine analoge Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG diskutiert. 390 Auf das Gewaltenteilungsprinzip, Aspekte der Rechtssicherheit wurde bereits oben beim Bestimmtheitsgrundsatz hingewiesen. Da Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot nur die zwei Seiten ein und derselben verfassungsrechtlichen Wurzel bedeuten, sind Überschneidungen zwangsläufig. 385 Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, § 38 AO, Rn. 2. 386 Crezelius, Georg, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 152; Papier, Hans-Jürgen, Der Bestimmtheitsgrundsatz, DStJG Bd. 12, S. 61, 72. Differenzierend: Krey, Volker / Weber-Linn, Martina, Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt, FS f. Günter Blau, S. 123, 144 und 147. 387 Siehe Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 289 m. w. N. 388 Zur Bedeutung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung allgemein Schulze-Fielitz, Helmuth, in: Dreier, Horst, Grundgesetz, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 83. 389 Fischer, Peter, Grundlagen und Grenzen der Rechts(fort)bildung im Steuerrecht, StVj 1992, 3, 10. 390 Auf den Vorschlag von Hahn, Hartmut, Vom Inhalt der Sätze von der Tatbestandsmäßigkeit und der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, S. 20 ff., soll hier nicht weiter eingegangen werden. Eine Ableitung aus dem Ausgabenvorbehalt des Art. 110 Abs. 2 GG erscheint für die vorliegende Problematik wenig erfolgversprechend
§
Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt 2. Rechtsprechungstendenzen
a) Die ältere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes Der Bundesfinanzhof geht zunächst von der Larenz 'sehen Methodenlehre aus. 391 Er unterscheidet zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung. Er hält grundsätzlich alle tradierten Methoden zur Ausfüllung von Regelungslücken auch im Steuerrecht für zulässig. Hierzu gehört auch die Analogie. Hinsichtlich der steuerverschärfenden Analogie vertritt das Gericht in seinen früheren Urteilen die Ansicht, daß über den Wortlaut hinaus keine neuen Steuertatbestände geschaffen werden können. Dennoch ist in der Rechtsprechung keine trennscharfe Linie gezogen. Dem BFH wird vorgeworfen, daß Analogieschlüsse zuungunsten des Steuerpflichtigen vielfach unter dem Etikett einer „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" 392 oder einer weiten Auslegung gehandelt wurden. 393 Schon früh anerkannt war die sogenannte zweischneidige Lückenausfüllung. Diese umfaßt begrifflich diejenigen Fallgestaltungen, in denen eine Analogie gleichzeitig steuerliche Auswirkungen zugunsten wie auch zuungunsten hervorruft, die sich im Ergebnis aufheben und sich zumindest auf die Totalperiode als Betrachtungszeitraum neutralisieren. 394 Solche zweischneidigen Wirkungen treten beispielsweise beim Wechsel der Gewinnermittlungsart von Einnahmen - Überschußrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG zum Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 i. V. m. § 5 Abs. 1 EStG auf. Denn in derartigen Fällen liegt nach Ansicht des BFH keine Belastung des Steuerpflichtigen. Für das Steuerrecht mag man dem noch folgen. Aus der Perspektive des Steuerstrafrechts sind auch diese Fälle bereits problematisch, führen sie doch aufgrund des Prinzips der Abschnittsbesteuerung zu einer Steuerverschärfung in zumindest einem von mehreren Besteuerungszeiträumen. Da die Strafbarkeit des Steuerhinterziehers stets auf ein Veranlagungsjahr zu beziehen ist, erhebt sich für das betroffene Jahr die Frage, ob die Steuerschärfung auch zu einer Schärfung der Strafe führen kann.
391 Woerner, Lothar, Die Steuerrechtsprechung zwischen Gesetzeskonkretisierung, Gesetzesfortbildung und Gesetzeskorrektur, DStJG Bd. 5, S. 23, 26 f. 392 Hierzu noch ausführlich unten, Viertes Kapitel: § 2C.III „Die wirtschaftliche Betrachtungsweise und das verfassungsrechtliche Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast" auf S. 245 ff., insbes. 249. 393 Rittler, Thomas, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des BFH, S. 113 m. w. N. 39 4 Offerhaus, Klaus, Zur Analogie im Steuerrecht, BB 1984, 993, 994.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
b) Die neuere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes Der IV. Senat des ΒFH hat im Jahre 1983 erstmals eine steuerverschärfende Analogie außerhalb der zweischneidigen Lückenfüllung für zulässig erachtet. 395 An der Entscheidung des BFH wird von einem seiner späteren Präsidenten 396 kritisiert, daß eine Anrufung des Großen Senats nach § 11 Abs. 3 FGO unterblieben ist, obgleich dies wegen Abweichung von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Tragweite der anstehenden Rechtsfragen durchaus geboten war. Aus dieser Entscheidung und der nachfolgenden, hierauf aufbauenden Rechtsprechung des BFH lassen sich folgende Aussagen ableiten: Die allgemeine gesetzgeberische Absicht, Steuerumgehungen zu verhindern, ist nur dann bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen, wenn sie auch im Gesetz ihren Niederschlag gefunden hat. 3 9 7 Eine steuerverschärfende Analogie ist jedenfalls dann zulässig, wenn aus der Norm die Absicht des Steuergesetzgebers erkennbar ist, durch eine „rechtspolitische Entscheidung" den Umfang der Besteuerung abschließend zu regeln. Rechtspolitische Unvollständigkeiten sind gegeben, wenn eine Ergänzung der gesetzlichen Regelung nur aus rechtspolitischen Gründen wünschenswert wäre. 398 Die Ergänzungsbedürftigkeit darf nicht einer vom Gesetz gewollten Beschränkung entsprechen. Der Wille des Gesetzgebers läßt sich insoweit dem Gesamtzusammenhang und den Gesetzesmaterialien entnehmen399 oder aus der Entwicklung der Norm ablesen.400 Unterfällt ein Umstand schon gar nicht dem Regelungsgehalt einer Steuernorm, so ist er dem Sinn und Zweck nach nicht erfaßt und es obliegt dem Gesetzgeber, ein etwaiges Defizit des Regelungsgehaltes zu beseitigen.401 In einem solchen Fall fehlt es an einer Lücke, das Gesetz ist nicht planwidrig unvollständig. 402 Eine Lücke ist dagegen anzunehmen, wenn ein bestimmter Sachbereich gesetzlich nicht geregelt ist, aber nach dem System des Gesetzes hätten mitgeregelt wer%
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den müssen. Diese Aussagen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Rechtsprechung der Senate des BFH nicht einheitlich ergeht. Insbesondere der I. Senat 395 BFH Urt. v. 20. 10. 1983 - IV R 175/79, BStBl II 1984, 221, 224. 396 Ojferhaus, Klaus, a. a. O. (Fn. 394), BB 1984,993, 994. 397 St. Rspr. des BFH und des BVerfG seit Urt. v. 21. 05. 1952 - 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 300,312. 398 BFH Urt. v. 09. 08. 1989 - X R 30/86, BStBl I I 1989, 891, 892. 399 BFH Urt. v. 24. 03. 1992 - V I I R 39/91, BStBl I I 1992, 956,957. 400 BFH Urt. v. 08. 09. 1994 - IV R 85/93, BStBl. II 1995, 67, 68. 401 BFH Urt. v. 25. 08. 1987 - IX R 65/86, BStBl I I 1988, 248, 249. 402 BFH Urt. v. 27. 11. 1985 - 1 R 42/85, BStBl I I 1986, 272, 273. 403 BFH Urt. v. 09. 08. 1989 - X R 30/86, BStBl I I 1989, 891, 892.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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plädiert für eine streng am Wortlaut orientierte Auslegung, wohingegen vornehmlich der IV. Senat des BFH eine formaljuristische Betrachtung ablehnt und auf die Erzielung sachgerechter Ergebnisse abstellt. 404 Die Rechtsprechung ist daher durch eine Auseinandersetzung beider Linien gekennzeichnet, die in mehreren Entscheidungen des Großen Senats ihren Niederschlag fand.
c) Die Strafgerichtsbarkeit Soweit ersichtlich hat die Strafgerichtsbarkeit zur vorliegenden Frage nicht ausdrücklich Stellung genommen. Eine Gesetzesanwendung, die offen als Analogie des ausfüllenden Steuergesetzes ausgewiesen wurde, ist nicht zu finden. Dennoch muß davon ausgegangen werden, daß viele Analogien unter dem Stichwort der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" oder dem „Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten" abgehandelt wurden. Hierauf soll unten 405 noch gesondert eingegangen werden. Deutlich wurde die Problematik jedoch in einer Entscheidung zum Investitionszulagenrecht, das wegen seiner Nähe zum Steuerstrafverfahren nicht unerwähnt bleiben sollte. Der BGH löste das Problem in seiner Entscheidung vom 07.02.1984 im Wege einer „Auslegung," so daß er auf den Gesichtspunkt eines Umgehungsverhaltens nach § 6 Abs. 1 StAnpG, § 4 Abs. 2 SubvG, § 42 AO nicht eingehen brauchte. 406 Tatsächlich läßt die Entscheidung Rückschlüsse auf die Haltung der Rechtsprechung zu, wie außerstrafrechtliche Normen im Strafrecht auszulegen sind. Im Wege einer teleologischen Reduktion eines Merkmals wird eine verdeckte Gesetzeslücke im vorgelagerten Recht zu Lasten des Täters geschlossen. Der Beschluß erntete daher in der Wissenschaft Widerspruch 4 0 7 da ein Verstoß gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG vorlag.
d) Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes Ein Analogie ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes im allgemeinen jedenfalls dann unzulässig, wenn sie einen steuerbegründenden Tatbestand schaffen würde. 408 404 Weber-Grellet, Heinrich, Tendenzen der BFH-Rechtsprechung, StuW 1993,195, 199. 405 Siehe hierzu die Ausführungen unter: Viertes Kapitel: § 2C.III.4 „Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes" auf S. 249 sowie: Viertes Kapitel: § 2C.V.3 „Die Rechtsprechung der Strafgerichte" auf S. 267. 406 Beschl. v. 07. 02. 1984 - 1 StR 10/83, BGHSt 32, 256, 260. 407 Dannecker, Gerhard, Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bedeutung der Grundsätze „nullum crimen sine lege" und „ne bis in idem" für das Wirtschaftsstrafund Wirtschaftsordnungswidrigkeitenrecht, Rivista trimestrale di diritto penale dell'economia, 1990, S. 449,454.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
So gehört nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes im Steuerrecht zwar auch die Entwicklung von Rechtsgrundsätzen zu den herkömmlichen Aufgaben des Richters. Es sei jedoch unter dem Verfassungsprinzip des Rechtsstaates bedenklich, wenn ein Steuertatbestand neu geschaffen oder ausgeweitet wird. Bestimmend für das Steuerrecht sei die primäre Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte. Auch der Hinweis auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise rechtfertige keine andere Sicht der Dinge. 409 . Das Bundesverfassungsgericht hat hervorgehoben, daß zur Analogiebildung die Deckung des staatlichen Finanzbedarfes für sich kein berücksichtigungsfähiger Gesetzeszweck sein kann. 410 Denn der staatliche Finanzbedarf könnte jeden Eingriff in die Grundrechte des Bürgers rechtfertigen, weil er sich einer Abwägung gegenüber den betroffenen Grundrechten entzieht. Daher ist jede Analogiebildung eines Steuergesetzes aufgrund eines mutmaßlichen Willens des Steuergesetzgebers problematisch. Diese klaren Aussagen werden jedoch nicht konsequent durchgehalten. In mehreren Fällen werden Erweiterungen von Steuertatbeständen dennoch verfassungsrechtlich nicht beanstandet, ohne daß dies ausdrücklich als Analogie gewertet würde.
3. Inkurs: Verfassungsrechtliche Verankerung eines „nullum tributum sine lege"
a) Die Eigentums garantie des Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 2 GG Soweit der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung nicht bereits zum Verfassungsgewohnheitsrecht zählt, 411 so läßt er sich jedenfalls aus dem Gesetzesvorbehalt der Freiheitsgrundrechte entnehmen.412 Nach der sogenannten Wesentlichkeitslehre hat der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere im grundrechtsrelevanten Bereich selbst zu treffen. 413 Dieser Ansatz hat seine
408 Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvR 332/60, BVerfGE 13, 318, 328, und BVerfG Beschl. v. 30. 01. 1985 1 BvR 27983, NJW 1985, 1891, 1891. Siehe auch Urt. v. 14. 12. 1965 1 BvR 571/60, BVerfGE 19, 253, 267; Beschl. v. 10. 10. 1961 - 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153, 160; Beschl. v. 14. 03. 1967 - 1 BvR 334/61, BVerfGE 21, 209, 215. 409 Urt. a. a. O. (Fn. 408), BVerfGE 13, 318, 329. Hierzu eingehend die Ausführungen unten, Viertes Kapitel: § 2C.III „Die wirtschaftliche Betrachtungsweise" auf S. 245 ff. 410 Beschl. v. 17. 01. 1957 - 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55, 80; Beschl. v. 01. 06. 1965 2 BvR 616/63, BVerfGE 19, 76, 84 f. 411 So u. a. Kruse, Heinrich Wilhelm, Lehrbuch des Steuerrecht, S. 58. 412 Belsen Karl-Heinz, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit steuerlicher Wahlrechte, S. 49. 413 Beschl. V. 21. 12. 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 46, 79; Beschl. v. 08. 08. 1978 - 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89, 126; Häberle, Peter, Grundrechte und parla-
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
Wurzel vor allem im Demokratieverständnis, wonach das Parlament als vom Volk direkt gewähltes Organ die wichtigsten Entscheidungen zu treffen hat. Art. 14 GG schützt nach Ansicht des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichtes nicht das Vermögen als solches vor staatlichen Eingriffen und damit auch nicht vor der Auferlegung von Geldleistungspflichten. Nur erdrosselnde, konfiskatorische Steuern sind verfassungswidrig, soweit ein Eingriff in die Kapitalsubstanz vorliegt. 4 1 4 Grundsätzlich soll eine Steuer schon dann gerechtfertigt sein, wenn sie in Art. 105, 106 GG aufgeführt oder zunächst einer dort genannten Steuer zugeordnet werden kann. 415 Eine überzeugende Begründung ist der Senat jedoch bislang schuldig geblieben. Die Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichtes bringt insoweit keine Klarheit, weil die Frage des Schutzes des Vermögens in der sogenannten Einheitswert-Entscheidung umgangen wurde, 416 um eine Anrufung des Plenums nach § 16 Abs. 1 BVerfGG zu vermeiden, aber gleichzeitig angedeutet wurde, daß man das Vermögen für geschützt hält. Kirchhof 17 selbst vertritt die Auffassung, aus Art. 14 Abs. 2 GG folge, daß dem Berechtigten ein privater Ertragsnutzen verbleiben müsse. Der 1. Senat sah in der folgenden Rechtsprechung keinen Anlaß, von seinem Standpunkt abzuweichen.418
b) Die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG Steuergesetze sind an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, soweit sie infolge ihrer Gestaltung in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes stehen und eine berufsregelnde Tendenz erkennen lassen. Da sich Steuergesetze jedoch zumeist an einen nicht näher spezifizierten Adressatenkreis richten, mangelt es an einer direkten Beziehung zu einem bestimmten Beruf. In die Freiheit der Berufswahl wird eingegriffen, wenn eine Steuer eine „erdrosselnde Wirkung,, zeigt, so daß der Steuerpflichtige seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. 419
mentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat - das Beispiel des deutschen Grundgesetzes, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, S. 360, 382. 414 Beschl. v. 19. 12. 1978 - 1 BvR 335, 427, 811/76, BVerfGE 50, 57, 104 f.; siehe auch die frühere Rechtsprechung des 2. Senats im Beschl. v. 22. 03. 1983 - 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343, 368. 415 Zur Kritik: Tipke, Klaus, Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 29. 416 Wieland, Joachim, in: Dreier, Horst, Grundgesetz, Bd. 1, Art. 14, Rn. 46. 417 Kirchhof, Paul, Der Auftrag des Grundgesetzes zur Erneuerung des Steuerrechts, Stbg 1998, 385, 389. 418 Urt. v. 08. 04. 1997 - 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267, 300. 419 Beschl. v. 17. 07. 1974 - 1 BvR 51, 160, 285/69, 1 BvL 16, 18, 26/72, BVerfGE 38, 61,81. Siehe auch Beschl. v. 11. 10. 1977- 1 BvR 343/73, BVerfGE 47, 1, 21.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
c) Die ökonomische Handlungsfreiheit
des Art. 2 Abs. 1 GG
Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt den Schutz der ökonomischen Handlungsfreiheit, soweit die Wirtschaftsfreiheit nicht durch besondere Grundrechtsbestimmungen gewährleistet ist. 4 2 0 Der Grundrechtsschutz der Art. 12 und 14 GG erweist sich insoweit als nicht abschließend. Der Schutzbereich der Norm ist weit auszulegen, wie dies vom Bundesverfassungsgericht im Elfes-Urte'ü 421 entschieden wurde. 422 Das Grundrecht schützt daher vor der Auferlegung von Steuern und ist Maßstab für Abgabepflichten. 423 Denn die Auferlegung von Steuern greift in die Freiheit zur wirtschaftlichen Disposition ein und beeinträchtigt die Möglichkeit der Unternehmerinitiative. Der Bürger darf nur aufgrund solcher Rechtsvorschriften zur Besteuerung herangezogen werden, die materiell und formell der Verfassung gemäß sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören. 424 Ob dies tatsächlich eine Einschränkung bedeutet und letztlich ein Analogieverbot im Steuerrecht begründen kann, ist umstritten. Dies wird zum Teil bejaht, 4 2 5 teilweise jedoch in Zweifel gezogen.426 Letztere Ansicht führt aus, daß eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG nur aufgrund der materiellen Belastung mit einer Steuerpflicht bestehe, dagegen sei die Form des Eingriffs - durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung oder aufgrund eines Analogieschlusses - nicht geeignet, eine Grundrechtsverletzung nach Art. 2 Abs. 1 GG zu begründen. Diesem Verständnis ist entgegenzuhalten, daß der Steuerbürger nur Eingriffe in seine wirtschaftliche Handlungsfreiheit hinzunehmen braucht, die auch formell der Verfassung gemäß sind.
420
Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 14. ™ Urt. v. 16. Ol. 1957 - 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32, 36 ff. 422 In diesem Sinne auch Murswiek, Dietrich, in: Michael Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 42 und 54; 423 Beschl. v. 03. 12. 1958 - 1 BvR 488/57, BVerfGE 9, 3, 11; Beschl. v. 05. 03. 1974 1 BvL 27/72, BVerfGE 37, 1, 17 f.; Beschl. v. 05. 04. 1978 - 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102, 115 f.; Beschl. v. 08. 04. 1987 - 2 BvR 909, 934 - 936, 938, 941, 942,/82, 64/83 und 142/84, BVerfGE 75, 108, 154 f.; Beschl. v. 31. 05. 1990 - 2 BvL 12, 13/ 88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159, 190 f.; Beschl. v. 25. 09. 1992 - 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87,153, 169. Für die Literatur Jarass, Hans, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 5, ebenso Kunig, Philip, in: von Münch /Kunig, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 16; Wieland, Joachim, in: Dreier, Horst, Grundgesetz, Bd. 1, Art. 14, Rn. 46. 424 Beschl. a. a. O. (Fn. 423), BVerfGE 9, 3, 11; nachfolgend Urteile v. 14. 12. 1965 1 BvR 413, 416/60, BVerfGE 19, 206, 225; 1 BvL 31, 32/62, BVerfGE 19, 226, 241 f.; 1 BvL 2/60, BVerfGE 19, 242, 247; 1 BvR 586/58, BVerfGE 19, 248, 251; 1 BvR 606/60, BVerfGE 19, 268, 273 f. und Beschl. v. 13. 12. 1966 - 1 BvR 512/65, BVerfGE 21, 1, 3. 425 426
Lang, Joachim, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4, Rn. 153. Hess, Dieter, Analogieverbot und Steuerrecht, S. 123.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
d) Gesetzesbindung nach Art 20 Abs. 3 GG Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit schützt den Bürger vor Auslegungen des Steuergesetzes contra legem durch Exekutive und Judikative. Mitglieder von Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit sind nicht befugt, ein Gesetz entsprechend ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen entgegen den Entscheidungen der Legislative zu berichtigen. Denn die Postulate der Gerechtigkeit finden ihren Niederschlag in den Grundrechten der Verfassung, über die das Bundesverfassungsgericht zu befinden hat. 4 2 7 Das Steuerrecht hat aus dem Vorbehalt des Gesetzes die Lehre von der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in Parallele zur Tatbestandsmäßigkeit des Strafrechts entwickelt. 428 Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips im Bereich des Steuerwesens fordert, daß steuerbegründende Tatbestände nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß so bestimmt sein müssen, daß der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerschuld vorausberechnen kann. 429 In einer früheren Entscheidung verlangte das Bundesverfassungsgericht, daß die Steuerlast „meßbar und in gewissem Umfang für den Steuerbürger voraussehbar und berechenbar" ist. 4 3 0 Zur Begründung führte das Gericht an, daß Eingriffsverwaltung durch Gesetz inhaltlich normiert sein müsse, um eine Ermächtigung der Verwaltung zu begründen. Dies folge zudem aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Schließlich erfordere es die prozessuale Seite nach Art. 19 Abs. 4 GG, einen lückenlosen Schutz zu gewähren. Diesen Erfordernissen ist jedoch genügt, wenn der Gesetzgeber die wesentlichen Bestimmungen über die Steuer mit hinreichender Genauigkeit trifft. Angesichts der Kompliziertheit des Steuerrechts brauche er nicht jede Frage zu entscheiden. Zweifelsfragen können mit Hilfe der anerkannten Auslegungsmethoden beantwortet werden. 431 Das Gericht geht dabei davon aus, daß eine richterliche Neuschaffung oder Ausweitung von Steuertatbeständen unzulässig ist. 4 3 2
427 Lang, Joachim, a. a. O. (Fn. 425), § 4, Rn. 154. 428
Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, § 4615 c) a) 429 Urt. v. 14. 12. 1965 - 1 BvR 571 /60, BVerfGE 19, 253, 267. 430 Beschl. v. 10. 10. 1961 - 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153, 160. Pipping, Hanns-Georg, Die „steuerlich erheblichen Tatsachen" im Rahmen der Steuerhinterziehung, S. 31 hält die Formulierung " in gewissem Umfang" für die wesentliche Differenzierung zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. 431 Beschl. v. 14. 03. 1967 - 1 BvR 334/61, BVerfGE 21, 209, 214 f.; Beschl. v. 13. 05. 1969 - 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1, 10. 432 Beschl. v. 13. 12. 1966 - 1 BvR 512/65, BVerfGE 21, 1,4.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension 4. Stand der Lehre und die Ableitung aus der Bestimmung des Art. 103 Abs. 2 GG
a) Die zwei widerstreitenden
Positionen in der Literatur
Die früher überwiegende Ansicht hielt es für Allgemeingut, daß durch Analogie in der Rechtsanwendung keine neuen Steuertatbestände geschaffen werden dürfen. 433 Dies wurde mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers begründet, da grundsätzlich kein Tatbestand von sich aus einer Besteuerung unterliege. Schon früh war jedoch in der Wissenschaft anerkannt, daß in gewissen Fällen eine Korrektur des gesetzlichen Steuertatbestandes erfolgen konnte. Liegt ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers vor, so bestanden seit jeher keine ernsthaften Bedenken, vom Wortlaut des Gesetzes abzuweichen. Schließlich bestand weiterhin Konsens darüber, daß der teleologischen Auslegung im Zweifel der Vorrang gebührt vor der Wortlautauslegung. Hieraus folgt, daß selbst eine unmißverständliche Wortfassung preiszugeben ist, soweit sie zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt. Ein solches Abweichen vom gesetzlichen Wortlaut soll aber ferner dann zulässig sein, wenn der Wortlaut zu einem gegen die „soziale Vernunft" verstoßenden Ergebnis führt. Dies sei immer dann der Fall, wenn in einer wortgetreuen Auslegung eine grundlose Benachteiligung der sozial Schwächeren gegenüber den sozial Stärkeren liege. 434 Das gleiche gelte, wenn der Wortlaut gegen rechtsstaatliches Denken verstößt 4 3 5 Darin kommt nichts anderes als die verfassungskonforme Auslegung zum Ausdruck. Die entscheidende Frage jedoch muß sein, ob auch eine Erstreckung der Anwendung eines Steuertatbestandes auf Fälle erlaubt ist, die der Steuergesetzgeber nicht vorhergesehen hat. Insbesondere Heinrich Wilhelm Kruse und Karl Heinrich Friauf halten an der Auffassung fest, daß eine steuerverschärfende Analogie im Steuerrecht ausgeschlossen sei. 436 Friauf beruft sich hierbei auf Gerhard Anschütz und führt aus, daß es in einem demokratischen Rechtsstaat ein unabdingbares Gebot sei, auf dem Gebiet des Eingriffsrechts die Rechte der Verwaltung nur soweit gehen zu lassen, wie das Gesetz reicht. Teile der Literatur haben jedenfalls gegenüber Analogiebildung zur Umgehungsbekämpfung dann keine Bedenken, wenn ein Umgehungsverbot vom Gesetzgeber selbst aufgestellt und in einem Parlamentsgesetz niedergelegt 433 Flume, Werner, Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StbJb 1967/68, S. 62, 65. Flume forderte, daß der Gesetzgeber auf die Erfassung von Grenztatbeständen verzichten solle, wenn sich diese nicht klar bestimmen ließen oder ihre Erfassung im Einzelfall unverhältnismäßige Schwierigkeiten bereite. 434 Worm, Gunnar, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und die Gesellschaftssteuer, S. 27. 435 Weinsheimer, Willi, Die Auslegung gegen den Wortlaut im Steuerrecht, S. 70 f. 436 Kruse, Heinrich Wilhelm, Steuerspezifische Gründe und Grenzen der Gesetzesbindung, DStJG Bd. 5, S. 71, 83 und Friauf, Karl Heinrich, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, DStJG Bd. 5, S. 53, 63.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
7
wurde, somit dessen Entscheidungskompetenz gewahrt bleibt. 437 Hierauf wird noch im Rahmen der Ausführungen zu § 42 AO zurückzukommen sein. 438 Jakob/ Jüptner 439 ziehen den Schluß vom Steuerrecht auf das Strafrecht und postulieren, daß im Bereich des Blankettatbestandes des Art. 370 AO, der die Steuernormen zu Ansatzflächen eines Straftatbestandes werden läßt, für eine steuerverschärfende Rechtsfortbildung das Zusammenspiel der Verfassungsprinzipien der Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG sowie das Gebot der Leistungsfähigkeit und der Steuergleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG zu beachten ist. Die berührten Verfassungsprinzipien können sich dabei nicht nur wechselseitig ergänzen, sondern auch gegenseitig einschränken. Crezelius legt dar, aus Art. 101 Abs. 1 GG sei zu ersehen, daß der Richter nur ausnahmsweise kompetent sei, den Gesetzeswortlaut zu überschreiten. Es stehe ihm daher nicht zu, aufgrund seines eigenen Gerechtigkeits- und Steuerwürdigkeitsempfindens auf lediglich ähnliche Sachverhalte auszudehnen.440 Anfang der achtziger Jahre fand die Rechtsauffassung zunehmend Verbreitung, daß eine steuerverschärfende Analogie unter gewissen Voraussetzungen zulässig sein müsse. Anstoß hierzu war die Mainzer Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft. Dies wurde teilweise damit begründet, daß ein Haften am Wortlaut des Gesetzes in die Nähe eines Rechtspositivismus gerückt wurde, 441 der hingegen abzulehnen sei. Die Gegenmeinung argumentiert, daß ein bestimmter Tatbestand nicht von sich aus zu besteuern sei, sondern erst durch die Entscheidung des Gesetzgebers der Besteuerung unterworfen wird. Hieraus folgt aber in Wahrheit nicht das Verbot einer Analogie, sondern lediglich das Verbot, im rechtsfreien Raum, das heißt, außerhalb planwidriger Gesetzeslücken Steuertatbestände zu schaffen. Hat der Gesetzgeber schon einmal eine Grundentscheidung in die Richtung getroffen, daß ein bestimmter Sachverhalt als Ausdruck wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit anzusehen ist, so bleibt seine „positivistische" Grundentscheidung, etwa im Grunderwerbsteuerrecht an den Grundstücksverkehr eine (besteuerungswürdige) wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu knüpfen, respektiert. Es geht allein um die Grenzen. Deshalb geht die heute wohl überwiegende Zahl der Ver437
Poepel, Hans-Dirck, Steuerumgehung im Spannungsfeld zwischen Abgabenordnung und Außensteuergesetz, S. 55. 4 38 Siehe Viertes Kapitel: § 2C.V „Der Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO als wichtigster normierter Fall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise" auf S. 261 ff. 439 Jakob, Wolfgang ! Jüptner, Roland, Steuerfragen der mittelbaren Parteienfinanzierung über Organisationen, S. 45 f. 440
121.
Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117,
441 Tipke, Klaus, Eingangsreferat zur Rechtfertigung des Themas, DStJG Bd. 5, S. 1, 3; Felix, Günther, Rechtssichere Gesetzesanwendung und Steuerplanung, DStJG Bd. 5, S. 99, 107. Diese Ansicht hat auch schon früher Flume, Werner, Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StbJb 1967 / 68, S. 63, 92, vertreten, ohne daß ersichtlich wäre, warum dies zwingend aus der Rechtsnatur des Steuerrechts folgen müßte.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
treter der Steuerrechtswissenschaft von einer Analogiefähigkeit praeter legem unter Einbeziehung der Systematik und dem Sinn und Zweck der Steuernorm aus. Verfassungsrechtlich unzulässig ist nur die Rechtsfortbildung contra legem. 442 Nach zutreffender Ansicht steht dann aber die Kontroverse über die Zulässigkeit steuerverschärfender Analogie in keinem Zusammenhang zum Streit zwischen Positivismus und Naturrechtslehre. 443 Denn eine Geisteshaltung, die jede Metaphysik und das Streben nach dem ethisch Richtigen aus der Wissenschaft ausgrenzt und sich allein auf Tatsachen und Empirie beruft, ist nicht in der Lage, eine Lücke festzustellen, und schon gar nicht, einen Maßstab zu ihrer Ausfüllung anzubieten. Denn das positive Gesetz ist das einzig Vorhandene. Für einen Positivisten existiert die Problematik eines Analogieverbotes damit schlichtweg gar nicht. Der Rechtsanwender mag vielmehr durchaus eine Lücke im Gesetz feststellen, weil die materielle Gerechtigkeit die Ergänzung erfordert. Dabei kann er jedoch mit guten Gründen eine Ergänzung des Gesetzes de lege ferenda für erforderlich halten, weil aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes und dem Demokratieprinzip dem Gesetzgeber die Entscheidung zukommen muß, da dieser eine stärkere demokratische Legitimation vorweisen kann, und das Gebot der Rechtssicherheit einen Schutz des Betroffenen notwendig macht. 444 Für die Gegner einer Rechtsfortbildung über den Wortlaut hinaus gibt es regelmäßig keinen Zweifel, daß eine Gesetzeslücke vorhanden ist. Es fragt sich aber, ob die Rechte des Steuerpflichtigen, die im übrigen auch naturrechtlich begründet werden können, im konkreten Falle nicht vorgehen.
b) Der Analogieschluß aus Art. 103 Abs. 2 GG für das Steuerrecht Besondere Beachtung verdient ein weiterer Herleitungsansatz, weil dieser für das angesprochene Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafrecht nicht ohne Auswirkungen bleiben könnte. In der Literatur wird der Standpunkt vertreten, die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und die Gesetzlichkeit der Straftat seien die historischen Vorbilder des allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprinzips. Schon bei Otto Mayer klingt eine gewisse Vergleichbarkeit an. 4 4 5 So ließe sich argumentieren, daß unter dem Gesichtspunkt einer gleichen Eingriffsintensität einer Geldstrafe und einer Steuer eine analoge Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf das Steuerrecht gerechtfertigt erschiene.
442 Birk, Dieter, Steuerrecht, Rn. 61. 443 Hegelau, Hans Joachim, Analogie im Steuerrecht, S. 23 f. 444 Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, § 11 I c). Zippelius sieht bei Steuertatbeständen und mehr noch bei Straftatbeständen ein verstärktes Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das zu einem Analogieverbot führt. 445 Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, § 30, S. 321.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
Dies würde in diesem Zusammenhang bedeuten, daß Steuerrecht und Steuerstrafrecht ohnedies den gleichen Anforderungen gerecht werden müßten. Rechtsvergleichend ist anzuführen, daß das Recht Luxemburgs den Grundsatz „nulla poena sine lege" aus dem Strafrecht auf das Steuerrecht übertragen hat. Das Ausnutzen von Lücken im Steuergesetz wird nicht mißbilligt. 446 Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen bezüglich Art. 103 Abs. 2 GG für Recht erkannt, daß diese Verfassungsbestimmung sich ausschließlich auf Strafgesetze bezieht. 447 Kirchhof dagegen stellt zur Diskussion, ob nicht die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Voraussehbarkeit auf ein strafbewehrtes Steuerrecht entsprechend anzuwenden sind. Hierin liegt ein weitgreifendes, noch ungelöstes Problem des Steuerverfassungsrechts. 448 Beiden gemeinsam ist, daß es sich um hoheitliche Geldzahlungspflichten handelt, die zu hohen Belastungen führen können. 449 Die Steuer unterscheidet sich von der (Geld -) Strafe namentlich durch einen ad hoc durchgeführten Werttransfer und durch den Umstand, daß die Höhe der Strafe nach außerökonomischen Kriterien bemessen wird. Letzterer Unterschied verblaßt, wenn in der Praxis der Strafgerichte die Strafzumessung aufgrund der bei den Strafgerichten beliebten Tabellen schematisch nach der Höhe der hinterzogenen Steuer erfolgt. 450 Dennoch stellt Strafe begrifflich ein Übel dar, das als gerechter Ausgleich für eine verbotene und vom Gesetz mit Strafe bedrohte Handlung auferlegt wird und die öffentliche Mißbilligung zum Ausdruck bringt. Bestimmend ist dabei die Ausrichtung am Schuldgrundsatz. Der bloße Einnahmenerzielungszweck allein genügt zur Abgrenzung hingegen nicht. Denn die Zielrichtung einer Kompensation sozialschädlichen Verhaltens durch eine finanzielle Einbuße ist der Geldstrafe nicht fremd. 451 Es wird jedoch mit Recht eingewandt, daß über den Vermögenseingriff hinaus, die Geldstrafe mit einem „sozialethischen Unwerturteil" verbunden ist. 4 5 2 Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem „ethischen Schuldvorwurf", 453 einem 446
Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechtsvergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 92. 447 Beschl. v. 24. 04. 1953 - 1 BvR 102/51, BVerfGE 2, 237, 264 f., ferner Beschl. v. 24. 07. 1957 - 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89, 95. 448 Kirchhof, Paul, Der Auftrag des Grundgesetzes zur Erneuerung des Steuerrechts, Stbg 1998, 385, 386. 449 Seile, Dirk von, Vermögen, Strafe und Steuer, wistra 1995, 161,163. 450
Blumers, Wolf gang, Strafen wegen Steuerhinterziehung, wistra 1987, 1 f.
Bodenheim, Dieter, Der Zweck der Steuer, S. 302. 452 Papier, Jürgen, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 60. Die Strafe berührt den Ehrenstatus des Betroffenen, vgl. Bockelmann, Paul, Strafe und Buße als Mittel zur Erziehung zur Steuerehrlichkeit, StKongRep 1969, S. 291, 301. Das Strafrecht stellt sich damit in den Dienst der Moral, wenn es einen sozialethischen Tadel ausspricht.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
„ethischen Unwertgehalt" 454 oder einem „spezifischen Unwerturteil" 455 strafrechtlicher Sanktionen. Dieses Ergebnis wird durch die historische Entwicklung des Gesetzlichkeitsgebotes bestätigt. Wohingegen bereits John Locke eine Gesetzlichkeit von Strafen forderte, stellte erst Anselm v. Feuerbach im deutschen Raum dieses Gebot auf. Hintergrund war dabei nicht der Schutzgedanke des potentiellen Straftäters, sondern die gezielte Abschreckungswirkung durch eine genaue Festlegung der Strafbarkeit. Es soll freilich nicht eine Epoche der Geschichte verhehlt werden, die die Steuer dadurch pervertiert hatte, daß sie Steuern mit Strafcharakter hervorbrachte, 456 welche die hier getroffene Abgrenzung in Frage stellen. Eine derartige Steuer wäre jedoch auf dem Boden des Grundgesetzes schon als Akt der Willkür wegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verfassungswidrig, so daß es auf deren Bestimmtheit nicht mehr ankäme. Ferner läßt sich nicht verleugnen, daß mancher Steuer eine Mißbilligung der Verwirklichung des Besteuerungstatbestandes zugrundeliegt. 457 Das „sozialethische Unwerturteil" als Charakteristikum der Strafe wurde in der Literatur bereits heftig angegriffen. Die Kritik beruht auf den unlösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten und der Relativität außerrechtlicher Sozialethiken.458 Einzuräumen ist, daß die Grenzen zwischen Steuer und Strafe fließend sind, wie ein Blick über die Grenzen zeigt. In der Schweiz wird für Steuervergehen im Gegensatz zum mit Kriminalstrafe belegten Steuerbetrug nur eine sogenannte Strafsteuer erhoben. 459 Diese steht von ihrem Charakter an der Grenze zwischen Steuer und Strafe, wenn sie auch mit einer sozial-ethischen Mißbilligung verbunden ist. Art. 103 Abs. 2 GG stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die wegen der Besonderheiten des Strafrechts nur dort gelten kann und nach Sinn und Zweck wie auch der systematischen Stellung der Vorschrift innerhalb der Verfassung nur dort gelten soll. Es fehlt damit an einer Regelungslücke als Voraussetzung einer Analogie. 460 Denn das Strafrecht dient regelmäßig der Steuerung des Verhaltens der Mitglieder 453 Beschl. v. 01. 06. 1989 - 2 BvR 239/88 und 2 BvR 1205, 1533,1095/87, BVerfGE 80, 109, 121. 454 Beschl. v. 16. 07. 1969 - 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18, 28. 455 Beschl. v. 03. 02. 1959 - 2 BvL 10/56, BVerfGE 9, 137, 145. 456 Zu denken ist an die Reichsfluchtsteuer, die durch die nationalsozialistischen Machthaber zu einem Instrument der Judenverfolgung umfunktioniert wurde, vgl. Felix, Günther, Scheinlegalität und Rechtsbeugung - Finanzverwaltung, Steuergerichtsbarkeit und Judenverfolgung im „Dritten Reich", SteuerStud 1995, 197, 199; Franzen, Klaus, Die nationalsozialistische Weltanschauung in der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs, FS f. Franz Klein, S. 1061, 1070 f.; Poggemann, Martin, Schuld und Strafe in der jüngeren Entwicklung des preußischen Steuerstrafrechts, S. 175; Högemann, Werner, Das deutsche Steuerrecht unter dem Einfluß des Nationalsozialismus (1933-1945), S. 86. 457 Bodenheim, Dieter, Der Zweck der Steuer, S. 303. 458 Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich bei Appel, Ivo, Verfassung und Strafe, S. 482 ff. 459
Alberimi, Andreas von, Der Steuerbetrug im System der Steuerstrafnormen, S. 19. 460 Hess, Dieter, Analogie verbot und Steuerrecht, S. 139 f.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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der Rechtsgemeinschaft. Demgegenüber sollen die Fiskalzwecknormen des Steuerrechts das Verhalten nicht beeinflussen, Ausweichreaktionen gelten als unerwünscht, weil sie die Steuereinnahmen gefährden. Die gesteigerten Bestimmtheitsanforderungen des Strafrechts ergeben sich also daraus, daß der Strafgesetzgeber dem Gesetzesunterworfenen konkret sagen muß, was er nicht tun darf. 4 6 1 Richtiger Ansicht nach ist Art. 103 Abs. 2 GG Ausdruck des Schuldprinzips, auf dem das Strafrecht aufbaut. Schuldhaft kann nur handeln, wer die Verwerflichkeit seines Tuns vorhersehen konnte. 462 Sieht man hierin die Wurzel des Bestimmtheitsgrundsatzes, so kann Art. 103 Abs. 2 GG nur dort Anwendung finden, wo das Schuldprinzip maßgeblich ist, also im Steuerstrafrecht. 463 Probleme bereitet nach diesem Verständnis lediglich eine in ihrer Art einmalige Vorschrift aus dem Umsatzsteuerrecht: Die Vorschrift des § 14 Abs. 3 UStG begründet eine Umsatzsteuerschuld für denjenigen, der in einer Rechnung eine gesonderte Steuer ausweist, obgleich er hierzu gar nicht berechtigt ist. Ob der Rechnungsempfänger die Rechnung bereits zum Vorsteuerabzug verwendet hat, ist ohne Belang. Die Bestimmung stellt ein Kuriosum dar. Sie setzt an einer Stelle an, an der sich die typische Schwäche des gegebenen Umsatzsteuersystems zeigt. Dieses erweist sich nämlich als anfällig gegenüber Scheinrechnungen, mit denen der Empfänger beim Finanzamt eine Vorsteuererstattung erlangen kann, ohne daß die Behörde die Möglichkeit hat, die Scheinrechnung als solche zu erkennen. Der Vorsteuerabzug kann im deutschen Umsatzsteuersystem sehr leicht erzielt werden, weil die Umsatzsteuer als Anmeldungssteuer ausgestattet ist. Für die Erstattung der Steuer ist es unerheblich, ob der Rechnungsaussteller wußte, daß er hierzu nicht berechtigt war. Eine Berichtigung der ausgewiesenen Steuer wird dabei nicht zugelassen. Dies folgt aus einem Umkehrschluß zu § 14 Abs. 2 UStG. 4 6 4 Die fehlende Möglichkeit einer Rechnungsberichtigung stellt einen Überhang des gesetzlichen Tatbestandes in Sachverhaltsgestaltungen dar, in denen das Steueraufkommen nicht gefährdet ist. 4 6 5 Da der Gesetzgeber dies bewußt in Kauf nahm , hat § 14 Abs. 3 UStG den Charakter einer Sanktion. 466 Der BFH 467 sieht hierin nicht die Ahndung vorwerfbaren Verhaltens, sondern einen Steueranspruch mit generalpräventiver Zielsetzung. Die Zielrichtung dieser Vorschrift ist bisher ohne Beispiel im deutschen Steuerrecht. 468
461
Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 124 f. 2 Ipsen, Jörn, Staatsrecht II (Grundrechte), Rn. 869. 4 63 Hess, Dieter, a. a. O. (Fn. 460), S. 142.
4
Zeuner, Helga, in: Bunjes /Zeuner, UStG, § 14, Anm. 42. 65 Widmann, Werner, in: Plückebaum /Malitzky, UStG, Bd. II, § 14, Rn. 406.
4
466 Schmitz, Stephan, § 14 UStG unter besonderer Berücksichtigung der Verfassung, UR 1984, 203, 204 f., mißt der Vorschrift Strafcharakter bei. 4 67 BFH Urt. v. 10. 12. 1981 - V R 3/75, BStBl II 1982, 229, 229. 4 68 Hoffmann, Günther, in: Vogel /Reinisch /Hoffmann /Schwarz, UStG, § 14, Rn. 157.
16 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Die Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 UStG wurde wiederholt angezweifelt einerseits als Verstoß gegen den Grundsatz „nulla poena sine culpa ", da der Vorschrift ein Strafcharakter zugeschrieben wurde, andererseits als Verstoß gegen den Grundsatz „ne bis in idem", sofern die mit Strafcharakter ausgestaltete, aufgrund § 14 Abs. 3 UStG entstandene Steuer hinterzogen wurde und somit sowohl mit der Steuer des § 14 Abs. 3 UStG als auch der verhängten Geldstrafe bestraft wird. 4 6 9 Der Gesetzgeber hat formell einen Steuertatbestand geschaffen, der jedoch materiell einem Straftatbestand entspricht. 470 Das Bundesverfassungsgericht wies jedoch alle Bedenken zurück. 471 Der BFH 472 hat die Vorschrift des § 14 Abs. 3 UStG nunmehr dem EuGH zur Prüfung vorgelegt, da Zweifel an der Gemeinschaftsrechtskonformität bestehen. Der EuGH hat daraufhin im Urteil vom 19. 09. 2000 die fehlende Berichtigungsmöglichkeit eines Rechnungsausweises i. S. v. § 14 Abs. 3 UStG, obgleich das Steueraufkommen nicht gefährdet erscheint, als Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität gesehen, welcher ein Grundprinzip des durch das einschlägige Gemeinschaftsrecht geschaffenen Umsatzsteuersystems darstellt. 473 § 14 Abs. 3 UStG ist nicht das einzige Beispiel, das eine Vergleichbarkeit von Steuerrecht und Strafrecht nahelegen könnte. Die Haftungsvorschrift des § 71 AO etwa erfordert eine Entscheidung im Steuerverfahren über strafrechtliche Inhalte. 474 Denn nach § 71 AO haftet der Steuerhinterzieher für die hinterzogene Steuer gegenüber dem Fiskus. Bei Erlaß des Haftungsbescheides entscheidet die Finanzbehörde über das Vorliegen einer Steuerhinterziehung. Zu Recht werden verfassungsrechtliche Bedenken erhoben, inwieweit die Exekutive überhaupt befugt ist, über strafrechtliche Fragen des Vorliegens einer Steuerhinterziehung zu entscheiden. Aus einer Zusammenschau der Art. 92 Abs. 1 und 101 Abs. 1 S. 2 GG 469 Schmitz, Stephan, a. a. O. (Fn. 466), UR 1984, 203,204. 470 Problematisch ist außerdem, ob eine Bestrafung einer Steuerhinterziehung entfällt, soweit ein Anspruch auf Erlaß der hinterzogenen Steuer gemäß § 227 AO besteht. Nach Ansicht der Finanzverwaltung in UStR 190 Abs. 3 liegt eine Ermessensreduktion auf Null beim Anspruch auf pflichtgemäßes Ermessen über den Erlaß einer Steuer vor, soweit ein Fall des § 14 Abs. 3 UStG gegeben ist, der Steuerausweis jedoch analog § 17 UStG berichtigt wurde und die Steuer an das Finanzamt ordnungsgemäß abgeführt wurde. Dahinter steckt das grundsätzliche Problem, ob eine Bestrafung verfassungsgemäß ist, soweit die Steuer zwar entstanden, der Steuerpflichtige aber einen Anspruch auf Erlaß derselben hat. Gemessen am Gesetzeszweck des § 370 AO, nämlich dem Schutz der Finanzinteressen des Staates kann hier keine Steuerhinterziehung vorliegen, da die Finanzinteressen des Staates nicht berührt sind. Vielmehr könnte der Fiskus seinen Steueranspruch ohnedies nicht durchsetzen. Im Ergebnis scheitert eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung bereits am Merkmal der Geeignetheit der Mittel im Rahmen des Übermaßverbotes. 471 BVerfG Beschl. v. 05. 05. 1992 - 2 BvR 271/92, INF 1992, 431, 431, unter Hinweis auf die Entscheidung des BVerfG v. 07. 01. 1983 - 1 BvR 301/82, UR 1983, 51, 51. 472 BFH Beschl. v. 15. 10. 1998 - V R 38/97, V R 61/97, DStR 1999, 3233 ff. 473 EuGH Urt. v. 19. 09. 2000 - C - 454/98, Schmeink & Cofreth AG & Co KG und Manfred Strobel, HFR 2000, 914, Egrd. 59. 474 Die gleiche Problematik stellt sich bei einer Entscheidung über Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 1 AO.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
folgt, daß die Entscheidung der Exekutive über ein strafbares Verhalten verfassungsrechtlich problematisch ist, wenn man auch nicht so weit gehen sollte, hierin eine Entziehung des gesetzlichen Richters zu sehen.475
c) Stellungnahme Eine Antwort auf die Frage der Analogiefähigkeit des Steuerrechts muß auf verfassungsrechtlicher Ebene gesucht werden. Eine Ableitung aus Normen des einfachen Rechts, etwa aus § 11 Abs. 4 FGO kann im Hinblick auf die Normenhierarchie nicht durchgreifen. 476 Eine einwandfreie Vorgehensweise in dieser Problematik erfordert es zunächst festzustellen, daß eine Gesetzeslücke vorliegt. Diese Gesetzeslücke muß planwidrig sein. Ein Gesetzeslücke ist dann zu bejahen, wenn die Gesetzesauslegung an ihre Grenze, nämlich den Wortsinn stößt. Solange sich die Rechtsanwendung innerhalb dieser Grenzen bewegt, kann sie sich auf die Autorität des Parlaments berufen. 477 Ob ein Sachverhalt, der nicht unter den Wortsinn zu subsumieren ist, analogiefähig ist, richtet sich letztlich nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers: Wollte er bewußt bestimmte Fragen ausklammern, so kann es sich nicht um eine planwidrige Lücke handeln. Erst nach diesem ersten Schritt ist die zweite Frage zu beantworten, ob die vorliegende planwidrige Gesetzeslücke mit einem Analogieschluß zu schließen ist. Allgemein keine Bedenken bestehen gegenüber einem Analogieschluß zugunsten des Steuerpflichtigen. Der Streit entfacht sich dagegen bei steuerverschärfender Analogie. Ein Sonderproblem dürfte dabei der Fall des bereits angesprochenen zweischneidigen478 Analogieschlusses sein, der dadurch gekennzeichnet ist, daß sowohl steuerverschärfende wie auch steuererleichternde Rechtsfolgen für den Steuerpflichtigen damit verbunden sind. Vorab bedarf der keineswegs einheitlich gebrauchte Begriff der Analogie der Klärung. Insbesondere sollte er von anderen Instrumenten der Lückenausfüllung 475 So mit überzeugenden Argumenten Büß, Heiner, Die Haftung des Steuerhinterziehers nach §71 AO, S. 112. 47 6 So aber Weber-Grellet, Heinrich, Tendenzen der BFH-Rechtsprechung, StuW 1993, 195, 200. § 11 Abs. 4 FGO besagt, daß dem Großen Senat bei grundsätzlicher Bedeutung einer Sache die Entscheidung zur „Fortbildung des Rechts" vorgelegt werden könne. Diese Fortbildung des Rechts muß sich nicht zwingend auf Eingriffsnormen beziehen, sondern kann auch Fortbildung von Verfahrensnormen sein. Dann ist schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung keine Ermächtigung zu Rechtsfortbildung zu entnehmen. 477
Völker, Gerhard, Ausfüllen von Gesetzeslücken im Steuerrecht, DStZ 1989, 235, 236. Der Begriff geht auf Beisse, Heinrich, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, StuW 1981, 1, 9, zurück. 478
16*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
abgegrenzt werden. Der Terminus ist abzusetzen von der teleologischen Reduktion, der teleologischen Extension und der teleologischen Induktion. Von diesem Verständnis ausgehend entpuppt sich der Streit um die Zulässigkeit der steuerverschärfenden Analogie als eine Kollision der Gesetzesbindung und der Rechtssicherheit des Art. 20 Abs. 3 GG und den grundrechtlichen Verbürgungen des Art. 2 Abs. 1 und 14 GG einerseits und dem der Analogie innewohnenden Gleichheitssatz, der Rechtsanwendung auf ähnliche Fälle, letztlich dem Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung als Argument für eine Analogiebildung findet eine Stütze in der Formel „Gesetz und Recht", an die der Richter nach Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist. Daher wird nicht zu Unrecht die Auffassung vertreten, es handele sich um eine einschränkende Konkretisierung des Kernbereiches der Gesetzgebung gegenüber der Rechtsprechung 4 7 9 Eine verfassungsrechtlich gesicherte Lösung wird eine praktische Konkordanz der einander gegenüberstehenden Verfassungsgüter zu suchen haben. Geht man davon aus, daß im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände, die das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung überwiegen lassen, eine Analogie auch im Steuerrecht nicht vollkommen ausgeschlossen erscheint, so stellt sich in einem zweiten Schritt für das Steuerstrafrecht das Problem der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG. Da die Eingriffsintensität einer Bestrafung wesentlich höher liegt als die einer Besteuerung, wird Art. 103 Abs. 2 GG das Interesse an der Gleichmäßigkeit der Besteuerung überwiegen. Als Konsequenz ergibt sich eine Normspaltung. Es verbleibt demnach nur die Möglichkeit, für Zwecke des Steuerstrafrechts Analogieschlüsse des materiellen Steuerrechts auszuklammern. 480 Solange die Steuerrechtswissenschaft noch einhellig davon ausging, daß Analogieschlüsse unzulässig seien, hatte sich dieses Problem nicht gestellt. 481 Die Trendwende im Steuerrecht wurde jedoch im Steuerstrafrecht von vielen Autoren übersehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn so an durch die Rechtsprechung überholten Vorstellungen festgehalten wird. Der durch § 370 AO geschützte Kernbereich umfaßt somit nur intra legem gewonnene Steueransprüche. 482 Der bisweilen erhobene Vorwurf, die hier vertretene Lösung sei praktisch nicht durchführbar, 483 kann kaum überzeugen. Schließlich sah sich die frühere Steuer479
Hess, Dieter, Analogieverbot und Steuerrecht, S. 152. Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht, S. 134. 481 Hiervon ging noch Jessen, Uwe, Probleme des Steuerstrafrechts, FR 1983, 161, 161, aus. Crezelius, Georg, Tendenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, BB 1377, 1380, wies frühzeitig auf die Problematik hin. Er hält eine Normspaltung zwar für dogmatisch widerspruchsfrei, jedoch nicht für praktikabel. Deshalb müsse die Analogie im Steuerrecht an Art. 103 Abs. 2 GG gemessen werden. Sie sei hier erheblichen Bedenken ausgesetzt. 482 Dorn, Harald, Steuerhinterziehung und Steuerrecht, wistra 1992, 241, 246 f. 480
483
Jessen, Uwe, Probleme des Steuerstrafrechts, FR 1983, 161, 161.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
rechtsprechung ohne weiteres in der Lage, Steuergesetze innerhalb der Grenze des Wortlautes auszulegen. Die Gegenauffassung, die an dieser Stelle den objektiven Tatbestand bejaht, wird im Bereich des subjektiven Tatbestandes die Frage stellen müssen, ob der Steuerpflichtige den ethischen Unrechtsgehalt seiner Abweichung von der ausfüllenden Steuernorm erkannt hat, er somit ein Unrechtsbewußtsein besaß.484 Das Auseinanderfallen von Steuerrecht und Steuerstrafrecht ist, wie Dannecker betont, 485 eine im Wirtschaftsstrafrecht nicht ungewöhnliche Erscheinung. Sie folgt aus den erhöhten rechtsstaatlichen Anforderungen, welche eine weitestgehend eigenständige Auslegung von in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Regelungen erfordert. Aus Art. 103 Abs. 2 GG ergibt sich eine restriktive Auslegung, insbesondere auch hinsichtlich unbestimmter Rechtsbegriffe.
I I I . Die wirtschaftliche Betrachtungsweise und das verfassungsrechtliche Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast 1. Begriff und Inhalt
Auf Kirchhof geht das Postulat der Unausweichlichkeit der Steuerlast 486 zurück, wonach der Steuerpflichtige die Freiheit besitzt, seine wirtschaftlichen Verhältnisse solange nach Belieben zu gestalten, als er nicht einen Besteuerungstatbestand bezüglich „Konsum" oder „Einkommen" erfüllt und an diesen nunmehr unveränderbaren Tatbestand festgehalten werden muß. Hierin liegt ein Gebot des Gleichheitssatzes, der die Belastungsgleichheit nach den die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmenden wirtschaftlichen Tatbeständen herstellt und nicht auf das Vermögen des Einzelnen abstellt, Steuervermeidung zu betreiben. Die im folgenden zu betrachtende wirtschaftliche Betrachtungsweise ist als eine Konkretisierung dieses Postulats zu verstehen. Die Abgabenordnung 1977 enthält keine explizite Aussage über die Gültigkeit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht. Demgegenüber war noch im Steueranpassungsgesetz in § 1 Abs. 2 und 3 eine ausdrückliche Regelung enthalten. § 1 StAnpG ist eine Vorschrift, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erlassen wurde. 487 Nach ihrem ursprünglichen Inhalt waren die Steuergesetze 484
Vogel, Horst, Wertungsdivergenzen zwischen Steuerrecht, Zivilrecht und Strafrecht, NJW 1985, 2986, 2987. 485 Dannecker, Gerhard, Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Parteispenden als gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, in: de Boor / Pfeiffer / Schünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, S. 91, 97. 486 Kirchhof Paul, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Steuergesetzgebung, Stbg 1997, 193, 194. 487 Dabei ist freilich Papier, Jürgen, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 201 recht zu geben, der darauf hinweist, daß die völ-
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
nach der nationalsozialistischen Weltanschauung auszulegen und der Sachverhalt dementsprechend zu beurteilen (§ 1 Abs. 1 und 3 StAnpG). Dabei war die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. Die Norm erwies sich unter Einbeziehung der vorherrschenden Ideologie als hinreichend bestimmt. Die Rechtspraxis wurde sehr stark durch die Vorgaben des Staatssekretärs im Reichsfinanzministerium, Fritz Reinhardt, geprägt, die in der Literatur als unumstößlich kundgetan wurden. Der Wortlaut des Gesetzes sollte dabei keineswegs mehr maßgeblich sein, weil der elementare Leitsatz für alle Steuergesetze und Bestimmungen über das Steuerstrafverfahren in § 1 StAnpG bestünde.488 Später wurde diese nationalsozialistische Betrachtungsweise auf alle Rechtsgebiete ausgeweitet.489 Trotzdem waren diese steuerlichen Vorschriften selbst für das nationalsozialistische Recht einmalig 4 9 0 Dieser geschichtliche Hintergrund lehrt, daß allgemeinen Auslegungsklauseln ein gesundes Mißtrauen entgegengebracht werden sollte. 491 Vorgänger des Steueranpassungsgesetzes war § 4 RAO 1919, der jedoch kaum praktische Bedeutung erlangte. Enno Becker sah in dieser Vorschrift einen Sieg Iherings über die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Mit Überwindung der Begriffsjurisprudenz lief die Vorschrift jedoch leer. 492 Wenn die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch heute in der AO 1977 nicht mehr gesetzlich explizit normiert ist, so soll sie dennoch auch nach deren Inkrafttreten Anwendung finden. 493 Sie wurde nur deshalb nicht ausdrücklich in der Abgabenordnung erwähnt, weil man die Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auf dem Boden der Wertungsjurisprudenz im Steuerrecht für ohnehin selbstverständlich hielt. Lediglich einzelne Teilaspekte der wirtschaftlichen Betrachtungsweise wurden trotzdem gesetzlich niedergelegt, dies gilt insbesondere für § 39 AO („wirtschaftliches Eigentum", Treuhand), § 40 AO (Scheingeschäfte), §41 AO (sittenwidrige Geschäfte) und § 42 AO (Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten).
lige Auflösung der Tatbestandsmäßigkeit durch nationalsozialistische Rechtstheoretiker erst nach Inkrafttreten der Bestimmung eintrat. 488 Stolz, Einführung in das Steuerstrafverfahren, DStZ 1940, 552, 559. 489
Hierzu der beachtenswerte Aufsatz von Felix, Günther, Der Reichsfinanzhof im „Dritten Reich", die jüdischen Deutschen und die unbegrenzte Auslegung, BB 1993, 1297, 1302. 490 Felix, Günther, Scheinlegalität und Rechtsbeugung - Finanzverwaltung, Steuergerichtsbarkeit und Judenverfolgung im „Dritten Reich", SteuerStud 1995, 197, 200 f. 491 Schick, Walter, Steuervermeidung - Steuerumgehung - Steuerhinterziehung, WiSt 1976, 325, 325 f., warnt im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus vor einer allzu großzügigen Handhabung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Hinblick auf die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung. 492 Lang, Joachim, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 5, Rn. 49. 493
120.
Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117,
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
7
Eine Übertragung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in das Strafrecht erweist sich als höchst problematisch. Schon allgemein zur Umgehungsinkrimination wurde in der Wissenschaft kritisiert, daß sie zu einer bedenklichen Entwicklung geführt habe, da sie methodisch als Analogie einzustufen sei und zu einem Typenzwang im Zivilrecht führe. 494
2. Die Anerkennung durch das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht hat die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht grundsätzlich anerkannt. 495 Sie ist jedoch nur zulässig, soweit ein Begriff kraft seiner Natur einer wirtschaftlichen Betrachtung bedarf. 496 Das Bundesverfassungsgericht hat Umfang und Grenzen der sogenannten wirtschaftlichen Betrachtungsweise in seiner Leitentscheidung über die steuerliche Behandlung der Betriebsaufspaltung 497 anerkannt, welche auf die Schaffung eines neuen Gewerbesteuertatbestandes hinausläuft. 498 Danach sei es zulässig, zur Bestimmung und Abgrenzung von spezifisch steuerlichen Begriffen, anders als bei Begriffen des bürgerlichen Rechts wirtschaftliche Gesichtspunkte heranzuziehen. Die tragende Aussage des Urteils liegt darin, daß Steuergesetze, die die Steuerpflicht an bestimmte wirtschaftliche Lebenssachverhalte anknüpfen, unter Berücksichtigung der Vielfalt wirtschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten ausgelegt werden können. So hatte das Gericht schon früher die wirtschaftliche Betrachtungsweise zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen. 499 Im Ergebnis 494
Tiedemann, Klaus, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 58 ff. *5 Beschl. v. 15. 07. 1969 - 1 BvR 457/66 , BVerfGE 26, 327, 335.
4
49
* Beschl. v. 20.03. 1963 - 1 BvL 20/61, BVerfGE 15, 328, 333. Beschl. v. 14. 01. 1969 - 1 BvR 136/62, BVerfGE 25, 28, 35. Der Entscheidung liegt die Gestaltung zugrunde, wonach ein einheitliches Unternehmen in ein Besitzuntemehmen und ein Betriebsunternehmen aufgeteilt wird. Hierzu werden die Anlagegüter auf das BesitzUnternehmen in der Rechtsform einer Personengesellschaft übertragen, gleichzeitig aber ein Pachtvertrag geschlossen, der es dem zurückbleibenden Betriebsunternehmen ermöglicht, diese Wirtschaftsgüter weiter zu nutzen. Bei einer rein formalen Betrachtungsweise würden die hieraus fließenden Einkünfte als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i. S. v. § 21 Abs. 1 EStG anzusehen sein, die nicht der Gewerbesteuer unterliegen. Der Senat folgt jedoch der Ansicht des BFH, der in ständiger Rechtsprechung eine Betriebsaufspaltung dann annimmt, wenn zwischen beiden Unternehmen eine personelle und sachliche Verflechtung gegeben ist (BFH Urt. v. 07. 11. 1985 - IV R 65/83, BStBl I I 1986, 364, 365). Eine interessante Entwicklung erscheint es, daß nunmehr das Zivilrecht sich dieser Sichtweise anzunähern scheint. Der BGH hat in seinen vier sogenannten Lagergrundstück-Urteilen eine vergleichbare Entwicklung vollzogen, die an den Begriff des Eigenkapitalersatzes anknüpft. Danach ist es der Gestaltung verwehrt, die Haftung zu begrenzen, indem einseitig das Risiko auf eine in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft geführte Betriebsgesellschaft verlagert wird. Finden nämlich eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassungen statt, so sind diese auch in der Insolvenz weiter zu gewähren. 498 Krit. hierzu Papier, Hans-Jürgen, Der Bestimmtheitsgrundsatz, DStJG Bd. 12, S. 61, 62. 497
8
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
sieht der Senat in den zugrundeliegenden wirtschaftlichen Gegebenheiten ein hinreichendes sachliches Differenzierungskriterium, so daß ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ausscheiden muß. Er begründet dies mit den bei einer Betriebsaufspaltung vorliegenden gleichgerichteten Interessen, dem einheitlichen Betätigungswillen, der zwischen den hinter Betriebs- und Besitzgesellschaft stehenden Personen besteht. Hierin liege der entscheidende Unterschied zur Vermietung oder Verpachtung an ein fremdes Unternehmen. Diese Aussagen werden in späteren Entscheidungen fortgeführt. Das Bundesverfassungsgericht stellt schließlich klar, daß der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung und der Vorhersehbarkeit es notwendig machen, steuerliche Begriffe nach ihrem bürgerlichen Gehalt auszule500
gen. υ Die Entscheidung muß im Kontext der vorhergehenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts gesehen werden. Das Gericht hat nämlich an anderer Stelle 501 zum Ausdruck gebracht, daß eine steuerrechtliche Regelung, die an die zivilrechtliche Ordnung anknüpft, sich hieran durchgehend zu halten hat. Dies erfordere nicht nur die Klarheit und Einheit, sondern vor allem die innere Autorität der Rechtsordnung. Danach sei es jedenfalls dann nicht zulässig, eine von dem Steuergesetz selbst aufgestellte Sachgesetzlichkeit aufzugeben, wenn die zugrundegelegte zivilrechtliche Ordnung an einer Stelle durchbrochen wird, die ihre eigentliche Bedeutung darstellt. Wird etwa an die zivilrechtliche Rechtsform der Kapitalgesellschaft angeknüpft, so kann die Bedeutung dieser Rechtsfigur nur in engstem Rahmen und nicht ohne dringlichsten Grund geschmälert werden. Die Rechtfertigung eines Eingriffes in eine solche Grundform unserer Rechtsordnung bedarf des gleichen Gewichts wie die Intensität der Abweichung von diesem Grundprinzip. 502 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise erlaube es daher grundsätzlich nicht, sich über zivilrechtliche Formen hinwegzusetzen. Sie gestatte es aber, steuerliche Begriffe nach dem steuerrechtlichen Bedeutungszusammenhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt des jeweiligen Einzelgesetzes zu interpretieren. Es bestehe weder eine Vermutung für ein übereinstimmendes noch für ein abweichendes Verständnis. 503 Ein Vorrang des Zivilrechts gegenüber dem Steuerrecht besteht deshalb nicht, weil beide Rechtsgebiete nebengeordnet und gleichrangig seien und denselben Sachverhalt unter einem anderen Blickwinkel und nach anderen Wertungsgesichtspunkten beurteilen. Es liege eine Relativität der Rechtsbegriffe vor. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise rechtfertige nicht eine außerrechtliche wirtschaftliche Beurteilung rechtlicher Sachverhaltsgestaltungen im Steuerrecht, 499 Beschl. v. 10. 10. 1961 - 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153, 161. 500 Beschl. v. 18. 03. 1969 - 2 BvF 1 /66, BVerfGE 25, 308, 313. soi 502 63, 1 503
Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331, 340 f. Weniger einschränkend dagegen Beschl. v. 11. 11. 1964 - 1 BvR 488/62, 1 BvR 562/ BvR 216/64, BVerfGE 18, 224,235. BVerfG Beschl. v. 27. 12. 1991 - 2 BvR 72/90, BStBl II 1992, 212, 214.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
sondern fordere die an den spezifischen Regelungszielen einer steuerrechtlichen Norm und deren eigengesetzlicher Terminologie 504 auszurichtende steuerrechtliche Beurteilung, ob der bewirkte wirtschaftliche Erfolg einen steuerlichen Tatbestand erfüllt. 505 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise habe aber ihren Platz dort, wo ein Steuergesetz zwar bestimmte Sachverhalte nennt, dabei aber nicht deren spezielle rechtstechnische Einkleidung, sondern ihre rechtliche Wirkung meint. Sie dürfe jedoch nicht dazu führen, die rechtliche Methode durch außerrechtliche Gesichtspunkte und Begriffe aufzulösen. Von ihrer Natur her versteht das Bundesverfassungsgericht die wirtschaftliche Betrachtungsweise als eine Form der Auslegung, die dazu befähigt, selbst unbestimmte Begriffe wie „Dauerschuldzinsen" zu konkretisieren. 506
3. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise findet sich bereits in den Entscheidungen des Reichsfinanzhofes, der keine Bedenken hatte, unter Zuhilfenahme dieses Instruments auch über den klaren Wortlaut hinaus Steuertatbestände auszugestal.
507
ten. Auch der Bundesfinanzhof hat schon in seinen frühen Entscheidungen die wirtschaftliche Betrachtungsweise herangezogen. Die Anwendung war jedoch in den einzelnen Steuerarten unterschiedlich. Verbrauchssteuergesetze, welche an wirtschaftliche Vorgänge anknüpfen, seien am richtigsten nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Deshalb könne darauf abgestellt werden, wem der wirtschaftliche Erfolg zukomme. 508 Im Erbschaftssteuerrecht war nach der Rechtsprechung des BFH die wirtschaftliche Betrachtungsweise dagegen ausgeschlossen. Das Erbschaftssteuerrecht ist auf dem Erbrecht des BGB aufgebaut. Infolgedessen könne sich nur eine rechtliche Beurteilung der Erbschaftssteuer ergeben. 509 Die Ersatzbeschaffung eines Wirtschaftsgutes sei ein wirtschaftlicher Vorgang, deshalb müsse ertragssteuerlich bei Beurteilung der Identität des Unternehmens bei Aufspaltung in Grundstücksgesellschaft und Betriebs-GmbH die wirtschaftliche Betrachtungsweise einbezogen werden. 510 Die wirtschaftliche Betrachtung soll dann berücksichtigt werden, wenn das wirtschaftliche Ergebnis einer formal504 Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvR 232/60, BVerfGE 13, 318, 329. 505 BVerfG Beschl. a. a. O. (Fn. 503), BStBl I I 1992, 212, 214. 506 Beschl. v. 13. 05. 1969 - 1 BvR 25/65, BVerfGE 26, 1, 10. 507 RFH Urt. v. 04. 06. 1930 - V I A 852/28, JW 1930, 3570, 3572; Urt. v. 24. 02. 1925 I A 96/24, RFHE 16, 64, 65; RFH Urt. v. 05. 06. 1925 - 1 Β 20/25, JW 1926, 1695, 1696. 508 BFH Urt. v. 26. 02. 1953 - V ζ 60/52 U, BStBl III 1953, 150, 150 f. 509 BFH Urt. v. 30. 06. 1960 - II 254/57 U, BStBl III 1960, 348, 348 f. 510 BFH Urt. v. 26. 08. 1952 - 1 38/52 U, BStBl III 1952, 261, 261 f.
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
rechtlichen Betrachtung untragbar erscheint, weil es wirtschaftlich unvernünftig ist und vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann. 511 Schließlich konkretisiert das Gericht seine Aussagen und führt aus, daß für die steuerliche Beurteilung nicht ohne weiteres die von den Beteiligten gewählte bürgerlich-rechtliche Form maßgebend ist, sondern das, was sich bei wirtschaftlicher Betrachtung als der wirkliche Gehalt der getroffenen Vereinbarungen ergibt. Ob die Beteiligten dabei bewußt zum Zwecke der Steuerumgehung mißbräuchlich eine Gestaltung gewählt haben, braucht hier nicht festgestellt werden. 512 Es kommt auf das tatsächliche Ergebnis an, nicht hingegen ob eine ausdrückliche vertragliche Regelung getroffen wurde. 5 1 3 In einer späteren Entscheidung führt das Gericht jedoch aus, daß ein eindeutiger Kaufvertrag nicht aufgrund „wirtschaftlicher Betrachtungsweise" bilanzrechtlich zu einem Kreditgeschäft umqualifiziert werden könne. 514 In einzelnen Entscheidungen zum Einkommenssteuerrecht wird jedoch unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine Sichtweise verstanden, die wirtschaftliche Vorgänge nach Sinn und Zweck des Gesetzes auslegt. So wird in einem Fall festgestellt, daß bei einem Eintritt eines neuen Gesellschafters in ein Einzelunternehmen dieses „bei wirtschaftlicher Betrachtung" als das gleiche Unternehmen lediglich in anderer Rechtsform anzusehen sei und deswegen kein neues Wirtschaftsjahr beginnen könne. 515 Ebenso wird entschieden, ob die Eigenkapitalvermittlungsprovision im Bauherrenmodell bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise nach ihrer Zweckbestimmung zu den Anschaffungskosten gehört. 516 Im Gewerbesteuerrecht zeigt die Entscheidung des BFH zum Begriff der Dauerschulden,517 daß die Rechtsprechung in diesem Rechtsgebiet von einer Prägung durch die wirtschaftliche Betrachtungsweise ausgeht. Im entschiedenen Fall wurde die Unerheblichkeit des Zivilrechts festgestellt. Für die Auslegung des Merkmals „nicht nur vorübergehende Verstärkung des Betriebskapitals" wurde gefordert, daß die zivilrechtliche Selbständigkeit mehrerer, mit dem selben Kreditgeber geschlossener Kredite hinter den maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnissen zurückzutreten habe.
su BFH Urt. v. 03. 12. 1953 - IV 241 /52 U, BStBl III 1954, 72, 72 ff. 512 BFH Urt. v. 01. 02. 1957 - V I 78/55 U, BStBl III 1957, 103, 104; in diese Richtung geht auch BFH Urt. v. 09. 10. 1969 - IV 294/64, BStBl Π 1970, 320, 320, zur Abgrenzung von Mitunternehmerschaft und Arbeitnehmer, BFH Urt. v. 26. 01. 1970 - IV R 144/66, BStBl I I 1970, 264, 268 f., zur Abgrenzung von Leasingverträgen; BFH Urt. v. 12. 12. 1996 - IV R 77/93, BStBl I I 1998, 180, 182, zur Beurteilung der Entgeltlichkeit des Ausscheidens von Kommanditisten. Maßgeblich für die Zulässigkeit einer Umqualifizierung soll das „Gesamtbild" sein, vgl. BFH Urt. v. 17. 01. 1975 - ΙΠ R 114/73, BStBl I I 1975,402,402 ff. 513 Urt. v. 23. 10. 1985 - V I I R 142/81, BFH/NV 1986, 381, 381 ff. 514 BFH Urt. v. 24. 07. 1996 - 1 R 94/95, BStBl I I 1997, 122, 123. 515 BFH Urt. v. 03. 08. 1967 - IV 236/64, BStBl III 1967,753,754. 516 BFH Urt. v. 24. 02. 1987 - IX R 114/82, BStBl I I 1987, 810, 812 f. 517 BFH Urt. v. 03. 07. 1997 - IV R 2/97, BStBl I I 1997, 742, 743 f.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Keine Bedenken bestehen gegenüber einer Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Vermögenssteuerrecht. So hat der BFH in einem Urteil entschieden,518 daß eine rechtlich wirksam begründete Schuld nur dann vermögensmindernd zu berücksichtigen ist, wenn der Schuldner mit der Geltendmachung am Stichtag bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise ernsthaft rechnen muß. Darüber hinaus wird die wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Judikatur des BFH auf umsatzsteuerliche Vorgänge erstreckt. Auch hier ist nicht auf die formalrechtlichen Rechtsbeziehungen abzustellen, sondern auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise. 519
4. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat bezogen auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung bislang kaum außerhalb des gesondert zu behandelnden § 42 AO die Anwendung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Steuerrechts als Verweisungsnorm der Steuerhinterziehung problematisiert. Hinsichtlich anderer Delikte, etwa der Begünstigung einer Steuerhinterziehung nach § 257 StGB hatte das Gericht keine Bedenken, eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise" zu bejahen. 520 Neben § 42 AO ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch in § 40 AO gesetzlich vertypt. Diese Bestimmung besagt, daß es für die Besteuerung unerheblich ist, ob ein Verhalten, das den Tatbestand eines Steuergesetzes ganz oder zum Teil erfüllt, gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt. Die Vorschrift gibt dem Steuerrecht damit die Möglichkeit, vom Zivilrecht abzuweichen. Der BGH hatte sich mit § 40 AO in einer Entscheidung521 zu befassen und äußerte grundsätzlich keine Bedenken, die Vorschrift im Steuerstrafrecht anzuwenden. Das Gericht legte aber dar, daß dies nicht dazu führen könne, die allgemeinen Voraussetzungen für die Besteuerung einer Tätigkeit außer Acht zu lassen, oder daß eine Tätigkeit - unabhängig von ihrer Art und ohne Berücksichtigung der in § 2 EStG enthaltenen Begriffsbestimmungen steuerlich bewertet werde. 522 Schließlich wird die in § 40 AO teilweise positivierte wirtschaftliche Betrachtungsweise im Urteil
518 Urt. v. 05. 03. 1997 - H R 24/94, BFH/NV 1997, 820, 820. 519 BFH Urt. v. 22. 04. 1988 - III R 54/83, BStBl I I 1988, 901, 901. 520 BGH Urt. v. 26. 10. 1998 - 5 StR 746/97, wistra 1999, 103, 105, zur Unmittelbarkeit des Vorteils aus der rechtswidrigen Vortat. 521 BGH Urt. v. 20. 05. 1981 - 2 StR 784/80, NJW 1981, 2071, 2072. Siehe auch BGH Beschl. v. 18. 07. 1980-2 StR 348/80, NJW 1980, 2591,2591. 522 In der Literatur hatten diese Entscheidungen harsche Kritik erfahren, da der BGH elementare Grundkenntnisse des Steuerrechts vermissen ließ, vgl. zum Streitstand Wisser, Michael, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO und die Bindung des Strafrichters, S. 26.
252
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
v. 31. 05. 1994 523 ohne Bedenken zum Gegenstand einer Steuerhinterziehung gemacht. Auch in § 41 Abs. 1 AO sieht der BGH 524 den Ausdruck einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Steuerrechts, die er ohne weitere Erörterung des Art. 103 Abs. 2 GG im Falle einer Umsatzsteuerhinterziehung zur Anwendung bringt. Nach § 41 Abs. 1 AO bleibt die Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäftes für die Besteuerung außer Betracht, solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis dieses Rechtsgeschäftes trotzdem bestehen lassen. Der BGH wendet auch in Steuerstrafsachen eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise" auf den strafrechtlichen Teil der Norm an. So ist eine strafbefreiende Selbstanzeige nur möglich, wenn der durch die Steuerhinterziehung „Begünstigte" sie erklärt und den verkürzten Steuerbetrag nachzahlt. Der BGH bestimmt die Person des „Begünstigten" unter Anwendung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Der Senat hält eine Angestellte zur Nachzahlung verpflichtet, die im Namen des Unternehmens unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben und die hierdurch erlangten verkürzten Steuern der Kasse des Unternehmens entnommen und damit veruntreut hat. Der BGH hält in diesem Falle die Angestellte für begünstigt, 525 weil sie bei wirtschaftlicher Betrachtung den unmittelbaren Vorteil aus der Tat erlangt hat.
5. Die Auffassungen in der Lehre
Uber die wirtschaftliche Betrachtungsweise herrscht in der Literatur ein Meinungsstreit. Auch die Wirtschaftswissenschaften nehmen zu Inhalt und Grenzen Stellung. Wenigstens vom Grundsatz her ist anerkannt, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht in allen Steuerrechtsgebieten gleichermaßen Geltung beanspruchen kann. 526 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise wird einerseits verstanden als Auslegungsgrundsatz und zum anderen als ein Wertungsprinzip. 527 Hintergrund einer Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise soll jedoch stets die Sicherung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sein. 528 Stüdemann versteht unter der wirtschaftlichen Betrachtungsweise allein den Umstand, daß sich das Gesetz mit wirtschaftlichen Vorgängen beschäftigt und da523 BGH Urt. v. 31. 05. 1994 - 5 StR 557/93, HFR 1995, 273, 274. 524 BGH Urt. v. 07. 11. 1996 - 5 StR 294/96, HFR 1997, 610,611. 525 Urt. v. 04. 07. 1979 - 3 StR 130/79, BGHSt 29, 37, 41; zustimmend Bilsdorfer, Peter, Aktuelle Tendenzen des Steuerstrafrechts, DStZ 1985, 184, 188. 526 Worms, Gunnar, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und die Gesellschaftssteuer, S. 30 f. 527 Haubrichs, Wilhelm, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht, S. 9 f. 528 Für die finanzwissenschaftliche Sichtweise: Hirschmann, Walter, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Besteuerung des Umsatzes, S. 28.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
253
mit in Beziehung zur wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung gesehen wird. 5 2 9 Reduziert man die wirtschaftliche Betrachtungsweise allein auf diesen Aspekt, so ist es jedoch nicht einzusehen, wie Groh zutreffend bemerkt, warum es nicht auch eine „technische Betrachtung gibt, wenn sich das Gesetz mit technischen Dingen befaßt, eine musikalische Betrachtungsweise, wenn das Gesetz Fragen des Urheberrechts berührt". 530 Im Ergebnis würde die wirtschaftliche Betrachtungsweise damit zur Floskel, die die Anwendung althergebrachter Rechtssätze auf wirtschaftlich unklare Lebenssachverhalte bedeuten würde. Eine so verstandene wirtschaftliche Betrachtungsweise könnte im Steuerstrafrecht außer acht gelassen werden. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist jedoch keine wirtschaftliche Betrachtung im eigentlichen Sinne, da sie sehr wohl rechtlich determiniert ist und nicht mit vorrechtlichem, gefühlsmäßigem Denken verwechselt werden darf. 531 Indes ist die Problematik mit dieser vielleicht zu einfachen Verkürzung nicht hinreichend erfaßt. Das gilt auch für die nicht überraschende Erkenntnis, daß viele Bewertungsfragen, etwa im Schadensersatzrecht beim entgangenen Gewinn oder bei der Bemessung des Abfindungsguthabens eines ausscheidenden Gesellschafters im Gesellschaftsrecht durch ökonomische Verfahren wie dem Ertrags- und Substanzwertverfahren des Rückgriffs auf Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre bedürfen. Sie haben hier nach Groh 532 den Charakter von Sachverständigengutachten, so beispielsweise die Fachgutachten des Instituts der Wirtschaftsprüfer. Ebenso sind die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung im Bilanzrecht durch betriebswirtschaftliche Prinzipien bestimmt. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise des Steuerrechts sei jedoch etwas gänzlich anderes und es muß gefragt werden, ob diese Sichtweise in das Steuerstrafrecht übernommen werden kann. Von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre 533 wird die Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise als interdisziplinärer Forschungsgegenstand hervorgehoben. Sie sei danach eine Spielart teleologischer Auslegung, damit rechtlicher Natur, müsse jedoch mit den Erkenntnissen der betriebswirtschaftlichen Theorie verknüpft werden. Dabei müsse der Forschungsbeitrag der Betriebswirtschaftslehre jeweils eine Stufe vor dem jeweils geltenden Recht beginnen.
529
Stüdemann, Klaus, Über das Wirtschaftliche der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, FR 1984, 545, 554 f. 530 Groh, Manfred, Die wirtschaftliche Betätigung im rechtlichen Sinne, StuW 1989, 227, 227 f. 531 Fischer, Peter, „Wirtschaftliche Betrachtungsweise" als gesetzliches Tatbestandsmerkmal der Grunderwerbsteuer, DStR 1997, 1745, 1746. 532 Groh, Manfred, a. a. O. (Fn. 530), StuW 1989, 227, 228 f. Groh weist zutreffend darauf hin, daß im Recht der Technik häufig auf die „allgemein anerkannten Regeln der Technik" Bezug genommen wird. Diese haben jedoch nicht die Qualität von Rechtsregeln, sondern den Charakter eines „antizipierten Sachverständigengutachtens". 533 So auch Böcking, Hans-Joachim, Betriebswirtschaftslehre und wirtschaftliche Betrachtungsweise im Bilanzrecht, FS f. Heinrich Beisse, S. 85, 86 f.
254
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Weber dagegen hält die wirtschaftliche Betrachtungsweise gerade nicht für die Auflösung des Prinzips der Bestimmtheit der steuerlichen Tatbestände.534 Nur nach dieser Maßgabe habe das Bundesverfassungsgericht die wirtschaftliche Betrachtungsweise als legitim anerkannt. Sie habe dort ihren Platz, wo das Steuergesetz bestimmte rechtlich definierte Sachverhalte nenne, sich dabei aber nicht auf deren rechtliche Einkleidung beziehe, sondern auf deren wirtschaftliche Wirkung. Vogel meint, daß es bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in Wahrheit darum gehe, die Steuergesetze gestaltungsneutral auszulegen.535 Andere Ansätze hätten dagegen nie ganz klar machen können, warum Gesetze „wirtschaftlich" auszulegen wären. So sei die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" fälschlich zu einer Auslegung „in dubio pro fisco " degeneriert. Fischer 536 betont, daß es nicht die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" schlechthin gebe, sondern es gebe sehr viele gleichberechtigte Standpunkte wirtschaftlicher Betrachtungsweisen, unter denen nach den Maßstäben der jeweiligen Norm die jeweils richtige auszuwählen sei. Es bedürfe also konkreter tatbestandlicher Vorgaben. Das Wesen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise liegt nach Fischer daher in einer Vorzugsregel, ähnlich der verfassungskonformen oder richtlinienkonformen Auslegung, die beide dort nicht mehr greifen können, wo ein Anwendungsergebnis durch Wortlaut, Sinn und Zweck unter Berücksichtigung des Willens des Gesetzgebers nicht gedeckt ist. Diese Vorzugsregel kommt aber immer dann zum Tragen, wenn eine Norm nach ihrem Wortlaut sowie ihrem Sinn und Zweck verschiedene Auslegungen zuläßt und es darum geht, sich für eine Auslegung zu entscheiden. Eine vermeintliche Antithese zwischen einer wirtschaftlichen und einer rechtlichen Betrachtungsweise verkenne die Natur des Rechts. 537 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise sei demgegenüber weder eine tatbestandliche Generalklausel noch ein unbestimmter Rechtsbegriff. 538 Folgt man dieser Ansicht, so ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise für das Analogieverbot des Steuerstrafrechts ohne Bedeutung. Denn das erzielte Ergebnis wird im Wege der Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortlautes gewonnen. Söjfing fordert, 539 daß bei der Auslegung der im Steuerrecht verwendeten Zivilrechtsbegriffe vom Primat des Zivilrechts nur dann abgewichen werden dürfe, wenn eine solche Abweichung dem erkennbaren Zweck des jeweiligen Rechtssatzes entspreche. Der Steuerpflichtige müsse bei Erforschung des Gesetzeszweckes 534 Weber, Werner, Kritische Bemerkungen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Steuersachen, StbJb 1967 / 68, S. 95, 111. 535 Vogel, Klaus, Perfektionismus im Steuerrecht, StuW 1980, 206, 209. 556 Fischer, Peter, a. a. O. (Fn. 531), DStR 1997,1745, 1746. 537
Dagegen a. A. aber Schneider, Dieter, Bilanzrechtsprechung und wirtschaftliche Betrachtungsweise, BB 1980, S. 1225, 1232. s3« Fischer, Peter, a. a. O. (Fn. 531), DStR 1997, 1745, 1749. 539 Söjfing, Günter, Sinn und Widersinn der wirtschaftlichen StVj 1992,51,56.
Betrachtungsweise,
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
255
in der Lage sein zu erkennen, daß er sich auf den Wortlaut des Gesetzes nicht verlassen dürfe. Nach anderer verbreiteter Ansicht bedeutet die wirtschaftliche Betrachtungsweise, daß steuerliche Begriffe von zivilrechtlichen Beurteilungen unabhängig seien. 540 Einen wirtschaftsrechtlichen „ ordre public wonach Zivil- und Steuerrecht verwoben seien, gebe es nämlich nicht. 5 4 1 Tipke 542 sieht in der wirtschaftlichen Betrachtungsweise jedoch vor allem ein Korrespondenzprinzip zur Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Denn sie diene der gleichmäßigen Erfassung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und damit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Danach sei die wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht als besondere Auslegungsmethode, sondern als eine am Normzweck orientierte teleologische Auslegung zu verstehen. 543 Wer wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erfassen wolle, der dürfe nicht auf die äußere Form, sondern müsse auf das wirtschaftliche Ergebnis abstellen. Lehner* 4* führt diesen Gedanken fort und hält daher eine Korrektur des überkommenen Verständnisses der wirtschaftlichen Betrachtungsweise für erforderlich, da diese in erster Linie als besondere Auslegungsanweisung für zivilrechtliche Begriffe in steuerlichen Tatbeständen konzipiert ist. Tipke 545 weist darauf hin, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise häufig dazu herangezogen wird, unter Hinweis auf die Gleichmäßigkeit der Besteuerung wirtschaftlich gleiche Sachverhalte gleichzubehandeln. Dabei handele es sich dann aber stets um eine Gleichheit gegen den Steuerpflichtigen. 546 Demgegenüber haben Steuerpflichtige mit der Berufung auf den Gleichheitssatz in den seltensten Fällen Erfolg. Einzelne Literaten sehen auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit der Besteuerung eine Verpflichtung zur Rechtsfortbildung mit Hilfe wirtschaftlicher Betrachtungsweise begründet. Der Aspekt der Rechtssicherheit trete dahinter zurück, zumal die Formel „Gesetz und Recht" in Art. 20 Abs. 3 GG aufzeige, daß Gesetz und Recht nicht immer deckungsgleich sein müßten. 547 Dies könne zunächst nur für Fiskalzwecknormen gelten, die allein auf Einnahmenerzielung des 540 Schulze-Osterloh, Joachim, Zivilrecht und Steuerrecht, AcP 190 (1990), 139, 150. 541 So aber Walz, Rainer, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 199 f. 542 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. ΙΠ, S. 1309 ff. 543 Für diese Einordnung auch Worm, Gunnar, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und die Gesellschaftssteuer, S. 29. 544 Lehner, Moris, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, FS f. Klaus Tipke, S. 237, 238 f. 545 Tipke, Klaus, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht - Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, 157, 157. 546 So auch Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981,117, 124. 547 Maerz, Hans, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 48 f.
256
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Staates gerichtet sind, wohingegen Lenkungsnormen die Gleichmäßigkeit häufig hinter wirtschaftspolitischen Zielsetzungen zurückstellen. Lenkungsnormen geht es um die Gestaltung des Wirtschaftslebens und nicht um die Deckung eines Finanzbedarfs des Staates. Birk 54* führt ebenso wie Jachmann 549 aus, daß bei einer Fiskalzwecknorm die teleologische Auslegung im herkömmlichen Sinne scheitern müsse, weil diese nur den Zweck verfolge, dem Staat Einnahmen zu verschaffen. Fiskalzwecknormen sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie keinen Sachverhalt regeln wollen, aus dem sich Sachgesetzlichkeiten zur Rechtsfortbildung ergeben würden. Die Auslegung sei daher statt dessen am Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit zu orientieren. Diese spiegele sich in der wirtschaftlichen Betrachtungsweise wider. Er leitet dies unter Berufung auf Häberle 550 aus dem Umstand ab, daß der Steuergesetzgeber im Grundrechtsbereich nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig tätig wird. 5 5 1 An diesem Ansatz einer Auslegung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit wird kritisiert, 552 daß eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oftmals zu wenig Konturen zeige und deshalb einer gesetzlichen Konkretisierung bedürfe. Die Unbestimmtheit der steuerlichen Leistungsfähigkeit ist wenig geeignet, den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung herzustellen. Ob es hingegen keinen natürlichen Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Besteuerung geben würde, muß bezweifelt werden; schon schwerer wiegt der Einwand, daß es keinen Tatbestand geben kann, der per se der Besteuerung unterliegt. Er geht maßgeblich auf Flume zurück, der der Auffassung entgegentritt, wonach die wirtschaftliche Betrachtungsweise gleichsam einem „Zauberstab" erscheine, mit dem ermöglicht werde, Steuertatbestände um Grenztatbestände zu erweitern. 553 Auch Crezelius kritisiert die Argumentation, daß die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei fehlender Klarheit und Eindeutigkeit des Gesetzeswortlautes eine Ermächtigungsgrundlage sei, gar aufgrund von Billigkeitsempfinden zu entscheiden, denn bis auf numerische seien alle Begriffe mehrdeutig. 554
548 Birk, Dieter, Verfassungskonforme Auslegung im Steuerrecht, StuW 1990, 300, 305. 549 Jachmann, Monika, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und Steuerumgehung, JA 1995,511,511. 550 Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 195 f. Ihm zustimmend: Bleckmann, Albert, Staatsrecht I I - Die Grundrechte, Rn. 19. 551 Birk, Dieter, a. a. O. (Fn. 548), StuW 1990, 300, 302. 552 Klein, Martin, Die nicht „angemessene rechtliche Gestaltung" im Steuerumgehungstatbestand des § 42 AO, S. 33 f. 553 Flume, Werner, Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StbJb 1967 /68, S. 63, 78. 554 Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117,
120.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
257
6. Stellungnahme
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist der Gegensatz zur formalrechtlichen und zivilrechtlichen Sichtweise. Abgestellt wird dabei auf Sinn und Zweck der Steuergesetze. Folgerichtig ist ein Auseinanderfallen von steuerlichen und zivilrechtlichen Begriffen unvermeidlich, da letztere nach ihrer zivilrechtlichen Bedeutung auszulegen sind. Noch immer gilt die Aussage von Maerz, daß man im Bereich der wirtschaftlichen Betrachtungsweise kaum auf gesicherte Fundamente bauen kann. Gerade herausgestellte Konturen verschwimmen im nächsten Augenblick oder erweisen sich in der Praxis als unscharf. 555 Eine vorbehaltlose Anwendung des verschwommenen Instruments der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist deshalb nicht ohne Bedenken. Denn der Steuerstaat ist Rechtsstaat. Sein Handeln bleibt rechtsstaatlich gebunden. Dies gilt um so mehr für das Steuerrecht als ausfüllende Norm des Blankettatbestandes einer Steuerhinterziehung. Denn hier verwandelt sich die rein ökonomische Frage nach einem mehr oder weniger an Steuerschuld in die Frage nach der Verwirklichung eines Straftatbestandes und damit dem mehr oder weniger an strafrechtlicher Schuld. Dies will freilich nicht heißen, daß die Berücksichtigung von ökonomischen Begriffen im Strafrecht gänzlich ausscheidet, wie die sogenannte wirtschaftliche Vermögenstheorie beim Betrugstatbestand des § 263 StGB aufzeigt. 556 Nach dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnis ist das Wesen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in einer auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bezogenen teleologischen Auslegung zu sehen.557 Diese findet ihre Grenzen wie jede Auslegung am Wortlaut des Steuertatbestandes. Verkappte Analogien können nicht als wirtschaftliche Betrachtungsweise ausgewiesen werden, sondern bedürfen, weil sie über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehen, einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Für das Steuerstrafrecht und die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG ist eine so verstandene wirtschaftliche Betrachtungsweise verfassungsrechtlich unbedenklich. Eine andere Beurteilung erfahren hingegen jene Fälle, die die Grenzen des Wortlautes sprengen und somit die ausfüllende Norm gegen Art. 103 Abs. 2 GG in der Ausprägung des Analogieverbotes verstößt. Läßt sich eine Norm dagegen trotz teleologischer Auslegung unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht klar auslegen, weil die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit keine klaren Konturen herzustellen vermag, so ist die Norm verfassungswidrig unbestimmt und kann nicht den Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO ausfüllen. 555
Maerz, Hans, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 45. Hierzu weiterführend Tröndle, Herbert, in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch Kommentar, § 263 StGB, Rn. 27 ff. 557 Wie hier Hallerbach, Dorothee, Der Einfluß des Zivilrechts auf das Steuerrecht, DStR 1999, 2125, 2128. 556
17 Röckl
258
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Es sind bei Übertragung ins Steuerstrafrecht Fallkonstellationen nicht auszuschließen, in denen die wirtschaftliche Betrachtungsweise des Steuerrechts den ethisch fundierten Fundamentalprinzipien des Strafrechts zu weichen hat. 5 5 8 Hierzu gehört das Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG, obgleich der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung es zunächst gebietet, Wertungswidersprüche beim Übergang beider Rechtsgebiete aufzulösen. IV. Exkurs: Die tatsächliche Betrachtungsweise 1. Begriff und Inhalt
Im Strafrecht wurde zur Auslegung in bestimmten Fällen die Methode der tatsächlichen Betrachtungsweise entwickelt. Sie soll einer besseren Erfassung von Gesetzesumgehungen dienen. Diese tatsächliche Betrachtungsweise zeigt Parallelitäten zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Steuerrechts auf, teilweise wird nicht unterschieden oder die Begriffe werden für identische Fallgestaltungen verwendet. Diese faktische Betrachtungsweise soll die Möglichkeit eröffnen, sich von zivil- oder öffentlichrechtlichen Normen zu lösen und im Strafrecht einen eigenen Begriffsinhalt festzulegen. 559 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Strafrecht allgemein wird häufig für die Auslegung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale mit vermögensbezogenem Charakter verwendet. Typischer Fall ist der Vermögensschaden des Betrugstatbestandes nach § 263 StGB. Eine in diesem Sinne verstandene wirtschaftliche Betrachtungsweise stellt in der Tat ein der tatsächlichen Betrachtungsweise ähnliches Vorgehen dar. 560 Hier gilt es jedoch zu untersuchen, ob der faktischen Betrachtungsweise im Steuerstrafrecht neben der wirtschaftlichen Betrachtungsweise eine eigenständige Bedeutung zukommt und in welchem Verhältnis diese Betrachtungsweise zum Verfassungsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG steht. 2. Strafrechtliche Bedeutung am Beispiel des faktischen Geschäftsführers
Der Bundesgerichtshof hat die Anwendung der tatsächlichen Betrachtungsweise bereits wiederholt anerkannt. 561 Typischerweise handelte es sich hier um Konkurs558 Würtenberger, Thomas, „Wertfreiheit" und „Einheit der Rechtsordnung" im Steuerrecht, FR 1966, 20, 23. 559 Otto, Harro, Die sog. tatsächliche oder faktische Betrachtungsweise - eine spezifisch strafrechtliche Auslegungsmethode?, Jura 1989, 328, 329. 560 Cadus, Joachim, Die faktische Betrachtungsweise, S. 25. 561 Urt. v. 22. 09. 1982 - 3 StR 287/82, BGHSt 31,118,122; BGH Urt. v. 17. 04. 1984-1 StR 736/83, StV 1984,461,461.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
259
Verschleppungsdelikte, also den Bereich des GmbH-Strafrechts, insbesondere Fälle, die nach den Bestimmungen des § 84 GmbHG zu entscheiden waren. Die Rechtsprechung vertrat hier die Ansicht, daß tauglicher Täter auch derjenige ist, der „faktisch " das Tatbestandsmerkmal eines Geschäftsführers erfüllt, unabhängig davon, ob die Bestellung rechtlich wirksam ist. Die Figur des „faktischen Geschäftsführers" dient dem Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung. Hierunter ist derjenige zu verstehen, der im Einverständnis der Gesellschafter tatsächlich die Geschäfte der GmbH führt, ohne von der Gesellschafterversammlung formal hierzu bestellt oder im Handelsregister eingetragen zu sein. Einschränkend soll dies jedoch nur dann gelten, wenn der faktische Geschäftsführer eine überragende Stellung einnimmt, das heißt, von den acht klassischen Aufgabenfeldern im Kernbereich der Geschäftsführung mindestens sechs erfüllt. Zu diesen Kernbereichen zählen: Bestimmung der Unternehmenspolitik, Unternehmensorganisation, Einstellung von Mitarbeitern, Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern, Verhandlungen zu Kreditgebern, Gehaltshöhe, Entscheidung der Steuerangelegenheiten und Steuerung der Buchhaltung. 562 Im Ergebnis handelt es sich um eine Unrechtstypisierung durch die Rechtsprechung und nicht durch den hierzu befugten Gesetzgeber. Der typisierende Charakter erweist sich als ausnehmend problematisch. 563 Die Rechtsprechung geht dabei über den von § 14 Abs. 3 StGB gestatteten Bereich weit hinaus. Sie läuft damit auf eine nach Art. 103 Abs. 2 GG untersagte Analogie hinaus, so daß die Figur des faktischen Geschäftsführers im Strafrecht verfassungskonform eng ausgelegt werden muß. 5 6 4 Ein solches Auseinanderfallen der Interpretation mit restriktiverer Handhabung im Strafrecht ist für das Wirtschaftsstrafrecht des öfteren geboten.565 Das Gesetz sieht für den Geschäftsführer einer GmbH eine Reihe von Pflichten, auch steuerlicher Art vor, die diesen insbesondere zur Besorgung der steuerlichen Mitwirkungspflichten der Gesellschaft und der Abgabe der Steuererklärungen verpflichten. Macht der Geschäftsführer bei der Finanzbehörde falsche Angaben und verkürzt damit die Steuern der GmbH, so liegt eine Steuerhinterziehung vor. Hierin liegt die Verbindung zum Steuerstrafrecht begründet. Die Rechtsprechung erstreckt den Täterkreis der Steuerhinterziehung hinsichtlich einer GmbH erweiternd auf den faktischen Geschäftsführer. 566 Der BGH hat
562 Urt. v. 20. 02. 1997 - 5 StRR 159/96, BayObLGSt 97, 38, 39. 563 Vgl. hierzu ausführlicher: Viertes Kapitel: § 3B „Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht" auf S. 301 ff. 564 Krit. hierzu mit Recht: Otto, Harro, Anmerkung zu BGH StV 1984, 461, StV 1984, 462,462. 565 Vgl. nur Dannecker, Gerhard, Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Parteispenden als gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, in: de Boor/Pfeifer/Schünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, S. 91, 97 f. 1
260
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
den Begriff des faktischen Geschäftsführers in einzelnen Entscheidungen aufgegriffen 567 und schließlich unter Hinweis auf §§35 und 37 Abs. 2 A O 5 6 8 festgestellt, daß der faktische Geschäftsführer steuerstrafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Dies rechtfertige sich damit, daß derjenige, der das tatsächliche Geschehen in erster Linie bestimme, auch strafrechtlich dafür haften muß. Im Vordergrund stehe der Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Diese Sichtweise ist mit Art. 103 Abs. 2 GG nur schwer in Einklang zu bringen. Wer das Amt eines Geschäftsführers nicht übernimmt, indem er sich nicht hierzu bestellen läßt und ins Handelsregister eintragen läßt, ist eben nicht der Geschäftsführer. Umgekehrt wird keine GmbH in das Handelsregister eingetragen, die nicht einen Geschäftsführer aufzuweisen hat. Allein dieser aber ist für die Erfüllung der Bestimmungen des GmbH-Rechts verantwortlich, nur er ist in der Lage, rechtsverbindlich für die GmbH zu zeichnen, insbesondere Verträge für sie abzuschließen. Führen der Geschäfte einer GmbH heißt Auftreten im Rechtsverkehr für die Gesellschaft. Hierzu ist nur derjenige befähigt, der nach dem Gesetz auch zeichnungsbefugt ist. Willenserklärungen, die diesen formalen Anforderungen nicht gerecht werden, werden auch und gerade steuerlich von Betriebsprüfungen der Finanzbehörden nicht anerkannt, soweit sie zu Betriebsausgaben führen. Wer nicht Organ der Gesellschaft ist, für sie aber im Rechtsverkehr auftritt, ist nach allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts Vertreter ohne Vertretungsmacht, von ihm abgegebene Willenserklärungen sind ohne Genehmigung des Geschäftsführers nicht wirksam. Eine rechtliche Wirksamkeit ist nur gegeben, wenn der Geschäftsführer die Genehmigung erteilt oder nach den Grundsätzen der Anscheins- oder Duldungsvollmacht ihm das Vertreterhandeln zuzurechnen ist. In all diesen Fällen hat er es selbst in der Hand, die rechtlichen Geschicke der GmbH zu leiten. Da ohne sein Zutun nichts geschehen kann, kann nur er Tatherrschaft haben und somit Täter sein. Das Verhalten des „faktischen Geschäftsführers" ist eine Frage der Beteiligung, Anstiftung oder Beihilfe. Eine ganz andere Frage ist es, ob im Rahmen einer zivilrechtlichen Haftung die Rechtsfigur des „faktischen Geschäftsführers" anerkannt wird; hiergegen bestehen verfassungsrechtlich keine Bedenken, weil Art. 103 Abs. 2 GG nur für das Strafrecht gilt und somit Strafrecht und Zivilrecht auseinanderfallen können. 569 Im Ergebnis läßt sich festhalten, daß die faktische Auslegung keine eigenständige Interpretationsmethode des Steuerstrafrechts sein kann. Sie muß als Element einer teleologischen Auslegung von Strafrechtsnormen angesehen werden, die sich 566 Urt. 24. 06. 1952 - 1 StR 153/52, BGHSt 3, 32, 37; Urt. v. 28. 06. 1966 - 1 StR 414/ 65, BGHSt 21, 101, 104 (für den Vorstand einer AG); ferner BGH Beschl. v. 4. 2. 19975 StR 680/96 - NStZ 1997, 553, 554. 567 Urt. a. a. O. (Fn. 561), BGHSt 31, 118, 120; Beschl. v. 24. 07. 1987 - 3 StR 36/87, BGHSt 35, 14,14. 568 BGH Urt. v. 08. 11. 1989 - 3 StR 249/89, wistra 1990, 97, 97 ff. 569 Pohl, Rolf, Steuerhinterziehung durch Gesetzesumgehung, S. 74, ebenda in Fn. 130.
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darauf beschränkt, Inhalt und Grenzen dieser Normen auszugestalten.570 Eine Eigenständigkeit kommt der faktischen Betrachtungsweise gerade nicht zu. 5 7 1 Jedenfalls aber ist die faktische Betrachtungsweise wegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht über den Wortlaut hinaus zulässig, selbst wenn der Zweck der Norm ihre Anwendung auf einen bestimmten Fall der Gesetzesumgehung geradezu zu gebieten scheint. 572 Die Bekämpfung der Gesetzesumgehung ist im Strafrecht durch die Gerichte nur eingeschränkt machbar, vielfach ist der Gesetzgeber gefordert.
V. Der Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO als wichtigster normierter Fall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Die Bekämpfung der Gesetzesumgehung ist ein schwieriges Feld und bis heute nicht abschließend geklärt. Dies gilt auch und gerade für das Steuerstrafrecht. Im Gegensatz zum offenen Gesetzesverstoß („contra legem agere u) hält sich der Steuerumgeher formal an den Wortlaut des Gesetzes, indem er unter Ausnutzung der Unvollkommenheiten solche Formen verwendet, die bei gleichem wirtschaftlichen Ergebnis den Gesetzeswortlaut nicht erfüllen, obgleich sie nach Sinn und Zweck der Norm erfaßt sein sollen. 573 Auf Stockei 574 geht die Vorstellung zurück, wonach eine Bekämpfung der Gesetzesumgehung auf der Ebene des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, des Besonderen Teils sowie schließlich auf dem Feld des verwaltungsrechtlichen Vorfelds durch den Gesetzgeber angegangen werden könne. Es besteht heute jedoch weitgehend Einigkeit darüber, daß Vorschriften im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, wonach Gesetzesumgehungen strafbar sind, nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG in Einklang zu bringen sind. 575 Ebenso hat der Gesetzgeber davon abgesehen, einen speziellen Tatbestand der Gesetzesumgehung im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches zu schaffen. Dieser könnte aufgrund seiner allgemeinen Formulierung nur durch Analogieschlüsse auf den Einzelfall angewendet werden, welche wiederum gegen das Analogieverbot verstoßen müßten.
570 Otto, Harro, a. a. O. (Fn. 564), S. 463; ders., Grundkurs Strafrecht, § 2 I I 4 e). 571 Otto, Harro, a. a. O. (Fn. 559), Jura 1989, 328, 329. 572 Ebenso Otto, Harro, Wirtschaftliche Gestaltung am Strafrecht vorbei, Jura 1999, 97, 98, der bei seiner Erörterung von Fallgestaltungen bei § 6 c UWG zum selben Ergebnis gelangt. 573 Zur Begrifflichkeit der Steuerumgehung m. w. N. Poepel, Hans-Dirck, Steuerumgehung im Spannungsfeld zwischen Abgabenordnung und Außensteuergesetz, S. 7. 574 Stockei, Heinz, Bekämpfung der Gesetzesumgehung mit Mitteln des Strafrechts, ZRP 1977, 134, 137. Ähnlich Nippoldt, Rolf, Die Strafbarkeit von Umgehungshandlungen, S. 68. 575 Jung, Heike, Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, S. 9.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Allein gangbar erscheint daher der dritte Weg, die Umgehung im verwaltungsrechtlichen Vorfeld zu verbieten. Das Steuerrecht sieht hierfür die Bestimmung des § 42 AO vor. Dies ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem Verhältnis der Umgehungsvorschrift des § 42 AO zum Straftatbestand der Steuerhinterziehung und dessen Spannungsfeld zu Art. 103 Abs. 2 GG. Die Umgehungsnorm wurde über Jahrzehnte hinweg kaum von den Gerichten zur Anwendung gebracht, entwickelte sich jedoch seit Beginn der achtziger Jahre zur zentralen Vorschrift der Abgabenordnung. 576 Tipke führt dies einerseits auf die steuerminimierende Gestaltung der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre zurück, zum anderen sieht er ein gewachsenes Methodenbewußtsein der Richter als Ursache. 577 § 42 AO versagt steuerlichen Gestaltungen, die als Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten einzustufen sind, die steuerliche Anerkennung und ordnet die steuerlichen Folgen an, die eingetreten wären, wenn das tatsächlich wirtschaftlich Gewollte verwirklicht worden wäre. Die Umgehungsnorm beruht letztlich auf einer Fiktion, die mit Hilfe der Rechtsfigur des angemessen sich verhaltenden Gestalters zu ermitteln ist. 5 7 8 Die Vorschrift ist aus § 6 Abs. 1 StAnpG hervorgegangen. Dieser wiederum fand in § 5 RAO 1919 seinen Vorläufer, der bei Erlaß der Reichsabgabenordnung die wohl am meisten umkämpfte Vorschrift bildete. 579 Enno Becker hielt die von ihm gestaltete Bestimmung nicht für zwingend notwendig, wollte jedoch verhindern, daß die spätere Rechtsprechung ihren Auftrag nicht auf eine Umgehungsbekämpfung erstreckte. Den Ausschlag gaben schließlich die hohen Kriegsfolgelasten, die einen entsprechenden Finanzbedarf und die Erschließung aller erdenklichen Steuerquellen nach sich zogen, sowie die Zusammensetzung der Nationalversammlung, deren Mehrheit der besitzenden und damit steuerpflichtigen Klasse mit Mißtrauen gegenüberstand. § 42 AO stellt nach wohl richtiger Ansicht einen Spezialfall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise dar. Die mit § 42 AO gewonnenen Ergebnisse könnten über die wirtschaftliche Betrachtungsweise ebenso begründet werden. 580 Bei seiner Entstehung verzichtete man bewußt auf eine ins einzelne gehende Formulierung des Tatbestandes, weil befürchtet wurde, bei einer kasuistischen Bestimmung könnte die Umgehungsvorschrift selbst leicht umgangen werden. So wurde vorgetragen, der Steuerpflichtige brauche nur eine Gestaltungsmöglichkeit zu finden, die eines der Merkmale nicht aufweise. 581 Die in einer früheren Fassung noch enthaltenen erläu57 6 Klein, Martin, Die nicht „angemessene rechtliche Gestaltung" im Steuerumgehungstatbestand des § 42 AO, S. 6. 577 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1325. 578 Stahl, Rudolf, Die steuerlichen und strafrechtlichen Aspekte des Gestaltungsmißbrauches, StraFo 1999, 223, 223. 579 Cordes, Helmut, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919, S. 59. 580 Walz, Rainer, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 224.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
263
ternden Tatbestandsmerkmale „Ungewöhnlichkeit der Rechtsform", „Gleichheit im Wirtschaftserfolg" und „Geringfügigkeit des Nachteils" trugen wenig zur Erhellung bei und wurden daher 1934 in § 6 Abs. 1 StAnpG fallen gelassen.582 Ob dieses Verständnis von gesetzlicher Bestimmtheit und Analogiefähigkeit auch heute noch so gelten kann, bedarf im folgenden eingehender Erörterung und Verknüpfung mit dem Steuerstrafrecht:
1. Verfassungsrechtsprechung
Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang soweit ersichtlich nicht vertieft mit der Verfassungskonformität des § 42 AO befassen müssen.583 An anderer Stelle hat es jedoch ausgeführt, daß die Verhinderung von Steuerumgehungen ein legitimes Ziel der Rechtsprechung in Steuersachen darstellt. 584 Es hat bei der Mißbrauchsbekämpfung Praktikabilitätserwägungen zugelassen und die Grundsätze der Steuerklarheit anerkannt. Zur Rechtsfortbildung aufgrund einer Umgehungsvorschrift hat es aber nicht ausdrücklich Stellung bezogen. Das als legitim anerkannte Ziel, Steuerhinterziehungen zu vermeiden, rechtfertigt jedoch keine Steuerverschärfung allgemein, auch wenn dies das einfachste Mittel wäre, mißbräuchliche Verträge zu verhindern. 585 Der Vorrang verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen verbietet es, Zweckmäßigkeitserwägungen unter Verletzung dieser Wertungen voranzustellen. 586 Das Bundesverfassungsgericht hat ferner anerkannt, daß Umgehungsbekämpfung nicht unbegrenzt betrieben werden kann, sondern daß Grundrechte des Betroffenen, so beispielsweise das Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG entgegenstehen können. 587
581
Hierzu ausführlich Troeger, Heinrich, Steuerstrafrecht, § 396 AO, Anm. 14 a). 582 Bühler, Ottmar, Steuerrecht I, S. 110.
583 Hierzu ergangene Nichtannahmebeschlüsse ohne Begründung: BVerfG v. 13.07.19942 BvR 1643/90, n. v.; BVerfG v. 28. 07. 1994 - 2 BvR 838/94, n. v.; BVerfG v. 05. 08. 1994-1 BvR 351 /94, n. v. Offengelassen wurde die Frage des § 42 AO in BVerfG Beschl. v. 25. 09. 1987-1 BvR 274/87, BB 1987, 2083, 2083 und in der Parallelentscheidung Beschl. v. 25. 09. 1987-1 BvR 275/87, HFR 1988,584,584, da insoweit der Rechtsweg nicht ausgeschöpft war. 584 Beschl. v. 11. 07. 1967 - 1 BvR 495/63 und 325/66, BVerfGE 22, 156, 161. Zuvor schon Beschl. v. 14. 04. 1959 - 1 BvL 23, 34/57, BVerfGE 9, 237, 245; Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331, 344, Beschl. v. 30. 06. 1964 - 1 BvL 16-25/62, BVerfGE 18,97,111. 585 Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvL 32/57, BVerfGE 13, 290, 316. 586 Beschl. v. 17.01. 1957 - 1 BvL 4/54, BVerfGE 6,55, 83. 587 Beschl. v. 15. 07. 1969 - 1 BvL 22/65, BVerfGE 26, 321, 326.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension 2. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes
Die BFH-Judikatur läßt bis heute eine einheitliche Definition der Steuerumgehung vermissen. Der BFH hält sich nach Auffassung seiner Kritiker nicht an Begriffsdeduktionen, sondern überwiegend an „subjektive Wertungen" und an das „Rechtsgefühl". 588 § 42 AO verbietet nach der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung nicht schlichtweg jede Form einer Gestaltungsmöglichkeit, die die Steuerlast vermindert. Dem Steuerpflichtigen bleibe es grundsätzlich unbenommen, die für ihn steuerlich günstigste Möglichkeit zu wählen. Es dürfe sich jedoch nicht um eine „ unangemessene rechtliche Gestaltung " handeln. Der von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch, den Begriff der „ Unangemessenheit" in § 42 AO durch andere Begriffe zu ersetzen, die sich letztlich ebenso als Leerformeln erwiesen, wurde weitestgehend aufgegeben. Formeln wie „unnatürlich", „gekünstelt", „wirtschaftlich unvernünftig und nicht praktikabel" oder „Schleichweg" und „abwegige Kniffe und Schliche" helfen wenig über die begriffliche Unschärfe hinweg. Von dieser Grundüberlegung geht nun auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes in mehreren Urteilen 589 aus. Dementsprechend begründet keine bloße „ nicht allgemein übliche Gestaltung" die Vermutung eines Rechtsmißbrauchs durch den Steuerpflichtigen. 590 Der BFH ist von eben dieser „Ungewöhnlichkeit" als alleiniges Kriterium für die „Unangemessenheit" einer Gestaltung abgerückt. Dies gilt nach seiner Rechtsprechung inzwischen auch, wenn Angehörige ihre Rechtsverhältnisse untereinander gestalten und ein Vergleich mit der Rechtsfigur des „fremden Dritten,, anzustellen ist. 5 9 1 Hier folgt die Unangemessenheit nicht schon allein aus dem Motiv, Steuern zu sparen. 592 Das wirtschaftliche Verhalten der Beteiligten darf nicht auf seine Angemessenheit überprüft werden. 593 Denn der Steuerpflichtige ist bei der rechtlichen Gestaltung wirtschaftlicher Vorgänge im Rahmen der Gesetze frei. Auch aus steuerlicher Sicht ist im Grundsatz von der gewählten zivilrechtlichen Gestaltung auszugehen.594 Deshalb stützt sich die neuere /^//-Rechtsprechung nicht allein auf typisierende Regeln, sondern will eine Gestaltung im Rahmen einer umfassenden Gesamtbetrachtung würdigen. Zeitweilig wurde in der /^//-Rechtsprechung die Ansicht vertreten, daß eine andere Gestaltung „zwingend" sei, es wurde also der Finanzverwaltung die Ent588
So die harte Kritik von Felix, Günther, Streifzug durch die jüngste BFH-Rechtsprechung zur Steuerumgehung, KÖSDI 1997, 11140, 11142, der von einer „Vielfalt der Definitionen" spricht. 589 BFH Urt. v. 12. 07. 1988 - IX R 149/83, BStBl I I 1988,942, 943 m. w. N. 590 BFH Urt. v. 10. 10. 1991 - X I R 1 / 86, BStBl I I 1992, 239, 240. 591 592 593 594
BFH Urt. v. 21. 11. 1991 - V R 20/87, BStBl I I 1992, 446,448. BFH Beschl. v. 29. 11. 1982 - GrS 1 /91, BStBl I I 1983, 272 277. Urt. v. 30. 11. 1989 - IV R 97/86, BFH/NV 1991,432,432. BFH Urt. v. 10. 09. 1992 - V R 104/91, BStBl I I 1993, 253, 254.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Scheidung darüber überlassen, wann sie eine andere Gestaltung für zwingend hält. 595 Dieser Ansatz wurde schließlich wieder aufgegeben. Eine rechtliche Gestaltung ist nach der neueren Judikatur des BFH unangemessen, wenn verständige Parteien in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhaltes und der wirtschaftlichen Zielsetzung nicht in der gewählten Weise verfahren wären. Dabei hält es das Gericht für entscheidend, ob der Steuerpflichtige, dessen Steuerschuld zu beurteilen ist, die vom Gesetzgeber bei seiner Regelung vorausgesetzte und in Übereinstimmung mit der Verkehrsauffassung 596 für typisch gehaltene Gestaltung zum Erreichen bestimmter wirtschaftlicher Ziele nicht gebraucht und hierfür keine außersteuerlichen Gründe von beachtlichem Gewicht vorliegen. Dies sei dann zu bejahen, wenn der Steuerpflichtige auf einem ungewöhnlichen Weg einen Erfolg zu erreichen sucht, der nach den Weitungen des Gesetzgebers auf diesem Weg nicht erreichbar sein soll. 5 9 7 Diese Grundsätze gelten ebenso, wenn eine unangemessene Gestaltung für die Verwirklichung des Tatbestandes einer Begünstigungsnorm eingeschlagen wird. 5 9 8 Die Unangemessenheit tritt deutlich hervor, wenn eine Rechtsgestaltung überhaupt keinem wirtschaftlichen Zweck dient, somit ein vernünftiger wirtschaftlicher Grund nicht zu erkennen ist. 5 9 9 Rechtliche Gestaltungsformen, die vom Normalbild abweichen, bedürfen der Darlegung, daß sie auf vernünftigen Erwägungen beruhen. 600 Die Feststellungslast hierfür trägt jedoch das Finanzamt, welches abweichend von der gewählten Gestaltung einen anderen Sachverhalt der Besteuerung zugrundelegen möchte. Lediglich in Ausnahmefällen kann sich nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung hinsichtlich bestimmter wiederkehrender Rechtsgestaltungen eine wenn auch widerlegliche Vermutung eines Rechtsmißbrauchs ergeben. 601 Dies kann so bei einer Übertragung ins Steuerstrafrecht nicht gelten, da die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung eine Vermutung zuungunsten des Angeklagten ausschließt. Freilich bezieht sich dies nur auf die Ermittlung des Sachverhaltes, nicht hingegen auf Zweifel bei dessen rechtlicher Würdigung. Der BFH umging bisweilen die Frage, ob die Annahme eines Gestaltungsmißbrauches auch eine darauf gerichtete Absicht der Vertragsparteien voraussetzt, 602 595 BFH Urt. v. 12. 08. 1986 - V I I R 169/83, BStBl I I 1986, 821, 823, zuvor schon Urt. v. 03. 06. 1953 - I I 221/51 S, BStBl III 1953, 208, 209 und Urt. v. 20. 08. 1954 - 1 130/53 U, BStBl III 1954, 336, 338. 596 BFH Urt. v. 06. 06. 1991 - V R 70/89, BStBl I I 1991, 866, 867. 597 BFH Urt. v. 18. 10. 1990 - IV R 36/90, BStBl I I 1991, 205, 207; Urt. v. 21.11. 1991 V R 20/87, BStBl II 1992, 446, 448; Urt. v. 16. 01. 1992 - V R 1 /91, BStBl I I 1992, 541, 542; Urt. v. 10. 09. 1992 - V R 104/91, BStBl I I 1993, 253, 254. 598 BFH Urt. v. 06. 06. 1991 - V R 70/89, BStBl II 1991, 866, 867. 599 BFH Urt. v.l7. 01. 1991 - IV R 132/85, BStBl I I 1991, 607,609. 600 BFH Urt. v. 29. 10. 1985 - IX R 107/82, BStBl II 1986, 217, 220. 601 BFH Urt. v. 13. 07. 1989 - V R 8/86, BStBl I I 1990,100,101; Beschl. v. 04.08.1987 V Β 16/87, BStBl I I 1987, 756, 758; Urt. v. 05. 03. 1986 - I R 201/82, BStBl I I 1986, 496, 497.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
er hält sie mitunter für indiziert. Die Wissenschaft wertet jedoch die BFH-Rechtsprechung seit langem dahingehend, daß eine Umgehungsabsicht Voraussetzung sei. 603 Die Frage spielt im Steuerstrafrecht eine untergeordnete Rolle, da die Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung ohnehin Vorsatz erfordert. § 42 AO ordnet an, daß im Falle eines Mißbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten der Steueranspruch so entsteht, wie er bei einer den wirtschaftlichen Gegebenheiten angemessenen Gestaltung entstanden wäre. Dabei ist aber nur eine solche Gestaltung angemessen und der Besteuerung zugrunde zu legen, die der tatsächlich gewählten Gestaltung möglichst nahe kommt, d. h. es ist der geringstmögliche Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Steuerpflichtigen vorzunehmen. 604 Es wird bereits an dieser Stelle deutlich, daß bei einer späteren Übertragung des Gestaltungsmißbrauches in das Steuerstrafrecht die Unschärfe nicht allein die Tatbestandsvoraussetzungen trifft, sondern sich ebenso auf die Rechtsfolgen bezieht. In Grenzfällen fragt sich, welcher Steueranspruch denn bei wirtschaftlich angemessener Gestaltung entstanden wäre. Hierauf läßt sich in vielen Fällen nicht nur eine Anwort finden. Hinzu kommt, daß der BFH für jede Steuerart gesondert entscheiden möchte, ob die Gestaltung unangemessen war. 605 Ins Steuerstrafrecht übertragen bedeutet dies, daß auch für jede Steuerart unterschiedliche Sachverhalte zugrundegelegt werden könnten, was zu einer willkürlichen Bestrafung führen könnte. Im Klartext bedeutet dies, daß bei ein und demselben Lebenssachverhalt bei der Umsatzsteuerhinterziehung ein anderer Sachverhalt (nämlich der tatsächlich gewollte) als bei der Einkommenssteuerhinterziehung zugrundegelegt wird, obgleich beide mit demselben Tathergang verwirklicht wurden. Der Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten ist allerdings nach der Rechtsprechung des BFH als solcher nicht strafbar, sondern erst dann, wenn der Steuerpflichtige den Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten verschleiert und dadurch eine Verkürzung von Steuer herbeiführt. 606
602 Offen gelassen in BFH Urt. v. 19. 06. 1991 - IX R 134/86, BStBl II 1991, 904, 905, hinsichtlich der Frage einer Mißbräuchlichkeit einer wechselseitigen Vermietung von Wohnungen. 603 Birk, Dieter, Steuerrecht, Rn. 319, bezieht sich auf das Urt. a. a. O. (Fn. 589), BStBl Π 1988,942,943, und sieht hierin eine st. Rspr. des BFH begründet. Jachmann, Monika, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und Steuerumgehung, JA 1995, 511, 514, führt aus, daß § 42 AO in engem Zusammenhang zu § 38 AO stehe. Danach knüpfe die Steuerpflicht daran, ob der Steuertatbestand objektiv erfüllt sei. Die Forderung nach einer Steuerumgehungsabsicht sei daher angreifbar, jedoch weitgehend theoretischer Natur, da eine solche Absicht durch den Tatbestand zumeist indiziert sei. Krit. auch Hoffmann, Ralph, in: Koch/ Scholtz, Abgabenordnung, § 42, Rn. 7. Wagner, Wilfried, Die Rechtsprechung zum Gestaltungsmißbrauch im Umsatzsteuerrecht, FS f. Franz Klein, S. 977, 982, hält ein subjektive Tatbestandsmerkmal für unbrauchbar und bezeichnet die Auseinandersetzung darüber als Theorienspielerei. 604 BFH Urt. v. 06. 06. 1991 - V R 70/89, BStBl I I 1991, 866, 867. 605 Urt. v. 20. 05. 1997 - V I I I Β 108/96, BFH/NV 1997,462,463.
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3. Die Rechtsprechung der Strafgerichte a) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hat die Umgehungsvorschrift des Mißbrauches von Gestaltungsmöglichkeiten in § 6 Abs. 1 StAnpG ohne Einschränkungen auf das Steuerstrafrecht übertragen. § 396 Abs. 4 RAO als Vorläufer des § 370 AO 1977 enthielt einen ausdrücklichen Tatbestand der Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung. 607 Tatsächlich gelangten kaum einschlägige Fälle zum Reichsgericht. So hatte das Gericht in einem Fall 6 0 8 über die Aufteilung eines zu leistenden Betrages aus einer Ausfallbürgschaft in drei Raten zu entscheiden. Obgleich schon feststand, daß der gesamte Betrag ausfallen würde, wollte ihn der Steuerpflichtige in drei Besteuerungszeiträumen als Werbungskosten berücksichtigen, indem er dort jeweils Teilbeträge abbuchen ließ. Da für diese Aufteilung kein anderes wirtschaftliches Motiv zu finden war außer der Absicht, Steuern zu sparen, sah das RG die Dreiteilung als willkürlich an. Das vorwerfbare Verhalten liege darin, daß der Steuerpflichtige das Finanzamt daran hinderte, das erstrebte Ziel und den Gestaltungsmißbrauch zu erkennen. Die Literatur hielt dem Gericht vor, daß es sich nicht um einen Fall der Steuerumgehung, sondern um eine schlichte Täuschung handelte, weil keine ungewöhnliche Rechtsform gewählt wurde. 609 Eine Auseinandersetzung in der Urteilsbegründung mit dem Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz " fand nicht statt, vermutlich deshalb, weil der damalige Steuer606 BFH Urt. v. 01. 02. 1983 - VIII R 30/80, BStBl I I 1983, 534, 534, unter Bezugnahme auf die nachfolgende strafgerichtliche Rechtsprechung. BFH und BGH gehen davon aus, daß Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nicht schlechthin strafbar ist, sondern nur dann, wenn der Steuerpflichtige das Finanzamt über steuererhebliche Tatsachen getäuscht hat. 607 Bei den Ausschußberatungen der Nationalversammlung zu dieser Vorschrift ging man von dem Fall aus, daß ein Steuerpflichtiger, um Umsatzsteuer zu sparen, ein Kraftfahrzeug statt zu kaufen zu einem hohen Mietzins mietet und erst nach Abnutzung als Gebrauchtfahrzeug zu niedrigem Preis kauft. Wird dieser Vorgang in der Buchhaltung verschleiert, so soll strafbare Steuerumgehung vorliegen. Vgl. hierzu Härtung, Fritz, Steuerstrafrecht, § 396 AO, Anm. 6, a. E.; Troeger, Heinrich, Steuerstrafrecht, § 396 AO, Anm. 14 b). 608 Urt. v. 07. 06. 1943 - 2 D 441 / 42, RGSt 77, 87, 94 f. Die übrige Rechtsprechung erweist sich als unergiebig. Das oftmals angeführte Urt. v. 18. 03. 1937 - 3 D 965/36, RGSt 71, 135, 136, ist tatsächlich hier nur mit Vorbehalt als einschlägig zu bezeichnen. Danach hat das Reichsgericht eine Zollhinterziehung durch Umgehung der Zollvorschriften in einem Umfüllen von Dosenkaviar in Fässer gesehen, da Faßkaviar zu einem niedrigeren Zollsatz eingeführt werden konnte. Im sogenannten „Hohenlohe"-Urt. v. 05. 01. 1914 - V I I 404/13, RGZ 84, 17, 23, versagt das Gericht, noch bevor eine entsprechende Umgehungsvorschrift erlassen wurde, die steuerliche Anerkennung einer „willkürlich gewählten äußeren rechtsgeschäftlichen Form. Zur Begründung führt es wirtschaftliche Erwägungen an, die dem gesetzgeberischen Zweck entsprächen. Die Literatur bewertet dies als Rechtsprechungsänderung des RG, die jedoch den RFH nicht erreichte, vgl. Wenderoth, Dieter, Die Steuerhinterziehung durch Umgehung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG, S. 3. 609 Bühler, Ottmar, Steuerrecht I, S. 434.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
hinterziehungstatbestand in § 396 Abs. 4 RAO als Tatbestandsvariante explizit die Steuerumgehung vorsah. Ob dies nach heutiger Rechtslage unter dem Grundgesetz ausreichen hätte können, um den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen Genüge zu tun, mag dahinstehen. Für die Erkennbarkeit strafbaren Handelns aus der Sicht des Steuerpflichtigen macht es keinen Unterschied, ob der Steuerhinterziehungstatbestand selbst die Umschreibung der Umgehung enthält oder ob auf eine spezielle Umgehungsvorschrift verwiesen wird.
b) BGH-Urteil vom 27. Ol. 1982 Die Rechtsprechung des BGH hatte über Jahrzehnte hinweg davon Abstand genommen, die steuerrechtlichen Umgehungsklauseln im Strafverfahren zur Anwendung kommen zu lassen. 610 Dem am 27. Ol. 1982 ergangenen Urteil 6 1 1 , welches erstmals § 42 AO im Steuerstrafrecht zur Anwendung brachte, lag ein Fall zugrunde, in dem der Steuerpflichtige einen Teil seiner Gewinne in das niedrig besteuerte Ausland verlagerte, um Einkommens- und Gewerbesteuer zu sparen. Hierzu gründete er ein Unternehmen in der Schweiz im Kanton Glarus. Seine Produkte exportierte er über dieses Unternehmen und gewährte nach den Feststellungen des Gerichts überhöhte Rabatte. Das Finanzamt täuschte er über die Art der Tätigkeit seiner schweizerischen Unternehmung und den Umfang seiner Beteiligung an dieser Gesellschaft. Der Senat spricht hier aus, daß entgegen dem Vorbringen des Angeklagten der Tatbestand der Steuerhinterziehung auch unter Einbeziehung des Umgehungstatbestandes § 6 StAnpG (jetzt § 42 AO) dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht. 612 Als Blankettstrafgesetz entspreche die Steuerhinterziehung dem Bestimmtheitsgebot, wenn die Voraussetzungen der Strafbarkeit entweder in ihm selbst oder in der ausfüllenden Norm hinreichend beschrieben sind. Das sei hier selbst dann der Fall, wenn sich die Bestimmtheit der steuerlichen Vorschriften, auf die verwiesen wird, erst unter Einbeziehung des § 6 StAnpG ergebe. Für die Fallgruppe der Einschaltung einer sogenannten Basisgesellschaft im Ausland habe die Rechtsprechung konkrete Grundsätze herausgearbeitet, welche die Reichweite der Umgehungsvorschrift hinreichend umgrenzen. Im vorliegenden Fall fehlten wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe für die Errichtung einer Basisgesellschaft und sie entfalte keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit. Der Senat räumt ein, daß der die Steuerpflicht auslösende Mißbrauchstatbestand selbst in dieser Ausformung für die betroffene Fallgruppe im Einzelfall zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen könne, dies sei für die Wirksamkeit der an ihn an610 Tiedemann, Klaus, Strafbare Erschleichung von Investitionszulagen durch Aufhebung und Neuabschluß von Lieferverträgen?, NJW 1980, 1557, 1560. 611 BGH Urt. v. 27. 01. 1982 - 3 StR 217/81, wistra 1982, 108 ff. 612 BGH Urt. v. 27. 01. 1982-3 StR 217/81, wistra 1982, 108,109.
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knüpfenden Strafvorschrift jedoch ohne Bedeutung.613 Das Strafrecht könne nicht auf „allgemeine, auslegungsbedürftige Begriffe " verzichten. 614
c) BGH-Urteil vom 24. 08. 1983 Der BGH hatte über einen Steuerberater zu befinden, der im Rahmen der steuerlichen Betreuung einer Unternehmung in der Schweiz eine Steuerhinterziehung zugunsten seines Mandanten begangen hatte. Er hatte dabei Betriebsgewinne seiner Mandantschaft verschleiert und auf diese Weise Steuern in erheblichem Umfang verkürzt. Der BGH führte aus: 615 „Der Senat verkennt nicht, daß die Mitwirkung des Angeklagten an der Steuerumgehung nach § 6 StAnpG (§ 42 AO η. F.) durch Gründung einer Schweizer Domizilfirma als solche nicht strafbar ist [ . . . ]. Die Entgelte für die Betreuung der A. AG hat der Angeklagte jedoch ersichtlich deswegen erhalten, weil er im Anschluß an die Gründung der Firma auch bei der den Tatbestand des § 392 AO (§ 370 AO η. F.) verwirklichenden Täuschung des Finanzamtes durch Verschleierung der nach § 6 StAnpG mißbräuchlichen Gewinnverlagerung ins niedrig besteuerte Ausland mitgewirkt hat."
Die weiteren Ausführungen lassen eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG vermissen. Der BGH geht vielmehr wie selbstverständlich von einer Anwendbarkeit des § 6 StAnpG im Steuerstrafrecht aus.
d) BGH-Urteil vom 28. 01. 1987 („Reemtsma") Der BGH stellte in der Entscheidung fest, die auf Täuschung angelegten falschen Angaben der Angeklagten schlössen es aus, lediglich von einem straffreien Mißbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO zu sprechen. 616 Dies macht das Gericht vor allem an dem Umstand fest, daß der wahre Sachverhalt verschleiert werden sollte.
e) BGH-Urteil vom 30. 05. 1990 Der BGH hatte sich in der Entscheidung vom 30. 05. 1990 mit der Einschaltung einer ausländischen Kapitalgesellschaft zu befassen. 617 Die Zwischenschaltung ei613 BGH a. a. O. (Fn. 612). 614 Abi. zu dieser Aussage Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht - Zum Bestimmtheitsgebot im Steuerrecht und Steuerstrafrecht, S. 134. 615 Urt. v. 24. 08. 1983 - 3 StR 89/83, BGHSt 32, 60,64. 616 BGH Urt. v. 28. 01. 1987 - 3 StR 373/86, NJW 1987, 1273, 1274. 617 BGH Urt. v. 30. 05. 1990 - 3 StR 55/90, wistra 1990, 307, 308.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
ner solchen Basisgesellschaft im niedrig besteuernden Ausland sieht der Senat unter Verweis auf die Rechtsprechung des BFH 61* als Gestaltungsmißbrauch an, soweit für ihre Einschaltung wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen und wenn sie keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet. Voraussetzung ist, daß die Wahl des Sitzes und der Rechtsform nur mit steuerlichen Motiven zu rechtfertigen ist. Das Gericht bejaht damit stillschweigend die Anwendung des § 42 AO auch für das Steuerstrafrecht, ohne sich mit der Frage nach der hinreichenden Bestimmtheit des Blankettatbestandes und der Einbeziehung von Analogieschlüssen über das vorgelagerte Recht auseinanderzusetzen.
f) Rechtsprechung einzelner Strafgerichte Das AG Köln sprach im sog. „Madaus-Urteil" 619 eine Verurteilung wegen §§ 370, 42 AO aus. § 42 AO führte zu einer Tatbestandskorrektur dergestalt, daß die gespendeten Geldbeträge als direkt den Parteien zugeflossen zu behandeln seien. Das OLG Bremen 610 hatte über eine Schiffsbeteiligung als Steuersparmodell einer Abschreibungsgesellschaft zu entscheiden. Entscheidungserheblich war, ob die Vorschrift des § 6 StAnpG (jetzt 42 AO 1977) anzuwenden war. Der Senat bejaht dies, ohne die Problematik des Art. 103 Abs. 2 GG zu erörtern. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des BFH 621 führt er aus, daß eine Strafbarkeit des Gestaltungsmißbrauches nur bei einem Vertuschen, Verschleiern und bei falschen Auskünften, das heißt, bei einem Verstoß gegen steuerliche Pflichten in unehrlicher Weise in Betracht komme. Dies sei dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige das Finanzamt über die Tatsachen, die ihn zur Wahl einer im Sinne des § 42 AO ungewöhnlichen Gestaltung bewogen haben, oder über einzelne Merkmale der Gestaltung oder die dadurch geregelten Verhältnisse getäuscht oder bewußt im unklaren gelassen und dadurch dem Finanzamt die Möglichkeit der Prüfung versperrt habe. Das OLG Düsseldorf 22 geht in seiner Entscheidung ebenfalls ohne weitere Erörterungen hinsichtlich des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes von einer Anwendung des § 42 AO auf Steuerverkürzungen beim Tatbestand der Steuerhinterziehung aus. Gegenständlich war ein Gestaltungsmißbrauch durch Ausübung der Umsatzsteueroption nach § 9 UStG bei einem Zwischenmietverhältnis im Rahmen 618 BFH Urt. v. 05. 03. 1986 - 1 R 201/82, BStBl I I 1986,496,497. 619 AG Köln Urt. v. 05. 11. 1984 - 584 Ls 36/84, NJW 1985, 1037, 1039. 620 OLG Bremen v. 26. 04. 1985 - Ws 111 / 84, StV 1985, 282, 285. 621 BFH Urt. v. 27. 06. 1968 - IV R 6/68, BStBl I I 1968, 700, 700 f., diese Entscheidung trägt die Aussage nur begrenzt. Ferner BFH Urt. v. 01. 02. 1983 - VIII R 30/80, BStBl II 1983, 534, 534. 622 OLG Düsseldorf v. 26. 08. 1988-3 Ws 512/88, wistra 1989, 72, 74 f.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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von Bauherren- und Erwerbermodellen, um Vorsteuererstattungsansprüche geltend zu machen. Der Senat vertrat dabei jedoch die Ansicht, daß die Beweislast für das Vorliegen einer mißbräuchlichen Gestaltung anders als bei bestimmten Fallgruppen im Steuerrecht nicht beim Steuerpflichtigen liegen könne, ohne hierzu weitere Ausführungen zu machen. Der Senat stellte fest, daß es auf eine im Falle nicht nachzuweisende Mißbrauchsabsicht ankäme, wenn auch hier schon die Unangemessenheit der Zwischenvermietung nicht zu beanstanden sei und somit schon deswegen kein Gestaltungsmißbrauch vorliegen könne. 623 Die Entscheidung erfuhr teils Zustimmung, 624 teils Ablehnung 625 seitens der Literatur. Die Kritik setzte daran an, daß Bauherren- und Erwerbermodellen der vorliegenden Art eine Umgehungsabsicht immanent sei, weil schon beim Verkauf mit steuerlichen Vorteilen zur Finanzierung der Beteiligung geworben werde. Dagegen wird mit Recht eingewandt, daß die Umsatzsteueroption ein vom Gesetzgeber ausdrücklich gewährtes Wahlrecht sei, dessen Ausübung keine strafbare Umgehung darstellen könne, sondern vielmehr Ausdruck des subjektiv-öffentlichen Anspruches jedes Steuerbürgers aus Art. 1 Abs. 3 i. V. m. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG gegenüber der Finanzverwaltung auf Einhaltung der verfassungsrechlich gebotenen Gesetzesbindung sei. Die Kritik verkennt auch, daß eine Absicht zur Steuerersparnis nicht mit einer Steuerumgehungsabsicht gleichzusetzen ist. Das OLG Karlsruhe hatte über eine steuerliche Gestaltung zu entscheiden, die darauf fußte, daß Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften gemäß § 17 Abs. Abs. 1 EStG steuerfrei waren, soweit keine wesentliche Beteiligung von damals 25 % vorlag. Die übrigen Anteile befanden sich in der Hand von Familienmitgliedern und nahestehenden Personen. Das OLG Karlsruhe bejahte hier eine Strafbarkeit nach §§ 370, 42 AO, ohne über deren Bestimmtheit und ohne über die Grenzen analoger Rechtsfortbildung ein Wort zu verlieren. Statt dessen macht es sich bei der Beurteilung der Fremdüblichkeit die ^//-Rechtsprechung zum „Ehegatten-Oder-Konto" zu eigen, die später vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand hatte. 626 Auch die Mißbrauchsdefinition wird ohne Modifikation übernommen. So sei eine Umgehung anzunehmen, wenn eine Gestaltung gewählt werde, die - gemessen am erstrebten Ziel - unangemessen sei, der Steuerminderung dienen solle und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe nicht zu rechtfertigen sei. Eine Gestaltung sei zwar nicht deshalb unange-
623 Krit. zum Erfordernis einer Mißbrauchsabsicht über den objektiven Tatbestand hinaus: Meine, Hans-Gerd, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, wistra 1992, 81,83. 624 Wagner, Klaus, Gewerbliche Zwischenvermietung ist keine strafbare Steuerumgehung, wistra 1989, 321, 323; nunmehr zustimmend auch Krause, Martin, Strafrechtliche Aspekte des Dividendenstrippings, wistra 1998, 201, 207. 625 Pütz, Johannes, Strafbare Steuerumgehung bei der gewerblichen Zwischenvermietung, wistra 1988, 201,202. BVerfG Beschl. v. 07. 11. 1995 - 2 BvR 802/90, BStBl I I 1996, 34, 36.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
messen, weil sie allein aus steuerlichen Gründen gewählt wurde. Das Gericht führt aus: 627 „Sie ist es aber dann, wenn verständige Parteien sie in Anbetracht des wirtschaftlichen Sachverhalts, insbesondere des erstrebten wirtschaftlichen Ziels nicht wählen würden oder wenn durch einen ungewöhnlichen Weg ein steuerlicher Erfolg erreicht werden soll, der bei sinnvoller, Zweck und Ziel der Rechtsordnung berücksichtigender Auslegung vom Gesetz mißbilligt wird."
Der spezifisch steuerstrafrechtliche Vorwurf liegt in den Augen der Richter sodann im Unterlassen von Angaben oder in deren Unvollständigkeit, so daß es der Finanzbehörde unmöglich gemacht werde zu überprüfen, ob das vom Angeschuldigten entwickelte Steuermodell steuerrechtlich Bestand haben könnte. Ein Meilenstein in der Rechtsprechung zu § 42 AO und seinem Verhältnis zum Steuerstrafrecht ist die Entscheidung des LG Frankfurt. 62* Der Steuerpflichtige wurde beschuldigt, als Geschäftsführer einer Handelsgesellschaft mbH Körperschaftssteuer und Gewerbesteuer hinterzogen zu haben. Unter anderem sollte dies durch Gewinnverlagerungen ins niedrig besteuerte Ausland (d. h. Steueroasen) unter Einschaltung einer Basisgesellschaft (Briefkasten-, Domizil- oder Sitzgesellschaft) geschehen sein. Das Gericht beruft sich dabei auf die Grundsätze des Bundesfinanzhofes zur rechtsmißbräuchlichen Zwischenschaltung.629 Das LG folgt zwar der oben angeführten Rechtsprechung des BGH, 630 wonach der Tatbestand der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 AO auch im Falle von Gewinnverlagerungen in das niedrig besteuernde Ausland unter Einschaltung von Basisgesellschaften hinreichend bestimmt ist. Dies gilt jedoch jedenfalls dann nicht mehr, wenn die steuerstrafrechtliche Auslegung nicht mehr auf konkrete Grundsätze der Steuerrechtsprechung für eine festumschriebene Fallgruppe wie der hier angesprochenen Steueroasenrechtsprechung zurückgreifen kann. Der Steuerhinterziehungstatbestand im Grenzbereich zur Steuerumgehung entspricht dann jedoch nicht den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Eingriffe, weil eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung auf der Grundlage lediglich allgemeiner Grundsätze zu § 42 AO beruht. Das LG beruft sich hierbei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, 631 die von der richterlichen Auslegung fordert sicherzustellen, daß die vom Gesetzgeber den Tatbestandsmerkmalen zugedachte Funktion auch erfüllt wird. Die Auslegung darf danach die Unbestimmtheit von unvermeidlich vagen Strafnormen nicht noch weiter erhöhen. Der Steuerrechtsprechung wirft das LG vor, daß die Unbestimmtheit der Tatbestandsmerkmale des § 42 AO und die „leerformelhafte abstrakte Ausle627 OLG Karlsruhe Beschl. v. 18. 08. 1993 - 3 Ws 16/93, wistra 1993, 308, 309. 628 LG Frankfurt vom 28. 03. 1996 - 5 /13 KLs 94 Js 36385 / 88, wistra 1997, 152, 153. 629 Zu dieser Fallgruppe im einzelnen: Brockmeyer, Hans Bernhard, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 42, Anm. 9 c) m. w. N. auf die Rechtsprechung des BFH. 630 BGH v. 27. 01. 1982-3 StR 217/81, wistra 1982, 108, 109. 631 Beschl. v. 10. 01. 1995 - 1 BvR 718, 719, 722, 723/89, BVerfGE 92, 1, 1 ff.
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gung" durch die Finanzrechtsprechung „keine verläßliche Orientierung über die Grenzen von zulässiger Steuerersparnis und unerlaubter Steuerumgehung ermögliche." 6 3 2
g) Vergleich mit der Rechtsprechung im Subventionsrecht Das OLG Koblenz kam zu einer Verurteilung wegen § 6 Abs. 1 StAnpG in einem Verfahren wegen Betruges. 633 Gemäß § 5 Abs. 6 InvZulG sind steuerliche Vorschriften entsprechend anzuwenden. Daher wurde zur Streitfrage, ob auch § 6 des damals geltenden StAnpG zur Anwendung kommt. In Abweichung von Stimmen der Literatur, das Gericht benennt Tiedemann, Stree und Kohlmann /Brauns, sei seiner Ansicht nach das Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG eingehalten. Das Gericht stellt schließlich fest: „ . . . ist vielmehr in der entsprechenden, in § 6 Abs. 1 StAnpG getroffenen Regelung eine sichere Gewähr für die Einhaltung des strafrechtlichen Analogieverbotes und des Gebots der Bestimmtheit strafrechtlicher Normen gegeben."
4. Literaturmeinungen
a) Begriff der Angemessenheit Über die Auslegung der Umgehungsvorschrift des § 42 AO herrscht im Schrifttum seit langem eine Kontroverse. Es konnte bislang keine Einigkeit darüber erzielt werden, ob nur rechtsgeschäftliche Gestaltungen mißbräuchlich sein können, oder aber ob bereits ein nur tatsächliches Verhalten eine mißbräuchliche Gestaltung begründen kann. 634 Da der gesetzliche Tatbestand keine Umschreibung dafür enthält, wann eine Gestaltung mißbräuchlich ist, besteht Unsicherheit darüber, woran die „Unangemessenheit" einer Gestaltung zu messen ist. Hierfür soll einem „ungewöhnlichen Weg" eine Indizwirkung zukommen, wenn auch manche zunächst ungewöhnliche Gestaltung wie etwa die GmbH & Co KG im Laufe der Jahre ihre Ungewöhnlichkeit verloren hatte. 635 Dem BFH wird vorgeworfen, daß er durch das Kriterium der „ Ungewöhnlichkeit" mehr Verwirrung als Klarheit geschaffen hat. 6 3 6 Zum Teil wird die Ansicht geäußert, daß eine Gestaltung nicht al632 Die Entscheidung fand in der Literatur Zustimmung, vgl. Vogelberg, in: Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 11. 6 33 OLG Koblenz Urt. v. 04. 02. 1980 - 2 Ss 9/80, JZ 1980, 736, 737. 634
Claus-Arnold,
Abi. Blencke, Hans, Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen, S. 208. Kottke, Klaus, Das unechte Tatbestandsmerkmal des ungewöhnlichen Weges in § 42 Abgabenordnung, BB 1983, 1146, 1147 f. 636 Giemulla, Elmar, Die Haftung des Steuerberaters bei unzulässiger Steuervermeidung, DStZ 1982, 20, 21 f. 635
18 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
lein deshalb mißbräuchlich sei, weil sie nur aus steuerlichen Motiven gewählt wurde. 6 3 7 Vielmehr gebe § 42 AO den Finanzbehörden kein Recht zu prüfen, ob ein wirtschaftlicher Vorgang angemessen sei oder nicht. Es müsse nicht jeder Fall der Umgehung eines Steuergesetzes steuerpflichtig sein. 638 Begrifflich wohl am überzeugendsten wird gearbeitet, wenn in Anlehnung an den anglo-amerikanischen Rechtskreis 639, das Wesen der Mißbrauchsqualifikation in der mangelnden Kongruenz von wirtschaftlich Beabsichtigtem und Verwirklichtem („substance ") und dafür verwendeter rechtlicher Gestaltung („form") gesehen wird. 6 4 0 Einzelne Autoren 641 wollen ein Grundrecht auf Steuervermeidung herleiten, welches zum Maßstab einer Mißbräuchlichkeit werden soll. Denn es dürfe jeder seine Verhältnisse so regeln, daß er möglichst wenig Steuern zu zahlen habe. Dieser Vorschlag kann nicht überzeugen. Ein Grundrecht auf Steuervermeidung ist überflüssig, weil jeder Steuerzugriff einen Eingriff in die Grundrechte des Steuerbürgers bedeutet, der eine Rechtfertigung verlangt. Ein Grundrecht auf Steuervermeidung hätte daneben keinen eigenständigen Regelungsgehalt.
b) Rechtsnatur des §42 AO Zudem ist die Rechtsnatur des Gestaltungsmißbrauches in der steuerlichen Literatur umstritten: Einigkeit besteht noch darüber, daß § 42 AO ein Musterbeispiel eines unbestimmten Rechtsbegriffes darstellt, dessen Regelungsgehalt sich aus dem Gesetzeswortlaut nur unvollkommen erschließt. 642 Teilweise hält man einen Rückgriff auf § 42 AO für entbehrlich, wenn bereits die Auslegung anhand des von der Rechtsprechung entwickelten Fremdvergleichs weiterhilft. 643 Nach anderer Ansicht handelt es sich bei § 42 AO um kein Problem der Auslegung, insbesondere nicht aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise. § 42 AO komme erst dann zur Anwendung, wenn die Auslegung auf die Grenze des Wortlautes gestoßen ist. Der Anwendungsbereich des § 42 AO sei daher weit637 Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, § 42 AO, Tz. 14. 638 Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117, 124. 639 Hierzu ausführlich siehe unten, Fünftes Kapitel: § 2D »Angelsächsischer Rechtskreis" auf S. 408 ff. 640 Zustimmung verdient daher Höppner, Horst-Dieter, Deutsche steuerliche Mißbrauchsvorschriften und das Gemeinschaftsrecht, S. 305, 310. 641 Stahl, Rudolf, Die steuerlichen und strafrechtlichen Aspekte des Gestaltungsmißbrauches, StraFo 1999, 223, 224. Zuvor schon Felix, Günther, Streifzug durch die jüngste BFHRechtsprechung zur Steuerumgehung, KÖSDI1997, 11140, 11141. 642 So etwa Höppner, Horst-Dieter, Deutsche steuerliche Mißbrauchsvorschriften und das Gemeinschaftsrecht, in: FS f. Albert J. Rädler, S. 305,310. 643 Hoffmann, Ralph, in: Koch/Scholtz, Abgabenordnung, § 42 AO, Rn. 3.
§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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aus kleiner als gemeinhin angenommen. Er sei eine deklaratorische Befugnis zur analogen Anwendung belastender Steuervorschriften und zur teleologischen Reduktion begünstigender Steuernormen. 644 Die Steuerumgehung wird dabei als Unterfall der Gesetzesumgehung verstanden. Es wird außerdem behauptet, § 42 AO verlange eine gedankliche Umgestaltung des Sachverhaltes, nicht hingegen des Steuergesetzes.645 Diese Sachverhaltsfiktion sei nicht mit einer Analogie gleichzusetzen, da § 42 AO eigene Tatbestandsvoraussetzungen aufstelle und somit nur bei deren Vorliegen angewendet werden könne. 646 Der Begriff des Mißbrauches von Gestaltungsmöglichkeiten müsse demzufolge eher als Nichtgebrauch der vom Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der Verkehrsauffassung für „typisch" gehaltenen rechtlichen Gestaltungen zur Erreichung bestimmter wirtschaftlicher Ziele definiert werden. 647 Kritisch ist anzuführen, daß das Verhalten, mit dem der Steuerpflichtige einen Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten verwirkt, damit nicht durch Ähnlichkeitsüberlegungen gefunden, sondern vom Richter selbst konkret umschrieben wird. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sowohl bei der Sachverhaltsumgestaltung wie auch bei der Analogie die Garantiefunktion des Steuertatbestandes durchbrochen wird ,648 Die so verwendete Methodik verkommt zur rhetorischen Figur. Andere Teile der Literatur sehen in § 42 AO nichts anderes als einen normierten Teilbereich der teleologischen Auslegungsmethode,649 und zwar einen Fall der wirtschaftlichen Betrachtungsweise. Als Teil der Auslegung sei § 42 AO dann an die Wortlautgrenze gebunden. Eine einfachgesetzliche Ermächtigung zu Analogieschlüssen könnte nämlich entgegen dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Gesetzesvorbehalt des Art. 20 Abs. 3 GG aufgrund des Vorrangs der Verfassung schon im Steuerrecht verfassungsrechtlich keinen Bestand haben. 650 Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß eine einfachgesetzliche Ermächtigung zu Analogie644 Fischer, Peter, Die Umgehung des Steuergesetzes, DB 1996, 644, 647. 645 So auch Jachmann, Monika, Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und Steuerumgehung, JA 1995, 511, 513. Ferner: Kottke, Klaus, Zulässige Steuergestaltung oder unzulässige Steuerumgehung?, LSW Heft 6/94, Gruppe 5, S. 93, 94. 646 Crezelius, Georg, Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 227. 647 Bruns, Hans-Jürgen, Zur strafrechtlichen Relevanz des gesetzesumgehenden Täterverhaltens, GA 1986, 1, 10. 648 Papier, Jürgen, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 199. 649 Weber-Grellet, Heinrich, a. a. O. (Fn. 675), StuW 1993, 195, 212; a. A. jedoch Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117, 125, der § 42 AO als gesetzlich fixierte Analogiemöglichkeit begreift. Ihm ist aber zuzustimmen, daß § 42 AO häufig dadurch umgangen wird, daß der Mißbrauchstatbestand durch die Berufung auf die wirtschaftliche Betrachtungsweise häufig umgangen wird, und somit nicht einmal die ohnehin sehr offenen Tatbestandsmerkmale des § 42 AO beachtet werden. 650 in diesem Sinne auch Papier, Jürgen, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 188. 1
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Schlüssen im Steuerstrafrecht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG erst recht unzulässig ist, da dieser noch strengere Anforderungen stellt. Hieran ändert schließlich der Umstand nichts, daß die Analogiebildung über § 42 AO begrenzt ist auf Fälle des Mißbrauches, das heißt unangemessene Rechtsgestaltungen. Denn das Analogieverbot bezieht sich in gleichem Maße auf inhaltlich begrenzte Analogieschlüsse, die die Umgehungsvorschrift zuläßt. 651 Auch das Demokratieprinzip wird verstärkend herangezogen, 652 um verfassungsrechtlich zu begründen, warum es dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muß, den Kreis der steuerbaren Tatbestände zu bestimmen, soweit § 42 AO an die Grenze des Wortsinnes gebunden sein muß. Eine durch offensichtliche Fehler des Steuergesetzgebers möglich werdende Gesetzesumgehung kann nicht durch eine Umgehungsvorschrift ausgeschlossen werden. Gesetzliche Wertungswidersprüche und Gesetzeslücken geben keine Rechtfertigung dafür, mit § 42 AO im Wege einer unbegrenzten Auslegung in den rechtsfreien Raum einzudrängen. 653 Es wird jedoch auch die Gegenmeinung vertreten, daß § 42 AO deshalb nichts anderes als die Ausfüllung von Gesetzeslücken darstelle und demzufolge einen Sonderfall der Analogie betreffe. 654 Vereinzelt wird § 42 AO daher für entbehrlich gehalten, weil allein zu entscheiden sei, ob ein Tatbestand erfüllt sei oder nicht. 655 Überwiegend wird diese Ansicht abgelehnt,656 was auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, daß nach früher vorherrschender Auffassung eine steuerverschärfende Analogie unzulässig war, man aber gleichzeitig die Notwendigkeit sah, bestimmte Umgehungsfälle zu verhindern. Dieser Meinungsstreit ist für das Steuerstrafrecht jedoch mit weittragenden Konsequenzen verbunden. 657 Da die Bekämpfung der Steuerumgehung eine verfassungsgemäße Aufgabe von Gesetzgebung und Verwaltung sei, soll nach einer weiteren Ansicht § 42 AO ver651 Dagegen a. A. Papier, Jürgen, a. a. O. (Fn. 650), S. 189. 652 Klein, Martin, Die nicht „angemessene rechtliche Gestaltung" im Steuerumgehungstatbestand des § 42 AO, S. 27. 653 Flick, Hans, Mißbrauchsgesetzgebung contra Steuerumgehung, FS f. Franz Klein, S. 329, 355. 654 Papier, Jürgen, a. a. O. (Fn. 648), S. 188. 655 Danzer, Jürgen, Die Steuerumgehung, S. 106. 656 Kottke, Klaus, Das unechte Tatbestandsmerkmal des ungewöhnlichen Weges in § 42 Abgabenordnung, BB 1983, 1146, 1146. 657 Dagegen a. A. aber Ulmer, Eckhart, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, DStZ 1986, 292, 293. Unerfindlich ist, warum nach Ulmer der Meinungsstreit keine praktische Bedeutung habe, weil § 42 AO die gesetzliche Grundlage für eine steuerverschärfende Lückenschließung sei. Analogie und Gestaltungsmißbrauch haben nicht dieselben Voraussetzungen. Während Analogie eine planwidrige Gesetzeslücke voraussetzt, verlangt § 42 AO nach einer unangemessenen, durch außersteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigende Gestaltung. Weiterhin stellt sich verfassungsrechtlich die Frage, ob der einfache Steuergesetzgeber durch ein einfaches Gesetz wie § 42 AO verfassungsrechtliche Anforderungen eines Gesetzesvorbehaltes überspielen kann.
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fassungsrechtlich unbedenklich sein. 658 Unbestritten ist, daß durch das Bundesverfassungsgericht die Bekämpfung der Steuerumgehung als legitimes Ziel des Gesetzgebers anerkannt wurde. Eine Freizeichnung von den übrigen Geboten der Verfassung ist dies freilich nicht. Unbeantwortet bleibt hiernach, auf welche Verfassungsnorm sich das Interesse „Bekämpfung der Gesetzesumgehung" stützen ließe. In Betracht käme allein das Prinzip der Lastengleichheit der Besteuerung nach Art. 3 Abs. 1 GG, welches eine Erstreckung des Tatbestandes auf vergleichbare Sachverhalte fordern könnte. 659 Will man einen Einfluß der Lastengleichheit der Besteuerung anerkennen, so kann eine Kollision der entgegenstehenden Verfassungsprinzipien, Gleichmäßigkeit und Gesetzesvorbehalt, nicht dahingehend gelöst werden, daß der Gesetzesvorbehalt vollkommen leerläuft. Es kann weiterhin nicht übersehen werden, daß gerade Lastengleichheit in der Besteuerung Gesetzmäßigkeit voraussetzt. Innerhalb der Wortsinngrenze des bestehenden Gesetzes ist eine verfassungskonforme Auslegung im Hinblick auf Gleichmäßigkeit anzustreben. Darüber hinaus ist zu differenzieren: Ist das Steuergesetz nur contra legem zu einer der Lastengleichheit Rechnung tragenden Regelung zu korrigieren, so ist Verfassungswidrigkeit des in Rede stehenden Gesetzes die Folge. Damit entlarvt sich der verfassungsgemäße Auftrag zur Bekämpfung der Gesetzesumgehung als Überstrapazierung der verfassungskonformen Auslegung. Wie noch zu zeigen sein wird, spitzt sich die Problematik bei einer Übertragung in das Steuerstrafrecht weiter zu. Ist das Steuergesetz praeter legem zu einer der Lastengleichheit gerechten Regelung auszulegen, so handelt es sich letztendlich um eine Analogie. Bejaht man deren Zulässigkeit im Steuerrecht, so erscheint § 42 AO überflüssig. Die Vorstellung, daß bei § 42 AO nicht der Gesetzestatbestand erweiternd ausgelegt wird, sondern vielmehr der Sachverhalt aufgrund seines wahren wirtschaftlichen Gehaltes so umgestaltet wird, daß er unter den gesetzlichen Tatbestand paßt, ist rhetorisch brillant, in der Sache jedoch eine Verschleierung des wahren rechtlichen Gehaltes des Gestaltungsmißbrauchstatbestandes.
c) Konsequenzen für das Steuerstrafrecht
aa) Anwendbarkeit des § 42 AO im Steuerstrafrecht Neben der Rechtsnatur des § 42 AO selbst sind auch die aus der Vorschrift für das Steuerstrafrecht zu ziehenden Konsequenzen Gegenstand der Kontroverse. Zunächst wird die Vorfrage erörtert, ob § 42 AO im Steuerstrafrecht überhaupt Anwendung finden kann. 658 Fischer, Peter, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO, Rn. 22. 659 So vertreten von Birk, Dieter, Steuerrecht, Rn. 317. Birk stellt die Lastengleichheit allein der Rechtssicherheit aus Art. 20 Abs. 3 GG gegenüber. Dies greift jedoch zu kurz.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Dies wird vielfach bejaht, ohne daß eine eingehende Befassung mit der Problematik stattfindet, zum Teil beschränkt man sich darauf, der Rechtsprechung des BGH ohne Begründung beizupflichten. 660 Ransiek vertritt den Standpunkt,661 daß die durch Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Eindeutigkeit sich ihrem Inhalt nach an Sinn und Zweck des jeweiligen Fachgesetzes orientiere. Wann nämlich eine Steuerverkürzung und steuererhebliche Tatsachen vorlägen, richte sich allein nach den Normen des Steuerrechts selbst, das Strafrecht könne hier keine Antwort bieten. Der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gebots aus Art. 103 Abs. 2 GG beschränke sich auf die strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale des § 370 AO. Da im Steuerrecht selbst die Anwendung einer Umgehungsvorschrift zulässig sei, müsse dies auf den Blankettatbestand des § 370 AO übertragen werden. Diesem Ansatz ist die Gefolgschaft zu versagen. Er führt dazu, daß sich der Gesetzesanwender des Analogieverbotes einfach dadurch entledigen kann, daß er die ausfüllenden Steuernormen extensiv auslegt. Demgegenüber hält ein anderer Teil der Literatur eine auf § 42 AO gestützte Verurteilung für ausgeschlossen.662 Jedenfalls, so wird argumentiert, liege zu § 42 AO keine ständige, gefestigte Rechtsprechung vor, die einem unscharf formulierten Steuergesetz die erforderliche Bestimmtheit geben könnte. Rüping vertritt die Ansicht, daß die drei in der 5G//-Entscheidung vom 27. 01. 1982 zu § 42 AO angeführten /^//-Entscheidungen keine hinreichend gefestigte Rechtsprechung darstellten, als daß die notwendige Bestimmtheit gewährleistet wäre. 663 Eine auf das Merkmal der „Unangemessenheit" nach § 42 AO gestützte Verurteilung wegen Steuerhinterziehung hätte generalklauselartigen Charakter und verstieße gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 6 6 4
bb) Abgrenzung von Steuerumgehung und Steuerhinterziehung Nach einer Ansicht unterscheiden sich Steuerumgehung und Steuerhinterziehung deutlich voneinander, weil der Steuerumgehende lediglich die Unvollkommenheiten des Gesetzes auszunutzen versuche, der Steuerhinterzieher verstoße hingegen nicht nur gegen Sinn und Zweck, sondern gegen den Wortlaut des Gesetzes. 665 Folgt man dieser Auffassung, so ist eine Steuerhinterziehung durch Umgehung schon begrifflich nicht möglich.
660 Fischer, Peter, a. a. O. (Fn. 658), § 42 AO, Rn. 25. 661 Ransiek, Andreas, Gesetz und Lebenswirklichkeit: das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, S. 106 f. 662 in diesem Sinne Schulze-Osterloh, Joachim, Unbestimmtes Steuerrecht und strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, S. 62 f. 663 Rüping, Hinrich, „Bestimmtes" Strafrecht und „unbestimmtes" Steuerrecht, S. 134. 664 Giemulla, Elmar, Die Haftung des Steuerberaters bei unzulässiger Steuervermeidung, DStZ 1982, 20, 23.
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Im übrigen Schrifttum werden schließlich die für den Steuerpflichtigen sich ergebenden Erklärungspflichten im Rahmen von mißbräuchlichen Gestaltungen diskutiert. Nach einzelnen Stimmen ist der Steuerpflichtige schon bei Abgabe der Steuererklärung verpflichtet, alle Tatsachen anzugeben, aus denen sich Zweifel an der Anerkennung ergeben können. 666 Es hat sich jedoch bei den Vertretern dieser Richtung die Meinung durchgesetzt, daß der Steuerpflichtige dann jedenfalls auch wegen § 42 AO nicht bestraft werden könne, wenn er mit „offenem Visier" kämpfe und wesentliche Umstände nicht verheimliche. 667 Verheimlichung und Verschleierung sei also das wesentliche Merkmal strafbarer Steuerumgehung. 668 Der Steuerpflichtige müsse einerseits die Absicht der Steuerumgehung besitzen und sich dabei im klaren darüber sein, daß seine Gestaltung steuerlich nicht anzuerkennen sei, und andererseits müsse sich der Täter bewußt sein oder für möglich halten und billigend in Kauf nehmen, daß er eine steuerliche Offenbarungspflicht verletzt und hierdurch die Finanzbehörde an der Aufdeckung des Gestaltungsmißbrauches hinde«. 6 6 9 Diese Meinung befriedigt jedoch nicht, da dem Steuerpflichtigen kaum zugemutet werden kann bei der veranlagenden Finanzbehörde nachzufragen, ob sie denn nicht in seinen steuerlichen Verhältnissen einen Gestaltungsmißbrauch erblicken könne, weil doch bestimmte Umstände dafür sprechen könnten. Bei einer solchen Darlegung sind rechtliche und tatsächliche Ausführungen nicht zu trennen, da sie allein unverständlich wären. Im Ergebnis wäre dem Steuerpflichtigen auferlegt, rechtliche Gegenargumente zu der von ihm in der Steuererklärung zugrunde gelegten Rechtsauffassung gleich mundgerecht mitzuliefern. Eine solche Pflicht ist mit dem Grundsatz eines rechtsstaatlich gebotenen fairen Verfahrens nicht zu vereinbaren. Schließlich kommt hinzu, daß ein Steuerpflichtiger die Vollständigkeit seiner Angaben nur dann richtig einschätzen kann, wenn er die Rechtslage kennt. 670 Gerade an dieser Erkennbarkeit fehlt es aber bei § 42 AO für den Steuerpflichtigen. Deswegen ist die in Literatur und Rechtsprechung stereotyp wiederholte Formel, wonach der Steuerpflichtige den Sachverhalt nicht verschleiern dürfe und dem Fi-
665 Poepel, Hans-Dirck, Steuerumgehung im Spannungsfeld zwischen Abgabenordnung und Außensteuergesetz, S. 21 f. 666 Angeführt bei Blumers, Wolfgang, Steuerberatung und Strafrecht - Grenzbereich zu strafrechtlich relevantem Verhalten, StBJb 1983/84, 319, 351. 667 Hofmann, Ruth, in: Kühn /Hofmann, Abgabenordnung, § 42, Anm. 6 b); Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan / Joecks, § 370 AO, Rn. 139; Giemulla, Elmar, Die Haftung des Steuerberaters bei unzulässiger Steuervermeidung, DStZ 1982, 20,24. 668 So schon Härtung, Fritz, Steuerstrafrecht, § 396 AO (a. F.), Anm. 4.); Troeger, Heinrich, Steuerstrafrecht, § 396 AO, Anm. 14 b); Suhr, Gerhard, Steuerstrafrecht, Rz. 47.; Hoffmann, Ralph, in: Koch/Scholtz, Abgabenordnung, § 42, Rn. 9.
669 Debatin, Helmut, Das Steuerstrafrecht im allgemeinen Rechtsbewußtsein, in: Wirtschaftskriminalität S. 51, 57. 670 Auf diesen Umstand weist zutreffend hin: Stahl, Rudolf, Die steuerrechtlichen und strafrechtlichen Aspekte des Gestaltungsmißbrauchs, StraFo 1999, 223,225.
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nanzamt alle zur Entscheidung notwendigen Angaben machen müsse, nicht zu Ende gedacht. Nach einer dritten Ansicht ist der Steuerpflichtige lediglich auf ausdrückliches Befragen hin verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, sofern er selbst § 42 AO nicht für einschlägig erachtet. 671 Alternative Ansätze sind in den Steuererklärungsvordrucken regelmäßig nicht verlangt. Vielmehr ist der Steuerbürger nicht verpflichtet, von sich aus zweifelhafte Gestaltungen ausdrücklich offenzulegen, sofern die von ihm in der Steuererklärung enthaltenen Zahlen auf einer Subsumtion beruhen, die er für vertretbar halten konnte. 672 Solange das Besteuerungsverfahren es zuläßt, Angaben der Steuererklärung erst im Rahmen einer Betriebsprüfung Jahre später zu überprüfen, so kann dies, insbesondere strafrechtlich nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen gereichen. 673
5. Stellungnahme
Ob zur Bekämpfung der Steuerumgehung der Steuertatbestand praeter legem analog angewandt wird auf einen Sachverhalt, der an sich nicht unter die gesetzliche Formulierung fällt, oder aber ob der Subsumtion nicht der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt zugrundegelegt wird, sondern ein anderer unter das Gesetz passender mit der Begründung, der Steuerpflichtige hätte eigentlich diesen erreichen wollen, ist ein Streit um Worte. Soweit ein solcher Fall strafrechtliche Relevanz erlangt, ist zu prüfen, ob das Analogieverbot verletzt ist. Dies wird im Steuerstrafrecht regelmäßig der Fall sein. Der Steuerpflichtige hat das Recht, seine steuerlichen Verhältnisse so einzurichten, daß er möglichst wenig Steuern zu bezahlen hat. Bei schwierigen und komplexen wirtschaftlichen Beziehungen wird er hierzu professionelle Hilfe heranziehen. Die Steuergestaltungsberatung ist auf Rechtssicherheit angewiesen. Ihr kann nicht zugemutet werden, daß Gestaltungen überraschend als mißbräuchlich, unter Umständen gar als Steuerhinterziehung qualifiziert werden. Daher ist von folgenden Überlegungen auszugehen: Grundsätzlich als geklärt anzusehen ist die Frage, ob die Steuerumgehung gemäß § 42 AO als solche strafbar ist. Sie ist es nicht. Dies hat der BGH 614 mit Recht verneint, da es zivilrechtlich den Beteiligten freigestellt ist, wie sie ihre Rechtsbeziehungen im Rahmen der Privatautonomie regeln wollen, sie können dies auch
67 1
Wannemacher, Wolf gang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 43. Meilicke, Wienand, Wird das Steuerstrafrecht für die Steuerpraxis zum russischen Roulette?, BB 1985, 1885, 1889. 67 3 Ulmer, Eckhart, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, DStZ 1986, 292, 296. 67 2
™ Urt. v. 24. 08. 1983 - 3 StR 89/83, BGHSt 32, 60, 64.
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auf ungewöhnliche Weise tun. § 42 AO enthält kein moralisches Unwerturteil, denn er umfaßt für sich genommen kein subjektives Fehl verhalten. 675 Die frühere Rechtsprechung des BFH hat dies selbst deutlich herausgestellt, indem sie ausführt, daß § 42 AO nur die technische Lösung des Konflikts zwischen dem Wortlaut und der der Norm zugrundeliegenden Wertung darstellt. Es werde hierdurch dasselbe Ergebnis wie mit einer Analogie erzielt, die Begriffe „Mißbrauch" und „Umgehung" dienten keiner moralischen Wertung des Verhaltens, sondern der Eingrenzung der Zulässigkeit dieser verdeckten Analogiebildung. 676 Im materiellen Steuerrecht geht es weder um Gebote noch um Verbote, die umgangen würden. Vielmehr handelt es sich um Tatbestandsvermeidung. Da jedoch niemand gezwungen ist, einen Steuertatbestand zu erfüllen, kann anders als bei der Umgehung einer Verbotsnorm nicht von einem anstößigen Verhalten die Rede sein. 677 Moralische Wertungen scheiden hier aus. 678 Eine andere Frage ist es aber dann, ob diese Regelungen steuerlich anerkannt werden. Hierzu liegt eine kasuistische Rechtsprechung des BFH vor, in der sich jedoch einzelne Fallgruppen ausmachen lassen. Nach Ansicht des BGH 67 9 ist wie zuvor ausgeführt das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot nicht tangiert, da diese einzelfallbezogene Finanzrechtsprechung der Vorschrift des § 42 AO hinreichende Konturen gegeben habe. 680 Hiervon geht das Gericht immer dann aus, wenn die Voraussetzungen einer „anerkannten Fallgruppe" vorliegen. Diesem Verständnis folgend könnte die Steuerumgehung zu einer Strafbarkeit führen, wenn sie in einem unlösbaren unmittelbaren Zusammenhang mit einer strafbaren Täuschung der Finanzbehörde über die steuererheblichen Tatsachen steht. 681 Das sei dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige die mißbräuchliche Gestaltung verschleiert. Dieser Standpunkt der Rechtsprechung hingegen kann kaum überzeugen, handelt es sich bei § 42 AO doch um eine wegen ihrer Unschärfe umstrittensten Vorschriften des gesamten Steuerrechts, die keineswegs durch eine am Einzelfall orientierte Rechtsprechung präzisiert wird. Bezüglich der als „hinreichend" bezeichneten Konturen ist festzustellen, daß aus den von der Rechtsprechung entschiedenen Einzelfällen läßt sich nicht mit Sicherheit sagen läßt, ob ein bestimmter Tatbestand noch unter die Besteuerung fällt oder nicht. Die wechselnden Definitionen der Rechtsprechung besitzen „Leerformel"-Charakter, die praktische Anwendung ist reine Kasuistik. Die Schwäche der 675 Weber-Grellet, Heinrich, Tendenzen der BFH-Rechtsprechung, StuW 1993, 195, 211. 676 BFH Urt. v. 13. 02. 1980 - H R 18/75, BStBl I I 1980, 364, 365. 67 7
Walz, Rainer, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 225. 678 Ulmer, Eckhart, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, DStZ 1986, 292, 294. 679 BGH v. 27. 1. 1982-3 StR 217/81, wistra 1982, 108. 680 Gribbohm, Günter/ Utech, Hans, Probleme des allgemeinen Steuerstrafrechts, NStZ 1990, 209, 209. 681 Urt. a. a. O. (Fn. 674), BGHSt 32, 60, 64.
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Argumentation des BGH wird auch von Befürwortern dieser Rechtsprechung eingeräumt. 682 Hinzu kommt, daß sich die Rechtsprechung zu den Fallgruppen des § 42 AO im Laufe der Jahre zumindest graduell geändert hat. Wenn schon Steuerexperten eine Einschätzung nicht möglich ist, so fehlt es für den steuerlichen Laien an dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Voraussehbarkeit und Meßbarkeit staatlichen Handelns im grundrechtsrelevanten Bereich. Nicht ohne Grund hat es die Strafgerichtsbarkeit in keinem einzigen veröffentlichten Urteil bis zur Entscheidung des BGH vom 27. Ol. 1982 gewagt, eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung auf § 42 AO zu stützen, obgleich die Vorschrift aufgrund ihrer weiten Formulierung bei nahezu jeglicher steuerlicher Gestaltung im Raum steht. Bezeichnenderweise ist obendrein die Finanzverwaltung nicht bereit, über das Vorliegen eines Gestaltungsmißbrauchs vor Verwirklichung des Sachverhaltes und vor Abschluß der Veranlagung verbindliche Auskunft zu erteilen. 683 Dies wird damit begründet, daß die Finanzverwaltung an Gestaltungen, die erhebliche „Steuerausfälle" mit sich bringen könnten, nicht auch noch mitwirken wolle, somit bei solchen Konstellationen das Anerkennungsrisiko dem Steuerpflichtigen aufgebürdet werden solle. 684 Das Ausloten von Gesetzeslücken solle einer abschließenden Beurteilung im Veranlagungsverfahren und der späteren Betriebsprüfung vorbehalten bleiben. Ein „Steuerausfall" kann tatsächlich nur dort zu beklagen sein, wo ein Steueranspruch erst bestanden hat. Wer dem Steuerpflichtigen das Recht zugesteht, seine steuerlichen Verhältnisse so zu ordnen, daß er möglichst wenig Steuern zu zahlen hat, kann nicht andererseits darauf hoffen, daß dieser die Rechtslage falsch einschätzt und einen steuerlichen Tatbestand verwirklicht. Die Steuergesetze sind so zu gestalten, daß wirtschaftliche Leistungsfähigkeit den Ansatz zur Besteuerung gibt und nicht die falsche Beurteilung der Rechtslage. Erscheint dies im Steuerrecht für einen Rechtsstaat schon bedenklich, so ist ein solcher Zustand im Steuerstrafrecht unhaltbar. Der Steuerstaat „weiß" selbst noch nicht, ob ein Verhalten unter das Gesetz fällt und möchte sich die Entscheidung bis zu einem späteren Veranlagungsverfahren oder zur Betriebsprüfung aufheben. Art. 103 Abs. 2 GG wird ad absurdum geführt. Selbst wenn die Vorschrift des § 42 AO durch die Rechtsprechung klare Konturen erhalten hätte, ist damit noch nicht gesagt, daß das Vorhandensein einer Judikatur dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügt, 685 jedenfalls aber führt 682
So Joecks, Wolfgang, in: Franzen / Gast-de Haan/Joecks, § 370 AO, Rn. 140, ebenso vor ihm Samson, Erich in der Vorauflage. 683 BMF Schreiben v. 24. 06. 1987 - I V A 5 - S 0430 - 9/87, BStBl 1 1987, 474, stellt die Erteilung einer Auskunft der Finanzbehörde mit Bindungswirkung nach Treu und Glauben in das Ermessen des Finanzamts und schließt Auskünfte über die Grenzen eines Gestaltungsmißbrauches von vornherein aus. 684 Kaligin, Thomas, Der Auskunftserlaß vom 24. 6. 1987, DStZ 1988, 367, 368. 685 Pieroth, Bodo, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 103 GG, Rn. 22.
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sie zu unzulässigen Analogien. Letztlich fordert schon der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, daß dieses aus dem „Diktum des Gesetzgebers " lebt. 6 8 6 Für das strafrechtliche Analogieverbot können keine geringeren Anforderungen gelten. Das Steuerstrafrecht lebt erst recht aus dem „Diktum des Steuerstrafgesetzgebers". Gefragt ist also nicht das Vorhandensein einer Judikatur, sondern eine Äußerung des Gesetzgebers. Im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ist diese Unterscheidung nicht ohne Belang. Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verbietet demzufolge eine Verurteilung eines Steuerbürgers aufgrund des Umgehungsverbots des § 42 AO, selbst wenn zu dieser Bestimmung bereits Konturen vermittelnde Gerichtsentscheidungen ergangen sind, weil es gerade im strafrechtlichen Grenzbereich der Umgehung auf das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit ankommt. 687 Der die Gesetzlichkeit ergänzende und nah verwandte 688 Zweifelssatz „ in dubio pro reo " dagegen kann hier nicht eingreifen, weil sein Anwendungsbereich ausschließlich tatsächliche Zweifel einschließt.689 Hier aber geht es um Zweifel in der rechtlichen Beurteilung. Der Schutz des Steuerpflichtigen ist deshalb ausschließlich, aber gerade durch das Analogieverbot zu gewährleisten. Selbst wenn die Vorhersehbarkeit durch eine Rechtsprechung gewährleistet ist, so wird dennoch gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstoßen. Die Verfassung hat die Kompetenz zur Entscheidung über die Normierung von strafbarem Verhalten klar und eindeutig dem Gesetzgeber zugewiesen. Die Gegenmeinung argumentiert, das Steuergesetz fülle den Tatbestand des § 370 AO nur insoweit aus, als sich aus ihm ergebe, in welcher Höhe der Steueranspruch bestehe und demnach verletzt (in der Sprache des Gesetzes: „verkürzt") werden könne. 690 Diesem Standpunkt vermag die vorliegende Arbeit nicht zu folgen. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung ist eine leere Hülse. Hinterziehung kann nur in Bezug auf einen genau festgelegten Steueranspruch begangen werden. Hierzu bedarf es der Ermittlung sämtlicher Tatbestandsmerkmale des Besteuerungstatbestandes. Dieser aber besteht nach heute wohl gesicherter Erkenntnis aus den Elementen: Steuersubjekt, Steuerobjekt, Zurechnung des Steuerobjektes zum Steuersubjekt, Bemessungsgrundlage, Steuersatz und Steuervergünstigungen. 691
686 Beschl. v. 08. 01. 1985 - 1 BvR 1050/84, NJW 1985, 1891, 1891. 687 in diesem Sinne auch Ulsenheimer, Klaus, Zur Problematik der überlangen Verfahrensdauer und richterlichen Aufklärungspflicht im Strafprozeß sowie zur Frage der Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung, wistra 1983, 12, 17. 688 Vgl. Ranft, Otfried, Strafprozeßrecht, Rn. 1639. 689 Hingegen aber offenbar a. A. Meine, Hans-Gerd, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, wistra 1992, 81, 83. 690 Ulmer, Eckhart, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, DStZ 1986, 292, 294. 691 Lang, Joachim, in: Tipke / Lang, Steuerrrecht, § 7, Rn. 22 ff.
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Der Steuergesetzgeber hat dies ebenso gesehen. § 370 AO nimmt nämlich nicht nur hinsichtlich der Steuerverkürzung Bezug zum materiellen Steuerrecht, sondern auch bei der Ausfüllung des Tatbestandsmerkmales „steuererhebliche" Tatsachen. Bei der Frage dessen, was „steuererheblich" ist, kommt man nicht umhin, das gesamte jeweilige Einzelsteuergesetz zu prüfen, um das Vorliegen einer Steuerhinterziehung zu bejahen. Strafbarkeit setzt verwirklichte Schuld voraus. Hier gilt es maßgeblich festzustellen, welche Steuer hinterzogen wurde. Dazu muß das jeweilige Einzelsteuergesetz herangezogen werden. Wird beispielsweise eine Lohnsteuer oder Umsatzsteuer hinterzogen, so ist die verwirklichte Schuld weitaus größer als bei der eigenen Einkommenssteuer, da es sich um eine fremde Steuer handelt, die der Täter für einen anderen abzuführen hatte und ihm daher eine besondere Verantwortung zukam. Auf dem Boden dieses Verständnisses erübrigt sich die Frage, ob der Steuerpflichtige die Pflicht hat, das Finanzamt auf Zweifel an der Mißbräuchlichkeit seiner Gestaltung hinzuweisen. Er hat diese Verpflichtung nicht. Er hätte sie aber auch nicht, wenn man von einer Strafbarkeit in einem Einzelfall ausgehen würde, in dem sich die Strafbarkeit aus § 370 AO in Verbindung mit dem Einzelsteuergesetz unter Anwendung der Umgehungsvorschrift des § 42 AO mit hinreichender Bestimmtheit ergäbe. Denn dem Steuerpflichtigen kann nicht zugemutet werden, bei der Finanzbehörde anzuregen, ob sie nicht über den gesetzlichen Steuertatbestand hinaus Steuern erheben möchte. Die strafrechtliche Offenbarungspflicht hingegen geht nur soweit, als die Behörde selbst bereit ist, Auskunft mit Bindungswirkung nach Treu und Glauben zu erteilen. 692 Setzt die Finanzverwaltung selbst die Unsicherheit der Anerkennung einer Steuervermeidung als Instrument ein, um den Steuerpflichtigen von einer Gestaltung abzuhalten, so kann die von ihr bewußt geschaffene Rechtsunsicherheit nicht dem Steuerpflichtigen zum Vorwurf gereichen. Da über die Mißbräuchlichkeit keine verbindliche Auskunft erteilt wird, 6 9 3 der Steuerpflichtige somit keine Möglichkeit hat, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, obliegt es der Behörde selbst, die notwendigen Erkundigungen und Sachverhaltsermittlungen anzustellen, um das Vorliegen eines Gestaltungsmißbrauches zu überprüfen. Würde man dagegen annehmen, der Steuerpflichtige habe die Tatsachen anzugeben, aus denen sich eine Mißbräuchlichkeit ergeben könnte, so würde dies eine Subsumtion des Steuerpflichtigen unter Zugrundelegung einer von seinem Standpunkt abweichenden Rechtsauffassung voraussetzen. Dies wäre dann nicht anders zu beurteilen, als bereits oben ausgeführt. 694. 692 Der BGH hat im Urt. v. 10. 11. 1999 - 5 StR 221/99, wistra 2000, 137, 139 hervorgehoben, daß der Angeklagte nicht versucht hatte, durch eine verbindliche Auskunft Klärung herbeizuführen. Andererseits führt das Gericht in derselben Entscheidung aus, daß zumindest eine Offenbarungspflicht für diejenigen Sachverhaltselemente bestehe, deren rechtliche Relevanz objektiv zweifelhaft sei, da sich hinter den mitgeteilten Zahlen die verschiedensten Sachverhalte verbergen können, die für das Finanzamt nicht erkennbar seien. 693 BMF v. 24. 06. 1987 - IV A 5 - S 0430 - 9 / 8 7 , BStBl 1 1987,474.
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Nicht geteilt werden kann hier auch die Auffassung Samsons, wonach das Gesetz den Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO originär und hinreichend bestimmt habe. 6 9 5 Das Wesen des Tatbestandes sei die durch Täuschung bewirkte Vermögensschädigung, welche in § 370 Abs. 1 AO festgelegt sei. Damit stelle sich das oben gezeigte Problem nicht. In diesem Zusammenhang ist es insbesondere kein durchgreifendes Argument, wenn Samson696 anführt, daß es sich bei der Steuerhinterziehung nicht anders verhalte, als etwa beim Tatbestand des Diebstahls, der an den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff anknüpft, oder dem Betrugstatbestand, der schuldrechtliche Ansprüche im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches voraussetzt. In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: Das Strafrecht knüpft in vielen Bereichen an Begriffe an, die durch Regelungen in anderen Teilrechtsgebieten bestimmt werden. Setzt das Strafrecht dabei lediglich Begriffe wie „Eigentum" im Bereich von Diebstahl und Unterschlagung voraus, ist der Gesetzgeber nicht gezwungen, den Tatbestand mit genau erfaßbaren Maßstäben zu umschreiben. Es genügt vielmehr, wenn der Gesetzgeber seine Vorschriften so bestimmt faßt, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. 6 9 7 Diese Aussagen des Gerichts können aber in diesem Zusammenhang keine Anwendung finden, weil es sich beim Begriff der „Fremdheit" der Sache in § 242 StGB nicht um einen Blankettatbestand handelt, sondern vielmehr nur um ein einzelnes Tatbestandsmerkmal, welches außerstrafrechtliche Rechtsregeln voraussetzt. In einem solchen, hier nicht anzunehmenden Falle ist Schmidt-Aßmann 698 beizupflichten, nach dessen Ansicht in jenem Fall die Bedingungen des Art. 103 Abs. 2 GG allein an die Strafrechtsnorm zu stellen sind, auf die vorgelagerte Norm kommt es hingegen nicht an. Wer aber behauptet, daß es sich auch bei der Steuerhinterziehung um keinen Blankettatbestand handele, weil das Gesetz den als „durch Täuschung bewirkte Vermögensschädigung" definierten Tatbestand des § 370 AO originär und hinreichend bestimmt habe, verkennt die entscheidenden Unterschiede. Die verfassungsrechtlich geforderte Bestimmtheit von Begriffen wie „Eigentum" oder „schuld694 s. o. Viertes Kapitel: § 2B.III.5.a)bb) „Steuerverkürzung bei Abweichung von der Finanzmeinung" auf S. 159 ff. 695 Samson, Erich in der Vorauflage, jetzt unverändert vertreten von Joecks, Wolfgang in: Franzen/Gast-de Haan/Joecks, Steuerstrafrecht, § 370 AO, Rn. 140. 696 Samson, Erich, a. a. Ο. (Fn. 695), Einl. Rn. 5. Samson unterscheidet hier zwischen einem echten Blankettatbestand, bei dem sich die Voraussetzungen erst aus der ausfüllenden Norm ergeben, und einem Blankettatbestand, wie er bei Steuerstraftaten vorliegen soll. Die Unterscheidung erscheint willkürlich und in sich widersprüchlich und kann nicht überzeugen. 697 Beschl. v. 18. 05. 1988 - 2 BvR 579/84, BVerfGE 78, 205, 213 f. Die §§ 242 und 246 StGB sind keine Blankettgesetze, die der Ausfüllung durch eine Ausfüllungsnorm wie hier § 23 Denkmalschutzgesetz bedürfen. 698 Schmidt-Aßmann, Eberhard, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2, Rn. 200.
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rechtlicher Anspruch" einerseits und „Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten" (§ 42 AO) oder auch von Ersatztatbeständen wie „wesentlicher Wechsel im Gesellschafterbestand" (§ 1 Abs. 2 a GrEStG) andererseits ist von grundlegend anderer Natur. So sind die Eigentumsverhältnisse in der Mehrzahl der strafrechtlichen Fälle vom Beschuldigten klar erkennbar, zumal es sich nicht um einen mit § 42 AO vergleichbaren unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Von den zivilrechtlichen Generalklauseln abgesehen, läßt sich der Gesetzesbefehl zumeist aus dem hinreichend klaren Wortlaut der zivilrechtlichen Normen ablesen. Außerdem ist anzufügen, daß vorgelagerte Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches mit einer Präzision und Gesetzeskunst gefertigt sind, die der Steuergesetzgeber dieser Tage vermissen läßt. Wohingegen im Steuerrecht die Anwendung des § 42 AO auszuufern beginnt, ja von einer verworrenen Rechtslage auszugehen ist, die eine Übertragung ins Steuerstrafrecht verbietet, 699 ist der Zivilrechtler bemüht, seine Ansprüche aus den Normen des BGB herzuleiten, und greift nur ausnahmsweise auf die Generalklauseln des BGB zurück. Letztlich kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß jene Ansicht die Konsequenz in sich trägt, den Steuerpflichtigen für die Unfähigkeit des Steuergesetzgebers zu bestrafen, lege artis gefertigte Steuergesetze zu schaffen. 700 Doch damit nicht genug: Das Sachenrecht definiert die Eigentumslage klar und eindeutig anhand der von ihm aufgestellten Regeln. Das Steuerrecht hingegen arbeitet mit einer Fiktion, indem es den angemessen sich verhaltenden Steuerpflichtigen zugrundelegt. Ein solches Konstrukt kann sich jedoch entsprechend seiner unbekannten unternehmerischen Zielsetzung durchaus unterschiedlich und dennoch „angemessen" verhalten. 701 Daher läßt sich § 42 AO mit Hilfe anerkannter Auslegungsmethoden häufig nicht eindeutig interpretieren. Somit lassen sich auch die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht herstellen.
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Ähnlich äußert sich Wenderoth, Dieter, Die Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG, S. 66. 700 Dies mag zum einen daran liegen, daß anerkannte Steuerexperten sich seltener im Finanzausschuß des Bundestages und häufiger in rechts- und steuerberatenden Berufen finden. Dort beschränken hohe Qualifikationsanforderungen den Zugang zum Beruf. Zum anderen werden aufgrund fortwährender Haushaltskrisen Gesetzesformulierungen verkündet, die sodann als sogenannte Redaktionsversehen erst durch Zweifelsfragenerlasse der Finanzverwaltung handhabbar werden. Die Mitglieder des Finanzausschusses sind regelmäßig nicht mehr in der Lage, die von der Exekutive erarbeiteten Gesetzesvorlagen in ihrer Komplexität zu verstehen. Vgl. hierzu die Professorin für Steuer- und Verfassungsrecht, Frau Frick, als Abgeordnete der FDP, zitiert bei Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 142. 701 In diesem Sinne ist wohl auch Stahl, Rudolf, Die steuerlichen und strafrechtlichen Aspekte des Gestaltungsmißbrauchs, StraFo 1999, 223, 224 f., zu verstehen.
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VI. Spezielle Umgehungsklauseln am Beispiel des § 1 Abs. 2 a GrEStG Als weiteres Beispiel für eine gesetzliche Festlegung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise soll im folgenden der „wesentliche Wechsel im Gesellschafterbestand einer Personengesellschaft" als grunderwerbsteuerbarer Tatbestand nach § 1 Abs. 2 a GrEStG erörtert werden. Das Jahressteuergesetz 1997 hat in § 1 GrEStG einen Absatz 2 a eingefügt, der aufgrund seiner außergewöhnlichen Gestaltung über das Spezialgebiet des Grunderwerbsteuerrechts hinaus von grundlegender Bedeutung ist. Der Gesetzgeber war der Ansicht, daß dem Mißbrauch begegnet werden müsse, der sich aus einer auf der Umgehungsvorschrift des § 42 AO gestützten Rechtsprechung des BFH zur Grundvorschrift des § 1 Abs. 1 GrEStG ergebe, mit anderen Worten war die „Bekämpfung der Umgehung des Umgehungstatbestandes" die erklärte Absicht. Es handelt sich systematisch gesehen um eine Spezialklausel, die im jeweiligen Einzelsteuergesetz enthalten ist, dort eine der typischen Umgehungen des steuerlichen Tatbestandes erfassen und somit ihrer Zweckbestimmung nach für mehr Rechtsklarheit sorgen sollte. Vergleichbare Spezialklauseln - jedoch mit unterschiedlicher Bestimmtheit - finden sich im Bereich der Erbschaftssteuer in § 3 Abs. 1 Nr. 2 ff. (keine Umgehung der Erbschaftssteuer durch Geschäfte unter Lebenden), 7 Abs. 1 Nr. 2 ff. ErbStG, im Bereich der Grunderwerbsteuer auch in § 6 Abs. 4 GrEStG und im Bereich des Umwandlungssteuerrechts in § 25 UmwStG. Vor Jahren war man noch der Ansicht, der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Betrachtungsweise liege im Ertragssteuerrecht, das Grunderwerbsteuerrecht und das Erbschaftssteuerrecht hingegen knüpften allein an zivilrechtliche Vorgänge an. 7 0 2 Hier zeichnet sich inzwischen ein Wandel ab. So wurde auch im Grunderwerbsteuerrecht eine Vorschrift geschaffen, 703 die im Schrifttum auf erheblichen Widerstand stieß und von mehreren Autoren wegen 702 Maerz, Hans, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise, S. 40. 703 Der Wortlaut des § 1 Abs. 2 a S. 1 - 3 GrEStG (i. d. F. d. JStG 1997 v. 20. 12. 1996, BGBl 1 1996, S. 2049 ff.) heißt: »/Gehört zum Vermögen einer Personengesellschaft ein inländisches Grundstück und ändert sich bei ihr innerhalb von fünf Jahren der Gesellschafterbestand vollständig oder wesentlich, gilt dies als auf die Übereignung des Grundstückes auf eine neue Personengesellschaft gerichtetes Rechtsgeschäft. 2 Eine wesentliche Änderung des Gesellschafterbestandes ist anzunehmen, wenn sie bei wirtschaftlicher Betrachtung eine Übertragung des Grundstückes auf die neue Personengesellschaft darstellt. 3 Dies ist stets der Fall, wenn 95 vom Hundert der Anteile am Gesellschaftsvermögen auf neue Gesellschafter übergehen. [ . . . ] " Das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24. 03. 1999 (BGBl I 1999, S. 402) brachte folgende Änderung: »/Gehört zum Vermögen einer Personengesellschaft ein inländisches Grundstück und
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Verstoßes gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit für verfassungswidrig gehalten wird. Sie wurde im Zuge des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 grundlegend geändert, und zwar teilweise einschränkend, teilweise erweiternd, hat hierdurch jedoch eine größere Tatbestandsbestimmtheit gewonnen. Jedenfalls die Ausgangsfassung ist, wie im folgenden zu zeigen ist, keine hinreichend bestimmte Ausfüllungsnorm des Steuerhinterziehungstatbestandes, sondern ermuntert zu unzulässigen Analogien. Hintergrund der Problematik ist das Stichwort der „Mobilisierung des Grundeigentums", die das sachenrechtliche Verfügungsmodell, welches mit dem Formzwang des § 313 BGB verknüpft ist, überflüssig macht. Eine Grundstücksübertragung wird wesentlich erleichtert, wenn nicht das Grundstück selbst, sondern die Gesellschaftsanteile einer Grundstücksgesellschaft übertragen werden, deren einziger Gesellschaftszweck das Halten und Verwalten einer Immobilie ist. Der Verkauf eines Grundstückes ist der grunderwerbsteuerbare Grundfall nach § 1 Abs. 1 GrEStG. Die Anteilsübernahme an einer Grundstücksgesellschaft war bislang nur dann grunderwerbsteuerbar, wenn alle Gesellschaftsanteile der Grundstücksgesellschaft übertragen werden (§ 1 Abs. 3 GrEStG). Wird hingegen ein sogenannter „Zwerganteil" zurückbehalten, so war nach Ansicht der Rechtsprechung des BFH seit der Entscheidung des 2. Senats vom 16. 03. 1966 704 hierin kein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten nach § 42 AO begründet. Die zuvor gegenteilige noch vom RFH begründete Ansicht wurde aufgegeben, welche sich auf die „nationalsozialistische" Rechtsanschauung nach § 1 Abs. 1 StAnpG berief. 705 § 1 Abs. 2 a GrEStG stellt einen sogenannten Ersatztatbestand dar, bei dem an die Stelle der normalen rechtlichen Gestaltung eine andersartige Gestaltung getreten ist. Hierzu wurde bislang die Ansicht vertreten, daß Ersatztatbestände nicht im Wege der wirtschaftlichen Betrachtungsweise erweiternd ausgelegt werden dürfen. 706 Der Hauptangriffspunkt der Kritik an § Abs. 2 a GrEStG ist der Umstand, daß hier die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" selbst zum Steuertatbestand gemacht wird. Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise" ist aber keine tatbestandliche Generalklausel oder ein unbestimmter Rechtsbegriff. 707 Sie dient vielmehr allein dazu, ändert sich innerhalb von fünf Jahren der Gesellschafterbestand unmittelbar dergestalt, daß mindestens 95 von Hundert der Anteile auf neue Gesellschafter übergehen, gilt dies als ein auf die Übereignung eines Grundstückes gerichtetes Rechtsgeschäft. [ . . . ] " Die bisherigen Sätze 2 und 3 wurden ersatzlos gestrichen. 704 BFH Urt. v. 16. 03. 1966 - I I 26/63, BStBl III 1966, 254, 254. 705 RFH Urt. v. 22. 10. 1942 - I I 99/42, StuW 1942 Nr. 421. Die Entscheidung stellte ihrerseits einen Wechsel der damaligen Rechtsprechung dar. Kritisch hierzu Flume , Werner, Der gesetzliche Steuertatbestand und die Grenztatbestände in Steuerrecht und Steuerpraxis, StBJb 1967/68, S. 63, 77. 706 Worms, Gunnar, Die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht und die Gesellschaftssteuer, S. 32 f. 707 Fischer, Peter, „Wirtschaftliche Betrachtungsweise" als gesetzliches Tatbestandsmerkmal der Grunderwerbsteuer, DStR 1997, 1745, 1749. Ihm nachfolgend: Schuhmann, Helmut, Der neue § 1 Abs. 2 a GrEStG, ZfIR 1998,125, 126.
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die (vorhandenen) tatbestandlichen Vorgaben auszulegen und danach die richtige „wirtschaftliche Betrachtung" auszuwählen. Fehlt jedoch jeder tatsächliche Anhalt wie bei § 1 Abs. 2 a GrEStG, so mangelt es der Norm an der erforderlichen Rechtsklarheit und Justitiabilität. Jede Normanwendung wird zur unbeschränkten Rechtsfortbildung, da eine Wortsinngrenze nicht erkennbar ist. Zu untersuchen ist hier zudem, ob die Vorschrift des § 1 Abs. 2 a GrEStG den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht werden kann. Dies ist letztlich zu verneinen. Die Vorschrift ist schon im Steuerrecht im Hinblick auf die Tatbestandsbestimmtheit als bedenklich einzustufen. 708 Um so mehr muß dies für das Steuerstrafrecht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG gelten. Eine Norm, die dann erfüllt sein soll, wenn bei wirtschaftlicher Betrachtung sich ein Vorgang als die Übertragung eines Grundstückes darstellt, läßt für den Normunterworfenen nicht erkennen, bei welchem Verhalten er eine Steuerverkürzung herbeiführt. Vor allem ist in der Ausgangsfassung des Jahressteuergesetzes 1997 keine klare Grenze erkennbar, ab welchem Prozentanteil die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen einer Grundstücksgesellschaft steuerbar sein soll. Sie läßt nicht ersehen, ob auf die Vermögensbeteiligung oder die Stimmanteile abzustellen ist. Mittelbare Beteiligungen und treuhänderische Beteiligungen, die nach Ansicht der Finanzverwaltung mitzuberücksichtigen sind, sind vom Gesetzeswortlaut nicht umfaßt und können nur über eine extensive Auslegung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise einbezogen werden. Hierfür ist im Steuerstrafrecht jedoch kein Raum. Der Gesetzgeber hat inzwischen reagiert und § 1 Abs. 2 a GrEStG eine präzisere Fassung gegeben. Die Finanzverwaltung sieht in der Neuregelung keinen Raum mehr für die wirtschaftliche Betrachtungsweise. 709
VII. Zwischenergebnis Das Analogieverbot ist eng verbunden mit dem Bestimmtheitsgrundsatz. Während das Steuerrecht in engeren Grenzen analogiefähig ist, verbietet Art. 103 Abs. 2 GG jede Auslegung über den Wortsinn hinaus. Die steuerliche Analogiefähigkeit wird weder durch die wirtschaftliche Betrachtungsweise noch durch eine spezielle Umgehungsvorschrift wie etwa § 42 AO erweitert. Letztere Vorschrift ist eine spezielle Ausprägung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, welche ihrerseits Teil der teleologischen Auslegung ist. Wird eine Steuerrechtsnorm zum ausfüllenden Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO, so muß jede Auslegung, auch die teleologische Auslegung an der Grenze des Wortsinnes enden. Im Ergeb708
Krit. u. a. auch Felix, Günther, Zum neuen Steuermonstrum des § 1 Abs. 2 a GrEStG, ZfIR 1997, 10, 12; Fischer, Peter, in: Boruttau / Egly / Sigloch, GrEStG, § 1, Rn. 837. Andererseits hält Pahlke, Armin, in: Pahlke /Franz, GrEStG, § 1, Rn. 301, eine verfassungskonforme enge Auslegung für noch möglich. 709 So im koordinierten Ländererlaß v. 07. 02. 2000, FinMin Baden-Württemberg-3 - S 4501/6, η. v. 19 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
nis führt dies zu einer nicht deckungsgleichen Auslegung ein und derselben Norm im Steuerrecht und im Steuerstrafrecht, um dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht zu werden.
D. Das Rückwirkungsverbot {y, nullum crimen sine lege praevia")
I. Vorbemerkungen Wertungsdivergenzen zwischen Steuerrecht und Steuerstrafrecht zeigen sich nicht zuletzt darin, daß im Steuerrecht unter bestimmten Voraussetzungen eine Rückwirkung zum Nachteil des Steuerpflichtigen unter bestimmten noch zu untersuchenden Voraussetzungen zulässig ist. Das Steuerstrafrecht ist aber an Art. 103 Abs. 2 GG gebunden. Danach kann eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit vor der Begehung gesetzlich bestimmt war. 7 1 0 Das Bundesverfassungsgericht versteht Art. 103 Abs. 2 GG als eine Spezialvorschrift gegenüber dem allgemeinen Vertrauensschutz, der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt. 711 In ihrem Verständnis konsequent sieht Gast-de Haan 712 auch diejenigen Fälle als Rückwirkungsproblematik an, in denen ein den Tatbestand der Steuerhinterziehung ausfüllendes Steuergesetz durch das Bundesverfassungsgericht wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt wurden, so daß der nunmehr geltende Zustand als das mildere Gesetz zur Anwendung kommt. Diese Fälle dürften jedoch beim Bestimmtheitserfordernis systematisch zutreffender erfaßt sein. 713
II. Neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung im Steuerrecht Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in seiner Rechtsprechung zwischen echter und unechter Rückwirkung. Unter einer echten Rückwirkung wird verstanden, wenn der Steuergesetzgeber nachträglich in bereits abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift und die an diese Tatbestände anknüpfenden Rechtsfolgen zum Nachteil des Steuerpflichtigen verändert. Dagegen soll eine unechte Rückwirkung vorliegen, soweit in einen zwar begonnenen, jedoch nicht abgeschlossenen Sachverhalt hineingewirkt wird und die daran ge710
Vogel, Horst, Wertungsdivergenzen zwischen Steuerrecht, Zivilrecht und Strafrecht, NJW 1985, 2986, 2986. 7Π Beschl. v. 08. 06. 1977 - 2 BvR 499/74 und 1042/75, BVerfGE 45,142,167. 712
Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370, Anm. 2. Siehe hierzu oben, Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e) „Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht" auf S. 182 ff. 713
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knüpften Rechtspositionen nunmehr insgesamt entwertet werden. Diese unechte Rückwirkung wird ohnehin als verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet. Lediglich die echte Rückwirkung stößt auf verfassungsrechtliche Grenzen, deren Durchbrechung im Ausnahmefall aber gerechtfertigt sein kann. 714 Anzufügen ist, daß nach fast einhelliger Auffassung 715 eine Veranlagungssteuer wie die Einkommenssteuer mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraumes entsteht, somit der der Einkommenssteuer zugrunde liegende Sachverhalt erst zum 31.12. des Veranlagungsjahres abgeschlossen ist. Hierin unterscheidet sich die deutsche Sicht deutlich von der verfassungsrechtlichen Sicht unserer österreichischen Nachbarn. 716 Nach deren Verständnis in Literatur und Verfassungsrechtsprechung ist ein Sachverhalt verwirklicht, wenn durch Dispositionen steuerlich relevante Tatbestände verwirklicht werden, ohne daß es auf das Ende des Veranlagungszeitraumes und das Entstehen der Steuerschuld ankäme. Allerdings wird die Rückwirkung für Steuergesetze im übrigen großzügig gehandhabt.717 Die (deutsche) Terminologie ist im übrigen uneinheitlich. Sie wurde über längere Zeit hinweg fortentwickelt und entspricht nicht mehr den Anfangsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Der Zweite Senat differenziert zwischen einer RückbeWirkung von Rechtsfolgen und der tatbestandlichen Rückanknüpfung, 718 verbindet mit der unterschiedlichen Terminologie jedoch keine anderen Rechtsfolgen. 719 Folgende Grundlinien lassen sich aus der wohl noch nicht abgeschlossenen Rechtsprechung erkennen: Abgesehen vom Strafrecht besteht nach Ansicht des Gerichts keine Bestimmung des positiven Rechts, die jede Rückwirkung ausschließt.720 Tipke erklärt dies damit, daß sich Steuerrecht und Strafrecht nicht ohne weiteres miteinander vergleichen lassen.721 Das Strafrecht sanktioniert Verhaltensweisen, die der Einzelne nicht verwirklichen soll, weil sie als sozialschädlich angesehen werden. Verhaltensweisen, die der Besteuerung unterliegen, sollen 714
Die Unterscheidung in echte und unechte Rückwirkung findet sich erstmals im Beschl. v. 31. 05. 1960 2 BvL 4/59, BVerfGE 11, 139, 145. In früheren Entscheidungen wird nur von Rückwirkungen ohne nähere Konkretisierung gesprochen. 715 Krit. dagegen Offerhaus, Klaus, Die Steuerreform - eine Herausforderung für den Rechtsstaat, DStZ 2000, 9, 13 f., der das Entstehen der Steuer für einen ungeeigneten Ansatzpunkt zur Beurteilung der Zulässigkeit der Rückwirkung hält, da es sich lediglich um einen Reflex des bereits während des Jahres verwirklichten Sachverhaltes handelt; ferner krit. Kruse, Heinrich Wilhelm, Lehrbuch des Steuerrechts, S. 58. 716 Heidinger, Gerald, Rechtsstaat und Rückwirkungsverbot im Steuerrecht, OStZ 1995, 92, 93. 717 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 179.
718 Beschl. v. 08. 06. 1977 - 2 BvR 499/74 und 1042/75, BVerfGE 45, 142, 167; Beschl. v. 22. 03. 1983 - 2 BvR 475/78. BVerfGE 63, 343, 353; Beschl. v. 14. 05. 1986 - 2 BvL 2/ 83, BVerfGE 72, 200, 242; Beschl. v. 13. 11. 1990 - 2BvF 3/88, BVerfGE 83, 89, 109. 719 Daher krit. Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 187. 720 Beschl. v. 24. 04. 1953 - 1 BvR 102/51, BVerfGE 2, 237, 264 f. 721 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 179. 19*
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durchaus verwirklicht werden, damit das Steueraufkommen des Staates gesichert wird. Daher dient das Rückwirkungsverbot des Strafrechts dem Zweck, den Einzelnen von unerwünschtem Verhalten abzuhalten, was dessen Kenntnis von der Strafbarkeit voraussetzt. Demgegenüber ist es grundsätzlich erwünscht, wenn der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand auslöst. Allein rechtsstaatliche Gesichtspunkte wie der Vertrauensschutzgedanke erfordern eine Einschränkung. Eine echte Rückwirkung soll dann gerechtfertigt sein, wenn der Betroffene mit einer Änderung der Rechtsnorm rechnen mußte, 722 die Rechtslage ohnedies unklar und verworren war, 723 so daß kein Vertrauen gebildet werden konnte und dem Gesetzgeber jetzt die Möglichkeit gegeben werden muß, die Rechtslage rückwirkend zu klären. Ebenso soll eine Rückwirkung begründet sein, wenn der Bürger sich auf eine den Rechtsschein einer ungültigen Norm nicht verlassen durfte 724 oder aber zwingende Gründe des Gemeinwohls725 eine Einschränkung der Rechtssicherheit erforderlich machen. Zur Kritik läßt sich anführen: Aus der Sicht des Laien ist die Rechtslage im Steuerrecht in vielen Fällen „unklar und verworren". Stellt man auf seine Sicht ab, so wäre häufig eine Rückwirkung gerechtfertigt. 726 Hält man hingegen den Blickwinkel des Fachmannes für ausschlaggebend und gibt dem Gesetzgeber rückwirkend Gelegenheit zur Klärung, so muß man fragen, ob der Steuergesetzgeber sich dem grundsätzlichen Verbot einer rückwirkenden Gesetzgebung dadurch entziehen kann, daß er eine möglichst unklare und verworrene Gesetzeslage schafft, um sie später wieder beliebig ändern zu können. So gereicht der eigene Fehler im Rahmen der Gesetzgebung noch zum Vorteil. Es fragt sich, wann ein Steuerpflichtiger mit einer Änderung „ rechnen " mußte. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht auf den Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses einer Gesetzesänderung abgestellt, wenn auch die Rechtsfolgen einer Norm erst mit der Verkündung eintreten. Von diesem Zeitpunkt an muß der Steuerpflichtige mit einer Änderung rechnen, wenn auch das Steuergesetz noch nicht verkündet ist. Schutzwürdig ist er also dann, wenn er vor diesem Zeitpunkt Dispositionen getroffen hat. Selbst auf eine zweimalige Anru722 Urt. V. 30. 04. 1952 - 1 BvR 14, 25, 167/52, BVerfGE 1, 264, 280; Beschl. v. 12. 11. 1958 - 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57, BVerfGE 8, 274, 304; Urt. v. 19. 12. 1961 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261, 272; Beschl. v. 16. 11. 1965 - 2 BvL 8/64, BVerfGE 19, 187, 196; Beschl. v. 15. 02. 1978 - 2 BvL 8/74, BVerfGE 48, 1, 20. 723 Beschl. v. 04. 05. 1960 - 1 BvL 17/57, BVerfGE 11, 64, Urt. v. 19. 12. 1961 2 BvL 6/59, BVerfGE 72; 13, 261, Beschl. v. 17. 01. 1979 - 1 BvR 446, 1174/77, BVerfGE 270; 50, 177, 194. 724 Beschl. v. 24. 07. 1957 - 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89, 94; Urt. a. a. O. (Fn.723), BVerfGE 13, 261, 271; Beschl. v. 16. 11. 1965 - 2 BvL 8/64, BVerfGE 19, 187, 197. 725 Urt. v. 01. 07. 1953 - 1 BvL 23/51, BVerfGE 2, 380, 405; Beschl. v. 14. 11. 1961 2 BvR 345/60, BVerfGE 13, 215, 225. 726 Weinheimer, Stefan, Die Rückwirkung - ein umfassendes Problem: Bestandsaufnahme und Neuansatz, S. 25.
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fung des Vermittlungsausschusses soll es nicht ankommen, jedenfalls dann nicht, wenn die streitige Detailregelung dort letztlich unangetastet bleibt. 727 In einer neueren Entscheidung vom 03. 12. 1997 728 hat der Zweite Senat bezüglich der rückwirkenden Abschaffung der steuerlichen Förderung von Schiffsbeteiligungen ausgeführt, daß bereits eine Gesetzesinitiative genügen kann, um ein Vertrauen des Steuerpflichtigen zu erschüttern. Denn nach Ankündigung des Wegfalls einer für verfehlt erachteten Verschonungssubvention müsse verhindert werden, daß die Gestaltungskompetenz und der Gestaltungswillen des Gesetzgebers unterlaufen werde. Der Senat greift damit eine alte Entscheidung wieder auf, die bereits einmal das Einbringen des Gesetzentwurfes in den Bundestag als maßgebliches Datum angesehen hatte, 729 die nun nicht mehr als Einzelfallentscheidung gewertet werden kann. Praktischer Hintergrund der Entscheidung war, daß der Gesetzgeber für die steuerliche Förderung volkswirtschaftlich mehr als zweifelhafter Abschreibungsmodelle im Schiffsbau aufgrund des Einflusses von Interessenverbänden erhebliche Steuermittel verwendet hatte, wegen eines dringenden Finanzbedarfs nunmehr aber nicht mehr zu seinem Vorverhalten und den gezielt herbeigeführten steuerlichen Anreizen stehen wollte. Der Senat begründet seine Rechtsansicht damit, daß der auf dem Rechtsstaatsprinzip fußende Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen hinter dem Gemeinwohlinteresse des Staates zurücktreten müsse, offensichtliche Gefahren und Mißstände zu beseitigen. Zwar sei die Verläßlichkeit der Rechtsordnung eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. So beschränke es die Freiheit des Einzelnen, wenn an sein Verhalten im nachhinein belastende Rechtsfolgen geknüpft würden. Mit der Ankündigung einer Gesetzesänderung sei aber bereits das berechtigte Vertrauen zerstört, weil verhindert werden müsse, daß der Steuerpflichtige unter Ausnutzung der Zeitdauer des Gesetzgebungsverfahrens vertragliche Dispositionen trifft, um die Effektivität der Gesetzesänderung zu unterlaufen. Dabei hält es der Senat für unmaßgeblich, daß die Bundesregierung öffentlich angekündigt hatte, die Steuersubvention würde noch für begrenzte Zeit fortbestehen, weil die Bundesregierung nicht das für die Gesetzesänderung zuständige Staatsorgan sei. 730 In einer früheren Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß es gerade der Funktion des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG entspreche, das Vertrauen auf die dort aufgeführten Rechtsgüter zu schützen. Für Vermögenswerte Gü727 BVerfG Beschl. v. 26. 2. 1993-2 BvR 1288/89, NJW 1993, 2432, 2432. Danach hatte die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Siehe ferner BVerfG Beschl. v. 15. 01. 1992 - 2 BvR 1824/89, NJW 1992, 2877, 2878. 728 Beschl. v. 03. 12. 1997 - 2 BvR 882/97, BVerfGE 97,67, 79. 729 Beschl. v. 23. 03. 1971 - 2 BvL 2/66, 2 BvR 168,196, 197, 210,472/66, BVerfGE 30, 367, 388. 730 Α. A. das Sondervotum zum Beschluß von Kruis, a. a. O. (Fn. 728), BVerfGE 97, 85, 88, der im Hinblick darauf, daß Vertrauen ein konstituierendes Element unseres Gemeinwesens ist, die Meinung vertritt, der Staat müsse sich an den Erklärungen seiner leitenden Organe festhalten lassen.
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ter habe der rechtsstaatliche Vertrauensschutz im Eigentumsgrundrecht eine eigene Ausprägung und verfassungsrechtliche Ordnung gefunden. 731 Der insoweit speziellere Schutz lasse einen Rückgriff auf allgemeine Grundsätze aber dann zu, wenn die betroffene Rechtsposition nicht in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG falle. Das gesetzliche Angebot einer Steuersubvention sei aber nach der neuen Entscheidung vom 03. 12. 1997 keine erworbene Rechtsposition, somit nicht durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt. Sie beruht nicht auf einer eigenen Leistung, sondern auf staatlicher Gewährung. 732 Die Unternehmerfreiheit der Art. 12 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG umfasse nach Ansicht des Senats nur die Dispositionsbefugnis des Unternehmers über die Güter und Rechtspositionen des Unternehmens, gebe aber keine grundrechtliche Garantie einer bestehenden Gesetzeslage. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bietet schon aus Steuer- und steuerverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten viel Angriffsfläche. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Vertrauensschutzgedankens im Rechtsstaatsprinzip ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Uneinigkeit besteht auch über die Einbeziehung des Vertrauensschutzprinzips in die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Nach wohl richtiger Ansicht ist der Vertrauensschutz Teil der Rechtssicherheit, die zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört. 733 Die Ableitung des Vertrauensschutzgedankens wird zudem in einzelnen Grundrechtsbestimmungen gesucht. Unabhängig von der dogmatischen Herleitung eines Vertrauensschutzes wurde jedoch bereits an der bisherigen Rechtsprechung kritisiert, daß im Steuerrecht damit ein Vertrauensschutz nahezu leerläuft. Denn Geltungsdauer von steuerlichen Vorschriften ist aufgrund der Eigenart der Materie und der durch Haushaltslöcher getriebenen Gesetzgebungstätigkeit vergleichsweise kurz, so daß häufig während der Anwendung einer Vorschrift bereits ein Gesetzgebungsverfahren im Gange ist, welches die Vorschrift jedenfalls für die Zukunft, möglicherweise aber auch bereits für die Vergangenheit zu ändern beabsichtigt. Das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen Vertrauensschutz und Durchbrechung bei Rückwirkung wird damit immer mehr auf den Kopf gestellt. Der Steuerbürger kann wegen der hohen Fluktuation der Steuergesetze kein Vertrauen begründen. 734 Sind diese rückwirkenden Steuergesetze geeignet, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine den Blankettatbestand der Steuerhinterziehung ausfüllende Gesetzesnorm zu erfüllen? Im Bereich des Steuerrechts wurde eine Rückwirkung früher aufgrund einer analogen Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG abgelehnt. Mit der Unterscheidung in echter und unechter Rückwirkung gilt dies als hinfäl731 Beschl. a. a. O. (Fn. 718), BVerfGE 45, 142, 168. 732 Beschl. a. a. O. (Fn. 718), BVerfGE 45, 142, 170. 733 in diesem Sinne Haas, Peter, Vertrauensschutz im Steuerrecht, S. 4 ff., der den Streitstand ausführlich darstellt. 734 Weinheimer, Stefan, Die Rückwirkung - ein umfassendes Problem: Bestandsaufnahme und Neuansatz, S. 23.
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lig. 7 3 5 Überträgt man aber die Rückwirkungsproblematik ins Steuerstrafrecht, so stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG erneut. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Unterläßt der Steuerpflichtige es, Spekulationseinkünfte in der Steuererklärung anzugeben. Vor Erlaß des sogenannten Steuerentlastungsgesetzes war sein Grundstück aufgrund einer Haltenszeit von über zwei Jahren nicht mehr steuerverstrickt i. S. v. § 23 Abs. 1 Nr. 1 lit. a EStG. Mit Inkrafttreten des Steuerentlastungsgesetzes unterfällt das Grundstück erneut der nunmehr 10jährigen Frist, innerhalb der private Veräußerungsgewinne zu versteuern sind. Es erscheint verfassungsrechtlich zweifelhaft, ob auf eine solche rückwirkende Steuervorschrift eine Bestrafung gestützt werden kann. Schließlich sei an folgenden Fall gedacht: Der Steuerpflichtige gibt beispielsweise in seinem Antrag auf Lohnsteuerermäßigung an, die Höhe seiner Werbungskosten entspreche dem Voqahr, obgleich eine Gesetzesinitiative zur Streichung einer Steuerverschonungssubvention bekannt ist, die im Vorjahr in seine Werbungskosten aus nichtselbständiger Arbeit eingeflossen ist. Die Behörde übernimmt die Angaben des Steuerpflichtigen ungeprüft, der endgültige geänderte Gesetzestext liegt dem Veranlagungsbeamten noch gar nicht vor, und so stellt er erst bei der nachfolgenden Veranlagung eine sich ergebende Nachzahlung aufgrund des Wegfalls der Verschonungssubvention fest. Der Steuerpflichtige, der inzwischen in Vermögensverfall geraten ist, erklärt, er habe auf die bestehende Gesetzeslage vertraut und könne im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auch strafrechtlich nicht belangt werden. Es zeigt sich hier erneut, daß eine „ Normspaltung " Ί3β des § 370 AO unvermeidlich ist, weil eine Rückwirkung zwar steuerrechtlich aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zulässig, eine Übertragung ins Strafrecht dagegen abzulehnen ist. 7 3 7 Soweit es sich um ein zustimmungsbedürftiges Gesetz handelt, kann von einem Wegfall schutzwürdigen Vertrauens wegen Vorhersehbarkeit zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses gar nicht die Rede sein, weil noch ungewiß ist, ob das Gesetz ungehindert den Bundesrat passieren wird. Häufig finden sich hier unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse, doch auch in den Zeiten, in denen die Mehrheitsverhältnisse dem Bundestag entsprachen, ist manches Gesetz gescheitert. 738 735
Hierzu Haas, Peter, Vertrauensschutz im Steuerrecht, S. 24. 6 Zum Begriff siehe Dannecker, Gerhard, Die Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Parteispenden als gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht, in: de Boor/Pfeifer/Schünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, S. 91, 98. 73
737 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Giemulla, Elmar Maria, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit und die strafrechtlichen Auswirkungen der rückwirkenden Abschaffung wirtschaftsfördernder Maßnahmen, DStZ 1981, 252, 253, der jedoch noch von der früheren, noch nicht so weit gehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts [ a. a. O. (Fn. 729)] zur Zulässigkeit einer steuerlichen Rückwirkung ausgeht. 738 Sondervotum zum Beschl. v. 20. 10. 1971 - 1 BvR 757/66, Rupp-von Brünneck, BVerfGE 32, 129, 137. Sondervotum zum Beschluß v. 25. 06. 1974 - 2 BvF 2, 3/73 des Richters von Schlabrendorff, BVerfGE 37, 414, 419, sehen in unvorhersehbar rückan-
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Schon bei einem zwar beschlossenen, nicht aber ordnungsgemäß verkündeten Gesetz fehlt es an einem entscheidenden Wesensmerkmal eines rechtsstaatlichen Gesetzes, nämlich dem abschließenden Akt der Gesetzgebung.739 Es muß für jedermann einsehbar sein, was Gesetz ist. Dies gilt um so mehr für das Strafrecht, welches die Vorhersehbarkeit der strafrechtlichen Sanktion fordert. Wer das Gesetz noch gar nicht kennt, dem fehlt jegliche Vorhersehbarkeit. Es ist aber umgekehrt vom Bürger die Kenntnis eines beschlossenen, jedoch noch nicht verkündeten Gesetzes nicht zu erwarten. Hierin liegt eine Überforderung des Bürgers, von dem nicht erwartet werden kann, daß er nicht nur das geltende Recht kennt, sondern sich schon im Vorfeld von allen geplanten Gesetzesvorhaben Kenntnis verschafft. Auch der Verfassungsgeber geht letztlich davon aus, daß dies nicht der Verfassungswirklichkeit entspricht, wenn er in Art. 82 Abs. 1 GG eine Verkündung des Gesetzes voraussetzt. Als Fiktion muß bezeichnet werden, wenn an den Gesetzesbeschluß eine Rückwirkung gegenüber im Ausland lebenden Verfolgten geknüpft wird. 7 4 0 Es ist daher angreifbar, auf einer auf einen Gesetzesbeschluß gestützten steuerlichen Rückwirkung strafrechtliche Konsequenzen aufzubauen. Die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt macht eine zumutbare Kenntnisnahme erst möglich. Die Kenntnis von Bundesratsdrucksachen ist wegen deren mangelnder freier Verfügbarkeit für den Bürger kaum zu erwarten. Liegt aber gar nur ein Gesetzesentwurf vor, von dem gerade vor dem Hintergrund der Hektik der heutigen Steuerpolitik noch gar nicht abzusehen ist, ob und inwieweit er im politischen Prozeß später Gesetz werden kann, so kann auf seine Nichtbeachtung kein strafrechtlicher Vorwurf gestützt werden. Denn der Bürger muß mit der konkreten Regelung noch gar nicht rechnen. Wer also in seinem Lohnsteuerermäßigungsantrag die Höhe seiner Werbungskosten wie im Vorjahr angibt, obgleich ein Gesetzentwurf eingebracht wurde, wonach die steuerliche Abzugsfähigkeit einzelner, bislang als Werbungskosten behandelter Ausgaben abgeschafft werden soll, der begeht keine Steuerhinterziehung auf Zeit mit dem Ziel, seine Lohnsteuer nicht zur rechten Zeit zu entrichten, auch wenn das Bundesverfassungsgericht hier die Auswirkungen seiner Rechtsprechung auf das Steuerstrafrecht nicht erörtert. Ein wenn auch nur eingeschränkt zu bejahendes materielles Prüfungsrecht 741 des Bundespräsidenten in Fällen groben Verfassungsbruches wird ebenso wie die unstreitig bestehenden formalen Prüfungspflichten nicht mit in die Urteilsfmdung einbezogen. Tatsächlich gehen auch fünf Phasen voraus, die eine knüpfenden Gesetzen einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und das Verbot der Arglist, welches aus dem Rechtsstaatsprinzip folge. Bei einem Abstellen auf einen Zeitpunkt vor Gesetzesverkündung sei der Bürger zudem überfordert. 739 Das Verkündungserfordernis stellt eine Absage an ein Geheimrecht dar, welches seit dem Codex Hammurabi überwunden sein sollte. 740 So aber der Beschl. v. 29. 10. 1969 - 1 BvL 19/69, BVerfGE 27, 167, 173. Krit. mit Recht Sondervotum Rupp-von Brünneck, a. a. O. (Fn. 738), BVerfGE 32, 129, 138, insbes. ebenda die Anmerkung in Fn. 8. 741 Für ein eingeschränktes Prüfungsrecht: Bryde, Grundgesetz, Art. 82, Rn. 6.
Brun-Otto, in: von Münch/Kunig,
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Gesetzesvorlage zu durchlaufen hat: 7 4 2 Zuleitung an den Bundesrat bei Gesetzesvorlagen der Bundesregierung (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG) bzw. entsprechend Zuleitung an die Bundesregierung bei Vorlagen des Bundesrates (Art. 76 Abs. 3 S. 1 GG), drei Lesungen im Bundestag gemäß §§ 78 ff. GOBT, Zustimmung durch den Bundesrat gemäß Art. 77 Abs. 2 a i. V. m. Art. 105 Abs. 3 GG, Anrufung des Vermittlungsausschuß durch den Bundestag gemäß Art. 77 Abs. 2 S. 4 GG, erneute Beschlußfassung des Bundestages nach Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG. 7 4 3 Es spricht manches dafür, daß bis zum Erlaß eines Gesetzes nicht einmal dessen (straflose) Umgehung möglich ist, selbst wenn man dem Gesetz rückwirkende Kraft zubilligt bis zum Zeitpunkt des Einbringens des Gesetzentwurfes in den Bundestag. Häufig möchten die Steuerpflichtigen noch vor Änderung des Gesetzeslage Steuererhöhungen durch Ausweichmanöver vermeiden. Die Frage ist durch das Bundesverfassungsgericht nicht entschieden. Vereinzelte Aussagen in der Literat u r 7 4 4 und in der Rechtsprechung der Finanzgerichte 745 lassen an einer Anwendung des § 42 AO auf noch nicht erlassene Steuergesetze zweifeln. Um so weniger kann ein noch nicht erlassenes Steuergesetz Grundlage einer Steuerhinterziehung sein.
III. Zwischenergebnis Die Rückwirkungsproblematik ist ein gutes Beispiel für die eingangs erwähnte Bedeutung der Besteuerungsmoral des für die Steuermoral des einzelnen Bürgers. Im österreichischen Schrifttum wurde dies bereits erkannt. 746 Für die deutschen Verhältnisse kann nichts anderes gelten. Das Verhältnis von Steuerpflichtigen und Steuerstaat ist vom Grundsatz des Treu und Glaubens durchdrungen. Um so strenger die Grundsätze des Rechtsstaates beachtet werden, um so größer ist die Hoffnung auf eine Hebung der Steuermoral.
742 in diesem Sinne auch Giemulla, Elmar Maria, a. a. O. (Fn. 737), DStZ 1981, 252, 255. 743 Auf Einzelheiten des Gesetzgebungsverfahrens kann hier nicht eingegangen werden. Ausführlich: Berg, Wilfried, Staatsrecht, Rn. 317 ff.; Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 510 ff.; Stein, Ekkehart, Staatsrecht, § 14 III 1. 744 Korn, Klaus / Strahl, Martin, Erste Zweifelsfragen und letzte Gestaltungshinweise in 1998 zum „Steuerentlastungsgesetz", KÖSDI 1999, 11824, 11831; Hoffmann, Ralph, in: Koch/Scholtz, AO, § 42, Rz. 5; letztlich offengelassen bei Stahl, Rudolf, Die steuerlichen und strafrechtlichen Aspekte des Gestaltungsmißbrauches, StraFo 1999, 223, 226. 745 FG Niedersachsen Urt. v. 13. 05. 1993 - II 483/91, EFG 1994, 311, 313, bestätigt durch Urt. v. 12. 09. 1996 - III R 66/93, BFH/NV 1997,310,311. 746 Heidinger, Gerald, Rechtsstaat und Rückwirkungsverbot im Steuerrecht, OStZ 1995, 92, 97.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
E. Ergebnis und Ausblick Die Untersuchung hat gezeigt, daß Steuernormen als ausfüllende Normen des Blankettatbestandes der Steuerhinterziehung aus verschiedenen Gründen mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt geraten. Unbestimmtheit und Gesetzesfortbildungen prägen das Steuerrecht und damit das hieran anknüpfende Steuerstrafrecht wie kaum ein anderes Gebiet des Nebenstrafrechts. Die hektische Gesetzgebungstätigkeit und die kurze Lebensdauer von Steuernormen bestimmen die Rückwirkungsproblematik. Die häufige Gewährung von Wahlrechten erschwert die Übertragung ins Steuerstrafrecht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Diskussion um die Zulässigkeit der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen wird. Wem die grundsätzliche Einordnung eines gesamten Rechtsgebietes als zu unbestimmt nicht überzeugend erscheint, der mag sich an aktuelle Beispiele steuerlicher Gesetzgebung halten. Ein besonders eklatantes Beispiel hat die Steuerreform 1999/2000/2002 mit der Vorschrift des § 2 b EStG i. F. v. 24. 03. 1999 geliefert. Soweit ersichtlich ist es auch ein Jahr seit Bestehen dieser Vorschrift nicht gelungen, eine praktikable Auslegung zu finden. Die rege Auseinandersetzung im Schrifttum läßt immer mehr erkennen, daß § 2 b EStG schon im Steuerrecht nicht anwendbar ist und ins Steuerstrafrecht kaum als ausfüllende Norm übertragen werden kann. Es mehren sich die Stimmen, wonach § 2 b EStG aufgrund seiner Anhäufung unbestimmter Rechtsbegriffe und des Typus „Verlustzuweisungsgesellschaft oder ähnliches Modell" unbestimmt verfassungswidrig ist. 7 4 7 Anstatt mit Rechtsbegriffen wurde die Norm mit wirtschaftlich geprägten und nicht eindeutig definierten Begriffen wie „Rendite" durchsetzt. 748 Die Finanzverwaltung konnte bis zuletzt nicht durch ein von ihr angekündigtes Anwendungsschreiben zu mehr Rechtsklarheit beitragen. 749 Zum Typus des „Verlustzuweisungsmodells" stellt die 747 Kaligin, Thomas, Anwendungs- und Zweifelsfragen bei § 2 b EStG, Wpg 1999, 455, 457; Stuhrmann, Gerd, in: Blümich, EStG, § 2 b, Rn. 17; Seeger, Siegbert, in: Schmidt, EStG, § 2 b, Rn. 1 und 11. 748 Raupach, Arndt / Böckstiegel, Martin, Die Verlustregelungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, FR 1999, 557, 561, sprechen von vorrechtlichen Begriffen des § 2 b EStG, die zur Systematisierung rechtstatsächlicher Gestaltungen dienen. 749 Das BMF hat inzwischen die endgültige Fassung eines Anwendungsschreibens unter dem Geschäftszeichen IV A 5 - S 2 1 1 8 b - 1 1 1 / 0 0 vorgelegt. Die verfassungsrechtlich gebotene Berechenbarkeit des Merkmals „Rendite" wird darin unter Tz. 32 mit folgender mathematischer Formel gleichgesetzt, ohne daß erkenntlich wäre, wie diese durch juristische Auslegung aus dem Gesetzestext gewonnen worden wäre: Die Gleichung hierzu lautet: γΛ Einzahlungt _ ^ Auszahlung t ^g (1 + Rendite)' ~ (1 + Rendite)'
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§ 2 Der steuerstrafrechtliche Gesetzesvorbehalt
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Finanzverwaltung die These auf, daß dieser in den verschiedensten Erscheinungsformen auftrete. Eine abschließende Definition sei nicht m ö g l i c h . 7 5 0 Dem Gesetzgeber wird sogar vorgeworfen, bewußt und gezielt die Steuerplanung von Steuerpflichtigen durch gewollte Verunsicherung zu verhindern, indem eine Vorhersehbarkeit unmöglich gemacht w i r d . 7 5 1 Inhaltlich stellt § 2 b EStG ein Stück mißglückter 7 5 2 Umgehungsbekämpfung des Steuergesetzgebers dar. Dabei entzieht sich der Steuergesetzgeber seiner Verantwortung für die inhaltliche Bestimmtheit des Rechts in einer Weise, die auch i m Wege von Auslegung und Konkretisierung nicht mehr geheilt werden kann, weil der Gesetzgeber nicht einmal den Versuch unternimmt, den aus sich heraus nicht bestimmbaren Begriff näher zu umschreiben. 7 5 3 I m Ergebnis handelt es sich um eine „Dummen-Norm", die Steuerumgehungen nur bei schlecht gestalteten Konzepten in den Verkaufsprospekten erfaßt. 7 5 4 Wie man sieht, vereint die Norm des § 2 b EStG somit nahezu alle in diesem Kapitel angesprochenen Problembereiche.
dabei sind: Τ = der Betrachtungszeitraum in Jahren, Einzahlungt = die Einzahlungen im Jahr t (Ausschüttungen, unabhängig davon, ob sie Kapitalrückzahlungen darstellen oder aus Gewinnen/Überschüssen stammen einschließlich der Veräußerungseriöse; bei der Ermittlung der Nachsteuerrendite auch die Ertragsteuerminderungen aus den prognostizierten (anteiligen) steuerlichen Verlusten), Auszahlungt = die Auszahlungen im Jahr t (Einlagen; bei modellhafter Fremd-(Außen-)fmanzierung des Eigenkapitals auch der darauf entfallende Aufwand und die Tilgung der Fremdfinanzierungsmittel; bei der Ermittlung der Nachsteuerrendite auch die Ertragsteuerbelastung auf den prognostizierten Gewinn/Uberschuß/(-anteil)). 750 So das BMF noch im Vorentwurf zum Anwendungsschreiben zu § 2 b EStG, IV A 5 S 2118 b - 9999/OOVI, Tz. 4. Fünf im Gesetz nicht erkennbare Merkmale des Typus werden genannt, ohne daß diese allesamt vorliegen müßten: hoher Fremdfinanzierungsaufwand, kein Einfluß des einzelnen Gesellschafters auf Ein- und Austritt von Gesellschaftern, weitgehend kapitalistische Beteiligung des Anlegers, modelltypische Funktionsträgergebühren, Werbung mit Verlustzuweisungen in den Verkaufsprospekten. 751 Kaligin, Thomas, a. a. O. (Fn. 747), Wpg 1999, 455, 457; Butzer, Hermann, Der Vertrauensschutz nach § 52 Abs. 4 EStG bei § 2 b - Verlustzuweisungsgesellschaften, BB 1999, 2061, 2062; Seeger, Siegbert, a. a. O. (Fn.747), § 2 b, Rn. 1 und 11. 7 52 Hallerbach, Dorothee, HHR, § 2 b EStG, Rn. 10: „Kapitulation des Steuergesetzgebers vor der Steuersparbranche". Zur Kritik aus ökonomischer Sicht: Marx, Franz Jürgen / Löffler, Christoph, Renditeparadoxon nach § 2 b EStG, DStR 1999, S. 1957, 1962. 75 3 Seer, Roman/Schneider, Norbert, Die Behandlung der sogenannten Verlustzuweisungsgesellschaften nach dem neuen § 2 b EStG, BB 1999, 872, 873. 7 54 Hallerbach, Dorothee, HHR, § 2 b EStG, Rn. 10.
§ 3 Der Grundsatz des „in dubio pro reo" im Steuerstrafrecht A. Vorbemerkungen Das Strafverfahren ist durch den Grundsatz des „ in dubio pro reo " geprägt. Die Tatsachenfeststellung erfordert die Gewißheit des erkennenden Gerichts. Im Falle einer Beweisnot kann der staatliche Strafanspruch nicht durchgesetzt werden. Demgegenüber überträgt das Steuerverfahren schon aufgrund der umfassenden Mitwirkungspflichten dem Steuerpflichtigen in vielen Fällen die Feststellungslast für seine steuerlichen Verhältnisse. Dies kann bedeuten, daß die Folgen einer Beweislosigkeit den Steuerpflichtigen treffen, der für ihn steuermildernde Umstände nicht geltend machen kann. In der unterschiedlichen Tatsachenermittlung durch beide Verfahren liegen unterschiedliche Tatsachenfeststellungen begründet.1 Die Verteilung der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zwischen Steuerpflichtigen und Finanzamt, welche eine nicht behebbare Ungewißheit, ein „non liquet voraussetzt,2 ist gesetzlich nicht geregelt und stellt sich nach Ansicht der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes wie folgt dar: Das Finanzamt trägt die objektive Beweislast für alle steuerbegründenden und erhöhenden Tatsachen, der Steuerpflichtige dagegen für alle Tatsachen, aus denen Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen sich herleiten, sowie für alle Tatsachen, die den Steueranspruch aufheben oder einschränken.3 Diese Verteilung gilt jedoch nur im Regelfall, d. h. nicht ohne Ausnahme.4 Denn die Frage, welcher der Parteien des Rechtsstreits es zum Nachteil gereicht, wenn rechtserhebliche Tatsachen unerweislich sind, ist nur von Fall zu Fall unter Würdigung der einschlägigen Rechtsnormen und ihrer Zweckbestimmung zu beantworten.5 Darüber hinaus ist die Beweisnähe zu berücksichtigen.6 Es ist wichtig festzuhalten, daß aus der Verletzung abgabenrechtlicher Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren für 1
Vogel Horst, Wertungsdivergenzen zwischen Steuerrecht, Zivilrecht und Strafrecht, NJW 1985, 2986, 2986. 2 Aus dem Gesamtergebnis darf sich keine Uberzeugung von dem Geschehensablauf ergeben, vgl. BFH Urt. v. 22. Ol. 1985 - V I I I R 29/82, BStBl I I 1985, 308, 309. 3 St. Rspr. seit BFH Urt. v. 05. 11. 1970 - V R 71 /67, BStBl 1971, 220, 224; aus der neueren Zeit u. a. BFH Urt. v. 25. 01. 1985 - V I R 173/80, BStBl II 1985, 437, 439; Beschl. v. 24. 04. 1985 - II Β 28/84, BStBl I I 1985, 520, 520; 4 BFH Urt. v. 15. 07. 1986 - V I I R 145 / 85, BStBl I I 1986, 857, 857. 5 BFH Urt. v. 20. 03. 1987 - III R 172/82, BStBl I I 1987,679, 680. 6 BFH Urt. v. 23. 05. 1989 - X R 17/85, BStBl II 1989, 879, 881.
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den Steuerpflichtigen nachteilige Schlüsse gezogen werden können. Dies gilt vor allem dann, wenn die Mitwirkungspflichten Tatsachen und Beweismittel aus der Wissens- und Einflußsphäre des Steuerpflichtigen betreffen. 7 Daher wird das Beweisschema dann durchbrochen, wenn die mangelhafte Sachaufklärung nur auf einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen beruht, die gerade auf die Vermeidung derartiger Mängel abzielen. Das Steuerrecht bürdet dem Betroffenen damit eine Mitverantwortung auf, die ihm aber hinsichtlich des „nemo tenetur "-Grundsatzes steuerstrafrechtlich nicht zum Nachteil gereichen darf.
B. Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht I. Begriff und dogmatischer Standort Die typisierende Betrachtungsweise beurteilt einen Sachverhalt so, wie er normalerweise in Erscheinung tritt. 8 Es handelt sich bei der formellen Typisierung um eine Beweislastregelung, die dem Steuerpflichtigen den Beweis des Gegenteils freistellt. Die typisierende Betrachtungsweise ähnelt daher einem prima-facie-Beweis.9 Die Frage nach der typisierenden Betrachtungsweise stellt sich damit als Frage nach der Zulässigkeit einer Reduzierung des Beweismaßes dar. 10 In der Form der materiellen Typisierung ist dem Steuerpflichtigen dagegen der Gegenbeweis verwehrt. Das Steuerrecht stellt also im Gegensatz zum Strafrecht auf Wahrscheinlichkeiten ab und legt den Sachverhalt, der die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Besteuerung zugrunde. 11 Der Strafprozeß dagegen bedarf sicherer Feststellung des zur Last gelegten Sachverhaltes. Daß im Steuerstrafrecht an den Schnittstellen beider Rechtsgebiete hier Konflikte angelegt sind, erscheint unausweichlich. Das Verhältnis zwischen typisierender Betrachtungsweise und wirtschaftlicher Betrachtungsweise läßt sich am besten durch die griffige Formel beschreiben, daß die Typisierung ein Prinzip der Generalisierung, die wirtschaftliche Betrachtungsweise dagegen ein Stück Individualisierung darstellt. 12 Daher ist mit Recht kriti1 BFH Urt. v. 15. 02. 1989 - X R 16/86, BStBl II 1989, 462, 462; Urt. v. 09. 08. 1991 III R 129/85, BStBl II 1992, 55, 56. 8 Gersch, Eva-Maria, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 4, Anm. 10. 9 Teilweise wird die typisierende Betrachtungsweise daher in ihrem heutigen Verständnis lediglich als die Einbeziehung der Lebenserfahrung angesehen, wie dies etwa im Zivilprozeß unbestritten üblich ist. In diesem Sinne Seeliger, Gerhard, Beweislast, Beweisverfahren, Beweisarten und Beweiswürdigung im Steuerprozeß, S. 61. 10 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22, Rn. 210. h Westerhoff, Wilhelm, Tatsachenwürdigung und Beweislast bei unklaren Rechtsgestaltungen im Steuerrecht, S. 17. 12 Wiesel, Hermann, Das Verhältnis des § 1 StAnpG zu § 6 StAnpG, S. 168.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
siert worden, daß die Grundlage der Typisierung nicht in der wirtschaftlichen Betrachtungsweise liegen könne, weil gerade das aus wirtschaftlicher Betrachtung Tatsächliche durch einen für typisch gehaltenen Sachverhalt ausgetauscht wird. 13 Typisierung im Steuerrecht läßt sich in Akten aller drei Gewalten finden. Schon der Gesetzgeber typisiert, indem er steuerlichen Tatbeständen den „typischen" Sachverhalt zugrundelegt. Beispiele für Typisierungen des Gesetzgebers sind Pauschbeträge wie der Arbeitnehmerfreibetrag nach § 9 a S. 1 Nr. 1 EStG oder die Besteuerung von Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft nach Durchschnittssätzen gemäß § 13 a EStG. Letztlich bleibt jede Rechtsnorm ihrem Wesen entsprechend abstrakt, indem sie ähnliche und dennoch nicht deckungsgleiche Sachverhalte in einem Gesetzestatbestand abhandelt.14 Das Steuerrecht ist gegenüber anderen Rechtsgebieten in besonderen Maße durch legislatorische Typisierung charakterisiert. Diese Typisierung auf der Ebene des Gesetzgebers sollte begrifflich sauber vom Typusbegriff unterschieden werden, der auch Gegenstand einer Gesetzesnorm sein kann, sich jedoch von den oben genannten Beispielen davon abhebt, daß nicht die Gesetzesanwendung vereinfacht werden soll, sondern ein Begriff durch ein Gesamtbild umschrieben werden soll, das ein mehr oder weniger der einzelnen Tatbestandsmerkmale enthalten kann. 15 Typisierende gesetzliche Regelungen sind für die Blankettnorm der Steuerhinterziehung im Hinblick auf deren Bestimmtheit und das Analogieverbot unbedenklich, da sie gerade den Entscheidungsspielraum des Gesetzesanwenders einengen und ihn auf den typischen Fall verweisen. 16 Für die hier zu untersuchende Spannung zwischen Typisierung und dem Grundsatz eines „ in dubio pro reo " steht jedoch die typisierende Betrachtungsweise bei der Gesetzesanwendung durch Exekutive und Judikative im Vordergrund. Die typisierende Betrachtungsweise ist auf diesem Gebiet mit der Lehre vom Anscheinsbeweis und dem prima-facie-Beweis in eine Reihe zu stellen. Es sollte dabei die allgemeine Lebenserfahrung in der freien Beweiswürdigung Eingang finden. Diese Sicht ist die Folge der zunehmenden Verfeinerung des Steuerrechts. Durch eine zunehmend genauere Erfassung der individuellen Leistungsfähigkeit entstand in der Verwaltungspraxis ein immer größer werdender Arbeitsaufwand, dem man im Massenverfahren durch Typisierungen Herr werden wollte. Hauptgrund ist demnach der Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung, der zur Rechtfertigung zumeist herangezogen wird. Verfassungsrechtlich läßt sich ein solches Vorgehen durch das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Steuererhebung rechtfertigen. Danach 13
Giese, Frank Paul, Abgabenordnung im Dritten Reich, S. 53. 14 Arndt, Hans-Wolfgang, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787,789.
15
In der österreichischen Literatur wird diese Trennung nicht immer in gleichem Maße vollzogen. Vgl. hierzu Gassner, Wolfgang, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, 58 ff., der den Typusbegriff als Teil der typisierenden Betrachtungsweise ansieht. 16 Eckhojf, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 97. In diesem Sinne auch Dannecker, Gerhard, Formal- und Nachweispflichten im Steuerrecht und Steuerstrafrecht, in: Roman Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 57, 83 f.
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sieht das an Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG festgemachte Wirtschaftlichkeitsprinzip vor, daß jede Form der Steuererhebung hinsichtlich der zu erwartenden Einnahmen nicht außer Verhältnis zu dem hierdurch verursachten Verwaltungsaufwand stehen darf. 17 Typisierung auf der Ebene der Gesetzgebung dagegen ist nicht formal, sondern inhaltlich am Grundsatz der Gleichmäßigkeit sowie am Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu messen. Dem steht die rechtsstaatliche Effizienz und Übersichtlichkeit gegenüber. Typisierende Regelungen erleichtern die steuerliche Einordnung und Würdigung eines Sachverhaltes und machen die steuerliche Belastung vorhersehbarer. 18 Für die herrschende Ansicht, 19 wonach das Schutzgut des Steuerstrafrechts der Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuerart ist, bedarf die materielle Gerechtigkeit der hinterzogenen Steuer keiner Erörterung. Nach dem hier vertretenen Ansatz ist die Diskussion über die Verfassungskonformität des Steuerstrafrechts auch in dieser Hinsicht offen.
II. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn mögliche Unebenheiten in der Realität nicht groß ins Gewicht fallen. 20 Die Entscheidungen ergingen zumeist zur Typisierung auf Gesetzgebungsebene. Jede Steuernorm muß, um praktikabel zu sein, typisieren, das heißt, geringfügige oder nur in besonders gelagerten Fällen auftretende Ungleichheiten in Kauf nehmen. Allein darin liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.21 Die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers ist durch gewisse äußerste Grenzen beschränkt. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung darf ein gewisses Maß nicht überschreiten. Die steuerlichen Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis stehen zu den Nachteilen.22 Der Gleichheitssatz erfordere es nicht, daß der Gesetzgeber stets den gewillkürten Aufwand berücksichtigen müsse. Es genüge der materiellen Gerechtigkeit, wenn der Gesetzgeber für bestimmte Aufwendungen nur den 17 Für diese Ableitung Jachmann, Monika, Grundthesen zu einer Verbesserung der Akzeptanz der Besteuerung, insbesondere durch Vereinfachung des Einkommensteuerrechts, StuW 1998, 193,195 f. is Birk, Dieter, Steuerrecht, Rn. 60. 19 Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 370, Anm. 1 m. w. N. 20 Urt. v. 24. 01. 1962 - 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331, 341; Beschl. v. 10. 11. 1964 1 BvL 12/60, 1 BvL 9/61, BVerfGE 18,186, 191; Urt. v. 20. 12. 1966 - 1 BvR 320/57,70/ 63, BVerfGE 21, 12, 27; Beschl. v. 28. 01. 1970 - 1 BvL 4/67, BVerfGE 27, 375, 387; Beschl. v. 18. 05. 1971 - 1 BvL 7, 8/69, BVerfGE 31, 119, 131; Beschl. v. 06. 12. 1983 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325, 354. 21 Beschl. v. 02. 10. 1968 - 1 BvF 3/65, BVerfGE 24,174, 183. 22 Urt. a. a. Ο. (Fn. 20), BVerfGE 21, 12, 27 zum Umsatzsteuersystem.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Abzug eines bestimmten typisierten Betrages zuläßt.23 Ferner sei die Typisierung von bestimmten Fristen, so zum Beispiel der Spekulationsfrist zur Feststellung von Spekulationseinkünften nicht willkürlich, sondern liege im Rahmen des Zulässigen. 24 Nunmehr sieht das Gericht Typisierung als Instrument an, um eine Gleichheit im Belastungserfolg für alle Steuerpflichtigen herzustellen. Denn ein zu individualisierendes und spezialisierendes Steuerrecht gefährde die Belastungsgleichheit, wenn es keinen unausweichlichen Belastungsgrund besitze. Das Gericht hat hier aber nur für den Gesetzgeber ein Abgehen vom Nettoprinzip zugelassen.25 Die Typisierung bei der Rechtsanwendung steht aber in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit. Schon früh hat das Bundesverfassungsgericht der Gerechtigkeit des Einzelfalles Verfassungsrang zugebilligt. 26 Dabei soll aber die Möglichkeit bestehen, die Einzelfallgerechtigkeit auch erst im Wege von Billigkeitsmaßnahmen herbeizuführen, wodurch einer steuerlichen Regelung die Verfassungswidrigkeit genommen werden kann. 27 Es bleibt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes offen, ob die Verkürzung einer solchen für sich verfassungswidrigen Steuer ein strafbares Delikt darstellt. Auf der Ebene des einfachen Gesetzes nimmt die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses einer Steuerverkürzung nicht die Strafbarkeit. Indes wären Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes über die Frage wünschenswert, inwieweit im Einzelfall eine Bestrafung verfassungskonform erfolgen kann, wenn das Gesetz erst bei Korrektur mit Hilfe eines Billigkeitserlasses nach § 227 AO verfassungskonform ausgelegt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht 28 hat der vom BFH vertretenen Rechtsauffassung widersprochen, wonach auch die Gerichte an typisierende Verwaltungsvorschriften gebunden seien. Sie könnten sich diesen aber aus eigener Uberzeugung anschließen.
III. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes Die Typisierung fand schon früh in Urteilen des Reichsfinanzhofes Anwendung. Sie bedeutete ein Abgehen von den wirtschaftlichen Gegebenheiten des Einzelfalles hin zum typischen Fall. 29 23 Beschl. v. 10. 04. 1997 - 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1, 9, zum Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag. 24 Beschl. v. 09. 07. 1969 - 2 BvL 20/65, BVerfGE 26, 302, 314. 25 BVerfG Urt. v. 07. 12. 1999 - 2 BvR 301/98, n. v. 26 Beschl. v. 12. 12. 1957 - 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 196. 27 Beschl. v. 17. 07. 1974 - 1 BvR 51, 160, 285/69, 1 BvL 16, 18, 26/72, BVerfGE 38, 61,95. 28 Beschl. v. 31. 05. 1981 - 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 214. 29 Urt. v. 19. 12. 1925 - V I A 172/25, RFHE 18, 120, 126 f.; Urt. v. 16. 02. 1927 V I A 504/26, RFHE 20, 317, 318. RFH Urt. v. 07. 05. 1930 - V I A 67/30, JW 1931, 1408, 1409.
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Später hat der Bundesfinanzhof jedoch keine Zweifel daran gelassen, daß trotz wünschenswerter Steuervereinfachung einer originären Rechtsetzung mittels Verwaltungsanweisungen enge Grenzen gesetzt sind. 30 Im Einkommenssteuerrecht sind diese „zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens" nur über eine Rechtsverordnung gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 lit. b EStG zulässig. Typisierende Verwaltungserlasse können nach Ansicht des Bundesfinanzhofes die Gerichte nicht binden, da diese wegen Art. 97 Abs. 1 GG nur nach Recht und Gesetz zu befinden haben. Zu einer anderen Beurteilung gelangt die Rechtsprechung nur, soweit Verwaltungsregelungen Schätzungen zum Gegenstand haben, da diese aus Gründen der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen auch von den Gerichten zu beachten seien, wenn sie auf sachgerechten Erwägungen beruhen und nicht im Einzelfall zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führen können.31 An anderer Stelle hat der Bundesfinanzhof typisierende Regelungen wie etwa die Kilometerpauschalen für den Werbungskostenansatz bei Dienstreisen von Arbeitnehmern „in ständiger Rechtsprechung respektiert". 32 Er anerkennt sie als vertretbare Schätzung der Verwaltung, die der Arbeitsvereinfachung für Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Finanzbehörden sowie zudem der Gleichmäßigkeit der Besteuerung dient.
IV. Meinungsstand der Literatur Von den Befürwortern einer Typisierung werden regelmäßig drei Argumente vorgebracht 33: Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung erfordere eine gleichmäßige Behandlung typischer Sachverhalte. Dies folge insbesondere aus dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit.34 Hiergegen wird eingewandt, daß aber durch die Typisierung in gleicher Weise ungleiche Sachverhalte gleich behandelt werden, die einer Differenzierung bedurft hätten. Die Durchführbarkeit eines Gesetzes verlange es, die typisierende Betrachtung aus Gründen der Arbeitsökonomie der Steuerverwaltung anzuwenden. Dieses Argument kann für die Gerichte nicht gelten, da diese an die Gesetzmäßigkeit und
30 BFH Urt. v. 21. 02. 1990 - X R 174/87, BStBl II 1990, 578, 579. 31 BFH Urt. v. 30. 07. 1982 - V I R 257/80, BStBl I I 1982, 779, 779; BFH Urt. v. 12. 04. 1984 - IV R 112/81, BStBl I I 1984, 554, 555; BFH Urt. v. 23. 04. 1991 - V I I I R 61 / 87, BStBl II 1991,752, 752. 32 So wörtlich BFH Urt. v. 26. 07. 1991 - V I R 114/88, BStBl I I 1992, 105, 106. Für die Anerkennung der amtlichen AfA-Tabellen kritischer der 6. Senat siehe Urt. v. 26. 07. 1991 V I R 82/89, BStBl II 1992, 1000, 1000. 33 Wiesel Hermann, Das Verhältnis des § 1 StAnpG zu § 6 StAnpG, S. 160; Heigl, Anton, Die Typisierung im Steuerrecht, S. 41. 34 Gast-de Haan, Brigitte, Zur Bindung der Steuergerichtsbarkeit an typisierende Regelungen der Verwaltung, in: FS 75 Jahre Reichsfinanzhof - Bundesfinanzhof, S. 227, 236. 20 Röckl
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Gerechtigkeit der Besteuerung gebunden sind. Freilich ist auch die Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Schließlich sei die Individualsphäre des Steuerpflichtigen am wenigsten betroffen, wenn der Steuerstaat bei der Besteuerung typisiere und nicht detaillierte Angaben erzwinge. Kirchhof hält die Typisierung für ein Gebot, das aus der grundrechtlichen Garantie des Datenschutzes folge. 35 Das tatbestandliche Verharren im Typischen erspare das Eindringen des Fiskus in die Privatsphäre. Durch Antragserfordernisse oder Wahlrechte könne dem Steuerpflichtigen Gelegenheit gegeben werden, persönlichkeitsbezogene Sachverhalte zu offenbaren. Biihler 36 führt aus, daß eine Typisierung nur für den Gesetzgeber zulässig sein könne. Bei Erlaß des Gesetzes seien notwendige Unvollkommenheiten hinzunehmen, gegebenenfalls seien Härtefallregelungen vorzusehen.37 Demgegenüber sei eine Typisierung durch die Verwaltung nicht zu rechtfertigen. Hierunter versteht Bühler ein Hinweggehen über tatsächlich vorliegende Einzelgestaltungen mit der Begründung, daß diese nicht typisch seien und das Steuerrecht sich an die typische Gestaltung halten müsse. Insbesondere der Hinweis auf die Gleichheit der Besteuerung schlage fehl, weil in Wahrheit Ungleiches gleich behandelt werde. Für die Rechtsprechung könne eine Typisierung nicht begrüßt werden, weil es gerade deren Aufgabe sei, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Dies gelte in besonderem Maße dann, wenn die Rechtsprechung unter dem Etikett der typisierenden Betrachtungsweise unwiderlegbare Vermutungen aufstelle. 38 Crezelius vertritt daher den Standpunkt, daß Typisierungen neben § 42 AO ausgeschlossen seien. Denn Typisierungen dienten ebenso wie § 42 AO der Mißbrauchsbekämpfung. Während § 42 AO individuell und auf den Einzelfall bezogen sei, löse sich die Typisierung vom konkreten Sachverhalt und sehe jeden atypischen Fall als Steuerumgehung an. Im Umkehrschluß aus § 42 Abs. 2 AO sei festzustellen, daß die beiden Instrumenten zugrundeliegende Fiktion nur unter den Voraussetzungen eines Gestaltungsmißbrauches im Einzelfall zulässig ist. 39 Vereinfachungszweckvorschriften dienen Praktikabilitätsgesichtspunkten und haben daher nicht die gleiche Wertigkeit wie ethische Prinzipien. 40 Der Einzelfallgerechtigkeit ist grundsätzlich der Vorrang zu gewähren, Praktikabilitätsgesichtspunkte können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie zu keiner erheblichen Einschränkung der Einzelfallgerechtigkeit führen. Daher fordern Gegenstimmen im Schrifttum, 41 daß jede typisierende Rechtsanwendung stets Ausnahmen zulas35
Kirchhof Paul, Steueranspruch und Informationseingriff, FS f. Klaus Tipke, S. 27, 38. 36 Bühler, Ottmar, Steuerrecht I, S. 96 f. 37
Ähnlich Crezelius, Georg, Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung, StuW 1981, 117, 120. 3 8 Crezelius, Georg, a. a. O. (Fn. 37), S. 117, 120 f. 39 Crezelius, Georg, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, S. 229. 40 Lang, Joachim, in: Tipke /Lang, Steuerrecht, § 4, Rn. 130.
§ 3 Der Grundsatz des „ in dubio pro reo " im Steuerstrafrecht
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sen müsse. Denn das Gleichheitsgebot verlange eine Typengerechtigkeit. Dies bedeute, die Typisierung dürfe sich nicht beliebig vom realen, empirischen Typus entfernen.
V. Kritische Analyse und Übertragung auf das Steuerstrafrecht Das Steuerrecht ist geprägt durch die hierin bestimmenden monetären Größen. Auftretende Fragen lassen sich letztlich auf ein mehr oder weniger an persönlicher Steuerschuld reduzieren. Aus diesem Hintergrund heraus erklärt es sich, daß im Steuerrecht der ökonomische Einsatz der staatlichen Mittel und ein fiskalisches Denken eine wesentlich größere Bedeutung erlangen als in anderen Teilen der Rechtsordnung, in denen regelmäßig nicht-fiskalische Interessen mitbetroffen sind. So dienen Praktikabilitätserwägungen über die reine Aufwandsbegrenzung hinaus als dogmatisches Auslegungskriterium. 42 Angestrebt wird danach die Einfachheit und Transparenz einer Steuer wie auch die Berücksichtigung der Kapazität der Steuerverwaltung sowohl hinsichtlich ihrer personellen wie materiellen Ausstattung. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch, wenn der Blankettstraftatbestand des § 370 Abs. 1 AO auf Steuertatbestände verweist, die durch die typisierende Betrachtungsweise geprägt sind. Schon im Steuerrecht sind der Berücksichtigung von Praktikabilitätserwägungen Grenzen gezogen. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß jedenfalls im Bereich verfassungsrechtlicher Wertungen es dem Gesetzgeber untersagt ist, Zweckmäßigkeitserwägungen, etwa verwaltungstechnischer Art, unter Verletzung dieser Weitungen Raum zu geben.43 Sie können jedoch dann Anwendung finden, wenn ein Steuergesetz ausschließlich an der allgemeinen Steuergerechtigkeit des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Steuerstrafrecht zur typisierenden Betrachtungsweise ist nicht damit zu beantworten, daß ein rechtsstaatliches Steuerstrafrecht die typisierende Betrachtungsweise zurückzudrängen hätte, wenn es auch zunächst einmal richtig ist, daß die typisierende Betrachtungsweise in einem Spannungsverhältnis zu den Grundrechten des Bürgers steht. Denn ein Verzicht auf die typisierende Betrachtungsweise setzt gleichzeitig voraus, dem Staat ein hohes Maß an Kompetenz zuzubilligen, illegale Steuervermeidung aufzuspüren und zu unterbinden. 44 Diese Kompetenz bedeutet nichts anderes als die Befugnis zu Grund41
Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 87. Rüping, Hinrich, Beweis verböte als Schranken der Aufklärung im Steuerrecht, S. 21. 43 Beschl. v. 17. 01. 1957 - 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55, 83 (Ehegattenzusammenveranlagung). 44 Walz, Rainer, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 171. 42
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
rechtseingriffen beim Steuerpflichtigen. Dieser muß Maßnahmen der Steuerfahndung in weitaus größeren Rahmen hinnehmen, soweit diese der Aufklärung des Sachverhaltes und der Feststellung dienen, ob Steuerverkürzungen vorliegen. Demgegenüber sieht die auf der typisierenden Betrachtungsweise beruhende Auffassung der Rechtsprechung vor, daß von dem im Wirtschaftsleben typischen Geschehen auszugehen ist, soweit nichts besonderes vorgetragen ist. Diese typisierende Betrachtungsweise dient der einfacheren Handhabung und besseren Durchführbarkeit im Steuerverfahren als einem Massenverfahren, welches aufgrund des hohen Arbeitsanfalles nicht jede Differenzierung des Einzelfalles erlaubt. Sie dient aber auch dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen. Der Preis hierfür mag im Einzelfall eine höhere Steuerschuld des Steuerpflichtigen sein. Deshalb wird im Interesse einer gleichmäßigen Durchsetzung des Steuerrechts die Typisierung auch im Steuerstrafrecht für zulässig erachtet, soweit es sich um Sachverhalte handelt, die dem Zugriff und der Reichweite der Ermittlungsbefugnisse des Staates entzogen sind. 45 Das Bundesverfassungsgericht hält es mit Recht für zulässig, daß ein Steuergesetz, um praktikabel zu sein, typisiert und geringfügige oder nur in besonders gelagerten Fällen auftretende Ungleichheiten in Kauf nimmt. 46 Dabei darf es sich jedoch allenfalls um eine unbeträchtliche Benachteiligung handeln, wenn die Norm einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten soll. Es fragt sich weiter, inwieweit Typisierungen im Steuerstrafverfahren selbst Anwendung finden können. Typisierungen bei der Rechtsanwendung sind dem Steuerstrafrecht wie schon dem Strafrecht allgemein wesensfremd, da das Strafrecht auf der persönlichen Schuld des Einzelnen aufbaut. Das von ökonomischen und fiskalischen Motiven geprägte Steuerrecht kann nicht ungefiltert ins Steuerstrafrecht übernommen werden. Denn das Strafverfahren ist durch das Streben nach Einzelfallgerechtigkeit gekennzeichnet, ferner durch Individualität und durch abgesicherte Verfahrensgarantien. 47 Die im Steuerrecht gebräuchliche Rechtfertigung einer typisierenden Betrachtungsweise, daß ohne sie der rasche und reibungslose Ablauf des Besteuerungsverfahrens gefährdet wäre, ist im Strafprozeß undenkbar, weil hier die Praktikabilität und Effizienz nicht auf Kosten der Wahrheitsfindung gehen darf 4 8 Nach dem verfassungsrechtlich garantierten Schuldgrundsatz hat die Bemessung der individuellen Schuld Vorrang vor Effizienzkriterien. Zu einem anderen Ergebnis gelangt Dannecker 49, der gesetzliche Typisierungen der § § 7 - 1 4 AStG problematisiert. Seiner Ansicht nach bestehen in Fällen gesetzlicher Typisierung keine Bedenken, da der Gesetzgeber durch Regelungen dieses 45 So insbesondere Dannecker, Gerhard, Formal- und Nachweispflichten im Steuerrecht und im Steuerstrafrecht, in: Roman Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 57, 88. 4 6 Urt. v. 24. 01. 1962- 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331, 341. 47
Wisser, Michael, Die Aussetzung des Strafverfahrens gemäß § 396 AO und die Bindung des Strafrichters, S. 132. 48 Mußgnug, Reinhard, Sachverhaltsaufklärung und Beweiserhebung im Besteuerungsverfahren, JuS 1993,48, 55. 49 Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 139.
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Inhalts den strafrechtlich geschützten Steueranspruch erst schafft und durch die gesetzgeberische Entscheidung eine sozialethische Bewertung trifft, die dem Strafrecht vorgegeben ist. Dieser Sichtweise ist zuzustimmen. Sie besagt jedoch nichts über Typisierung beim Rechtsanwender und steht daher nicht im Widerspruch zum oben Gesagten. Weithin anerkannt ist jedoch ein Abstellen auf die allgemeine Lebenserfahrung. Denn diese dient nur dazu, die Überzeugung von der persönlichen Schuld des Täters zu gewinnen. Ökonomische Gesichtspunkte erhalten allerdings bei der Bekämpfung von Bagatelldelikten, wozu vielfach auch Steuerhinterziehungsdelikte gehören, eine zunehmende Bedeutung.50 Die Grenze ist bei Typisierung zu Lasten des Steuerpflichtigen im Schuldprinzip, bei Typisierung zu Gunsten des Steuerpflichtigen im Legalitätsprinzip zu sehen. Daher verbietet sich im Steuerstrafrecht eine Übernahme der von Rechtsprechung und Finanzverwaltung praktizierten Typisierungen.
C. Schätzung im Steuerrecht und strafrechtliche Wahrheitsfindung I. Problemstellung Einer strafrechtlichen Verurteilung dürfen nur die mit Gewißheit oder zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verkürzten Steuerbeträge zugrundegelegt werden. Hierin unterscheidet sich die strafrechtliche Wahrheitsfindung von der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Besteuerungsverfahren. Dort kann, soweit sich der Sachverhalt wegen unzureichender Mitwirkung des Steuerpflichtigen, insbesondere nicht ordnungsgemäßer Buchführung nicht aufklären läßt, auf eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO zurückgegriffen werden. Die Schätzung bedeutet aber eine Reduzierung des Beweismaßes, so daß der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt wird. Begrifflich umfaßt sie jede Art des Schlußfolgerns mit vermindertem Überzeugungsgrad.51 Dabei ist es zulässig, sich über gegebene Zweifel in tatsächlicher Hinsicht hinwegzusetzen,52 indem die grundsätzlich erforderliche Gewißheit („Überzeugung") auf einen (niedrigeren) Grad an Wahrscheinlichkeit herabgesetzt werden kann. Der Strafrichter ist hieran jedoch nicht gebunden. Voraussetzung der Strafbarkeit einer auf Schätzung beruhenden Steuerverkürzung ist zunächst die hinreichende Bestimmtheit der zugrundeliegenden steuerlichen Vorschrift, weil anderenfalls schon ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vorliegt. Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Buchführung kann nur dann eine 50 Teske, Doris, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Beweisverfahren im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, S. 143 f. 51 BFH Urt. v. 15. 02. 1989 - X R 16/86, BStBl I I 1989,462,464. 52 BFH Urt. v. 14.08. 1991 - X R 86/88, BStBl II 1992, 128, 131.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Schätzung rechtfertigen, wenn die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung eine hinreichende Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen erlauben. 53 Eine Schätzung54 bei feststehendem Sachverhalt ist schon steuerrechtlich 55 nicht zulässig, da es sich um eine Schätzung von Rechtsfragen handeln würde, von denen Bestehen und Höhe des Steueranspruches abhängt, nicht hingegen um die tatsächlichen Fragen der Bemessungsgrundlage. Maßgeblich für die Beurteilung rechtlicher Fragen der Besteuerung ist das Legalitätsprinzip, nicht hingegen der Grundsatz des „in dubio pro reo", weil dieser sich nur auf die zur Last gelegten Tatsachen bezieht. Läßt sich dagegen die Höhe der Steuer aus dem Gesetz nicht eindeutig entnehmen, so ist der Steuertatbestand unbestimmt. Jede andere Schlußfolgerung liefe im Steuerstrafrecht auf den Grundsatz des „ in poenalibus benignius interpretandum est" hinaus. Eine so verstandene wohlwollende Auslegung der ausfüllenden Steuernorm zugunsten des Angeklagten ist abzulehnen, weil es nur eine zu ermittelnde ,»richtige" Auslegung eines Gesetzes gibt, wenn auch darüber verschiedene Auffassungen vorherrschen mögen, welche diese ,»richtige" sei. Diese „richtige" Auslegung ist aber nicht die für den Beschuldigten günstige, sondern diejenige, welche sich aufgrund der anerkannten Auslegungsmethoden als folgerichtig herausstellt. 56 Versagen alle Auslegungsmethoden, so stellt die Verweisung des Blankettatbestandes der Steuerhinterziehung einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz dar. Die Zulässigkeit einer Schätzung von Tatsachen durch den Strafrichter erfordert aber weitere Überlegungen. Die umfangreiche, zumeist strafrechtliche Literatur befaßt sich vor allem mit den einzelnen Schätzungsverfahren, die zum Teil aus Erkenntnissen der Betriebswirtschaftslehre abgeleitet sind, und überprüft die Anwendung und die Beschränkung des einzelnen Schätzungsverfahrens im Strafverfahren. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Grundsatz des „ in dubio pro reo " findet jedoch in aller Regel nicht statt. 57 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts53 Barkmann, Hans-Joachim, Übertragbarkeit der steuerlichen Schätzungsmethoden in das Steuerstrafverfahren, S. 151. 54 Mit Recht abl. Gast-de Haan, Brigitte, Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich, BB 1991, 2490, 2493. 55 Allgemein zur Unzulässigkeit der Schätzung im Steuerrecht, soweit nicht nur Tatsachen, d. h. Besteuerungsgrundlagen betroffen sind: Riisken, Reinhart, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 162, Anm. 2. 56 In diesem Sinne zur Auslegung von strafrechtlichen Normen allgemein m. w. N.: Hildebrandt, Jürgen, Neuartige Auslegungsfragen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht, S. 71 ff., der den Grundsatz „inpoenalibus benignius interpretandum est" ebenfalls ablehnt.
57 Vgl. die eher praxisorientierten Darstellungen bei Spriegel, Helmut, Probleme der Schätzung im Steuerstrafverfahren, wistra 1997, 48, 50; Dörn, Harald, Schätzung im Steuerstraf- und im Besteuerungsverfahren, wistra 1993, 1, 2 ff.; Bilsdorf er, Peter, Die Bedeutung von Schätzungen für das Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht, DStZ 1982, 298, 299 ff.; Ρ eichen, Michael, Die Verwertung steuerrechtlicher Schätzungen im Strafverfahren, MDR 1982, 10, 11; Stypmann, Rolf, Methoden zur Feststellung der Steuerverkürzung und
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hofes hat die grundsätzliche Zulässigkeit der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO auch im Steuerstrafverfahren gebilligt. 58 Die Auswahl der Schätzungsmethode sei dem Tatrichter überlassen. Die Schätzungen der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren darf der Strafrichter nur nach eigener Überprüfung und Überzeugungsbildung übernehmen. Die inhaltlichen Vorgaben des Bundesgerichtshofes umfassen lediglich Minimalforderungen: Die Schätzung müsse schlüssig sein, wirtschaftlich vernünftig und möglich. Mehr verlangt die Rechtsprechung nicht. Es liegt nämlich ein Spannungsverhältnis darin begründet, daß der Steuerhinterzieher sich seiner Mitwirkungspflicht etwa schon bei notwendigen Aufzeichnungen und Aufbewahren der Belege entledigen könnte und durch dieses vorangegangene Fehlverhalten einer strafrechtlichen Ahndung entzieht. Daher mag man geneigt sein, dem Strafrichter in engen Grenzen zuzugestehen, seine Überzeugungsbildung auf Hilfstatsachen zu stützen.59 Der Blick richtet sich hier aber auf die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Schätzung durch den Strafrichter. Denn selbst bei Verletzung einer steuerlichen Pflicht durch den Täter einer Steuerhinterziehung läßt sich eine Reduzierung des strafrechtlichen Beweismaßes nur schwer begründen. 60 Schließlich kann sich der Täter auch hier auf das Recht berufen, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen und allein deswegen die Mitwirkung verweigern. Insbesondere ist zu hinterfragen, inwieweit dem Umstand, daß der Steuerpflichtige einen auf einer Schätzung beruhenden Bescheid rechtskräftig werden läßt, eine Geständniswirkung beizumessen ist. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß nicht jede Schätzung im Steuerrecht durch eine nicht hinreichende Mitwirkung des Steuerpflichtigen veranlaßt ist. Einzelne Ansätze bestimmter Bilanzpositionen beispielsweise können nur geschätzt werden, weil eine exakte Wertermittlung faktisch ausgeschlossen ist. Als ein solcher Ansatz sind Pauschalwertberichtigungen auf Forderungen zu nennen. Die dabei zu beachtenden „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" lassen jene Bestimmtheit vermissen, welche Art. 103 Abs. 2 GG verlangt. Demzufolge erfordern Wertansätze aufgrund der „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" eine restriktive Auslegung, wollen sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden. 61 Die von Vertretern der Finanzverwaltung geäußerte Ansicht, wonach jeder Unternehmer wisse, wie bestimmte Geschäftsvorfälle zu buchen seien, dürfte einem Wunschdenken entsprechen und den Steuerpflichtigen überfordern. 62 Schätzung im Steuerstrafverfahren, wistra 1983, 95, 97 ff.; Hild, Dieter, Schätzungen im Steuer- und Strafrecht, DB 1996, 2300, 2303. 58 BGH Beschl. v. 04. 02. 1992 - 5 StR 655/91, wistra 1992, 147, 148. 59 Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 82. 60
Barkmann, Hans-Joachim, a. a. O. (Fn. 53), S. 74; Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 162, Rn. 2. 61 Barkmann, Hans-Joachim, a. a. O. (Fn. 53), S. 151. 62 So tatsächlich Lohmeyer, Heinz, Steuerliche Bilanzdelikte und deren strafrechtliche Folgen, Wpg 1990, 314, 319.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Die Frage nach der Ubertragbarkeit von Schätzungen stellt sich nur dann, wenn man eine strenge Bindungswirkung des Steuerbescheides für das Steuerstrafverfahren ablehnt.63 ff. Nach der hier vertretenen Ansicht sowie nach der Auffassung der Gegner einer Bindungswirkung bleibt die Frage aber offen und bedarf einer Auseinandersetzung. Beweisvermutungen im Steuerrecht, seien sie gesetzlich normiert, seien sie durch Richterrecht entwickelt, sind nicht geeignet, über das Steuerrecht hinaus auch im Strafrecht zuungunsten des Steuerpflichtigen zu wirken. 64 Dem läßt sich nicht dadurch abhelfen, daß der Strafrichter von der steuerlichen Schätzung ausgeht und lediglich, um Unsicherheitsfaktoren und Fehler auszuschließen, Abschläge hierauf vornimmt. Schon der gesamte Ansatz ist zu hinterfragen. Am weitesten ist wohl Guido Klein mit der Annahme gegangen, daß ein Blankettatbestand mit seiner Verweisung auf ein anderes Rechtsgebiet auch dessen Beweisregeln übernehme.65 Im Ergebnis liefe dies darauf hinaus, daß der einfache Gesetzgeber die verfassungsrechtlich gebotene Unschuldsvermutung und den damit verbundenen Grundsatz des „ in dubio pro reo " durch eine Verweisung auf außerstrafrechtliche Normen aushebeln könnte. Der Vorrang der Verfassung steht dem jedoch entgegen.66 Die Gegenansicht wurde u. a. von Hüchel vertreten, 67 der feststellt, daß objektive Beweislastgrundsätze, wie sie das Steuerrecht kennt, im Strafverfahren keine Geltung beanspruchen können. Hüchel zeigt zunächst auf, daß schon aus verfassungsrechtlichen Gründen Beweislastfragen an der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gemessen werden müssen. Denn ein effektiver Rechtsschutz wäre ausgeschlossen, wenn dem Steuerpflichtigen alle Beweislast für Tatsachen aufgebürdet würde, die erst einen hoheitlichen Eingriff rechtfertigen könnten. Parallel dazu greift der Schuldgrundsatz und der hieraus abzuleitende Grundsatz des „in dubio pro reo u ein. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folge aber ferner, daß der Staat die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen habe. Umgekehrt sei dem Betroffenen ein aus Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht erwachsendes Recht auf ein justizförmiges Verfahren zur Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Er räumt jedoch ein, daß bei der Verfolgung von leichten und mittleren Straftaten wegen der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftgebundenheit des Menschenbildes 63 Hierzu siehe unten: Viertes Kapitel: § 4 „Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem" auf S. 317 ff. 64 Gribbohm, Günter/ Utech, Hans, Probleme des allgemeinen Steuerstrafrechts, NStZ 1990, 209, 214. 65 Klein, Guido, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast im Steuerrecht und im Strafrecht, S. 58 f. 66 Str., zum Streitstand Stuckenberg, Carl-Friedrich, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 97. 67 Hüchel, Uwe, Schätzungen im Steuerstrafverfahren, S. 129.
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des Grundgesetzes der Einzelne auch Einschränkungen hinzunehmen habe. Daher sei eine Reduktion der Aufklärungspflicht in gewissem Rahmen verfassungsrechtlich erlaubt. Dannecker hat hierzu vorgeschlagen, eine Reduzierung des Beweismaßes im Steuerstrafrecht dann zuzulassen, wenn die Verletzung einer Mitwirkungspflicht durch den Steuerpflichtigen gleichzeitig die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Steuerhinterziehung in sich trägt. 68 Barkmann ist dem entgegengetreten mit der Aussage, daß zwischen einer steuerlichen Pflichtverletzung und einer bestimmten Höhe der verkürzten Steuer keine Verknüpfung anhand eines Wahrscheinlichkeitssatzes bestehe.69 Andere Stimmen halten es für unzulässig, dem Angeklagten vorzuhalten, er sei es gewesen, der eine steuerrechtliche Schätzung notwendig gemacht habe. Denn den Angeklagten trifft keine Beweislast, also kann ihm seine fehlende Mitwirkung nicht zum Vorwurf gemacht werden. 70 Ferner wird angeführt, daß es gegen das „nemo tenetur"-Prinzip verstieße, wenn den Angeklagten irgendeine Form einer Beweislast träfe. 71 Es ist deshalb die alleinige Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen.
II. Steuerrechtliche Vorfragen Ausgangspunkt einer eigenen Beurteilung sind zunächst Möglichkeiten und Grenzen der steuerlichen Schätzung. § 162 AO sieht eine Schätzung dann vor, wenn die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Form der Sachverhaltsaufklärung bestehen seitens der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht. 72 Der Schätzung wird Vorrang vor der Anwendung von Beweislastregelungen gewährt. 73 Es steckt daher in der Schätzung ein erhebliches Gefahrenpotential. Eine zu großzügige Handhabung führt leicht zu einer Umgehung der Beweisfrage, so daß die Position des Steuerpflichtigen einseitig verschlechtert wird. Auf der Ebene des einfachen Gesetzes liegen jedoch unterschiedliche Auslegungen vor. Strittig ist danach, ob der Schätzung nur die Höhe der Besteuerungsgrund68 Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 137. In die gleiche Richtung: Suhr/Naumann/Bilsdorfer, Steuerstrafrecht - Kommentar, Tz. 257, unter Berufung auf BGH Urt. v. 16. 06. 1954 - 3 StR 222/53, NJW 1954, 1819, 1819. 69 Barkmann, Hans-Joachim, Übertragbarkeit der steuerlichen Schätzungsmethoden in das Steuerstrafverfahren, S. 97. 70 So Joecks, Wolfgang, Steuerliche Schätzungen im Strafverfahren, wistra 1990, 52, 55 f., ihm folgend Barkmann, Hans-Joachim, a. a. O. (Fn. 69), S. 166. Ahnlich auch Simon, Eberhard, in: Simon / Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 41. 71 Burkhard, Jörg, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 101. 72 Beschl. v. 31. 05. 1988 - 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 229; BVerfG Beschl. v. 06. 04. 1990-1 BvR 733/89, HFR 90, 651,651. 73
Rüsken, Reinhart, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 162, Anm. 1.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
läge zugänglich ist oder ob die Besteuerungsgrundlagen sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach geschätzt werden können. Tipke 74 will in dem Wortlaut „Besteuerungsgrundlage" die Maßzahl angesprochen sehen und vertritt demzufolge die Ansicht, daß allein der Höhe nach zu schätzen sei. Eine solche Deutung läßt sich indessen nicht zwingend aus dem Wortlaut ableiten, sie entspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn danach ist eine Schätzung selbst dann erforderlich, wenn der Tatbestand, der der Besteuerung zugrundegelegt wird, an sich unerweislich ist. 75 Ist der Tatbestand hingegen der Beweisermittlung zugänglich, so ist vertretener Rechtsansicht folgend nach Beweislastgrundsätzen gemäß § 88 AO zu entscheiden, wenn es sich um reine Fakten handelt, die nicht geschätzt werden können.76 Ist aber die Schätzung aufgrund mangelnder Mitwirkung des Steuerpflichtigen erforderlich geworden, so kann kein Zweifel bestehen, daß unter entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 444 ZPO i. V. m. § 155 FGO im Besteuerungsverfahren dem Steuerpflichtigen aus der Tatsache, daß er die Beweisführung vereitelt, nicht auch noch ein Vorteil entstehen darf. 77 Teile des Schrifttums 78 halten die Unterscheidung zwischen Schätzung dem Grunde und der Höhe nach ohnedies für überwunden, da auch jedem quantitativen Zahlenansatz ein mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit vermuteter Sachverhalt zugrundeliegt.
I I I . Stellungnahme Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Schätzung im Steuerstrafverfahren ist zu unterscheiden: Bewußte Überschätzungen sind verfassungsrechtlich nicht haltbar. 79 Denn Schätzungen dienen im Steuerstrafverfahren allein der Ermittlung des der Entscheidung zugrundezulegenden Sachverhalts. Sie dienen nicht der Bestrafung des 74 Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, § 162 AO, Rn. 2a; ebenso Schick, Stefan, Der Begriff der Besteuerungsgrundlage in der Abgabenordnung, S. 54 f. 75 Wallis, Hugo v., in: Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 162 AO, Rz. 2 f. und 15; im Ergebnis ebenso Dannecker, Gerhard, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsverkehr, S. 35. 76
Spriegel, Helmut, Probleme der Schätzung im Steuerstrafverfahren, wistra 1987,48,49. BFH Urt. v. 15. 02. 1989 - X R 16/86, BStBl I I 1989, 462, 464. Zustimmend Kottke, Klaus, Noch einmal: Die einkommenssteuerrechtliche Behandlung ungeklärter Vermögenszuwächse, BB 1999, 1741, 1742; Hildebrandt, Bernd, Steuerliche und strafrechtliche Folgen unzureichender Mitwirkung des Steuerpflichtigen bei der Sachverhaltsaufklärung, StBp 1991, 108, 109. 78 Seer, Roman, in: Tipke / Lang, Steuerrecht, § 22, Rn. 214 m. w. N. In die gleiche Richtung äußert sich Weber, Sebastian, Die Mitwirkungspflichten nach der Abgabenordnung und die Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Sachaufklärung, S. 141. 79 So auch Marschall, Michael, Bedeutung der Schätzung im Steuerstrafverfahren, DStR 1979, 587, 588. 77
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Täters für eine unterlassene Mitwirkung. Sofern der Gesetzgeber bereits im Verstoß gegen Buchführungsvorschriften einen strafbaren Tatbestand sieht, ist er gehalten, hierfür einen eigenen Straftatbestand zu schaffen. Geschieht dies nicht, so verstößt es gegen den Schuldgrundsatz, wenn aus dem Fehlen steuerlicher Aufzeichnungen allein eine Strafbarkeit folgt, auch wenn dies über den Umweg der Schätzung im Steuerhinterziehungstatbestand erfolgt. Unbedenklich ist es dagegen, aus dem Umstand, daß ein Steuerstraftäter relevantes Material vernichtet hat, einen Anhaltspunkt für seine Täterschaft abzuleiten, weil er hiermit zu erkennen gibt, daß er eine Verurteilung zu fürchten hat. Eine bestimmte Höhe der Hinterziehung ist hieraus jedoch nicht abzuleiten. Der Strafrichter muß seine Überzeugung diesbezüglich aus anderen Umständen entnehmen. In allen anderen Fällen, in denen die Schätzung von der Absicht bestimmt ist, den tatsächlichen Verhältnissen möglichst nahezukommen, ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall durchzuführen. Ob es hier mit bloßen Sicherheitsabschlägen getan sein kann, erscheint höchst zweifelhaft. 80 Das Steuerrecht könnte in bestimmten Fällen eine Umkehr der objektiven Beweislast rechtfertigen. Es sind dies diejenigen Fälle, die über § 155 FGO dem Zivilprozeßrecht entlehnt sind. § 444 ZPO ist von dem allgemeinen Rechtsgedanken beherrscht, daß dem Beweisverderber sein Tun nicht zum Vorteil gereichen darf. Schon im Steuerrecht stößt die Einordnung dieser Fälle als Umkehr der Beweislast auf Widerspruch. In der Literatur wird die Vereitelung eines Beweises nicht als Grund einer Umkehr der Beweislast angesehen, vielmehr soll in dem Vereiteln der Beweise selbst ein Beweisanzeichen zu sehen sein, welches vom Richter in seiner Beweiswürdigung berücksichtigt werden kann, wenn auch eingeräumt wird, daß vom Ergebnis her kein Unterschied zu einer Beweislastumkehr besteht.81 Praktisch macht dies freilich keinen großen Unterschied. Es dürfte damit allgemein anzuerkennen sein, daß der Beweisverderber die Folgen der durch sein Tun entstandenen Beweisnot selbst zu tragen hat. Ob der Angeklagte dagegen Einwände gegen die steuerliche Schätzung vorbringt oder nicht, kann kein maßgeblicher Anknüpfungspunkt sein. 82 Detaillierte Einwände sollten Anlaß zu genauer Überprüfung sein. Ein Schweigen aber entbindet den Strafrichter nicht von seiner Pflicht, den Sachverhalt selbst aufzuklären. Dem Angeklagten darf unter Einwirkung des „ nemo tenetur "-Gebotes kein Nachteil aus seiner fehlenden Mitwirkung im Strafverfahren entstehen, und zwar eben auch nicht in der Form, daß der Strafrichter eine steuerliche Schätzung unbesehen übernehmen könnte. 80
Krit. Burkhard, Jörg, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, S. 87, der in der Vornahme von Sicherheitsabschlägen das Eingeständnis eines Mangels an erforderlicher Gewißheit sieht. 81 Zapf, Hellmut, Beweislast und Beweisführungslast im Steuerprozeß, S. 76. S2 Wohl a. A. Burkhard, Jörg, a. a. O. (Fn. 80), S. 101.
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Am Ende wird es daher hinzunehmen sein, daß die steuerstrafrechtlichen Ergebnisse von den dem Besteuerungsverfahren zugrundegelegten deutlich abweichen können.
D. Gesteigerte Nachweispflichten bei Auslandsbeziehungen nach § 90 Abs. 2 AO Das Steuerrecht legt dem Steuerpflichtigen bei Auslandsbeziehungen gesteigerte Nachweispflichten auf. § 90 Abs. 2 AO verlangt, bereits bei Unterhalten von geschäftlichen Beziehungen zum Ausland dafür Sorge zu tragen, daß der Finanzbehörde später die erforderlichen Sachverhaltsangaben vollständig und wahrheitsgemäß vorliegen und die erforderlichen Beweismittel beigebracht sind. Die Vorschrift normiert einen Grundsatz, der schon zuvor von der Finanzrechtsprechung anerkannt war. Die Literatur ist dem weitgehend gefolgt. 83 Probleme bereitet jedoch die Übertragbarkeit dieses Grundsatzes auf das Steuerstrafrecht. Der BGH hat zunächst entschieden, daß die bei Auslandssachverhalten geltende erweiterte Sachaufklärungs- und Mitwirkungspflicht der Beteiligten im Strafverfahren keine Anwendung finden kann. 84 Der Steuerhinterzieher müsse aber Unsicherheiten, welche als Folge seiner fehlenden Mitwirkung entstanden sind, im Rahmen der Schätzung gegen sich gelten lassen.
83 Zapf, Hellmut, a. a. O. (Fn. 81), S. 86 f. 84 BGH Beschl. v. 13. 10. 1994 - 5 StR 134/94, HFR 1995, 476, 476; nochmals bestätigt im Urt. v. 26. 10. 1998 - 5 StR 746/97, wistra 1999, 103, 106. Für die Literatur: Streck, Michael /Spatscheck, Rainer, Steuerliche Mitwirkungspflicht trotz Strafverfahrens?, wistra 1998, 334, 338.
§ 4 Das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz als Verfassungsproblem A. Problementfaltung Der Blankettcharakter des Steuerhinterziehungstatbestandes bringt es mit sich, im Rahmen eines Steuerstrafverfahrens in erheblichem Umfang steuerliche Vorfragen entscheiden zu müssen. Es gilt zu untersuchen, ob das Grundgesetz Aussagen darüber enthält, wer primär zur Entscheidung über diese Fragen berufen ist: Das Strafgericht, welches letztlich den Schuldspruch zu fällen hat, oder das Finanzgericht, dem eine größere Sachnähe zukommt. Die Antwort auf diese Frage beinhaltet am Ende die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Steuer- und Steuerstrafverfahren selbst. Als heute geklärt kann lediglich die Verfassungswidrigkeit des früheren Verwaltungsstrafverfahrens im Steuerstrafrecht angesehen werden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 1 und unter Zustimmung weiter Teile der Literatur 2 wurde das Steuerstrafverfahren grundlegend neu gestaltet und in die Hände der Justiz gelegt. Im übrigen aber bestehen erhebliche Defizite hinsichtlich des steuerrechtlichen Kenntnisstandes der Strafgerichte. 3 Beim BGH wurde für das Steuerstrafrecht mit dem 3. Senat ein eigener Spruchkörper eingerichtet, der den erforderlichen Sachverstand in steuerlichen Fragen aufweisen kann. Steuerstrafrechtliche Taten sind jedoch bis hinab zum Amtsrichter abzuurteilen, der mit komplizierten steuerrechtlichen Fragestellungen oftmals überfordert sein kann, zumal die Juristenausbildung zwar das Strafrecht als Disziplin pflegt, demgegenüber aber das Steuerrecht zumeist stiefmütterlich vernachlässigt. Während ein Finanzrichter regelmäßig einige Jahre Berufserfahrung in der Finanzverwaltung gesammelt hat, sind vergleichbare Kenntnisse beim Strafrichter nicht zu finden, da die Justizlaufbahn andere Wege vorsieht.
ι Urt. v. 06. 06. 1967 - 2 BvR 375, 53/60 und 18/65, BVerfGE 22, 49,73 ff. Hierzu m. w. N. Prugger, Herbert, Die Strafbefugnis der Finanzämter, S. 27 f. 3 Krit. Borgmann, Olaf, Steuerstrafrechtspflege durch die Finanzgerichtsbarkeit, KOSDI 1985, 5922, 5922. 2
318
4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
B. Inkurs: „iura novit curia" Der (Straf-) Richter kennt das (Steuer-) Recht? In die Diskussion um das Verhältnis von Steuer- und Steuerstrafverfahren ist in neuerer Zeit wieder Belebung gekommen. Es wird kritisiert, daß häufig Strafrichter das Strafverfahren nicht aussetzen, obgleich ihnen die erforderlichen Vorkenntnisse in zumindest einzelnen Bereichen des Steuerrechts fehlen, statt dessen aber Betriebsprüfer oder Steuerfahnder als Zeugen laden und diese nicht nur zu Tatsachen, sondern auch zu steuerrechtlichen Fragestellungen des jeweiligen Falles hören. 4 Dies geht oftmals soweit, daß sich Teile des Steuerfahndungsberichtes im späteren Urteil wiederfinden 5 und sich die Frage aufdrängt, ob hier noch der Strafrichter selbst entschieden hat. Von Teilen der Literatur wird dies damit gerechtfertigt, daß ein materiell - rechtlich richtiges Urteil wichtiger sei als die Einhaltung formaler Prozeßregeln. 6 Im Bereich des Zivilprozesses wird die Frage diskutiert, ob der Richter in Grenzbereichen zwischen Steuerrecht und Betriebswirtschaft, insbesondere bei Wertungsfragen entgegen § 293 ZPO ein Sachverständigengutachten einholen kann.7 Der BGH hat hieran inzwischen Anstoß genommen8 und festgestellt, daß die Berechnung des Umfanges der verkürzten Steuern, durch die der Schuldumfang der Tat festgelegt wird, dem Strafrichter und nicht den Beamten der Finanzverwaltung obliegt. Daher genügt die Wiedergabe eines gemäß § 202 Abs. 1 S. 1 AO erstellten Betriebsprüfungsberichtes den bei einer Steuerhinterziehung an die Urteilsgründe zu stellenden Anforderungen nicht. 9 Diese Praxis insbesondere der Untergerichte läßt sich in schwierigen steuerlichen Feldern neben der fachlichen Kenntnis des Amtsrichters auch darauf zurückführen, daß dem Strafrichter anders als den Finanzbehörden oder dem Steuerberater des Angeklagten keine Hilfsmittel wie EDV zum Anstellen komplizierter steuerlicher Berechnungen, beispielsweise der (bislang noch erforderlichen) körperschaftssteuerlichen Eigenkapitalgliederung nebst Gewerbesteuerrückstellung zur Verfügung steht. Die Ausrüstung der Amtsgerichte hat mit der zunehmenden Komplexität des Steuerrechts nicht Schritt gehalten. 4
Insbesondere Joecks, Wolfgang, Iura novit Curia? Iudex non calculai?, FS Fachanwalt für Steuerrecht im Rechtswesen, S. 661, 662. 5 Joecks, Wolfgang, a. a. O. (Fn. 4), m. w. N. auf die Rspr., die das Übernehmen oder gar Kopieren von Berechnungen der Finanzbehörden in die Urteilsgründe schließlich beanstandete. Siehe ferner auch OLG Saarbrücken Urt. v. 23. 08. 1999 - Ss 40/99 (60/99), wistra 2000, 38, 39. 6 So Hund, Thomas, Der Steuerberater als Sachverständiger, DStR 1997, 1264, 1267, zur Bestellung von Angehörigen der steuerberatenden Berufe in Gerichtsverfahren zu Fragen des Steuerrechts. 7 Vgl. Nicki, Werner, Das steuerrechtliche Sachverständigengutachten im Unterhaltsprozeß, NJW 1989, 2091, 2093. 8 BGH v. 15. 05. 1997 - 5 StR 45191 - NStZ-RR 1997, 277, 277. 9 BGH v. 04. 05. 1990-3 StR 72/90 - NStZ 1990,496,496 f.
§ 4 Steuerverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz
319
Hiergegen wird vorgebracht, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz des „ iura novit curia " vor. 10 Inwieweit dieser Grundsatz einfachgesetzlich verankert wurde, kann letztlich dahinstehen. Es kommt entscheidend darauf an, welche verfassungsrechtlichen Gebote mit der beschriebenen Rechtswirklichkeit in Konflikt geraten. Geht man nun vom Grundsatz des „ iura novit curia" aus, so gilt es zunächst festzuhalten, daß er verschiedene Begriffselemente enthält, von denen hier nur Teile eine Rolle spielen. Entwickelt wurde der Grundsatz vor allem im Zivilprozeßrecht.11 Er umfaßt daher unter anderem die Vorstellung, daß die Rechtsanwendung im gerichtlichen Verfahren der Disposition der Prozeßparteien entzogen ist. Für das Steuerstrafverfahren muß dies heißen, daß allein der Richter rechtliche Entscheidungen trifft, die Prozeßbeteiligten tragen jeweils nur ihren eigenen Rechtsstandpunkt vor. Der Richter hat die Rechtssätze von sich aus anzuwenden. Dies führt gleichzeitig zu einer Dispensation der Beteiligten von der Kenntnis des Rechts.12 Das zu fällende Urteil soll für den Rechtsunkundigen, der zu keinem Rechtsvortrag in der Lage ist, ebenso ausfallen, wie beim Rechtskundigen. Um dies zu gewährleisten, ist freilich das Recht auf einen Verteidiger gegeben. Der Richter hat aber nach diesem Grundsatz auch von den Beteiligten nicht angerufene Rechtssätze anzuwenden, so daß dem Bürger ein zusätzlicher Schutz gewährt wird unabhängig vom Verteidigervorbringen. Verfassungsrechtlich gibt diese Bestimmung des Inhaltes dieses Grundsatzes folgende Anhaltspunkte für Grenzen einer Übertragung von richterlichen Kompetenzen auf den Prüfungsbeamten von Außenprüfung und Steuerfahndung. So könnte das rechtsstaatliche Gebot der Waffengleichheit betroffen sein. Danach soll auch der Rechtsunkundige gleiche Chancen im Verfahren erhalten. Die Waffengleichheit ist jedoch nicht allein dadurch betroffen, daß ein anderer als der Richter Rechtsanwendung betreibt. Erst wenn hieraus ein Ungleichgewicht im Verfahren entsteht, kann von einem Verstoß gegen die Waffengleichheit gesprochen werden. Schließlich wird der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte nach Art. 97 Abs. 1 GG berührt. Der Entscheidungsfindungsprozeß darf nicht von Personen bestimmt werden, die der Sphäre einer Partei zuzurechnen sind. Macht sich der Richter von der Anklagebehörde und ihr zugeordneten Personen wie den Beamten der Steuerfahndung abhängig, so wird die Trennung von Anklagebehörde und Gericht durchbrochen, wie dies für den Inquisitionsprozeß charakteristisch wäre. Aus diesem Umstand heraus ergeben sich nicht unerhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Darüber hinaus ist ein Beamter der Finanzverwaltung im Gegensatz zum Richter nicht weisungsfrei und stellt damit die Unabhängigkeit gegenüber 10
So schon Wisser, Michael, Die Aussetzung des Steuerstrafverfahrens gemäß § 396 AO und die Bindung des Strafrichters, S. 24. 11 Dort wird er verkürzt oft mit dem Grundsatz „da mihi facta, dabo tibi ius" gleichgesetzt. 12 Meier, Isaak, Iura novit curia, S. 138.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
der Exekutive in Frage. Es fehlt die Neutralität und Distanz eines unbeteiligten Dritten gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Zu untersuchen ist weiter, ob sich aus diesen Überlegungen ein konkretes subjektives Recht ableiten läßt. Zunächst gilt: Es darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Diese Verfassungsbestimmung trifft aber nach wohl überwiegender Auffassung nicht lediglich eine Aussage über die Zusammensetzung der Richterbank, also eine rechtssatzmäßige Bestimmung,13 sondern auch darüber, welche Bereiche einer richterlichen Entscheidung unterworfen sind. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist in Zusammenhang mit dem Richtermonopol nach Art. 92 GG und Art. 97 GG zu sehen. Der maßgebliche Aspekt ist nämlich die Verletzung des Richtervorbehaltes nach Art. 92 GG. Über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erwächst dem Prozeßbeteiligten hier ein individueller Anspruch. Dabei ist ein materieller Begriff der rechtsprechenden Gewalt zugrunde zu legen. 14 Problematisch könnte hier sein, inwieweit die Sichtung und Auswertung der Buchführung eines Steuerpflichtigen als „rechtsprechende Gewalt" i. S. d. Art. 92 GG anzusehen ist. Wegen ihrer Nähe zum betrieblichen Rechnungswesen und der damit verbundenen Einstufung als Teil betriebswirtschaftlicher, das heißt, sozialwissenschaftlicher Disziplinen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß es sich um rechtsprechende Gewalt handelt. So setzt Rechtsprechung jedenfalls eine rechtliche Beurteilung von Sachverhalten in Anwendung des jeweils geltenden Rechts voraus. Das Buchführungswesen, so wird verschiedentlich argumentiert, ist nicht eine bloße Teildisziplin des Steuerrechts. Vielmehr sei es davon verselbständigt. 15 Steuerhinterziehungsdelikte ergeben sich aber, jedenfalls im unternehmerischen Bereich, regelmäßig aus der Buchführung des Betriebes. Eine Überprüfung ist deshalb unerläßlich. Andererseits entziehen sich etwa die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung einer rechtswissenschaftlichen Betrachtung, da sie von erfahrungswissenschaftlichen Gepflogenheiten eines ordentlichen Kaufmannes ausgehen. Die steuerliche Beurteilung der durch das Rechnungswesen dokumentierten Geschäftsvorfälle ist ohne Zweifel Rechtsanwendung. Letztlich läßt sich auch die Verbuchung nicht von der Subsumtion unter das Gesetz trennen, da eine ordnungsgemäße Buchung die Einordnung des Vorganges unter die Kategorien des Gesetzes voraussetzt. 16 Bestimmend sind Vorschriften des Handels- und
13
So offenbar Degenhart, Christoph, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 101, Rn. 5 ff. Zum Streitstand über eine bloß formelle Auslegung des Begriffes vgl. Schmidt-Bleibtreu, Bruno, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 2 ff. 15 Seer, Roman, Der Einsatz von Prüfungsbeamten durch das Finanzgericht, S. 234. 16 Α. A. wohl Seer, Roman, a. a. O. (Fn. 15), S. 235, der in der Überprüfung der Buchführung eine Sachverständigenaufgabe sieht, die typischerweise von Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Prüfungsbeamte der Finanzverwaltung ausgeübt werde. Aus den Anforderungen der gesetzlichen Bestimmung des § 145 Abs. 1 S. 1 AO, wonach eine Buchführung so beschaffen sein muß, daß sie einem sachverständigen Dritten innerhalb angemessener Zeit 14
§ 4 Steuerverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz
321
Steuerrechts, die über den Grundsatz der Maßgeblichkeit miteinander verbunden sind. Im Zuge der Steuerreform haben sich allerdings Handels- und Steuerbilanz weiter voneinander entfernt. Es sollte nicht übersehen werden, daß Buchführung und Bilanzierung nicht zu trennen sind, die hierfür erforderlichen Ansätze aber dem Bilanzsteuerrecht zu entnehmen sind. Es geht daher im Ergebnis nicht bloß um das Einbuchen gleichartiger Geschäftsvorfälle, sondern vielmehr auch und gerade um die Abschlußbuchungen, die für die letztlich zu ermittelnde Größe „Steuerbilanzgewinn" eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Trennung zwischen erfolgswirksamen und erfolgsneutralen Buchungen, das Anbuchen eines Bestandsoder Erfolgskontos erfordert eine rechtliche Subsumtion.17 Hieraus ergibt sich, daß jede Trennung als willkürlich erscheinen muß. 18 Was für den Bereich der Buchführung gilt, kann auch auf das Feld des „Wertens und Bewertens" übertragen werden. Die im Steuerrecht auftretenden Bewertungsfragen haben Einfluß auf die Bemessungsgrundlage nahezu jeder Steuerart. Sie erfordern den Einsatz rechtswissenschaftlicher Methoden, wenn auch die Erkenntnisse der Betriebswirtschaftslehre miteinbezogen werden müssen, da sie auf einem wirtschaftlichen Vergleichen und der Prognose von Geschehensabläufen beruhen. Gegenständlich sind aber dennoch Rechtsprobleme.19 Für das Gebiet des Strafrechts, insbesondere des Steuerstrafrechts ist schon wegen der Unschuldsvermutung eine Aburteilung durch Organe der vollziehenden Gewalt wie den Beamten der Außenprüfung und der Steuerfahndung selbst im Vorfeld ausgeschlossen,20 weil die Verhängung von Kriminalstrafen mit einem ethischen Schuldvorwurf verbunden ist, und somit einen besonders schweren Eingriff in die Rechtsstellung des Bürgers bedeutet.21 Denn alle „bedeutsamen Unrechtstatbestände" unterliegen dem Richtervorbehalt. 22 Dies gilt ebenso für das Steuerstrafrecht. Eine Strafgewalt der Finanzämter hat das Bundesverfassungsgericht nicht gebilligt. 23 Eine Unterscheidung von zwei Phasen der Sachaufklärung erscheint als
einen Überblick über die Geschäftsvorfälle und die Lage des Unternehmens vermitteln kann, folgert er, daß bei der Buchführung auf fachlichen Sachverstand abgestellt werde. 17 Ebenso Joecks, Wolfgang, a. a. O. (Fn. 4), S. 661, 668. 18
Während keine Berufsordnung der rechts- und steuerberatenden Berufe, insbesondere der Steuerberater, Fachanwälte für Steuerrecht und Wirtschaftsprüfer auf die Kenntnis von Buchführung und Bilanzierung sowie Steuerrecht verzichtet, zieht sich der Richter auf den Grundsatz des „iudex non calculât" zurück und hält jede Form des kaufmännischen Rechnens für außerhalb seines Tätigkeitsbereiches. 19 So auch Latsch, Willi, Werten und Bewerten - Die steuerliche Außenprüfung im Spannungsfeld von Betrieb und Finanzbehörde, StBp 1985, 173,179. 20 Hierzu allgemein Meyer, Wolfgang, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 9. 21 Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 2. 22 Beschl. v. 04.07. 1967 - 2 BvL 10/62, BVerfGE 22, 125, 132; Beschl. v. 16. 07. 1969 2 BvL 2/69, BVerfGE 27,18, 28; Beschl. v. 28. 06. 1983 - 2 BvR 539,612/80, BVerfGE 64, 261, 294. 23 Urt. v. 06. 06. 1967 - 2 BvR 375, 53/60 und 18/65, BVerfGE 22,49, 81. 2
Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
willkürlich und nicht durchzuhalten, wenn sie auch in der Literatur beim Verhältnis Prüfungsbeamter zu Finanzrichter für unbedenklich erachtet wurde. 24 Für das Steuerstrafverfahren jedenfalls muß etwas anderes gelten, denn im finanzgerichtlichen Verfahren kann dem Steuerpflichtigen zugemutet werden, gegebenenfalls selbst im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht auf Umstände hinzuweisen, die nicht zur Sprache kamen, weil sie der Steuerprüfer bei seiner Sichtung des Materials für unbeachtlich hielt. Die fehlende Mitwirkungspflicht des Betroffenen im Steuerstrafverfahren macht eine gesteigerte Aufklärung durch das Gericht selbst notwendig, die es nicht zuläßt, daß der Strafrichter eine Sichtung des Streitstoffes auf eine nichtrichterliche Person überträgt. Kommt man soweit, selbst die Auswertung der Buchführung als rechtsprechende Gewalt anzusehen, so kann weiter gefolgert werden, daß der Verfassungsgeber diese den „Richtern anvertraut" hat. Es ist dann jedoch unzulässig, sich die Sachkunde eines Zeugen oder das Erfahrungswissen eines Sachverständigen zu eigen zu machen, so daß deutsches Steuerrecht nicht Gegenstand eines Sachverständigen- oder Zeugenbeweises sein kann. Joecks 25 kritisiert zu Recht, daß nach der gegenwärtigen Ausgestaltung der Strafprozeßordnung noch nicht einmal ein Revisionsgrund gegeben ist, weil das Urteil regelmäßig nicht auf einem solchen Verstoß beruhen wird (§ 337 Abs. 1 StPO). Im Ergebnis erweist sich der Grundsatz des „ iura novit curia " als lex imperfecta. Die Verlagerung von richterlichen Kompetenzen auf Prüfungsbeamte ist demnach zu kritisieren und nach verfahrensimmanenten Sicherungen zu fragen, die die Entscheidung eines hinreichend vorgebildeten Richters garantieren. Dies führt zu der Kontroverse über die Vorgreiflichkeit und die ΒindungsWirkung des Besteuerungsverfahrens gegenüber dem Steuerstrafverfahren.
C. Standpunkt der Verfassungsrechtsprechung und die Befürworter einer Vorfragenkompetenz im Schrifttum Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß ein Strafgericht die Höhe einer hinterzogenen Steuer feststellt, auch wenn zu diesem Zeitpunkt bereits bestandskräftige Steuerbescheide vorliegen, die von der Finanzbehörde nicht geändert werden. 26 Dies wird damit begründet, daß dem Besteuerungsverfahren häufig Schätzungen zugrunde liegen, die im Strafrecht gegen den Grundsatz des „ in dubio pro reo " verstoßen. Somit entscheidet das Strafgericht durchaus im Rahmen seiner Kompetenz, zumal es die spezifisch strafrechtlichen Restriktionen der Rechtsfindung zu beach24 Zutreffend Seer, Roman, a. a. O. (Fn. 15), S. 163. 25 Joecks, Wolfgang, a. a. O. (Fn. 4), S. 661, 670. 26 BVerfG Beschl. v. 15. 10. 1990-2 BvR 385/87, NJW 1992, 35, 36.
§ 4 Steuerverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz
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ten hat. Allein der Umstand, daß wegen einer zu beurteilenden steuerlichen Frage in der Literatur unterschiedliche Auffassungen einander gegenüberstehen, zwingt nicht zu einer Aussetzung des Verfahrens gemäß § 396 AO. Nach dieser Vorschrift ist es dem Strafrichter möglich, das Strafverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluß des Steuerverfahrens aussetzen. Er ist hierzu aber nicht verpflichtet, weil ihm die uneingeschränkte Vorfragenkompetenz eingeräumt ist. Nur bei schwierigen steuerlichen Fragen soll der Strafrichter sogar von Amts wegen gehalten sein zu prüfen, ob nach pflichtgemäßem Ermessen das Verfahren gemäß § 396 AO auszusetzen ist. 27 Eine weitergehende Aussage im Hinblick auf eine dann zu beachtende Bindung wird jedoch nicht getroffen. Zu dieser Rechtsprechung läßt sich sagen: Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die praktische Handhabung steuerlicher Vorschriften mit zwei dazu berufenen Entscheidungsträgern im Einzelfall auseinanderfällt. Soweit steuerrechtliche Fragen zur Diskussion stehen, sollte der Strafrichter nicht Bastionen verteidigen wollen, die die Finanzverwaltung schon längst aufgegeben hat. 28 Dies gilt vor allem im Grenzbereich der Steuertatbestände. Der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichtes kann demnach nur dann überzeugen, wenn aufgrund einer Schätzung die Steuer nach § 162 AO festgesetzt wurde. In diesen Fällen, in denen es nicht um die rechtliche Beurteilung, sondern um die Tatsachenfeststellung geht, die im Strafverfahren und im Besteuerungsverfahren unterschiedlichen Regeln folgt, ist der Einwand des Bundesverfassungsgerichtes nicht von der Hand zu weisen, wonach jeweils verschiedene Entscheidungsträger vorgesehen sein sollten. 29 Sinn und Zweck des § 162 AO ist es nämlich, den Steuerpflichtigen anzuhalten, bei der Aufklärung seiner steuerlichen Verhältnisse nach §§ 90 ff. AO mitzuwirken. Tut er dies nicht, so muß er bei seiner Steuerfestsetzung mit einer für ihn ungünstigen Schätzung rechnen. Es soll sich daher für ihn lohnen, bei der rechtmäßigen Besteuerung mitzuwirken, statt den Sachverhalt zu verschleiern. Das Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verlangt, daß nicht der steuerehrliche, seinen steuerlichen Pflichten nachkommende Bürger letztlich gegenüber demjenigen benachteiligt wird, der gegen die gesetzliche Mitwirkungspflicht verstößt. Dieser Sinn und Zweck wird aber verfehlt, wenn es dem Steuerpflichtigen gelingt, seine steuerlichen Verhältnisse im unklaren zu halten, so daß eine angemessene Zuschätzung unmöglich wird. In allen übrigen Fällen außerhalb von § 162 AO kann der Grundsatz des „Im Zweifel für den Angeklagten" einer Bindung des Strafrichters nicht entgegenste27 BVerfG Beschl. v. 04. 04. 1985 - 2 BvR 107/85, HFR 1986, 381, 382. 28
Meine, Hans-Gerd, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, wistra 1992,81,81. 29 Schwarz, Helmut, Rechtswegautonomie zwischen Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren, S. 26. 2 *
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
hen. In der Rechtswirklichkeit stellt dies den Regelfall dar. Das Bundesverfassungsgericht schließt bei seiner Argumentation hingegen vom Ausnahmefall auf den Regelfall. Eine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheides durch den Strafrichter bedeutet für den Steuerpflichtigen keineswegs zwingend eine Gewährleistung seiner Rechte. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn der Steuerpflichtige einen für ihn günstigen Steuerbescheid erwirkt hat und nunmehr entgegen seinem berechtigten Vertrauen im Strafrecht eine andere Behandlung erfahren soll. Die Literatur folgt in weiten Teilen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und bejaht eine Vorfragenkompetenz. Gast-de Haan 30 modifiziert diesen Standpunkt insoweit, als bei Entscheidungen der Bußgeld- und Strafsachenstelle des Finanzamtes ausnahmsweise eine Bindung gegeben sein soll, weil es sich bei den Entscheidungen von Veranlagungsstelle und Bußgeld- und Strafsachenstelle um Entscheidungen ein und derselben Behörde handelt, die nicht zu verschiedenen Ergebnissen gelangen könnten. Da § 396 AO 1977 eine Aussetzungspflicht nicht mehr vorschreibt, wie sie noch § 433 RAO ausdrücklich statuiert, sei nach Gast-de Haan im übrigen eine Aussetzung nicht geboten.31 Diesem Ergebnis kann entgegengehalten werden, daß der Bußgeld- und Strafsachenstelle die gleichen Rechte und Pflichten zustehen wie der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft aber hat die gleiche Pflicht zur Erforschung der Wahrheit wie das Strafgericht selbst.32 Die erforderliche Rückkopplung zur Rechtsauffassung der Finanzverwaltung kann in den übrigen Fällen auch dadurch gewährleistet werden, daß die Finanzbehörde als Beteiligte gemäß § 407 AO hinzugezogen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht führt in einer anderen Entscheidung aus, daß eine Bindung des Strafrichters an bestandskräftige Steuerbescheide im Gesetz nicht vorgesehen sei. Dies sei schon dadurch zu begründen, daß der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten " Abweichungen im Strafverfahren vom bestandskräftigen Steuerbescheid erfordere, da letzterer geringeren Beweisanforderungen entsprechen muß und häufig auf Schätzungen beruht. 33 Diese Argumentation erscheint nicht zwingend. Ebenso gut wäre es möglich, grundsätzlich vom bestandskräftigen Bescheid der Finanzbehörde auszugehen, ausnahmsweise wegen des „in dubio pro ^"-Grundsatzes aber zugunsten des Angeklagten davon abzuweichen. Eine Abweichung von einem durch den Steuerpflichtigen einmal erstrittenen bestandskräftigen Steuerbescheid verlangt der „in dubio pro reo "-Grundsatz keineswegs, er dient ausschließlich dem Schutz des Angeklagten. Er gereicht aber nicht zu seinem Nachteil. 30
Gast-de Haan, Brigitte, in: Franzen / Gast-de Haan /Joecks, Steuerstrafrecht, § 396 AO,
Rn. 5. 31
Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 396, Anm. 1. Klein, Guido, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast im Steuerrecht und im Strafrecht, S. 27. 33 BVerfG Beschl. v. 15. 10. 1990-2 BvR 385/87, NJW 1992, 35, 36. 32
§ 4 Steuerverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz
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Darüber hinaus kann die These nicht überzeugen, die Bindung des Strafrichters sei im Gesetz nicht vorgesehen. Die verfassungsrechtlich richtige Fragestellung wäre doch wohl gewesen, ob nicht gerade aus der Verfassung und nicht bloß aus dem einfachen Gesetz eine Bindung des Strafrichters an den bestandskräftigen Steuerbescheid folgt. Es drängt sich geradezu die Frage auf, ob nicht insbesondere aus dem Prinzip der Gewaltenteilung eine Bindung herzuleiten ist. Ausgangspunkt von Vertretern dieser Ansicht ist die Überlegung, daß der bestandskräftige Steuerbescheid ein Akt der Finanzbehörde und damit der Exekutive ist, über den sich der Strafrichter schlichtweg hinwegsetzt. Über diesen Konflikt mit dem Gewaltenteilungsprinzip kann auch die Einbeziehung der Behörde als Beteiligte im Verfahren nicht hinwegtäuschen: die Entscheidung trifft hier der Strafrichter, mag die Finanzbehörde auch ihren Standpunkt darlegen können.
D. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Der BGH verlangt, daß der Strafrichter eine eigene Feststellung der für die Ermittlung des Schuldumfanges erforderlichen Grundlagen trifft. So sei die Bezugnahme auf einen Prüfungsbericht der Außenprüfung oder der Steuerfahndung ebenso wenig ausreichend wie die Aussage eines Finanzbeamten in der Hauptverhandlung, inwieweit Steuern verkürzt worden seien. Denn die Anwendung steuerlicher Vorschriften auf den festgestellten Sachverhalt ist ebenso Rechtsanwendung wie die daraus folgende Berechnung der verkürzten Steuern, die den Schuldumfang der Tat bestimmen.34 Im übrigen hält sich der BGH jedoch für kompetent, die steuerlichen Vorfragen zu entscheiden.
E. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes Die Rechtsprechung des BFH 35 geht von einer umgekehrten Wechselwirkung zwischen Steuerstrafverfahren und Besteuerungsverfahren aus. Hiernach wird sowohl den Finanzbehörden wie auch dem Finanzgericht auferlegt, nicht nur die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichtes, sondern auch die rechtlichen Erkenntnisse zu übernehmen, sofern keine Einwendungen substantieller Art bestehen.36 § 81 Abs. 1 S. 1 FGO geht vom Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme aus. Danach hat das Finanzgericht den Beweis in der mündlichen Verhand34 BGH v. 15. 05. 1997-5 StR 45/97, wistra 1997, 302, 302. 35 BFH Urt. v. 10. 01. 1978 - V I I R 106/74, BStBl I I 1978, 311, 311. 36 Krit. zu dieser Rechtsprechung Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 647.
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lung zu erheben. Ausnahmen sind jedoch möglich, soweit die Ergebnisse anderer Gerichtsverfahren im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden sollen. Damit kann sich das Finanzgericht die aus einem Strafurteil in das finanzgerichtliche Verfahren eingeführten Ergebnisse zu eigen machen,37 ohne die Verpflichtung des Gerichtes zur Aufklärung des Sachverhaltes nach § 76 FGO zu verletzen, 38 und zwar selbst dann, wenn der Betroffene am Strafverfahren nicht beteiligt war. 39 Schließlich führte der BFH in einem Fall, der die Haftung eines Steuerhinterziehers nach § 71 AO zum Gegenstand hatte, aus, daß sich das Finanzgericht neben den tatsächlichen Feststellungen und Beweiswürdigungen auch die rechtlichen Beurteilungen zu eigen machen kann. 40 Zur Übernahme der Ergebnisse des Strafverfahrens kann das Finanzgericht auf Antrag der Beteiligten nach § 155 FGO i. V. m. § 251 Abs. 1 S. 1 ZPO das Ruhen des Verfahrens anordnen, um den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten. 41 Voraussetzung ist aber, daß die Beteiligten der Verwendung strafgerichtlicher Feststellungen nicht substantiiert widersprechen und entsprechende Beweisanträge stellen, die das Finanzgericht nicht nach allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen unbeachtet lassen kann. 42 Ein bloß summarisches Bestreiten genügt jedoch nicht. 43 Ebenso reicht es nicht aus, wenn aus einem Bündel von Tatsachen nur eine Einzelheit substantiiert bestritten wird. 44 Der Bundesfinanzhof hält sich jedoch nicht an die Ergebnisse eines Strafverfahrens gebunden, soweit es um die Beurteilung geht, ob eine Steuerhinterziehung begangen wurde und somit die verlängerte Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 S. 2 AO zur Anwendung gelangt.45 Das strafrechtliche Verfahren ist damit nicht vorgreiflich.
F. Die Gegenposition von Teilen der Literatur (Paul Kirchhof y Josef Isensee u. a.) Insbesondere Paul Kirchhof und Josef Isensee haben eine Gegenposition bezogen. Hintergrund für diese und weitere literarische Äußerungen war die Parteispendenaffäre, die eine Diskussion in Gang brachte, welche zwischenzeitlich wieder 37 38 39 40
BFH Urt. v. 23. Ol. 1985 - 1 R 30/81, BStBl I I 1985, 305, 305. Urt. v. 08. 11. 1994 - V I I R 1 /93, BFH/NV 1995, 657, 657. Urt. v. 26. 04. 1988 - V I I R 124/85, BFHE 153,463,463. BFH Urt. v. 13.07. 1994 - 1 R 112/93, BStBl II 1995, 198, 198.
41 42 43 44 45
Beschl. v. 10.01. 1995 - IV Β 69/94, BFH/NV 1995, 802, 802. St. Rspr. des BFH, so im Urt. v. 21. 06. 1988 - V I I R 135/85, BStBl II 1988, 841, 841. BFH Urt. a. a. O. (Fn. 42), BStBl I I 1988, 841, 841. Beschl. v. 17. 12. 991 - V I I Β 163/91, BFH/NV 1992, 612, 612. Beschl. v. 10.05. 1999 - V Β 137/98, BFH/NV 1999, 1393, 1394.
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vergessen zu sein scheint. Für diese Gegenposition sprechen aber beachtliche Argumente: Kirchhof geht von einer strikten Bindung des Strafrichters an den Steuerbescheid, gegebenenfalls in der Gestalt, die er durch das Einspruchsverfahren und das finanzgerichtliche Verfahren gefunden hat, aus. 46 Ausgangspunkt ist die Frage nach den richterlichen Entscheidungsbefugnissen. Der Strafrichter ist zur Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nicht befugt. Solange die Bestandskraft des Steuerbescheides besteht, gilt die darin festgesetzte Steuerschuld auch für den Strafrichter als die richtige. 47 Eine Gefahrdung des Steueraufkommens als Schutzzweck der Delikte des Steuerstrafrechts sei nicht schon in einer vom Gesetz abweichenden Steuerfestsetzung zu sehen, sondern könne erst dann angenommen werden, wenn es auch zu einer Änderung des zunächst materiell richtigen Steuerbescheides kommt. Bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides haben die Finanzbehörden ein Ermessen dahingehend auszuüben, ob sie dem berechtigten Vertrauensschutz des Steuerbürgers Vorrang vor der materiellen Richtigkeit einräumen oder bei strittigen Punkten an der zugrunde gelegten Rechtsmeinung festhalten wollen. Hält die Finanzbehörde als die mit der Entscheidungskompetenz ausgestattete Behörde, welche über das Bestehen eines staatlichen Vermögensinteresses zu befinden hat, an ihrer Entscheidung fest, so könne keine Steuerhinterziehung vorliegen. Denn es fehle am Erfolg einer Steuerverkürzung. Der Strafrichter ist bei seiner Entscheidung an das gesamte Steuerrecht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Kirchhof folgert daraus, daß er dann auch die Bestandskraft des Steuerbescheides zu respektieren hat. Die generellen Regeln des Gesetzes werden für die Dauer der Bestandskraft durch die individuelle Regelung des Steuerbescheides verdrängt. Die verfassungsrechtliche Dimension des § 396 AO stützt nach Ansicht Kirchhofs die Bindung des Strafrichters an den Steuerbescheid. Zudem ist hier das Gebot der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ins Feld zu führen, wonach sich das Strafgericht nicht über die Finanzbehörde als Teil der vollziehenden Gewalt hinwegsetzen kann. Diese hätte ein Recht auf die primäre Auslegung. . Gleichzeitig beruft sich Kirchhof auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 48 Danach müssen die rechtsstaatlichen Mittel zur Klärung eines steuerlich relevanten Sachverhaltes für den betroffenen Steuerpflichtigen möglichst schonend ausgestaltet werden. Werden aber steuerliche Fragen statt im den Steuerpflichtigen weniger be46
Kirchhof Paul, Der bestandskräftige Steuerbescheid im Steuerverfahren und im Steuerstrafverfahren, NJW 1985, 2977, 2977 ff. 47 Hiergegen a. A. Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1417, der auch eine unzutreffende Steuerfestsetzung nur für deklaratorisch hält. 48 Kirchhof, Paul, Der bestandskräftige Steuerbescheid im Steuerverfahren und im Steuerstrafverfahren, NJW 1985, 2977, 2984.
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lastenden Besteuerungsverfahren im Strafverfahren untersucht, so ist die Verhältnismäßigkeit auf der Stufe der Erforderlichkeit verletzt, weil die Klärung im Besteuerungsverfahren schonender ist, als wenn sich ein bislang unbescholtener Bürger einem strafrechtlichen Verfahren ausgesetzt sieht. Schließlich argumentiert Kirchhof mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Der finanzgerichtliche Rechtsschutz ist nur noch beschränkt effektiv, wenn bereits über die steuerliche Vorfrage eine Entscheidung des Strafrichters vorliegt. Kritiker wenden ein, daß der Steueranspruch gemäß § 38 AO entsteht, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Auf die Festsetzung und deren Zeitpunkt kommt es dagegen nicht an. Der Steuerbescheid sei rein deklaratorisch. 49 Es komme auf den gesetzlichen Anspruch an, nicht hingegen auf die Höhe der Geltendmachung dieses Anspruches im Steuerbescheid. Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung könne ein rechtswidriger Bescheid nicht eine Steuer konstitutiv zum Entstehen bringen und damit rechtmäßig werden lassen.50 Es fragt sich, ob diese von der einfachgesetzlichen Norm des § 38 AO ausgehende Argumentation genügt, um die verfassungsrechtlichen Einwände Kirchhofs zu entkräften. Unter Hinweis auf den historischen Gesetzgeber bei Streichung der Bindung im Jahre 1967, wird von Gegnern schließlich argumentiert, daß eine Bindung der gegenwärtigen Gesetzeslage widerspreche. 51 Darüber hinaus werde der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO durchbrochen, wenn das Strafgericht an die Ergebnisse des Steuerbescheides gebunden werde. 52 Diese Einwände müssen sich ebenfalls entgegenhalten lassen, daß eine aus Grundsätzen der Verfassung abgeleitete Bindung nicht durch einfaches Gesetzesrecht in Frage gestellt werden kann. Zutreffend ergibt sich aber ein Spannungsverhältnis zu dem Grundsatz „in dubio pro reo da die S ach Verhaltsermittlung im Besteuerungsverfahren anderen Grundsätzen folgt. Isensee 53 dagegen vertritt den Standpunkt, daß es sich häufig um einen typischen Fall des Ermessensnichtgebrauchs handelt, wenn Strafgerichte nicht nach 49 Graute, Johannes, Zum Verjährungsbeginn bei der vorsätzlichen Steuerhinterziehung, S. 70 f. m. w. N. Der Steuerbescheid ist demnach zu unterscheiden von rechtsgestaltenden Verwaltungsakten, an die der Strafrichter grundsätzlich gebunden ist (hierzu näher MeyerGoßner, Lutz, Strafprozeßordnung, § 262, Rn. 7 f.). Wird ein solcher Verwaltungsakt nach Verwirklichung der Tat wieder aufgehoben, so ist die Strafbarkeit hiervon unberührt. 50 Rößler, Gerhard, Nochmals: Der bestandskräftige Steuerbescheid im Steuerverfahren und im Steuerstrafverfahren, NJW 1986, 972, 973. 51 Klein, Guido, a. a. O. (Fn. 32), S. 30. 52 Klein, Guido, a. a. O. (Fn. 32), S. 31. 53 Isensee, Josef, Aussetzung des Steuerstrafverfahrens - rechtsstaatliche Ermessensdirektiven, NJW 1985, 1007, 1008.
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§ 396 AO das Strafverfahren aussetzen. Sinn und Zweck der Vorschrift sei es, einander widersprechende Entscheidung zu vermeiden, indem dem Besteuerungsverfahren der Interpretationsvortritt gelassen wird. Demgegenüber spielten die Prozeßökonomie und die höhere Sachkunde eines bestimmten vorab entscheidenden Gerichts eine eher untergeordnete Rolle. Das hierzu dem Strafgericht eingeräumte Ermessen sei genauso rechtlich determiniert, wie Ermessensakte der Verwaltung. Das Steuerstrafrecht sei aber gegenüber dem Steuerschuldrecht unselbständig. Es könne auch nicht wie das Kriminalstrafrecht auf einen sozialethischen Konsens zurückgreifen, weil die dahinter stehenden Steuergesetze durchwegs keine sozialethische Evidenz und keinen unmittelbar einsichtigen Bezug zur Idee der materialen Gerechtigkeit haben.54 Kernaussage seiner Ausführungen ist es, daß es dem Strafgericht wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht zusteht, an Finanzverwaltung und Finanzgerichten vorbei selbstherrlich den Normenbestand auszulegen, den es gerade in seiner durch Finanzverwaltung und Finanzgerichten geübten Praxis durch das Steuerstrafrecht schützen soll. Ebenso wie Kirchhof sieht Isensee im Steuerverwaltungsakt die verbindliche Entscheidung über den Steueranspruch. Die Exekutive habe das Recht des ersten Zugriffs. Dies gelte im Verhältnis Steuerverwaltung zu Steuergerichte, müsse aber auch für das Verhältnis Steuerverwaltung zu Strafgerichte gelten. Darüber hinaus erfordere es die Gleichheit und Rechtmäßigkeit des Vollzuges, die Entscheidung bei einer Instanz zu belassen. Denn gerade das Steuerrecht werde sehr stark durch die Praxis eines Massenverfahrens, vor allem aufgrund der Steuerrichtlinien der Finanzverwaltung geprägt. Dies werde besonders deutlich, wenn es um Tatbestandsausweitung zu Lasten des Steuerpflichtigen gehe wie im Falle der Steuerumgehung nach § 42 AO. Gerade diese Grauzonen bedürften einer einheitlichen Handhabung. Das Übermaßverbot fordere eine Zurückhaltung der Strafgerichte deswegen, weil die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen durch die Strafe als härtesten Eingriff des Rechtsstaates nur insoweit beeinträchtigt werden dürften, als die steuerrechtlichen Vorfragen durch Finanzverwaltung und Finanzgericht geklärt seien. Die Auffassungen von Isensee und Kirchhof werden von einer Vielzahl weiterer Literaten geteilt. Häufig wird zudem das Argument angeführt, daß die Strafgerichte sich selbst überschätzten, wenn sie glaubten, allein mit allgemeinen Auslegungsgrundsätzen steuerliche Vorfragen mit der gleichen Präzision beurteilen zu können wie Finanzrichter. 55 Hierzulande wie auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis wird diese Kompetenz nicht selten bezweifelt. 56 54
Isensee, Josef, a. a. O. (Fn. 53). Meilicke, Wienand, Wird das Steuerstrafrecht für die Steuerpraxis zum russischen Roulette?, BB 1984, 1885, 1885. 56 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1415. 55
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Vorgetragen wird schließlich, daß der Rechtsstaat, wenn er § 370 AO schon als Blankettatbestand ausgestalte, auch der interdisziplinären Verquickung von Steuerrecht und Strafrecht Rechnung tragen müsse.57 Die Prozeßökonomie habe dahinter zurückzutreten. Daher müsse bei Vorliegen „ernsthafter Zweifel" eine Ermessensreduktion auf Null eintreten und eine Aussetzung erfolgen. Der Begriff der „ernsthaften Zweifel" könne der Rechtsprechung des BFH über die Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden entnommen werden.
G. Die Position von Peter Lerche Stellvertretend für eine Reihe weiterer Literaten soll die Ansicht von Lerche 58 genannt sein. Er geht von der einfachgesetzlichen Vorschrift des § 396 AO aus und hält deren Verfassungskonformität nicht ernstlich für zweifelhaft. Schon der Anlaß für eine verfassungskonforme Auslegung sei nicht gegeben, weil bereits aus der Fürsorgepflicht im Strafverfahren eine Aussetzung notwendig werden könne. Ob diese Fürsorgepflicht auch verfassungsrechtlich verankert sei, könne hingegen dahinstehen,59 jedenfalls aber wirke sie auf die „Kann"-Vorschrift des § 396 AO ein. Aus der Formulierung des § 396 AO ( .. so kann das Strafverfahren ausgesetzt werden, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. ") leitet er einen Ermessenspielraum ab, der jedoch im Einzelfall durch die Fürsorgepflicht auf Null reduziert sein kann, so daß sich nur eine richtige Entscheidung ergebe, die zu einem Rechtsanspruch auf Aussetzung erwächst. Eine generelle Aussetzungspflicht über den Einzelfall hinaus lehnt Lerche unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des § 396 AO und seines Vorgängers, § 433 RAO 1919, ab. Zwar sei unbestritten der Hauptzweck der Bestimmung des § 396 AO das Ziel, widersprüchliche Auslegungen in derselben Sache zu vermeiden, also für Rechtssicherheit und eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu sorgen, das strafprozessuale Fürsorgepflicht-Prinzip müsse jedoch ebenso wie das Beschleunigungsprinzip in einer Weise Berücksichtigung finden, daß keines der Prinzipien außer Ansatz bleibe. Demgegenüber bestehe regelmäßig für den Strafverfolgungszweck keine Gefahr, weil für eine Aussetzung eine gewisse Aufklärungsreife zu fordern sei, so daß die Ermittlung des wirklichen Sachverhalts nicht mehr beeinträchtigt werden könne. Die Interessenlage des Beschuldigten könne dadurch berücksichtigt werden, daß bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen auf seinen Antrag oder seine Anregung hin ausgesetzt werde.
57 Müller-Jena, Roland, Das französische Steuerstrafrecht aus der Sicht der deutschen Steuerstrafbestimmungen, S. 96 f. 58 Lerche, Peter, Zur Aussetzung im Ermittlungsverfahren gemäß § 396 AO, in: FS f. Hugo v. Wallis, S. 465,466 f. 59 Lerche, Peter, a. a. Ο. (Fn. 58), S. 468.
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Das gleiche Ergebnis ließe sich unter Heranziehung des Übermaßverbotes begründen, dessen Bedeutung darin liege, der Verwaltung bei Anwendung von Ermessensklauseln ein Instrument zur Hand zu geben, den im konkreten Einzelfall mildesten, geeigneten Weg zu gehen. Lerche bewertet das Beschleunigungsprinzip über. Stellt der Angeklagte selbst den Antrag auf Aussetzung, so braucht er nicht durch ein Beschleunigungsprinzip geschützt werden. Der gewichtige Rang des Gebots des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kommt nicht zu der ihm gebührenden Geltung, obgleich er zu einer Einengung des Ermessens führen müßte.60 Die Praxis der Strafgerichte bejaht fast niemals eine Aussetzung nach § 396 AO. Der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung findet ebenfalls zu wenig Berücksichtigung. 61
H. Stellungnahme Hier soll ein vermittelnder Ansatz zwischen den extremen Positionen angestrebt werden. Auszugehen ist von der gegebenen Gesetzessituation. Alle Ansätze, de lege ferenda dem Problem beizukommen, wurden bislang vom Gesetzgeber nicht umgesetzt. So wurde etwa die Einrichtung von Finanzstrafkammern bei den Strafgerichten gefordert, die mit Richtern besetzt werden sollen, welche Erfahrungen in Finanzverwaltung und Strafgerichtsbarkeit gesammelt haben und somit besser für die Besonderheiten der Rechtsmaterie ausgebildet wären. 62 Der fehlende Reformwille des Gesetzgebers rührt vor allem daher, daß das Bundesverfassungsgericht keinen Reformdruck ausgeübt hat. Dies erstaunt, wenn man bedenkt, daß maßgebliche Richter wie Kirchhof jahrelang dazu Gelegenheit gehabt hätten. Die Diskussion in der Literatur ist nahezu zeitgleich mit dem Ende der Parteispendenverfahren verstummt, obgleich das Bindungsproblem von zentraler Bedeutung für das Verhältnis zum Besteuerungsverfahren in fast jedem Hinterziehungsfall wäre. Die Strafrechtspflege im Bereich des Steuerstrafrechts könnte auf der Ebene des einfaches Gesetzes besser gelöst werden. An Vorschlägen mangelt es nicht. So wurde etwa zur Diskussion gestellt,63 das Steuerstrafrecht an die Finanzgerichtsbarkeit anzugliedern. Die unausweichlichen Schwierigkeiten, die aus einer Zweigleisigkeit des Verfahrens folgen, ließen sich damit umgehen. Dem Einwand, der 60 Felix, Günther, Das „Spenden-Urteil" des BFH VIII R 324/82 und die Aussetzung der Steuerstrafverfahren, FR 1985, 31, 33. 61 Dieser Gesichtspunkt wird bei Felix, Dagmar, Einheit der Rechtsordnung: zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, S. 141, weiter ausgeführt. 62 Dieser Vorschlag von Prugger, Herbert, Die Strafbefugnis der Finanzämter, S. 59, konnte sich nicht durchsetzen. 63 Borgmann, Olaf, Steuerstrafrechtspflege durch die Finanzgerichtsbarkeit, KOS DI 1985, 5922, 5923.
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Finanzrichter besitze nicht die erforderlichen strafrechtlichen Kenntnisse, ließe sich begegnen. Es spräche nichts dagegen, einen Spruchkörper zu bilden, der zur Hälfte aus Finanz- und zur Hälfte aus Strafrichtern bestünde. Vergleichbares kennt das Baurecht. Dort werden die Kammern für Baulandsachen gemäß § 220 Abs. 1 BauGB den beidseitigen Anforderungen gerecht. Dementsprechend könnten Spruchkörper für Steuerstrafsachen gleichzeitig mit Richtern aus der Finanz- und Strafgerichtsbarkeit besetzt sein. Es ist ohnedies nicht einzusehen, warum das Besteuerungsverfahren vor dem mit fünf Richtern besetzten Senat des Finanzgerichtes verhandelt wird, ein Amtshaftungsverfahren wegen willkürlicher Steuerfestsetzung vor der aus drei Richtern bestehenden Kammer des Landgerichts, dagegen das weitaus schwierigere Steuerstrafverfahren vor dem Einzelrichter des Amtsgerichts. Die Ausgestaltung im einzelnen muß dem Gesetzgeber überlassen bleiben, denn aus der Verfassung läßt sich die zweckmäßigste Gestaltung nicht ableiten. De lege lata sind zwei Problemfelder zu unterscheiden: In Rede steht einerseits die Bindung der Strafgerichte an Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit, also die Vorfragenkompetenz des Strafrichters. Andererseits geht es um die Bindung des Strafrichters an den Steuerbescheid und damit das Verhältnis zwischen Finanzverwaltung und Strafgerichtsbarkeit. Zu ersterem Verhältnis sei gesagt: Die Förderung der Einheit der Rechtsprechung ist ein Gut von Verfassungsrang, welches sich aus Art. 95 Abs. 3 GG ableitet.64 Nach dem Wortlaut der Verfassung bedarf es hierzu lediglich der Einrichtung eines Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe. Ob dies jedoch genügt, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren, ist fraglich, hängt es doch vom jeweils entscheidenden Gericht ab, ob es den Gemeinsamen Senat anrufen oder sich der bereits vorliegenden Rechtsprechung anschließen will. Der gesetzliche Richter des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wird nur dadurch entzogen, daß bei Abweichung die Anrufung des Gemeinsamen Senats unterbleibt. 65 Ein Vorrang einer sachnäheren Gerichtsbarkeit, so hier der Steuergerichtsbarkeit, ist nicht hieraus zu erkennen. Hat das Strafgericht zuvor entschieden, so muß befürchtet werden, daß eine Anrufung des Gemeinsamen Senats unterbleibt. Letztlich trifft dann die Strafgerichtsbarkeit die Entscheidung, welche in der Regel früher zu einem Verfahrensabschluß gelangt, es sei denn, es liegen bereits zu vergleichbaren Sachverhalten in anderen Fällen Entscheidungen der jeweiligen anderen Gerichtsbarkeit vor. Es ist widersprüchlich, wenn oftmals eine Bindung des Steuerpflichtigen an die höchstrichterliche (Finanz-) Rechtsprechung bei der Abgabe der Steuererklärung bejaht wird, dem Strafrichter hingegen, der über die Strafbarkeit desselben Steuerpflichtigen zu befinden hat, das Recht eingeräumt wird, nach eigenem Gutdünken 64 Odersky, Walter, Voranfrage zwischen obersten Bundesgerichten?, FS f. Franz Klein, S. 1013, 1023. 65 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, Bruno, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 95, Rn. 4 a. E.
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zu entscheiden. Hierin liegt eine nicht aufzulösende Inkonsequenz, welche den Steuerpflichtigen trotz ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Steuererklärungspflichten aus der Sicht der Finanzrechtsprechung der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen kann. Schließlich ist zum zweiten das Verhältnis von Steuerbescheid und Strafgerichtsbarkeit zu klären: Die auf den Grundsatz der Gewaltenteilung gestützten Argumente von Kirchhof und Isensee sind nicht von der Hand zu weisen und können nicht mit dem Hinweis auf einfachgesetzliche Regelungen der Abgabenordnung abgetan werden. Der Gewaltenteilungsgrundsatz im hier verstandenen Sinne stellt nicht allein die Teilung der Macht dar, er hat vielmehr die Aufgabe, die Staatsgewalt gerade erst zu konstituieren. 66 Der Gewaltenteilungsgrundsatz ist danach kein naturrechtlichzeitloses Dogma, sondern vielmehr eine geschichtliche Lehre, die darauf abzielt, in einer bestimmten geschichtlichen Situation die politischen Kräfte und deren Wirken in einer die Freiheit sichernden Weise zu ordnen. 67 Das Steuerrecht weist die Entscheidung über die Steuerveranlagung der Exekutive zu, die verbindlich im Steuerbescheid eine Regelung trifft. Die Gerichte, selbst das Finanzgericht, werden nur dann eingeschaltet, wenn der betroffene Steuerbürger durch Klageerhebung deren zu seinen Gunsten abweichende Entscheidung begehrt. Auf die Gefahr der Verböserung ist der Rechtsbehelfsführer hinzuweisen. Eine Klage der Behörde oder des nicht beschwerten Steuerpflichtigen muß als unzulässig behandelt werden. Eine Entscheidung zur Sache kann dann nicht ergehen. Bei einem Vorgreifen des Strafrichters ist diese Abfolge durchbrochen. Für Kirchhof spricht auch der Gedanke der Rechtssicherheit in seiner Konkretisierung der Rechtsbeständigkeit68 rechtskräftiger Entscheidungen und Akte der öffentlichen Gewalt. Sind zwischen dem Steuerbürger einerseits und dem erhebenden Staat andererseits die steuerlichen Verhältnisse in einem Steuerverfahren abschließend geprüft worden, so kann nicht erneut zwischen denselben Rechtssubjekten, Steuerbürger und Staat (diesmal in der Gestalt des Strafverfolgers) ein und dieselbe Rechtsfrage streitig sein, der Staat den Bürger entgegen seinem bisherigen Verhalten mit einer steuerstrafrechtlichen Verfolgung für einen Mehrbetrag überziehen, der steuerlich gar nicht festgesetzt wurde. Hier ist ein allgemeiner Rechtsgedanke von Treu und Glauben enthalten, der auch auf Verfassungsebene zu beachten ist. Die unter Berufung auf § 38 AO immer wieder geäußerte Auffassung, wonach allein das Erfüllen der Tatbestandsvoraussetzungen eines Steuertatbestandes zum 66
Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 484 f. 67 Hesse, Konrad, a. a. O. (Fn. 66), Rn. 481. 68 Zum Gesichtspunkt der „entschiedenen Sache": Klein, Franz, in: Schmidt-B leibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 12.
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Entstehen der Steuerschuld führt, ist nicht in der Lage, den Wandel vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat zu erfassen. 69 Es mehren sich die Stimmen, die einen „maßvollen Gesetzesvollzug" im Steuerrecht befürworten. Inhalt und Grenzen sind noch weitgehend unklar. Es ist einzuräumen, daß der „maßvolle Gesetzesvollzug" im Steuerrecht nicht auf Kosten der Rechtsanwendungsgleichheit gehen kann, wie dies bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte zu befürchten ist. Ein hier entstehendes Vakuum läßt sich durch das Strafrecht nicht mehr korrigieren. 70 Dennoch wird hier deutlich, daß das Steuerstrafrecht nicht überschießend werden darf, als es Steueransprüche durchzusetzen beabsichtigt, die in der Rechtspraxis der Finanzbehörden faktisch aufgehoben wurden. Umgekehrt kann die Gegenseite strafrechtliche Verfahrensgarantien von Verfassungsrang, insbesondere das Prinzip des „in dubio pro reo" für sich beanspruchen, wonach im Strafverfahren eine gesonderte Überprüfung vorgenommen werden muß, ob Tatsachenfeststellungen des Besteuerungsverfahrens den strengen Anforderungen des Strafverfahrens genügen. Dies kann dann aber nur für die Tatsachenfeststellungen gelten. Rechtsfragen sind hiervon hingegen nicht erfaßt, so daß einer Übernahme von Ergebnissen nichts im Wege steht. Es ist deshalb der Konflikt zwischen den konkurrierenden Verfassungsgütern nach dem Prinzip der „praktischen Konkordanz" bzw. des „schonendsten Ausgleichs" aufzulösen. Dies kann dadurch geschehen, daß eine Bindungswirkung des bestandskräftigen Steuerbescheides im Strafverfahren grundsätzlich anerkannt wird, zugunsten des Steuerpflichtigen jedoch eine Bindungswirkung entfallen kann, soweit der Steuerbescheid auf Schätzungen beruht, die mit dem Grundsatz des „ in dubio pro reo " nicht in Einklang zu bringen sind. Denn die Bestandskraft kann nur soweit reichen wie der zugrundeliegende Lebenssachverhalt. Erfährt dieser im Strafverfahren eine Änderung, weil steuerbegründende Umstände nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, so sind auch die hierauf gestützten rechtlichen Ausführungen hinfällig. Soweit über den nunmehr zugunsten des Angeklagten veränderten Entscheidungssachverhalt keine rechtlichen Aussagen getroffen sind, kann auch keine Bindungswirkung greifen. Der Strafrichter ist diesbezüglich in seiner Entscheidung frei. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum die ΒindungsWirkung auch dann durchbrochen werden soll, wenn der Steuerbescheid für den Steuerpflichtigen günstige tatsächliche Feststellungen enthält, ohne daß sich die Finanzbehörde veranlaßt sieht, eine Änderung des Steuerbescheides vorzunehmen. Eine solche Durchbrechung fordert der ausschließlich zum Schutz des Angeklagten gewährte Grundsatz des „in dubio pro reo" nicht, schon gar nicht will er den Angeklagten in seinen einmal erstrittenen Rechtspositionen beschränken. Die Argumentation des Bundes69
Zu dieser Entwicklung siehe Eckhoff, Rolf, Vom konfrontativen zum kooperativen Steuerstaat, StuW 1996, 107, 112. 70 Insoweit zutreffend: Bilsdorfer, Peter, Der BFH und die Zinsbesteuerung - ein bemerkenswerter Eiertanz, NJW 1997, 2368, 2369.
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Verfassungsgerichtes trägt eine solche Steuerverschärfung nicht. Im Ergebnis bedeutet das nichts anderes, als daß die im Steuerbescheid festgesetzte Steuer die Obergrenze einer Steuerverkürzung und damit für die Beurteilung von Strafbarkeit und Strafmaß darstellt. Mit dieser Richtschnur ist die Kritik an Kirchhofs Forderungen überwunden, wonach dieser über sein Ziel hinausschießt. Denn für den Fall, daß das Finanzamt irrigerweise eine zu hohe Steuer festsetzt, wäre nach Kirchhof das Strafgericht an diese Feststellung gebunden.71 Letztlich hinge die Strafbarkeit dann davon ab, ob der Steuerpflichtige rechtzeitig Einspruch eingelegt hat. Daß dieses Ergebnis nicht bestehen könnte, liegt auf der Hand. Die hier vertretene Auffassung kann sich auf die von Leitner in der österreichischen Literatur 72 begründete Lehre berufen, 73 wonach keine strenge Bindung an den Steuerbescheid, jedoch eine „Minimalbindung" bestehen soll. Diese Bindung reicht nur soweit, als nicht Grundrechtsgarantien des Strafverfahrens und spezifisch strafrechtliche Verfahrensprinzipien vor allem der Zweifelsgrundsatz und die Unschuldsvermutung sowie das Recht auf rechtliches Gehör vorgehen. Soweit diese aber im konkreten Einzelfall nicht tangiert sind, ist kein Anlaß gegeben, von der Steuerfestsetzung im Abgabenverfahren abzuweichen. Auch für das deutsche Recht handelt es sich hier um eine überzeugende Lösung, die die Schwächen der beiden Extrempositionen vermeidet. Man mag einwenden, daß im Interesse einer funktionstüchtigen Strafverfolgung nicht auf die weitergehenden Ermittlungsmethoden im Strafverfahren verzichtet werden könne. Deshalb könne auch der im Besteuerungsverfahren ergehende Steuerbescheid nicht maßgeblich sein, weil der zur Entscheidung zuständigen Finanzbehörde nicht die gleichen Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung stehen. Dies kann lediglich auf die tatsächlichen Feststellungen zutreffen. Dem ist entgegenzuhalten, daß sich die Steuerveranlagung in eine Vielzahl von Einzelentscheidungen trennen läßt, die getrennt behandelt werden können und die erst durch das jeweilige Steuerberechnungsschema der Einzelsteuerart arithmetisch zu einem ganzen zusammengefügt werden. Es bestehen daher keine Bedenken, den Steuerbescheid insoweit etwa in entsprechender Anwendung der Korrekturvorschriften der Abgabenordnung, hier insbesondere § 173 AO punktuell zu berichtigen. Ist dies im Steuerrecht regelmäßig möglich, so ist nicht zu erkennen, warum dieser Rechtsgedanke nicht auf die Entscheidung des Strafgerichts, welches „neue Tatsachen" im Sinne des § 173 AO aufgrund seiner Ermittlungen vorliegen hat, übertragen werden kann. Die Korrekturvorschriften wurden speziell für das Besteuerungsverfahren als Mas-
71 Klein, Guido, Die Auswirkungen der unterschiedlichen Beweislast im Steuerrecht und im Strafrecht, S. 31. 72 Zur Darstellung des österreichischen Rechts im einzelnen noch ausführlich siehe unten, Fünftes Kapitel: § 2A „Österreich" auf S. 386 ff. 73 Leitner, Roman, Aktuelle Fragen zur Bindungswirkung Abgabenverfahren - Finanzstrafverfahren, in: ders., Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 65, 78 f.
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senverfahren zur Durchbrechung der Bestandskraft geschaffen, um die hier häufig vorkommenden Fälle verwaltungstechnisch handhabbar zu machen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG dient also in erster Linie dazu, die Staatsgewalt zu mäßigen und die Freiheit des Einzelnen zu schützen. 74 Demzufolge entspricht es diesem Grundsatz, wenn die Strafgerichtsbarkeit die Entscheidungen der Finanzbehörden im Hinblick auf den Schutz des Steuerbürgers überprüft, etwa ob dessen Rechte im Rahmen der Beweislast nach dem Grundsatz des „in dubio pro reo" eingehalten wurden. Können die Ergebnisse nicht übertragen werden, ist eine Korrektur zugunsten des Angeklagten durchzuführen. Denn die drei Gewalten sollen sich im Hinblick auf den Zweck der Mäßigung der Staatsgewalt nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sondern statt dessen gegenseitig kontrollieren und begrenzen.75 Im Vordergrund steht dabei die sachgerechte Organisation des Staates. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist jedoch nicht so zu verstehen, daß es dem Strafgericht obliegt, die Steuerfestsetzung über den Bescheid des Finanzamtes hinaus zu verschärfen, weil bei dieser Vorgehensweise die Schutzrichtung im Hinblick auf den einzelnen Steuerbürger verfehlt würde und das Strafgericht vielmehr die Rolle einer staatsinternen Rechnungsprüfung im Sinne eines Rechnungshofes einnehmen würde. Der Schutz des Einzelnen und nicht die interne Kontrolle der Finanzinteressen ist Ziel dieses tragenden Organisationsprinzips des Grundgesetzes. Es ist darüber hinaus nicht nachzuvollziehen, durch welchen Gesetzeszweck die Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes gedeckt sein soll. Sieht man das Schutzgut der Steuerhinterziehung in der Sicherstellung der Finanzinteressen des Staates,76 so kann nicht begründet werden, warum die Hinterziehung von Steuerbeträgen strafbar sein soll, die der Staat durch seine Finanzbehörden selbst nicht anfordert, daher nach seiner eigenen Rechtsanschauung überhaupt kein Finanzinteresse besitzt. Teilweise wird das Schutzgut enger gesehen in dem Anspruch des Staates auf pflichtgemäße Offenbarung aller steuererheblicher Tatsachen.77 Damit ergibt sich bereits aus der Gefährdung der rechtzeitigen und vollständigen Verwirklichung des Steueranspruches eine Steuerhinterziehung. Dies geht jedoch zu weit, weil hier eine Gefährdung in Fällen angenommen wird, in denen die Finanzbehörde selbst es nicht für erforderlich erachtet, den Bescheid zu ändern. Sie hätte dann aber, wenn sie von Anfang an volle Kenntnis besessen hätte, nicht anders entschieden. Wenn zudem schon kein Bedürfnis besteht, die bestandskräftige Veranlagung zu ändern, so besteht aufgrund eines „erst-recht"-Schlusses gleichfalls kein Inter74 Urt. v. 18. 12. 1953 - 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225, 247; Urt. v. 17. 07. 1984 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100, 130. 75 Jarass, Hans, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz, Art. 20, Rn. 16. Hierzu auch das Urt. v. 27. 04. 1959 - 2 BvF 2/58, BVerfGE 9, 268, 279 f. 76 So die überwiegende Auffassung, vgl. Joecks, Wolfgang, in: Franzen/Gast-de Haan/ Joecks, § 370 AO, Rn. 14 m. w. N. Kritisch dagegen von der Heide, Isabella, Tatbestandsund Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO, S. 58. 77 Abi. von der Heide, Isabella, a. a. O. (Fn. 76), S. 56.
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esse an einer Bestrafung des Steuerpflichtigen. Hier ist der hinreichende Schutz des Kernbereiches exekutivischer Eigenverantwortung zu respektieren. 78 Die Entscheidung über das Bestehen einer Steuerschuld und deren Festsetzung unterliegt nicht dem Rechtsprechungsmonopol der Judikative. Zwar sind die klassischen Kernbereiche der Staatsgewalt, so namentlich die ordentliche Gerichtsbarkeit der rechtsprechenden Gewalt zugeordnet, 79 weil die Verurteilung wegen einer Straftat einen besonders schweren Eingriff in die Rechtsstellung des Bürgers beinhaltet. In diesen vorbehaltenen Aufgabenkreis wird jedoch nicht eingegriffen, da die Steuerverwaltung nicht über Schuld und Strafmaß des Täters befindet, sondern lediglich die Höhe der entstandenen Steuer festsetzt. Ob dann eine Verkürzung dieses Steueranspruches vorliegt und wie er strafrechtlich zu würdigen ist, bleibt den Strafgerichten überlassen. Somit ist jedenfalls der schützenswerte Kernbereich des Strafrechts gewahrt. Keineswegs werden hier nicht der Rechtsprechung angehörige Organe mit der Ahndung von Straftatbeständen betraut. 80 Auch das Rechtsprechungsmonopol ist auf den Schutz des Steuerbürgers gerichtet. Durch einen für ihn gegenüber den Ermittlungen des Strafverfahrens günstigeren Steuerbescheid ist er nicht belastet. Zudem kann er den Finanzrechtsweg einschlagen und somit die richterliche Entscheidung herbeiführen. Das Rechtsprechungsmonopol umfaßt kein Monopol des Strafrichters, sämtliche im Zusammenhang stehenden Vorfragen mit entscheiden zu dürfen und von den übrigen Zweigen der Gerichtsbarkeit übernehmen zu können. Es ist kein Vorrang der Strafgerichtsbarkeit begründet. Die aufgezeigte Bindung des Strafrichters an den Steuerbescheid der Finanzverwaltung verstößt nicht gegen die Unabhängigkeit der Richter nach Art. 97 Abs. 1 GG. Diese Verfassungsbestimmung schützt neben der persönlichen Unabhängigkeit auch die sachliche Unabhängigkeit des Richters. Hierzu gehört die Unabhängigkeit der Richter gegenüber der Exekutive. Unabhängigkeit in diesem Sinne bedeutet eine Unzulässigkeit von Einzelweisungen, von Verwaltungsvorschriften und sonstigen vermeidbaren Einflußnahmen. 81 Unzweifelhaft nimmt eine Bindung an den Steuerbescheid Einfluß auf die Entscheidung über den Blankettatbestand der Steuerhinterziehung. Dieser Einfluß auf den Entscheidungsspruch ist jedoch nur unter dem Gesichtspunkt des Art. 97 Abs. 1 GG zu beleuchten, soweit es sich um Rechtsprechung im Sinne dieses Grundgesetzartikels handelt, wenn der Strafrichter über die Festsetzung einer Steuer befindet. Sieht man dies wie hier als
78 Urt. a. a. O. (Fn. 74), BVerfGE 67, 100, 130. 79 Urt. v. 06. 06. 1967-2 BvR 375, 53 / 60 und 18 / 65, BVerfGE 22,49, 76 f. 80 Nur in diesem Bereich aber ist es dem einfachen Gesetzgeber verwehrt, andere Organe als solche der Rechtsprechung vorzusehen, so Detterbeck, Steffen, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 92, Rn. 16. 81 Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 3; Detterbeck, Steffen, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 97, Rn. 6. 22 Röckl
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originäre Aufgabe der Finanzverwaltung, so kann eine Verletzung der Unabhängigkeit der Richter nicht konstatiert werden. Folgt man der Auffassung, wonach der Gesetzeszweck der Steuerhinterziehung in der Sicherstellung der gerechten und gleichmäßigen Lastenverteilung besteht, so verfehlt eine Bestrafung ebenfalls dann ihren Sinn, wenn selbst nach Ansicht der Finanzbehörden keine höhere Steuer festzusetzen wäre. Eine Strafe zielt auf Speziai· und Generalprävention ab. Wie soll aber ein Steuerbürger durch eine drohende Bestrafung davor abgehalten werden, Steuern zu hinterziehen, die der Fiskus selbst nicht für angefallen erachtet. Die Bestrafung, die ein Druckmittel zur Einhaltung der steuerlichen Pflichten darstellen sollte, läuft leer. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes negiert Grundprinzipien, die der Gesetzgeber einfachgesetzlich in der Abgabenordnung festgeschrieben hat und die auf verfassungsrechtlichen Geboten beruhen. Hier ist zum einen die Systematik der Korrekturvorschriften in der Abgabenordnung zu nennen, zum anderen aber ist im Steuerrecht die Bindung einer Auskunft der Finanzbehörde nach Treu und Glauben anerkannt. Diese sind nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes im Steuerstrafrecht ohne jegliche Bedeutung. Die bisherige Diskussion zur aufgeworfenen Frage wurde ganz überwiegend aufgrund einer in die Vergangenheit gerichteten Sichtweise geführt. Stets war die Rede davon, daß ein Steuerpflichtiger einen bestimmten Sachverhalt verwirklicht hatte und sich nunmehr die Frage stelle, wie dieses Verhalten steuerlich und wie strafrechtlich zu würdigen sei, und schließlich, welche Interdependenzen zwischen beiden Bereichen bestehen. Für den Steuerpflichtigen sehen die Dinge möglicherweise anders aus. Er will im vorhinein wissen, mit welcher Besteuerung er zu rechnen hat und ob sein Verhalten straflos bleibt. Da die Rechtslage als kompliziert erscheint, kann er die zuständige Finanzbehörde um eine Auskunft mit Bindungswirkung nach Treu und Glauben ersuchen. Handelt es sich um tatsächliche Fragen, so sucht er eine tatsächliche Verständigung mit dem Finanzamt zu erreichen. Es ist zu untersuchen, welche Folgerungen sich hieraus für die strafrechtliche Seite ergeben und inwieweit die vorgetragenen Standpunkte zum Verhältnis von Besteuerungs- und Strafverfahren in der Lage sind, diese Situation verfassungsgemäß zu lösen. Das Gesetz sieht eine verbindliche Auskunft für einen noch nicht verwirklichten Sachverhalt vor Abschluß des Veranlagungsverfahrens nur für den Fall einer Außenprüfung vor (§§ 204 ff. AO). Darüber hinaus wurde jedoch im 2?MF-Schreiben 82 vom 24. 06. 1987 dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag auf Erteilung einer Auskunft mit Bindungswirkung nach Treu und Glauben zu stellen. Die Erteilung dieser verbindlichen Auskunft der Behörde steht im pflichtgemäßen Ermessen. Eine hiernach erteilte Auskunft hat nach bestrittener, aber im Vordringen befindlicher Meinung die Qualität eines Verwaltungsaktes.83 Folgt 82 BMF Schreiben v. 24. 06. 1987 - IV A5 -S 0430 - 9/87, BStBl 1 1987, 474.
§ 4 Steuerverfahren am Prüfstein der Vorfragenkompetenz
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man dieser Ansicht, so bindet die Auskunft nach den soeben entwickelten Grundsätzen gleichzeitig den Strafrichter. Verbindliche Auskünfte können gesetzesverdrängenden Charakter besitzen. Dies wurde für das Steuerrecht schon früh gesehen84 und kann für das Steuerstrafrecht nicht anders gelten. Es wäre nicht einsichtig, wenn die Finanzbehörde im Rahmen einer verbindlichen Auskunft dem Steuerpflichtigen gegenüber eine bestimmte Rechtsauffassung vertritt und der Bürger seine Tatsachenangaben danach ausrichtet, anschließend jedoch das Strafgericht seine eigene Rechtsansicht der Verurteilung zugrundelegt. Abschließend läßt sich demnach sagen, daß die dem Strafrichter eingeräumte Vorfragenkompetenz zu weitgehend ist und einer Einschränkung im Interesse des Angeklagten bedarf.
83
Krabbe, Helmut, Auskünfte mit Bindungswirkung nach Treu und Glauben, DB 1987, 2067, 2068. 84 Hoepffner, Klaus J., Gesetzesverdrängung durch Verwaltungshandeln im Steuerrecht, S. 69. 22*
§ 5 Gesetzliche Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruches A. Vorbemerkung Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich mit der Zulässigkeit von Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruches. Die strafbefreiende Selbstanzeige ist ein solches Instrument, welches nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung suchen läßt. Daran anschließend werden im nächsten Kapitel die verfassungsrechtlichen Grenzen von Steueramnestien zum Gegenstand der Betrachtung gemacht. Schließlich soll die verfassungsrechtliche Bedeutung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Steuerstrafrecht gewürdigt werden. Das Grundgesetz kennt keine ausdrückliche Verpflichtung, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen. Einzige Ausnahme ist das Verbot eines Angriffskrieges nach Art. 26 Abs. 1 GG. Der Verfassungsgeber räumt daher dem Gesetzgeber den Entscheidungsvorrang über die Strafwürdigkeit eines bestimmten Verhaltens ein. Prüfungsmaßstab sind jedoch die Grundrechte sowie weitere Verfassungsgüter, die unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu schützen sind. Für den in Rede stehenden Bereich kommen vor allem die Belastungsgleichheit bei der Besteuerung, die Gleichbehandlung von Steuer- und Wirtschaftstraftätern und die Sicherung des Finanzaufkommens des Staates in Betracht. Daneben ist die Bemessung der Strafe nach dem verfassungsrechtlich garantierten Schuldgrundsatz geboten.
B. Die strafbefreiende Selbstanzeige I. Verfassungsmäßigkeit des § 371 AO Der Steuerpflichtige erlangt durch eine Selbstanzeige Straffreiheit, soweit er die falschen oder unterlassenen Angaben gegenüber der Behörde korrigiert bzw. nachreicht und somit diese in die Lage versetzt, die zutreffende Steuerfestsetzung vorzunehmen. Wenn auch die Selbstanzeige nicht freiwillig erstattet werden muß, so sieht das Gesetz in § 371 Abs. 2 AO Fälle typisierter Unfreiwilligkeit vor, die die strafbefreiende Wirkung ausschließen. Der Steuerpflichtige ist damit jedoch nicht von allen Nachteilen freigestellt: Er kann damit rechnen, nach einer Selbstanzeige für die nächsten zehn Jahre in die Steuersünderkartei der Bußgeld- und Strafsachenstelle seines Finanzamtes aufge-
§ 5 Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruchs
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nommen zu werden, besonders bei hinterzogener Steuer über 100.000,- DM. Währenddessen werden seine folgenden Steuererklärungen sehr genau überprüft. Es soll an dieser Stelle erörtert werden, worin die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Instrumentes der strafbefreienden Selbstanzeige liegt. Die Bestimmung ist im deutschen Strafrecht, anders als etwa in Österreich einzigartig und fand sich zunächst lediglich in der ihr nachgebildeten Vorschrift des § 266 a Abs. 5 StGB. § 371 AO wird deshalb häufig als Fremdkörper im deutschen Recht angesehen. Ihm haftet die Gefahr an, Steuerhinterziehungen zu bagatellisieren, weil der Gesetzgeber mit der Einrichtung einer Selbstanzeigemöglichkeit den Eindruck erwecken könnte, daß er es mit Steuerdelikten nicht so ernst nimmt, sondern auch im nachhinein dem Steuerstraftäter die Möglichkeit einräumt, straffrei davonzukommen. Daher lassen sich negative Auswirkungen auf die Steuermoral nicht ganz ausschließen. Diese Befürchtung besteht jedoch weniger deswegen, weil Steuerpflichtige von anderen Steuerpflichtigen Selbstanzeigen erfahren könnten. Denn aufgrund des Steuergeheimnisses gelangen diese Vorgänge nur selten in die Öffentlichkeit. Sie könnte aber insofern begründet sein, als der einzelne Steuerbürger eher geneigt sein könnte, eine Steuerhinterziehung zu begehen, wenn er weiß, daß er mit der strafbefreienden Selbstanzeige immer noch „ein Hintertürchen offen" hat. Sinn und Zweck der strafbefreienden Selbstanzeige sind nach wie vor umstritten. Nach einer verbreiteten Meinung dient sie der Sicherung der Steuerzahlungen des Staates, also rein fiskalischen Interessen.1 Das Reichsgericht sah den rechtspolitischen Sinngehalt der Vorschrift darin, dem Staat noch unbekannte Steuerquellen zu eröffnen und durch die Aussicht auf eine Straffreiheit den Steuerstraftäter den Weg zur Steuerehrlichkeit frei zu machen.2 Diese Ansicht wird auch heute noch vielfach vertreten. Der Staat erhofft sich höhere Steuereinnahmen durch reuige Steuerstraftäter. Diese Hoffnung wird in der Literatur insbesondere in Situationen, in denen ohnedies eine Betriebsprüfung drohte, angezweifelt. 3 Im übrigen tritt die Steuerhinterziehung oftmals im Gefolge weiterer nichtsteuerlicher Straftaten auf, die von der strafbefreienden Wirkung der Selbstanzeige nicht umfaßt sind, der Täter somit keine vollständige Straffreiheit erlangen kann. Dadurch kann der Anreiz zur Umkehr verloren gehen. 1 Vogelberg, Claus-Arnold, Die Selbstanzeige im Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, ZAP Fach 21, S. 39. 2 Urt. v. 09. 11. 1936 - 3 D 619/36, RGSt 70, 350, 351; zust. Pfaff, Paul, Kommentar zur steuerlichen Selbstanzeige, S. 13. 3 Hiergegen entschieden Müller, Rudolf, Begünstigung der Steuer- und Wirtschaftsstraftäter durch den Staat?, ZRP 1975, 49, 50, der von einer lebensfremden Annahme spricht. Ahnlich auch Seer, Roman, in: Tipke /Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 55, welcher die Selbstanzeige als untaugliches Instrument ansieht, bisher unerkannte Steuerquellen aufzudecken, weil in der Praxis eine Selbstanzeige nur dann erfolge, wenn eine Außenprüfung bevorstehe oder aufgrund eines Streites mit Ehefrau oder Geschäftspartner mit einer Entdeckung gerechnet werde.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Daß die strafbefreiende Selbstanzeige daneben auch einen Lohn für die Umkehr des Steuerhinterziehers darstellt, wieder auf den rechten Weg zurückzukehren, wird zunehmend abgelehnt. Da der Gesetzgeber an keiner Stelle nach der Motivationslage des Anzeigeerstatters fragt, ist anzunehmen, daß es dem Gesetzgeber hierauf nicht ankam.4 Nach dem Gesetzeswortlaut des § 371 AO ist es nämlich unerheblich, ob Reue oder kühle Berechnung bestimmend war. 5 Der Gesetzgeber besaß also keine rechtsethische Motivation. 6 Eine Freiwilligkeit der Selbstanzeige ist demnach nicht zu fordern, da sie von der Motivationslage des Steuerpflichtigen zuviel verlangen würde und im Hinblick auf die begrenzten Kontrollmöglichkeiten des Staates das Ziel, andernfalls verlorene Steuerquellen zu erschließen, nicht erreichen könnte.7 Damit läßt sich aber gleichzeitig feststellen, daß der mit Verfassungsrang ausgestattete Schuldgrundsatz des Strafrechts nicht zur Rechtfertigung des § 371 AO herangezogen werden kann. In der Literatur findet sich ferner die Meinung,8 die Selbstanzeige müsse richtigerweise als ein Fall des Rücktritts von der vollendeten Steuerhinterziehung mit der Strafzwecktheorie angesehen und mit dem Gedanken der Wiedergutmachung, der auch in § 46 a StGB beim Täter-Opfer-Ausgleich seinen Ausdruck im Gesetz gefunden habe, begründet werden, weil die Aufdeckung unbekannter Steuerquellen nach dieser Rechtsmeinung als praxisferne Hoffnung und nicht als hinreichende Rechtfertigung für die Selbstanzeige zu werten sei. Bisweilen wird der Standpunkt vertreten, die strafbefreiende Selbstanzeige ziele auf diejenigen Fälle ab, in denen mehrere an einer Steuerstraftat beteiligt sind, weil hier aufgrund der Anzeige des einen die anderen Beteiligten überführt werden können. Zwar wird danach die Denunziation der übrigen nicht mehr ausdrücklich verlangt, tatsächlich läuft diese Ansicht aber darauf hinaus. In der Tat, so hat Scheil am Beispiel des österreichischen Finanzstrafrechts nachgewiesen,9 bestehen zwischen der Denunziation und der Selbstanzeige gemeinsame geschichtliche Wurzeln. Nach anderer Ansicht schließlich dient die strafbefreiende Selbstanzeige der Steuermoral, die mit der Steuerwilligkeit gleichgesetzt wird. 1 0 Denn die Rechtsfol4
Gußen, Peter, Die rechtzeitige Selbstanzeige als Mittel zur Vermeidung des Steuerstrafverfahrens, StB 1997, 358, 359; Seckel, Carola, Die Steuerhinterziehung (§ 370 AO 1977), S. 74. Für die Finanzverwaltung: OFD Stuttgart, Vfg. v. 01. 01. 1996 - S 0700, Tz. 5.1.2. 5 So schon Troeger, Heinrich, Steuerstrafrecht, § 396 AO, Anm. 1. 6
Westpfahl, Marion, Die strafbefreiende Selbstanzeige im Steuerrecht, S. 49; ebenso Firnhaber, Burkhard, Die strafbefreiende Selbstanzeige im Steuerrecht, S: 23 f.; Holper, Peter, Die steuerrechtliche Selbstanzeige - ein Sonderfall des Rücktritts vom vollendeten Versuch, S. 100; dagegen a. A. List, Heinrich, Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht, S. 11, insbes. S. 13, der die Selbstanzeige als Unterfall der tätigen Reue ansieht. 7 Fritz, Hans-Joachim, Die Selbstanzeige im Beitragsstrafrecht gemäß § 266 a Absatz 5 StGB, S. 77. 8 Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 55. 9 Scheil, Andreas, Die Selbstanzeige nach § 29 FinStrG, Rn. 2 ff.
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ge der Straflosigkeit tritt nur bei fristgemäßer Entrichtung der hinterzogenen Steuern ein. Den übrigen Steuerzahlern fehlt häufig ebenfalls die notwendige Einsicht in die Pflicht zur Steuerzahlung. Der Staat ahndet diese Gesinnung jedoch nicht, solange der Betreffende seine Steuerschuld begleicht, sei es nur aus Angst vor einer Sanktion, sei es aus wirklicher Einsicht. Richtig ist also, daß es auf die Motivationslage des Steuerpflichtigen, gleichgültig ob er ehrlich ist oder nicht, nie ankommt. Eine Einschränkung hiervon macht das Gesetz jedoch, soweit eine eingeleitete Betriebsprüfung Sperrwirkung entfaltet. In diese Voraussetzung läßt sich der Wille des Gesetzgebers interpretieren, daß eine Umkehr in letzter Minute nicht genügt. Denn der Selbstanzeigende wirkt in Wahrheit nur deswegen mit, weil er ohnedies von einer Entdeckung ausgeht, seine innere Einstellung also nicht geändert hat, sondern lediglich der Strafe entgehen will. Der Gesetzgeber ging aber wohl eher davon aus, daß bei einer Betriebsprüfung alle wesentlichen Mängel sowieso aufgedeckt werden und somit sich keine neuen Steuerquellen aufgrund der Selbstanzeige erschließen, als nicht ohnehin durch die Betriebsprüfung aufgezeigt würden. Die Kritik an der strafbefreienden Selbstanzeige stützt sich vor allem auf folgende Erwägungen: So sieht das AG Saarbrücken 11 in der strafbefreienden Selbstanzeige eine sachwidrige Privilegierung gegenüber anderen Tätern, insbesondere gegenüber Tätern, die § 263 Abs. 1 StGB verwirklicht haben. Dies verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG. Die Verfassungswidrigkeit ergebe sich auch daraus, daß nur derjenige strafbefreit ist, der die hinterzogenen Steuern nachentrichtet. Darin liege eine sachwidrige Ungleichbehandlung gegenüber demjenigen, der die hinterzogene Steuer in seinem Unternehmen investiert und diese somit nicht mehr als flüssige Mittel zur Verfügung habe. Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorlagebeschluß des AG Saarbrücken als unzulässig behandelt.12 Wenn auch die Verfassungskonformität der Vorschrift nicht entschieden wurde, so ließ das Gericht dennoch durchblicken, daß der Vorlagebeschluß auch in der Sache keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Maßstab war danach Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als reines Willkürverbot unter Anwendung der Leibholz*sehen Formel. Der BGH und mit ihm die Literatur haben ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken.13 Lediglich vereinzelt wird in der Literatur eine sachlich nicht ge-
io Pfaff,
Paul, a. a. O. (Fn. 2), S. 15.
h AG Saarbrücken v. 02. 12. 1982-35-55/82, wistra 1983, 84, 84. 12 Beschl. v. 28. 06. 1983 - 1 BvL 31/82, BVerfGE 64, 251, 255. 13 BGH v. 13. 05. 1983 wistra 1983, 197, 197. Engelhardt, Hanns, in: Hübschmann/ Hepp/ Spitäler, § 371 AO, Rn. 42 f.; Bilsdorf er, Peter, Aktuelle Tendenzen des Steuerstrafrechts, DStZ 1985, 184, 187; Streck, Michael, Praxis der Selbstanzeige, DStR 1985, 9, 12 f.; Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1439.
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rechtfertigte Ungleichbehandlung angenommen,14 so sei der Ermittlungsnotstand im Steuerstrafrecht auch nicht größer als in den meisten Wirtschafts- und Umweltstraftaten. Tatsache ist, daß außerhalb des Steuerstrafrechts lediglich die Norm des § 266 a StGB bei Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt und die Norm des § 261 Abs. 9 StGB beim Tatbestand der Geldwäsche eine vergleichbare Privilegierung des Täters vorsieht. Auf den weitgehend vergleichbaren Tatbestand des Subventionsbetruges ist die Selbstanzeigevorschrift des § 371 AO nicht anwendbar, obgleich im übrigen bei der Strafverfolgung des Subventionsbetruges die Regeln des Steuerstrafverfahrens maßgeblich sind. Das Selbstanzeigeprivileg könnte sich dem Vorwurf aussetzen, eine gegenüber anderen Vermögensdelikten sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung des Steuerhinterziehers zu begründen und damit in Konflikt mit Art. 3 Abs. 1 GG zu geraten. Zu fragen wäre demzufolge weiter, ob die fiskalischen Interessen, die hinter der Vorschrift stehen, mit der Gerechtigkeitsvorstellung des Grundgesetzes in Einklang zu bringen sind. Die meisten europäischen Staaten mit Ausnahme der Schweiz und Österreich kennen keine entsprechende Privilegierung des Steuerhinterziehers 15 oder sie wurde wie in den USA wieder aufgegeben. 16. Das Bestehen einer Sonderregelung allein genügt aber nicht für die Annahme einer Willkür. 17 Denn der Gleichheitssatz berechtigt das Bundesverfassungsgericht nicht, anstelle der Wertung des Gesetzgebers seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen zu setzen.18 Deshalb hält die überwiegende Ansicht die Regelung der Straffreiheit in § 371 AO für verfassungsrechtlich unbedenklich.19 Zu berücksichtigen ist allerdings, daß das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich mit der Anwendung der sogenannten „neuen Formel" beim Gleichheitssatz seine richterliche Zurückhaltung aufgegeben hat. Es muß deshalb heute gefragt werden, ob zwischen Steuerhinterziehern und anderen Wirtschaftstraftätern, insbesondere Betrügern Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können. Die bisherige Argumentation in der Wissenschaft geht auf diesen Aspekt zu wenig ein. 14 So Abramowski, Jasper, Verfassungswidrigkeit des steuerlichen Selbstanzeigeprivilegs?, DStZ 1992,460,464 f. will die Verfassungswidrigkeit insbesondere aus dem Zinsurteil ableiten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dort zu dieser Frage jedoch nicht geäußert. Ein Zusammenhang zwischen der im Urteil angesprochenen Rechtsanwendungsgleichheit und dem Selbstanzeigeprivileg ist insoweit anzuerkennen, als gesamtwirtschaftliche Gründe wie die Verhinderung von Kapitalflucht keine geeigneten Differenzierungsgründe sein können. 15
Firnhaber, Burkhard, a. a. O. (Fn. 6), S. 17; Mattern, Georg, Steuerliche Selbstanzeige und Steuermoral, NJW 1951, 937, 937. 16 Dazu noch ausführlicher unten, Fünftes Kapitel: § 2D „Angelsächsischer Rechtskreis" auf S. 408 ff. 17 Hein, Reinhard, Anmerkung zu BVerfGE 64, 251 ff., StB 1983, 144, 145. 18 Späth, Wolfgang, Anmerkung zum Vorlagebeschluß des AG Saarbrücken, Stbg 1983, 164, 165. 19 So etwa Arndt, Hans-Wolfgang, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787, 793.
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Zöbeley 20 begründet diese Ungleichbehandlung mit dem Umstand, daß es sich sowohl bei Steuerhinterziehung wie auch § 266 a StGB um Delikte handelt, bei denen der Täter einem Zahlungsanspruch des Staates ausgesetzt ist, d. h. sein Geld verteidigt, hingegen der im übrigen vergleichbare Tatbestand des Subventionsbetruges, der keine Privilegierung für Selbstanzeiger vorsieht, den Fall betrifft, daß der Täter im Rahmen der Subvention erst einen Anspruch gegenüber dem Staat geltend macht. Freilich räumt Zöbeley ein, daß es sich wirtschaftlich gesehen per saldo um eine unerhebliche Unterscheidung handeln könne. In der Tat hängt die Ausgestaltung als Subventionstatbestand oder als Steuervergünstigung eher von politischen Zufälligkeiten ab. Teilweise wird in der Literatur die Befürchtung geäußert, daß allein die Existenz einer solchen Vorschrift den Anschein erwecken könne, es handele sich um minder schwere, unbeachtliche Verstöße gegen das Recht, so daß die präventive Wirkung der Strafdrohung geschwächt werde. 21 Hoffschmidt 22 nennt mehrere Gründe, die eine Privilegierung des Steuerhinterziehungstatbestandes rechtfertigen können. So sei die Steuerhinterziehung ein Massendelikt, das gesamtwirtschaftlich erheblichen Schaden anrichtet. Dennoch sei die Entdeckungsgefahr vergleichsweise gering. Die vom Täter aufgewandte kriminelle Energie sei gering, da bereits das Unterlassen einzelner Angaben in der Steuererklärung genüge, um den Tatbestand zu erfüllen. Demgegenüber bedürfe es beim Tatbestand des Betruges der Erregung eines Irrtums beim Opfer. Das Unrechtsbewußtsein der Täter sei gering, da die wenig ausgeprägte Steuermoral der übrigen Bevölkerung keine Zweifel aufkommen läßt. Ohnedies glaubt der Steuerhinterzieher, nur einen übermäßigen Zugriff des Fiskus auf Einkommen, Vermögen oder Konsum zu vermeiden. Erleichtert werde dies durch die Anonymität des Opfers. Schließlich sei von großer Bedeutung, daß Steuerstraftaten vielfach auf Wiederholung angelegt sind. Würde der Täter in der nachfolgenden Steuererklärung sämtliche Angaben machen und zur Redlichkeit zurückkehren, so würde der Veranlagungsbeamte beim Finanzamt hinsichtlich der auffällig gegenüber dem Vorjahr schwankenden Bemessungsgrundlage stutzig. Ob die Häufigkeit eines Delikts ein maßgebliches Kriterium dafür sein kann, daß es eine derartige Privilegierung erfährt, ist zweifelhaft. Die Häufigkeit von Ladendiebstählen und Sachbeschädigungen (auch Graffiti und ähnliches) hat ebenfalls ein volkswirtschaftliches Ausmaß erreicht, ohne daß hierin die Rechtfertigung für einen rechtsfreien Raum läge. Die niedrige Entdeckungsgefahr ist die Folge einer Politik, die die von ihr selbst geschaffenen Steuergesetze bewußt mit einem Vollzugsdefizit ausstattet.23 Dahin20 Zöbeley, Günter, Zur Verfassungsmäßigkeit der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung, DStZ 1984, 198,198 f. 2 1 Firnhaber, Burkhard, a. a. Ο. (Fn. 6), S. 19. 22 Hoffschmidt, Dieter, Über die Rechtfertigung der strafbefreienden Selbstanzeige im Steuerstrafrecht (§ 371 AO), S. 218 f.
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ter steht letztlich die Absicht, der eigenen politischen Klientel an der öffentlichen Kontrolle vorbei finanzielle Vorteile zuzuweisen. Anders ist es nicht zu erklären, warum die Arbeitnehmerveranlagung mit Akribie vollzogen wird, im betrieblichen Bereich hingegen, wo Großbetriebe im Durchschnitt alle 5,2 Jahre, Mittelbetriebe alle 13,6 Jahre und Klein- und Kleinstbetriebe alle 53,6 Jahre eine Außenprüfungsanordnung erhalten, 24 Beträge im Millionenbereich ausnehmend großzügig gehandhabt werden. In den neuen Bundesländern beträgt der Prüfungsturnus für Großbetriebe 22,7 Jahre, für Mittelbetriebe 38,7 Jahre und für die Klein- und Kleinstbetriebe 262,7 Jahre. Dementsprechend ist die leichte Verwirklichung des Steuerhinterziehungstatbestandes nicht in der Sache begründet, sondern eine Konsequenz der geringen Kontrolldichte. Richtig ist allerdings auch, daß der Staat im Steuerrecht - anders als in anderen Rechtsgebieten - auf die Mitwirkung des Steuerpflichtigen angewiesen ist, weil eine vollständige Kontrolle weder von den tatsächlichen Möglichkeiten noch von den Anforderungen eines Rechtsstaates her durchführbar ist. 25 Entscheidend dürften vielmehr die beiden letzten Argumente sein: Während innerhalb der Rechtsgemeinschaft ein weitgehender Konsens darüber besteht, daß ein Betrugsdelikt sozialethisch mit einem Unwerturteil zu belegen ist, hält man Steuerhinterziehung in weiten Teilen der Bevölkerung für ein adäquates Mittel, eine als zu hoch empfundene Steuerlast zu verringern. 26 Die strafrechtlichen Verbote stellen in einem Rechtsstaat den gesellschaftlichen Minimalkonsens der Mitglieder dieser Gesellschaft dar. Hiervon scheint die Steuerhinterziehung nicht erfaßt. Da umgekehrt eine Entkriminalisierung des Steuerrechts zum Staatsbankrott führen würde, erscheint die großzügige Wohltat des Selbstanzeigeprivilegs ein Weg zu sein, die Spannung zwischen gesunkener Steuermoral und gestiegenem Finanzbedarf zu lösen. Das Prinzip der Abschnittsbesteuerung bringt es mit sich, daß bei Veranlagungssteuern regelmäßig Steuererklärungen abzugeben sind. Werden hier Einkunftsquellen, Vermögensgegenstände oder Umsätze nicht erklärt, so würde sich der Steuerstraftäter selbst verraten, wenn er diese im folgenden Besteuerungsabschnitt ord-
23 Klein, Alexander, Steuermoral und Steuerrecht, S. 132; a. A. wohl Wannemacher, Wolfgang, Steuerberater und Mandant im Steuerstrafverfahren, Rn. 246, der davon ausgeht, daß der Staat aufgrund fehlender Kontrollmöglichkeiten auf die Redlichkeit des Bürgers angewiesen ist. Er beklagt, daß die Steuerhinterziehung das Delikt mit der höchsten Dunkelziffer sei, ohne jedoch auf Gründe einer fehlenden Kontrolle einzugehen. 24
Ondracek, Dieter, Zum Gleichmaß der Besteuerung, S. 232, unter Verweis auf amtliche Zahlen des BMF aus dem Jahre 1994. 25 Wassmann, Hans Jörg, Die Selbstanzeige im Steuerrecht, S. 25; ferner Firnhaber, Burkhard, a. a. O. (Fn. 6), S. 20; Späth, Wolfgang, Anmerkung zum Vorlagebeschluß des AG Saarbrücken, Stbg 1983, 164,165; Holper, Peter, Die steuerrechtliche Selbstanzeige - ein Sonderfall des Rücktritts vom vollendeten Delikt, S. 100; Vogelberg, Claus-Arnold, Die Selbstanzeige im Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht, ZAP Fach 21, S. 39. 2
Bilsdorfer,
Peter, Aktuelle Tendenzen des Steuerstrafrechts, DStZ 1985,184, 185.
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nungsgemäß abgäbe.27 Dieser Form der Steuerhinterziehung ist deshalb das Moment der Wiederholung immanent. Der Täter findet daher nicht mehr zur Redlichkeit zurück, er kann sich nicht mehr steuerehrlich verhalten und würde sich immer mehr im Unrecht verstricken. 28 Hier liegt der wesentliche Unterschied zu einem Betrugsdelikt, bei dem eine Wiederholung regelmäßig nicht angelegt ist. Es sollte ferner erwähnt werden, daß die strafbefreiende Selbstanzeige nicht nur dazu führt, die fiskalischen Interessen des Staates durch den Anreiz der Straffreiheit bei Nachentrichten der hinterzogenen Steuer zu fördern. Vielmehr wird durch jede Selbstanzeige der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung in seiner Ausprägung der Rechtsanwendungsgleichheit wiederhergestellt. Dies ist ein Gebot, das sich aus dem Zinsurteil 29 des Bundesverfassungsgerichts ableiten läßt. Der Vergleich mit dem Betrugstatbestand läßt keine sachwidrige Ungleichbehandlung erkennen. Ebenso wie es daher beim Betrug die Möglichkeit gibt, daß der Geschädigte sich im Vorfeld mit dem Täter einigt, muß es im Steuerstrafrecht die Option geben, im Falle einer Wiedergutmachung von der Bestrafung abzusehen.30 Eine Verfassungswidrigkeit erwächst ferner nicht aus dem Umstand, daß der Steuerhinterzieher die hinterzogene Steuer zur Verstärkung des Betriebskapitals im Unternehmen belassen hat. Denn dies geschieht regelmäßig nicht aus uneigennützigen Motiven, wie der Sicherung der Steuerquelle oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern vorrangig aus dem persönlichen Gewinnstreben des steuerhinterziehenden Unternehmers. 31 Die strafbefreiende Selbstanzeige, die gerade die Nachzahlung der hinterzogenen Steuer voraussetzt, dient damit der Durchsetzung der steuerlichen Belastungsgleichheit. Im Ergebnis beruht das Privileg der Selbstanzeige des Steuerhinterziehers auf sachgerechten Erwägungen, die in der spezifischen Natur des Steuerrechts begründet sind. § 371 AO ist damit als nicht willkürlich, auch der „neuen Formel" entsprechend und somit als verfassungsgemäß anzusehen. Die Einwände des AG Saarbrücken greifen daher nicht durch.
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List, Heinrich, Die Selbstanzeige im Steuerstrafrecht, S. 15. Firnhaber, Burkhard, a. a. O. (Fn. 6), S. 35. 29 Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, 271. 30 Hein, Reinhard, Anmerkung zu BVerfGE 64, 251 ff., Stbg 1983, 144, 145.
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31 Hoffschmidt, Dieter, Uber die Rechtfertigung der strafbefreienden Selbstanzeige im Steuerstrafrecht (§ 371 AO), S. 234.
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II. Verfassungsmäßigkeit der Handhabung der Vorschrift des § 371 AO bei Nichterfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen In der Praxis werden Selbstanzeigen in häufigen Fällen nur unvollständig und lückenhaft abgegeben,32 obgleich sie nach dem Gesetz so gestaltet sein müßten, daß die Finanzbehörde ohne eigene langwierige Nachforschungen die Steuern richtig festsetzen könnte. Im Ergebnis sind daher sämtliche Angaben notwendig, die auch in der (richtigen) Steuererklärung erwartet worden wären. Hinsichtlich der Auslegung der Norm des § 371 AO könnte die Auffassung vertreten werden, daß eine gewisse Großzügigkeit bei der Feststellung der Voraussetzungen zulässig sei, weil es sich bei der strafbefreienden Selbstanzeige ohnedies um eine Wohltat des Gesetzgebers handelt. Dieser Ansicht begegnen Bedenken, da außerhalb des gesetzlich geregelten Falles der Selbstanzeige das Legalitätsprinzip gelten muß. Ein Rechtswohltat ist dann rechtsstaatlich nicht zu beanstanden, wenn sie allen Bürgern zu Gute kommt. Dies gilt selbst dann, wenn es sich um straffällig gewordene Steuerpflichtige handelt. Wird jedoch im Einzelfall von den gesetzlich geregelten Voraussetzungen abgewichen, so ist hierin ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze, besonders den Grundsatz der Gewaltenteilung zu sehen.33 Auch der Gleichheitssatz kann im Einzelfall betroffen sein. Es kommt hinzu, daß steuerliche Wohltaten wegen des Steuergeheimnisses der öffentlichen Kontrolle entzogen sind. Hiervon abweichend ist die Frage zu beurteilen, ob dem straffällig gewordenen Steuerpflichtigen die Möglichkeit eingeräumt werden kann, die nicht vollständig abgegebene Selbstanzeige zu ergänzen. Dies wird regelmäßig zu bejahen sein, wenn eine in allen Punkten vollständige Selbstanzeige nicht möglich war. Zu berücksichtigen ist, daß § 371 AO wegen seiner Sperrwirkungen, nach deren Eintritt eine Selbstanzeige nicht mehr strafbefreiend möglich ist, einen erheblichen Zeitdruck auf den Steuerstraftäter ausübt, noch vor Entdeckung (§ 371 Abs. 2 Nr. 2 AO), vor Beginn der steuerlichen Prüfung (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 a AO) oder vor Bekanntgabe der Einleitung eines Strafverfahrens (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 b AO) die Selbstanzeige abzugeben. Damit setzt der Gesetzgeber den Steuerpflichtigen der Gefahr aus, zu einem Zeitpunkt eine Erklärung abzugeben, an dem keine vollständige Selbstanzeige möglich ist, weil dem Steuerpflichtigen die erforderlichen Angaben und Unterlagen in der Kürze der Zeit nicht zur Verfügung stehen. In diesem Moment könnte die Erklärung dann nicht als Selbstanzeige, sondern nur als Geständnis aufgefaßt werden. Dahinter steht letztlich eine Ubertölpelung des Steuerpflichtigen. Es entsteht eine Kollision zwischen dem Legalitätsgrundsatz und dem „nemo tenetur"-Grundsatz. Dieser ist dahingehend zu lösen, daß dem Steuer-
32 Marienhagen, Herbert, Die Einlassungen der Verteidiger im Steuerstrafverfahren, S. 193. 33 Kopacek, Werner, Steuerstraf- und Bußgeldfreiheit, S. 196 f.
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Pflichtigen innerhalb einer angemessenen Frist Gelegenheit zu geben ist, seine Erklärung zu vervollständigen. Der BGH hat zu dieser Frage entschieden, daß das Finanzamt nicht rechtswirksam auf die erforderlichen Angaben zur Abgabe einer Selbstanzeige verzichten kann. 34 Die Ansicht des Finanzamtsvorstehers sei für den Strafrichter unmaßgebend. Aktuelle Bedeutung haben diese Überlegungen bei kollektiven Selbstanzeigen in Fällen des Kapitaltransfers nach Luxemburg gefunden (ζ. B. sogenanntes „ Monheimer Modell"). Hier regen die Ermittlungsbehörden unter Inaussichtstellen großzügiger Handhabung kollektive Selbstanzeigen von Bankkunden und Bankmitarbeiter an, obgleich aufgrund vielfältiger praktischer Hinderungsgründe kollektive Selbstanzeigen in den seltensten Fällen wirksam erklärt werden können, da die Vielzahl der Beteiligten nicht koordiniert werden kann. Eine „Massen"-Selbstanzeige scheitelt zumeist schon aus Gründen der Vollständigkeit und der Rechtzeitigkeit, selbst wenn eine Sperrwirkung erst bei einem auf eine bestimmte Person konkretisierten Anfangs verdacht eintritt. 35 Aus verfassungsrechtlicher Sicht setzt sich der Rechtsstaat mit der großzügigen Anerkennung dem Vorwurf des Mißbrauches von Ermittlungsbefugnissen und der Willkür aus.36
I I I . Stellungnahme Die verfassungsrechtliche Ableitung der strafbefreienden Selbstanzeige macht nicht unerhebliche Schwierigkeiten, wenn man die Selbstanzeige allein als Instrument versteht, verborgene Steuerquellen aufzudecken und damit den Finanzinteressen des Steuerstaates zu dienen. In der Schweizer Doktrin 37 wird die Ansicht vertreten, die strafbefreiende Selbstanzeige diene der Konkretisierung des „nemo tenetur"-Gebotes. Vieles spricht dafür, daß ein Recht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, praktisch erst dann umgesetzt werden kann, wenn der Betroffene vor dem Hintergrund seiner Mitwirkungspflichten die Möglichkeit besitzt, diesen nachzukommen, selbst wenn er sich zuvor einer Steuerstraftat schuldig gemacht hat, ohne sich selbst der Gefahr der Verfolgung auszusetzen. Die strafbefreiende Selbstanzeige ermöglicht ihm auch für spätere Jahre die Rückkehr zur Rechtschaffenheit, ohne strafrechtlich belangt zu werden. Sie eröffnet ihm die Möglichkeit, auf dem Boden des Rechts zu 34 BGH Urt. v. 20. 07. 1965 - 1 StR 95/65, BB 1966,107, 107. 35 Feldhausen, Peter, Selbstanzeige der unentdeckten Mitarbeiter der Kreditinstitute?, PStR 1998,45,46. 36 Zutreffend: Ditges, Thomas / Graß, Amo, Zur - kollektiven - Selbstanzeige des Hinterziehungshelfers, BB 1998, 1978, 1981. 37 Berksen, Hans Peter, Die Selbstanzeige im schweizerischen Steuerstrafrecht, ST 1986, 347, 348.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
stehen. Einer solchen Brücke bedarf der Steuerhinterzieher, da er sich vom klassischen Straftäter deutlich abgrenzt, der gegenüber der Rechtsanschauung der Rechtsgemeinschaft ein abweichendes Verhalten zeigt. Das Strafrecht kann hingegen nicht im Bereich der ubiquitären Steuerhinterziehungsdelikte eine Mehrheit der Bevölkerung aus der Gesellschaft ausgrenzen. Deshalb ist es unter Hinweis auf das im Grundgesetz garantierte Selbstbelastungsverbot zu befürworten, wie dies Stahl 38 vorgeschlagen hat, der strafbefreienden Selbstanzeige Verfassungsrang zuzubilligen und sie dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers zu entziehen. Das weitere Arguments Stahls, 39 wonach ein Verfassungsrang sich auch deswegen ergebe, weil die Steuerquote eine schwindelerregende Höhe erreicht habe, ist vom Standpunkt dieser Arbeit aus zumindest unpräzise. Auch ein Bankraub mag im Einzelfall lukrativ erscheinen, er rechtfertigt allein deshalb keine Privilegierung des Täters. Entwickelt man diesen Gedanken jedoch weiter, so ließe sich mit guten Gründen die Auffassung vertreten, die Zulässigkeit der strafbefreienden Selbstanzeige ist ein Gebot der Verfassung in den Fällen, in welchen eine Hinterziehung verfassungswidriger Steuer vorliegt. 40 Wer der Ansicht folgt, daß der Halbteilungsgrundsatz schon so hinreichend konkret ist, daß er bereits praktische Anwendung finden kann, der könnte unter Hinweis auf den Halbteilungsgrundsatz die hohe Steuerquote für Besserverdienende zum Anlaß nehmen, daraus ein verfassungsrechtliches Gebot der Gewährung einer strafbefreienden Selbstanzeige abzuleiten.
C. Die Steueramnestie In der Verfassungswirklichkeit kommt es bisweilen vor, daß die jeweilige Regierungsmehrheit Steueramnestien gewährt, um auch den steuerhinterziehenden Wähler nicht zu verlieren. Schätzt man den Anteil der steuerhinterziehenden Bevölkerung bei 80 %, 4 1 so handelt es sich um ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotential, das nicht vor den Kopf gestoßen werden darf. Im Gegensatz zur Weimarer Zeit ist der Einsatz von Steueramnestien jedoch verhaltener geworden. Steueramnestien
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Stahl, Rudolf, Die Selbstanzeige im Steuer- und Strafrecht, S. 12. Ebenso Hoffmann, Heiko, Die Ausschlußtatbestände der Selbstanzeige, S. 25; Brey er, Jörg, Der Inhalt der strafbefreienden Selbstanzeige, S. 69. 3 9 Stahl, Rudolf, a. a. O. (Fn. ), S. 11. 40
Zur Diskussion siehe oben, Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e.) „Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht" auf S. 182 ff. 41 Diese vorsichtige Schätzung findet sich bei Steinert, Maia, Die Gesetzmäßigkeit der sogenannten Steueramnestie, DStZ 1989, 141, 141.
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finden sich im übrigen auch in anderen Staaten,42 in der Schweiz anscheinend in Abständen von etwa 25 Jahren. 43 Die Amnestie unterscheidet sich vom Rücktritt vom Versuch und von der strafbefreienden Selbstanzeige dadurch, daß hier nicht die goldene Brücke zur Legalität gesucht wird, sondern allein das Interesse im Vordergrund steht, das Wissen des Täters für fiskalische Zwecke zu nutzen.44 Zielsetzung einer Amnestie ist zumeist eine kurzfristige Steigerung der Steuereinnahmen. Langfristige Effekte sind, wie die Vergangenheit gezeigt hat, regelmäßig nicht zu erwarten, da sich die Steuermoral nicht ändert. Hinzu kommt, daß oftmals nicht nur Zinsen für angelegtes Geld nicht versteuert wurden, sondern die Geldanlage selbst aus Schwarzgeld, d. h. unversteuerten Gewinnen stammt,45 somit der Steuerpflichtige unter Berufung auf die Amnestie zwar für die hinterzogenen Kapitaleinkünfte steuerfrei bleibt, gleichzeitig aber mit einer Verfolgung früherer Taten rechnen muß, soweit diese noch nicht verjährt sind. Auszugehen ist von der Feststellung, daß Amnestien nur in besonders begründeten Ausnahmefällen eine Rechtfertigung finden können; im Grundsatz erschüttern sie das Rechtsgefühl des ehrlichen Steuerbürgers und bringen die Gefahr mit sich, zu weiteren Steuerhinterziehungen Anreiz zu geben. Die in der Amnestie liegende Tolerierung von Unrecht durch den Staat hat eine gefährliche Wirkung auf den steuerehrlichen Bürger, der nicht zu den „Dummen" gehören will. 4 6 Im übrigen ist der Anreiz zur Offenbarung für unerkannte Steuerstraftäter geringer als gemeinhin angenommen. Zum einen hat er von nun an das offengelegte Substrat zu versteuern. Zum anderen aber muß er bei späteren Veranlagungen durch die Steuerbehörden mit besonders strenger Kontrolle rechnen. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Amnestie grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig erachtet. 47 Nach überkommener Lehre hätte die Amnestie die Rechtsnatur einer Begnadigung, nach modernem Verständnis hingegen werde bereits auf der Ebene des Rechts die Strafbarkeit mit einer Amnestie korrigiert. Dies folge aus dem Wesen des Rechtsstaates. Bezüglich der inhaltlichen Voraussetzungen einer verfassungskonformen Amnestie hat das Gericht jedoch keine Aussagen treffen brauchen. Erst in einer weiteren Entscheidung48 erhielt das Gericht Gele42 So ζ. B. in der Schweiz im Jahr 1969. Vgl. hierzu Margairaz, André, Steuerhinterziehung und Steuerkontrolle, S. 23. Frankreich hat in der Nachkriegszeit bereits mehrere Steueramnestien durchlebt. 43 Krit. für die Schweiz Gyr, Peter, Die Besko, S. 34 ff. 44 Zutreffend Rüping, Hinrich, Der Sühnegedanke im Recht der Steueramnestie, StVj 1993, 124,127. 4 5 Felix, Günther, Geplante „Zins-Steueramnestie": Inhalt und Tragweite, KÖSDI 1988, 7124,7127. 46 Klotz, Werner, Über den Verfall der guten Sitten im Steuerrecht, in: FS f. Franz Klein, S. 289, 297. 4 ? Beschl. v. 22. 04. 1953 - 1 BvL 18/52, BVerfGE 2, 213, 219. 48 Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvL 3/89, BVerfGE 84, 233, 237.
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genheit, hinsichtlich der Zulässigkeit einer Amnestie Stellung zu nehmen. Dabei vertrat das Bundesverfassungsgericht die Ansicht, daß eine Steueramnestie gerade darauf abziele, den bereits straffällig gewordenen Steuerpflichtigen zur Umkehr zu veranlassen. Mit diesem Ziel sei es durchaus zu vereinbaren, den Steuerehrlichen nicht in den Genuß einer Amnestie zu bringen, sondern die gegen diesen festgesetzte Steuer nicht zurückzugewähren. Hierin liege kein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgebot und das Rechtsstaatsgebot. Einer Erwähnung bedarf ferner das im Fall „Platow" 49 ausgesprochene Verbot der Individualamnestie, welches auf das Steuerstrafrecht übertragen werden kann. Als Grenze einer Amnestie besagt es die Unzulässigkeit sogenannter Individualamnestien, bei denen der Gesetzgeber eine bestimmte Gruppe von Fällen vor Augen hat, die er damit vom Tisch haben will. Dieser Gedanke, wonach Steueramnestien objektiv zu sein haben, hat auch in Frankreich Eingang in die Verfassungsrechtsprechung gefunden, wo mehr Erfahrung mit Steueramnestien vorliegt. 50 Marxen hält dieses Verbot mit Recht im Fall der Parteispendenaffäre für tangiert. 51 Danach sollten durch ein entsprechendes Gesetz die Ermittlungsverfahren für mehrere im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeiten beendet werden. Eine derartige Amnestie würde zudem gegen den Grundsatz der Selbstbegünstigung verstoßen, der in engem Zusammenhang zu sehen ist. Umgekehrt bestand kein Interesse an einem Amnestiegesetz, welches die Abgeordneten des Parlaments von der darin gewählten Straffreiheit ausnimmt. Daher wurden die Pläne alsbald fallengelassen, wonach die in den Parteispendenverfahren verwirklichten Steuerdelikte im Wege einer Amnestie vorzeitig abgeschlossen werden sollten. Mit dem Steuerreformgesetz 1990 wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine Steueramnestie gewährt, die an die freiwillige Nacherklärung von Kapitaleinkünften und Kapitalvermögen geknüpft war. Wenn auch aufgrund ihres bedingten Charakters eine Affinität zur strafbefreienden Selbstanzeige nicht zu verleugnen war, so handelte es sich dennoch begrifflich um eine Amnestie, da erst im nachhinein für einen bereits verwirklichten Sachverhalt Straffreiheit gewährt wurde, der vor Erlaß der Bestimmungen des „Gesetzes über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen" strafbar gewesen wäre. Verfassungsrechtlich bedeuten Steueramnestien zunächst eine zu begründende Ungleichbehandlung. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt deshalb eine Rechtfertigung der Differenzierung. Ein Rechtfertigungsgrund soll, so wird oftmals argumentiert, in dem Umstand zu sehen sein, daß der Steuerstaat selbst durch sein Vorverhalten, nämlich eine „laxe" Handhabung, die Ursache für spätere Hinterziehungen gesetzt 49 Beschl. v. 15. 12. 1959- 1 BvL 10/55, BVerfGE 10, 234, 241. 50 Weiterführend: Spies, Axel, Amnestiemaßnahmen und deren Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und Deutschland, S. 242 f.
Marxen, Klaus, Rechtliche Grenzen der Amnestie, S. 37.
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hat. 52 Eine solche Argumentation mag für unter den Bankenerlaß einzuordnende Fälle zutreffen. Das Ziel hingegen, daß unehrliche Steuerpflichtige wieder zur Ehrlichkeit zurückgeführt werden sollen, muß auf der Stufe der Erforderlichkeit scheitern, da zu diesem Zweck bereits die strafbefreiende Selbstanzeige als Königsweg vorgezeichnet ist. Für eine so verstandene Amnestie bestünde daneben kein Bedarf, zumal sie das Rechtsgefühl der ehrlichen Steuerbürger in erheblichem Maße erschüttert. Bisweilen wird dargelegt, daß schon keine Ungleichbehandlung vorläge. Nach der sogenannten „neuen Formel" bedürfe es zweier Gruppen von Personen, zwischen denen eine Ungleichbehandlung stattfindet. Die eine Gruppe bestehe aus denjenigen, die in den Genuß der Steueramnestie kämen. Die zweite Gruppe sei aber nicht in der Gruppe der ehrlichen Steuerzahler zu sehen, weil diese sich gar nicht strafbar gemacht hätten und somit keine Straffreiheit beanspruchen könnten. Sie seien deshalb auch nicht ungleich behandelt.53 Dies liefert jedoch keine Begründung für den Erlaß der Steuerschuld, der neben der Straffreiheit gewährt wird. 54 Denn die geschuldete Steuer hätte der Bürger, der ehrliche wie der unehrliche, insoweit ohnedies entrichten müssen. Maßgebliche zu vergleichende Gruppen sind also steuerehrliche und steuerunehrliche Bürger. Eine Steueramnestie hingegen ohne Erlaß der Steuerschuld ist gänzlich überflüssig, da dem Steuerhinterzieher die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige offensteht, freilich mit der Pflicht verbunden zur Nachentrichtung des verkürzten Steuerbetrages. Das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung läßt es nicht zu, daß der ehrliche Steuerbürger, der seine Steuer schon bezahlt hat, allein die Steuer trägt, der unehrliche Steuerpflichtige dagegen in den Genuß einer Steueramnestie gelangt, die ihm rückwirkend neben der eigentlichen Straffreiheit noch gleichzeitig den Erlaß der Steuerschuld beschert. Andernfalls macht das Steuersystem den ehrlichen Bürger zum „Dummen" und belohnt Gesetzesverstöße statt sie zu bestrafen. Mag sein, daß bei Anwendung der „Willkür" - Formel sich eine sachliche Rechtfertigung in dem Ziel der dauerhaften Erschließung von Steuerquellen für die Zukunft finden ließe. Nach der „neuen Formel" jedoch wird der Verfassungsverstoß offensichtlich. Der bisweilen erhobene Einwand, es hätte nur wenige Steuerehrliche gegeben, kommt einer Selbstaufgabe des Rechtsstaates gleich. 55
52 Abi. Steinen, Maia, a. a. Ο. (Fn. 41), DStZ 1989, 141, 145. 53 Krit. gegen einen Verzicht auf eine Nachversteuerung hinterzogener Steuern: Arndt, Hans-Wolfgang, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, 787, 793, der darüber hinaus selbst die Gleichbehandlung von kriminellen Unrecht und gesetzestreuen Verhalten noch für problematisch hält. 54 Entgegen Spies, Axel, Amnestiemaßnahmen und deren Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und Deutschland, S. 188 f. und S. 246. 55 So aber Gies, Reinhold / Wittmann, Rolf, Die Einbeziehung der steuerehrlichen Bürger in den Anwendungsbereich des Amnestiegesetzes, BB 1989, 330, 344. 23 Röckl
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Es wäre daher auch für den Ehrlichen eine Gutschrift seiner bereits gezahlten Steuer zu fordern 56 ; dies jedoch wird regelmäßig unter dem Diktat der leeren Kassen übergangen. Praktisch könnte dies im Wege eines Steuererlasses geschehen.57 Die Gruppe der Steuerehrlichen stellt offenbar ein zu vernachlässigendes Wählerpotential dar. Ein konsequentes Vorgehen gegen unehrliche Bürger bedeutet hingegen Stimmenverlust. Machterhaltung aber ist in der Demokratie kein zulässiger Differenzierungsgrund. Steuergesetzgebung, die hierauf fußt, ist unzulässig.58 Ob allerdings hinsichtlich der strafbefreienden Wirkung der Steueramnestie eine Ungleichbehandlung angenommen werden muß, ist in der Tat fraglich, weil hier die Vergleichsgruppe diejenigen Steuerstraftäter wären, deren Taten bereits abgeurteilt wurden. Diese könnten sich jedoch schon deswegen nicht auf die Amnestie berufen, weil sie ihre Kapitaleinkünfte und ihr Kapitalvermögen nicht nacherklärt haben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Bereich der Bankenfahndung bei den Luxemburg-Fällen wurde die Überlegung zur Diskussion gestellt, ob hier nicht, sofern die Rechtsprechung eine Strafbarkeit von Bankangestellten wegen Beihilfe bejahen sollte, de lege ferenda eine Amnestie allein für die betroffenen Bankmitarbeiter ausgesprochen werden sollte. Eine solche Maßnahme ließe sich mit dem jahrelangen augenzwinkernden Vorverhalten des Staates rechtfertigen, der die Durchsetzung der Rechtsanwendungsgleichheit im Bereich der Kapitaleinkünfte allzu großzügig gehandhabt hat. Dies würde einerseits deren Kooperationsbereitschaft mit den Strafverfolgungsorganen erhöhen, zum anderen aber das „Durchschnüffeln" der Bankkonten tausender ehrlicher Bankkunden und eine Behinderung des Kapitalverkehrs mit dem Ausland vermeiden. Fraglich erscheint hingegen, ob allein die Beihilfestrafbarkeit im Wege der Amnestie beseitigt werden kann. Dies muß wohl aus systematischen Gründen verneint werden, weswegen zur Lösung der Bankenfälle ausschließlich die konzertierte Selbstanzeige zur Verfügung steht, da man eine Freistellung der unehrlichen Bankkunden selbst kaum rechtfertigen könnte. Tipke fordert tatsächlich eine Steueramnestie für die bezeichneten Bankenfälle. 59 Wenn auch das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis der Dinge an vielen Punkten mit Tipkes Forderungen an eine neue Steuerrechtsordnung konform geht, so muß ihm an dieser Stelle mit Entschiedenheit widersprochen werden. Er begründet die Notwendigkeit einer Steueramnestie unter anderem damit, daß in 56 Felix, Günther, a. a. O. (Fn. 45), KÖSDI 1988, 7124, 7124. 57 Ein entsprechender Vorschlag wurde von Gies, Reinhold / Wittmann, (Fn. 55), BB 1989, 330, 343, gemacht.
Rolf, a. a. Ο.
58 Tipke, Klaus, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, S. 147. 59 Tipke, Klaus, Zur Steuerfahndung bei Banken und Bankkunden, BB 1998, 241, 246. Ähnlich vor ihm schon Offerhaus, Klaus, „Auf schiefer Ebene", Der Spiegel 35/1996, S. 80, 82 f. Krit. dagegen Bilsdorfer, Peter, Aktuelle und permanente Probleme im Spannungsfeld von Bank, Kunden und Finanzamt, DStR 1996, 1953, 1960.
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den Bankenfällen die Steuerfahndung bis an den Beginn der 10jährigen Verjährungsfrist, also bis in die achtziger Jahre zurückgehe. Sie verschärfe deshalb rückwirkend die Besteuerung und verursache eine Ungleichheit der Besteuerung. Es verletze aber den Gleichheitssatz, wenn bei gleichem Kontrollbedürfnis die Mehrzahl der Steuerpflichtigen nicht, eine Minderheit dagegen durch die Steuerfahndung besonders intensiv kontrolliert werde. 60 Schon aus formalen Gründen wird dem vielfach entgegengehalten, daß eine Gleichheit im Unrecht nicht bestehen kann. Seiner positiven Zielrichtung folgend gewährt der Gleichheitssatz keinen Anspruch auf eine anderen zuteil gewordene fehlerhafte Behandlung. Es ist nicht zu erkennen, warum sich ein Teil der Steuerhinterzieher darauf berufen können sollte, daß er nicht intensiver als der übrige Teil der Steuerhinterzieher geprüft werden dürfe. Abgesehen davon ist dies letztlich Ausdruck der geringen Aufklärungsquote, welche aber durch den von Bankgewerbe und Kunden betriebenen systematischen anonymen Kapitaltransfers ins Ausland, vor allem nach Luxemburg bedingt ist. Wenn Tipke also ausführt, daß der Staat aufgrund seines laxen Vorverhaltens, nämlich jahrelangem Nichtstun statt durchgängiger Kontrolle der Zinseinkünfte, nach dem Grundsatz von Treu und Glauben sein Recht verwirkt habe, so verkennt er, daß die Bezieher von Kapitaleinkünften mit der Verschleierung ihrer Aktivitäten selbst nicht ganz unschuldig an der geringen Aufklärungsquote sind. Daher mag der bestehende Zustand, der durch eine Verfolgung weniger Fälle gekennzeichnet ist, objektiv mißlich sein, ein subjektives Recht des Einzelnen erwächst hieraus jedenfalls nicht. Will man Tipke folgen, so kann man allenfalls begründen, daß ein staatlicher Strafanspruch verwirkt ist. In den Fällen, in denen bis an den Beginn der lOjährigen Verjährungsfrist gegangen wird, kann doch ausschließlich von der steuerlichen Verjährungsfrist die Rede sein. Strafrechtlich sind diese Steuerhinterziehungen längst verjährt. Es erscheint aber nur recht und billig, wenn ein Steuerhinterzieher nunmehr eine Steuerschuld noch zu begleichen hat, die er bereits wie jeder ehrliche Steuerbürger auch vor 10 Jahren hätte bezahlen müssen. Ein Verwirken der Steuerschuld ist nicht daraus abzuleiten, daß der Fiskus lange Jahre die Angaben des Steuerpflichtigen geglaubt hat und nicht weiter überprüfen konnte. Jedenfalls mit Kenntniserlangung wurde der Anspruch verfolgt. Wer dies für nicht für richtig hält, muß sich für eine grundsätzliche Verkürzung der Frist von 10 Jahren aussprechen, beispielsweise mit der Begründung, man müsse sie der strafrechtlichen Verjährungsfrist angleichen. Mit den Besonderheiten der Bankenfälle hat dies aber dann nichts mehr zu tun. Tipke führt zudem aus,61 daß die Rechtslage durch die Rechtspraxis der Steuerfahndung rückwirkend verschärft worden sei. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob eine Verschärfung der Rechtspraxis von Gerichten wie der Verwaltung zu beanstanden ist. Die Problematik ist getrennt von der Verschärfung einer Gesetzeslage 60 Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, § 30 AO, Tz. 31. 61 Tipke, Klaus, a. a. O. (Fn. 60), Tz. 31. 23'
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zu sehen. Gegen eine rückwirkende Verschärfung von Steuergesetzen wurden bereits an anderer Stelle Bedenken erhoben. 62 Ob an eine Änderung der Rechtsprechung oder der Verwaltungsmeinung gleich strenge Maßstäbe angesetzt werden können, muß in Zweifel gezogen werden. Es kommt hinzu, daß es sich hier nicht um eine Änderung der materiellen Besteuerungsvorschriften für Kapitaleinkünfte handelt, sondern lediglich um Verfahrensfragen. Aus einer Verschärfung der Vorgehensweise der Steuerfahndung im Verfahren abzuleiten, daß deshalb die Steuer selbst nicht erhoben werden kann, überzeugt nicht. Allenfalls können einzelne Maßnahmen angegriffen werden. Um derartigen dogmatischen Problemen aus dem Weg zu gehen, fordert Tipke schließlich eine Steueramnestie. Er hat Recht, wenn er eine Unterscheidung von Legalität und Legitimität trifft und die bisherige Zinsbesteuerung für aus zweierlei Gründen angreifbar hält. Einerseits mißachtet die Zinsbesteuerung das Problem der Scheingewinnbesteuerung, wenn stets vom Nominalwertprinzip und nicht vom Realwertprinzip ausgegangen wird, somit also die Inflation, welche ausschließlich Kapitalvermögen trifft, der Besteuerung unterworfen wird. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu dieser Frage steht auf schwachen Füßen.63 Andererseits hat der Steuergesetzgeber mit seiner Beharrlichkeit bei der Ungleichbehandlung des Kapitalvermögens gegenüber dem Grundvermögen und dem Betriebsvermögen im Rahmen der einheitswertabhängigen Steuerarten selbst Ungerechtigkeiten gesetzt, an denen er sich festhalten lassen muß. Ob dies in einem intakten Rechtsstaat eine Steuerhinterziehung legitimiert, obgleich die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nach Ausschöpfung des Rechtsweges offen gestanden hätte, wurde bereits oben diskutiert. Vom Standpunkt dieser Arbeit aus stellt die Steueramnestie keine saubere Lösung dar, weil sich ihre Befürworter um das dogmatisch zu klärende Problem der Strafbarkeit verfassungswidriger Steuern „herummogeln". Jedenfalls aber ist auch nicht eine völlige Freistellung von Kapitaleinkünften aus der Besteuerung legitim, sondern allenfalls eine geringere Besteuerung, gemindert um die Faktoren Scheingewinnbesteuerung und Sonderbelastung durch die Vermögenssteuer. Ohnedies ist die ertragssteuerliche Seite von der in den Einheitswerten ausgesprochenen Verfassungswidrigkeit nicht unmittelbar betroffen. Die Erfahrungen mit dem oben genannten Steueramnestiegesetz haben gezeigt, daß auch einer Steueramnestie letztlich der durchschlagende Erfolg versagt sein kann. Am Ende hat nur ein Teil der Mitbürger geringe Beträge nacherklärt. 64 Zurückgeblieben ist eine Erschütterung der ehrlichen Steuerpflichtigen. 65
62 Siehe unter Punkt: Viertes Kapitel: § 2D.II „Neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung im Steuerrecht" auf S. 190 ff. 63 Beschl. v. 19. 12. 1978 - 1 BvR 335,427, 811/76, BVerfGE 50, 57, 57 f. 64
Bilsdorfer, Peter, Die Entwicklung des Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrechts, NJW 1999, 1675, 1677, führt aus, daß von ca. 750.000 Steuerpflichtigen im Durchschnitt etwa DM 3.000,- Zinseinkünfte nacherklärt wurden.
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Letztlich spricht vieles für die Beibehaltung des staatlichen Strafanspruches ebenso wie auch der Steuerschuld, weil anderenfalls die Achtung der Normunterworfenen vor den Steuergesetzen verloren gehen könnte und die Ernsthaftigkeit des Steuerstaates in Zweifel gezogen werden könnte.
D. Der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht als Verfassungsproblem Der Vorschrift des § 46 a StGB, die § 369 Abs. 2 AO bei seinem Verweis auf strafrechtliche Bestimmungen nicht ausdrücklich ausnimmt, liegt das Verständnis zugrunde, daß der Täter einen Ausgleich mit dem Opfer anstrebt und seinen Schaden zumindest weitgehend wiedergutmacht. So soll ein kommunikativer Prozeß zwischen Täter und Opfer stattfinden. § 46 a StGB ist seinem Wortlaut nach nicht auf bestimmte Deliktstypen beschränkt. Deswegen ist zu fragen, ob wegen der Vergleichbarkeit von Betrug und Steuerhinterziehung eine Differenzierung zu rechtfertigen ist oder ob aus verfassungsrechtlicher Sicht der Gleichheitssatz eine Ungleichbehandlung verbietet. Eine eigenständige praktische Bedeutung neben der strafbefreienden Selbstanzeige könnte § 46 a StGB vor allem dann zukommen, wenn der Täter nicht in der Lage ist, eine korrekte, berichtigte Erklärung im Sinne des § 371 Abs. 1 AO abzugeben, aber erst durch seine Kooperation ermöglicht wird, die Höhe der Steuer zu ermitteln, oder wenn bereits Sperrwirkung im Sinne von § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO eingetreten ist, der Hinterzieher aber ohne Not nicht erkannte Steuerquellen offenbart, bei denen überhaupt kein Entdeckungsrisiko besteht.66 Für diesen engen Kreis der Fälle ließe sich eine Anwendung des § 46 a StGB verfassungsrechtlich dadurch rechtfertigen, daß wegen seines „nemo tenetur"-Rechtes niemand verpflichtet ist, eine Selbstanzeige zu erstatten. Bei Tatentdeckung müßten seine Bemühungen um eine möglichst umfassende Wiedergutmachung dennoch honoriert werden, da andernfalls ein Zwang zur Selbstbezichtigung entstünde.67 Daß er auch in Fällen anzuwenden sei, in denen der Steuerhinterzieher den ungerechtfertigten Steuervorteil schon verbraucht hat, somit zur für die Selbstanzeige unerläßlichen Nachentrichtung nicht in der Lage ist, wird mit guten Argumenten angezweifelt, da das Recht auch in anderen Bestimmungen den Bösgläubigen nicht für schützenswert hält. 68 65 Kritisch zur entstehenden Ungleichbehandlung bei Steueramnestien auch Weyand, Raimund, Steuerfahndungsprüfungen bei Banken, LSW Gruppe 18, S. 83, 88. 66 Joecks, Wolfgang, in: Franzen / Gast-de Haan/Joecks, Steuerstrafrecht, § 371 AO, Rn. 240. 67 Zu dieser Rechtfertigung aus dem Gedanken des „ nemo tenetur ": Briehl, Olaf von, Anmerkung zum Beschluß des BayObLG vom 28.02.1996-4 St RR 33 / 96, NStZ 1997,33,34. 68 Woring, Siegbert, Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht?, DStZ 1996, 459, 460, verweist auf den Rechtsgedanken des § 819 BGB.
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Ob und inwieweit aber eine solche Vorschrift auf das Steuerstrafrecht Anwendung finden kann, ist Gegenstand einer Kontroverse. 69 Die Gegner weifen den Befürwortern Positivismus vor. 70 Die strafrechtlichen Fragen können hier nur gestreift werden. § 46 a Nr. 1 StGB scheint schon dem Wortlaut nach nicht zu passen, da er Handlungen des Täters belohnt, die auf Versöhnung mit dem Opfer ausgelegt sind. Der Fiskus ist kein Opfer in diesem Sinne. Zudem ist eine Versöhnung mit einer Steuerbehörde begrifflich kaum denkbar, der Fiskus kann nicht wie eine natürliche Person „verzeihen". Es fehlt insbesondere an einem immateriellen Schaden, der des Ausgleichs fähig wäre. 71 Es mag sein, daß der Wortlaut der Vorschrift des § 46 a Nr. 2 StGB nicht entgegenstünde. Die Steuerstraftat ist aber sicherlich nicht der klassische Fall, an den der Gesetzgeber mit § 46 a Nr. 2 StGB gedacht hat. Wenn der Steuerhinterzieher auch zusätzlich noch freiwillig handeln muß, um in den Genuß der Strafmilderung zu gelangen, so hätte er den Schaden, nämlich die verkürzte Steuer nebst Hinterziehungszins, sowieso an den Fiskus zu zahlen gehabt. Die Wiedergutmachung nach § 46 a Nr. 2 StGB muß also selbst Strafcharakter besitzen und muß über die reine Schadenskompensation hinausgehen.72 Sobald hingegen die Tat entdeckt ist und ein Strafverfahren eingeleitet wurde, kann der Steueranspruch notfalls im Wege der Zwangsvollstreckung durchgesetzt werden. Allein der Umstand, daß der Steuerstraftäter eine Steuerschuld begleicht, die er ohnedies schon längst hätte bezahlen müssen, kann keine Strafmilderung rechtfertigen. Die friedensstiftende Wirkung, die erreicht werden soll, wird überwiegend von den besonderen Bemühungen des Täters zur Schadenskompensation erhofft, die aber deutlich machen müssen, daß der Täter zur Verantwortung gezogen wird. Es wird deshalb die Auffassung vertreten, daß der Steuerhinterzieher darüber hinaus eine „Spende" zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu leisten habe und auf ein inhaltlich mit der Steuerstrafsache zusammenhängendes Rechtsbehelfsverfahren verzichten müsse.73 So müsse er zum Ausgleich des Konflikts spürbare Belastungen auf sich nehmen.74 Hierzu ist zu sagen, daß in einem Rechtsstaat dem Bürger sein Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht abgekauft werden kann. 69
Befürwortend: Schwedhelm, Rolf/ Spatscheck, Rainer, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadens Wiedergutmachung im Steuerstrafrecht, DStR 1995, 1449, 1450; Birmanns, Martin, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafverfahren, NWB Fach 13, S. 905, 906 ff. Zweifelnd: Bilsdorfer, Peter, a. a. O. (Fn. 59), DStR 1996, 1953, 1959 f. 70 Klawitter, Tim, Der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46 StGB) im Steuerstrafverfahren, DStZ 1996, 553, 553. 71 Klawitter, Tim, a. a. O. (Fn. 70), DStZ 1996, 553, 554. 72 Fischer, Daniel J., Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U. S. Sentencing Guidelines - eine Chance für das deutsche (Steuer-) Strafrecht?, S. 66. 73 Birmanns, Martin, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafverfahren, NWB Fach 13, S. 905, 906. 74 Kottke, Klaus, Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46 a StGB für Steuerhinterzieher?, DB 1997, 549, 550.
§ 5 Durchbrechungen des staatlichen Strafanspruchs
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Der Verzicht auf Rechtsbehelfe im Besteuerungsverfahren kann keine günstigere Behandlung im Strafverfahren nach sich ziehen. Was die Geldzahlung an eine gemeinnützige Einrichtung anbelangt, so muß darauf hingewiesen werden, daß hierfür kein praktisches Bedürfnis bestand, weil derartige Fälle schon immer über § 153 a StPO gegen Geldauflage eingestellt werden konnten. Im Unterschied zu § 46 a StGB verzichtet der Betroffene bei einem „Deal" im Strafverfahren darauf, in diesem Verfahren aufwendige Ermittlungen anstellen zu lassen und gilt dafür als nicht verurteilt. Insbesondere ist entgegen Bornheim festzustellen, daß § 46 a StGB nicht geeignet ist, das Schutzgut der Steuerhinterziehung im Form der gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung zu sichern. 75 Auch das BayObLG 76 verneint die Anwendbarkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs im Steuerstrafrecht. Das Gericht begründet sein Urteil mit dem Hinweis, daß das verletzte Rechtsgut allein dem Staat bzw. der Allgemeinheit zustehe. Ein solcher Ausgleich sei aber nur gegenüber einem Privatmann denkbar. Zu unterscheiden sei im Steuerstrafrecht nämlich § 46 Nr. 1 und Nr. 2 StGB. Die friedensstiftende Wirkung einer Schadenswiedergutmachung ergebe sich erst, wenn der Täter über die rein rechnerische Kompensation hinaus einen bestimmten Betrag aufbringe. 77 Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man auf der Ebene des einfachen Rechts bei einer Zusammenschau mit § 371 AO, für den bei einer Erstreckung des Täter-Opfer-Ausgleichs auf das Steuerstrafrecht kaum mehr Raum verbliebe. Denn welcher Steuerdelinquent sähe sich aus Angst vor Entdeckung noch zu einer Selbstanzeige veranlaßt, wenn er doch jederzeit noch die Möglichkeit zu einer Wiedergutmachung und damit Straffreiheit hätte.78 Zum Teil wird § 371 AO als lex specialis angesehen.79 Dies ist jedoch nicht unbestritten 80 und wird durch den Hinweis ergänzt, daß die Milderung oder das Absehen von Strafe beim § 46 a StGB nur fakultativ anzuwenden ist, das Gericht also beim Regelstrafrahmen verbleiben kann, so daß Steuerverfehlungen durchaus nicht risikolos seien.81 Die Diskussion dreht sich hier in Wahrheit im Kreis. Bejaht man die Anwendbarkeit des § 46 a StGB im Steuerstrafrecht, weil der Richter ja nur fakultativ mildern oder von Strafe absehen 75 Bornheim, Wolfgang, „Halbteilungsgrundsatz" und Steuerhinterziehung, StuW 1998, 146, 154. 76 Beschl. v. 28. 02. 1996-4 StRR 33/96, BayObLGSt 1996, 18, 19. 77 BayObLG Beschl. v. 29. 04. 1997 - 4 StRR 35/97, NStZ-RR 1997, 341, 342. 78 So angedeutet bei Woring, Siegbert, Täter-Opfer-Ausgleich im Steuerstrafrecht?, DStZ 1996,459,460. 79 Biesingen Karl, Zur Anwendung des Täter-Opfer-Ausgleichs nach § 46 a StGB im Steuerstrafrecht, wistra 1996, 90, 91. so Str., a. A. Schabel, Bernhard, Erneut: Zur Anwendbarkeit des § 46 a StGB im Steuerstrafrecht, wistra 1997,201,205, der darauf verweist, daß § 371 AO einen persönlichen Strafaufhebungsgrund darstellt und den Vorschriften über die tätige Reue vergleichbar ist, der § 46 a StGB behandle als Strafzumessungsregel hiervon zu unterscheidende Aspekte, unter denen ein Täter Straffreiheit oder -milderung erreichen kann. Ebenso auch Klawitter, Tim, a. a. O. (Fn. 70), DStZ 1996, 553, 554.
si Briehl, Olaf von, a. a. O. (Fn. 67), NStZ 1997, 33, 34.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
kann, so müssen von Rechtsprechung und Wissenschaft Grundsätze herausgearbeitet werden, wann der Richter dann zu mildern oder von Strafe abzusehen hat. Auf deren Grundlage wird ein Täter sein Bestrafungsrisiko abschätzen. Es soll nach anderer Ansicht bereits im Herbeiführen einer tatsächlichen Verständigung oder in dem Verzicht auf aus Sicht des Steuerpflichtigen erfolgversprechende steuerliche Rechtsbehelfe ein Beitrag zum Rechtsfrieden zu sehen sein, der über eine reine Schadenswiedergutmachung hinausgeht.82 Es ist aber nicht zu erkennen, warum der Verzicht auf einen erfolgversprechenden Rechtsbehelf eine Strafmilderung rechtfertigen soll. Handelt es sich um eine vom Strafverfahren unabhängige steuerliche Frage, so fehlt es an jeglichem Zusammenhang. Geht es hingegen um steuerliche Vorfragen des Steuerstrafverfahrens, so sind diese, gerade wenn sie erfolg versprechend sind, sowohl im steuerlichen wie auch im strafrechtlichen Verfahren zu klären. Im steuerlichen Verfahren folgt dies aus der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, im Strafverfahren aus dem Schuldgrundsatz. Erst danach ist die Frage einer Strafmilderung zu erörtern. Zwar soll § 46 a StGB der Konfliktbewältigung dienen. Ziel ist dabei aber eine Reprivatisierung dieser Konfliktlösung, und zwar in Fälle, in denen Konflikte zwischen den Bürgern auftreten. Für das Verhältnis Steuerpflichtiger zu Fiskus ist dieses Ziel nicht zu verwirklichen. 83 Die hier dargestellte Diskussion verharrt weitestgehend in der klassischen Auslegung der einfachgesetzlichen Normierung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Soweit ersichtlich wurde bislang die Frage der Übertragbarkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs auf das Steuerstrafrecht nicht mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit in Verbindung gebracht. Wie das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle im Zinsurteil 84 ausgesprochen hat, kann es nicht allein von der Bereitschaft des Steuerpflichtigen zur ordnungsgemäßen Erklärung seiner steuerlichen Verhältnisse abhängen, ob er faktisch mit einer Steuer belastet wird oder nicht. Daher kann es unter Beachtung des Gebotes der Rechtsanwendungsgleichheit nicht angehen, daß ein Steuerpflichtiger seine Mitwirkungspflichten verletzt und nur im Falle der Entdeckung ungestraft dank Täter-Opfer-Ausgleich seine Steuern nachentrichtet. Da wegen beschränkter Kontrollmöglichkeiten lediglich ein Teil der Fälle mit Aufdeckung rechnen muß, ermöglicht der Täter-Opfer-Ausgleich eine faktisch ungleiche Belastung der steuerehrlichen gegenüber den steuerunehrlichen Bürger.
82
Dies hält Gast-de Haan, Brigitte, in: Klein, Franz, Abgabenordnung, § 371, Anm. 11, für ausreichend; str., a. Α. Schwedhelm, Rolf /Spatscheck, Rainer, a. a. O. (Fn. 69), DStR 1995, 1449, 1451. 8 3 Biesingen Karl, a. a. Ο. (Fn. 79), wistra 1996, 90, 91. 84 Hierzu noch ausführlich unten: Viertes Kapitel: § 6B.I „Das Zinsurteil vom 27. 06. 1991" auf S. 364 ff.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken und das Bankgeheimnis als Verfassungsproblem A. Problementfaltung Steuerhinterziehungen treten in einzelnen Teilgebieten des Steuerrechts gehäuft auf. Regelmäßig sind dies diejenigen Bereiche, in denen die Aufrichtigkeit des Steuerpflichtigen nur beschränkt kontrolliert werden kann, also die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering ist. Einer dieser Bereiche ist die Besteuerung von Kapitaleinkünften, bei denen sich der Fiskus in der Vergangenheit häufig auf die Angaben der Steuerpflichtigen verlassen mußte. Ursache war der sogenannte Bankenerlaß, der schließlich in § 30 a AO weitgehend übernommen wurde. Wegen der großen Mobilität des Kapitals scheiterte bereits nach einem halben Jahr die Einführung der sogenannten „kleinen Kapitalertragssteuer". Das Kapital wanderte ins Ausland ab. Es trat eine beträchtliche Kapitalflucht vor allem nach Luxemburg ein. Vor diesem Hintergrund stand das Bundesverfassungsgericht bei seinen im folgenden beschriebenen Entscheidungen. Die Situation soll hier zunächst anhand des Maßstabs des deutschen Verfassungsrechts beurteilt werden, in einem späteren Kapitel 1 wird die Untersuchung durch eine Uberprüfung an europarechtlichen Anforderungen ergänzt. Fragt man nach den in Rede stehenden Tätern, so gilt es festzuhalten, daß auf der Seite der Bankkunden nach Schätzungen der Finanzverwaltung etwa 50 % Rentner oder Pensionäre, 20 % Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes und nur 20 % Arbeitnehmer der freien Wirtschaft sowie 10 % Selbständige sind. Hinsichtlich der beteiligten Banken ist nicht nur zu vermerken, daß nahezu alle Kreditinstitute betroffen sind, sondern darunter namentlich auch solche, die öffentlich-rechtlichen Charakter besitzen und somit durch eine zweifelhafte Verbindung von Organen der Institute mit der Finanzverwaltung gekennzeichnet sind. Inwieweit hier mit einer rechtsstaatlichen Strafverfolgung zu rechnen ist, kann der Beurteilung der Literatur überlassen bleiben.2 Bemerkenswert ist hier dieselbe Verquik-
1
Siehe unten: Sechstes Kapitel: § IC „Steuerstrafrechtliche Ermittlungen bei Bankentransaktionen und die Kapitalverkehrsfreiheit der Art. 58 ff. EGV" auf S. 432 ff. 2 Bedenken äußert zum konkreten Fall der WestLB, die mit den Sparkassen in NordrheinWestphalen zusammenarbeitet, wegen des auffällig langen Zeitraums zwischen Durchsuchungsanordnung und seiner Durchführung bei diesem Kreditinstitut Manteujfel, Hans J. M., Steuerfahndung bei Banken: Bankgeheimnis - Selbstanzeige, in: Harzburger Steuerprotokoll 1996, S. 47, 48 f. Ein Überraschungsschlag dürfte den Verfolgungsbehörden bei der schließlich durchgeführten Durchsuchung kaum gelungen sein, da deren stellvertretender Verwal-
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
kung von Politik und Steuerkriminalität, wie sie sich bereits in anderen Bereichen - Parteispendenaffäre, Zwick-Affäre - gezeigt hat. Die Steuerfahndung geht seit etwa 1994 gezielt gegen Banken vor, bei denen sie eine Beteiligung am Kapitaltransfer nach Luxemburg vermutet. Durchsuchungen und Beschlagnahmen sind an der Tagesordnung. Zwischenzeitlich ist fast jedes größere Kreditinstitut von Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung betroffen. Das besondere Augenmerk gilt dem Jahr 1992, weil vor Einführung der Zinsabschlagsteuer zum Ol. Ol. 1993 mit dem Zinsabschlaggesetz3 vom 09. 11. 1992 Kapital in erheblichem Umfang nach Luxemburg abgeflossen ist. 4 Ziel der Bankenfahndung ist es primär, anonyme Kapitaltransfers nach Luxemburg aufzudecken, dem jeweiligen Bankkunden zuzuordnen und mit Hilfe der Wohnsitzfinanzämter nachzuprüfen, ob die entsprechenden Kapitalbeträge in den Vermögenssteuererklärungen angegeben wurden und die darauf entfallenden Zinsen in der Einkommenssteuererklärung der Besteuerung unterworfen wurden. Ein dabei nicht unerwünschter Nebeneffekt ist es, unter den Bankkunden wie auch den der Beihilfe verdächtigten Bankmitarbeitern ein Klima der Verunsicherung zu schaffen, welches diese zur Selbstanzeige veranlaßt. Ein solcher Effekt ist deswegen im Interesse der Finanzbehörden, weil anhand der anonymen Finanztransfers sich nicht immer eindeutig eine Zuordnung vornehmen läßt, die Einbeziehung von Bankkunde und Bankmitarbeiter zu einem Schneeballeffekt mit Aufdeckung weiterer Taten führt und schließlich der Steuerfahndung tatsächlich personell die Möglichkeiten fehlen würden, sämtliche Vorgänge abschließend auszuwerten, weil der Umfang der verdächtigen Finanztransaktionen in einer Größenordnung von mehreren hunderttausend Fällen geschätzt wird. Strittig ist hingegen, ob der Fiskus ganz allgemein Kapitalanleger von einer Anlage im Ausland, insbesondere Luxemburg und Schweiz, abhalten will, wie dies verschiedentlich behauptet wird, oder ob es sich lediglich um einen Reflex der flächendeckend betriebenen Bankenfahndungen handelt. Zur Enttarnung von potentiellen Steuerhinterziehern geht die Steuerfahndung wie folgt vor: Die Banken verwendeten zur banktechnischen Abwicklung sogenannte CpD-Konten, also Verrechnungskonten ohne Legitimationsnachweis des Kunden für die Kapitaltransfers mit ihren luxemburgischen Tochtergesellschaften. Die Kapitalanlage des deutschen Kapitalanlegers wurde dort als anonyme Einzahlung auf diesem Verrechnungskonto behandelt, die den Einzahler nicht erkennen läßt, allerdings auf eine bestimmte Filiale der betreffenden Bank zurückgeführt werden kann, in der der Kunde die Einzahlung getätigt hat. Teilweise wurden auch falsche Namen oder Phantasienamen anstelle der wahren Kundenidentität angegeben. Um nun die Identität des Einzahlers zu ermitteln, sucht die Steuerfahndung bei dieser betreffenden Filiale nach einer Barabhebung des gleichen Geldbetrages tungsratsvorsitzender zugleich der Finanzminister des Bundeslandes und damit Vorgesetzter der Steuerfahndung war. 3 BGBl 1 1992 S. 1853. 4
Stahl, Rudolf, Durchsuchungen bei Banken, KÖSDI 1998, 11659, 11660.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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aus dem legitimierten Kontenbereich des Geldinstituts. Regelmäßig handelt es sich nicht um Beträge, die in bar aufgehoben zu werden pflegen. Zur Erleichterung der erforderlichen Suchvorgänge nutzt die Steuerfahndung ein leistungsfähiges EDVSuchprogramm unter der Bezeichnung „Bingo", welches in der Lage ist, die jeweiligen Belege, selbst wenn sie von unterschiedlichen Steuerfahndungsstellen ins System eingegeben wurden, zusammenzuführen. 5 Erfolgte die Barabhebung von einem Giro- oder Sparkonto, so läßt sich der abhebende Bankkunde unzweideutig feststellen. Eine sichere Zuordnung läßt sich damit nicht in allen Fällen vornehmen, da die Beträge oftmals nicht exakt übereinstimmen, häufig mehrere Kunden einen bestimmten Geldbetrag am selben Tag in derselben Filiale abgehoben haben oder aber eine transferierte Geldsumme sich aus mehreren Einzelabhebungen verschiedener Konten zusammensetzen kann. Dieses Indiz genügt den Verfolgungsbehörden jedoch schon, um zum einen eine Tatentdeckung anzunehmen, die gemäß § 3 7 1 Abs. 2 Nr. 2 AO die strafbefreiende Wirkung einer Selbstanzeige ausschließt, zum anderen soll hiernach ein hinreichender Tatverdacht zu bejahen sein.6 Von einzelnen Steuerfahndungsstellen wird jedoch berichtet, daß sie die strafbefreiende Wirkung nicht aufheben wollen und statt dessen „Friedensangebote" gegenüber den Steuerpflichtigen abgegeben, wonach diese aufgefordert werden, Selbstanzeige zu erstatten.7 In allen übrigen Fällen werden aber Kontrollmitteilungen an die Wohnsitzfinanzämter versandt, um die Ordnungsmäßigkeit der Angaben über die Höhe des Kapitalvermögens in den Vermögenssteuererklärungen und über die Höhe der Zinseinkünfte in den Einkommenssteuererklärungen zu überprüfen. Ahnlich wie bei Kapitaltransfers soll auch der Nachweis von Erlösen aus Tafelgeschäften sein.8 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist erörterungsbedürftig, welcher Verdachtsgrad für die Aufnahme von Ermittlungen gegen einen bestimmten Steuerpflichtigen gefordert werden muß und ob das zumindest in Kauf genommene massenweise Sammeln von Zufallsfunden verfassungsrechtlich unbeschränkt zulässig sein kann. Im weiteren bedarf der Auseinandersetzung, ob die Ermittlungsmaßnahmen in den Kreditinstituten wie auch beim identifizierten Bankkunden zulässig sind und welche prozessualen Möglichkeiten einer Überprüfung zur Verfügung stehen. Besonderes Gewicht soll dabei auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit gelegt werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum vorliegenden Problemkreis ist nur verständlich, wenn man vom Zinsurteil ausgeht und sodann die nachfolgenden Beschlüsse zu den Ermittlungsmaßnahmen bei der Dresdner Bank analysiert, da diese Entscheidungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. 5 Haack, Hansjörg, Die Steuerfahndung bei Banken und Bankkunden, NWB Fach 13, 929, 933. 6 Krit. Stahl, Rudolf, a. a. Ο (Fn. 4), KÖSDI 1998, 11659, 11662. 7 Haack, Hansjörg, a. a. O. (Fn. 5), NWB Fach 13, 929, 935. 8 Hinsichtlich der Einzelheiten wird verwiesen auf Kahlen, Hermann, Nachweis von Erlösen aus Tafelgeschäften, PStR 1998, 43,44.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Die angesprochenen Problemkreise lassen sich nur dann umfassend würdigen, wenn man Steuerstrafverfahren und Besteuerungsverfahren zugleich betrachtet. Denn in der Rechtspraxis läuft das strafrechtliche Ermittlungsverfahren neben dem steuerlichen Verfahren her. Betrieben werden beide durch die Steuerfahndung, die in beiden Verfahrensarten, also doppelfunktional tätig wird. Diese Doppelfunktionalität birgt die Gefahr von Befugnisüberschreitungen in sich, welche nach einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Ausgestaltung der Verfahrensrechte fragen lassen. Daher werden auch die Rechtsprechungsentwicklungen beim BFH miteinbezogen.
B. Die Bedeutung der Rechtsanwendungsgleichheit bei der Besteuerung der Kapitaleinkünfte I. Das Zinsurteil vom 27.06.1991 Im Zinsurteil 9 des Bundesverfassungsgerichtes stellt der Zweite Senat in Gestalt einer Appellentscheidung die Forderung auf, daß Steuerpflichtige durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden müssen. Er verlangt demnach, daß neben einer normativ gleichen Steuerpflicht auch die Durchsetzung der Norm bei allen Normunterworfenen den gleichen Erfolg sichert. Das Deklarationsprinzip, das von einer Steuerehrlichkeit des Steuerpflichtigen bei der Abgabe der Steuererklärung ausgeht, bedarf der Ergänzung durch effektive Kontrollen (Verifikationsprinzip). 10 Das Gericht sieht hierzu vor allem zwei Wege vor: entweder eine intensivere Überwachung unter zumindest teilweiser Aufhebung des § 30 a AO oder die Einführung einer umfassenden Quellensteuer. Gesamtwirtschaftliche Gründe, vor allem die Gefahr einer Kapitalflucht können nach Ansicht des Gerichts einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten, wenn sie zur Rechtfertigung unzureichender Kontrollen herangezogen werden. Die Bedeutung des Zinsurteils liegt unter anderem darin, daß der Senat in Frage stellt, 11 ob der Informationszugriff des Staates auf private Finanzaktivitäten und deren wirtschaftlicher Ertrag vom grundrechtlichen Datenschutz erfaßt sind, da es sich um marktoffenbare Vorgänge handelt, die keinen besonderen persönlichkeits-
9 Urt. v. 27. 06. 1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 ff. 10 Das Gericht entsprach damit Forderungen, die in der Wissenschaft bereits seit Jahren erhoben wurden. Vgl. statt vieler Kaligin, Thomas, Plädoyer für eine partielle Totalrevision des deutschen Steuerrechts, DStZ 1985, 219, 220. n Urt. a. a. O. (Fn. 9), BVerfGE 84, 239, 279 f.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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geprägten Gehalt besitzen.12 Ein überwiegendes Allgemeininteresse an der Offenbarung rechtfertige es zumindest, den grundrechtlichen Datenschutz einzuschränken. Dabei unterstellt das Gericht, daß das Auftreten am Markt und das damit verbundene Erzielen von Einkommen für die Allgemeinheit sichtbar und damit überprüfbar ist. Die Teilnahme am Marktgeschehen umfasse den Willen des Beteiligten, diese Vorgänge sichtbar werden zu lassen. Soweit es um Vorgänge geht, die sich auf eine Besteuerung des Umsatzes, des Verkehrs oder des Verbrauchs beziehen, kann dieser Argumentation noch gefolgt werden. Wer etwa ein Geschäft betreibt, für seine Produkte und Preise wirbt und dort Umsätze tätigt, tut dies in der Öffentlichkeit. Ob er allerdings auch mit einer Zusammenführung von Informationen über seine einzelnen Tätigkeiten einverstanden ist, muß in Zweifel gezogen werden. Niemand würde seinen Geschäftspartnern seinen Umsatz mitteilen wollen. Ganz sicherlich gibt er jedoch von sich aus dem Markt keinen Einblick in die Variablen seiner ertragssteuerlichen Situation, wie etwa Erträge, Aufwendungen und Gewinne bzw. Uberschüsse.13 Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, daß jedenfalls der Bankbereich auf den Beziehungen zwischen Bankkunde und Bank beruht, welche von den Beteiligten im Sinne eines Bankgeheimnisses nach außen hin regelmäßig abgeschirmt werden. Daher bedarf es zur Einschränkung des Grundrechtes auf Datenschutzes im Bereich des Bankgeheimnisses eines Gesetzes, das im überwiegenden Allgemeininteresse gerechtfertigt ist. Im Volkszählungsurteil 14 hatte das Gericht noch ausgeführt, daß es kein belangloses Datum gebe. Das Zinsurteil setzt sich insoweit mit der früheren Rechtsprechung in Widerspruch. 15 Der Gesetzgeber hat auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagiert und eine Zinsabschlagsteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Freibeträge eingeführt. Das Zinsurteil hat dennoch nicht an Aktualität verloren, weil umstritten ist, ob der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend gehandelt hat. In der Folge kam es zu zwei Entscheidungen des Bundesfinanzhofes, 16 der sich jedoch auf den Standpunkt stellt, die nunmehr geltende Zinsbesteuerung sei als verfassungsgemäß einzustufen. Gegen die zweite Entscheidung ist derzeit eine Verfassungsbeschwerde anhängig.17 Die Finanzverwaltung ordnet hinsichtlich 12 Einschränkender dagegen Stimmen der Literatur, die den Informationszugriff des Steuerstaates für ganz erheblich halten. Vgl. Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 10 f. 13 Α. A. Kirchhof, Paul, Steueranspruch und Informationseingriff, FS f. Klaus Tipke, S. 27, 34 f., der lediglich zugestehen will, daß Bestandsteuern wie die Vermögenssteuer, die Grundsteuer und die Erbschafts- und Schenkungssteuer an nicht marktoffenbare Vorgänge anknüpfen. 14 Urt. v. 15. 12. 1983 - 1 BvR 209, 269, 362,420,440, 484/83, BVerfGE 65, 1,45.
ι 5 Kritisch auch Neuwald, Philipp, Das steuerliche Bankgeheimnis, S. 18. 16 BFH Urt. v. 15. 12. 1998 - V I I I R 6/98, BStBl I I 1999, 138, 138 im Anschluß an BFH Urt. v. 18. 02. 1997 - V I I I R 33/95, BStBl I I 1997,499 ff. 17 Az. des BVerfG 2 BvR 284 /99.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Einspruchsverfahren aus dem Jahre 1993 bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes das Ruhen des Verfahrens an. 18
II. Stellungnahme Das eigentliche Wirken der Steuergesetze ebenso wie der sie flankierenden Steuerstraftatbestände beginnt erst in deren praktischer Anwendung, einem Interpretationsprozeß, der dadurch gekennzeichnet ist, daß jeder, der die Norm lebt, sie auch mitinterpretiert. Zu sprechen ist von einer „offenen Gesellschaft der Gesetzesinterpreten" . 1 9 Glaubt man den Mutmaßungen vieler Literaten, wonach weit über 80 % der Bevölkerung Steuern verkürzen, so muß angesichts des erheblichen Ausmaßes von einer stillschweigenden, jedoch übereinstimmenden faktisch restriktiven Auslegung der Steuernormen durch die überwiegende Mehrheit des Volkes ausgegangen werden. 20 In kaum einem anderen Teilgebiet der Rechtsordnung kommt den faktischen Auswirkungen der Auslegung durch die Normadressaten als Gesetzesinterpreten ein vergleichbares Ergebnis zu. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die geringe Verfolgungsquote von Steuerhinterziehungsdelikten. Nur zufällig werden einzelne Steuerstraftäter herausgegriffen. Das Steuerrecht ist in vielfältigen Bereichen nicht nur, aber vor allem auch in der Zinsbesteuerung durch erhebliche, nach wie vor bestehende Vollzugsdefizite gekennzeichnet. Seer 21 sieht in solchen Vollzugsdefiziten einen Grund für einen strafmildernden Umstand, da sich der Staat selbst eine Mitverantwortung aufgeladen habe. Dieser Argumentation vermag man kaum zu folgen. Wer eine unwirksame Kontrolle der Besteuerung der Kapitaleinkünfte ausnutzt, der kann nicht auch noch mit einer Strafmilderung rechnen. Der Steuergesetzgeber hat die Vorgaben des Zinsurteils des Bundesverfassungsgerichts nur teilweise umgesetzt. Am grundlegenden Normdefekt der steuerlichen Vorschriften über die Besteuerung von Kapitaleinkünften hat sich auch nach Ablauf der Ubergangszeit nichts Durchgreifendes geändert, da § 30 a AO unverändert fortbesteht. 22 Vor allem aber hat der Steuergesetzgeber entgegen der Verfassungsrechtsprechung gesamtwirtschaftlichen Gründen den Vorrang eingeräumt vor dem is OFD Hannover, Vfg. v. 07. 06. 1999 - S 2252-123 - StO 223 /S 2252-191 StH 234, DB 1999, 1299. 19 Häberle, Peter, Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat, in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 521, 527. 20 Klaus Tipke verweist auf Stimmen der Rechtsphilosophie, welche Normen, die nicht praktiziert werden, ihre Geltung absprechen (ders., Besteuerungsmoral und Steuermoral, S. 55 m. w. N. 21
Seer, Roman, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 24, Rn. 72. Kohlmann, Günter I Hilgers-Klautzsch, Brigitte, Bestrafung wegen Hinterziehung verfassungswidriger Steuern?, Stbg 1985,485,491. 22
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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Gedanken der Belastungsgleichheit aller Steuerpflichtiger. 23 Nach seriösen Schätzungen wird nach wie vor die Hälfte der Zinseinkünfte nicht ordnungsgemäß erklärt. 24 Dies waren bereits im ersten Jahr nach Einführung des Zinsabschlages ca. 30 - 40 Milliarden DM. Schon die Rechtfertigung des hohen Freibetrages ist nicht zu erkennen. 25 Vergleicht man ihn mit den Freibeträgen bei anderen Einkunftsaiten, so ist er ungleich hoch und erreicht fast die Hälfte des Grundfreibetrages. Bei darüber hinaus gehenden Zinseinkünften bleibt eine erhebliche Lücke, sofern der persönliche Steuersatz des Betroffenen über dem Satz der Kapitalertragssteuer von 30 % liegt. Dies dürfte für den Großteil der Fälle zutreffen. Bei einem Zinsniveau von derzeit ca. 5 %, selbst bei langfristiger Geldanlage und angesichts des Freibetrages von DM 12.000,- für Verheiratete müssen erst oberhalb eines Kapitalvermögens von ca. DM 240.000,- Zinseinkünfte versteuert werden. Wer aber sich ein Kapitalvermögen in dieser Größenordnung ansparen konnte, besitzt regelmäßig einen Grenzsteuersatz von deutlich über 30 %, so daß für ihn nach wie vor ein Anreiz besteht, Zinseinkünfte nicht in seiner Steuererklärung anzugeben, wenn er keinerlei effektive Kontrollen zu befürchten hat. Die derzeitige Regelung läuft daher in weiten Bereichen leer. 26 Erst durch die Absenkung des Freibetrages in der Steuerreform 1999/2000/2002 kommt sie in einigen Fällen, aber dennoch nicht vollständig wieder zum Tragen. Damit entfällt aber auch das Argument des VIII. Senat des BFH, 21 wonach der größte Teil der Steuerpflichtigen doch gar nicht betroffen sei. Mit Halbierung der Freibeträge sind weitaus mehr Bürger einbezogen, die ihr Recht auf gleichmäßige Durchsetzung der Kapitalbesteuerung einfordern können. Es gibt keinen sachlichen Grund, die Höhe der Zinsabschlagsteuer nicht dem jeweiligen Höchststeuersatz anzupassen. In diesem Falle wäre im Regelfall sichergestellt, daß stets Zinseinkünfte in voller Höhe der Steuer unterworfen würden. Wer hingegen einen niedrigeren Steuersatz besitzt, kann mit seiner Zinsabschlagsteuergutschrift eine Erstattung im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung erhalten. Sowohl für das Bankgewerbe wie auch für die Finanzbehörden ist der Verwaltungsaufwand derselbe, und zwar gleichgültig, ob 30, 40 oder 50 % Kapitalertragssteuer zu erheben sind. Es ist zuzugeben, daß Bezieher mittlerer Einkommen niedrige Einkommen unterfallen praktisch ohnedies nicht der Regelung - einen 23
Neuwald, Philipp, Das steuerliche Bankgeheimnis, S. 6. Vgl. die Nachweise bei Anderl, Anton, Ist die Neuregelung der Zinsbesteuerung ab 1993 verfassungsgemäß?, Stbg 1995, 225, 227. 25 Krit. Tipke, Klaus, in: Tipke/Kruse, § 30 a AO, Tz. 23. Für einen großen Freibetrag dagegen Hellwig, Peter, Hübschmann /Hepp /Spitaler, § 30 a AO, Rz. 5 a. E., der meint, bei einem großzügigen Freibetrag sei wenigstens der ehrliche Durchschnittssparer nicht noch dem Spott ausgesetzt, eine „Dummensteuer" zu zahlen. 26 Wie hier Schumacher, Richard, Die Verfassungswidrigkeit der neuen Zinsbesteuerung, in: Peter Bornfelder (Hrsg.), Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung, S. 129, 134. 2 ? BFH Urt. v. 18. 02. 1997 - V I I I R 33/95, BStBl II 1997, 499, 503. 24
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Liquiditätsverlust auf Zeit erleiden, indem sie die von ihrer Bank abgeführten Steuerbeträge erst im Wege einer Steuererstattung zurückerhalten. Verglichen mit dem Nachteil, im Besteuerungsverfahren der „Dumme" gewesen zu sein, weil in der Progression höher eingestufte Mitbürger trotz ihrer entsprechend erhöhten Leistungsfähigkeit keinen angemessen Beitrag zu den Lasten der Allgemeinheit liefern, ist dies jedoch die vorzugswürdige Alternative. Diese Ausführungen gelten um so mehr, als im Zuge der Steuerreform 1999/ 2000/2002 ein Absenken des Spitzensteuersatzes geplant ist und somit die Lücke zwischen Zinsabschlagsteuersatz und Spitzensteuersatz geringer wird, so daß eine Angleichung ohnehin näher gerückt ist. Zu berücksichtigen ist außerdem, daß das gegenwärtige System keine hinreichende Kontrolle vorsieht, ob der Bürger bei mehreren Banken mehrere Freistellungsaufträge abgegeben hat. Dem Bundesamt für Finanzen fehlen personelle wie technische Mittel, die Ordnungsmäßigkeit des Freistellungsverfahrens zu überprüfen 28 Nicht beantwortet ist damit die Frage nach der Kapitalflucht ins Ausland, der offensichtlich nur repressiv durch Strafverfolgungsmaßnahmen beizukommen ist. Die Ausgestaltung der Kapitaleinkünftebesteuerung als „lex imperfecta" ist verfassungsrechtlich unzulässig. Gesamtwirtschaftliche Gründe können die Verweigerung des Normvollzuges nicht rechtfertigen. 29 Eine abschließende Beantwortung dieses Problemkreises ist erst nach Einbeziehung der europäischen Dimension möglich und soll daher am Ende dieser Arbeit noch einmal aufgegriffen werden. Die Lösung dieser Frage müßte tatsächlich auf europäischer Ebene gesucht werden, da nur durch eine Angleichung der Zinsbesteuerung der Mitgliedstaaten der Anreiz zur Kapitalflucht genommen werden kann. Vorschläge zur Harmonisierung der Zinsbesteuerung sind bislang nicht umgesetzt worden, so etwa der Vorstoß der Kommission.30 Insbesondere Luxemburg und Großbritannien haben sich dagegen gesperrt, letzteres aus Sorge um den Finanzplatz London. Luxemburg schließlich wollte sich nur einer OECD-weiten Regelung, nicht aber einer auf die EU beschränkten Lösung anschließen. Eine OECD-weite Regelung hätte den Vorzug, daß Kapitalanleger sich nicht durch eine Kapitalanlage in Steueroasenländer entziehen könnten, weil dort wegen der schlechteren Bonität nur geringe Verzinsung geboten wird, bei Rücktransfer der Gelder durch die Banken in OECD-Länder könnten die Kapitalanlagen mit Quellensteuern belegt werden. Auch dies begegnet dem Einwand, daß nationale Spitzensteuersätze und dieser Quellensteuersatz nicht zu weit auseinanderklaffen dürfen. 31 Ein genügend hoher Quellensteuersatz dürfte gegenwärtig auf OECD-Ebene politisch nicht durchsetzbar sein. 28 Schumacher, Richard, a. a. O. (Fn. 26), S. 129, 135 f. 29 Schumacher, Richard, a. a. O. (Fn. 26), S. 129, 138. 30 KOM (98) 295, BR - Drs. 709/98. 31 Zu diesem Einwand Knist, Ralph Ulrich, Kapitalvermögen und Steuerhinterziehung, S. 201.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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Nach jahrelangem Tauziehen haben sich die EU-Mitgliedstaaten nun entgegen anfänglichem Widerstand Österreichs auf einen Kompromiß geeinigt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieser tatsächlich umgesetzt wird. Beabsichtigt ist die schrittweise Einführung eines grenzüberschreitenden Informationsaustausches. Hierzu soll im Ministerrat Einvernehmen über den Inhalt einer Richtlinie hergestellt werden. Sodann sollen Gespräche mit Drittstaaten stattfinden.
C. Verfassungsrechtliche Probleme der Bankenfahndung I. Der „Dresdner-Bank I"-Beschluß vom 23.03.1994 Die Dresdner-Bank wandte sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen Beschlagnahmeentscheidungen der Instanzgerichte sowie gegen die Durchsuchungsanordnung. Die 2. Kammer des 2. Senats nahm mit ihrem „Dresdner-Bank /"Beschluß32 wie folgt Stellung: Hinsichtlich der Beschlagnahmeanordnungen trifft das Bundesverfassungsgericht keine weiteren Aussagen, da es die Verfassungsbeschwerde schon deswegen für unzulässig hält, weil der Rechtsweg nicht ausgeschöpft wurde. Im übrigen verweist es auf seine früheren Entscheidungen. Demgegenüber bejaht es die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, soweit diese sich gegen die Anordnung einer Durchsuchung richtet. Dennoch dringt die Beschwerdeführerin im Ergebnis nicht durch. Denn der Senat hält die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit einer Durchsuchung bereits durch seine früheren Entscheidungen für geklärt. Darin hatte das Gericht festgestellt, daß der durch eine Durchsuchung begründete Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muß, indem er in einem angemessenen Verhältnis zur Stärke des Tatverdachtes zu stehen hat. 33 Gerade aber dieser Tatverdacht sei hier gegeben. Denn das Bundesverfassungsgericht macht sich die Tatsachenfeststellungen der Instanzgerichte zu eigen, wonach ein Verdacht vorliege, im Betrieb der Beschwerdeführerin sei systematisch Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet worden. Dieser Tatverdacht nähre sich zum einen aus der Art und Weise des Zahlungsverkehrs, der anstatt aufgrund mit Unterschrift versehener Überweisungsaufträge auf der Grundlage von Belegen durchgeführt wurde, bei denen sich der Bankkunde durch Angabe seiner Kontonummer bei der luxemburgischen Tochter der Großbank auswies. Dies geschah selbst bei Bankkunden so, die ein Konto im legitimierten Bereich des Geldinstituts unterhielten. Bei einer Bankmitarbeiterin wurde eine Kladde gefunden, die eine Gegenüberstellung von fünfstelligen Zahlen und den Namen 32 BVerfG Beschl. v. 23. 03. 1994 - 2 BvR 396/94, NJW 1994, 2079 ff. 33 Beschl. v. 05. 08. 1966-1 BvR 586/62, 610/63 und 512/64, BVerfGE 20, 162,186 f.; Beschl. v. 26. 05. 1976 - 2 BvR 294/76, BVerfGE 42, 212, 219 f.; Beschl. v. 10. 11. 1981 2 BvR 1118/80, BVerfGE 59, 95, 97. 24 Röckl
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
der Bankkunden enthielt. In einem Zivilrechtsstreit hatte dieselbe Mitarbeiterin als Zeugin für den Beweis der Tatsache gedient, daß dies der absolut übliche Weg sei, Zahlungen von einem luxemburgischen „Schwarzgeldkonto" zu veranlassen. Diese Darlegungen münden in die entscheidende Schlußfolgerung der Kammer, daß es jedenfalls nachvollziehbar, keinesfalls willkürlich sei, aus den geschilderten Vorgängen, insbesondere dem Bestreben der Kunden, ihre luxemburgischen Konten unbedingt geheimzuhalten, anzunehmen, daß dies in der Absicht geschehe, die Unrichtigkeit von Steuererklärungen, in denen das luxemburgische Vermögen und die hieraus entstehenden Einkünfte nicht miterklärt wurden, zu verschleiern. 34 So sei auch die Annahme gerechtfertigt, daß es sich nicht um einzelne Vorgänge, sondern um eine geschäftsmäßige und in großem Stil betriebene Vorgehensweise handelt, die von der Geschäftsleitung der Bank mitgetragen wurde. Andernfalls sei es nicht zu erklären, daß über Jahre hinweg unter Verletzung von § 154 Abs. 1 AO zur Verbuchung CpD-Konten benutzt wurden. Die Ermittlungen seien gerade nicht „ins Blaue hinein " angestellt worden. Gemessen an Art. 3 Abs. 1 GG sei deswegen kein Verstoß anzunehmen, weil hinreichend sachlich plausible Gründe vorlägen und damit keineswegs die Schwelle erreicht wäre, wonach die Anordnung einer Durchsuchung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich somit der Schluß der Willkür aufdränge. Hinzu kommt nach Ansicht der Kammer die Pflicht des Richters, durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherzustellen, daß der Eingriff in die Grundrechte meßbar und kontrollierbar bleibe. Die Durchsuchungsbeschlüsse gegen die betroffene Großbank hielten jedoch diesen Anforderungen stand. Art. 13 GG ist nach Ansicht der Mitglieder des Senats dann nicht verletzt, wenn der Untersuchungsrichter bei Abfassen des Durchsuchungsbeschlusses für eine angemessene Begrenzung im Hinblick auf den Untersuchungszweck Sorge getragen hat. Der Senat umschreibt dies mit der knappen Formel der „Meßbarkeit und Kontrollierbarkeit" des Eingriffes. Diese Einschränkungen seien hier aber gewahrt. Die Entscheidung ist unabhängig von der noch aufzuzeigenden inhaltlichen Kritik auch deswegen angegriffen worden, weil das Bundesverfassungsgericht eine klare Sachverhaltsdarstellung vermissen läßt und somit der Beschluß nicht die notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit herbeiführen kann. So wird nicht deutlich, inwieweit § 154 AO angesprochen ist und ob ein CpD-Konto verwendet wurde. 35
34 BVerfG a. a. O. (Fn. 32), NJW 1994, 2079 a. E. 35 Krit. u. a. Otto, Harro, Anmerkung zum Beschluß des BVerfG vom 23. 03. 1994, StV 1994,409,410.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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II. Der „Dresdner-Bank II"-Beschluß vom 13.12.1994 Der „Dresdner-Bank H"-Beschluß„ 36 gab der 2. Kammer des 2. Senats erneut Gelegenheit, zum Problemkreis Position zu beziehen. Die Verfassungsbeschwerde wurde jedoch nicht zur Entscheidung angenommen. Insbesondere sieht sich die Kammer nicht veranlaßt, aufgrund der Stellungnahmen der Literatur zum Dresdner-Bank I-Beschluß von den dort geäußerten Rechtsansichten abzuweichen. Die Ausführungen lassen offen, ob das dem Individuum zustehende Recht auf Datenschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 14 GG auch der Dresdner Bank AG als Beschwerdeführerin zuerkannt sein kann. Denn dieses gebiete für die Beschwerdeführerin keinen günstigeren Maßstab. So sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt, da das Ermittlungsverfahren gerade darauf abziele, Namen und Anschriften solcher Bankkunden aufzudecken, denen entsprechend dem Verdacht „ein System zum anonymen Geldtransfer dienstbar gemacht worden sein sollte und die sich dessen auch bedient haben könnten". Es gehe nicht um bloße fiskalische Interessen, sondern um viel höher stehende Interessen, welche im Rechtsstaatsprinzip und im Gleichbehandlungsgebot verankert sind. Dem in Rede stehenden Vorwurf wird daher erhebliches Gewicht beigemessen. Das Bankgeheimnis ist nach höchstrichterlicher Auffassung nicht geeignet, die Ermittlungstätigkeit von Staatsanwaltschaft und Steuerfahndung abzuwenden. Dies gelte selbst für den steuerehrlichen Bankkunden.37 „ . . . Daß bei der Aufklärung dieses Vorwurfs auch das achtungswürdige Vertrauen redlicher Kunden in den Geschäftsbetrieb der Beschwerdeführerin berührt werden kann, liegt in der Natur der Sache und vermag zulässige Ermittlungsmaßnahmen nicht zu hindern."
Das Gericht hat damit Stimmen der Literatur widersprochen, die dem Bankgeheimnis mehr Bedeutung zugewiesen haben.38
I I I . Der Standpunkt der Literatur In der Literatur 39 wurde kritisiert, daß unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zulässig sei, aufgrund eines nicht individualisierten Verdachts gegen das gesamte Unternehmen, hier einer Bank, deren sämtliche Abteilungen zu durchsuchen. Die Durchsuchungsbeschlüsse der beiden Dresdner-Bank-Fälle seien durch Konturenlosigkeit gekennzeichnet. Auch stelle es einen Rechtsmißbrauch dar, ein zum Schein eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen einen einzelnen Bankmitarbeiter heranzuziehen, um an Kontrollmaterial gegenüber den Bankkunden heran36 BVerfG Beschl. v. 13. 12. 1994 - 2 BvR 894/94, NJW 1995, 2839 ff. 37 BVerfG Beschl. a. a. O. (Fn. 36), NJW 1995, 2839, 2841. 38 Vgl. Raeschke-Kessler, Hilmar, Grenzen der Dokumentationspflicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 WpHG, W M 1996, 1764, 1766. 39 Seer, Roman, in: Tipke /Lang, Steuerrecht, § 25, Rn. 19. 24*
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
zukommen. Teilweise erfuhr das Gericht jedoch auch Zustimmung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im folgenden die unterschiedlichen Auffassungen skizziert werden.
1. Die Kritik von Hans-Jürgen Papier und Andreas Dengler Papier und Dengler haben an den beiden Kammerbeschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zum Dresdner Bank-Fall Kritik geübt und stützen sich dabei vor allem auf folgende Argumente: Schon die Ausführungen des Gerichts zum Gebot der inhaltlichen Konkretisierung einer Durchsuchungsanordnung gehen ihnen nicht weit genug. So müsse der Richter den Tatvorwurf durch Bezeichnung der Steuerart und Benennung des Hinterziehungszeitraumes hinreichend eingrenzen. Dies dürfe nicht den durchsuchenden Beamten der Steuerfahndung überlassen bleiben. Deshalb genüge es nicht, eine Durchsuchung gegen namentlich noch nicht bekannte Kunden des Geldinstituts und dessen verantwortliche Mitarbeiter zu richten.40 Genauso wenig erfülle es diese Anforderungen, wenn lediglich der pauschale Hinweis auf einen Kapitaltransfer ins Ausland gegeben werde. Dies gelte auch für die Beweismittel, nach denen gesucht werden soll. Soweit diese sich nicht genau bezeichnen lassen, müsse eine Eingrenzung wenigstens durch eine exemplarische Aufzählung erfolgen. Darüber hinaus fragen Papier und Dengler, ob die Grundsätze des Verhältnismäßigkeitsprinzips eingehalten werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinen beiden Entscheidungen als Ziele „öffentliche Interessen" genannt, die im Rechtsstaatsprinzip und im Gleichheitssatz ihren Ursprung finden und über das rein fiskalische Interesse an der Sicherung des Steueraufkommens hinausgehen. Die Kritik setzt hier bei der Durchsetzung einer Steuerrechtsordnung an, die gerade dem Gebot der Belastungsgleichheit selbst nicht gerecht wird. 41 Eine Belastungsgleichheit läßt sich also auch unter Einsatz der in Rede stehenden Mittel gar nicht erreichen. Es komme hinzu, daß das Strafrecht nicht das geeignete Mittel sei, eine Gleichheit im Belastungserfolg herzustellen, weil es zur Aufklärung und Ahndung konkreter, individuell begangener Straftaten bestimmt ist. Bei der Beschlagnahme einer Vielzahl von Bankkonten, der die Annahme zugrundeliegt, hierunter befänden sich nach statistischer Wahrscheinlichkeit ein paar wenige Steuersünder, ist der Aufgabenbereich für eine repressive Tätigkeit erst gar nicht eröffnet. Vielmehr werde die Strafverfolgungsbehörde tatsächlich als Finanzbehörde tätig.
40 Papier, Hans-Jürgen/Dengler, Andreas, Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Steuerfahndungsmaßnahmen bei Banken, BB 1996, 2593, 2595. 41 Dies., a. a. O. (Fn. 40), S. 2595 f.
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Schließlich sei die Erforderlichkeit in Frage zu stellen, weil das Strafrecht als schärfstes dem Staat zur Verfügung stehendes Mittel zur Lenkung des Verhaltens seiner Mitglieder dem ultima-ratio-Prinzip unterworfen sei. Der Steuergesetzgeber könnte jedoch andere, weniger einschneidende Mittel heranziehen. Die vom Bundesverfassungsgericht im Zinsurteil genannten Möglichkeiten seien vom Gesetzgeber nicht umgesetzt worden. Insbesondere könnte eine Meldepflicht aller Kapitalerträge durch die Auszahlungsstellen oder eine Definitiv- oder Abgeltungssteuer eingefühlt werden. Dies alles sei nicht geschehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sei ebenfalls fragwürdig. Einzubeziehen sei der Grad des Tatverdachtes und die Schwere des Tatvorwurfs. Dem stünden auf der anderen Seite die Rechte der betroffenen Banken und deren Kunden gegenüber. Die Durchsuchung der Geschäftsräume ist an Art. 13 GG zu messen. Die Beschlagnahme der Geschäftsunterlagen könne zwar keinen Schutz über Art. 13 GG beanspruchen. Auch das Bankgeheimnis besitze keinen Verfassungsrang. Wohl aber sei das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen, welches aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG herzuleiten sei. Soweit man die wesensmäßige Anwendung nach Art. 19 Abs. 3 GG ablehne, sei zumindest ein Schutz über Art. 14 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG zu bejahen. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Frage jedoch geschickt umgangen, indem es behauptete, ein Recht auf Datenschutz könne dahinstehen, weil hieraus jedenfalls kein günstigerer Maßstab für die Beschwerdeführerin abgeleitet werden könne. Papier und Dengler weisen aber nach, 42 daß für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht lediglich die Schranke der Verhältnismäßigkeitsprüfung über die „verfassungsmäßige Ordnung" gilt. Die Einbeziehung von Zinserträgen in den grundrechtlichen Datenschutz rechtfertigt sich dadurch, daß es sich bei dem Informationszugriff im Steuerstrafverfahren um einen zwangsweisen handelt, so daß die Aussagen des Zinsurteils nicht übertragen werden können. Dort hatte das Gericht argumentiert, 43 daß Vorgänge des marktoffenen Erwerbs ohne persönlichkeitsgeprägten Gehalt 44 vom Schutzbereich nicjt umfaßt seien. Daneben seien die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG und das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus Art. 14 Abs. 1 GG betroffen, weil der gute Ruf eines auf Seriosität angewiesenen Bankinstituts beeinträchtigt wird. Die jüngere Grundrechtsdogmatik stelle bei der Beurteilung der Eingriffsqualität staatlichen Handelns nicht darauf ab, ob eine Maßnahme final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang ein Grundrecht tangiert, soweit nur ihre Wirkung einem Verhalten der öffentlichen Gewalt ursächlich zugerechnet werden kann. Da es keine Wahrheitserforschung um jeden Preis geben könne, müsse auch dann von Ermittlungsmaßnahmen abgesehen werden, wenn diese die Betroffenen unverhältnismäßig belasteten. 42 Dies., a. a. O. (Fn. 40), S. 2545. 43 Urt. a. a. O. (Fn. 9), BVerfGE 84, 239, 280. 44 Siehe oben S. 364.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Durch die groß angelegte Beschlagnahme von ca. 40.000 Belegen werde eine Vielzahl von Bankkunden als Verdächtige, wenn nicht gar als Beschuldigte behandelt, indem deren Belege durchgekämmt und weitere Ermittlungsmaßnahmen angestellt werden. Als Folge davon werde in deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Papier und Dengler setzen sich schließlich mit der Bejahung eines Tatverdachtes in den beiden Kammerbeschlüssen auseinander.45 Das Bundesverfassungsgericht scheint hier lediglich den Maßstab des Willkürverbotes anzulegen. Dies stehe jedoch im Widerspruch zu der Tatsache, daß die Stärke des Tatverdachtes im Rahmen der Angemessenheitsprüfung maßgeblich zu berücksichtigen sei. Beziehe man nämlich die Stärke des Tatverdachtes mit ein, so ergebe sich, daß der bloße Umstand einer vermehrten Kapitalabwanderung auch nach dem Zinsurteil nicht ausreiche. Es genüge außerdem nicht die Kapitalabwanderung einerseits und die Notwendigkeit der Einschaltung von Banken zum Kapitaltransfer zur Rechtfertigung einer Beschlagnahme andererseits heranzuziehen. Gleiches gelte für den Auslandsbezug als verdachtserhärtendes Moment. Bezüglich der Schwere des Tatvorwurfes einer Steuerhinterziehung verweisen die Autoren auf den Charakter eines Vergehens, also eines abstrakt minder schweren Delikts. Die Schwere im Einzelfall hänge von der hinterzogenen Steuer ab, die aber wohl in der Regel eher in einer unterdurchschnittlichen Größenordnung anzusiedeln sei. Papier und Dengler kommen demzufolge zu dem Ergebnis, daß die Durchsuchung, Sichtung und Beschlagnahme der Unterlagen ganzer Geschäftsbereiche von Banken nicht zu rechtfertigen sei. 46 Daneben vertreten sie die Rechtsansicht, daß die nach dem 31. 12. 1992 gesetzlich festgelegte Zinsbesteuerung wegen ihrer nach wie vor bestehenden Vollzugsdefizite verfassungswidrig sei und somit ein Kapitalanleger, der seine Zinseinkünfte nicht in seiner Steuererklärung angebe, sich jedenfalls keiner vollendeten Steuerhinterziehung strafbar mache, weil die Einkünfte aus Kapitalvermögen seit dem 01.01. 1993 nicht mehr der Besteuerung unterliegen. 47 An späterer Stelle 48 schränken sie dies wieder ein und halten den Bürger nicht von der Beachtung steuerlicher Pflichten für befreit, bevor das Bundesverfassungsgericht eine Nichtigkeitserklärung ausspricht. 49
45
Papier, Hans-Jiirgen/Dercg/ej; Andreas, a. a. O. (Fn. 40), S. 2598. Papier, Hans-Jürgen/Deng/^ Andreas, a. a. O. (Fn. 40), S. 2601. 4 ? Dies., a. a. O. (Fn. 40), S. 2544. 48 Dies., a. a. O. (Fn. ;40), S. 2601. 46
49 Siehe die Erörterung der Problematik oben: Viertes Kapitel: § 2B.III.5.e) „Verfassungswidrige, ungerechte Steuertatbestände als vorgelagertes Recht" auf S. 182.
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2. Die Kritik von Walter Leisner
Leisner 50 sieht in den beiden Dreierbeschlüssen entgegen deren Wortlaut eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung im Schrifttum. In der Sache wäre jeweils eine Entscheidung des Senats gefordert gewesen, der Dreierausschuß diene nur zur Entlastung, nicht aber zur Ersetzung des Senats.51 Dies werde deutlicher, wenn man die Länge der Entscheidungen betrachte, die über manche Senatsentscheidung hinausgehe. So sei bislang zur Rechtmäßigkeit einer Durchsuchung das Vorliegen einer Tat erforderlich gewesen. Damit befasse sich der Dreierausschuß kaum. Die Aussagen, daß im Betrieb der Bank systematische Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet und die luxemburgische Tochter zur Hinterziehung von Einkommensteuer und Vermögenssteuer mißbraucht worden sein könnte, seien keine hinreichenden Angaben zur vorgeworfenen Tat. Tat und Tatverdacht seien klar zu trennen. Tat sei die NichtVersteuerung der Beträge, nicht hingegen Verdachtsmomente wie ein Kapitaltransfer nach Luxemburg oder die Anonymisierung. Die Tat hat eine wichtige Eingrenzungsfunktion. Wäre diese hier beachtet worden, so hätten Ermittlungen für das Jahr 1993 nicht stattfinden dürfen, weil hier die Frist zur Abgabe der Steuerklärung noch nicht abgelaufen war. Ein Verstoß gegen § 154 AO sei nicht klar umschrieben, der Zahlungsverkehr sei nicht über CpD-Konten, sondern über das Kundenkonto der Luxemburger Tochter abgewickelt worden. Der Einschluß eines Zeitraumes bis 1983 zurück, der sich wohl an der Verjährung des § 169 Abs. 2 S. 2 AO orientierte, sei ohne konkrete Anhaltspunkte nicht zu begründen. Die frühere Rechtsprechung52 hat ferner Angaben zu möglichen Tätern gefordert. Bisher noch unbekannte dritte Personen konnten nicht erst durch die Durchsuchungsmaßnahmen gefunden werden. Der Dreierbeschluß hingegen vertritt hierzu die Ansicht, daß bei Ermittlungsbeginn noch nicht einmal die bereits bekannten Verdächtigen benannt werden müssen. Im Vorenthalten dieser Information sieht Leisner einen Verstoß gegen die Waffengleichheit. 53 Aufgrund der allgemeinen Bezeichnung der Täter ist auch das Eingrenzungskriterium der zu durchsuchenden Räume letztlich entwertet. Wegen des Ermittlungstandes und der vom Anfangsverdacht erfaßten sehr großen Zahl von Taten läßt das Gericht die Suche nach Beweismittel zu, die nach ihrer Bezeichnung „im Zusammenhang mit dem verheimlichenden Transferieren von Geld in das und aus dem Ausland stehen". Leisner kritisiert hier, daß damit zu Ermittlungsbeginn nach allen beliebigen Beweismitteln gesucht werden könnte, wenn es auf den Ermittlungsstand ankommen sollte. Gerade bei einer großen Zahl von Taten sei eine Eingrenzung erforderlich. 50 Leisner, Walter, Ausforschungsdurchsuchung?, BB 1994, 1941, 1942. 51
Leisner, Walter, Ausforschungsbeschlagnahme, BB 1995, 525,525. 52 Beschl. a. a. O. (Fn. 33), BVerfGE 20, 162, 192. 53 Leisner, Walter, a. a. O. (Fn. 50), BB 1994, 1941, 1944.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Ein geheimgehaltener Transfer nach Luxemburg begründe für sich ohne konkreten Einzelfallbezug keinen Tatverdacht. Jedenfalls könne nicht aus zwei bezeichneten Fällen ein Verdacht in so großer Zahl erwachsen. Daraus ergebe sich, daß nach der Dresdner Bank I-Entscheidung eine Ausforschungsdurchsuchung möglich sei, da schon statistische Plausibilität einen Anfangsverdacht abgebe.54 In der Dresdner Bank Ii-Entscheidung hätte der Dreierausschuß die Frage nicht offenlassen dürfen, ob auch das von der Beschwerdeführerin gerügte Recht auf Datenschutz aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 14 GG berührt war. Leisner hält dies für unzulässig, da bei der Abwägung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit es von ausschlaggebender Bedeutung sei, ob auch das Interesse an informationeller Selbstbestimmung in Ausübung des Gewerbebetriebes einzustellen sei. 55 Demgegenüber treten die Belange der allgemeinen Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG hinter jeder strafprozessualen Bestimmung zurück. Die Verhältnismäßigkeit sei auf der Ebene der Geeignetheit der Beschlagnahmen bereits zweifelhaft, weil aus einem bloßen Kontenverdacht (CpD-Konto oder Konto der Tochterbank bei der Mutter) oder aus einem Betreuungsverdacht (Im Betreuungskreis eines Bankbediensteten finden verdächtige Transaktionen statt.) eine uferlose Beschlagnahmeaktion begründet werde. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne richtet sich nach der Schwere des Tatvorwurfs. Dieser sei nach dem Steuerstrafrecht, nicht hingegen nach Art. 3 Abs. 1 GG und der Gefährdung der steuerlichen Belastungsgleichheit zu bestimmen. Der Umstand, daß sehr viele unschuldige Bankkunden getroffen würden und darüber hinaus der Finanzplatz Deutschland erschüttert werde, wird vom Gericht nicht beachtet. Die eingeschlagene Richtung der Rechtsprechung führe zu einem Ende des Bankgeheimnisses. Anstatt den Steuergesetzgeber endlich zum Handeln zu zwingen, werde der Strafprozeß, welcher nur eine punktuelle Reaktion darstellen könne, zum Instrument der Finanzpolitik gemacht.
3. Die Zustimmung von Otfried
Ranft
Otfried Ranft hat in der Diskussion um die Dresdner-Bank-Beschlüsse für das Bundesverfassungsgericht Partei ergriffen. Das Bankgeheimnis habe in seinen Augen nicht die Bedeutung, die ihm von Bankenvertretern zugebilligt wird. Zunächst stelle es lediglich einen Teil des Vertragsverhältnisses zwischen Bank und Bankkunde dar. Auch § 30 a AO gebe den Banken keine Sonderrechte und entbinde sie nicht von den allgemeinen Auskunftspflichten gemäß § 93 Abs. 1 AO im Besteuerungsverfahren ihrer Kunden. Im Strafverfahren stehe den Banken kein berufsbe54 Ders., a. a. O. (Fn. 50), BB 1994, 1941, 1946. 55 Ders., a. a. O. (Fn. 51), BB 1995, 525, 526.
§ 6 Steuerfahndung bei Banken
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zogenes Zeugnisverweigerungsrecht zu, da sie in § 53 StPO nicht genannt sind. Dem Bundesverfassungsgericht sei beizupflichten, daß aus Art. 12 Abs. 1 GG ebenso kein Sonderrecht begründet sei. 56 Wenn auch Durchsuchungen zunächst nur bei der verdächtigen Person durchgeführt werden können, könne trotzdem, wenn sich der Verdacht gegen die Führungsspitze des Unternehmens richte, die Bank als Ganzes durchsucht werden. Im entschiedenen Fall habe sowohl eine Erklärung eines Mitarbeiters vorgelegen, daß Zahlungen üblicherweise über ein Schwarzgeldkonto in Luxemburg gelaufen seien, wie auch die Aussage, daß Aufzeichnungen über Nummernkonten und die Identität ihrer Inhaber geführt wurden. Gerade hinsichtlich des Beihilfeverdachtes hebt Ranft hervor, daß zur Verdichtung eines konkreten Tatverdachtes die Bankenwerbung herangezogen werden könne, die unverhohlen mit den fehlenden Zugriffsmöglichkeiten des Fiskus geworben habe.57 Soweit hingegen gegen die Bankkunden selbst ermittelt werde, sei es nicht zulässig, nur zum Schein Ermittlungen gegen die Bank anzustrengen, um dort in Wahrheit an Indizien gegen Bankkunden heranzukommen. Es müssen aber, um das Gewicht des Unrechts der Beihilfehandlungen festzustellen, die Haupttaten umfassend aufgeklärt werden. Dies sei nicht mit einer gezielten Suche nach Zufallsfunden gleichzusetzen. Daher sei dem Bundesverfassungsgericht in der DresdnerBank Ii-Entscheidung Recht zu geben, wenn es die Beschlagnahme von ca. 40.000 Belegen für gerechtfertigt hält. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt, weil die systematische Beihilfe zur Steuerhinterziehung den Charakter von organisierter Kriminalität trägt. 58
IV. Stellungnahme Den Befürwortern der BVerfG-Rechtsprechung ist insoweit Recht zu geben, als die beiden ergangenen Beschlüsse keine überraschenden Ergebnisse brachten. Sie liegen vielmehr in der gleichen Linie wie das Zinsurteil. Hinzu kommt, daß es als offenes Geheimnis galt, daß mittels Ziffern und ohne Angabe des Namens Luxemburger Konten betrieben werden konnten. Aufgrund der gleichzeitigen unverhohlenen Bankenwerbung wußte auch jeder Beteiligte, warum dies so geschah.59 Nicht zu verkennen ist aber auch die angreifbare Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht die Bankenfahndung bei der Dresdner Bank rechtfertigt. Die in ihr liegende Gefahr, zu einer Welle von Durch56 Ranft, Otfried, Durchsuchung und Beschlagnahme in Geschäftsräumen von Banken, WIB 1996,49, 50. 57 Ranft, Otfried, a. a. O. (Fn. 56), WIB 1996,49, 51. 58 Ranft, Otfried, a. a. O. (Fn. 56), WIB 1996,49, 52. 59 So auch Streck, Michael, Anmerkung zu BVerfG-Beschl. v. 23. 03. 1994, StV 1994, 355, 355.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
suchungen und Beschlagnahmen im Bankenbereich zu führen, hat sich nach Ergehen beider Entscheidungen bewahrheitet, ohne daß ein Ende der Fahndungsaktionen bis heute abzusehen wäre. Da es wegen der Konzentration im Bankgewerbe nur wenige Institute gibt und nahezu bei jedem Geldinstitut unter den Tausenden von Bankkunden zumindest einzelne Verdachtsfälle vorliegen, hat die Steuerfahndung flächendeckend Konteninformationen auch Unbeteiligter gesammelt. Steuerehrliche Kunden werden durch die Ermittlungsmaßnahmen unnötig belastet. Bei Steuersündern hingegen erfolgt die Bestrafung faktisch nach dem Zufallsprinzip, weil die Strafverfolgungsorgane wegen der Vielzahl der Daten und der Schwierigkeit der Zusammenführung der Informationen nicht in der Lage sein wird, diese vor Eintritt der Verjährung auszuwerten. Letztendlich können danach nur wenige bestraft werden. Wegen der Angst vor Entdeckung haben einzelne Täter Selbstanzeige erstattet. Eine erhebliche Zahl an Tätern wird aber nicht aufgedeckt werden. Es ist hieraus ersichtlich, daß das Steuerstrafrecht kein geeignetes Mittel ist, um die verfassungsrechtlich gebotene Rechtsanwendungsgleichheit durchzusetzen. Hier muß Dannecker beigepflichtet werden, der dem Bundesverfassungsgericht vorhält, daß es die Chance verpaßt hat, den Strafverfolgungsorgangen ihre rechtsstaatlichen Grenzen aufzuzeigen. Im Ergebnis geht der nunmehr erlaubte Zugriff auf alle Bankdaten ohne Einschränkungen zu weit. Schließlich hätte es auch einer Stellungnahme zur Strafbarkeit der Beihilfe von Bankangestellten bedurft. 60 Otto hat gerade zur Beihilfestrafbarkeit herausgearbeitet, daß es bei der Haupttat des Bankkunden um eine Vereitelungshandlung, nämlich um die Erschwerung oder Verhinderung der Durchsetzung des staatlichen Steueranspruches geht. Eine Förderung der Haupttat kann bei Verstoß gegen die in § 154 AO festgelegten Identifikationspflichten nicht ohne weiteres angenommen werden, da der Bankangestellte nicht objektiv die Erfolgsaussichten falscher Angaben im Besteuerungsverfahren verbessert. Im Gegenteil bringt er erst den Steueranspruch zum Entstehen.61 Erst eine Beteiligung an der Vereitelung der Durchsetzung des Steueranspruches durch Täuschung überspringt die Grenze strafbaren Verhaltens. 62 Der BGH hat in der Entscheidung vom Ol. 08. 2000 63 demgegenüber den Standpunkt vertreten, daß die in der Literatur vertretenen Ansätze zu weitgehend seien. Eine aktive Mitwirkung kann bereits darin liegen, daß der Bankangestellte durch die Anonymisierung des Geldverkehrs das Entdeckungsrisiko für die Nichtangabe der Erträge in den Steuererklärungen stark verringert hat.
60
Dannecker, Gerhard, Zur Strafbarkeit ausländischer Bankangestellter wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung deutscher Kapitalanleger, FS f. Georgios-Alexandros Mangakis, S. 267, 270. 61 Otto, Harro, „Vorgeleistete Strafvereitelung" durch berufstypische oder alltägliche Verhaltensweisen als Beihilfe, FS f. Theodor Lenckner, S. 193, 221 ff. 62 Dannecker, Gerhard, a. a. Ο (Fn. 60), S. 267, 274. 63 Urt. v. 01. 08. 2000 - 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 107 ff.
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Wünschenswert wäre aber gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht schon Jahre zuvor eine verläßliche Richtschnur anhand verfassungsrechtlicher Vorgaben gegeben hätte, die in der strafrechtlichen Judikatur nicht berücksichtigt wurden.
D. Die Kontroverse beim Bundesfinanzhof I. Vorbemerkungen Im vorangegangenen Kapitel wurde die steuerstrafrechtliche Seite unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet. Parallel zu dieser strafrechtlichen Ebene wurde ausgehend von zwei Entscheidungen des Bundesfinanzhofes auch im Steuerrecht eine Kontroverse entfacht, die für die vorliegende Thematik wissenschaftliche Beachtung verdient. Auch in der Literatur entstand daraufhin eine lebhafte Diskussion.
II. Judikatur des VIII. Senats Das Urteil des VIII. Senats des Bundesfinanzhofes vom 18. 02. 1997 64 läuft in seiner praktischen Auswirkung auf eine Aufhebung des Bankgeheimnisses hinaus. Es folgt in weiten Teilen der Auffassung der Finanzverwaltung, die sich nunmehr durch die Rechtsprechung bestätigt sieht. 65 Die Revisionskläger sind zusammenveranlagte Eheleute, die ihre Kapitaleinkünfte im Rahmen der Einkommensveranlagung der Besteuerung unterwarfen. Sie bringen vor, daß die Erfassung ihrer Zinseinkünfte verfassungswidrig sei, weil die Zinsbesteuerung durch das Zinsabschlaggesetz in einer Weise neu geregelt wurde, die die im Zinsurteil des Bundesverfassungsgerichtes monierten Mängel nicht geändert habe. Denn soweit ein Steuerpflichtiger oberhalb der Freibeträge Kapitaleinkünfte zu versteuern habe, könne er nach wie vor davon ausgehen, daß er die Differenz zwischen seinem persönlichen Steuersatz und der Höhe der Zinsabschlagsteuer von 30 % nur dann zu versteuern habe, wenn er sie freiwillig angebe, da nach wie vor keine wirksamen Kontrollen bestünden. Die Regelungen des Zinsabschlaggesetzes haben jedenfalls an § 30 a AO, der aus dem früheren Bankenerlaß hervorging, nichts geändert. Der VIII. Senat wies die Revision zurück und vertrat die Ansicht, daß die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt seien und insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG genügend gewürdigt wurde. Insbesondere sei das Zinsabschlaggesetz verfassungs64 BFH Urt. v. 18. 02. 1997 - VIII R 33/95, BStBl I I 1997, 499 ff. Der VIII. Senat hat seine Rechtsprechung bestätigt im Urt. v. 15. 12. 1998 VIII R 6/98, BStBl II 1999, 138, 138 ff. 65 FinMin. Sachsen-Anhalt, Erl. v. 17. 11. 1997,45 - S 1505 3, DStR 1997, 2026.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
gemäß. § 30 a AO sei verfassungskonform auszulegen, um zur Vermeidung eines Erhebungsdefizits die gleichmäßige Steuererhebung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG zu gewährleisten. Die Neuregelung der Zinsbesteuerung hatte der VIII. Senat jedoch für verfassungsgemäß erachtet. § 30 a Abs. 1, 2, 4 und 5 AO kommen lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Nach bisheriger Auffassung beschränkt aber der Absatz 3 des § 30 a AO die Bestimmung des § 194 Abs. 3 AO. Danach können die bei einer Außenprüfung ermittelten steuerlichen Verhältnisse dritter Personen für deren Besteuerung ausgewertet werden. Die Vorschrift unterfalle aber der Einschränkung, daß Konten, für die eine Identitätsprüfung nach § 154 Abs. 2 AO nicht stattgefunden habe, zur Überprüfung festgestellt und abgeschrieben werden können. Auch könnte der in der Bank tätige Außenprüfer bei legitimierten Konten Zufallserkenntnisse dem zuständigen Festsetzungsfinanzamt mitteilen, soweit er aufgrund allgemeiner Erfahrung die Prognoseentscheidung im Wege vorweggenommener Beweiswürdigung trifft, daß eine Kontrollmitteilung zur Aufdeckung steuererheblicher Tatsachen führen kann.
III. Judikatur des VII. Senats In einem Steuerfahndungsfall hat der VII. Senat in seinem Beschluß vom 28. 10. 1997 66 zum Bankgeheimnis Stellung genommen und eine sich vom VIII. Senat des Bundesfinanzhofes deutlich abhebende Auffassung vertreten. Eine Bank hatte im Eilverfahren den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Ziel, die Verwertung des bei ihr bezüglich der Geld- und Depottransferierung nach Luxemburg sichergestellten Materials zu verhindern. Sie beruft sich auf ihr Eigentumsrecht. Die Durchsuchung war damit begründet worden, daß in einem anderen Ermittlungsverfahren bei derselben Bank anonymisierte Belege gefunden worden seien, die den Verdacht einer Steuerhinterziehung von Bankkunden und Bankmitarbeitern nahelegten. Von besonderer Bedeutung ist, daß die Steuerfahnder bei Durchsicht des alphabetisch abgelegten allgemeinen Schriftverkehrs Kenntnis von Vorgängen anderer Bankkunden erhielten, welche am Verfahren nicht beteiligt waren. Der VII. Senat führt aus, daß die Kenntnisnahme der Steuerfahndung einer Wegnahme der Schriftstücke durchaus gleichzustellen sei. Daher sei Art. 14 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Da die streitbefangenen Handlungen nur gelegentlich eines anderen Strafverfahrens veranlaßt wurden, kommen Vorschriften des Strafrechts als Schranken eines Abwehranspruchs der Antragstellerin gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG („verfassungsmäßige Ordnung") nicht in Betracht. Der VII. Senat wendet sich gegen die vom VIII. Senat vertretene Rechtsüberzeugung. Er führt aus, daß die Steuerfahndung, wenn sie nur im Rahmen des Be66 Urt. v. 28. 10. 1997 - V I I Β 40/97, BFH/NV 1998,424,424 ff.
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steuerungsverfahrens tätig werde, auch nur die dafür vorgesehenen Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung hätte. Im Bankenbereich seien diese steuerlichen Befugnisse durch § 30 a Abs. 3 AO begrenzt. Diese Vorschrift erlaube die Ausschreibung der dort aufgeführten Konten nicht. Auf die in der Literatur geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken wollte der VII. Senat nicht im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens eingehen. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG müsse unterbleiben. Das FG Niedersachsen und fortgeführt.
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hat die Auffassung des VII. Senats des BFH bestätigt
IV. Reaktion des Schrifttums Die Entscheidung des VIII. Senats erfuhr bereits methodisch heftige Kritik. 6 8 So wurde dem VIII. Senat vorgehalten, eine verfassungskonforme Auslegung des § 30 a AO vorzunehmen, ohne zuvor dessen Verfassungswidrigkeit festgestellt zu haben. Vielmehr wird die Verfassungswidrigkeit in den Entscheidungsgründen schlicht vorausgesetzt. In der Tat hätte es einer methodisch folgerichtigen Vorgehensweise bedurft. Diese hätte es notwendig gemacht, zunächst nach den klassischen Auslegungsmethoden auszulegen und sodann zu überprüfen, ob das gefundene Ergebnis mit der Verfassung im Einklang steht. Soweit dies nicht der Fall ist, bedürfte es der Überlegung, ob es eine andere methodisch zulässige Auslegung gibt, die verfassungskonform ist. Dieser ist dann der Vorzug zu geben. Bilsdorfer kritisiert, daß der VIII. Senat sich mit seiner Entscheidung gegen das Bundesverfassungsgericht stellt, das gerade keine Möglichkeit sah, Kontrollmitteilungen bezüglich legitimationsgeprüfter Konten zu fertigen. 69 Im übrigen hat sich der überwiegende Teil des Schrifttums gegen die Rechtsausführungen des VIII. Senats gewandt.70
V. Stellungnahme Die Rechtsprechung des BFH soll hier nicht weiter vertieft werden. Sie sollte jedoch zeigen, daß der VIII. Senat eine vom Bundesverfassungsgericht abweichende Auffassung vertritt. Der Rechtsansicht, wonach der Rechtszustand nach Neure67 FG Niedersachsen Beschl. v. 04. 12. 1998 - X 524 /98 V, EFG 1999,149,149 ff. 68 Zusammengefaßt bei Neuwald, Philipp, Das steuerliche Bankgeheimnis, S. 36 f. 69 Bilsdorfer, Peter, Der BFH und die Zinsbesteuerung - ein bemerkenswerter Eiertanz, NJW 1997, 2368, 2369. 70 Ein Überblick über die inzwischen veröffentlichte umfangreiche Literatur findet sich bei Rolletschke, Stefan, Kontrollmitteilungen der Steuerfahndung in Bankverfahren, DStZ 1999, 887, 889 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
gelung der Zinsbesteuerung der Verfassung entspreche, kann hier nicht gefolgt werden. Um so mehr erstaunt es, wenn der VIII. Senat dennoch trotz Bejahung der Verfassungskonformität eine verfassungskonforme Auslegung vornehmen will. Dem VII. Senat ist letztlich beizupflichten, wenn er ausführt, daß, solange § 30 a AO besteht, er wenigstens einen Kernbereich des Bankgeheimnisses schützen muß. Anderenfalls müßte eine Aufhebung der Vorschrift durch den Gesetzgeber und eine grundlegende Neugestaltung der Kapitaleinkünftebesteuerung erfolgen. Letztendlich wäre rechtspolitisch eine grundlegende Neuordnung der Zinsbesteuerung die beste Lösung. Einfachgesetzlich ist anzufügen, daß § 30 a Abs. 3 AO eine Einschränkung des § 194 Abs. 3 AO darstellt.
E. Abschließende Würdigung und weiterführende Gedanken Das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit erlangt im Steuerstrafrecht nach dem Zinsurteil eine zentrale Bedeutung. Das Herausgreifen Einzelner, mit denen ausnahmsweise nach Recht und Gesetz verfahren wird, ist Willkür. 71 Denn das Strafrecht verkörpert in diesem Fall keinen Wert mehr, sondern wird zur „Herrschaft des Zufalls". 72 Die Bedeutung des Zinsurteils liegt letztlich vor allem in der Abkehr von der früheren Überzeugung, wonach es im Unrecht keine Gleichheit geben könne. Danach hilft nur die Wiederherstellung einer durchgreifenden Kontrolle, um die faktische Belastungsgleichheit wieder herzustellen. Ist eine zureichende Prüfungskapazität nicht vorhanden, so sollte der Gesetzesanwendungsvollzug bei allen Steuerpflichtigen möglichst in gleicher Weise hinter einer vollen Anwendung des Gesetzes zurückbleiben. 73 Denn ist Steuerhinterziehung kein abweichendes Verhalten mehr, sondern der Regelfall, so verliert eine strafrechtliche Verfolgung ihre Rechtfertigung. Salditi stellt zu Recht die Frage, ob noch im Namen des Volkes verurteilt werden kann und ob es sich bei den Erwischten nicht in Wahrheit um die Sündenböcke der Gesellschaft handelt, denen die Schuldkonflikte der verstrickten Mitmenschen aufgebürdet werden. 74 Auch in der Schweiz, so ist rechtsvergleichend anzufügen, werden Gleichmäßigkeit der Besteuerung, gestützt auf Art. 8 Abs. 1 der neuen Bundesverfassung, und 71 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1407. 72
Salditi, Franz, Hinterziehung ungerechter Steuern, Stra.F.o 1997, 65, 66. Wengert, Georg / Widmann, Andreas, Läßt sich das Rechtsinstitut der Außenprüfung verfassungsrechtlich und vor dem Hintergrund einer europäischen Steuerharmonisierung noch rechtfertigen?, BB 1998, 22, 23. 74 Salditi, Franz, a. a. O. (Fn. 72), StraFo 1997, 65, 66 f. 73
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Steuerstrafverfolgung als untrennbare Aufgabe des Staates gesehen.75 Denn wer für sich beansprucht, Steuern nach Maßgabe der Gleichmäßigkeit zu erheben, der muß zwangsläufig auch für deren Durchsetzung sorgen. Das Besteuerungsverfahren unterliegt einem Effizienzgebot. Gleichmäßigkeit bedeutet Gleichheit im Gesetz und Gleichheit vor dem Gesetz. Nichts anderes kann für den deutschen Steuerstaat gelten. Papier stellt fest, daß strafrechtliche Verfolgung ein ungeeignetes Mittel ist, ein strukturelles Vollzugsdefizit auszugleichen und die erforderliche Belastungsgleichheit herzustellen. 76 Denn das Strafrecht ist zur Aufklärung individuell begangener Straftaten und zur Ahndung individuell verwirklichter Schuld vorgesehen. Diese im Vordergrund stehende Individualbezug läßt das Strafrecht als ungeeignet erscheinen, im Massenverfahren Normanwendungsgleichheit sicherzustellen. Neben den repressiven Maßnahmen muß aber ein Gemeinsinn wiederhergestellt werden. Denn eine vollständige Kontrolle ist tatsächlich nicht möglich und würde zu weitgehend in die Rechte des Steuerbürgers eingreifen. Der gegenwärtige Zustand läßt sich mit Eckhoff am besten wie folgt beschreiben.77 Es existieren drei Steuerrechtsordnungen unberührt voneinander zum selben Zeitpunkt: Einmal die von der Verfassung geforderte und nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip geordnete Steuerrechtsordnung, zum zweiten die Steuerrechtsordnung der geltenden Steuergesetze und zum dritten die Steuerrechtsordnung, wie sie von Finanzbehörden wie Steuerpflichtigen tatsächlich praktiziert wird. 78 Daraus ergibt sich, daß der Steuerstaat auch viele Jahre nach dem Zinsurteil seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, die ihm das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat. Anderenfalls hätte er für eine durchgängige Rechtsanwendungsgleichheit im Steuersystem sorgen müssen. Am Beispiel der privaten Veräußerungsgewinne bei Aktien gemäß § 23 Abs. 1 lit. b) EStG , bislang als Spekulationsgewinne bezeichnet, wird deutlich, daß nach wie vor nur der „Dumme" Steuern entrichtet. Den offiziellen Stellen ist bekannt, daß seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland nur in seltenen Fällen private Veräußerungsverluste geltend gemacht werden, da dies die Angabe der im übrigen entstandenen privaten Veräußerungsgewinne voraussetzen würde. Tatsächlich dürfte die Hinterziehungsquote weit über 90 % betragen. Hier könnte der Steuergesetzgeber - guten Willen vorausgesetzt - ebenso wie bei den Zinseinkünften entweder durch Bankauskünfte oder durch Einführung einer Quellensteuer ohne weiteres Belastungsgleichheit herstellen.
75 Gyr, Peter, Die Besko, S. 47. 76 Papier, Hans-Jürgen, Steuerreform als Verfassungsproblem, Stbg 1999,49, 56. 77 Eckhoff, Rolf, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 64. 78 Ahnlich unterscheidet Helsper zwischen „law in the books" und „law in practice Vgl. Helsper, Helmut, Die Chaotisierung der Steuerrechtsordnung und die Verantwortung der Führungskräfte, BB 1996, 2326, 2326 ff.
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4. Kap.: Die verfassungsrechtliche Dimension
Die Aktionen der Steuerfahndung im Bankenbereich sind von ihrer Zielsetzung her verfehlt, da sie nur an den Symptomen eines kranken Systems kurieren. Durch den Zugriff der Fahndung lassen sich nicht die strukturellen Mängel beseitigen, die der gegenwärtigen Zinsbesteuerung anhaften.
Fünftes Kapitel
Rechtsvergleichung im Raum § 1 Vorbemerkungen Die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Probleme im deutschen Steuer- und Steuerstrafrecht sollen im folgenden durch eine rechtsvergleichende Betrachtung weiter erhellt werden. Das Grundgesetz selbst normiert bekanntlich keine Auslegungsregeln. Uber die klassischen Auslegungsmethoden hinaus wird heute von der Wissenschaft die Rechtsvergleichung als „fünfte" Auslegungsmethode" über den klassischen Methodenkanon von F. C. von Savigny hinaus gefordert. 1 Ein solches Vorgehen rechtfertigt sich vor allem dadurch, daß das Bundesverfassungsgericht wie auch die meisten ausländischen Verfassungsgerichte und der EuGH inzwischen rechtsvergleichend arbeiten. Ebenso wie das Verfassungsrecht kann auch das Steuerrecht von rechtsvergleichender Methodik profitieren. Allerdings steckt die Rechtsvergleichung hier wegen der zumeist sehr komplexen Materie noch in den Kinderschuhen. Soweit hinreichende Vergleichbarkeit zwischen deutschem und ausländischem Steuerrecht besteht, ist jedoch auch im Steuerrecht eine Rechtsvergleichung nicht nur zulässig, sondern gar geboten.2 Die Auswahl der verglichenen Rechtskreise bedarf dann besonderer Überlegung. Wie bereits in der Einleitung angedeutet, erschien es als zweckmäßig, die wesentlichen Strukturen des Steuerstrafrechts des jeweiligen ausländischen Staates in einem eigenen Kapitel zu behandeln, um das Systemdenken im Steuerrecht und Steuerstrafrecht in den Vordergrund zu stellen. Es soll deshalb eine Makroverglei1
Zuerst Häberle, Peter, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, 913, 916; später fortgeführt: ders., Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, S. 791, 810 ff. und ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 312. Siehe auch Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 2 Rn. 71 a. E. Dieser Ansatz ist jedoch str., a. Α. Maurer, Hartmut, Staatsrecht, § 1 Rn. 58. 2 Dies hat insbesondere Bayer, Hermann-Wilfried, Die Rechtsvergleichung - eine terra incognita des deutschen Steuerrechts, in: FS f. Otto Bachof, S. 245, 279, überzeugend herausgearbeitet. 25 Röckl
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
chung im Vordergrund stehen. Für die folgende Betrachtung wurden Schweiz und Österreich wegen deren dem deutschen nahe verwandten Rechtssystems ausgewählt. Daneben werden Frankreich und der anglo-amerikanische Rechtskreis umrissen. Frankreich und die USA besitzen ein kodifiziertes Steuerrecht und sind deshalb von besonderem Interesse. Es können hier dennoch nur einzelne Aspekte herausgegriffen werden, eine auch nur annähernd vollständige Darstellung würde den gegebenen Rahmen sprengen.
§ 2 Untersuchung anderer Rechtssysteme A. Österreich In Österreich wurde das 1938 eingeführte deutsche Steuerrecht nach dem zweiten Weltkrieg beibehalten, jedoch schließlich eigenständig weiterentwickelt. In den letzten Jahren wurden mehrere Steuerreformen auf den Weg gebracht, die den Ruf genießen, deutschen Verhältnissen um Jahre voraus zu sein. Dies gilt insbesondere für die Abkehr von Steuersatzerhöhungen, die in der Vergangenheit zu weiteren Ausweichhandlungen der Wirtschaftssubjekte führten. 3 Hervorzuheben ist das Herauslösen der Zinsen aus dem synthetischen Einkommensbegriff zur Lösung der Zinssteuerproblematik. Einer Abgabenverkürzung nach § 33 Abs. 1 FinStrG macht sich in Österreich schuldig, wer vorsätzlich unter Verletzung einer abgabenrechtlichen Anzeige-, Offenlegungs- oder Wahrheitspflicht eine Abgabenverkürzung bewirkt. Angehörige der steuerberatenden Berufe machen sich nur strafbar, wenn ein schweres Verschulden vorliegt, d. h. eine auffallende und ungewöhnliche Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht. 4 Die Abgabenhinterziehung ist mit Geldstrafe bis zum zweifachen Hinterziehungsbetrag zu bestrafen, daneben kann aus Gründen der Speziai- oder Generalprävention auch Freiheitsstrafe verhängt werden. Der österreichische Verfassungsgerichtshof wie auch die Literatur gehen davon aus, daß denjenigen kein Verschulden trifft, der aufgrund einer vertretbaren Rechtsansicht handelt.5 Das österreichische Steuerrecht kennt eine dem deutschen § 42 AO vergleichbare Vorschrift in § 22 der Österreichischen Bundesabgabenordnung (BAO). 6 Die Norm entspricht in ihren Tatbestandsmerkmalen weitgehend den deutschen. Der 3
Wangler, Clemens, Steuerreformen in Österreich - Modell für Deutschland?, Stbg 1999, 218, 219 und 225. 4 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1429. Dorait, Werner /Ruppe, HansGeorg, Grundriß des österreichischen Steuerrechts II, S. 231. 5 Dorait, Werner/Ruppe, Hans-Georg, a. a. O. (Fn. 4), S. 225 m. w. N.
§ 2 Untersuchung anderer Rechtssysteme
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Begriff der Mißbräuchlichkeit ist nicht weiter umschrieben.7 Die vertretenen Mißbrauchstheorien lassen sich geschichtlich auf die gleichen Wurzeln des deutschen und österreichischen Steuerrechts zurückführen. 8 Die sogenannte „Außentheorie" knüpft an die Ungewöhnlichkeit einer Gestaltung an.9 Sie ist damit zu weitgehend, weil stets neue innovative Gestaltungen behindert werden. Demgegenüber sieht die „Innentheorie" die Mißbräuchlichkeit als Teil der allgemeinen Umgehungslehre an. Danach muß der Umgehungsversuch scheitern, der sich entgegen Sinn und Zweck einer wirtschaftlich anknüpfenden Bestimmung auf das Zivilrecht zu stützen sucht.10 Die Abgrenzung zwischen Mißbrauch und Hinterziehung wird im österreichischen Recht ähnlich der im deutschen Recht vertretenen Auffassung danach getroffen, ob der Steuerpflichtige den Sachverhalt der Behörde offenbart hat und nicht die Umstände seiner Gestaltung verschleiert oder verheimlicht hat. 11 § 1 FinStrG verbietet die Analogie im österreichischen Steuerstrafrecht ausdrücklich, selbst im Steuerrecht wird sie in der Literatur vielfach für unzulässig gehalten.12 Es wird sogar ihre Unzulässigkeit im Steuerrecht als heute unbestritten bezeichnet.13 Aus dem strafrechtlichen Analogieverbot wird zum Teil ein allgemeiner Rechtsgedanke abgeleitet, der auf das Steuerrecht zu übertragen sei. 14 Andere Autoren behaupten eine „überwiegende Meinung", die sich für eine Zulässigkeit der Analogie im Steuerrecht ausspreche.15 Gemäß Art. 18 Abs. 1 B-VG darf 6 § 22 BAO lautet: „(1) Durch Mißbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts kann die Abgabepflicht nicht umgangen oder gemindert werden. (2) Liegt ein Mißbrauch (Abs. 1) vor, so sind die Abgaben so zu erheben, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen, Tatsachen und Verhältnissen angemessenen rechtlichen Gestaltung zu erheben wären." 7 Hensel, Nikolaus, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 6 Steueranpassungsgesetz, S. 28. 8 Zum Streitstand ausführlich: Stoll, Gerold, Bundesabgabenordnung, § 22 BAO, Anm. 2 b). 9 Weinzierl, Emil, Bemerkungen zum „Mißbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts" im Abgabenbereich, FJ 1980, 143, 144. 10 So die überwiegende Auffassung, m. w. N.: Gassner, Wolfgang, Der Gestaltungsmißbrauch im Steuerrecht - Änderung der Rechtsprechung?, ÖStZ 1981, 262, 263; ders., Der Stand der Umgehungslehre des Steuerrechts, WB1 1987, 5, 5. Dem folgt die Rechtsprechung: VfGH Erk. v. 08. 05. 1980, VfSlg. 8807/1980, Egrd. I I 3 b). 11 Schimetschek, Bruno, Die Problematik der Steuerumgehungsvorschrift des § 22 AO, FJ 1983, 153,156. 12 Steiner, Johannes, Wolf gang, Der Legalitätsgrundsatz nach der österreichischen Bundesverfassung, StVj 1992, 32, 34 f.; a.A. aber Halpern, Robert, Beitrag in: Cahiers de Droit Fiscal International, IFA, Bd. La., S. 37,46. 13 Gaier, Richard, Zur Interpretation von Abgabengesetzen, FJ 1980, 160, 161. 14 Dorait, Werner, Das Analogieverbot im Steuerrecht, ÖStZ 1980, 27, 27. So Gassner, Werner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gestaltungsmißbrauch im Steuerrecht, FS f. Ernst Höhn, S. 65, 71. 2 *
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. 16 Dabei fordert diese Bestimmung einen dem jeweiligen Regelungsgegenstand adäquaten Determinierungsgrad. In Bereichen wie dem Steuerrecht oder dem Strafrecht ist eine besonders genaue Determinierung verlangt. Der VfGH hält trotzdem die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen wie „ Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung" für seit jeher zulässig.17 Auch aus den unterschiedlichen Zielsetzungen von Handels- und Steuerrecht und der damit verbundenen jeweils eigenen Systematik sei eine Unbestimmtheit steuerlicher Normen nicht herzuleiten, da über die §§ 4 und 5 des österreichischen EStG ein Vorrang der steuerlichen Vorschriften hergestellt sei. Soweit aus obiger Darlegung ausnahmsweise eine Analogie im Steuerrecht bejaht werden kann, so wird in der österreichischen Literatur festgestellt, daß eine diesbezügliche Steuerverkürzung einer strafrechtlichen Würdigung nicht zugänglich sei. Dies gebiete das strafrechtliche Analogieverbot, das sich auch auf die Steuerverkürzung erstrecke, weil der Steuertatbestand Bestandteil des Straftatbestandes sei. 18 Jedoch ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch in Österreich wiederholt in der Rechtsprechung herangezogen worden. Ihre Niederlegung, soweit sie sich auf die wirtschaftliche Sachverhaltsbeurteilung bezieht,19 findet sich in § 21 Β AO. 2 0 Sie führt methodisch in der Auslegung des VfGH 21 letztlich zu einer Analogie, um im Steuerrecht Gesetzeslücken zu schließen. Gassner 22 hat hieran heftige Kritik geäußert, die sich auf wenige prägnante Angriffspunkte zusammenfassen läßt: Derartige Sondermethoden haben danach eine Tendenz zur Rechtsfindung aus dem Sachverhalt. Sie gelangen in Weiterentwicklung rechtssoziologischer Methoden zu einer wirtschaftlichen Würdigung und Bewertung des Sachverhaltes. Sie laufen weiterhin Gefahr, in freie Rechtsschöpfung überzugehen. Ferner ziehen sie einen Hang zur Methodenunehrlichkeit und zu Scheinbegründungen nach sich. 16 Der Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 B-VG heißt: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden." 17 VfGH Erk. v. 20. 06. 1994, VfSlg. 13785/1994, Egrd. III. 1. a). Siehe auch VfGH Erk. v. 02. 07. 1982, VfSlg. 9475 /1982, Egrd. II. 1. c) bb). 18 Leitner, Roman, Aktuelle Fragen zur Bindungswirkung Abgaben verfahren - Finanzstrafverfahren, in: ders., Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 65, 73. 19 Im übrigen ist auf allgemeine Grundsätze auszuweichen, sofern auch bei der Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrundezulegen ist. Näher: Schimetschek, Bruno, Das Steuerrecht im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Betrachtungsweise und Zivilrecht, FJ 1978, 81, 86; Weinzierl, Emil, Bemerkungen zur „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" im Steuerrecht, FJ 1980, 166, 167. 20 § 21 Abs. 1 Β AO lautet: „Für die Beurteilung abgabenrechtlicher Fragen ist in wirtschaftlicher Betrachtungsweise der wahre wirtschaftliche Gehalt und nicht die äußere Erscheinungsform des Sachverhaltes maßgebend." 21 VfGH Erk. v. 09. 06. 1984, 10028/1984, Egrd. II, a. E. zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise beim Kapitalverkehrssteuergesetz. 22 Gassner, Wolfgang, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, S. 98 ff.
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Werndl schließlich fordert, daß sich die wirtschaftliche Betrachtung als Auslegungsgesichtspunkt an die Grenzen zu halten hat, die jeglicher Gesetzesauslegung gezogen sind. 23 Die unterschiedlichen Methodenbeschränkungen und Rechtsgewinnungsmethoden im Blankettstraftatbestand und in der ausfüllenden Norm führen auch in Österreich zur Forderung nach der Aufspaltung je nach Materie parallel zu der hier vertretenen Normspaltung im deutschen Recht. 24 Verweisungen im strafrechtlichen Bereich haben nach der Rechtsprechung des VfGH 25 sicherzustellen, daß die Strafnorm von vornherein einsehbar ist, der Straftatbestand unmißverständlich formuliert ist, die Strafdrohung voraussehbar ist und das Strafmaß eindeutig festgelegt ist. Maßstab hierfür sind neben Art. 18 Abs. 1 B-VG auch die in Österreich mit Verfassungsrang ausgestatteten Vorschriften des Art. 6 Abs. 1 EMRK („fair hearing ") und Art. 7 Abs. 1 EMRK (Gesetzmäßigkeit der Strafdrohung). Finanzstrafrechtliche Bestimmungen wurden bislang jedoch nicht beanstandet. Eine ausdrückliche Garantie des „nulla poena "-Satzes enthält die B-VG hingegen nicht. Lediglich die einfachgesetzliche Bestimmung des § 1 Abs. 1 StGB enthält ein ausdrückliches Verbot. Lewisch wirft dem ursprünglich als Verfassungsbestimmung gedachten § 1 Abs. 1 StGB vor, nur eine Scheingarantie abzugeben, die keinen Schutz gegen den Strafgesetzgeber abgebe, da die Vorschrift jederzeit durch nachfolgende einfache Gesetze geändert werden kann. 26 Lewisch führt jedoch indirekte Absicherungen des „nulla poena "-Satzes in der österreichischen Verfassung an. So soll das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 83 Abs. 2 B-VG und das Recht auf Eigentum und persönliche Sicherheit ein Verbot der Bestrafung ohne gesetzliche Grundlage begründen. Auch in Österreich kann bei einem schuldhaft begangenen Finanzvergehen noch Straffreiheit erlangt werden, wenn rechtzeitig Selbstanzeige erstattet wird. § 29 FinStrG 27 sieht diese Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige vor. Der österreichische VfGH 2* hat es für verfassungsrechtlich geboten erachtet, daß selbst in Fällen landesrechtlicher Verstöße, in denen § 29 FinStrG zunächst nicht greift, aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbezichtigungsverbot die Straffreiheit nach einer dennoch erstatteten, der Offenbarungspflicht entsprechenden Selbstanzeige folge.
23
Werndl, Josef, Zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, FS f. Friedrich Koja, S. 635, 650. 24 Lewisch, Peter, Verfassung und Straftat, S. 77. 25 VfGH Erk. v. 13. 12. 1991, VfSlg. 12947/1991, Egrd. 9 a) bis d). 26
Lewisch, Peter, Verfassung und Strafrecht, S. 58 f. § 29 Abs. 1 FinStrG heißt: „Wer sich eines Finanzvergehens schuldig gemacht hat, wird insoweit straffrei, als er seine Verfehlung der zur Handhabung der verletzten Abgaben- oder Monopolvorschrift zuständigen Behörde oder einer sachlich zuständigen Finanzstrafbehörde darlegt (Selbstanzeige). Eine Selbstanzeige ist bei Betretung auf frischer Tat ausgeschlossen." 28 VfGH Erk. v. 16. 10. 1997, VfSlg. 14987 /1997, Egrd. II 1 a). 27
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
Die Voraussetzungen der Selbstanzeige entsprechen weitgehend den deutschen Bestimmungen. Bei einer unvollkommenen Darlegung erlangt die Selbstanzeige eine Teilwirkung, indem der Täter „insoweit" straffrei wird. 29 Eine Sperrwirkung tritt jedoch bereits ein, wenn Verfolgungsmaßnahmen gegen den Täter oder einen Beteiligten eingesetzt haben. Bei Beginn einer behördlichen Nachschau oder Prüfung von Büchern muß die Selbstanzeige spätestens abgegeben werden. 30 Auf das Motiv der Selbstanzeige kommt es auch in Österreich nicht an. Das österreichische Steuerstrafverfahren steht vor dem gleichen Konflikt, der sich aus der unterschiedlichen Mitwirkungspflicht in Steuer- und Strafverfahren ergibt. Dieser wird dadurch verschärft, daß in Finanzstrafvergehen erst ab einer Verkürzungshöhe von 1.000.000 ÖS die Gerichte entscheiden, darunter ein Spruchsenat oder ein Einzelorgan des Finanzamts,31 wenn auch die Spruchsenate unabhängig und frei von Weisungen gestellt sind. Vor den Gerichten werden nur 2 % der Finanzstrafverfahren ausgetragen.32 Der Interessenkonflikt zwischen Mitwirkungspflicht und Schweigerecht ist auch im österreichischen Recht nur unbefriedigend gelöst. § 119 Abs. 1 Β AO bestimmt, daß der Abgabenpflichtige die für den Bestand und Umfang einer Abgabenpflicht oder für die Erlangung abgabenrechtlicher Begünstigungen bedeutsamen Umstände offenzulegen hat. Die Offenlegung muß wahrheitsgemäß und vollständig erfolgen. Demgegenüber erklärt § 84 Abs. 2 FinStrG, daß Beschuldigte und Nebenbeteiligte zur Beantwortung der an sie gestellten Fragen nicht gezwungen werden können. Der Regelfall der Praxis ist es jedoch, daß die im Abgabenverfahren erzwungene Selbstbeschuldigung ungehindert Eingang in das Finanzstrafverfahren findet. 33 Die sich hieran anschließende verfassungsrechtliche Diskussion ist durch folgende Positionen gekennzeichnet: Die Rechtsprechung des VfGH hat in mehreren Entscheidungen mit dem „ Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung " ein neues Grundrecht geschaffen. 34 Dem in Art. 90 Abs. 2 B-VG enthaltenen Prinzip des Anklageprozesses seien auch Grundsätze immanent, die sich auf die Rechtsposition des Beschuldigten im Verfahren beziehen. Dies beinhalte die Forderung, daß der Beschuldigte nicht nur Objekt des Verfahrens sei, sondern Subjekt und damit Prozeßpartei. Mit dieser Parteistellung aber sei es unvereinbar, daß der Beschuldigte durch physischen oder psy29
Neuner, Kurt, Henzl, Pipin / Neuner, Michael, Verteidiger-Handbuch zum finanzbehördlichen Strafverfahren, S. 120. 30 Nolz, Wolfgang / Laukota, Helmut, Die österreichischen Steuern in der Praxis II, Rn. 1104. 31 Hierzu weiterführend: Nolz, Wolfgang/Laukota, Helmut, a. a. O. (Fn. 30), Rn. 1123; Anzensberger, Werner, Finanzstrafrecht und MRK, S. 87. 32 Plückhahn, Otto, Das österreichische Finanzstrafrecht, wistra 1988, 1,1. 33 Neuner, KurtIHenzl, YvpinlNeuner, Michael, a. a. O. (Fn. 29), S. 49. 34 Besonders deutlich wird dies aufgrund eines Falles zum Finanzstrafrecht in dem VfGH Erk. v. 03. 12. 1984, VfSlg. 10291 /1984, Egrd. 3.4.4.; zuletzt im Erk v. 16. 10. 1997, VfSlg. 14987 /1997, Egrd. I I 1 a).
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chischen Zwang zu einer Aussage veranlaßt wird. Neben dem objektiven Gehalt dieses Prinzips seien damit gleichzeitig subjektive Rechte verbunden. Art. 90 Abs. 2 B-VG garantiert demnach ein Grundrecht. Dies ist nicht nur im gerichtlichen Verfahren, sondern selbst im Verwaltungsstrafverfahren gewährleistet. 35 Das Grundrecht steht nicht unter einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt, wenn es auch nicht schrankenlos sein kann, sondern immanenten Schranken unterliegt. 36 Ob die traditionelle Judikatur übertragen werden kann, wonach ein Grundrechtseingriff nur vorliegen soll, wenn eine Maßnahme intentional auf eine Beschränkung abzielt, ist zweifelhaft. Teile der Literatur leiten der Rechtsprechung folgend ein Aussageverweigerungsrecht aus Art. 90 Abs. 2 B-VG 3 7 ab. Der dort verfassungsrechtlich normierte Anklagegrundsatz beinhalte, wie seine verfassungspolitische Entwicklung zeige, die Vorstellung, daß der Angeklagte nicht Objekt des Verfahrens, sondern Prozeßpartei ist. 38 Der Verfassungsgeber habe mit der Bestimmung die geschichtliche Entwicklung aufgenommen, in deren Verlauf der Angeklagte aus humanitären Gründen nicht mehr verpflichtet wurde, an seiner eigenen Tatüberführung mitzuwirken. 39 Das Grundrecht, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, könne, so wird gesagt, heute als fester Bestandteil des österreichischen Grundrechtskataloges angesehen werden. 40 Nach anderer Ansicht soll das Recht zutreffender auf Art. 6 EMRK zu stützen sein.41 Als Folge davon könne der Abgabenpflichtige seine Aussage insoweit verweigern, als er sich finanzstrafrechtlich selbst beschuldigen müßte.42 Ein bloßes Beweisverwertungsverbot stelle keine überzeugende Lösung dar, weil man nicht realistisch annehmen könne, daß ein einmal erlangtes Wissen durch das erkennende Organ aus dem Bewußtsein verdrängt werden könne. Vielmehr würde man den Richter damit überfordern. 43 Demgegenüber findet sich die Ansicht, 44 daß neben 35 Krit. Walter, Robert/Mayer, Heinz, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, Rn. 786, der in Art. 90 Abs. 2 B-VG nur eine formelle Vorschrift sieht. Danach sei nur eine Art des Strafverfahrens vorgeschrieben, bei der die Funktionen von Ankläger und Richter getrennt sind. 36
Thienel, Rudolf, Anklageprinzip und Zeugnisentschlagungsrecht, S. 39. Art. 90 Abs. 2 B-VG lautet wörtlich: „Im Strafverfahren gilt der Anklageprozeß." 38 Stoll, Gerold, Die Erfüllung abgaben verfahrensgesetzlicher Erklärungs-, Offenlegungsund Wahrheitspflichten als unzulässige finanzstrafrechtliche Selbstbeschuldigung, ÖStZ 1985, 122, 127. Ihm zustimmend: Harbich, Heribert, Bundesabgabenordnung und Finanzstrafgesetz, FS f. Franz Pallin, S. 97, 114. 39 Seiler, Stefan, Die Stellung des Beschuldigten im Anklageprozeß, S. 17. 40 Öhlinger, Theo, Das Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung: ein neues Grundrecht in der Rechtsprechung des VfGH, FS f. Hans R. Klecatsky, S. 193, 196. 41 Mayer, Heinz, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht, Art. 90 B-VG, Anm. III. 42 Beiser, Reinhold, Umfang und Grenzen der Mitwirkungspflicht im Abgabeverfahren, ÖStZ 1991, 102, 106. 43 Stoll, Gerold, a. a. O. (Fn. 38), ÖStZ 1985, 122, 125, ebenda in Fn. 19. 37
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
einem Verbot eines Aussagezwanges gleichzeitig ein Beweisverwertungsverbot bestehe, weil nur so ein sinnvoller Ausgleich zwischen den öffentlichen Interessen auf Aussage und dem Grundrecht des Betroffenen, nicht zu einer Aussage gegen sich selbst gezwungen zu werden, vorgenommen werden kann. Die Vertreter dieser Ansicht räumen ein, daß letztlich das Verbot der Selbstbeschuldigung nur durchgesetzt werden könne, wenn auf Zwangsmittel im Abgabenverfahrensrecht verzichtet werde. Denn anderenfalls gerate der Steuerpflichtige in das Dilemma, die Finanzbehörde auf die Gefahr der Selbstbeschuldigung selbst hinweisen zu müssen, was einer Selbstbeschuldigung gleichkäme.45 Zur praktischen Auflösung des Konfliktes zwischen dem so entwickelten Aussageverweigerungsrecht und den steuerlichen Mitwirkungspflichten wird empfohlen, Steuervergehen nicht durch eine strafrechtliche Repression, sondern durch Abgabenerhöhungen mit Strafcharakter zu ahnden.46 Dieser Vorschlag ist auf erheblichen Widerspruch gestoßen. Es wird hieran kritisiert, 47 daß solche Strafsteuern im Hinblick auf die verwirklichte Schuld nicht differenzieren. Sie seien auch ab einer gewissen Größenordnung verfassungsrechtlich als Strafe anzusehen und somit den Anforderungen einer Strafe zu unterwerfen. Eine Kollision von abgabenrechtlichen und strafrechtlichen Verfahrensvorschriften sei schon gar nicht vorhanden, da das Verbot eines Zwanges zur Selbstbezichtigung gewahrt bleibe. Daß abgabenrechtliche Nachteile für den Betroffenen entstehen könnten, wenn er schweige und somit eine Schätzung seiner Abgaben in Kauf nehme, sei vom „nemo tenetur"-Gebot nicht umfaßt. Der Einsatz von Zwangsmitteln im Besteuerungsverfahren stehe im Ermessen der Behörde, so daß diese in Fällen vorangegangener Finanzvergehen von der Androhung und Verhängung von Zwangsstrafen nach § 111 Β AO absehen könne. Die Bindung des Finanzstrafverfahrens an rechtskräftige Abgabenbescheide war Gegenstand einer Kontroverse der österreichischen höchstrichterlichen Rechtsprechung 48 : Der OGH hatte eine absolute Präjudizialität im Hinblick auf die Abgabenschuld wegen § 55 FinStrG bejaht, 49 obgleich der Wortlaut hierfür nichts hergab, und
44 Thienel, Rudolf, a. a. O. (Fn. 36), S. 49. Zweifelnd hingegen Öhlinger, Theo, Das Recht auf Parteistellung im Strafverfahren, im besonderen das Recht, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen, in: Rudolf Machacek, Grund- und Menschenrechte in Österreich, S. 767, 778, der das Anklageprinzip bei einer späteren Beweisverwertung nicht gefährdet sieht. 45 Leitner, Roman, Grundzüge des österreichischen Finanzstrafrechts, S. 291. 46 Harbich, Heribert, a. a. O. (Fn. 38), S. 97, 118. 47 Plückhahn, Otto, Über den vermeintlichen Zwang zur finanzstrafrechtlichen Selbstbeschuldigung durch Erfüllung der abgabenrechtlichen Offenlegungs- und Wahrheitspflicht, ÖStZ 1992, 237, 240. 48 Zum Meinungsstand: Dorait, Werner I Ruppe, Hans Georg, Grundriß des österreichischen Steuerrechts II, S. 235; Neuner, Kurt, Zur Frage der Bindung des Strafgerichtes oder der Finanzstrafbehörde an einen rechtskräftigen Abgabenbescheid, ÖStZ 1978, 76, 77.
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sprach dem Beschuldigten das Recht ab, die Abgabenverkürzung im Strafverfahren zu bestreiten. § 55 FinStrG war danach Spezialvorschrift zu § 5 der (österreichischen) StPO, wonach dem Strafrichter die Vorfragenkompetenz eingeräumt war. Die Absicht des Gesetzgebers war es, das Finanzstrafverfahren von der Bemessung von Abgaben freizuhalten. Möchte der Abgabenpflichtige nachträglich Einwendungen gegen die Festsetzung des Abgabenbetrages erheben, so ist er auf eine Wiederaufnahme des vorangegangenen Abgabenverfahrens verwiesen. Diese Bindung soll selbst bei einer Schätzung nach § 184 Abs. 1 BAO gelten, da auch hier das Amtsermittlungsprinzip gelte. Gegen eine Bindung könne auch nicht eingewandt werden, daß Teilnehmer an einer Finanzstraftat nicht auf das vorausgehende Abgabenverfahren Einfluß nehmen konnten, wenn sie sich nach den Verfahrensvorschriften der BAO beteiligen konnten. Als Argument wird ferner angeführt, das Gebot der „Einheit der Rechtsordnung " 5 0 führe zwingend zu einer Bindung 51 und das Wesen der Kompetenzverteilung innerhalb der staatlichen Aufgabenerfüllung ziehe diese als Konsequenz nach sich. § 55 FinStrG wurde zwischenzeitlich im Jahr 1996 vom Gesetzgeber gestrichen. Als einfachgesetzliche Norm hätte er die verfassungsrechtliche Diskussion ohnehin nicht klären können. Noch zuvor hat der OGH in einem verstärkten Senat eine Kehrtwendung seiner Rechtsprechung vollzogen und die Bindungswirkung aufgegeben. 52 Der österreichische VfGH war der nunmehr aufgegebenen Rechtsauffassung des OGH mit dem Hinweis entgegengetreten,53 daß eine Bindung an die Entscheidung der Abgabenbehörde einerseits gegen den Grundsatz der amtswegigen Sachverhaltsermittlung verstößt und andererseits der Unschuldsvermutung des Betroffenen zuwiderläuft. Im übrigen sei es schon aus zwingenden Gründen des (einfachgesetzlichen) Finanzstrafgesetzes, insbesondere §§98 Abs. 3 und 115 FinStrG, geboten, den Sachverhalt erneut zu ermitteln, eine Bindung ergebe sich aus keiner denkmöglichen Gesetzesauslegung.
49 § 55 (entspricht § 54 a. F.) FinStrG lautete: „Im Strafverfahren wegen Hinterziehung oder wegen fahrlässiger Verkürzung von veranlagten Abgaben vom Einkommen oder vom Vermögen, von Gewerbesteuer (mit Ausnahme der Lohnsummensteuer), von Umsatzsteuer oder von Abgabe von alkoholischen Getränken darf, soweit es sich um ein verwaltungsbehördliches Finanzstrafverfahren handelt, die mündliche Verhandlung, soweit es sich um ein gerichtliches Finanzstrafverfahren handelt, die Hauptverhandlung erst durchgeführt werden, wenn das Ergebnis der rechtskräftigen endgültigen Abgabenfestsetzung für den Zeitraum vorliegt, den die strafbare Tat betrifft." 50 Str. ist, ob es in diesem Zusammenhang ein solches verfassungsrechtliches Gebot überhaupt gibt, a. A. Werndl Josef, Zur Bindung der Strafgerichte (Finanzstrafbehörden) an Bescheide, JB1 1991, 356, 362. 51 Eine ausführliche Zusammenstellung der Rechtsprechung des OGH hierzu findet sich bei Sommergruber, Wolfgang / Reger, Franz, Das Finanzstrafgesetz, § 55 FinStrG, Anm. 1 ff. 52 OGH Erk. v. 21. 11. 1991, 13 0s 127/90, JB1 1992,656,658. 53 VfGH Erk. v. 30. 06. 1977, VfSlg. 8111 /1977; Erk. v. 12. 06. 1982, VfSlg. 9295/1982, Egrd. II 1 b); Erk. v. 03. 12. 1984, VfSlg. 10291 /1984, Egrd. 3.4.1.1.
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
Der österreichische VwGH hatte in seiner früheren Rechtsprechung das Problem dahingehend für sich gelöst, daß von den dem Abgabenbescheid zugrundeliegenden Sachverhaltsannahmen solange auszugehen sei, als der Beschuldigte selbst nicht gewichtige Gründe anführt und verfahrensmäßig erhärtet, die geeignet sind, diese Annahme zu erschüttern. Die somit dem Beschuldigten auferlegte Darlegungs- und Beweislast widerspricht jedoch dem „nemo tenetur"-Gebot und dem Grundsatz „in dubio pro reo". Denn schweigt der Beschuldigte, so darf ihm das nicht zu seinen Ungunsten ausgelegt werden, auch nicht dahingehend, daß er die Entscheidung des Abgabenverfahrens als zutreffend auf sich nimmt. Führt er keinen Beweis, so kann er sich dennoch auf den Zweifelssatz berufen. In der Folge hat der VwGH sodann im Ergebnis eine Bindungswirkung angenommen.54 Der VwGH ist in seiner jüngeren Rechtsprechung hiervon wieder abgewichen und hält nun stets eine eigenständige Sachverhaltswürdigung ohne Einschränkungen für erforderlich. Insbesondere in Fällen von Finanzstraftätern, die weder als Abgabepflichtiger, Haftungspflichtiger oder Beitrittsberechtigter eine Möglichkeit haben, dem Abgabenverfahren beizutreten, verstößt es gegen elementare Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens die Abgabenfestsetzungen anderer Personen als für das gegen den Finanzstraftäter angestrengte Finanzstrafverfahren präjudiziell zu qualifizieren. Die Literatur hat sich weitgehend dem angeschlossen und sieht in einer strikten Bindung einen Verstoß gegen den Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung, der in Art. 94 B-VG verankert ist. 55 Auch die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK wird als Argument angeführt. 56 Zum Teil wird differenziert zwischen Umständen rechtlicher und tatsächlicher Natur, die in beiden Verfahren von Bedeutung sind. 57 Bei rechtlichen Vorfragen dürfe es keine unterschiedliche Behandlung geben, demgegenüber müsse bei tatsächlichen Fragen unterschieden werden zwischen der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung. Die Übernahme von einzelnen Beweismitteln des vorangegangen Abgabenverfahrens sei nicht ausgeschlossen, stets müsse aber eine eigene, den strafrechtlichen Anforderungen gerecht werdende Beweiswürdigung vorgenommen werden. Gegenüber der Übernahme von Ergebnissen des abgabenrechtlichen Verfahrens bestehen besondere Bedenken, wenn diese Ergebnisse auf Schätzungen beruhen. Hier ist anerkannt, daß es der Grundsatz des „ in dubio pro reo " erfordert, weitere Ermittlungen anzustellen und die im Abgabenverfahren angewandten Schätzmethoden erst nach einer Einzelfallprüfung zu übernehmen. Keinesfalls genügt es, steuerliche Ansätze lediglich um Sicherheitsabschläge zu vermindern. 58 54 55
Zur Kritik m. w. N. Koch, Oliver, Das effiziente Finanzstrafverfahren, S. 8 f. Kotschnigg, Michael, Steuerliche Schätzungen im Finanzstrafverfahren, ÖStZ 1991,49,
51. 56 Werndl, Josef, a. a. O. (Fn. 50), JB1 1991, 356, 359. 57 Wais, Werner, Zur Bedeutung rechtskräftiger Abgabenbescheide im Finanzstrafverfahren, ÖStZ 1978,213,214.
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Leitner vertritt insoweit eine vermittelnde Lösung, 59 als er eine Minimalbindung an bestandskräftige Abgabenbescheide fordert. Nur solange die strafrechtlichen Verfahrensgarantien gewahrt bleiben, sei eine Bindung zu bejahen. Auch die typisierende Betrachtungsweise ist ebenso wie der Typus 60 im österreichischen Steuerrecht anerkannt, wenn auch die Rechtsprechung des VwGH vorsichtiger als der RFH argumentiert. Sie wird als Art der Sachverhaltsbeurteilung verstanden, bei der der Sachverhaltsermittlung die normalen oder durchschnittlichen Verhältnisse zugrundegelegt werden. 61 Es finden sich jedoch Gegenstimmen, die in der typisierenden Betrachtungsweise einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 1 BVG (Bindung der Vollziehung an das Gesetz) sehen.62 Das Rechtsstaatsprinzip und die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung mache eine Auslegung contra legem unzulässig. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, Steuervorschriften zu vereinfachen und den Gesetzesanwender zu entlasten. Der Gesetzesanwender hingegen sei zu einer Selbsthilfe durch Typisierung nicht berechtigt. 63 Das Steuerrecht sei nicht anders zu behandeln als andere Rechtsgebiete. Soweit ein Steuertatbestand zu beurteilen sei, müsse ihm der tatsächliche Sachverhalt zugrundegelegt werden. Schwierigkeiten hierbei stellen Interpretationsprobleme dar, die nach den allgemeinen Regeln zu lösen seien.
B. Schweiz Das geltende Steuerstrafrecht der Schweiz ist auch nach seiner Harmonisierung dem Vorwurf ausgesetzt, durch ein „Gestrüpp von kantonalen und eidgenössischen Vorschriften" 64 gekennzeichnet zu sein. Das Nebeneinander des Steuerstrafrechts des Bundes und der Kantone führt zu einer Vielzahl von Verfahren, die teils nebeneinander, teils nacheinander gegen einen Täter angestrengt werden, der mit seiner Tat zugleich kantonale wie eidgenössische Straftatbestände erfüllt. Diese Intransparenz hat zur Konsequenz, daß sowohl eine angemessene Bestrafung des Täters gefährdet erscheint, zum anderen aber Wertungswidersprüche auftreten, weil ein Gesamtkonzept fehlt. Im folgenden wird weitestgehend vom Steuerstrafrecht des 58 Kotschnigg, Michael, a. a. O. (Fn. 55), ÖStZ 1991, 49, 53 m. w. N. auf die Rechtsprechung. Ihm folgend: Leitner, Roman, a. a. Ο. (Fn. 18), S. 65,70. 59 Leitner, Roman, a. a. O. (Fn. 16), S. 65, 78 f. 60 Zu letzterem vgl. Stoll, Gerold, Bundesabgabenordnung, § 21 BAO, Anm. 4 b). Inhalt und Bedeutung entsprechen weitestgehend dem deutschen Recht. 61 Hinweise auf Literatur und Rechtsprechung finden sich bei Gassner, Wolfgang, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, S. 53 f. 62 Gassner, Wolfgang, Interpretation und Anwendung der Steuergesetze, S. 67. 63 Krit. auch Simandl, August, Die typisierende Betrachtungsweise im Steuerrecht, FJ 1973, 101,103. 64 Zweifel, Martin, Für eine Revision des harmonisierten Steuerstrafrechts, ST 1993, 608, 608.
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
Bundes ausgegangen, das insbesondere auf dem Gebiet der indirekten Steuern ein modernes Strafrecht zur Basis hat. In der Schweiz bestehen im Verfahren wegen Steuerbetruges vor den Strafverfolgungsorganen im Recht der direkten Bundessteuern keine Mitwirkungspflichten des beschuldigten Steuerpflichtigen, Auskünfte zu erteilen oder Beweismittel beizubringen. Begründet wird dies mit der Unschuldsvermutung des Beschuldigten. Seine fehlende Mitwirkung darf ihm nicht negativ ausgelegt werden. Strittig ist jedoch, ob bei Mitwirkungsverweigerung im administrativen Hinterziehungsverfahren vor den Steuerbehörden, welches beim minder schweren Steuerdelikt der Steuerhinterziehung zur Anwendung gelangt oder auch parallel zu einem Strafverfahren wegen Steuerbetruges wegen tateinheitlicher Steuerhinterziehung, eine Ordnungsbuße wegen Nichtbefolgung behördlicher Anordnungen auferlegt werden darf. 65 Hintergrund ist ein Verständnis, wonach das Hinterziehungsverfahren als reines Steuerverfahren angesehen wird und dementsprechend die steuerlichen Mitwirkungspflichten bejaht werden. 66 Dieses Verfahren ist durch eine fehlende Trennung zwischen der rein abgabenrechtlichen Steuernachforderung und dem mit Strafcharakter versehenen Verfahren wegen Steuerhinterziehung charakterisiert, was zu nicht unbedenklichen Folgerungen führt. So entscheidet kein unabhängiges Verwaltungsgremium über die Tat. 67 Andererseits sehen die Verfahrensvorschriften für den speziellen Bereich des Verwaltungsstrafrechts vor, daß zunächst über die (abgabenrechtliche) Leistungsoder Rückleistungspflicht, die dem Strafverfahren zugrundeliegt, rechtskräftig, gegebenenfalls bis zum Bundesgericht zu entscheiden ist, bevor das gerichtliche Strafverfahren beginnen kann. 68 Hat nur die Steuerbehörde entschieden und erkennt das Strafgericht offenkundige Gesetzesverstöße, kann es zur erneuten Entscheidung an die Verwaltungsbehörde zurückverweisen. Die herrschende Lehre 69 bejaht ein Aussageverweigerungsrecht des Steuerdelinquenten schon im Besteuerungsverfahren, weil Art. 6 Abs. 2 EMRK, der als Rechtsgrundlage genannt wird, im Ergebnis leerlaufen würde, wenn der Betroffene stets in dem vorhergehenden Nachsteuerverfahren zur Mitwirkung gehalten wäre und somit sein Wissen preisgeben müßte, im anschließenden Strafverfahren jedoch erst sein Schweigerecht beanspruchen könnte. Dabei wird freilich eingeräumt, daß Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht ohne weiteres in einem reinen Verwaltungsverfahren ohne Kriminalstrafe Anwendung finden kann. Aber gerade im Hinblick darauf, 65 Zweifel, Martin, Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Steuerhinterziehungsverfahrens vor Verwaltungsbehörden, FS f. Francis Cagianut, S. 224, 238 f. m. w. N. 66 Derksen, Hans Peter, Ermittlung des Umfangs hinterzogener Steuern in Steuerstrafverfahren, ST 1987,499, 500. 67 Schwarz, Helmut, Rechtswegautonomie zwischen Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren: eine rechtsvergleichende Untersuchung, S. 96. 68 Schwarz, Helmut, a. a. O. (Fn. 67), S. 102. 69 Nachweise bei Casanova, Hugo, Die Nachsteuer, ASA 68 (1999), 1, 14.
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daß das Schweigerecht einen Ausgleich zu den umfassenden Untersuchungsmitteln der Verfolgungsbehörden bieten soll, wird vorgebracht, daß ein Ungleichgewicht nur durch eine Erstreckung des Schweigerechtes auf das Besteuerungsverfahren vermieden werden könne. 70 Demgegenüber hält das Bundesgericht 71 selbst im Hinterziehungsverfahren eine Auskunftspflicht mit der Begründung aufrecht, daß ohne Mitwirkungspflicht das bisherige Steuersystem ernsthaft in Frage gestellt sei und es daher ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht geben dürfe. Ebenfalls aus der Unschuldsvermutung wird die Unzulässigkeit einer sogenannten Ermessensveranlagung („Ermessenstaxation ") gefolgert, d. h. der Schätzung eines nicht aufklärbaren Sachverhalts. Sie würde zu einer Umkehrung der Beweislast führen 72 und ist daher jedenfalls auf Bundesebene unzulässig. Denn das Nachsteuerverfahren, in dem in der Schweiz die Höhe der hinterzogenen Steuer bemessen wird, ist seiner Natur nach ein strafrechtliches und kein steuerliches Verfahren. Deswegen müssen strafrechtliche Verfahrensregeln zur Anwendung kommen.73 Nicht beanstandet wird aber die sogenannte Einschätzung nach Aufwand. Trotz gründlicher Sachverhaltsaufklärung läßt sich hier nicht begründen, warum der Aufwand die Einkünfte übersteigt, so daß der Schluß auf eine Hinterziehung naheliegt. Im schweizerischen Fiskalstrafrecht galt seit jeher unbestritten der Grundsatz des „nulla poena sine lege", der aus dem früheren Art. 4 Abs. 1 der Schweizer Bundesverfassung mit Verfassungsrang abgeleitet wird; er findet sich daneben in Art. 7 EMRK. 7 4 Gegenüber diesem materiellen Legalitätsprinzip wird das prozessuale Legalitätsprinzip, welches im deutschen Recht als Gegenbegriff zum Opportunitätsprinzip behandelt wird, vereinzelt weitaus weniger streng verstanden. Die wohl überwiegende Auffassung führt zu dessen Herleitung die mangelnde Rechtssicherheit, die Gefahr einer willkürlichen Auslegung und die Abschwächung der präventiven Wirkung zur Begründung an. Grundsätzlich ist auch in der Schweiz anerkannt, daß es jedem schweizerischen Steuerpflichtigen freisteht, sich so zu verhalten, daß eine möglichst geringe Steuer70 Eichenberger, Evelyn, Nachsteuer- und Steuerstrafverfahren unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung, Steuer Revue/Revue fiscale 1999, 9, 16 f. 71 Urt. v. 07. 07. 1995, BGE 121 II 273, 281, Erw. 3. 72 Zweifel, Martin, a. a. O. (Fn. 65), S. 239. 73 Berksen, Hans Peter, Ermittlung des Umfangs hinterzogener Steuern in Steuerstrafverfahren, ST 1987,499, 502. Berksen kritisiert mit Recht, daß die Rechtsprechung hierzu kaum Stellung bezogen hat, obgleich sich kantonale Regelungen (Luzem) finden, nach denen im Nach- und Strafsteuerverfahren die Ermessensveranlagung zulässig ist. In der Literatur ist dies nicht unbestritten. Nach a.A. soll dem Nachsteuerverfahren, welches den Zweck einer Richtigstellung einer fehlerhaften Veranlagung hat, keine pönale Funktion zukommen. In diesem Sinne Eichenberger, Evelyn, Nachsteuer- und Steuerstrafverfahren unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung, Steuer Revue /Revue fiscale 1999, 9, 12. 74 Michael Peter Johannes, Der Steuer- und Abgabebetrug im schweizerischen Recht, S. 24.
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
last anfällt. 75 Steuerlicher Gestaltungsmißbrauch jedoch wird in der Schweiz für Zwecke der Besteuerung nicht anerkannt. Zwar enthalten lediglich einzelne Steuergesetze dem deutschen § 42 AO entsprechende Bestimmungen, die Finanzverwaltung hält sich jedoch auch ohne diese dazu berufen, Steuerumgehungen den Erfolg zu versagen, 76 obgleich insbesondere im Bundesrecht für die direkten Steuern eine gesetzliche Umschreibung der Steuerumgehung fehlt. 77 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts verfolgt auch ohne gesetzliche Festlegung einen der Außentheorie folgenden Standpunkt.78 Dies ist nicht unbedenklich, weil die dogmatische Einordnung unklar geblieben ist. 79 Cagianut 80 ist dem entgegengetreten mit der Forderung, daß eine Besteuerung zu unterbleiben habe, soweit eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage fehle, da dies der Grundsatz der Legalität der Besteuerung gebiete. Besonders den Begriff der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" hält er eher für schädlich als nützlich, weil er den Anschein erwecke, es gebe neben den üblichen Auslegungsmethoden eine spezifisch steuerrechtliche Methode, mit der sich Umgehungsfragen lösen ließen.81 Das Bundesgericht verfolgt jedoch eine andere Linie. Die in Deutschland vorherrschende Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung wird in der Schweiz auch von weiten Teilen der Wissenschaft nicht geteilt. Viele Fachvertreter sehen im Gesetzeswortlaut keine klare Grenze. Dadurch sei es möglich, das Problem der Steuerumgehung bereits früher durch ,»richtige" teleologische Auslegung zu erfassen. Die Wortlautgrenze sei ohnehin nicht überzeugend festzustellen. Damit sei auch ein Analogieverbot entgegen der tradierten schweizerischen Lehre nicht zu begründen. 82 Die neuere schweizerische Doktrin erblickt deshalb im Normsinn und nicht im Wortlaut die maßgebliche Grenze einer Auslegung.83 Allerdings verlangt die Annahme einer Steuerumgehung eine „beachtliche" Steuerersparnis. 84 Diese muß subjektiv von der Absicht der Steuerersparnis getra75
Locher, Peter, Grenzen der Rechtsfindung im Steuerrecht, S. 191. Hensel, Nikolaus, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 6 Steueranpassungsgesetz, S. 30. 77 Cagianut, Francis, Grundsätzliche Gedanken zur rechtlichen Würdigung der Steuerumgehung, FS f. Otto K. Kaufmann, S. 249, 252. 78 Dazu Gassner, Werner, Wirtschaftliche Betrachtungsweise und Gestaltungsmißbrauch, FS f. Ernst Höhn, S. 65, 81, m. w. N. auf die Rechtsprechung. 79 Locher, Peter, a. a. O. (Fn. 75), S. 193; kritisch auch schon Ackermann, Achilles, Bedeutung und Grenzen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Einkommens- und Vermögenssteuerrecht, S. 154. 8 0 Cagianut, Francis, a. a. O. (Fn. 77), S. 249, 253. 76
81
Hierzu aber a.A. Läubli, Bernhard Walter, Die Steuerumgehung, S. 48 f., der zwar in der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" keine eigene Auslegungsmethode sieht, diese jedoch als ein Mittel zur Erfassung des steuerrechtlich richtigen Sachverhaltes bei Vorliegen einer Steuerumgehung auffaßt. 82 Locher, Petei; a. a. O. (Fn. 75), S. 109 f., 115 f., Vallender, Klaus, Die Auslegung des Steuerrechts, S. 61 f. 83
Locher, Peter, Auslegung des schweizerischen Rechts, StVj 1992, 193, 201.
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gen sein. Objektiv genügt die Ungewöhnlichkeit und Sachwidrigkeit der Gestaltung, wenn diese gegen Treu und Glauben verstößt. 85 Anerkannt ist, daß der bloße Wille zur Steuerersparnis nicht Gegenstand eines Steuerdeliktes sein kann. Das Gebot von Treu und Glauben verpflichtet jedoch auch im Öffentlichen Recht den Bürger, sich gegenüber den Steuerbehörden und dem Gemeinwesen loyal zu verhalten. Die Rechtsprechung ist dieser von Blumenstein und seinen Schülern vertretenen Lehre gefolgt, wonach stets die drei Elemente „subjektives Element" (Umgehungsabsicht), „objektives Element" (ungewöhnliche Gestaltung) und „effektives Element" (Steuereinsparung) zu fordern sind. 86 Eine Definition der Steuerumgehung, die maßgeblich auf die „Ungewöhnlichkeit" einer Gestaltung abstellt, kann nicht überzeugen. Dieses Kriterium, welches in Deutschland aus guten Gründen inzwischen aufgegeben wurde, verkennt die Dynamik, die einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem innewohnt. Wettbewerbsfähig ist nicht, wer eine gewöhnliche Unternehmensstruktur etwa besitzt, sondern derjenige, der außergewöhnliche Wege geht. Die Gefahr, neue rechtliche Gestaltungen zu verhindern, wird nicht dadurch entschärft, daß die Ungewöhnlichkeit im Einzelfall geprüft wird. 87 Steht für diese Einzelfallprüfung kein begründbares Kriterium zur Verfügung, so vermag die Einzelfallprüfung jedes beliebige Ergebnis hervorzubringen. Regelmäßig problematisch ist darüber hinaus das subjektive Element, da eine Absicht häufig nicht nachzuweisen sein wird. Mit Recht wird kritisiert, daß ein Rechtsstaat sich nicht darauf zurückziehen kann, dieses subjektive Element zu vermuten, weil andernfalls dem Steuerpflichtigen die Beweislast aufgebürdet und eine unbegrenzte Vielzahl von Tatbeständen geschaffen wird. 88 Einzelne Stimmen wollen deshalb auf eine Umgehungsabsicht ganz verzichten. 89 Das Verhältnis der Steuerumgehung zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise wird in der Schweiz unterschiedlich beurteilt. Vielfach wird argumentiert, die Steuerumgehung komme von der Tatbestandsseite her und unterstelle den in Wirklichkeit gewollten Sachverhalt. Im Gegensatz dazu sei die wirtschaftliche Betrachtungsweise eine Durchbrechung des Grundsatzes der Verbindlichkeit der zivilrechtlichen Tatbestandsumschreibung und greife am normativen Teil der Steuerpflicht an. Bemerkenswert ist das von der Rechtsprechung und Lehre entwickelte 84 Schick, Walter, Steuervermeidung - Steuerumgehung - Steuerhinterziehung, WiSt 1976, 325, 328. 85 Hinsichtlich des Meinungsstandes im einzelnen muß auf Zuppinger, Ferdinand, Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Steuerflucht, Steuer Revue /Revue Fiscale 1983, 155, 164, verwiesen werden. 86 Hegglin, Josef, Die Steuerumgehung im schweizerischen Steuerrecht, S. 24 f. 87 Insoweit angreifbar ist Läubli, Bernhard Walter, Die Steuerumgehung, S. 20 f. 88 Cagianut, Francis, Grundsätzliche Gedanken zur rechtlichen Würdigung der Steuerumgehung, FS f. Otto K. Kaufmann, S. 249, 255. 89 Wackernagel, Jacob, Die Steuerumgehung und ihre Verhütung, S. 35 f.
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5. Kap.: Rechtsvergleichung im Raum
Verbot des Methodendualismus, welches besagt, daß eine Vorschrift nicht je nach gewünschtem Ergebnis gleichzeitig unter Zugrundelegung einer zivilrechtlichen und einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise ausgelegt werden darf. 90 Danach ist es nicht zulässig, die Methode beliebig zu wechseln, um zu dem jeweils profiskalischen Ergebnis zu gelangen. Dieses Postulat ist zunächst zu begrüßen, denn es beruht auf Art. 9 Abs. 1 der neuen Schweizer Bundesverfassung. Auf der anderen Seite liegt bei strikter Beachtung dieses Grundsatzes einer ausschließlichen Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise die Tendenz nahe, über eine ausdehnende Auslegung von Steuerrechtsnormen hinaus letztlich Analogiebildung zu betreiben. Es besteht daher die Gefahr, die auch im schweizerischen Steuerrecht geltende Tatbestandsmäßigkeit und das Legalitätsprinzip auszuhebeln. So sieht auch Art. 127 Abs. 1 der neuen Bundesverfassung vor, daß Steuersubjekt, Gegenstand der Steuer und deren Bemessung in den Grundzügen im Gesetz selbst zu regeln sind. Darüber hinaus aber ist unter dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Art. 127 Abs. 2 eine Besteuerung unter Anwendung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zulässig. Die Abgrenzung zwischen strafloser Steuerumgehung und steuerstrafrechtlich relevantem Verhalten liegt nach schweizerischem Verständnis darin, daß der Steuerhinterzieher eine nach den Steuergesetzen geschuldete Steuer nicht entrichtet bzw. deren Veranlagung verhindert, indem er das Vorliegen einer Umgehung verschleiert, wohingegen bei der Steuerumgehung das Zustandekommen des steuerbegründenden Tatbestandes unmöglich gemacht wird. 91 Es kommt dabei darauf an, ob der gesamte Sachverhalt einschließlich seiner Ungewöhnlichkeit der Finanzbehörde offengelegt wird oder ob durch pflichtwidriges Verhalten die Offenlegung gegenüber der Finanzbehörde verhindert wird. Erforderlich ist das Merkmal der Heimlichkeit. Die Abgrenzung gilt jedoch auch in der Schweiz als schwierig, da stets eine Wertung vorzunehmen ist. 92 Da gerade durch die Umgehung Tatsachen relevant werden, die nach dem Wortlaut des Gesetzes für die Besteuerung keine Rolle spielen, ist die Antwort auf die Frage, welche Tatsachen offenbart werden müssen, nur schwer zu finden. Deshalb macht es sich zu einfach, wer die Abgrenzung danach treffen will, ob der Steuertatbestand bei Begehen des inkriminierten Verhaltens bereits bestand und lediglich im Nachhinein seine richtige steuerliche Auswertung verhindert wurde. 93 Kein Steuerpflichtiger, der eine Steuerumgehung 90 Gygi, Fritz, Konsequenz und Inkonsequenz in der Verwendung der Methode der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht, ASA 1966, 337, 338 ff. Gygi hält außerhalb der Steuerumgehung die wirtschaftliche Betrachtungsweise für identisch mit der Auslegung eines Steuerrechtssatzes, sie sei nicht mehr und nicht weniger. 91
Zuppinger, Ferdinand, Steuerrecht I, S. 289. Behnisch, Urs, Das Steuerstrafrecht im Recht der direkten Bundessteuer, S. 5; a.A. ist demgegenüber Meili, Markus, Die Steuerumgehung im schweizerischen Recht der direkten Steuern, S. 15, der der Ansicht ist, die Abgrenzung lasse sich anhand des Kriteriums der Heimlichkeit „verhältnismäßig leicht" vornehmen. 93 So aber Läubli, Bernhard Walter, Die Steuerumgehung, S. 14. 92
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anstrebt, wird die Behörde unter Vorlage von Unterlagen darauf hinweisen, daß er durch eine ungewöhnliche Gestaltung eine Umgehung plane und sie doch sorgfältig prüfen möchte, ob er nicht über den Wortlaut hinaus doch zu besteuern sei. Vielmehr wird er die Auffassung vertreten, daß sein Verhalten nicht steuerbar ist und er somit auch keine Informationen zu liefern hat. Im übrigen ist es niemandem verwehrt, zur Gestaltung seiner steuerlichen Verhältnisse komplizierte gesellschaftsrechtliche Konstruktionen zu wählen. Die Fakten liegen damit häufig auf dem Tisch der Finanzbehörden, sie erkennen jedoch nicht die dahinter stehenden Absichten. Ein Täuschen über die rechtliche Beurteilung eines der Behörde bekannten Sachverhaltes kann nicht strafbar sein, denn die Behörde muß das Recht kennen. De facto ist die Finanzverwaltung personell gar nicht in der Lage, jede komplexe Gestaltung aufzugreifen und bis in alle Einzelheiten auszuleuchten, inwieweit sich hierin ein Gestaltungsmißbrauch finden könnte. Daher irrt Läubli, 94 wenn er die Schuld des Täters im Verhindern der steuerrechtlich richtigen Auswertung des Steuertatbestandes sieht. Zuppinger sieht in diesem Zusammenhang die Pönalisierung der Steuerhinterziehung als ein Mittel zur Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerflucht, ohne der Frage nachzugehen, inwieweit die wirtschaftliche Betrachtungsweise in Konflikt mit dem „nulla poena sine lege"-Satz stehen könnte.95 Die Steuerbehörden der Schweiz sind gestützt auf Gewohnheitsrecht häufig bereit, Zusagen über die steuerliche Anerkennung von Gestaltungen zu erteilen. Es besteht jedoch ebenso wie in Deutschland kein gesetzlich garantierter Rechtsanspruch dazu. 96 Ein Steuerpflichtiger, der eine möglicherweise mißbräuchliche Gestaltung ins Auge faßt, wird, wenn er sich denn zu ihrer Durchführung entschließt, geradezu verleitet, die Umstände zu verschleiern, da er keine Möglichkeit besitzt, die Mißbräuchlichkeit vorab rechtsverbindlich überprüfen zu lassen. Die Schweiz ist im internationalen Vergleich dennoch dem Steuerbürger am weitesten entgegengekommen, einzelne Behörden gehen über das Auskunftsersuchen hinaus und bemühen sich um eine für den Steuerpflichtigen steuerlich günstige Lösung. 97 Eine steuerliche Rückwirkung ist in der Schweiz nur in eng begrenzten Fällen denkbar. Eine rein fiskalische Rechtfertigung ist ausgeschlossen, vielmehr sind gewichtige Gründe erforderlich und die Rückwirkung darf weder zu Ungleichheiten führen noch in wohlerworbene Rechte eingreifen. In der Schweiz ist die Verpflichtung des Staates, Steuerhinterziehungen als Verletzung einer Bürger-Grundpflicht zu bestrafen, in die Verfassungen einzelner Kan94
Läubli, Bernhard Walter, Die Steuerumgehung, S. 77. Zuppinger, Ferdinand, Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Steuerflucht, Steuer Revue / Revue Fiscale 1983, 155, 171. 96 Baur, Jürg Andreas, Auskünfte und Zusagen der Steuerbehörden an Private im schweizerischen Steuerrecht, S. 265. 97 Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechtsvergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 74. 95
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tone aufgenommen worden. 98 Das Steuerstrafrecht der Schweiz war in der Vergangenheit nicht bundeseinheitlich geregelt. Es wurde deswegen eine Harmonisierung vorgenommen. 99 Dabei wird auf Bundesebene unterschieden zwischen der Steuerhinterziehung einerseits und dem Steuer- und dem Abgabenbetrug andererseits. Nur letzterer zieht eine Kriminalstrafe nach sich, im übrigen wird eine Strafsteuer als sogenannte Fiskalstrafe erhoben, 100 die sich nach den jeweiligen Spezialgesetzen richtet. Diese Strafsteuer ist durch eine „strafrechtliche Anomalie" gekennzeichnet, daß der Grundsatz des „nulla poena sine culpa" für sie nicht zu gelten scheint. Dabei kommt es weniger auf die zur Steuerverkürzung führende Pflichtverletzung, als vielmehr auf die bestandskräftige unrichtige Steuerfestsetzung an, 1 0 1 wenn auch die Strafbarkeit an sich im Sinne der Strafsteuer eine schuldhafte Begehung voraussetzt. Sie wird aber nicht auf die Strafzumessung erstreckt, selbst die Unterscheidung Vorsatz und Fahrlässigkeit spielt keine Rolle, da die für die Verhängung zuständigen Verwaltungsbehörden nicht die Erfahrung in der Schuldbemessung besitzen wie Strafgerichte. Die Strafe für Steuerhinterziehung beträgt ein Drittel bis das Dreifache, in der Regel das Einfache der hinterzogenen Steuer. 102 Die Bindung des Strafrahmens an eine Mindestgrenze und damit an den Deliktserfolg kann bei vermögenslosen Tätern oder Delinquenten mit nur geringer Schuld zu unbilligen Ergebnissen führen. Die besonders schweren Tatbestände hingegen sind in den Art. 1 4 - 1 8 VStR geregelt. Der Steuerbetrug 103 hat eine Steuerhinterziehung zur Grundvoraussetzung 1 0 4 und setzt dabei das Verwenden von gefälschten, verfälschten oder inhaltlich unwahren Urkunden voraus. 105 Demgegenüber sieht es der Abgabenbetrug 106 98 Hierzu Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1403 m. w. N. 99 Eschweiler, Wilhelm, Das deutsche und schweizerische Steuerstrafrecht im Vergleich und die internationale Rechtshilfe der Schweiz bei Fiskaldelikten, S. 5. 100 101
Zuppinger, Ferdinand, Steuerrecht I, S. 283. Michael, Peter Johannes, Der Steuer- und Abgabebetrug im schweizerischen Recht,
S. 21. 102 Zweifel,
612.
Martin, Für eine Revision des harmonisierten Steuerstrafrechts, ST 1993, 608,
>03 Art. 130 bis Abs. 1 BdBSt sieht vor: „Wer bei einer Hinterziehung (Art. 129) gefälschte, verfälschte oder inhaltlich unwahre Urkunden wie Geschäftsbücher, Bilanzen, Erfolgsrechnungen oder Lohnausweise und andere Bescheinigungen Dritter zur Täuschung gebraucht, wird mit Gefängnis oder mit Busse bis zu 30.000 Franken bestraft; die Bestrafung wegen Steuerhinterziehung bleibt vorbehalten." 104
Paltzer, Edgar, Der Abgabe- und Steuerbetrug im schweizerischen Bundessteuerrecht im Vergleich zu den entsprechenden Regelungen in der BRD und den USA, S. 23. •05 Hierzu ausführlich Eschweiler, Wilhelm, a. a. Ο. (Fn. 99), S. 41. 106 Art. 14 Abs. 2 VStR bestimmt: Bewirkt der Täter durch sein arglistiges Verhalten, dass dem Gemeinwesen unrechtmäßig und in einem erheblichen Betrag eine Abgabe, ein Beitrag oder eine andere Leistung vorenthalten oder dass es sonst am Vermögen geschädigt wird, so ist die Strafe Gefängnis bis zu einem Jahr oder Busse bis zu 30.000 Franken."
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als strafwürdig an, wenn der Täter die Verwaltung durch Vorspiegeln falscher Tatsachen irreführt und daraus eine Vermögensschädigung des Gemeinwesens resultiert. 107 Nach § 335 Abs. 2 des (Schweizer) StGB sind die Kantone ermächtigt, Strafvorschriften zum Schutz des jeweiligen kantonalen Steuerrechts aufzustellen. Im Nach- und Strafsteuerverfahren ist der Sachverhalt durch die kantonalen Steuerbehörden mit denselben Befugnissen zu ermitteln, wie sie der Veranlagungsbehörde im Veranlagungsverfahren zur Verfügung standen. Dabei ist der Steuerpflichtige zur Auskunft verpflichtet. Ein Verweigern der Aussage kann ihm zum Nachteil gereichen, sofern er nicht ohnedies durch sogenannte „Ordnungsbussen" zur Aussage angehalten wurde. 108 Diese Praxis wird mit Recht als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK gewertet. 109 Nur wenige Kantone kennen die Selbstanzeige als Strafausschließungsgrund. 110 Die Selbstanzeige wird aber als Milderungsgrund anerkannt, für den nur ein Bruchteil der sogenannten „Nachsteuer" erhoben wird. 1 1 1 Eine straflose Selbstanzeige ist nach Art. 13 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR) gegeben, wonach die Anzeige aus eigenem Antrieb erfolgen sowie vollständige Angaben enthalten muß und der Täter noch nicht schon früher wegen einer anderen vorsätzlichen Zuwiderhandlung der gleichen Art Selbstanzeige erstattet haben darf. 112 Die Voraussetzungen sollen jedoch nicht zu streng gehandhabt werden, um das Ziel der Förderung der Selbstanzeige zu erreichen. Dennoch wird sowohl aus dem Kriterium der Freiwilligkeit als auch aus der Einmaligkeit deutlich, daß das Steuerstrafrecht der Schweiz die Straffreiheit nur demjenigen gewähren will, der tatsächlich eine Umkehr beabsichtigt. Im Gegensatz zum deutschen Recht kommt es also maßgeblich auf das Motiv der Selbstanzeige an. 113 Ferner geht das Schweizer Steuerstrafrecht von der Deliktsfähigkeit juristischer Personen aus. 114 Dennoch ist die Bestrafung als Verwaltungsstrafe ausgestaltet.115 107
Mit weiteren Nachweisen Eschweiler, Wilhelm, a. a. O. (Fn. 99), S. 60. 108 Michael, Peter Johannes, Der Steuer- und Abgabebetrug im schweizerischen Recht, S. 97. 1 09 Zweifel, Martin, Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des SteuerhinterziehungsVerfahrens vor den Verwaltungsbehörden, FS f. Francis Cagianut, S. 223, 239. n° So etwa der Kanton Zug, vgl. Wyss, Viktor, Das zugerische Nach- und Strafsteuerrecht, S. 137. m Zuppinger, Ferdinand, Verschuldensprinzip und Steuerstrafrecht, FS f. Francis Cagianut, S. 209-216 f. h 2 Paltzer, Edgar, a. a. O. (Fn. 104), S. 57; Michael, Peter Johannes, Der Steuer- und Abgabebetrug im schweizerischen Recht, S. 156. h 3 Derksen, Hans Peter, Die Selbstanzeige im schweizerischen Steuerstrafrecht, ST 1986, 347, 349 f. 114 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, S. 1414. us Paltzer, Edgar, a. a. O. (Fn. 104), S. 150 f. 26*
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C. Frankreich Die Neigung zur Steuerhinterziehung ist sehr maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung des Steuersystems abhängig. Dies wird am Beispiel Frankreichs deutlich, wo bestimmte Formen der Steuerhinterziehung in geringerem Maße auftreten, andere hingegen verstärkt. Im Bereich der Kapitaleinkünfte sind Steuerdelikte weitgehend dadurch ausgeschlossen, daß das im Steuerverfahren verfolgte öffentliche Interesse dem Interesse des Steuerpflichtigen, wie es in Deutschland durch das Bankgeheimnis gewährleistet ist, übergeordnet ist. Daher sind Banken zur Erteilung von Auskünften und zur Vorlage von Unterlagen über die Bankverbindung ohne nennenswerte Einschränkungen verpflichtet. 116 Das Besteuerungsverfahren für die Einkommenssteuer bei Überschußeinkunftsarten ist in Frankreich wie folgt organisiert 117: Der Steuerpflichtige füllt den ihm übersandten Erklärungsvordruck aus und reicht ihn beim örtlich zuständigen Centre des Impôts ein. Der Arbeitnehmer erhält einen pauschalen Abschlag von 10 % zur Abgeltung seiner Werbungskosten und weitere 18 % als sogenannter Arbeitnehmerabschlag. 118 Ein Lohnsteuerverfahren fehlt hingegen, so daß der Arbeitnehmer erst bei der Veranlagung aufgrund seiner Angaben zur Einkommenssteuer herangezogen wird. Dieses Steuererhebungssystem ist mitursächlich dafür, daß die Steuerhinterziehung in Frankreich eine ebenso große Bedeutung besitzt wie in Deutschland,119 obgleich aufgrund der pauschalen Abschläge Manipulationsmöglichkeiten nur eingeschränkt möglich sind. Dennoch liegt der Schwerpunkt der Steuerhinterziehungen im gewerblichen Bereich. Dort ist die Häufigkeit und die Anzahl von Prüfungen unzureichend. 120 Der Secteur d' Assiette nimmt sodann eine formale Kontrolle der Erklärung vor ohne rechtliche Überprüfung. Bei Auffälligkeiten wird die Erklärung gekennzeichnet und in einer zweiten Phase inhaltlich überprüft. Daneben werden nach dem Zufallsprinzip einzelne Erklärungen ausgewählt. Gehälter, Renten, Pensionen, Kapitaleinkünfte (einschließlich Spekulationsgewinne) werden der Finanzverwaltung von der auszahlenden Stelle elektronisch übermittelt. Es erfolgt ein Datenabgleich. Der Umfang der überprüften Erklärungen beträgt etwa 5 - 6 %. Bei Gewinnein116
Ausführlich Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechtsvergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 54; Margairaz, André, Steuerhinterziehung und staatliche Steuerkontrolle, S. 24. 117 Wees, Carl Friedrich, Französische Steuerverwaltung und französisches Steuerrecht, RIW 1997,489,492. 118 Kramer, Jörg-Dietrich, Grundzüge des französischen Steuerrechts, RIW 1981, 826,
828. 119 Bublitz, Lothar, Grundzüge des französischen Steuerstrafrechts, wistra 1994, 333, 333. Eine lange Zeit erwies sich daneben das französische Umsatzsteuerrecht als anfällig gegenüber Scheingeschäften. Vgl. hierzu ausführlich: Cosson, Jean, Die Steuerhinterziehung durch Scheingeschäfte in Frankreich, UR 1970, 235, 237. 120 Einzelheiten finden sich bei Martinez, Jean-Claude, La fraude fiscale, S. 38 f.
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kunftsarten trifft das Centre des Impôts eine Auswahl von ca. 15 % der Gewinnermittlungen, die inhaltlich an Amtsstelle geprüft werden sollen. Der Kampf gegen die „fraude fiscale " wird in Frankreich aufgrund des fehlenden Legalitätsprinzips weniger strafrechtlich, als vielmehr abgabenrechtlich durch Strafzuschläge von bis zu 80 % des hinterzogenen Betrages geführt. Eine strafbefreiende Selbstanzeige sieht das Gesetz nicht vor. Hervorzuheben ist, daß im französischen Recht auch die juristische Person, für die ein Repräsentant oder Organ tätig wurde, mit einer Kriminalstrafe belegt werden kann. 121 Die Verurteilung wegen einer Steuerstraftat erfolgt unter Benennung des Namens und der Adresse des Täters. Die Umgehungsbekämpfung ist ein Gebot, das sich aus Art. 34 der französischen Verfassung vom 4. 10. 1958 ergibt. 122 Art. 34 sieht vor, daß die Besteuerungsgrundlage, die Steuersätze und das Veranlagungsverfahren von Steuern gesetzlich durch das Parlament geregelt werden. Das französische Recht unterscheidet zwischen zulässiger Steuerplanung („habilitéfiscale") und der steuerlich nicht anzuerkennenden Steuerumgehung („évasionfiscale"). Der Vorschrift des § 42 AO entsprach in Frankreich der Art. 244 des französischen Code général des impôts („CGI")} 23 Dieser erstreckte sich sowohl auf Schein- wie auch auf Umgehungshandlungen und beinhaltete das Prinzip der „dé-/réqualification", das der Verwaltung das Recht einräumte, den wirklichen rechtlichen Gehalt eines Sachverhalts zu ermitteln. Die wirtschaftliche Wirklichkeit erfaßt das Steuerrecht autonom gegenüber den übrigen Teilen der Rechtsordnung. Die Bestimmung wurde nunmehr in Art. L. 64 LPF („Livres des Procédures Fiscales") ohne wesentliche Änderung übernommen. Umgehungsgeschäfte im Sinne der Vorschrift zeichnen sich durch einen ungewöhnlichen Weg aus, dessen einziges Motiv die Absicht der Steuerumgehung ist. Bevor die Finanzverwaltung eine Umqualifizierung vornimmt, muß sie das beratende Komitee („Comité consultatif") befragen. 124 Unterläßt sie eine Anfrage oder entscheidet das Komitee zugunsten des Steuerpflichtigen, so hat die Behörde die Beweislast für das Vorliegen eines „abus de droit". Bei einer für den Steuerpflichtigen negativen Entscheidung obliegt es ihm, Beweis darüber zu führen, daß kein „abus de droit" anzunehmen ist. Für eine steuerstrafrechtliche Verfolgung ist ihm stets der Mißbrauch nachzuweisen.125 121 Bublitz, Lothar, a. a. O. (Fn. 119), wistra 1994, 333, 334. 122 Moermann, Sébastien Β. J., The French Anti-avoidance Legislation, intertax 27 (1999), 50, 50. 123 Hensel, Nikolaus, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des § 6 Steueranpassungsgesetz, S. 29. 124
Oberheide, Ralf, Die Bekämpfung der Steuerumgehung, S. 94 f. 125 Reisner, Sigrun, Die Strafbarkeit von Schein- und Umgehungshandlungen in der EG, S. 153 m. w. N. Ferner Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechtsvergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 88.
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Art. 1729 CGI behandelt die bewußte Steuerumgehung („manœuvres fraudouleuses") und verweist auf den Rechtsmißbrauch („abus de droit") in Art. L. 64 LPF. Sie wird nicht strafrechtlich („sanctions pénales"), sondern nur mit einem Strafzuschlag von 80 % („sanctions fiscales") als Verwaltungssanktion geahndet. 1 2 6 Demgegenüber entscheiden die Strafgerichte unabhängig über strafrechtliche Konsequenzen, so daß divergierende Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden können. Zentraler Strafrechtstatbestand ist Art. 1741 CGI. Tatbestandsmäßig im Sinne der Steuerhinterziehung nach Art. 1741 CGI handelt derjenige, der sich ganz oder teilweise der Festsetzung oder Bezahlung der nach dem CGI vorgeschriebenen Steuern entzieht oder dies zumindest versucht, ferner derjenige, der es absichtlich unterläßt, seine Steuererklärung in den vorgeschriebenen Fristen abzugeben, sowie derjenige, der absichtlich einen Teil der steuerpflichtigen Summe verschweigt, seine Zahlungsunfähigkeit herbeiführt oder in anderer betrügerischer Weise handelt. 1 2 7 Gerade die letzte Alternative der Begehungsformen würde nach deutschem Verständnis erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgrundsatzes in Art. 103 Abs. 2 GG begegnen.128 Die Problematik des Blankettatbestandes stellt sich in Frankreich nicht im gleichen Maße wie im deutschen Recht, weil das französische Steuerrecht 1950 im Code général des impôts kodifiziert wurde, welcher eine Vielzahl von Einzelgesetzen ablöste. 129 Dennoch wurde trotz eines anfänglichen Vereinfachungseffektes nach wenigen Jahren eine grundlegende Reform nötig, da der CGI schwer verständlich und kaum lesbar wurde. 130 Generell läßt sich jedoch feststellen, daß Blankettgesetzgebung in Frankreich häufig anzutreffen ist. Sie erfährt verfassungsrechtliche Einschränkungen nur durch den Grundsatz der „légalité", der sich aus Art. 34 der Verfassung der Republik Frankreich ableitet. Danach ist die Festlegung von Verbrechen und Vergehen sowie die darauf stehenden Strafen wie auch die Regelung der Besteuerungsgrundlagen, die Steuersätze und das Veranlagungsverfahren Sache des Parlaments („droit strict"). Dennoch ist es zulässig, die den Straftatbeständen zugrundeliegenden Ge- und Verbote durch weit gefaßte Bestimmungen oder von der Exekutive erlassene Bestimmungen auszufüllen. 131 In den ausfüllen126 Frommel, Stefan N./ Füg er, Rolf, Das Auskunftsverweigerungsrecht im Steuerverfahren und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, StuW 1995, 58, 63. 127 Zu den Tatbestandselementen im Detail: Martinez, Jean-Claude, La fraude fiscale, S. 82 ff. 128 Müller-Jena, Roland, Das französische Steuerstrafrecht aus der Sicht der deutschen Steuerstrafbestimmungen, S. 34. 129 Eine vergleichbare Kodifizierung gibt es femer in den USA im Internal Revenue Code. 130 Hahn, Hartmut, Zur Neukodifizierung des französischen Steuerverfahrensrechts unter besonderer Berücksichtigung der Beweislastverteilung, StuW 1982, 388, 389. 131 Reisner, Sigrun, Die Strafbarkeit von Schein- und Umgehungshandlungen in der EG, S. 169.
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den Normen des Steuerrechts sind Analogieschlüsse erlaubt, es werden noch geringere Anforderungen an die Tatbestandsbestimmtheit gestellt. Das Steuerstrafrecht nimmt in Umgehungsfällen gemäß Art. 1741 CGI den wahren wirtschaftlichen Gehalt eines Sachverhaltes an. Zivilrechtliche Gestaltungen werden als „simulation " eingestuft, sofern sich Schein- und Umgehungsgeschäfte dahinter verbergen. Ein Rückwirkungsverbot im Steuerrecht ist anders als im Strafrecht in Frankreich nur schwach ausgeprägt und findet seine Grenzen nur in einem aus dem Gleichheitsgebot folgenden Willkürverbot. 132 Denn das Parlament ist „maître de la légalité " und stellt die „volontégénérale" dar. 133 Die französische Steuerverwaltung greift nur die schwerwiegenderen Fälle für eine strafrechtliche Verfolgung auf. Die im Besteuerungsverfahren zuständige Direction des Services fiscaux beginnt mit den Ermittlungen und fertigt ein Dossier an. Zur Aufklärung einer „fraude fiscal" kann die Finanzverwaltung unter Aufsicht des Strafrichters Durchsuchungen und Beschlagnahmen durchführen. Sie können ferner Auskunft von Banken, Sozialversicherungsträgern und anderen Behörden einholen. Die Direction des Services fiscaux leitet ihren Ermittlungsbericht an das Finanzministerium weiter. Zwar können die französischen Steuerbehörden bei Gefahr im Verzuge nicht selbst handeln, es hat sich jedoch die Praxis herausgebildet, gleichzeitig die in Wirtschaftsstrafsachen zuständigen Behörden einzuschalten. Diese sind bei Gefahr im Verzuge ermächtigt, Durchsuchungen und Beschlagnahmen durchzuführen. Sie leiten die gewonnenen Ermittlungsergebnisse an die Steuerbehörden weiter, auch wenn sich der Vorwurf einer anderen Wirtschaftsstraftat nicht erhärtet hat. 1 3 4 Unter Einschaltung der Commission des infractions fiscales wird daraufhin entschieden, ob das Steuerstrafverfahren weiter betrieben werden soll. Die Staatsanwaltschaft übernimmt nunmehr die Herrschaft des Verfahrens. Dem Steuerpflichtigen steht ein Aussageverweigerungsrecht zu. Ein Verwertungsverbot ist jedoch nicht damit verbunden, wenn in der vorangegangen Außenprüfung formelle Rechte des Steuerpflichtigen verletzt wurden. 135 Das Strafgericht ist bei seiner Urteilsfindung nicht an Erkenntnisse aus dem steuerlichen Verfahren vor dem hierfür zuständigen Verwaltungsgericht gebunden. 136 Vor dem Hintergrund häufig divergierender Entscheidungen in steuerlichen und steuerstrafrechtlichen Verfahren gab es in Frankreich eine Kontroverse, ob nicht eine AussetzungsVorschrift geschaffen werden müsse. Dies wurde jedoch im Hinblick auf die lange Verfahrensdauer als unpraktikabel eingestuft. Außerdem 132 Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechts vergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 68.
1 33 Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, S. 179. »34 Müller-Jena, Roland, a. a. O. (Fn. 128), S. 84. 135 Bublitz, Lothar, a. a. O. (Fn. 119), wistra 1994, 333, 336. 136 Bublitz, Lothar, a. a. O. (Fn. 119), wistra 1994, 333, 336. Siehe ferner DiMalta, Pierre, Droit fiscal pénal, S. 249.
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wurde angenommen, der Strafrichter müsse lediglich die Tatbestandsmerkmale der Steuerstrafnormen feststellen, die genaue Höhe der Steuerschuld brauche er nicht zu kennen. 137 Nach einer Gegenmeinung müsse vor Beginn eines Strafverfahrens feststehen, ob überhaupt eine Steuerschuld bestehe. Durch divergierende Entscheidungen werde der Rechtsfriede gestört. 138 Das französische Recht kennt kein ausdrückliches verfassungsrechtliches Gebot der Gesetzesbestimmtheit. Der Conseil constitutionnel fordert jedoch in seiner Rechtsprechung vom Parlament, daß es die wesentlichen Merkmale des Steuertatbestandes gegenüber der Verwaltung selbst regelt. Ein so verstandenes Bestimmtheitsgebot soll die Kompetenzen zwischen Parlament und Exekutive abstecken, nicht aber den Schutz des Bürgers bezwecken.139 Diese Rechtsprechung stützt sich auf Art. 34 der Verfassung der Republik Frankreich, der vorsieht, daß durch Gesetz vom Parlament geregelt werden die Besteuerungsgrundlage, die Steuersätze und das Veranlagungsverfahren („recouvrement ") von Steuern und Abgaben aller Art. Historisch geht dieser Gesetzesvorbehalt auf die von Rousseau postulierte Forderung zurück, daß Steuern als volonté générale per Parlamentsgesetz aufzuerle140
gen seien. Die Rechtsprechung verfolgte bei der Auslegung der Steuergesetze zunächst durchgängig eine „interprétation stricte wenn auch in neuerer Zeit eine steuerverschärfende Analogie für zulässig gehalten wird. Die Analogiefähigkeit von Steuergesetzen wurde dem Strafrecht vergleichbar restriktiv durch den Cour de Cassation gehandhabt. Der Conseil d' Etat hat jedoch schon früher seine Rechtsprechung gelockert und, sofern nicht der eindeutige Wortlaut entgegensteht, eine Lückenschließung im Wege der Analogie befürwortet. 141 Abschließend sei noch erwähnt, daß bereits die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in Art. 9 die Unschuldsvermutung, welche das Schweigerecht einschloß, enthielt. 142
D. Angelsächsischer Rechtskreis Wegen des grundlegend anders strukturierten Rechtssystems sollen an dieser Stelle nur wenige rechtsvergleichende Hinweise gegeben werden. 137 Angeführt bei Müller-Jena, Roland, a. a. O. (Fn. 128), S. 89 m. w. N. 138 Angeführt bei Müller-Jena, Roland, a. a. O. (Fn. 128), S. 90 m. w. N. 139 Schloßmacher, Stefan, Die systemtragenden Prinzipien des französischen und belgischen Steuerrechts im Vergleich mit den systemtragenden Prinzipien des deutschen Steuerrechts, S. 183. 140 Hahn, Hartmut, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, S. 49. 141 Schloßmacher, Stefan, a. a. O. (Fn. 139), S. 185.
1 42 Weiterführend: Guradze, Heinz, Schweigerecht und Unschuldsvermutung im englischamerikanischen und bundesdeutschen Strafprozeß, in: FS f. Karl Loewenstein, S. 151, 160.
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Zum materiellen Recht ist auszuführen, daß in Großbritannien der Komplex der Hinterziehung von Kapitaleinkünften wenig Relevanz beansprucht, da die Kapitalbesteuerung auf einer Quellenbesteuerung basiert, die auf das in Deutschland vorgesehene Veranlagungsverfahren verzichtet. 143 Der Komplex der Steuerumgehung wird in Großbritannien zwar traditionell im Sinne des Steuerpflichtigen gelöst, indem man die Steuergesetze streng nach ihrem Wortlaut auslegt. So ist im englischen Recht allgemein das Recht des Steuerpflichtigen anerkannt, seine steuerlichen Verhältnisse steuermindernd zu gestalten.144 Gleichzeitig gilt aber der Grundsatz „form over substance ", wonach auf die Form und nicht auf den Inhalt abgestellt wird. 1 4 5 Früher blieben auch gezielte Steuerumgehungen auf Kosten der übrigen Steuerzahler unbeanstandet, da die Erfassung der Steuerumgehung als Aufgabe des Gesetzgebers gesehen wurde. In den letzten Jahren begann jedoch eine Entwicklung, wonach die strenge Bindung an den Wortlaut gelockert wurde. 146 Danach ging man dazu über, aus mehreren Einzelschritten bestehendes Umgehungsverhalten als Gesamtheit zu betrachten und daraufhin die steuerliche Anerkennung unter Hinweis auf das „ Ramsay principle " zu versa_
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gen. Der angelsächsische Rechtskreis kennt als Rechtsquelle für Straftatbestände neben dem geschriebenen „statute law" das ungeschriebene „common law", wenn es auch der Rechtsprechung in England heute nach allgemeiner Auffassung untersagt ist, neue Straftatbestände zu schaffen. 148 In den USA konnten Straftatbestände jedoch nur durch „statute law" hervorgebracht werden, die Regeln des „common law" dürfen hingegen keine strafbegründende oder strafschärfende Wirkung haben. Ein dem deutschen Rechtskreis vergleichbares Analogieverbot ist dem U. S.amerikanischen Recht fremd. Der Wortsinn ist nicht die Schranke der Auslegung, 149 dennoch zögern amerikanische Gerichte über den Wortlaut hinauszugehen. 150 Die USA besitzen seit 1939 ebenso wie Frankreich ein in weiten Teilen kodifiziertes Steuerrecht, welches im Internal Revenue Code (IRQ in der Fassung des
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Moser, Claudia, Der Schutz des Steuerpflichtigen - rechts vergleichend in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien, S. 56. 144 Lewis, Mervyn, British Tax Law, S. 23 f. Lewis zeichnet die frühere Rechtsprechung seit der Entscheidung The Duke of Westminster v. I. R. C. (1936) A.C. 1; 19 T.C. 490, nach. ι « Moser, Claudia, a. a. O. (Fn. 143), S. 94 f. ι « Wenderoth, Dieter, Die Steuerhinterziehung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG, S. 8. 1 47 Ausführlich zur Rechtsprechungsentwicklung seit Beginn der achtziger Jahre Whitehouse, Chris / Watson, Loraine / Lee, Natalie, Revenue Law, S. 688 ff. 148 Böse, Martin, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 128 f. 149 Fischer, Daniel J., Die Normierung der Strafzwecke nach Vorbild der U. S. Sentencing Guidelines - eine Chance für das deutsche (Steuer-) Strafrecht?, S. 88 f. 150 Herrmann, Joachim, Neuere Entwicklungen in der amerikanischen Strafrechtspflege, JZ 1985, 602, 602.
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Revenue Reconciliation Act 1993 zusammengefaßt ist. 1 5 1 Die steuerstrafrechtlichen Vorschriften enthält der IRC in den §§ 7201 ff. 1 5 2 Zentrale Norm ist die Abgabenhinterziehung des § 7201. 153 Die Steuergesetzgebung ist durch die US-Verfassung kaum eingeschränkt, die Steuerhoheit des Kongresses erfährt nahezu keine Grenzen. Eine sehr weitgehende Ermächtigung zum Erschließen neuer Steuerquellen im Bereich des Ertragssteuerrechts stellt das XVI. Amendment der US-Verfassung 154 dar. Dem US Supreme Court wurde zwar wiederholt die Frage nach einem Rückwirkungsverbot für Steuergesetze („ non-retroactivity doctrine ") herangetragen, in jüngerer Zeit wurde jedoch kein einziges Steuergesetz aufgrund eines aus der „ due process "-Klausel des V. Amendments folgenden Rückwirkungsverbots für verfassungswidrig erklärt. 155 Die letzte einschneidende Änderung des amerikanischen Steuersystems war durch das Reformgesetz von 1986 unter Reagans Präsidentschaft durchgefühlt worden, u. a. zur Steuervereinfachung, was nur zum Teil gelungen ist, und zum Schließen von Steuerschlupflöchern („loop holes"). Gleichzeitig hat die Neigung zugenommen, durch ein Dickicht von Verwaltungsrichtlinien („regulations") immer detailliertere und kompliziertere Regelungen aufzustellen, die Steuerausweichhandlungen unmöglich machen sollen. Diese für den amerikanischen Durchschnittsbürger nicht mehr zu überblickende Regelungsdichte hat zu einer erheblichen Distanzierung des Einzelnen vom System geführt. 156 Einkommens- und Körperschaftssteuererklärungen beruhen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und der Selbstveranlagung des Steuerpflichtigen, der die Höhe von Einnahmen und Ausgaben selbst steuerlich würdigen und die Steuerschuld berechnen muß. Ein Steuerbescheid ist daher nicht nötig. Ein Quellensteuerabzug ist nur bei der Lohnsteuer üblich. Die Finanzbehörden werden zunächst nur tätig, wenn vor Verwirklichung eines Sachverhaltes eine verbindliche Auskunft („private letter ruling (USA)") beantragt wird. 1 5 7 Das Besteuerungsverfahren in den USA zeichnet 151 Bayer, Hermann-Wilfried, Steuerlehre: Steuerverfassung - Steuergesetz - Steuergericht, Rn. 40. 152 Hinsichtlich der Ausgestaltung der Tatbestände des U. S.-amerikanischen Steuerstrafrechts muß auf die ausführliche Darstellung bei Fischer, Daniel J., a. a. Ο. (Fn. 149), S. 200 ff., verwiesen werden. 153 Weiterführend: Thiele, Clemens, Einführung in das US-amerikanische Steuerrecht, S. 119.
154 Die Bestimmung hat folgenden Wortlaut: „The Congress shall have the power to lay and collect taxes on incomes, from whatever source derived, without apportionment among several States and without regard to any census or numeration." 155 Thiele, Clemens, Der Einfluß der US-Verfassung auf das US-amerikanische Steuerrecht, IStR 1999, 9, 10. 156 Jacob, Friedhelm, Taxes are what we pay for a civilized society - Steuermoral und Steuerkultur vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Steuersystems, IStR 1994,366, 368. 157 Zschiegner, Hans, Das Einkommensteuerrecht der USA, IWB Nr. 8 v. 27. 04. 1994, Gruppe 2, S. 737, 738.
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sich dadurch aus, daß nach unveröffentlichten, zum Teil zufälligen Kriterien („audit lottery " 1 5 8 ) einzelne Steuerpflichtige ausgewählt werden, deren Steuererklärung einer Überprüfung unterzogen wird. Die Auswahlmaßstäbe sind regional verschieden und werden immer wieder geändert. Mittels EDV werden Steuererklärungen aufgrund eingegebener Formeln mit Vergleichszahlen anderer Steuerpflichtiger untersucht und so etwa Abweichungen von branchenüblichen Werten festgestellt. Auch die Höhe des Einkommens kann eine nähere Überprüfung auslösen. Schließlich können Anzeigen Dritter eine Untersuchung auslösen. Das Verfahren dient dazu, qualifiziertes Personal bei der Vorauswahl der Steuererklärungen einzusparen. Auch der Vorschlag, Steuererhebung und -Vollstreckung durch Übertragung auf Steuerpächter zu privatisieren, wurde bereits gemacht. 159 . Der Bezahlung von Informanten steht man jedoch skeptisch gegenüber. So wird die Ansicht vertreten, daß der Rechtsfindungsprozeß etwa durch einen Zeugen auf der Aufrichtigkeit und Integrität desselben beruht, zu der eine Bezahlung im Widerspruch steht. 160 Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Besteuerungsverfahrens ist als gegenüber den deutschen Gepflogenheiten ausnehmend streng zu bezeichnen. Dies gilt auch hinsichtlich der eingeräumten Fristen. Dem 1RS wird ein besonders dichtes System an Außenprüfung nachgesagt, hinzu kommt, daß die Plausibilität der Selbstveranlagungen bereits im Innendienst durch Vernetzung mit Banken überprüft wird. 1 6 1 Dies wird verstärkt durch eine seit Jahren sehr hohe Zahl von Kontrollmitteilungen, die per EDV übertragen werden. 162 Im nichtunternehmerischen Bereich werden sodann Rückfragebögen zugesandt oder der Steuerpflichtige zu einer Vorsprache in die Behörde bestellt. Im gewerblichen Bereich hingegen erscheint hingegen ein Prüfer vor Ort, bei Verdacht einer Straftat zumeist in Begleitung durch einen Mitarbeiter der Criminal Investigation Division („CID"). Nach Abschluß der Untersuchungen ist ein „agreement " über die Höhe der Steuern möglich. Bei Abweichungen erhält der Steuerpflichtige einen „30-day -letter", wogegen er innerhalb von 30 Tagen seinen „protest" einlegen kann. Wer in der „audit lottery" verloren hatte, mußte bis zum Jahr 1980 mit nur geringen Sanktionen rechnen. Die „civil penalties" bedeuteten bis dahin ein nur geringes Risiko für Steuerhinterzieher. Erst danach verschärfte der Congress die 158 Garbis, Marvin JJStruntz, Stephen C./Rubin, Ronald B., Tax Procedure and Tax Fraud, S. 60 f. 159 Diese Art der Steuereintreibung war freilich nicht neu, sondern zu den Anfängen der Steuergeschichte bekannt. Vgl. oben: Drittes Kapitel: § 1 „Erste Ansätze" auf S. 79. 160 McGowen, Darrell / O'Day, Daniel G. /North, Kenneth E., Criminal Tax Fraud, S. 131 m. w. N.
161 Ο. V., Stellungnahme der deutschen Steuergewerkschaft, Zur Verfassungsmäßigkeit der Außenprüfung, nwb Nr. 28/1998, v. 06. 07. 1998, S. 2213, 2215. 162 Jacob, Friedhelm, a. a. O. (Fn. 156), IStR 1994, 366, 367.
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Sanktionen und führte neue Tatbestände ein, um das wirtschaftliche Risiko unrentabel zu machen. Der Internal Revenue Service muß nicht von einer Verletzung steuerlicher Vorschriften Kenntnis besitzen, um eine Untersuchung einzuleiten. Er kann auch ohne „probable cause " tätig werden. Es genügt schon ein Verdacht, ja sogar allein die Absicht, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, daß kein Gesetzesverstoß vorliegt. 163 Selbst wenn in der Praxis von dieser sehr weitgehenden Befugnis nur äußerst behutsam Gebrauch gemacht wird, so ist dennoch mit Recht die Frage gestellt worden, ob es im Hinblick auf die Verfassung genügen kann, daß die zuständigen Finanzbediensteten sich selbst eine Beschränkung auferlegen, oder aber ob nicht gesetzliche Beschränkungen vorgesehen werden müssen.164 Im Grundsatz entsprach es allgemeiner Ansicht, daß es dem Steuerzahler nicht verwehrt sein kann, nur die vom Gesetz wirklich geforderte Steuer zu entrichten. 1 6 5 Allerdings unterlagen Verlustzuweisungsgesellschaften („tax shelters ") schon bisher besonderen Registrierungs- und Meldevorschriften, bei deren Mißachtung eine Geldbuße drohte. 166 Legale Steuervermeidung („tax avoidance ") und unerlaubte Steuerumgehung („tax evasion ") gehen in einer Grauzone („a shadowy line "γ 67 in einander über. Im übrigen wird zwischen Steuerhinterziehung und dem als kriminell eingestuften Steuerbetrug unterschieden. Die USA kennen kein dem § 42 AO vergleichbares generelles Umgehungsverbot. Die Rechtsprechung hat jedoch unter dem Rechtsgedanken des „substance over form" Fallgruppen entwickelt, die den Grundsatz näher konkretisieren. Ein zu versagender Mißbrauch soll vorliegen, wenn für eine Gestaltung ein Geschäftszweck („ business purpose ") nicht zu finden ist. Da die Feststellung dieser subjektiven Zielsetzung oftmals Schwierigkeiten bereitete, wurde häufig maßgeblich auf eine Gewinnerzielungsabsicht („economic profit motive ") abgestellt. Hinsichtlich der Frage, welche Geschäftshandlungen als eine Einheit anzusehen sind, ist einerseits auf einen rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang und andererseits auf ihre zeitliche Abfolge zu achten. Eine Schamfrist („old and cold u) kann den rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang zurücktreten lassen, eine vorgefaßter Plan („plan of intention") ihn begründen. 168 Zur Zeit sind bezüglich des amerikanischen Steuerreformgesetzes 1999 Bestrebungen seitens des Präsidenten 163 U. S. v. Bisceglia, 420 U. S. 141, 145-46 (1975); U. S. v. Powell, 379 U. S. 48, 57 (1964). 164 Krit. McGowen, Darrell/O'Day, Daniel G./North, Kenneth E., Criminal Tax Fraud, S. 21. 165 So allgemein zum Verhältnis von „tax avoidance " und „tax evasion ": Balter, Harry Graham, Tax Fraud and Evasion, Kap. 2.03. 166 Zschiegner, Hans, Das Einkommensteuerrecht der USA, IWB Nr. 8 v. 27. 04. 1994, Gruppe 2, S. 737, 790. 167 McGowen, DarrellI O'Day, Daniel G./North, Kenneth E., Criminal Tax Fraud, S. 8 f. 168 Ausführlich zu den Einzelheiten Flick, Hans F. W., Die Bekämpfung von steuerlichen Mißbrauchsgestaltungen in den USA: Ein ungenutztes Waffenarsenal der Finanzverwaltung?, IStR 1999,430,431.
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im Gange, mit dem Konzept eines „Corporate Tax Shelters' ' (CTS) zusätzliche Mißbrauchsbestimmungen und darüber hinaus sogar daran geknüpfte Strafgebühren zur Bekämpfung von steuerlichen Gestaltungen auf den Weg zu bringen. Unter dem Begriff der CTS werden folgende Handlungen verstanden: „ Transactions in which the reasonably expected pre-tax profits are insignificant compared to the expected tax benefits. (...) Transactions that improperly eliminate or significantly reduce income tax. " Insbesondere das Treasury Department und die American Bar Association bedrängen den Congress, eine Bestrafung in Form einer Strafsteuer in Höhe von 25 % auf deren Honorare für steuerliche Berater einzuführen, die Unternehmen dazu raten, an Gestaltungen zur Steuervermeidung teilzunehmen.169 Erklärtes Ziel dabei ist: „ The main thing is you want to prevent people from entering transactions that are close to the line. " Das rechtspolitische Motiv liegt in der Absicht, die professionelle Vermarktung von Steuersparmodellen zu verhindern und gleichzeitig die damit verbundene Gefahr, daß das Beispiel weniger Steuerpflichtiger Auswirkungen auf die Steuermoral der übrigen Bürger haben könnte, zu beseitigen. Die jahrelange Tolerierung während der Reagonomics und danach hat zu erheblichen Steuerausfällen sowohl bei reicheren Bevölkerungsschichten wie auch bei den „corporate taxes " geführt, so daß die Steuereinnahmen in diesen Bereichen nicht nur auf ein Niveau der 60er und 70er Jahre zurückfielen, sondern auch ganz erheblich hinter denen anderer OECD-Staaten zurückblieben. 170 Dies hat, wie Umfrageergebnisse zeigen, bei einer Mehrheit der US-Bürger den Eindruck hinterlassen, daß sie im Gegensatz zu den Reicheren und zu Körperschaften einen höheren Anteil am Steueraufkommen tragen müssen und deshalb das Steuersystem ungerecht ist. 1 7 1 Die Vorschläge der Clinton Administration schießen jedoch nach Ansicht vieler Fachleute über das Ziel hinaus. Nicht nur, daß die bestehenden Möglichkeiten der Mißbrauchsbekämpfung bislang seitens der Finanzverwaltung nicht hinreichend genutzt wurden. Im angelsächsischen Rechtskreis kann sich der Betroffene im Strafverfahren auf ein Aussageverweigerungsrecht berufen, wenn er sich der Gefahr der Selbstbelastung aussetzt („privilege against self-incrimination "). Interessant ist hierbei die Begründung, die das englische Oberhaus in seiner Entscheidung „John Lilburne" aus dem Jahre 1645 gegeben hatte. 172 Danach würde es den Gesetzen Gottes, der 169 Fried, Lisa I., Penalties Proposed for Lawyers Who Advise on Corporate Tax Shelters, New York Law Journal April 1, 1999, S. 1. 1 70 Mclntyre, Robert S., Avoiding a Fiscal Dunkirk, The American Prospect no. 12 (Winter, 1993), S. 1, 2. 1 71 Leiker, Bret H., Rousseau and the Legitimacy of Tax Evasion, in: McGee, Robert W. (Hrsg.), The Ethics of Tax Evasion, S. 89, 92. 1 72 Die Entscheidung des House of Lords hob die Verurteilung von John Lilburne vor dem „Court of Star Chamber" auf und sprach Lilburne einen Schadensersatz von 3.000 englischen Pfund zu, vgl. Erdmann, Hans-Henning, Die Ausdehnung der strafprozessualen Garantien der US-Bundesverfassung auf den Strafprozeß der Einzelstaaten, S. 128. Siehe auch die aus-
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Natur und des Königreiches widersprechen, eine Person zu ihrem eigenen Ankläger zu machen. 173 Damit wurde schon in dieser frühen Entscheidung die naturrechtliche Wurzel des Aussageverweigerungsrechtes anerkannt. Allerdings fand das neue Recht keinen Eingang in die „ Petition of Rights " und die „Bill of Rights ". In der Entscheidung „Lam Chi-ming v. The Queen " wurde 1991 bestätigt, daß das Schweigerecht im englischen Recht tief verwurzelt ist, 1 7 4 denn es sei besser einige wenige Schuldige davon kommen zu lassen, als die Grundregeln einer freien Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Das Schweigerecht gilt in England heute als allgemein anerkanntes Prinzip. Wenn auch keine gesetzliche Festschreibung erfolgte, so wurde doch der Grundsatz in die Judges' Rules aufgenommen, wonach dem Gericht eine Belehrungspflicht auferlegt wird. 1 7 5 Die Rechtsentwicklung in den USA erfolgte in Anlehnung an England. 176 Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika greift dieses Recht im V. Amendment zur Verfassung seit 1791 wieder auf und schließt damit Diskussionen über seine Einschränkung, wie sie zeitweilig in England geführt werden, aus. 177 Sie läßt dieses Recht jedoch nur soweit reichen, als der Betroffene sich der Gefahr einer Verfolgung wegen einer Straftat aussetzt, nicht einer zivilrechtlichen Haftung oder der Gefahr bloßer Vermögensnachteile. Im Falle einer dennoch erzwungenen Aussage besteht ein Beweisverwertungsverbot. An dieser Stelle müssen sich die Ausführungen auf einen Hinweis auf die zentralen Entscheidungen „Escobedo v. Illinois" 178 und „Miranda ν. State of Arizona" 119 beschränken. 180 Die Rechtsentwicklung seit diesen revolutionären Entscheidungen hat vor allem Salditt nachgezeichnet181 und die amerikanische Verfassungsrechtsprechung für
führliche Darstellung des Falles Lilburne bei Levy ; Leonard W., Origins of the Fifth Amendment, The right against self-incrimination, S. 274 ff. In der deutschsprachigen Literatur findet sich die Entwicklung vor allem bei Rogali, Klaus, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, S. 79. Eher zweifeln, ob ein Schweigerecht schon praktiziert wurde: Guradze, Heinz, Schweigerecht und Unschuldsvermutung im englisch-amerikanischen und bundesdeutschen Strafprozeß, in: FS f. Karl Loewenstein, S. 151,165. 173
Angefühlt nach Hölscher, Laurids, Das Auskunftsverweigerungsrecht - § 55 StPO - ,
S. 35. 174
Weiterführend: Frommel, Stefan N., The right to silence and the powers of the Serious Fraud Office, The Company Lawyer Vol. 15 (1994), 227, 228. 175 Mäder, Detlef, Betriebliche Offenbarungspflichten und Schutz vor Selbstbelastung, S. 53. 176 Teske, Doris, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten und der Beweisverfahren im Besteuerungsverfahren und im Steuerstrafverfahren, S. 107. 1 77 Easton, Susan M., The Right to Silence, S. 126. "β Escobedo v. Illinois 378 U. S. 478 (1964). 179 Miranda v. State of Arizona 384 U. S. 436 (1966). 180 Zu den zitierten Urteilen und zu weiterführenden Rechtsprechungshinweisen ausführlich: Schmid, Nikiaus, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten, S. 133. 181 Salditt, Franz, 25 Jahre Miranda - Rückblick auf ein höchstrichterliches Experiment, GA 1992, 51, 55 ff.
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das deutsche Recht als vorbildlich dargestellt. Das amerikanische Strafverfahren ist maßgeblich hiervon beeinflußt. Dabei geht es auf Chief Justice Warren zurück, daß zur Sicherung des Schweigerechts verfahrensmäßige Sicherungen vorgesehen wurden. 182 Vor einer Beschuldigtenbefragung wird regelmäßig die sogenannte „Miranda"- Warnung dem Beschuldigten eröffnet. In den darauffolgenden Jahren, insbesondere unter konservativen Regierungen wurde versucht, die Wirkung der beiden Leitentscheidungen zugunsten des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses einzuschränken, sie hat jedoch nach wie vor große Bedeutung. Dworkin 183 beschreibt die Versuche von Nixon, durch Berufung von Richtern in den Obersten Gerichtshof, die seine eigene Rechtsphilosophie vertraten („strenge Konstruktivisten" lS4), liberale Entscheidungen wie Miranda wieder zurückzunehmen. Der prozedurale Schutz des Schweigerechts durch die Miranda-warnings wurde in den letzten Jahren wieder aufgeweicht. 185 Die Rechtsprechung zum V. Amendment wird auch auf Befragungen durch die Steuerfahndung angewandt.186 Der Betroffene ist darauf hinzuweisen, daß ihm ein Steuerfahnder gegenübertritt („1RS Special Agent"), dessen Aufgabe die Ermittlung wegen eines Verdachtes einer Steuerstraftat ist. Es muß wissen, daß alles was er sagt, gegen ihn verwendet werden kann und daß er zu einer selbstbelastenden Aussage oder Vorlage von jeglichen Unterlagen nicht gezwungen werden kann. 187 Das Recht steht aber nur natürlichen Personen zu. 1 8 8 Die innere Rechtfertigung eines Aussageverweigerungsrechtes soll in der Begrenzung der Übermacht des Staates im Strafverfahren liegen. Dieser verzichtet auf den wichtigsten Zeugen, den Angeklagten selbst, um ein faires Gleichgewicht zu schaffen. Letztlich gilt das Schweigerecht als Ausdruck von Gesittung und Kultur. 1 8 9 Ebenso werden als Ursprung ein „right to privacy", das den Schutz vor einem Eindringen des Staates in die Privatsphäre oder die Selbstbestimmung gewährleistet, abgeleitet aus der menschlichen Würde, genannt. 190 182 Miranda ν. State of Arizona (384 U. S. 436 (1966) at 478). 183 Dworkin, Ronald, Bürgerrechte ernstgenommen (Taking rights seriously), S. 222 ff., insbes. 224 und 241. 184 Diese wurden von Nixon als „strict constructionists " bezeichnet. Vgl. ebenso die zusammenfassende Darstellung bei Herrmann, Joachim, Neuere Entwicklungen in der amerikanischen Strafrechtspflege, JZ 1985, 602, 604. 185 Ausführlich: Lorenz, Frank Lucien, Formalismus, Technizismus, Irrealismus, StV 1996, 172, 178. 186 Beckwith v. U. 5., 425 U. S. 341 (1976). 187 Hishon, Robert H ./Westin, Richard A. /Green, Bruce Α., Tax Fraud and Money Laundering, S. 177. iss Bellis v. U. S., 417 U. S. 85 (1974); McGowen, Darrell/O'Day, Daniel G./North, Kenneth E., Criminal Tax Fraud, S. 536. 189 Erdmann, Hans-Henning, Die Ausdehnung der strafprozessualen Garantien der USBundesverfassung auf den Strafprozeß der Einzelstaaten, S. 132. 190 Easton, Susan M., The Right to Silence, S. 127.
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In der Literatur werden ernsthafte Zweifelsfragen des V. Amendments in bezug auf die Steuererklärungspflicht des Betroffenen aufgeworfen. So wird in Zweifel gezogen, ob der Steuerpflichtige, der sich hinsichtlich einer Angabe in einer Steuererklärung auf das Selbstbezichtigungsprivileg berufen kann, in weiteren Erklärungen zur Aussage gezwungen sein kann. 191 Der U. S. Supreme Court vertritt hingegen den Standpunkt, daß ein Steuerpflichtiger durch das V. Amendment nicht von jeglicher Steuererklärungspflicht befreit wird, sondern nur in der jeweiligen Steuererklärung den Einwand der Gefahr der Selbstbezichtigung erheben kann. 192 Ebensowenig greift das V. Amendment, wenn der Steuerpflichtige in seinen Steuererklärungen Angaben gemacht hat, an denen er in einem Verfahren wegen nichtsteuerlicher Delikte festgehalten wird. 1 9 3 Eine strafbefreiende Selbstanzeige ist im Recht der Vereinigten Staaten nicht (mehr) ohne Einschränkung garantiert. 194 Während der Internal Revenue Service (1RS) bis 1952 auf eine Anklage nach einer Selbstanzeige („ voluntary disclosure ") verzichtete, sah die spätere Verwaltungspraxis nicht notwendig einen Ausschluß der Anklage eines Täters an, der seine Tat selbst angezeigt hatte. Vielmehr soll es auf eine Gesamtbetrachtung auch der übrigen Umstände ankommen, wenn über die Anklageerhebung entschieden wird. 1 9 5 Das 1RS hat es stets vermieden, exakte Kriterien festzulegen. Es soll aber jedenfalls dann eine (erneute) Selbstanzeige ausgeschlossen sein, wenn bereits zuvor beim selben Steuerpflichtigen wegen einer früheren Steuerstraftat auf eine Anklage verzichtet wurde. Seit 1974 wird eine Selbstanzeige durch jede tatsächliche oder vermeintliche Entdeckungsgefahr ausgeschlossen, beispielhaft wird ein drohendes Scheidungsverfahren genannt. 196 Dabei wird das Recht zur Selbstanzeige aus dem V. Amendment der Verfassung und dem darin enthaltenen Schweigerecht abgeleitet.197 Kommt es entgegen der bisherigen Verfolgungspolitik oder entgegen einem konkreten Versprechen gegenüber dem Steuerpflichtigen, nach einem Geständnis kein Strafverfahren anzustrengen, dennoch zu einer Strafverfolgung, so kann sich der Betroffene auf das Selbstbezichtigungsprivileg berufen. 198 In der Rechtspraxis hat die Unsicherheit der Behandlung einer Selbstanzeige dazu geführt, daß Steuerpflichtige ihre Steuerschulden anonym über ihren Anwalt bezahlen. In einem späteren Steuerstrafverfahren ist es zugunsten des Steuerpflichti191 Hishon, Robert H./Westin, Richard A./Green, Bruce Α., a. a. Ο. (Fn. 187), S. 357. 192 C/. S. v. Sullivan, 274 U. S. 259 (1957). Dies bestätigt auch Fischer, Daniel J., a. a. O. (Fn. 149), S. 220 m. w. N. 193 Garner v. U. S., 424 U. S. 648 (1976). 194 Balter, Harry Graham, Tax Fraud and Evasion. Kap. 4.04. 195 McGowen , Darrell / Ο' Day, Daniel G./North, Kenneth E., Criminal Tax Fraud, S. 54. 196 Abramowski, Jasper, Gibt es eine strafbefreiende Selbstanzeige auch im Steuerstrafrecht der USA?, DStZ 1991,744, 744; Webb, Robert C., High Income Nonfilers Can Preclude Criminal Prosecution Through Voluntary Disclosure, TAXES 1992, 100, 104. 197 Abramowski, Jasper, a. a. O. (Fn. 196), DStZ 1991, 744, 745. 198 So auch Fischer, Daniel J., a. a. O. (Fn. 149), S. 233.
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gen zu berücksichtigen, daß der Staat aufgrund der anonymen Zahlung keinen Nachteil erlitten hat und die Zahlung, da die Tat noch nicht entdeckt war, freiwilliger Natur ist und damit Ausdruck einer Abkehr vom vorangegangen kriminellen Verhalten darstellt. Diese Vorgehensweise begegnet zugegebenermaßen dem Vorwurf, daß der Steuerpflichtige nicht seine volle Mitwirkung gezeigt hat, wenn er seine Identität nicht aufdeckt. Mitunter könnte das 1RS in dem Zahlungsbeleg eine Steuererklärung sehen und sodann vom Anwalt die Identität des Mandanten verlangen, welche nicht unter das attorney-client privilege fällt und somit offenbart werden muß. 1 9 9
199 Krit. Hishon, Robert H ./Westin, S. 374. 27 Röckl
Richard A. /Green, Bruce Α., a. a. O. (Fn. 187),
Sechstes Kapitel
Die europäische Dimension § 1 Einfluß des europäischen Steuerrechts auf nationales Steuerstrafrecht A. Verfahrensrechtliche Garantien nach der Europäischen Menschenrechtskonvention I. Die Bedeutung für das Steuerrecht allgemein Die Europäische Menschenrechtskonvention hat die Rechtsnatur eines völkerrechtlichen Vertrags. Nach überwiegender Auffassung genießt sie in der Bundesrepublik Deutschland den Rang eines einfachen Gesetzes.1 Aus Art. 1 Abs. 2 GG ist kein Gebot einer menschenrechtsfreundlichen Verfassungsinterpretation zu entnehmen.2 Bei der Auslegung von Bestimmungen des Grundgesetzes kann jedoch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergänzend in Form einer Auslegungshilfe herangezogen werden. Denn die Menschenrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten sind, können bei der Auslegung der „folgenden Grundrechte" i. S. d. Art. 1 Abs. 3 GG einbezogen werden.3 Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung4 aus1 Klein, Franz, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 18; von Münch, Ingo , in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 44; a.A. jedoch Model/Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 GG, Rn. 7, der der Europäischen Menschenrechtskonvention Verfassungsrang zubilligt, weil die Formulierung in Art. 1 Abs. 2 GG „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ..." den Bezug zur Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG herstelle. Dies begegnet aber dem Einwand, daß die Europäische Menschenrechtskonvention vom 04. 11. 1950 bei Inkrafttreten des Grundgesetzes noch nicht vorlag, der Verfassungsgeber hierauf somit nicht Bezug nehmen konnte. 2 Mit Recht abl. Höfling, Wolfram, in: Sachs, Michael, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 69. 3 Insoweit bejahend Jarass, Hans, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 12a; Häberle, Peter, Bedeutungsgehalte und Funktionen des Parlamentsgesetzes im Verfassungsstaat, in: ders., Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 521, 525. Häberle spricht von einem „Auslegungs-Topos". 4 Beschl. v. 26. 03. 1987 - 2 BvR 589/79, 740/81 und 284/85, BVerfGE 74, 358, 380, zuvor schon der Beschl. v. 15. 12. 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 347.
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drücklich herausgestellt, indem es die Unschuldsvermutung, wie sie in Art. 6 Abs. 2 EMRK enthalten ist, zum verfassungsrechtlichen Gebot erklärt hat, obgleich das deutsche Verfassungsrecht keine explizite Garantie dieses rechtsstaatlichen Prinzips kennt. Danach kann die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Konkretisierung durch den zuständigen Gerichtshof Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes sein.5 Die Wissenschaft sieht teilweise in dieser Entscheidung einen bedeutenden Wandel,6 weil in der Urteilsbegründung für das Recht der EMRK der Grundsatz des „ lex posterior " aufgehoben werde und statt dessen der EMRK der Rang einer „ lex specialis " zuerkannt werde, die nur durch ausdrückliche Aufhebung in einem späteren Gesetz wegen der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland wieder ihre Geltung verlieren kann. Zunehmend setzt sich aber in der Literatur der Gedanke eines „gemeineuropäischen Verfassungsrechts" 7 durch, denn auch die anderen nationalen Verfassungsgerichte verwenden die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als Interpretationshilfe auf dem Weg zu einer Europäisierung des Verfassungsrechts.8 Auch der EuGH zieht die EMRK mit heran.9 Hieraus folgt, daß der Europäischen Menschenrechtskonvention hinsichtlich des materiellen Steuerrechts zwar eine gewisse Bedeutung zukommt, diese reicht jedoch nicht soweit, allein aus einem Verstoß gegen eine Bestimmung der EMRK eine Unbestimmtheit im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG abzuleiten. So könnten sich aus Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls (Schutz des Eigentums) Beschränkungen einer Besteuerung ergeben. Das Besteuerungsrecht der Mitgliedstaaten wird jedoch in Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP ausdrücklich anerkannt. Den Organen der EMRK blieb aber vorbehalten zu prüfen, ob Steuern in ihren äußersten Grenzen mißbräuchlich oder unverhältnismäßig bezüglich der Eigentumsgarantie sind. 10 Praktisch läuft diese Kontrolle jedoch leer, da sie nicht über die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu konfiskatorischen Steuern hinausging.11 Auch in anderen europäischen Staaten blieb der Einfluß gering. 12 5 Erneut bestätigt in den Beschlüssen v. 29. 05. 1990 - 2 BvR 254, 1343/88, BVerfGE 82, 106, 114und v. 14. 11. 1990-2BvR 1462/87, BVerfGE 83, 119, 128. 6
Kühl, Kristian, Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland, ZStW 100 (1988), 406,409 f. 7 Häberle, Peter, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders., Europäische Rechtskultur, S. 33,45. 8 Wilfinger, Peter, Das Gebot effektiven Rechtsschutzes in Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention, S. 200 f. 9 EuGH v. 28. 10. 1975, Rs. 36/75, Roland Rutiii, Slg. 1975, 1219, 1232, Egrd. 32. 10
Peukert, Wolfgang, in: Frowein /Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 1 des 1. ZP, Rn. 102. u Beschl. v. 15. 12. 1987 - 1 BvR 563, 582/85, 974/86 und 1 BvL 3/86, BVerfGE 77, 308, 339; Beschl. v. 31. 05. 1988 - 1 BvR 520/83, BVerfGE 78, 214, 230; Beschl. v. 27*
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6. Kap.: Die europäische Dimension
Die EMRK gibt auch inhaltlich wenig her zur Frage, inwieweit der Besteuerung Beschränkungen aufgrund der Rechte des Bürgers auferlegt sind. 13 Keine Bedenken bestehen aber gegenüber einer Anwendung der EMRK im Steuerstrafverfahren selbst, soweit es um rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien geht.
II. The right to remain silent Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK garantiert jedermann den Anspruch, daß seine Sache in billiger Weise gehört wird (im englischen Text: „/