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German Pages 157 Year 2002
Heinz Mohnhaupt / Dieter Grimm . Verfassung
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 47
Verfassung Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart
Zwei Studien von
Heinz Mohnhaupt und Dieter Grimm
Zweite Auflage
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Verfassung: zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart; zwei Studien I Mohnhaupt, Heinz ; Grimm, Dieter. 2., veränd. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 47) ISBN 3-428-10952-X
1. Auflage 1995
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Druck: WB-Druck, Rieden IAllgäu Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-10952-X
© 2002 Duncker &
Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort zur zweiten Auflage Begriff und Bedeutung der Verfassung gewinnen durch die europäische Verfassungsdiskussion neue Aktualität. Es ist offenkundig, dass Verfassung in einem supranationalen Kontext nicht dasselbe bedeuten kann wie im Nationalstaat. Gleichzeitig zeigt sich aber, dass die Herausbildung überstaatlicher politischer Handlungseinheiten die nationale Verfassung nicht unberührt lässt. Überdies schärfen die nur zum Teil geglückten Verfassungsprojekte in den ehemals sozialistischen Ländern wie auch in anderen neu konstitutionalisierten Staaten das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen tatsächlicher und normativer Verfassung. Manche Fragen, die sich damit verbinden, sind nicht völlig neu. Sie haben sich vielmehr schon früher gestellt und sind nur durch den Siegeszug des modemen Konstitutionalismus im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten. Das gilt etwa für die Frage nach dem Sinn von Verfassung, bevor sich der modeme, auf den Nationalstaat bezogene Konstitutionalismus herausbildete, oder für die Frage nach der Abhängigkeit der normativen Verfassung von den tatsächlichen Zuständen und Machtverhältnissen eines Landes. Eine Vergewisserung über die Wandlungsprozesse, die sich in der Geschichte des Verfassungsbegriffs widerspiegeln, verspricht daher auch Orientierungshilfen in der jetzigen Umbruchsituation. Gleichzeitig kann sie den Reichtum an Vorstellungen und Bezügen offenbaren, der sich mit dem historischen Begriff der Verfassung verbindet. Gerade wegen der Hilfe, die das Buch womöglich in der Gegenwart zu leisten vermag, haben wir uns entschlossen, die Neuauflage nicht durch eine umfangreiche Überarbeitung oder Ergänzung des Textes hinauszuzögern. Das Werk erscheint vielmehr in derselben gegenüber der Darstellung im Lexikon der geschichtlichen Grundbegriffe erweiterten - Form, in der es 1995 erstmals vorgelegt wurde. Berlin und Frankfurt, im Mai 2002 Dieter Grimm
Heinz Mohnhaupt
Vorwort Verfassungsdebatten, Refonnen bestehender Verfassungen und Errichtung neuer Verfassungen bestimmen heute vielfach die politische und wissenschaftliche Diskussion. Ihr Ursprung liegt in den veränderten politischen und sozialen Verhältnissen, wie sie in den letzten Jahren in Europa, Asien, Südarnerika und Südafrika eingetreten sind. Neue oder veränderte Verfassungstexte sollen erfolgte politische und gesellschaftliche Veränderungen legitimieren und nonnativ befestigen und beabsichtigte Veränderungen verbindlich vorschreiben und anleiten. Wir erleben diesen Vorgang in vielen Territorien und auf unterschiedlichen Ebenen: mit völlig neuen Verfassungsschöpfungen in den früheren Militärdiktaturen Südarnerikas und Apartheidregimen Südafrikas, in den ehemals sozialistischen Staaten Europas und im föderalen Zusammenhang in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland und verschiedenen Schweizer Kantonen, mit der Refonn des bestehenden Grundgesetzes im vereinigten Deutschland und der erneut in Angriff genommenen Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung und schließlich auf der überstaatlichen Ebene mit dem Versuch, die Errungenschaft der Verfassung auf den Staatenverbund der Europäischen Union zu übertragen. All diese Verfassungsarbeiten und theoretischen Auseinandersetzungen um die bestmögliche Einrichtung der Verfassung finden nicht voraussetzungslos statt. Sie werden mitbestimmt durch die politischen Vorgänge, die zu der jetzigen Situation und AufgabensteIlung geführt haben; durch die sozialen und politischen Machtverhältnisse, die sich auf diese Weise hergestellt haben; durch die kulturelle Verwurzelung, in der die Staaten und Länder stehen; schließlich durch ihre Geschichte und die Tradition ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Instrumente, die gleichsam als Bausteine für Verfassungsrefonn und Verfassungserlaß zur Verfügung stehen. Gerade der letztere Aspekt der historischen Rekonstruktion und der Selbstvergewisserung dessen, was heute - wie selbstverständlich - als "Verfassung" verstanden wird, spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele inhaltliche Diskussionen, etwa um die Aufnahme von moralischen Appellen und Bürgerpflichten, Zielvorgaben oder Leistungszusagen in die Verfassung, sind auch oder im Kern Diskussionen um den Begriff, den man sich von der Verfassung macht. Die beiden hier vorgelegten Studien sind nicht für diesen aktuellen Zweck geschrieben worden. Sie entstanden als begriffsgeschichtliche Untersuchung für das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebene ,,Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland" ("Geschichtliche Grundbegriffe"). Nach aufwendigen und langwierigen Vorarbeiten der Sichtung und Aufbereitung des unenneßlichen Materials wurden sie 1990 in Band VI (Seite
VIII
Vorwort
831 bis 862 und 863 bis 899), allerdings nur in einer zum Teil stark gekürzten Fassung und Quellenauswahl, veröffentlicht. Vor allem vom Beitrag "Verfassung I" (H. Mohnhaupt) hat nur etwa die Hälfte des Textes Aufnahme in das Lexikon gefunden. Dafür waren ausschließlich verlagstechnische Gründe der Umfangsbeschränkung maßgebend, so daß wir uns nach Ermunterung durch Reinhart KoselIeck und Genehmigung des Klett-Cotta-Verlags zur ungekürzten und teilweise nochmals überarbeiteten und ergänzten Veröffentlichung entschlossen haben. Reinhart Koselleck und dem Verlag danken wir für die Ermöglichung der ungekürzten Publikation. Aus der Zielsetzung der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ergibt sich, daß es sich um begriffsgeschichtliche Untersuchungen handelt. "Verfassung I" (H. Mohnhaupt) umfaßt die Zeit von der Antike bis zur Aufklärung; "Verfassung ll" (D. Grimm) reicht von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Beide Artikel überschneiden sich also in der Aufklärungsepoche. Innerhalb dieses Zeitraums - Koselleck bezeichnet ihn als "Sattelzeit", Jaspers als ,,Achsenzeit" - erhält der Begriff der Verfassung seine prägende juristische inhaltliche Ausformung auf der langen Wegstrecke seit der Antike, ohne freilich unzweifelhafte Eindeutigkeit zu erlangen. Er wird aber zu einem neuen gefestigten sprachlichen Instrument vorwiegend juristischen Inhalts, dessen jeweilige Ausprägungen die politischen und ideologischen Staats-, Rechts- und Gesellschaftsauffassungen widerspiegeln. Das ist natürlich auch in der verfolgten langen Zeitspanne seit der Antike zu beobachten, aber eher punktuell und mit anderen Akzenten und Brechungen. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Staat und Gesellschaft beeinflussen auch den begrifflichen Werdegang von Verfassungen. Parallelbegriffe und Alternativbegriffe wie Konstitution, Status, Lex fundamentalis und Grundgesetz waren daher mitzuberücksichtigen, ebenso die Entwicklungen in England, den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich. Begriffsgeschichte am Beispiel des Wortes "Verfassung" bedeutet daher zugleich Wortgeschichte, Sprachgeschichte, Sozialgeschichte, politische Geschichte, Ideengeschichte sowie juristisch-staatliche Institutionengeschichte, wenn Struktur und inhaltliche Dynamik der untersuchten Wortfelder annäherungs weise erfaßt werden sollen. Damit war der Kreis der zu befragenden Quellen immens weit gezogen, ohne daß man immer gewiß sein konnte, die entscheidenden Wegscheiden, Fundorte und Zeitmaße aufgedeckt zu haben. Namentlich die politische Literatur seit der frühen Neuzeit ließ sich als Massenphänomen nur punktuell befragen. Die "großen" Repräsentanten der philosophischen, politischen und staatsrechtlichen Literatur verbürgten nicht von vornherein die richtige Auswahl. Vielmehr galt es, nach Möglichkeit auch die Masse des Stoffs jenseits der Autoritäten in den Blick zu nehmen. Nach wie vor hoffen wir, in der Fülle der Quellen die entscheidenden Wegemarken dafür gefunden zu haben, was sich im Begriff "Verfassung" historisch verbirgt und wie dieser sein heute vorherrschendes, aber keineswegs abgeschlossenes Verständnis erlangt hat. Heinz Mohnhaupt
Dieter Grimm
Inhaltsverzeichnis A. Verfassung I Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung Von Heinz Mohnhaupt I. Einleitung: Definitionsbreite des modemen Verfassungs-Begriffs ........ .
ll. Antike .................. ... ..................................... .. ...... ... . . ..
5
1. Die griechische Politeia: Ordnung der Stadtstaaten und die Staatsformen . .. .................................................................
5
2. Rom: "constitutio" und "status rei publicae" ...........................
10
III. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
14
1. Status und Constitutio ..... ... ...........................................
14
2. Constitutio und Institutio ................................................
20
3. Verfassung: Vereinbarung, Abfassen, Ordnen ......... ................
22
IV. Constitutio und Verfassung im Bereich der Medizin und in der "Politica"Literatur .......................................................................
25
1. Corpus-Metaphorik und Constitutio ....................................
26
2. Constitutio in der Medizin ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .
29
3. "Constitutio"in der Politika-Literatur .......................... . .......
33
V. "Lex fundamentalis" und "constitution" ........ . .................... . .......
36
1. Frankreich ........ . ............................ .. .............. .. .........
36
a) "Estat" und Bindung des Fürsten im 16. Jahrhundert..... .. .......
36
b) Wörterbuchebene ................ .... ... . . . ........... ... ..... ........
39
c) Constitution in der staatsrechtlichen Literatur ......................
41
2. England ...................................................................
44
VI. Schriftlichkeit: "Verfassung" und Verfaßtes ................... . ... ... ......
49
1. Sprachgebrauch und Wörterbuchebene
49
2. Leibniz: "Verfassung" der Staatstafeln
51
x
Inhaltsverzeichnis
VII. Kleine Organisationseinheiten und staatlicher Gesamtverband ............
53
1. Bünde ......... ............ ..................... ...........................
54
2. Die Reichskreise .........................................................
56
3. "Haus" und "Verfassung" ....... ...... ........... ........... ............
59
VIII. ,,Lex fundamentalis" und "Grundgesetze" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
IX. "Status" und Staatsfonn des Reiches ........................................
66
X. Der doppelte "Verfassungs"-Begriff als rechtlicher und außerrechtlicher Zustand: Staat und Statistik ..................................................
71
XI. Territorialstaat und ,.Landesverfassung" .....................................
75
XII. Die Ordnung des Reiches ....................................................
78
1. "Verfassung" und "Grundgesetze" des Reiches ........................
78
2. Lob und Tadel der Reichsverfassung in der zeitgenössischen Publizistik
83
XIII. Wörterbuchebene und literarische Definitionsversuche: Kombinationsvielfalt und sachliche Differenzierung ...........................................
88
XIV. "Constitution" und ,,Nation" bei Vattel .....................................
91
XV. "Verfassung" und Gesetzgebung ........ ... ............ .... ....... ...........
92
XVI. Kodiftkation des Privatrechts und der "Verfassung" . .... ...... ............
96
B. Verfassung 11 Konstitution, Grundgesetz(e) von der AufkUinmg bis zur Gegenwart Von Dieter Grimm I. Entwicklungsrichtung .........................................................
100
11. Die Anfänge des Konstitutionalismus .......................................
101
1. Die vorrevolutionäre Terminologie .....................................
101
2. Die Bedeutung von "constitution" in England .........................
102
3. Die Durchsetzung des modemen Konstitutionalismus in Nordamerika
104
4. Die Rezeption des amerikanischen Verfassungsbegriffs in Frankreich
105
5. Bedeutungswandel von "Konstitution" in Deutschland..... ...........
107
6. Defensive Verwendungen von "Konstitution" ......... ................
108
Inhaltsverzeichnis
XI
7. Die förmliche Verfassung als Bedingung von Freiheit .. . ............ .
J J0
8. Materielle Anreicherung des Verfassungsbegriffs ........... . .. . .. . ....
J lJ
9. Das Recht zur Verfassungsänderung ........ ..... . ........ ...... ........
lJ2
JO. Rückwirkungen auf die Vertragstheorie .......... . ............. . .......
113
III. Die Zeit der Verfassungskämpfe ... ...... ..... . .. ... . .... .... ......... .... . ..
115
1. Die Grundpositionen ........ .... ........................................ .
J 15
2. Verfassung als Prinzip des Fortschritts ........ . ........................
116
3. Die Verfassung der Verwaltung. . ..... .. . ............ ..... . .. .. ..... . ...
lJ7
4. Verfassung als Mittel der Freiheitssicherung ... .. .. .. .. ... ..... .. . . .. ..
119
5. Die Notwendigkeit einer Verfassungsurkunde ........... .... ...... ....
J20
6. Verfassung als Produkt historischer Entwicklung.............. .. ......
121
7. Oktroyierte und paktierte Verfassung......... .. .. . . . ....... . ... .... . ...
123
8. Die liberale Wendung von der vertraglichen zur gesetzlichen Verfassungsbegründung ............................................. . . . . ........
J24
9. Konservative Annäherungen an den Verfassungsstaat .................
125
10. Verfassung im materiellen und im formellen Sinn ...... ... . ..... . ....
J26
IV. Konsolidierung und Krise der rechtlichen Verfassung ...... . ........ . .....
127
1. Abkehr vom Naturrecht ... . ...... ..... .... .. .. ............... .. . ........
127
2. Positivierung der Verfassung................... . .................. ......
129
3. Verfassung als Ausdruck von Machtverhältnissen ........... .. . .. .....
130
4. Grundordnung oder Teilordnung ... . ..................... . .. .. . . .. ......
132
5. Vorrang des Staates vor der Verfassung ... ... ................ . .... ....
133
6. Identität von Verfassung und Verfassungs gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
7. Prozedurale Auflösung des Verfassungsgesetzes . .............. ........
135
8. Dezisionistische Auflösung des Verfassungsgesetzes . .. . . .............
137
9. Normative und seinsmäßige Verfassung...... . . . ..... ........ ... .......
138
10. Das Ende der normativen Verfassung ........ . ............. ... . . .......
139
V. Ausblick ...... .. ... . .. . .. .. . ........... . .......... . ................ . ...........
140
Literaturverzeichnis
142
A. Verfassung I Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung Von Heinz Mohnhaupt
I. Einleitung: Definitionsbreite des modernen Verfassungs.BegritTs "Konstitution" als der ältere, "Verfassung" als der jüngere Begriff stehen in einer engen Verbindung. Trotz unterschiedlicher Herkunft sind sie weitgehend synonym. Das gemeinsame Bedeutungsfeld beider Begriffe umfaßt folgende - keineswegs synchron gelagerte - Elemente: 1. Zustand und Beschaffenheit, 2. Ordnung, 3. Errichtung bzw. Abfassung schriftlicher Form und Inbegriff des Verfaßten. Gehörte der Begriff der "Verfassung" der deutschen Begriffsbildung an, verweist der Begriff "Konstitution" auf die römische Antike und mittelalterliche Wortverwendung. Seit dem 16. Jahrhundert gewinnt der Begriff der "lex fundamentalis" Konturenschärfe als Vorläufer des modemen "Grundgesetzes". Das Element des ,,Zustandes" im Begriff der "Konstitution" und "Verfassung" verweist auf den Bereich der Medizin. Die medizinische "Verfassung" des Menschen und die "Konstitution" seines Körpers meinen auch heute noch den Zustand, der durch das Zusammenwirken physischer und psychischer Kräfte im menschlichen Organismus bedingt ist l . Die organologische Staatsauffassung bezieht gerade aus dem Vergleich zwischen menschlichem Körper und staatlichem Organismus ihre Sprachbilder, die sich in den Wortkombinationen Staatskörper, Staatshaupt, Staatsorgane zeigen 2 • Das Element des ,,Zustandes" hat aber auch eine Entsprechung im Begriff von "status". Darin zeigt sich die enge Verbindung der Begriffe 1 Zur Verwendung des Verfassungsbegriffs im medizinischen Bereich vgl. z. B. R. Schmidt, Die Vorgeschichte der geschriebenen Verfassungen, in: Zwei öffentlich-rechtliche Abhandlungen als Festgabe für Otto Mayer, hrsg. von R. Schmidt I E. Jacobi, Leipzig 1916, S. 90; H. O. Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften 1962, 1), Berlin 1962, S. 3; zu den Analogien zwischen Politik und Medizin bei H. Conring vgl. M. Stolleis, Die Einheit der Wissenschaften - zum 300. Todestag von Hermann Conring (1606 -1681), in: Beiträge zur Geschichte des Landkreises und der ehemaligen Universität Helmstedt, Heft 4, 1982, S. 6. 2 Vgl. E.-W. Böckenförde, Organ, in: O. Brunner I E. Conze I R. Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 561 ff.
I Mohnhaupl/Grimm
2
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
"Konstitution und Verfassung" mit der Genese des Begriffes "Staat" bis in die Modeme. In der klassischen Antike, aber auch im Mittelalter hatte der lateinische Begriff "status" noch keineswegs seine Bedeutung als "Staat" oder "Gemeinwesen" gewonnen, sondern lediglich die Sinnerfüllungen ,.zustand", ,,Form des Gemeinwesens" und ,,fester Stand, Bestand des Gemeinwesens" besessen3 • So bemhren sich die Begriffe Verfassung / Konstitution und Staat in der semantischen Gemeinsamkeit einer historischen Grundbedeutung ,.zustand". Diese Nähe der Begriffe Verfassung / Konstitution einerseits und Staat andererseits hat weitere Entsprechungen in der instabilen modemen Definitionsbreite und in der Komplementärfunktion beider Begriffsbereiche, die bei der historischen Untersuchung mit zu bedenken sind. Die Untersuchung der Genese der Begriffe "Verfassung" und "Konstitution" hat eine gegenwartsbezogene rechtliche, politische und soziale Konnotation. Für beide werden die heutige Wortverwendung und der heutige Begriffsinhalt mitgedacht. "Verfassung" meint heute primär das schriftlich festgelegte, gesetzlich bindende und dem einfachen Recht übergeordnete rechtliche Normengefüge für das organisierte staatliche Gemeinwesen. Die Hinführung und Anknüpfung der historischen Entwicklungslinien an den modemen Begriffsgehalt ist durch den Mangel an Eindeutigkeit eben dieses Begriffes erschwert. An einem feststehenden oder überwiegend anerkannten "Verfassungs"-Begriff fehlt es jedenfalls in der deutschen staats- und verfassungsrechtlichen Literatur4 • Hennis spricht sogar von der "eigentümlichen Schwäche und Verletzbarkeit des deutschen Verfassungsbegriffs" und Burdeau ganz allgemein vom "Verfall" und von ,,Auflösung" des Verfassungsbegriffs als einem Symptom der Schwäche moderner Staatlichkeit5 • Folgerichtig gilt dies auch für den Gegenstand des Faches "Verfassungs"-Geschichte, der dementsprechend - je nach historischem Epochenbezug - zwischen den Regeln rechtlicher Ordnung und politischer Struktur eines Staates oder einer Gesellschaft schwanken kann6 . Juridifizierung und Soziologisierung des Verfassungsbegriffs im 3 W. Mager, Zur Entstehung des modemen Staatsbegriffs (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1968,9), Wiesbaden 1968, S. 396; vgl. auch W. Sueroaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von der Res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis, 3. Aufl., Münster 1977, S. 63; S. Hauser, Untersuchungen zum semantischen Feld der Staatsbegriffe von der Zeit Dantes bis zu Machiavelli, Zürich 1967, S. 35. 4 Vgl. dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Karlsruhe 1975, S. 3 - 5. ~ W. Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. Eine Sammlung von Vorträgen ... 373/374), Tübingen 1968, S. 7, und G. Burdeau, Zur Auflösung des Verfassungsbegriffs, in: Der Staat 1 (1962), S. 389 - 404 (390). 6 Vgl. zuletzt D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. Ein Studienbuch, München 1990, S. 2 f.; ders., Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: R. Schulze, Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3), Berlin 1991, S. 141 - 151. Die neuere Diskussion um den Verfassungsbegriff in der Verfassungsgeschichte spiegeln sehr anschaulich die Beiträge von R. Koselleck, K. Kroeschell und R. Sprandel wider, in: Gegenstand und Begriffe der
I. Einleitung: Definitionsbreite des modemen Verfassungs-Begriffs
3
19. und 20. Jahrhundert spiegeln diese Bedeutungsbreite historisch wider7 • Dieser Mangel einer allgemeingültigen Festlegung gilt jedoch auch für den "Staats"-Begriff!. Die moderne Verfassungsdiskussion unterscheidet zwischen einem juristischen und außeIjuristischen Verfassungsbegriff, wobei jedoch die entsprechenden Merkmale sich in den Definitionsversuchen überlagern. Philosophische, historische, politologische und soziologische Begriffsbestimmungen sind vom Gegenstand der Betrachtung und dem disziplinär bestimmten wissenschaftlichen Interesse des Betrachters bestimmt: Huber nennt die Verfassung "ein Gesamtgefüge von Ideen und Energien, von Interessen und Aktionen, von Institutionen und Normen,,9; Böckenföroe sieht in Anlehnung an Otto Brunner die Verfassung als ,,konkrete politisch-soziale Bauform einer Zeit"lO; Häberle begreift Verfassung als kulturelle Leistung im kulturellen Zusammenhangli; earl Schmitt, auf den sich wieVerfassungsgeschichtsschreibung (Beiheft 6 zu ,,Der Staat"), Berlin 1983, S. 7 ff.; ähnlich H. Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik, Düsseldorf 1984, S. 17 - 23; vgl. auch R. Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, Paderborn 1975, S. 11 - 29; O. Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Herrschaft und Staat im Mittelalter (Wege der Forschung 11), hrsg. von H. Kämpf, Darmstadt 1964, S. 1 - 19; zur Unsicherheit staatstheoretischer Begrifflichkeit des Mittelalters und der "Verfassungsformen" vgl. H. K. Schulze, Mediävistik und Begriffsgeschichte, in: R. Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte (Sprache und Geschichte 1), Stuttgart 1978, S. 242 - 261 (253 f.). 7 Boldt, Einführung (s. Fn. 6), S. 23 - 26. Zum Spannungsverhältnis zwischen rechtlichnormativem und soziologisch-politischem Verfassungsbegriff vgl. F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte (Zürcher Beiträge zur Rechtswissenschaft 295), Zürich 1968, S.41-46. 8 Zur Entwicklung des Begriffs "Staat" vgl. W. Conze u. a., Staat und Souveränität, in: O. Brunner u. a., Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 1 ff. Zur Frage eines allgemeingültigen Staatsbegriffs im Sinne einer "überfamiliären Wirkungseinheit" vgl. H. Quaritsch, Staat und Souveränität I: Die Grundlagen, Frankfurt 1970, S. 20 f.; M. Huber, Die Entwicklungsstufen des Staatsbegriffs, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge 23 (1904) 22, leugnete angesichts unterschiedlicher Entwicklungsstufen und Entwicklungsbedingungen, "daß es einen für die Menschheit schlechthin gültigen Staatsbegriff gäbe". Vgl. zuletzt auch St. Skalweit, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff (Erträge der Forschung 178), Darmstadt 1982, S. 123 f. 9 E. R. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, Stuttgart 1961, Vorwort(S. V). 10 E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte 1), Berlin 1961, S. 21, 211; vgl. auch Böckenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Böckenförde (Hrsg.), Modeme deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1918), Köln 1972, S. 13. 11 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Schriften zum Öffentlichen Recht 436), Berlin 1 München 1982; ders., Klassikertexte im Verfassungsleben (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft ... 67), Berlin 1981, S. 43 f., sieht demzufolge auch historische Klassikertexte als Teil und Rahmen der Verfassungskultur eines Staates an; ebenso P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, in: P. Selmer 11. v. Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin I New York 1987, S. 73 - 84. I·
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
4
derum ausdrücklich Otto Brunner bezieht 12 , definiert "VeIfassung" als "den Gesamtzustand politischer Einheit und Ordnung" oder als "ein geschlossenes System von Normen,,13. Dies sind nur Beispiele für die sich ständig ausweitende definitorische Breite des VeIfassungsbegriffs 14 , dessen "fatale Zersplitterung" bis heute oft beklagt wird l5 • Auch in der ehemaligen DDR bestand die Forderung nach ,,Ausarbeitung eines allgemeinen Begriffs der VeIfassung als terminus technicus der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft ... und damit auch (als) ein EIfordemis der Gegenwart" 16. Der juristische VeIfassungsbegriff stellt auf die positivrechtliche normative Ordnung ab, die auf den Staat bezogen ist. Staat und VeIfassung sind heute weitgehend komplementäre Begriffe, die "sich gegenseitig wesentlich bedingen"l1. "Die Verfassung wird damit zum genauen Seitenstück des Staats", wie Richard Schmidt betonte 18. Das gilt auch trotz der "nicht eindeutigen,,19 Verwendung des VeIfassungsbegriffs. Konstitution I VeIfassung haben auf den verschiedenen Stufen staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung verschiedene Bedeutungen besessen. Die häufig zu beobachtende Unbedenklichkeit. mit der die Begriffe Konstitution und VeIfassung - aber auch "Staat" - auf verwandte, entfernt liegende historische Phänomene angewendet werden 20, für die der Begriff noch gar nicht zur Verfügung stand, wird dabei in ihrer besonderen Problematik offenbar.
O. Brunner, Land und Herrschaft, 4. Aufl., Wien I Wiesbaden 1959, S. 111 mit Fn. I. C. Schmitt, Verfassungslehre, München I Leipzig 1928, S. 3. 14 Vgl. F. Renner, Der Verfassungsbegriff (s. Fn. 7), S. 15 - 20; M. Roggentin, Über den Begriff der Verfassung in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. jur. Hamburg, 1978, S. 2 ff. 15 So zuletzt D. L. Kyriazis-Gouvelis, Der moderne Verfassungsbegriff und seine historischen Wurzeln. Aristoteles - Montesquieu - Menschenrechte, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 39, Tübingen 1990, S. 66. 16 F. Posorski, Zum allgemeinen Begriff der Verfassung, in: Staat und Recht 33, 1984, S. 239 - 246, hier 243. Zum einseitig im Sinne der marxistisch-leninistischen Lehre besetzten Verfassungsbegriff vgl. z. B. I. Hieblinger I R. Hieblinger, Charakteristische Merkmale der Verfassungen sozialistischer Länder, in : Staat und Recht 33, 1984, S. 611 - 617 (616); E. Poppe, Der politisch-juristische Charakter der Verfassung der DDR, in: Staat und Recht 31, 1982, S. 291 - 300; F. O. Kopp, Das Verfassungsverständnis in den sozialistischen Staaten, in: H. Hablitzell M. Wollenschläger (Hrsg.), Recht und Staat, FS Günther Küchenhoff, Berlin 1972, S. 573 - 603 (585 f.). 17 So bereits J. Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderer Rücksicht auf den Constitutionalismus 11, Würzburg 1857, S. 50. Eine solche Wechselbezüglichkeit besteht auch zwischen "Staat" und "Souveränität"; dazu W. Conze, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6, 1990, S. I f. 18 R. Schmidt, Die Vorgeschichte der geschriebenen Verfassungen (s. Fn. 1), 1916, S. 187; ähnlich H. Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: FS H. Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von A. J. Merkl u. a., Wien 1971, S. 212. 19 Vgl. E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: A. Buschmann u. a. (Hrsg.), FS Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag 28. Juli 1983, Bielefeld 1983, S.·7. 12
13
ll. Antike
5
Modeme Definitionen bieten daher nur wenig historische Anknüpfungspunkte, die allenfalls partiell hilfreiche juristische Umschreibungen bedeuten können 21 . Der außetjuristische Verfassungsbegriff dagegen knüpft entweder an eine überpositive Ordnung legitimer Herrschaft oder an die tatsächlichen Machtverhältnisse in der Gesellschaft an 22 . Gerade im Verhältnis des außetjuristischen Verfassungsbegriffs zur juristischen Verfassung und ihrer Begrifflichkeit sind heute die zentralen Probleme der Verfassungslehre zu suchen 23 . Die historische Hinführung zu einem modemen Verfassungsbegriff durchläuft dabei zahlreiche Stationen sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher, sozialer, politischer und juristischer Tatbestände. Mit der schriftlichen Kodifiktion einer ersten rechtlich-politischen Gesamtordnung in der Aufklärungsepoche in Gestalt der englisch wie auch französisch als "Constitution" bezeichneten amerikanischen (1776) und französischen (1791) "Verfassung" erlangt dieser Begriff schließlich eine lange vorbereitete völlig neue Qualität24 .
11. Antike 1. Die griechische PoUteia: Ordnung der Stadtstaaten und die Staatsformen
Der zentrale Begriff im griechischen Staats- und Verfassungsdenken des 6. Jahrhunderts ist die E"ÖVOJLLa (Eunomie)25. Christian Meier reiht sie unter die "Verfas20 Vgl. Skalweit, Beginn der Neuzeit (s. Fn. 8), 1982, S. 123 f.; H. K. Schulze, Mediävistik und Begriffsgeschichte (s. Fn. 6), 1978, S. 252. 21 Vgl. in diesem Sinne die immer noch hilfreiche Definition bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Das Recht des modemen Staates I), 2. Aufl., Berlin 1905, S. 491. ,,Die Verfassung des Staates umfaBt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt." 22 Zur Bandbreite rechtlich-soziologischer Verfassungsbegriffe im 19. I 20. Jahrhundert vgl. auch W. Henrich, Die Verfassung als Rechtsinhaltsbegriff, in: A. Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur reinen Rechtslehre, Wien 1931, S. 174 - 216. 23 Zum Spannungsverhältnis von Rechtsverfassung und Gesellschaftsverfassung in Kongruenz mit der Zweiseitenlehre des Staats vgl. U. Karpen, Die verfassungsrechtliche Grundordnung des Staates - Grundzüge der Verfassungstheorie und politischen Philosophie, in: JZ 1987, S. 431 - 442 (432 f.). 24 Vgl. zu diesem Entwicklungsabschnitt und weiterführend unten D. Grimm (S. 100ff.); ebenfalls D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866. Vorn Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt a. M. 1988, S. 10 ff. 25 Dazu und zum folgenden ehr. Meier, Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. ehr., in: R. Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, 1978, S. 196 ff.; ehr. Meier, Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe I, 1972, S. 821 - 835. Vgl. auch M. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung. Die sophistischen Staatstheorien des fünften Jahrhunderts v. ehr. und ihr Bezug auf Entstehung und Wesen des griechischen, vorrangig athenischen Staates (Europäische Hochschulschriften, Reihe IIl, Bd. 191), Frankfurt a. M.I Bem 1983, S. 85 f.
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A. Verfassung I (Mohnhaupt)
sungsbegriffe in einem sehr allgemeinen Sinne" ein, die mit "Wohlordnung" übersetzbar ist. Sie umschreibt - wenig konkret - eine gottgewollte Ordnung, die in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, politischen Institutionen und in der Wirkungskraft ethischer Grundsätze offenbar wird. Konkreter ist der Ende des 6. oder Anfang des 5. Jahrhunderts auftretende neue "Verfassungs"- Begriff der loovotJ.La (Isonomie)26. Mit "Gleichheitsordnung" übersetzbar läßt dieser Begriff seine politische Dimension aufleuchten. Diese "Gleichheitsordnung" zielt auf eine Ordnung vennehrter politischer Teilhabe der Bürger an der Herrschaft über die Polis. Damit war die Herrschaft des Volkes im Begriff der tI'ltJ.OXQu'tLa möglich und greifbar geworden. Zugleich war die Möglichkeit differenzierender 1Ypenbildung für die "Verfassungen" eröffnet, wie sie sich im klassischen ,,Dreiverfassungsschema" und seinen entsprechenden drei negativen Abweichungen ausdrückte27 • Dieses Verfassungsschema unterschied nach den Herrschaftssubjekten 1Yrann, Adel, Volk, d. h. einer regiert, einige regieren, alle regieren, und nach der Art und Weise der Herrschaftsausübung bzw. der ethischen Qualität der Regierenden28 • Aristoteles gruppiert diese "Verfassungs"-1Ypen folgendennaBen: " ... haben wir drei richtige Verfassungsfonnen unterschieden, das Königtum, die Aristokratie und die Politie, und drei Abweichungen, die Tyrannis vom Königtum, die Oligarchie von der Aristokratie und die Demokratie von der Politie. ,,29
,,Politie" und ihre Abweichung ,,Demokratie" meinen das Auseinandertreten von Demokratie und "schlechter Demokratie", für die sich nie ein eigener Begriff dauerhaft eingebürgert hat30• Das Schema ist erstmals bei Pindar und Herodot nachweisbar31 • Entscheidend für die Entwicklung des Verfassungsbegriffs der Neuzeit wird der Begriff der noM'tELa. Er besitzt eine dreifache Bedeutung und bezeichnet einmal die Teilhabe des Einzelnen an der Polis im Sinne des Bürgerrechts; sodann die Gesamtheit und Gemeinschaft der Bürger, die sich im Staat konkretisiert und weiterhin die Ordnung, unter der die Bürger im Staat leben sowie die Fonn der Herrschaftsausübung32 • Der Begriff "Politeia" verweist somit zurück auf den der - in Meier, Wandel (s. Fn. 25), S. 199. Zur Analyse der "Verfassungen nach dem Kriterium der Herrschaft" vgI. ehr. Meier, Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs der Demokratie, in: Discordia Concors. FS Edgar Bonjour zu seinem 70. Geburtstag am 21. August 1968, Bd. 1, Basel I Stuttgart 1968, S. 4 ff. 28 VgI. W. Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit (Geschichte und Gesellschaft 21), Stuttgart 1980, S. 34 - 37. 29 Aristoteies, Politik IV, 1289 a 26, zitiert nach der Übersetzung von OIof Gigon, Bibliothek der Alten Welt, 2. Aufl., Zürich 1973, S. 137. 30 VgI. dazu Gigon, Aristoteies I Aristotelismus, in: Theologische Realenzyklopädie I1I, Berlin I New York 1978, S. 758 f. 31 J. de Romilly, Le c1assement des constitutions d'H~rodote ~ Aristote, in: Revue des ~tudes grecques 72,1959, S. 81 - 99. 26
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11. Antike
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seiner Bedeutung ebenfalls umstrittenen - n6~ (Stadt / Staat)33 und dieser wiederum auf den des nOAi:tl1C; (Bürger)34. Diese Bedeutungsunterschiede beeinträchtigen jedoch grundsätzlich nicht die Einheit dieses Begriffs35 . Diese Begriffseinheit geht erst unter dem Einfluß des römischen "civitas"-Begriffs verloren, der zu der Bedeutung "Verwaltungsbezirk einer Polis" hinführt36 • Christian Meier hat deutlich gemacht, daß die nOAL"tELa zugleich ,,Bürgerschaft" und "Verfassung" bedeutet 37 und - Mitte des 4. Jahrhunderts - für die gute Form der Demokratie verwendet wurde. Sowohl Platon wie auch Aristoteles verwenden den Begriff Politeia für die verschiedenen Typen des Verfassungsschemas, die sich wiederum als konkretisierte Formen und Spielarten dem allgemeineren übergeordneten "Verfassungs"-Begriff subsumieren lassen. So rechnet Platon z. B. unter die fünf Arten der Politeia mit Vorrang die Basileia und die Aristokratia 38 . Der Begriff erhielt eine normative Komponente über die Bedeutung von ,,Bürgerschaft" und "gute Demokratie" hinaus im Sinne einer ,,rechtmäßigen Ordnung" schlechthin39 . Die Definition des Aristoteies zur nOAL"tELa lautet: ,,Denn Verfassung ist die Ordnung des Staates - :n:oAL"tELa jdv yliQ Eun "tci~U; "taL; :n:OAemv - hinsichtlich der Fragen, wie die Regierung aufgeteilt ist, welche Instanz über die Verfassung entscheidet und was das Ziel jeder einzelnen Gemeinschaft bildet. Die Gesetze sind aber getrennt von den Vorschriften, die die Verfassung charakterisieren, und geben die Richtlinien, nach denen die Regierenden zu regieren und Übertretungen abzuwehren haben. ,,40
32 Die Akzentuierung der einzelnen Elemente des Politeia- Begriffs erfolgen teilweise recht unterschiedlich; vgl. dazu Meier, Wandel (s. Fn. 25), S. 210 - 213; H. Ryffel, METABOAH nOAITEIClN. Der Wandel der Staatsverfassungen. Untersuchungen zu einem Problem der griechischen Staatstheorie, Diss. phil. Bem 1949, S. 3 - 5; H. Hubig, Die aristotelische Lehre von der Bewahrung der Verfassungen, Diss. phil. Saarbrücken 1960, S.15. 33 Die Diskrepanz zwischen quellen-empirischem Befund und benutzter gegenwärtiger Wissenschaftssprache - namentlich bei der kategorialen Einordnung der ,,Polis" in die Staatslehre und Staatsphilosophie - ist oft kritisiert worden; vgl. D. Nörr, Vom griechischen Staat, in: Der Staat 5, 1966, S. 353 - 370 (besonders 354, 364); W. Gawantka, Die sogenannte Polis. Entstehung, Geschichte und Kritik der modemen althistorischen Grundbegriffe: der griechische Staat, die griechische Staatsidee, die Polis, Stuttgart 1985, S. 9 - 29, 53 ff. 34 Vgl. Gigon, Einleitung zur Politik des Aristoteles (s. Fn.29), S. 29. 3S Vgl. Hans Schaefer, Staatsform und Politik, Leipzig 1932, S. 127. 36 Vgl. F. Papazoglou, Signification, in: Revue des etudes grecques 72, 1959, S. 100 - 105. Daneben besitzt die ,,Polis" jedoch auch noch eine "politische Funktion" als zusätzliches Qualifizierungsmerkmal, worauf D. Nörr, Vom griechischen Staat (s. Fn. 33), S. 370, mit Recht hingewiesen hat. 37 Meier, Wandel (s. Fn. 25), S. 211. 38 Platon, Pol. 445 c - e. Zur Staatsformen-Systematik und der Entwicklung von der Fünfformen- zur Sechsformenlehre vgl. die Übersicht bei M. Rostock, Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht. Studien zur Geschichte der Gewaltenteilungslehre (Schriften zur politischen Wissenschaft 8), Meisenheim am Glan 1975, S. 122 - 147. 39 Meier, Wandel (s. Fn. 25), S. 213.
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Für Aristoteles umfaßt somit der Begriff der ,,Politeia" primär "ein System der Magistraturen" mit der Ordnung der leitenden Magistratur an der Spitze41 und weniger die gesamte gesellschaftliche und staatliche Formstruktur mit seinem gesetzlichen Rahmen42 . Die Übersetzung von "Politeia" mit "Verfassung" ist deshalb nicht unproblematisch. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist es jedoch üblich geworden, den Begriff noÄ.L1:Eia mit "Verfassung" zu übersetzen43 . Schlosser benutzt 1798 z. B. die Begriffsvarianten Staatsverfassung, Staatsform, Constitution, Grundgesetz, System44 • Das Ungenügen der - wohl unvermeidbaren - Gleichsetzung von Politeia und "Verfassung" im Wege der Übersetzung ist in der modernen Literatur immer wieder betont worden. McIlwain bezeichnet diese moderne Übersetzung als "a very bad misfit, not so much in etymology as in actual content"45. Gigon nennt diese Übersetzung ,,mangelhaft genug,,46, Meier spricht vom "vagen Sinn als Verfassung,,47 und Ryffel erklärt zum Begriff der "Politeia", daß wir ihm "mit unserer 'Verfassung' nicht entfernt ein Äquivalent zur Seite stellen können,,48. Diese Tatsache ist zu beachten. Die Gewohnheit, Politeia nur mit "Verfassung", im Englischen bzw. Französischen mit "constitution" zu übersetzen, indiziert jedenfalls eine zu beachtende Wirkungsgeschichte für die Begriffe ,,Politeia" und "Verfassung" bzw. "Konstitution" zugleich. Dabei ist auch zu bedenken, daß es sich bei den Begriffen ,,Polis" und "Politeia" um Begriffe der Staatstheorie und nicht des Staatsrechts handelt49, wobei der aristotelische "Verfassungs"-Begriff sich nur auf 40 Aristoteles, Politik IV, 1289 a 15; zitiert nach der Übersetzung von Gigon (s. Fn. 29), S. 137; vgl. auch 111, 1275 a 38 und 1278 b 8: ,,Eine Verfassung ist eine Ordnung des Staates hinsichtlich der verschiedenen Ämter (EO'tL öe noM:tEi.a nol..Ews -ra;LS -rÜJV -rE cillwv aQXüiv ... ) und vor allem des wichtigsten von allen. Das wichtigste ist überall die Regierung des Staates, und diese Regierung repräsentiert eben die Verfassung." 41 So Gigon, AristoteIes I Politik (s. Fn. 29), S. 303. Vgl. auch G. Stourzh, Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Zur Entwicklung in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert, in: Fürst, Bürger, Mensch, hrsg. von F. Engel-Janosi u. a. (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 2), Wien 1975, S. 102; jetzt auch in: G. Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates (Studien zu Politik und Verwaltung 29), Wien I Köln 1989, S. 1 - 35 (7 f.). 42 Diese zu weit ausgreifende Interpretation vertritt K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 127 f. 43 Vgl. dazu H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ,,Politica" des Henning Arnisaeus (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Mainz 7), Wiesbaden 1970, S. 342. 44 Aristoteles, Politik und Fagment der Oeconomik. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und einer Analyse des Textes versehen von J. G. Schlosser, Lübeck I Leipzig 1798. 4S C. H. McIlwain, Constitutionalism and the changing world, Cambridge 1939, reprinted 1969, S. 246; ders., Constitutionalism: ancient and modern, New York 1966, S. 25 ff. 46 Gigon, Einleitung zur Politik des Aristoteles (s. Fn. 29), S. 29. 41 Meier, Wandel (s. Fn. 25), S. 200. 48 Ryffel, METABOAH (s. Fn. 32), S. 4.
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die gesamte in einer Stadt - der Polis - bestehende Ordnung bezieht5o. Aristoteles hat die Verfassungssituation der griechischen Städte des 5. und 4. Jahrhunderts vor Augen. Aus der vergleichenden Betrachtung der einzelnen Stadtstaaten konnte die Frage nach dem besten Staat - Tt uQicnf] 3tOI..L'tEia, xaUi'tf] 3tol..m:iaSI - und der ihm gemäßen Ordnung entsprechend den Verfassungstypen bzw. "Staatsformen" oder "Regierungsformen" - wie sie seit dem 17. Jahrhundert heißen - gestellt werden. Die entwicklungsmäßig enge Verknüpfung der Begriffe Verfassung und Staat, wie sie für die heutige juristische Verfassungslehre selbstverständlich ist52, besitzt hier bei Aristoteles ihre klare Vorprägung und Entsprechung53 . Platon und Aristoteles suchen die Konstruktion des vollkommenen Staates. Ist die Diskussion bei Platon von der "Wissenschaft vom Guten" bestimmt, so zielt Aristoteles auf die Ermittlung von Ausgeglichenheit54 , Glückseligkeit und Stabilität: " . . . wenn nämlich eine Verfassung Bestand haben soll, so müssen alle Teile des Staates wollen, daß sie existiere und dauere,,55.
Der Staat gilt ihm als die höchste Schöpfung in der Hierarchie menschlicher Gemeinschaftsformen, wobei als Unterscheidungsmerkmal die jeweilige Form der Beziehung aller einzelnen Glieder der Gemeinschaft zueinander gilt. Von daher gelangt er zur Diskussion der drei Staatsformen, deren Trias einer solchen der Gewalten und der sozialen Schichtung entspriCht56• Der Staat als eine Vielzahl von Geschlechtsverbänden wird von AristoteIes als eine Naturgegebenheit angesehen und damit als ein echter Organismus, in dem das Ganze den Einzelteilen übergeordnet und überlegen ist. Damit bietet die organologische Staatsauffassung Erklä49
Vgl. Ryffel, METABOAH (s. Fn. 32), S. 3.
so Vgl. auch C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin I Göttingen I Heidel-
berg 1953, S. 136. SI Vgl. z. B. Platon, Politik VI 497 c, VIII 562 a, wobei für Plato die Frage der Staatsform in der Abhandlung über die "Politeia" eine untergeordnete Rolle spielt und erst in den ,,Nomoi" ausführlich behandelt wird; zur "Verfassung" in Platons "Nomoi"-Staat vgl. Nippel, Mischverfassungstheorie (s. Fn. 28), S. 136 - 142. Als Beispiel für die "beste Verfassung" bei Aristoteles vgl. Politik IV, 1295 a 25. 52 V gl. oben I. mit Fn. 17, 18. 53 Aristoteles, Politik III, 1275 a 30: "Wer untersuchen will, welches das Wesen und die Eigenschaften der verschiedenen Verfassungen sind, muß zuerst nach dem Staate fragen, was er wohl sein mag. Faktisch ist man darüber uneinig ..... (so die Übersetzung von Gigon, S. 103). Schlosser (s. Fn. 44) übersetzt 1798: "Wer über die Staatsverfassungen Untersuchungen anstellen, und bestimmen will, worin das Wesen einer jeden besteht und wie eine jede beschaffen ist, der muß vor allen Dingen untersuchen, was ein Staat überhaupt ist, und sich davon einen deutlichen Begriff machen. Denn dieser Begriff ist sehr schwankend ..... (S. 217). 54 Zum Ausgleich im Wege der Mischverfassung vgl. Nippel, Mischverfassungstheorie (s. Fn. 28), S. 42 ff. 55 Aristoteles, Politik II, 1270 b 21, zitiert nach der Übersetzung von Gigon (s. Fn. 29), S. 92. Vgl. auch Hubig, Aristotelische Lehre von der Bewahrung der Verfassungen (s. Fn. 32), S. 15. 56 Vgl. Gigon, Einleitung (5. Fn. 29), S. 18.
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rungsmöglichkeiten für den "Verfassungs"- und "Konstitutions"-Begriff auf dem Weg über die Medizin. 2. Rom: "constitutio" und ,,status rei pubUcae"
Die griechische Staatsphilosophie wird auch zur Grundlage der römischen, namentlich bei Cicero und seiner Behandlung der Staatsformenlehres7 . Eine "geschriebene Verfassung" kannte der römische Staat nicht, jedoch einen Kanon von Regeln, die durch die Tradition gebildet und anerkannt waren. Der zentrale Begriff ist der des ,,mos maiorum"S8. Er enthielt alle das öffentliche Leben betreffenden Grundsätze über die Zuständigkeiten der Staatsorgane, die Regeln ihres Handelns und das Verhältnis zwischen Amt und Amtslräger, d. h. die Ämterordnung schlechthin59. Einige schriftliche Gesetze über die Staatsverwaltung haben diesen materiellen "Verfassungs"-Charakter nicht verändert. Mit Recht betont daher Braunert, daß "es kein römisches Staatsrecht im Sinne Theodor Mommsens" gab, "sondern die römische Verfassung befand sich ständig im Fluß,,60. Diesen Prozeßcharakter hatte bereits Polybios (6. 10, 13 - 14) als ein besonderes Kennzeichen der römischen Verfassung angesehen61 • Den normativ wirkenden Traditionszusammenhang hat Cicero klar herausgestellt: ..... tantus erat in homine usus rei publicae, quam et domi et militiae cum optime turn etiam diutissime gesserat, ... ob hanc causam praestare nostrae civitatis statum ceteris civitatibus, ... nostra autem res publica non unius esset ingenio sed multorum, nec una hominis vita sed aliquot constituta saeculis et aetatibus...62
In diesem Sinne versteht Wieacker ,,Roms Verfassung als Gesinnungsschöpfung", deren tragende Elemente Staatsethik, "auctoritas" und Erfahrung waren63 • 51 V. Pöschl, Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero. Untersuchungen zu Ciceros Schrift ,,De re publica", 2. Aufl., Darmstadt 1962, S. 108 ff., 142 ff.; F. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, München I Leipzig 1934, S. 67. Zum Unterschied zwischen griechischem und römischem Staatsdenken vgl. Ernst Meyer, Vom griechischen und römischen Staatsgedanken, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer (Wege der Forschung 46), Dannstadt 1973, S. 65 - 86, besonders 79 ff. S8 Chr. Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, S. 54. S9 ZU diesen Rechtsregeln vgl. die Aufzählung bei Chr. Meier, Res publica (s. Fn. 58), S.119. 60 H. Braunert, Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit im spätrepublikanischen Rom. Eine Interpretation zu Ciceros Rede für Balbus, in: H. Braunert, Politik, Recht und Gesellschaft in der griechisch-römischen Antike. Gesammelte Aufsätze und Reden, hrsg. von K. Telschow I M. Zahrnt (Kieler Historische Studien 26), Stuttgart 1980, S. 211. 61 H. Grziwotz, Das Verfassungsverständnis der römischen Republik. Ein methodischer Versuch (Europäische Hochschulschriften, Reihe In: Bd. 264), Frankfurt a. M. I Bem I New York 1985, S. 18. 62 Cicero, Oe re publica II 1 - 2.
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Tradition und Kontinuität dieser so gewachsenen staatlichen Ordnung läßt Christian Meier von der "gewachsenen Verfassung" sprechen, womit der allmähliche Prozeß ihrer Vervollständigung und das Fundament aus Konventionen und Überzeugungen gemeint ist, das kaum aus gesetztem Recht bestand64 • Dieser Ausdruck ist rein deskriptiv verstanden und erscheint in der Tat deutlicher als die rein negative Bezeichnung "ungeschriebene Verfassung,,6S, zumal der gewohnheitsrechtliche Charakter des "usus" bzw. des "nlOs" damit als normativer Maßstab erkennbar wird. Kunkel hat diesen Normcharakter gewohnheitsmäßiger staatlich-politischer Verhaltensweisen anband zahlreicher Beispiele der Kategorien "exempla", ,.instituta" und ,,mores maiorum" belegt und ihre rechtsnormative Bedeutung für die politische Ordnung aufgedeckt66. Klare Definitionen für den Begriff "Verfassung" fehlen in der römischen Rechtssprache. Das hängt mit der allgemeinen römischen Abstraktionsfeindlichkeit zusammen, die sich in der Abneigung gegenüber der juristischen Begriffsbestimmung ausdrückt67 . Für die Errichtung einer Verfassung oder ihre Wiederherstellung ist in der römischen Rechtssprache der Ausdruck ,,rem publicam constituere" nachweisbar. Dieser meint aber zugleich auch die organisatorische Einrichtung des staatlichen Gemeinwesens. Bei Cicero (De legibus) heißt es: ,,Nam sic habetote, magistratibus iisque qui praesint contineri rem publicam, et ex eorum compositione, quod cuiusque rei publicae genus sit, intellegi. Quae res cum sapientissime moderatissimeque constituta esset a maioribus nostris, . . ...68.
Entsprechend lautet die Sprachform im ersten Buch der Institutionen des Gaius: ,,Nam quod quisque populus ipse sibi ius constituit, id ipsius proprium est vocaturque ius civile, quasi ius proprium civitatis...69
So bezeichnet "constituere" besonders die Schaffung von Recht und die "constitutio" die jeweilige Form der Anordnung des geschaffenen Rechts. Mag auch in 63 F. Wieacker, Vom römischen Recht, 2. Aufl., Stuttgart 1961, S. 31 - 33; vgl. auch E. Meyer, Vom griechischen und römischen Staatsgedanken (s. Fn. 57), S. 82 f. 64 Chr. Meier, Res publica (s. Fn. 58), S. 56. Zum Begriff der ,,gewachsenen Verfassung" vgl. H. Grziwotz, Der modeme Verfassungsbegriff und die ,,Römische Verfassung" in der deutschen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts (Rechtshistorische Reihe 51), Frankfurt a. M. I Bem I New York 1986, S. 339 ff., der den Begriff der "gelebten Verfassung" vorzieht, S. 228; so auch Gniwotz, Verfassungsverständnis (s. Fn. 61), 1985, S. 40. 65 So Chr. Meier, Res publica amissa (s. Fn. 58), S. 56, Fn. 174. 66 W. Kunkel, Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht in der Verfassung der Römischen Republik, 1971, in: W. Kunkel, Kleine Schriften zum römischen Strafverfahren und zur römischen Verfassungsgeschichte, Weimar 1974, S. 367 - 382, bes. 377 - 382; H. Braunert, Zum Verhältnis von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit (5. Fn. 60), bes. S. 205; Gniwotz, Der modeme Verfassungsbegriff (5. Fn. 64), S. 345 - 348. 67 F. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts (5. Fn. 57), S. 28 - 30. 68 Cicero, De legibus III 12. Andere Beispiele auch bei Gniwotz, Verfassungsverständnis (5. Fn. 61), S. 317 - 324. 69 Gaii Institutionum Commentarii Quattuor, Liber I, § 1.
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der speziellen Begriffsverwendung Ciceros das ,,rem publicam constituere" nicht mit dem seit Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlich werdenden Begriff der Konstitution bzw. Verfassung und ihrer Schaffung gleichzusetzen sein - und Jellinek macht zu Recht diesen Vorbehalt gegenüber Theodor Mommsen70 - so kommt Ciceros Verwendung dieses Begriffs doch dem modemen "Verfassungs"-Begriff recht nahe 7l • In diesem Sinne heißt es weiterhin bei Cicero: ,,Haec constitutio primum habet aequabilitatem quandam magnam, qua carere diutius vix possunt liberi, deinde fmnitudinem, quod et illa prima facHe in contraria vitia convertuntur, ... ; quodque ipsa genera generibus saepe conmutantur novis, hoc in hac iuncta moderateque permixta constitutione rei publicae non ferme sine magnis principum vitüs evenit. ,,72
Vier Elemente der "constitutio" als Verfassung werden erkennbar: 1. ihre Autorität kraft Alter und Bewährung; 2. ihr die gesellschaftlichen und staatsorganisatorischen Kräfte ausbal1ancierendes Gleichmaß (aequabilitas); 3. ihre die Freiheit bewahrende Aufgabe bzw. Funktion und 4. ihre dauerhafte Beständigkeit (firrnitudo). Mit dieser Bedeutung als "Verfassung" hat Ciceros Verwendung von "constitutio" - soweit ersichtlich - keine Nachfolge gefunden73. In der römischen Kaiserzeit werden alle Formen und Arten gesetzlich wirkender Vorschriften der Kaiser unter dem Oberbegriff der "constitutiones" zusarnmengefaßt. Die Definition der Digesten im "Corpus iuris civilis" Justinians lautet: ..Quodcumque igitur imperator per epistulam et subscriptionem statuit, vel cognoscens deccevit vel de plano interlocutus est vel edicto praecepit, legern esse constat. haec sunt quas vulgo constitutiones appellamus" (0. 1.4.1)74.
Dieser Sprachgebrauch bleibt innerhalb der Rechtsquellenlehre des "ius commune" im Bereich des Privatrechts bis in das 19. Jahrhundert dominierend. Die "diversa rescripta" werden jedoch nicht "constitutiones" genannt75 • Der Unterschied zwischen den Begriffen "constitutio" und ,Jex" ist weniger rechtlicher als vielmehr stilistischer Natur. "Constitutio" ist ein Fachausdruck der Rechtswissenschaft und spricht das Gefuhl weniger an als "lex". Daher wird der Begriff "constitutio" in der römischen Rechtssprache vor allem dort verwendet, wo von älteren Rechtsquellen die Rede ist. Das deutet grundsätzlich auf ein mit der "constitutio" 70 Vg1. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Berlin 1905, S. 492, Fn. 2. 71 Vgl. zu dieser Bewertung besonders auch McIlwain, Constitutionalism (s. Fn. 45), S. 25 f. 72 Cicero, Oe re publica I 45; ähnlich die Verwendung von ..constitutio" in: Oe ce publica 11 21: ..Nunc fit illud Catonis certius, nec temporis unius nec hominis esse constitutionem (nostrae) rei publicae." 73 Vgl. auch Nippel, Mischverfassungstheorie (s. Fn.28), S. ll, Fn. 6. 74 Vgl. zur römischen Begriffsverwendung in diesem Sinne auch H. Heumann-Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10. Aufl., Graz 1958, S. 99 (Constitutio); A. Azara e E. Eula, Novissimo Oigesto Italiano IV, Turin 1954, S. 294 ff. 75 Vgl. dazu und zum folgenden P. Kussmaul, Pragmaticum und Lex. Formen spätrömischer Gesetzgebung 408 - 457 (Hypomnemata 67), Göttingen 1981, S. 76.
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verbundenes höheres Maß an Autorität hin. Immerhin wird dieses Element noch im 18. Jahrhundert in der Begriffserläuterung erkennbar: ,,Alias principales constitutiones et sacrae adpellantur ... ,,76.
Inwieweit dieser Gesichtspunkt auch für den Begriff der "constitutio" im Sinne von "Verfassung" maßgebend ist, muß offenbleiben. Daneben repräsentiert "constitutio" aber auch in der römischen Rechtssprache ein organisatorisches Element im Sinne von Einrichtung und Errichtung, wie es z. B. in D. 50.16.203 heißt: " ... suarumque rerum constitutionem fecisset."
Beide Bedeutungen überlagern sich auch häufig in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wortverwendung 77. Bei der Beurteilung der staatlichen Verhältnisse. Roms spricht Cicero auch vom "status rei publicae", was mit "Verfassung" übersetzt werden könnte7s . Hier ist eine Bedeutung im Sinne von Zustandsbeschreibung greifbar. Von Lübtow interpretiert den "status rei publicae" als den "planmäßig geordneten Zustand des Gemeinwesens,,79. Cicero verwendet "status rei publicae" auch als Oberbegriff für die einzelnen Staatsformen Demokratie, Artistokratie und Monarchie, wobei dieser Oberbegriff sich häufig als eine Übersetzung der griechischen l'tOA.L"tEia erweistSo. Für die einzelnen Staatsformen gebraucht Cicero die folgenden Verbindungen mit ,,res publica": "status rei publicae", "genus rei publicae", ,,modus rerum publicarum", "forma rei publicae", "constitutio rei publicae" sowie "status civitatis"Sl. Der Idealstaat Ciceros besteht aus einer Mischung der verschiedenen Staatsformen S2 , die er unter der Fragestellung nach dem "optimus status rei publicae" unter76 B. Brisson, Oe verborum quae ad ius civile pertinent significatione opus praestantissimum in meliorem commodioremque ordinem redactum ... studioque 10. G. Heineccü ... praemissa praefatione nova J. H. Böhmeri, Halae Magdeburgicae 1743, S. 253. 77 Vgl. auch unten S. 19 - 22; zur Sprache der römischen Kaiserkonstitutionen vgl. auch F. Schulz, Prinzipien (s. Fn. 57), S. 56. 78 Ähnlich Grziwotz, Verfassungsverständnis (s. Fn. 61), S. 19, der "status civitatis" und "constitutio rei publicae" bei Cicero gleichsetzt und mit "Verfassung" für übersetzbar hält. 79 U. v. Lübtow, Das römische Volk und sein Staat und sein Recht, Frankfurt a. M. 1955, S. 469; ähnlich R. Stark, Ciceros Staatsdefinition, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer (Wege der Forschung 46), Darmstadt 1973, S. 337, Fn. 14; zur ,,zustand"-Bedeutung von "status" im römischen Staatsdenken vgl. auch W. Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelaIterlichen Staatsbegriff, 3. Aufl., Münster 1977, S. 62 f. 80 V gl. Suerbaum, Staatsbegriff (s. Fn. 79), S. 11 f., dort Fn. 35. 81 Vgl. die Nachweise bei Suerbaum, Staatsbegriff (s. Fn. 79), S. 17 f., Fn. 50, dort unter Bezugnahme auf Drexler, Res publica, 1957. 82 Vgl. V. Pöschl, Römischer Staat (s. Fn. 57), S. 110 ff.; F. Solmsen, Die Theorie der Staatsformen bei Cicero "Oe re publica" 1 (kompositionelle Beobachtungen), 1933, in: R. Klein (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer (s. Fn. 79), S. 320 - 327; zur mangelnden Eignung des griechischen Dreiverfassungsschemas für die Staatsform Roms und dessen Mischverfassungscharakter, vgl. E. Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, Darmstadt 1961, S. 252 f.; zur Mischverfassung bei Cicero vgl. Nippel, Mischverfassungstheorie (s. Fn. 28), S. 153 f.; Rostock, Antike Theorie (s. Fn. 38), S. 341 ff.
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A. Verfassung I (Mohnhaupt)
sucht83 . Die optimale Zuständlichkeit des staatlichen Gemeinwesens kann somit durch die Staatsform bzw. die Kombination der Staatsformen bestimmt sein. Ganz allgemein bedeutet "status" in den römischen Rechtsquellen einen rechtlich erheblichen Zustand, dessen wichtigste Gattung der "status civitatis" im Sinne des römischen Bürgerrechts darstellt. Tacitus benutzt den Terminus "status" gleichfalls in einem zuständlichen Sinne, auch mit dem Genitivattribut "civitatis,,84. Die normativen Elemente des "Constitutio"- Begriffs sind allerdings nach Cicero nicht mehr greifbar.
UI. Die mittelalterUche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung 1. Status und Constitutio
Die mittelalterliche Rechtswissenschaft wird seit Ende des 11. Jahrhunderts ausgehend von Bologna - erst durch die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts in Europa als ein ,,ius commune" geschaffen und ist in diesem Sinne weitgehend identisch mit dem römischen Recht in Gestalt des justinianischen "Corpus iuris civilis,,85. In dessen Sprache, Terminologie, Begriffswelt und Dogmatik findet die wissenschaftliche Kommunikation und Bearbeitung des römischen Rechtsstoffs sowohl für das Privatrecht wie das öffentliche Recht statt86 • Mit Recht kann daher auch von der "Geburt des ius publicum aus dem ius commune" gesprochen werden87 . Für den Bereich der Lehre über den Staat - und hier auf seine "Verfassung" zielend - bleiben daher "constitutio" und "status" Schlüsselbegriffe, die sich nicht auf ein Land einschränken lassen, sondern zur europäischen Signatur für die Entwicklung des Begriffs "Verfassung" und "Konstitution" in jener Zeit gehören. Fast gleichzeitig beginnt seit der Mitte des 12. Jahrhunderts die Aufnahme und Verarbeitung der Werke des Aristoteles im lateinischen Westen88 . Hier ist mit Vorrang Thomas von Aquin zu nennen. In der "Summa theologica" ist auch die Staatsformenlehre aus der aristotelischen Politik greifbar. Thomas von Aquin sieht die beste Form des Staates in der Mischung der einzelnen Herrschaftsformen gegeben: Cicero, De re publica I 46; De legibus m 13. Vgl. dazu Suerbaum, Staatsbegriff (s. Fn. 79), S. 105 f., Fn. 76. 85 Vgl. dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, S. 45 ff.; H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte I, München 1973, S. 25 ff. 86 Vgl. Coing, IRMAE V 6, Mediolani 1964, S. 20 ff. 87 So D. Wyduckel, lus publicum. Grundlagen des Öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft (Schriften zum Öffentlichen Recht 471), Berlin 1984, S. 27 ff. 88 Zur Wirkungsgeschichte des aristotelischen Werkes vgl. Gigon, Aristoteles I Aristotelismus, in: Theologische Realenzyclopädie III, 1978, S. 760 - 768; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland I, München 1988, S. SOff. 83 84
m. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
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..Talis enim est optima politia, bene commixta ex regno, inquantum unus praeest; et aristocratia, inquantum multi principantur secundum virtutem; et ex democratia, idest poteState populi, .....89.
Die aristotelische ..ciQi.crtTJ nOAL'teLa" findet hier ihre Entsprechung durch die "optima politia", die in diesem Zusammenhang einzelne Staatsformen zu einer neuen Ordnungskategorie zusammenfaßt 90 • Deutlicher wird das Verhältnis von ..politia" zu den Staatsformen, die Thomas als ..status" bezeichnet, in seiner Kommentierung der Politik des Aristoteles. Thomas erklärt: ..... , quod politia nihil est aliud quam ordo dominantium in civitate...91
Er unterscheidet sodann die ..politiae secundum diversitatem dominantium" danach, ob ,,in civitate dominatur unus, aut pauci, aut multi." Die einzelnen nach der Zahl der Herrschersubjekte benannten Staatsformen werden mit dem Begriff "status" belegt: "status optimatum", "status popularis", "status paucorum", auch "status multorum,,92. Anstelle von "status" benutzt Thomas allerdings auch mit gleicher Bedeutung ,,respublica": " ... quod respublica nihil est aliud quam ordinatio civitatis ... Sicut in statu populari dominatur populus, in statu paucorum pauci divites: et ex hoc est diversitas harum politicarum. Et eodem modo dicendum est de a1iis politiis...93
,,Politia", "status" und ,,respublica" bezeichnen somit Formen der Herrschaftsgestaltung und damit die Staatstypen der aristotelischen Einteilung. Das klassische ,,Dreiverfassungsschema" und seiner "transgressiones" - auch als "corruptiones" bezeichnet - wird danach unterschieden, ob das "bonum commune" oder die "utilitas propria" vom Gewaltinhaber bzw. den Gewaltinhabern verfolgt wird94• Mager hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die bei Thomas gleichfalls gebräuchlichen Pluralformen wie "status popularis" usw. keine besonderen Klassifizierungen darstellen, sondern daß hier ,,Erfahrung" ausgesprochen wird, die aus der Pluralität der Anschauung von Vergangenheit und Gegenwart gewonnen ist9s • Indem der Be89 Thomas von Aquin, Summa theologica (theologiae) n, 008 ST 2, qu. 105, art.) I, in: Opera omnia, curante Roberto Busa, Tom. 2, Stuttgart I Bad Cannstatt 1980, S. 503 (ag 5). 90 Vgl. oben S. 9. Es ist jedoch zu bedenken, daß die Stellung von Thomas zur Mischverfassung keineswegs eindeutig ist und auch die Begriffe für Staat mit ,,regimen", ..provincia", "civitas" sehr vielgestaltig sind. Zur Mischverfassung bei Thomas vgl. auch B. Thierney, Religion, law and the growth of constitutional thought 1150 - 1650, Cambridge University Press 1982, S. 88 - 90. 91 S. Thomae Aquinatis in libros Politicorum Aristotelis expositio ed. R. M. Spiazzi, Taurini I Romae 1951, Liber m, Lectio VI (§ 392), S. 139 (auch für die folgenden Zitate). 92 In libros politicorum, Liber m, Lectio VI (§§ 393 - 395), S. 139. 93 In libros politicorum, Liber m, Lectio V (§ 385), S. 136. 94 In libros politicorum, Liber m, Lectio VI (§§ 393 und 394), S. 139. 95 So Mager, Zur Entstehung des modemen Staatsbegriffs (s. Fn. 3), S. 421 (bzw. S. 31); Mager verdeutlicht: "Verfaßtheit, ordo civitatis, ist immer und notwendigerweise, als vita civitatis, ... Herrschaft bestimmter Personen und Schichten ..... (S. 422 bzw. S. 32).
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griff "status" seinen klassifizierenden Charakter aufgebe, trete der Sinn ,,Herrschaft" in den Vordergrund. Wenn auch von einer völligen Aufgabe der Klassifikationsfunktion zu sprechen wohl zu weit geht, so ist doch die neue Sinnanreicherung mit ,,Herrschaft" ohne Zweifel zu beobachten. Damit bewegt sich der Begriff "status" bei Thomas auf die "Herrschaft" bedeutenden Begriffe wie ,,regimen" oder "potentia" zu. "Status" zeigt somit sowohl Elemente eines Formtypus als auch materieller Herrschaft, die dem modemen "Verfassungs"- Begriff angehören. Wo Thomas "de diversitate statuum et officiorum humanorum" spricht, werden Elemente einer die Rechtsposition des Menschen konstituierenden Stellung erkennbar96 • Er überprüft den Begriff "status" als mögliche "conditio libertatis vel servitutis" (Art. I). Als Beurteilungskriterien benutzt er ,,immobilitas" (Beständigkeit), "altitudo" (Standeshöhe) und "positio,,97. Wenn auch nicht auf den Staat als Organisationsform des menschlichen Gemeinwesens bezogen, bilden diese Elemente doch beachtenswerte Merkmale des "status"-Begriffs. Diese Begriffsverwendung von "status" knüpft an D. 1.5.1-27 und D. 1.6.1-11 des "Corpus iuris civiIis" an ("de statu hominum" und "de his qui sui vel alieni iuris sunt"). Bartolus da Sassoferrato benutzt in seinem Traktat "Oe regimine civitatis" den Begriff "status" im Sinne von ,,zustand" und von ,,stand,,98. Bei Machiavelli entspricht die Wortverwendung von "stato" der bei Thomas von Aquin beobachteten Bedeutung. Die sowohl als "stato" und "govemo" bezeichneten 6 Staats- bzw. Verfassungsformen der aristotelischen Einteilung zeigen auch die Bedeutung von Herrschaft und Machtausübung99 • Um 1418 schreibt Jean de Terre-Rouge seinen Tractatus über die Thronfolge und die Rechte des Dauphin in Frankreich 100 und betont hier erstmals das Element der Unveränderlichkeit der festgelegten Thronfolgebestimmungen für das Königreich. Diese den "öffentlichen Zustand" ordnende Rechtsregel ist der Dispositionsgewalt des Königs entzogen und steht somit über ihm. Jean de Terre-Rouge formuliert: "Regi non licet immutare ea quae ad statum publicum regni sunt ordinata."lol
96 Thomas, Summa theologica II (2. Teil), qu. 183, art. 1 (de officiis et statibus hominum in generali), in: Die Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 24, hrsg. von der Albertus- MagnusAkademie ... , Heidelberg - München ... 1952, S. 3 - 6. 97 Thomas. Summa theologica II /2. qu. 183. art. 1. S. 6. 98 Vgl. dazu S. Hauser, Untersuchungen (5. Fn. 3), S. 28 - 37 (35). 99 Vgl. Mager. Zur Entstehung des modemen Staatsbegriffs (s. Fn. 3). S. 427 (bzw. S. 437); zur Bedeutungsbreite von "stato" bei MachiavelIi vgl. auch Hauser, Untersuchungen (s. Fn. 3), S. 91 - 93. 100 lean de Terre-Rouge, Contra rebelIes suorum regum, Lyon 1526; vgl. A. Lemaire, Les Ibis fondamentales de la monarchie fran~aise d'apres les tMoriciens de l'ancien regime. Paris 1907. S. 54. 101 Zitiert nach Lemaire, Lois fondamentales (s. Fn. 100). S. 58. Fn. 3.
ßI. Oie mittelalterliche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
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Hier wird das Element rechtlicher Bindung fur das Handeln des Herrschers über Angelegenheiten des Königreichs deutlich, das erstmals in Frankreich in enger Verbindung zu den "leges fundamentales" bzw. "lois fondamentales" steht 102. Bei Gregor Tholosanus (1540 - 1597)103 ist die Verwendung von "status" und "constitutio" in unterschiedlicher Bedeutung zu verfolgen. Gregor folgt bei der Verwendung von "status" der aristotelischen Staatsformenlehre. Er erklärt: "Generaliter et respublica dicetur et accipietur, pro statu populi et negotiorum eius. Eoque modo Aristoteles, respublica, inquit, est ordinatio civitatis et circa magistratus allos, et maxime circa id quod summam in civitate habeat authoritatem ... ,,104
Gregor rückt die Ämterordnung auf der Grundlage der Staatsform "status populi" und seiner "negotia" in den Vordergrund. Damit ist das konkrete Merkmal der staatlichen Organisation als ein die staatliche Zuständlichkeit bestimmendes Element gesehen. Der Begriff "constitutio" dagegen wird von Gregor in einer Bedeutung verwendet, die das gesellschaftliche und staatliche Gemeinwesen als eine Ordnung meint, in die der einzelne Mensch gestellt ist und an der er zugleich Anteil hat: "Habet exemplum sectandae societatis homo et a seipso, et ab omnibus rebus in quarum societate aliquomodo participat, quia est epitome totius mundi, microcosmos seu parvus mundus, ut nulla relinquatur excusationis occasio quin scelestissimus creaturarum omnium sit, si hanc societatem et reipublicae constitutionem et communitatem humanam aversetur: multo magis, si eam turbare, destruere et convellere velit. Habet in se ipso corporis unius physici membra, quae si a societate ipsa discedant animae unius, corruunt et intereunt."lOS
Gregor betont, daß der Mensch auf diese soziale Einbindung angewiesen und auch verpflichtet ist. Er definiert sie als Gesellschaft, Ordnung des Gemeinwesens bzw. des Staates und als menschliche Gemeinschaft. Hier ist nicht von einem Organisationsprinzip im Sinne der Ämterordnung die Rede, sondern von einem Verhältnis des Individuums zu übergeordneten gesellschaftlichen Formen, unter denen die staatliche Ordnung - die "constitutio rei publicae" - neben Gesellschaft und menschlicher Gemeinschaft in gleicher Weise Schutz verdienen und Anspruch auf Bewahrung besitzen. Die Lebensfahigkeit des menschlichen Körpers als Einheit wird verglichen mit dem staatlichen und gesellschaftlichen Gemeinwesen, das gleichfalls nur in seiner alle Glieder der menschlichen und staatlichen Gemeinschaft umfassenden Einheit Bestandskraft besitzen kann. Gregor bildet mit dieser besonderen Anschauung der "constitutio", die dem modernen - allerdings nicht normativen - Verfassungsverständnis nahekommt und die organologische StaatsVgl. dazu unten V. 1.: Frankreich. Vgl. dazu auch unten V. I. 104 Petrus Gregorius Tholosanus, Oe republica \ibri sex et viginti, in duos tomos distiocti, tomus I, Lugduni 1609, (1. Aufl. 1578), S. 3 (Liber I, Cap. I, nr. 13). lOS Gregor Tholosanus, Oe republica (s. Fo. 104), Liber I, Cap. 1, nr. 16 (S . 4). 102 103
2 Mohnhaupl/Grimm
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
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auffassung abbildet\()6, eine Ausnahme. Er führt mit dieser Begriffsverwendung hin zum neuzeitlichen Begriffsgehalt der "constitutio", der in der französischen Staatsentwicklung des 16. Jahrhunderts seine Prägung erfährt. Im übrigen dominiert auch im Mittelalter die Verwendung der "constitutio" in der Singular- und Pluralform als rechtstechnischer Begriff des römischen Rechts für die einzelnen kaiserlichen Gesetzgebungsformen 107. Auch das kanonische Recht bezeichnet als "constitutiones" alle kirchenrechtlichen Regelungen, sowohl für die Gesamtkirche als auch für die Kirchenprovinzen. Der gesamteuropäische römischrechtlich geprägte Gesetzgebungsstil des Mittelalters zeigt sich auch in England. Glanvill (t 1190) gebraucht "constitutiones" für die königlichen Edikte und zählt zu diesen auch die "assisa regale" Heinrichs n.: ,,Ex aequitate autem maxima prodita est legalis ista constitutio.',I08
Im deutschen Rechtskreis tritt seit Otto m. die kaiserliche "constitutio" in den Vordergrund. Die Bezeichnung der mittelalterlichen Kaisergesetze als "constitutiones" in den modemen Editionen der Monumenta Germaniae historica, Abt. Constitutiones, entspricht jedoch häufig nicht der Quellensprache. Die wichtigen mittelalterlichen Gesetze wie das ,,Privilegium minus" für Österreich von 1156, der Reichsspruch über die Mainzölle von 1157 U)9, der Mainzer Reichslandfriede von 1235 110 tragen die Bezeichnung "constitutio". Die "Goldene Bulle" von 1356 dagegen - von der Reichsstaatslehre seit dem 17. Jahrhundert unbestritten als die erste ,,lex fundamentalis" des Reiches eingestuft - führt nicht die Selbstbezeichnung "constitutio". Die Originalausfertigungen der "Goldenen Bulle" besaßen überhaupt keinen Gesamttitel. Die Handschrift König Wenzels hieß aber im Incipit wie auch im Explicit des ersten Teils "aurea bulla imperialium constitucionum,,11l. In einigen Kapiteln der "Goldenen Bulle" (Cap. vn - XI, XIV, XVII) findet sich jedoch die Bezeichnung "constitutio" stets im Zusammenhang mit der Betonung besonderer Unverbruchlichkeit, Geltungsdauer und Würde in bezug auf spezielle kaiserliche Privilegien und Rechtsgarantien: ,,ideoque privilegium, consuetudinem '" confmnantes hac presentii nostta constitueione imperiali perpetuis temporibus valitura statuimus .. .',112. 106 107
VgI. unten auch unter IV. VgI. Fn. 74.
108 Ranulphus e Glanvilla, Oe legibus et consuetudinibus Regni Angliae, ed. G. E. Woodbine, Yale University Press 1932, Liber 11, Cap. 7, S. 62 f.; vgI. auch McIlwain, Constitutionalism: ancient (s. Fn. 45), S. 23 f., mit den dort gegebenen weiteren Nachweisen. 1(19 MGH I Const I, nr. 162. 110 MGH I Const 11, nr. 196. 111 A. Wolf, Die Goldene Bune. König Wenzels Handschrift. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 338 der Österreichischen Nationalbibliothek. Kommentar, Graz 1977, S. 15,22. 112 K. Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung, Tübingen 1913, Nr. 148, S. 201 (Cap. Vm).
m. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
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Daraus kann auf eine besondere Feierlichkeit und eine höhere Rangqualität der kaiserlichen "constitutio" geschlossen werden 113, die jedoch zu dieser Zeit noch nicht als ein generelles Qualitätsmerkmal anzusehen ist. Selbst "Des Keyser ... unnd des heyligen Römischen Reichs peinlich gerichts ordnung" von 1532 führte ursprünglich nicht die Bezeichnungen "Constitutio criminalis Carolina" oder ,,Hals- Gerichtsordnung", die erst später für dieses Reichsgesetz gebräuchlich wurden 114.
Im mittelalterlichen französischen Sprachgebrauch wird "constitutio" ebenfalls auf die Gesetzgebung bezogen. Im 12. Jahrhundert lautet die formelhafte Wendung z.B.: ,,Nos leiz, noz constitutions."I1~
Im 13. Jahrhundert heißt es bei Philippe de Beaumanoir:
,.oe
ces m cas ... est iI orden6 et establi comment on en doit ouvrer par une nouvele constitucion que Ii rois a fete en la maniere qui ensuit." 116
Neben der gesetzestechnischen Bedeutung von "constitutio" wird seit dem 15. I 16. Jahrhundert auch die Verwendung für den Zustand der Gesundheit und des Körpers gebräuchlich: ,,Ma constitucion est de ne faire cas du boire que pour la suite du manger" und ,Ja constitution des maIadies est form6e au patron de la constitution des animaux.,,117
Ambroise Pare (1517 -1590), der Begründer der französischen Chirurgie, gebraucht "constitution" im medizinischen Bereich für die naturwissenschaftliche Zustandsbestimmung der Luft in ihrem Einfluß auf die menschliche Gesundheit. Er erklärt: ,,Entre toutes les constitutions de l' air, celle qui est chaude et humide est fort dangereuse.,,118
113 Ähnlich B.-U. Hergemöller, Der Nürnberger Reichstag von 1355 I 56 und die "Goldene Bulle" Karls IV., phil. Diss., Münster 1978, S. 457 f. 114 Zur sprachlichen Verwendung von Constitutio innerhalb der Reichsgesetzgebung vgl. A. Erler, Art. "Konstitution", in: Handwölterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 11, Berlin 1978, Sp. 1119 - 1122. m V gl. dazu wie zu den folgenden Beispielen die Nachweise bei M. P. E. Linre, Dictionnaire de la langue fran~aise, Vol. I, Paris 1877, S. 759, dessen Zitate jedoch nicht immer hinreichenden Aufschluß über die Quelle des angeführten Zitates geben. 116 Philippe de Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis, ed. A. Salmon, Tome I, Paris 1899, Cap. 32 (Nr. 958), S. 486. 117 Linre (s. Fn. 115), S. 759. 118 A. Par6, Oeuvres, XXIV, 3 (zit. nach Littr6, S. 759).
2"
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2. Constitutio und Institutio
Richard Schmidt hat die Ansicht vertreten, daß mit der Übertragung des Begriffs "constitutio" auf das Gebiet des Staates, dessen innere Ordnung - "Grundfonn des Staats" - gemeint sei, die "institutio" jedoch für die äußere Beschaffenheit und den organisatorischen Machtaufbau stehe 119• Er wendet sich damit l20 gegen lellineks vereinfachende und in der Tat vordergründige Erklärung, daß die römische Rechtssprache "für die Feststellung der Verfassung . .. den technischen Ausdruck ,rem publicam constituere'" verwendet habe, der zum modemen "Ausdruck Konstitution in der Bedeutung von Verfassung" führe l21 . lellinek, der keine Quellenbelege anführt, interpretiert hier offensichtlich zu sehr aus modernem "Verfassungs"- verständnis und setzt die Errichtung des "Staates" bzw. staatlichen Gemeinwesens mit der Errichtung seiner rechtlichen Ordnung gleich. R. Schmidts Beobachtung, daß ,,institutio" und "constitutio" schon früh im wesentlichen "synonym und promiscue" gebraucht worden seien und sich dann auf äußere Beschaffenheit und innere Ordnung hin entwickelten, bedarf jedoch einer genaueren Untersuchung und Bewertung. Beide Begriffe gehen auf die römische Rechtssprache zuriick 122 . Sie bezeichnen vorrangig den prozeßartigen Vorgang der Herrschereinsetzung und des Organisierens staatlicher Gemeinwesen, weniger den dadurch bewirkten Erfolg und abgeschlossenen Zustand. Die Begriffsverwendung kann differieren je nachdem, wer an diesem Einsetzungs- und Organisationsakt beteiligt ist: das Volk (constitutio) oder eine Instanz jenseits menschlichen Handeins, d. h. die göttliche Gewalt (institutio). Bei Cicero ist der - offensichtlich organisatorisch gemeinte - auf die Civitas bezogene Konstitutionsakt ein solcher des Volkes: "Omnis ergo populus, qui est talis coetus multitudinis qualem exposui, omnis civitas, quae est constitutio populi, omnis res publica, quae ut dixi populi res est, consilio quodam regenda est . . ... 123.
Die ,,institutio" bedeutet bei ihm noch allgemein die Einrichtung des Staatswesens: wenn es keine menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gäbe, "neque reliquarum virtutum nec ipsius rei publicae reperiatur ulla institutio... 124
Schmidt, Vorgeschichte (so Fn. 1), S. 90. Vgl. R. Schmidt, Besprechung zu E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909, in: Zeitschrift für Politik 9, 1916, S. 285. 121 G. lellinek, Allgemeine Staatslehre, hier zitiert nach der 2. Auflage, Berlin 1905, S. 294 mit Fn. 2; vgl. auch oben 11.2. 122 Vgl. H. Hofmann, Zum juristischen Begriff der Institution, in: H. Hofmann, Recht Politik - Verfassung. Studien zu Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 206 - 211. 123 Cicero, De re publica I 26 (l6 - 20). 124 Cicero, Oe re publica I 26 (10). 119
120
III. Die mittelalterliche und frlihneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
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In diesem Sinne gebraucht auch Marsilius von Padua ,,institutio" noch für die Herrschereinsetzung unabhängig von der Einsetzungsinstanz: " ... primum enumerabimus modos institucionis regalis monarchie ..... 125
Die Trennung in göttliches und menschliches Handeln bei der Einsetzung des Herrschers verdeutlicht Languet durch eine entsprechend differenzierte Verwendung der Begriffe ,,institutio" und "constitutio": "Ostendimus antea, deum reges instituere, regna regibus dare, reges eligere. Dicimus iam, populum reges constituere, regna tradere, electionem suo suffragio comprobare. . . . hic vides electionem regis tribui deo, constitutionem poPUIO... 126
In der Verb-Form gebraucht bereits 1566 A. S. Piccolhomineus beide Begriffe in diesem Sinne: " ... fecisse Oeum in principio duo magna luminaria dicunt: id est, duas potestates instituisse, quae sunt pontificalis authoritas, et regalis potestas .. ... 127; "Constitutoque principe, datum ei ius est, ut ratum esset quicquid ab eo constitueretur.,,128
Vorbild ist die römische "lex regia" mit der durch sie vollzogenen Übertragung der Herrschaft vom Volk auf den Herrscher (Inst. 1.2.6; D. 1. 4. I). Diese erweist sich somit als ein ,,konstituierender" Akt im Sinne eines konstruktivischen Aufbaus 129• Die Erhebung des Herrschers in sein Amt ist personalbezogen; sie zeigt jedoch auch das Amt als transpersonales Element mit "staatlicher" Qualität. Seine Errichtung erscheint als Primärbedeutung in "constitutio". Eine verselbständigte Rahmengebung rechtlicher Qualität ist in dieser Wortverwendung begrifflich noch nicht präzisiert. Das konstruktive Element überwiegt. Es wird jedoch in der medizinischen Traktatliteratur greifbar: ". . . recte de constitutione medicinae huic Iibro inscriptionem fecit, hoc est de constructione et institutione universae medicinae." 130 125 Marsilius von Padua, Defensor pacis (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, Reihe A, Band 2, Teil I, bearbeitet von H. Kusch, Berlin 1958), Diccio prima, Cap. IX, § 4, S. 80; vgl. auch R. Schmidt, Vorgeschichte (s. Fn. 1), S. 90. 126 Hubert Languet (Brutus) zitiert nach der Ausgabe: Stephanus Iunius Brutus, Vindiciae contra tyrannos: sive de principis in populum, populique in principem legitima potestate, Edimburgi 1579, S. 76 f. (Quaestio III). 127 Aeneae Sylvii Piccolhominei Senensis, De ortu et authoritate Imperii Romani, Cap. VII, in: Oe iurisdictione, autoritate, et praeeminentia imperiali, ac potestate ecclesiastica, deque iuribus regni et Imperij, variorum Authorum ..., Basileae 1566, S. 317. 128 Piccolhomineus (s. Fn. 127), Caput V, S. 316. 129 Ähnlich auch Thomas Hobbes, De cive, 1642, Cap. 5 (12.), in: Opera philosophica (latina), Vol. n, ed. G. Molesworth, Reprint ofthe edition 1839 ff., Aalen 1961, S. 215: " ... et dici potest civitatis origo naturalis; posterior a consilio et constitutione coeuntium, quae origo ex instituto est." 130 F. Valleriola, Commentarii in librum Galeni, De constitutione artis medicae, o. 0. 1577, Prolegomena S. 5. Dazu ausführlicher unten IV. I.
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
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Dieses konstruktive, gestaltende und erhaltende Element wird demgemäß auch als eine Aufgabe des "politicus" definiert: ,,Haud secus politicus duplicem sibi finem habet propositum, constitutionem scilicet et conservationem rerumpublicarum earundemque ... restitutionem ...,,131
Die Mittel guter staatlicher Einrichtung und Regierung sind dagegen Gegenstand der "instituierenden" Tätigkeit: " ... sunt proxima media, quibus respublicas recte instituuntur et gubemantur ...,,132
3. Verfassung: Vereinbarung, Abfassen, Ordnen
Der offensichtlich früheste Nachweis von "Verfassung" stammt in der Fonn von "virfazsunge" aus einer Urkunde vom 21. Dezember 1346, in der die Herren von Falkenstein, Hanau und Eppstein mit den Reichsstädten Frankfurt, Friedberg und Gelnhausen eine Einigung über die Kompetenzen des eingesetzten Schiedsgerichts festlegen. Dieses Schiedsgericht war wegen ,;rrung und zweyunge" über die Pfahlbürger zur Sicherung von deren Freizügigkeit bestellt worden, nachdem "unser herre romescher Keyser Ludowig zusehen uns von beidin sytin virfazsit und gered hat mit unsir beidir syten ... ,,133
Für den Fall der Nichtbeachtung der festgelegten Freizügigkeit durch die Herren von Falkenstein usw. wurde für das Schiedsgericht bestimmt: "Und geschehe icht ubirgryffes in den zwein iaren und das nicht gerichtet wurde und dyse virfazsunge da bynne uff gesagit wurde, das sullent die dry doch richten glicher wis, alse ob die virfazsunge noch nicht uffgesagit were."I34
Im Kontext dieser Regelung bedeutet "virfazsunge" die Absprache, Vereinbarung, gütliche Beilegung eines Streites rechtlicher Natur mit rechtlichen Mitteln. Sowohl die Substantiv- wie auch die Verb-Fonn zeigen diesen Bedeutungsgehalt. 131 H. Amisaeus (Praeses), Disputatio politica ... de constitutione politices. Cuius Theses defendendas suscipit I. A. Werdenhagen, Helmaestadii 1605, nr. 30; ähnlich auch Daniel Keyser, Tractatio juridico-politica de reipublicae constitutione, Jenae 1667, S. 1: ,,Politica .. . est ars de societate civili sive republica bene constituenda et conservanda", und S. 12: " .. . patet, ad constituendam Rempublicam proprie et vere ... requiri quatuor. (1) Homines, (2) gradus hominum, (3) Leges, (4) studium boni publici conservandi"; dem entspricht auch die Begriffsverwendung für privatrechtliehe Institute, S. 19 f.: ..matrimonii constitutio et dissolutio."
Amisaeus, Disputatio politica de constitutione (s. Fn. 131), nr. 29. Die herrn von Falkenstein, von Hanau und von Eppstein auf der einen, und die Reichsstädte Frankfurt, Friedberg und Gelnhausen auf der andem seite schliessen eine Übereinkunft von der phalbürger wegen, 21. 12. 1346, in: J. F. Böhmer (Hrsg.), Codex Diplomaticus Mnenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt I, Frankfurt a. M. 1836, S. 607 f. 134 Böhmer, Codex (s. Fn 133), S. 608. I32
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III. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wort- und Begriffsverwendung
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Der Vergleichscharakter der getroffenen Einigung der streitenden Parteien wird in einer Urkunde von 1349 deutlich erkennbar: "Wir Lantgrave Hennan bekennen offinliche und tun kund ... , das wir uns vireynit han und gutliche virfaßit mit Heinrich, unssem Brudere, in allir der Wise als hirnach geschrebin stet ... ,,13S
Damit zeigt die "virfazsunge" Vertragscharakter. Die getroffene Vereinbarung kann jedoch auch durch einen schiedsrichterlichen Spruch bewirkt sein. Die - soweit ersichtlich - erste urkundliche Verwendung des Wortes in der Schreibung "Verfaßung" aus dem Jahre 1470 verdeutlicht dies: ,,Nachdem vortzeiten ... unnser lieben getreuwen Ratismeistere, Rethe und gantz gemeyn zu Gotha an eynem, Heymburgen und gantz Gemeyn zu Sunthausen am andern teilen umb das Riet und viheweyde ... Irrig gewest, und des auf Verfaßunge etlicher ... zugeschickter Rete geineinander In eyntracht geseßen, bis daß sie dorumb ... wider zu Irthum und Phandunge komen.,,136
Die streitenden Parteien werden somit durch eine übergeordnete Instanz - hier die landesherrlichen Räte - ,,in eyntracht", d. h. zu einer vertraglichen Einigung geführt, die eine "Verfaßunge" darstellt oder auf ihr beruht. Daneben ist seit Ende des 15. Jahrhunderts sowohl die Verb-Fonn "verfassen" und Substantiv-Fonn "Verfassung" im Sinne von Textabfassung und Textzusammenfassung zu beobachten. Namentlich im Bereich der Gesetzgebung, nämlich in den Stadtrechtsrefonnationen und Landesordnungen, tauchen diese Begriffe in dieser Bedeutung in den Proömien auf. Die Nürnberger Stadtrechtsrefonnation von 1479 nennt in der Vorrede als Motiv ihrer Verabschiedung durch den Rat die Gefahr eines weiteren Ansteigens der Prozesse und der damit verbundenen ,,irrung" usw., "wo sölchem mit fÜfsichtiger, gegründeter und rechtmeßiger verfassung und bevestigung gepÜflicher und notdurftiger gesetze nit begegent WÜfd... 131
Die Wonnser Stadtrechtsrefonnation von 1498 betont die Notwendigkeit, " ... gesetze und ordenung zu machen, auch die unser voraltern ... in schriften zuvervassen.,,138 13S Schiedsrichterlicher Vergleich zwischen Landgraf Heinrich dem Eisernen und dessen Bruder Landgraf Hennann, 1349, in: J. Ph. Kuchenbecker, Gegründete Abhandlung von denen Erb-Hof-Aemtern der Landgrafschaft Hessen ... , Marburg 1744. S. 105. 136 W. E. Tentzel. Supplementa reliqua historiae Gothanae .... Ienae 1716, in: W. E. Tentzel. Supplementum historiae Gothanae secundum de vario arcis urbisque statu ab origine usque ad nostra tempora .... Ienae 1702. S. 693 (sectio secunda, Nr. 24). 137 Nürnberger Refonnation von 1479. zitiert nach W. Kunkel (Hrsg.). Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands I. 1. Halbband: Ältere Stadtrechtsreformationen. Weimar 1936. S. 3; den gleichen Wortlaut hat auch die Vorrede der .,Refonnacion der Stat Nürmberg" in der Fassung von 1522. 138 Wonnser Refonnation von 1498. Vorrede. zitiert nach Kunkel. Quellen I 1 (s. Fn. 137). S.97.
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
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Das Element der Schriftlichkeit, das dem "Verfassen" unzweifelhaft anhaftet und der Sicherheit und der Klarheit des Rechts für Stadt und Bürgerschaft dient, bezeichnet jedoch nur den einen Aspekt. Daneben ist das "Verfassen" auch eine Tätigkeit des neuen Ordnens und Gestaltens des überkommenen Rechtsstoffs. Die "Vorred des nüwen stattrechts zu Fryburg im Prißgow" von 1520 läßt das erkennen: .... . dise nachgend satzungen, ordnungen und capitel für und als unsere statuten, gesetze und statrechten ... gesetzt, geordnet und umb vermidung willen der blöden vergessenheit in diß geschrift verfaßt, setzen, ordnen und verfassen, ... , gepieten .. :"39 Die Stadtrechtsreformationen und Landesordnungen gehen über die im Mittelalter gebräuchliche einfache Feststellung, Mitteilung und Kompilation bestehenden Gewohnheitsrechts zum Teil weit hinaus und zielen bereits auf eine planmäßige Rechtserneuerung, was sich schon im Begriff der ,,Reformation" ausdrückt 140. Ausscheiden obsolet gewordener älterer Vorschriften und Gliederung des Rechtsstoffs nach Materien und Institutionen auf der Grundlage überkommener Rechtsquellen lassen planmäßige Ordnungsprinzipien erkennen. Die "Vorred in das Buech der Bayrischen Gerichtsprozess und ordnung" von 1520 betont: "... auch zu ... fürderung ... gemains nütz ... hernachgeschribn gerichtlichen process, dazu ettliche gemaine gesatz, ordnung, statut, alltherkomen, und gewonhait. Ains tails aus des heiligen Reychs Camergerichts ordnung gezogen. Auch zum tail von neijem zusam verfassen und vergreiffen, und neben der Reformation ... außgeen lassen.,,141 Mit der neuen gesetzlichen Fassung des Rechtsstoffs erhält dieser eine systematisierende Einteilung, die z. B. bereits im Titelblatt des Württembergischen Landrechts als Ergebnis des "Verfassens" angedeutet wird: ,,New landtrecht des Fürstenthumbs Würtemberg, in vier Theil verfaszt. Der Erst Theil von dem Gerichtlichen Proceß. Der Ander Theil von Contracten ..... 142 Die drei Stufen der Gesetzgebungsarbeit und - modem gesprochen - Gesetzesverabschiedung zeigt das Vorwort der Stralsunder Kirchenordnung: "Dit iß de ordnunge, de hier ... is upgerichtet van einem ersamen rade ... anno 1525, dorch Johannem Aepinum verfatet, (von) Johann Sengestacke, up der tyd stadtschriewer, geschrewen,,143. Im Rang nach der Satzungskompetenz des Rates stellt somit das "verfaten" durchaus einen selbständigen Akt rechtlich systematisierender GesetzgebungsarZitien nach Kunkel, Quellen I I (s. Fn. 137), S. 243 f. 140 Vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (s. Fn. 85), S. 190 f. 141 Gerichtsordnung im fürstnthumb Obern- und Nidern- Bayrn, Anno 1520 aufgericht, Vorred, Blatt 2. 142 Wüntembergisches Landrecht von 1554, zitien nach Kunkel, Quellen I, 2. Halbband: Landrechte des 16. Jahrhundens, Weimar 1938, vor Seite 81. 143 Zitien nach A. L. Richter, Die evangelischen Kirchenordnungen des sechszehnten Jahrhundens I, Neudruck der Ausgabe Weimar 1846, Nieuwkoop 1967, S. 23 (A.). 139
IV. Constitutio und Verfassung im Bereich der Medizin und in der "Politica"-Literatur 25
beit dar, der der Stadtschreiber schließlich die Wirkungsbreite durch Schriftlichkeit gibt. In der Sprache der Gesetzgebung und der Gesetzgebungspraxis des 16. Jahrhunderts kommt somit dem Begriff der ..Verfassung" eines Gesetzestextes im Sinne seiner planmäßig ordnenden Abfassung eine eigenständige Rolle zu. Das rechtliche Ordnungselement steht in enger Verbindung zum ..verfassen". Im Vorwort zu den sächsischen Prozeß-..Verordnungen" von 1572 heißt es, daß die "Constitutionen gestalt und aufgerichtet und, zu noch mehrer Fortsetzung guter Justitien, den Proces des Sachsenrechts .. . schleunigst verfasset und geordent."I44
Dementsprechend erfolgt auch die privatrechtlich verbindliche Festlegung des ..letzten willen inn schriften", indem dieser durch den Erblasser selber ..oder ainem andem (zu) verfassen" ist l45 .
IV. Constitutio und Verfassung im Bereich der Medizin und in der "Politica"-Literatur ..Constitutio" in der Bedeutung eines bestimmten Zustandes des menschlichen Körpers geht bis auf die Antike zurück und läßt sich bis in die Gegenwart verfolgen. Wir sprechen von einer guten oder schlechten Konstitution des Körpers und meinen damit einen Gesundheitszustand. Im gleichen Sinne wird auch der deutsche Begriff ..Verfassung" verwendet, der als ..Gesundheitsverfassung" oder in anderen Kombinationen gebräuchlich ist. Diese modeme parallele Wortverwendung von Konstitution und Verfassung in bezug auf den Menschen und den Staat zugleich hat ihre Entsprechung in der bildhaften Anwendung und Übertragung des menschlichen ..Corpus"-Begriffs auf das staatliche Gemeinwesen. Bereits seit Heraklit gehört der Vergleich des Einzelmenschen in seiner physischen Struktur mit dem staatlichen Gemeinwesen zu den Denkmodellen der griechischen Philosophie 146• Er ist seit der Antike greifbar in der Corpus-Metaphorik 147 .
144 Des Durchlauchtigsten ... Augusten Hertzogen zu Sachsen . .. : Verordenungen und Constitutionen des Rechtlichen Proces . . ., Dreßden 1572, Vorrede, in: Kunkel, Quellen 12 (s. Fn. 142), S. 258. 145 Vgl. z. B. ,.Der Stat Nürmberg vemeute Reformation", o. O. 1564, Blatt 175 (XXIX. Titl. Von Testamenten). Vgl. auch weitere nicht immer stichhaltige und gesicherte Hinweise in: E. Brinckffieier, Glossarium diplomaticum zur Erläuterung schwieriger . .. Wörter und Formeln .. ., 2. Band, Neudruck der Ausgabe 1856 - 1863, Aalen 1961, S. 677. 146 Vgl. Gigon, Einleitung zur Politik des Aristoteles (s. Fn. 29), S. 15. 147 Vgl. G. Dohm - van Rossum, Organ ... , in: O. Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 526 ff.; P. Archambault, The Analogy of the ..Body" in Renaissance Political Literature, in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 29 (1967), S. 21 - 53.
A. Verfassung I (Mohnhaupt)
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1. Corpus-Metaphorik und Coostitutio
Die Corpus-Metaphorik ist hier nur insoweit zu verfolgen, als sie für das "staatlich" entwickelte Gemeinwesen Ordnungsprinzipien und -elemente dokumentiert, die dem "constitutio"-Begriff angenähert sind oder in ihm aufgefangen werden. Die Bild-Sprache des Corpus-Vergleichs - wie des Organismus-Vergleichs schlechthin - ist dabei nicht nur ein Mittel der Veranschaulichung, sondern zugleich auch Indikator fehlender eigenständiger Terminologie l48 • Der Vergleich des menschlichen Körpers und Organismus mit dem staatlichen Gemeinwesen erlaubte es, ein Ordnungsmodell erkennbar zu machen, das einmal das Verhältnis der verschiedenen Körperteile untereinander und zum anderen zur übergeordneten Einheit des Gesamtkörpers bezeichnet wie auch in Analogie dazu das Verhältnis der einzelnen Bürger und sozialen Gruppen untereinander und zum Gesamtstaat. Platon hat den Vergleich zwischen menschlichem Körper und Staat gezogen oi.xouJ,liVTJV noÄ.Lv (J(0J.l.Q'tL I49, um einen Gleichklang ihrer Ordnungen zu belegen. Der "wohlgeordnete Staat" wird mit dem Körper verglichen. Die Isomorphie zwischen menschlichen Einzelwesen und staatlichem Gemeinwesen wird von Platon vorausgesetzt l50. Dementsprechend setzt Platon auch Zustand und Verhalten von Körper und Staat in extremen Situationen gleich 15 I. Eine Störung der Ordnung sowohl des menschlichen Körpers als auch des staatlichen Gemeinwesens werden in gleicher Weise als ein Krankheitssymptom gewertet, das Instabilität für oÖ>J.l.Q und noÄ.L'tEta bedeutet l52 : WtELxa~OV'tEI!;
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,.Wie ein kränklicher Körper nur einen kleinen AnstoB von außen bekommen darf, um ganz damiedergeworfen zu werden, ... so wird auch ein Staat, der sich in gleicher Verfassung befindet, schon aus einer geringen Veranlassung ... erkranken und der innere Streit ausbrechen . .. ,,153
Die analogen Strukturen von Körper und Staat bedingen und erklären die jeweiligen Phänomene ihrer Ordnung. Die Unordnung in jeder Verfassung, die durch faule und verschwenderische Menschen bewirkt werde, entspreche der Unordnung durch Schleim und Galle im menschlichen Körper: " ... 'tuQcine-tov ~ ncian nOAL'tEU;t ... , oT.ov nEQi. aWllu ... XO)"t'!,,1S4. 148 Vgl. R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Th. Schieder (Hrsg.), Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft (Wege der Forschung 378), Darmstadt 1977, S. 44. 149 Politeia 464 b; vgl. dazu umfassend A. Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 20 -30. ISO Vgl. Demandt, Metaphern (s. Fn. 149), S. 21. 151 Politeia 563 e, 564 a. 152 Politeia 556 e.
U3 So die Übersetzung von F. Schleichermacher, in: Platon, Werke, Band 4, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt 1971 ,S. 679. 154 Politeia 564 b - c; Dohm - van Rossum, Organ (s. Fn. 147), S. 522.
IV. Constitutio und Verfassung im Bereich der Medizin und in der ,.politica"-üteratur 27
Die "Unordnung" meint hier die Veränderungen der drei Formtpyen im klassischen ,,Dreiverfassungsschema,,IS5, d. h. der seit dem 17. Jahrhundert so genannten Staatsformen 1S6. Bei Aristoteles dient die Körper-Metaphorik dazu, den Vorrang des staatlichen Gemeinwesens vor dem menschlichen Einzelwesen aus der Dominanz des Gesamtkörpers im Verhältnis zu seinen einzelnen Gliedern bzw. Körperteilen zu belegen 1S7 . Diese organologische Hierarchie im Körper prägt - durchaus pädagogisch gemeint - das Modell der Rangordnung im staatlichen Gemeinwesen auch in Bezug auf die Pflichten und Funktionen seiner sozialen Gruppen und einzelnen Bürger. Im zyklischen Geschichtsdenken von Polybios ist das Modell des Regelkreises ausdrücklich auf den Verfassungskreislauf übertragen 1S8. Die "ava)(:uxl..o)(JI.~ "t00v 3tOAL"tELÖ>V" beschreibt den Wandel der Verfassungsformen von der Monarchie als ein allgemeines Gesetz des Verfalls im Sinne des organischen Werdens und Vergehens. "Körper" und "Verfassung" unterliegen beide diesem Entwicklungsgesetz und werden insoweit einander gleichgesetzt: ,,Es eignet ja wohl jedem Körper als auch jeder Verfassung und jedem Unternehmen naturgemäß eine (Zeit) des Wachstums, danach der Blüte und nachher des Vergehens (